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German Pages [368] Year 2001
V&R
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Adolf Martin Ritter und Thomas Kaufmann
Band 83
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2001
Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts
von Sven Grosse
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2001
Den treuen Freunden meiner Leinburger Zeit
Die Deutsche Bibliothek
-
CIP-Einheitsaufnahme
Grosse, Sven: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts / von Sven Grosse. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 83) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Habil.-Schr., 1999 ISBN 3-525-55191-6
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG W O R T
© 2001 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck- und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Vorliegender Band enthält die überarbeitete Fassung meiner in den Jahren 1995-98 entstandenen Habilitationsschrift, die im Jahre 1999 von der Erlanger Theologischen Fakultät angenommen worden ist. Eine Veröffentlichung bringt die schöne Gelegenheit mit sich, Dank zu sagen. Mein Dank gilt zuallererst Professor Dr. Berndt Hamm, meinem verehrten Doktorvater, und Professor Dr. Walter Sparn. Sie haben meine Habilitationsarbeit von den Anfängen an begleitet und die Fakultätsgutachten erstellt. H e r r Dr. Günther Ott, Burg Marquartstein, muß hier Erwähnung finden, denn er hat mir als erster einen Zugang in die Welt des Barock eröffnet. Dank gebührt allen, die durch Lektüre und Rat Anteil an dem Werden dieser Schrift genommen haben. Professor Dr. Thomas Kaufmann und Professor Dr. Adolf Martin Ritter ist die Aufnahme in ,Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte' zu danken. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützte mich mit einem zweijährigen Habilitationsstipendium, meine bayerische Landeskirche, die mich in kirchlichem Interesse für diese Arbeit beurlaubt hat, mit einem einjährigen Fortsetzungsstipendium. Ich war in dieser Zeit zugleich als Pfarrer ehrenamtlich in der Kirchengemeinde Leinburg bei Nürnberg tätig. Die Erfahrungen, die ich dort machte, prägten meine Beschäftigung mit Paul Gerhardt; zugleich erwiesen mir seine Lieder ihre ungebrochene Kraft. Den Weggefährten dieser Zeit sei dieses Buch gewidmet. Fürstenfeldbruck, im Juni 2001
Sven Grosse
Inhalt TEIL Α :
Hinführung
11
TEIL B:
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick
14
1. Lebenslauf
15
2. Das Werk Paul Gerhardts
18
3. Die Bildung Paul Gerhardts
22
TEIL
1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3.
C: Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung Eigenart und Aufbau der ,Loci' Hutters. Die Verortung des Problems darin
28
28
Die Lehre , D e Providentia' Der Entwurf der Providenzlehre und das epikureische Dilemma . . . Die Ausübung von Gottes Allmacht in seinem Vorsehungswirken . . . Die Begründung der Providenzlehre Die praktischen Interessen der Providenzlehre Hutters und Melanchthons Entwurf
48
Die Lehre von der Prädestination in ihrem Zusammenhang mit der Lehre von der Providenz
51
3.1. Die Providentia
peculiaris als conservatio
30 30 34 44
electorum
51
3.2. Der ,Ordo salutis' der Prädestinationslehre 3.3. Vorsehung und Heilsordnung im Zusammenhang
52 55
4. 4.1. 4.2. 4.3.
Die Lehre vom Leiden und vom Trost Gründe und Arten des Leidens Die Tröstungen des Leidens Trost und Selbsthilfe
58 59 64 69
5.
Die Lehre vom Gebet
71
6. Luther über Gott und das Übel 6.1. Die zwei Formen von Theologie nach Luther 6.2. Luther und Hutter im Vergleich
74 75 79
8
Inhalt
D: Die Transformation theologischer Lehre in der Dichtung Paul Gerhardts
TEIL
1.
83
Die Lehre von den fünf genera dicendi als Modell einer Einheit von theoretischer und praktischer Theologie
83
2.
Die Ordnung der Lieder Paul Gerhardts
90
3.
,Sei wohlgemut, о Christenseel' als Beispiel für Paul Gerhardts Lieder von christlichem Leben und Wandel
94
4.
Die Lieder vom christlichen Leben und Wandel in Ubersicht
. 107
4.1. D i e Bitte um gelingendes Leben
107
4.2. Sich G o t t e s gubernatio Uberlassen
111
4.3. Gottes Hilfe bei der menschlichen Beschlußfassung
113
5.
Das Problem des Leids und seine argumentative Bewältigung
. 115
6.
Das Leid in den Liedern ,In Kreuz und Anfechtung'
124
7.
Die Einstellung des Menschen zum Leid
135
8.
Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken
138
8.1. D i e Bußlieder
138
8.2. D i e Lieder von T o d und Ewigkeit
138
8.3. D i e Loblieder
140
8.4. D i e Lieder aus kleineren Gruppen
145
8.5. D i e Lieder zu den Kirchenfesten
147
9.
Charakteristik der Liederrubriken in ihrer Umsetzung der Loci theoretici
151
9.1. Charakteristik der Lebenslieder - die , Praxis' in den Liedern Paul Gerhardts
152
9.2. Charakteristik der übrigen Liederrubriken
157
10. Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts aus ihrem Zusammenhang mit der Theologie in bestimmten Einzelfragen . 159 10.1. D i e Auffassung des Leids
159
10.2. Rechtfertigung, unio mystica und Providenz
161
10.3. D i e trinitarische Struktur der D i c h t u n g Paul Gerhardts
169
TEILE: Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
171
1. 2.
Die rhetorische Gestaltung der dispositio in den Liedern Paul Gerhardts Die Einschätzung der Affekte in den Liedern Paul Gerhardts
173 . 175
Inhalt 3.
D i e Loci probationis
4.
D i e Behandlung der einzelnen Affekte in den Liedern
9 179
Paul Gerhardts
181
5.
D a s Übergewicht des Affektes gegenüber dem Verstand . . . .
186
6.
Resümee
192
TEIL
F: D i e Lieder Paul Gerhardts als Poesie
194
1.
D i e Merkmale der Poesie
194
2.
D i e Schönheit der Poesie
198
2.1. Die Schönheit der poetischen Redeweise gegenüber der lehrhaften . . 198 2.2. Die Schönheit sprachlicher Variation
203
2.3. Die Schönheit des Verses
208
2.4. Die Begriffe „schön" und „süß" in der Dichtung Paul Gerhardts 3.
. . 210
D i e Poetik von Paul Gerhardts Liedern als geistlicher Dichtung
215
3.1. Die geistliche Poesie und das Leid
215
3.2. Die Bedeutung der Andacht in der geistlichen Dichtung
221
3.3. Docere, Movere und Delectare in der Dichtung Paul Gerhardts und ihr Bezug zu dem Leidproblem
228
4.
D i e Bedeutung der Musik
235
5.
D i e Passionssalven
240
5.1. Die Stellung der Passionssalven in Paul Gerhardts Werk
240
5.2. Die Passionssalven und die bernhardinische Mystik
243
5.2.1. Mystik, Anfechtung und Ich
244
5.2.2. Mystik und Betrachtung des leidenden Christus
247
5.3. Die Passionssalven als Liebesdichtung
252
5.3.1. Hoheslied und Petrarkismus
252
5.3.2. Formen der Körperbeschreibung
255
5.4. Schmerz und Süßigkeit im Kontext der Passionssalven
259
5.5. Zusammenfassende Betrachtungen zu den Passionssalven
266
G: D i e Lieder Paul Gerhardts innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
275
TEIL
1.
D i e Deutung der Geschichte in den Liedern Paul Gerhardts . . 276
2.
Geistliche Dichtung und Aktivität in der Geschichte
290
10 3.
Inhalt Martin Opitz' ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges' und Paul Gerhardt
300
TEIL H : Schlußbetrachtungen
321
Literaturverzeichnis
329
1.
Quellen
329
2.
Hilfsmittel
343
3. Forschungsliteratur Personenregister
344 363
TEIL
A
Hinführung „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfahren könnten) total unverständlich wäre." 1 Vier Begriffe stellt der jüdische Philosoph Hans Jonas in diesem Ausspruch einander gegenüber, und einer von den vieren, so beansprucht er, muß fallen. Die vier sind: Das Leiden - Leid, das Menschen schuldhaft andern Menschen zufügen, das in dem Geschehen, für welches der Name „Auschwitz" steht, eine Aufgipfelung an Ausmaß und Eigenart erfahren hat, die noch nicht da war - und drei Eigenschaften Gottes, die zur Diskussion stehen: Allmacht, allumfassende Güte, Verständlichkeit - und zwar im Verlauf des Weltgeschehens. Das, was fallen muß, ist, Jonas' Auffassung nach, Gottes Allmacht 2 . Das von Jonas formulierte Problem freilich bestand, wie er selber erkennen läßt, schon vor „Auschwitz", so wie es von Menschen verschuldetes menschliches Leid auch schon vor Auschwitz gegeben hat. Die vorliegende Studie unternimmt es, Aufschluß darüber zu geben, wie ein anderer, Paul Gerhardt, diese Frage - gemeinhin mittlerweile die „Theodizeefrage" genannt 3 - beantwortet hat; umfassender und tiefer noch: wie er mit ihr umgegangen ist. Die Wahl fällt auf ihn aus folgenden Gründen: Paul Gerhardt stellte sich dieser Frage als ein Mensch, der an Gott und sein Weltregiment, an Gottes Allmacht und Allgüte glaubte, als Christ und, eine gewisse Verständlichkeit Gottes beanspruchend, als Theologe. Er stellte sich dieser Frage als ein Mensch, der von Jugend an Leid von außerordentlichem Ausmaß kennen1
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, 39. Dieser Aufsatz von Jonas ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den er 1984 zur Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen gehalten hat. Veröffentlicht zuerst in: Reflexionen finsterer Zeit, hg. v. Otfried Hofius, 61-86, sodann auch in: Jonas, Gedanken über Gott, 27-49, und in: Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. 2 Siehe Jonas' Darlegungen, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, 33-48. 3 Einführende Literatur, Lexikonartikel usw. zu dieser Frage nennt WALTER SPARN, Leiden - Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, 12-14, sowie bei den einzelnen, bedeutenden Denkern zur Theodizeefrage gewidmeten Artikeln.
12
Hinführung
gelernt hatte: das Leid des Dreißigjährigen Krieges, des „Großen Krieges" 4 . Das Medium, in welchem Gerhardt nun sein Verhältnis zu Gott und zum Leid kundgetan hat, ist nicht das einer Darbietung theologischer oder philosophischer Reflexion, sondern das der Dichtung. Sein Werk besteht vornehmlich in Dichtung, in Liedern, die als „nicht nur die nachhaltendste, sondern auch eine der bedeutendsten dichterischen Leistungen des 17. Jahrhunderts" 5 gerühmt werden. Es wird eine der vornehmlichsten Aufgaben dieser Studie sein zu zeigen, daß die Wahl dieses Mediums, der darin vollzogene Ubergang von der lehrhaften Theologie zum Gefühle ausdrückenden und erregenden, sprachliche und musikalische Schönheit darbietenden geistlichen Lied, gerade wesentlich zu der Haltung gehört, in welcher Paul Gerhardt eine angemessene Antwort auf die Frage nach Gott und dem Leid fand. So kann der historische Rekurs um einige Jahrhunderte zurück auf Gerhardt eine erhellende Aussicht verschaffen auf das alte, von Hans Jonas wieder formulierte und uns Heutigen nach wie vor brennende Problem, wie Gott und das Leid miteinander Bestand haben können. Der Aufbau dieser Studie wird sich daran orientieren, daß das Theodizee-Problem eben sowohl Gegenstand der Reflexion sein kann - Reflexion finsterer Zeit - als auch Gegenstand von Dichtung. Es ist dabei nicht möglich, die damit gegebenen Zusammenhänge in linearer Weise darzustellen, d. h. so, daß jeder Teil auf dem folgenden aufbaut. Vielmehr müssen in der Vorgehensweise von Anfang an Ergebnisse vorausgesetzt werden, die sich erst im materialen Fortgang der Untersuchung begründen lassen. Umgekehrt ist es nötig, immer wieder auf bestimmte Fragen oder Texte zurückzukommen, wenn sich ein neuer Aspekt zu ihrer Beleuchtung ergeben hat. Aus diesem Grunde habe ich mich für einen das Ganze schon am Anfang voraussetzenden „analytischen" Aufbau entschieden, der sich an der damals gültigen Poetik und Rhetorik orientiert 6 . Dichtung wurde, ähnlich wie der Rede 7 , die Aufgabe zugewiesen, zu 4
So nannte ihn RICARDA HUCH im Titel ihres Werkes. HELMUT K. KRAUSSE, Religiöse Lyrik, 426. Auch nach der Einführung des „Evangelischen Gesangbuchs", das gegenüber dem „Evangelischen Kirchengesangbuch" die Zahl der Gerhardt-Lieder von 40 auf 28 reduzierte (auf die bayerischen Ausgaben bezogen), kann gesagt werden: „Gerhardt gilt als der bedeutendste und bekannteste Liederdichter nach Luther", Kleines Nachschlagewerk zum Evangelischen Gesangbuch, 46. - Die Liste der Rühmungen Paul Gerhardts ließe sich leicht vermehren. 6 S.u. S. 194 ff. 7 Das sehr enge Verhältnis, die große Ähnlichkeit von Poesie und rhetorisch geformter Rede im 17. Jahrhundert und die Frage ihrer Unterschiedenheit ist verschiedenfach untersucht worden: DYCK, Ticht-Kunst. Barockpoetik und rhetorische Tradition; ders., Philosoph, Historiker, Orator und Poet. Rhetorik als Verständnishorizont der Literaturtheorie des XVII. Jahrhunderts; FISCHER, Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, sowie SCHINGS, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 6-11. Dies alles muß hier nicht eingehend erörtert werden; es genügt, vorläufig zumindest, festzuhalten, daß diese enge Beziehung bestand, daß diese drei Aufgaben 5
Hinführung
13
lehren (docere), das Gemüt zu bewegen (movere) und durch die Schönheit der sprachlichen Form zu erfreuen (delectare). Es gehört also zu den ausdrücklichen Funktionen von Poesie, die Aussagen lehrhafter Theologie aufzunehmen. Zunächst einmal sollen diese in abstrakter, reiner Form aus Quellen der damaligen Universitätstheologie dargeboten werden (Teil C), im folgenden Teil ( D ) dann betrachtet werden, auf welche Weise sich die Transformierung dieser Theologie in die Dichtung vollzieht. Dann kann gewürdigt werden, in welcher Weise Gerhardts Lieder, als Rede betrachtet, eine Anwendung der Rhetorik darstellen, wobei die Bedeutung der zu dem docere in einer Rede noch hinzutretenden Aufgabe des affectum movere besonders hervortritt (Teil E). Die Aufgabe des delectare, des Erfreuens durch sprachliche Schönheit, hat mehr noch als in der rhetorisch geformten Rede in der Poesie eine besondere Dignität. Erst mit der Berücksichtigung dieses Aspekts erhält die Dichtung Paul Gerhardts ihre hinreichende Bestimmung, und erst dann kann ermessen werden, warum und wie sich Paul Gerhardts U m g a n g mit der Thematik von Gott und dem Leid in der Form von Dichtung darstellt (Teil F). Dann schließlich wird der Bezug dieser Dichtung zur „Außenwelt" der Ereignisse betrachtet - der Außenwelt der Ereignisse, die in gewisser Weise von Gottes Weltregiment gestaltet werden und die doch zugleich Leiden mit sich bringen (Teil G). Eine Schlußbetrachtung (Teil H ) wird sich dann auf die Methode konzentrieren, die sich in dieser Studie entwickelt hat. Einem Uberblick über Gerhardts Leben, seine Erfahrungen mit Leid, sein Werk und seine Bildung, die ihn zu seinem komplexen dichterischen Werk befähigte, dient der nun als nächster anschließende Teil (B); zugleich können dabei die Quellen gesichtet werden, die für die folgenden materialen Teile herangezogen werden.
der Dichtung wie der Rede zugewiesen wurden und die Rhetorik auch für die Dichtung maßgeblich war.
TEIL В
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick Der Blick auf Person und Werk Paul Gerhardts, so sehr sie noch gerühmt sein mögen, hat mit einem Problem zu tun, das der oben schon zitierte Forscher mit den Worten zum Ausdruck brachte: „Der Weg zu einer unbefangenen Bewertung eines Werkes wie das Paul Gerhardts . . . mag dem einen sehr wohl dadurch erschwert sein, daß er mit diesen Texten, die von Generationen auswendig gelernt wurden, allzu vertraut ist, dem andern dadurch, daß sie ihm wegen ihres Gebrauchscharakters, der sie für den gottesdienstlichen Gebrauch oder für die häusliche Andacht bestimmt, fremd bleiben." 1 Auf diesen Umstand vor allem wird es zurückzuführen sein, daß die wissenschaftliche Erforschung des Werkes dieses Mannes bisher noch in den Anfängen steckt. Es gibt über Gerhardt eine Anzahl kleinerer Artikel, auch einige Biographien. Sie sind zumeist zu Jubiläen des Geburts- oder Todesjahres entstanden und enthalten gelegentlich interessante Gedanken, ohne sie freilich im Zusammenhang auszuarbeiten. Nicht selten sind sie jedoch mehr Widerschein der „erbaulichen" Wirkung von Gerhardts Dichtung als genaue Reflexion derselben 2 . Einige der wenigen neueren konstruktiven Ansätze weisen ausdrücklich auf dieses Forschungsdefizit hin. So schreibt Elke Axmacher: „Die theologische G.[Paul Gerhardt]-Forschung steht tatsächlich erst am Anfang." 3 . Hans-Henrik Krummacher erklärt, eine historisch zureichende, von der Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts ausgehende dogmatische Untersuchung Paul Gerhardts stehe noch aus 4 . Er fordert mit einer Untersuchung des dogmatischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Gehalts eine nähere Analyse der Dichtung Gerhardts nach Maßgabe der zeitgenössi1 KRAUSSE, 426. Probleme mit Paul Gerhardt melden auch an: JÖRG-ULMCH FECHNER, Paul Gerhardt (Gestalten der Kirchengeschichte), 190; NORBERT MÜLLER, Schwierigkeiten mit Paul Gerhardt?, und CHRISTIAN BUNNERS, Paul Gerhardt, 302-309. 2 Hier sind, mit Abstufungen des Wertes, zu nennen etwa die Beiträge von GENNRICH,
RUDOLF G Ü N T H E R , HESSELBACHER, KAPPNER, KILLY, K O C H S , KÖSTLIN, GERHARD MÜLLER, NELLE, PAULIG, R Ö D D I N G , R O T H , SCHRÖDER, SCHRÖER, SMEND, WERNLE u n d WURSTER. 3
ELKE AXMACHER, am Ende ihres Aufsatzes ,Paul Gerhardt als lutherischer Theologe',
104. 4 KRUMMACHER, Paul Gerhardt, 280 f. Vgl. 286 die Bemerkung, Paul Gerhardt sei „bis heute kaum erforscht".
Lebenslauf
15
sehen Anleitung zur Textverfertigung 5 . Desgleichen verlangt Gerhard Krause eine interdisziplinäre Anlage der Paul-Gerhardt-Forschung 6 . Eben solches versucht vorliegende Arbeit unter der Fragestellung nach dem Verhältnis von Gott und dem Leid bei Paul Gerhardt durchzuführen. Dieses Unternehmen ist von der H o f f n u n g getragen, gerade dadurch einen neuen Zugang zu Paul Gerhardt zu gewinnen, daß seine Gestalt und sein Werk gegenüber der gewohnten - zu gewohnten - Wahrnehmung verfremdet werden, wenn sie in das Netz der vielfältigen Bezüge zu den Ereignissen, dem Denken und Empfinden ihrer Zeit gestellt werden 7 . Die Hauptlinien dieser Bezüge sollen in diesem kurzen biographischen Überblick genannt und auf diese Weise die Quellen für die anstehende Untersuchung gesichtet werden.
1. Lebenshuf Die in weiten Teilen nach wie vor beste, umfassendste und gültige Biographie ist die von H E R M A N N PETRICH von 1914. Auf dem neuesten Stand beruhend und von dem Firniß früherer Gerhardt-Klischees gereinigt ist 1 9 9 3 ein Lebensbild Gerhardts von CHRISTIAN BUNNERS erschienen. Ich verweise auf diese Darstellungen 8 und beschränke mich hier vornehmlich auf die Daten, die auf die Leiderfahrungen Paul Gerhardts und auf seine Bildung Licht werfen 9 : Geboren wurde er 1607 in Gräfenhainichen im Kurfürstentum Sachsen, sein Vater war eine zeitlang Bürgermeister des Ortes, seine Mutter stammte aus einer Pfarrersfamilie 10 . Bereits in der dortigen Stadtschule erlernte Paul Gerhardt Latein und wurde am gottesdienstlichen Gesang beteiligt 11 . In den Jahren 1619 und 1621 starben bereits die Eltern. 1622-27 war er Schüler an dem kurfürstlich sächsischen Gymnasium Grimma, wo er auf das Ziel einer „sapiens atque eloquens pietas" hin gebildet wurde 1 2 . Grund5
KRUMMACHER, Paul Gerhardt, 284. ' KRAUSE, Christuskreuz und Christenkreuz bei Paul Gerhardt, 289. 7 Vgl. ELKE AXMACHER, Paul Gerhardt als lutherischer Theologe, 88. Β PETRICH, Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Gütersloh 1914. Kritik muß - bei aller gebührenden Achtung vor dieser großen Leistung - geübt werden an bestimmten Teilen der theologischen und poetischen Beurteilung Paul Gerhardts, was auch in dieser Arbeit erfolgen wird. CHRISTIAN BUNNERS, Paul Gerhardt. Weg - Werk Wirkung, Berlin 1993. Zur ersten Information der Artikel von EBERHARDT H . PÄLTZ, T R E 12 ( 1 9 8 4 ) ,
453-457.
' Einen Uberblick darüber, wie in Deutschland fortlaufende Normalität und Kriegsnot sich miteinander verbanden und zueinander verhielten, bringen die Beiträge des Sammelbandes , Zwischen Alltag und Katastrophe'. 10
PETRICH,
11
P E T R I C H , 14 f.; v g l . 3 0 .
12
Diese Devise wurde von dem einflußreichen protestantischen Pädagogen Johannes Sturm
10-14.
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick
16
läge der theologischen Ausbildung war das ,Compendium locorum theologicorum ex Scripturis Sacris et libro Concordiae Collectum' des 1616 verstorbenen Wittenberger Theologieprofessors Leonhard Hutter, des „redonatus Lutherus" 1 3 , das erstmals 1610 erschienen war. Es war in Kursachsen für den Theologieunterricht an höheren Schulen vorgeschrieben, auswendig zu lernen und auch an den Universitäten in Gebrauch 1 4 . In dieser Zeit bereits kam Paul Gerhardt in Berührung mit den Auswirkungen des 1618 ausgebrochenen Krieges: 1625 suchte eine durch den Krieg ausgelöste Seuche auch Grimma heim. 1626 kam die Pest. Paul Gerhardt gehörte zu denjenigen, die damals nicht aus Grimma flohen 1 5 . 1628 zog er als Student der Theologie nach Wittenberg, damals nach wie vor eine der führenden Universitäten des Luthertums 1 6 . Er blieb über das Studium hinaus als Hauslehrer tätig, wohl bis 1642 in dieser Stadt 1 7 . Die damaligen Professoren für Theologie waren dort J a k o b Martini, Wilhelm Leyser, Johann Hülsemann, der nach dem T o d e Johann Gerhards 1637 als der theologische Führer des Luthertums galt 1 8 , und Paul Röber 1 9 , von dem Paul Gerhardt ein Gedicht nachgedichtet hat 2 0 . Johann Scharf war ausgegeben, PETRICH, 29. Zu Gerhardts Zeit in Grimma und dem damaligen Bildungsmilieu s. PETRICH, 2 5 - 3 9 . 13 „der wiedergeschenkte Luther", ein zeitgenössisches Anagramm, das aus dem Namen ,Leonhardus Hutterus' gebildet worden war, s. TRILLHAAS in dem Vorwort des von ihm herausgegebenen , Compendium', III. 14 PETRICH, 35 f. Die heute greifbare, auf der Erstausgabe beruhende Edition ist herausgegeben von Wolfgang Trillhaas, Berlin 1961 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 183). Siehe dort das Vorwort von TRILLHAAS, III-VI. 15
PETRICH, 38.
PETRICH, 39-56. Die Dauer seines Studiums ist nicht bekannt. - Zur Stellung Wittenbergs als „Hochburg des orthodoxen Luthertums" s. KURT ALAND, Die Theologische Fakultät Wittenberg, 391 f. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts sei der Stern der Leucorea gesunken. Leider liegt nach THOLUCK, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jahrhunderts (vgl. auch ders., Das akademische Leben des siebzehnten Jahrhunderts, mit besonderer Beziehung auf die protestantisch-theologischen Fakultäten Deutschlands) und FRIEDENSBURG (insbes. 395-430) keine neuere Untersuchung über die theologische Fakultät Wittenberg im 17. Jahrhundert vor, wie nun für Rostock die Arbeit von THOMAS KAUFMANN, Universität und lutherische Konfessionalisierung, und von LUISE SCHORN-SCHOTTE, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, über die theologische Ausbildung der Pfarrer in Braunschweig-Wolfenbüttel, Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig, s. insbes. KAUFMANN, 253-433, und SCHORN-SCHÜTTE, 159-226. Ein Ansatz dazu findet sich bei UDO STRÄTER, Wittenberger Responsien; eine Quellensammlung ist im Urkundenbuch der Universität Wittenberg gegeben. 16
17 18 19
PETRICH, 4 4 - 4 6 . HANS LEUBE, A r t . H ü l s e m a n n ; FRANZ LAU, A r t . H ü l s e m a n n . PETRICH, 44.
, Ο T o d , о T o d , schreckliches Bild', abgedruckt in der Ausgabe Paul Gerhardt, Geistliche Andachten [1667]. Samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten hg. v. Friedhelm Kemp, 33 f. (zit.: Kemp). Das nach dieser Vorlage von Gerhardt geschaffene Lied ist , Ο T o d , о Tod, du greulichs Bild', in der Ausgabe der Dichtungen und Schriften, hg. v. Eberhardt v. Cranach-Sichart, München 1957 die Nr. 115 (diese Ausgabe von nun an mit „ C S " 20
Lebenslauf
17
Professor für Philosophie 21 . August Buchner las damals über deutsche Poetik 2 2 . 1631 zuerst auf der Seite Gustav Adolfs, wurde Sachsen seit 1635 von den Schweden verheert. Pest und Hunger folgten, auch in Wittenberg. Gerhardts Heimatort Gräfenhainichen wurde 1637 von den Schweden gebrandschatzt. Auch sein Geburtshaus ging dabei in Flammen auf. Im selben Jahre starb sein Bruder dort bei einer Pestepidemie, die, zusammen mit Hunger, die Bevölkerung des Ortes dezimierte 23 . 1640 legte ein Feuer weitere Teile Wittenbergs, das schon durch den Krieg geschädigt war, in Asche. Petrich vermutet, daß aus diesem Anlaß Gerhardts erste Lieder entstanden 2 4 . Seit etwa 1643 hielt sich Gerhardt, vermutlich auch dort als Hauslehrer, in Berlin auf 2 5 . Das Kurfürstentum Brandenburg war zwar seit 1641 durch einen Waffenstillstand mit Schweden nicht mehr kriegführende Partei, litt aber weiter unter Kampfhandlungen, die in anderen Teilen Deutschlands bis zum Westfälischen Frieden von 1648 andauerten. Berlin selbst war durch die Verwüstungen des Krieges gezeichnet, die Bevölkerung entmutigt 26 · 1651, mit 44 Jahren also, erhielt Gerhardt seine erste Pfarrstelle in Mittenwalde in der Mark Brandenburg und wurde auf die lutherischen Bekenntnisschriften ordiniert 27 . 16 5 5 heiratete er dort Anna Maria Berthold 28 . Von den fünf Kindern, die dieser Ehe entstammten, starben alle, bis auf eines, spätestens nach einem Jahr. N u r der Sohn Paul Friedrich überlebte seinen Vater 29 . 1657 erhielt Gerhardt dann einen Ruf nach St. Nicolai, einer der Hauptkirchen von Berlin 30 . Infolge seines Widerstandes gegen einen Erlaß des reformierten Kurfürsten Friedrich Wilhelm, der Polemik der lutherischen Prediger gegen die reformierte Lehre untersagte, verlor Paul Gerhardt 1666 dieses Amt 31 . 1668 starb dann seine Frau 32 .
zitiert. Folgt unmittelbar darauf eine arabische Zahlenangabe, dann bezieht sie sich auf die fortlaufende Numerierung. Die lateinischen Gedichte, mit römischen Ziffern numeriert, und die Prosastücke werden mit Seitenangabe zitiert). 21 ZSCHARNACK, Art. Scharf, Johann. 22
PETRICH, 5 0 - 5 2 ; BORCHERDT, A u g u s t u s B u c h n e r , 4 9 .
23
PETRICH,
24
PETRICH, 52. Es handelt sich dabei um CS 67-69.
46-49.
25
PETRICH, 5 6 - 8 7 ; z u s e i n e m B e r u f 5 9 .
26
PETRICH,
60-62.
27
PETRICH,
87-107.
28
PETRICH,
106.
29
P E T R I C H , 1 0 7 ; 1 1 4 ; 1 4 1 f.
30
P E T R I C H , 1 0 7 f.
31
PETRICH, 1 3 3 - 1 4 0 ;
32
PETHRICH,
172-174.
144-161.
18
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick
Erst 1669 erhielt Gerhardt wieder eine Pfarrstelle in Lübben, einem abgelegenen Ort in der Niederlausitz, welche zu dem Herzogtum Sachsen-Merseburg gehörte. Auch hier traf er noch auf Schäden, die aus dem nun schon über 20 Jahre zurückliegenden Kriege stammten. Diese letzte Amtszeit war nicht ganz ungetrübt von kleinlichen Streitigkeiten, die er mit den zuständigen Kirchenbehörden hatte. 1676 starb er 33 .
2. Das Werk Paul Gerhardts Das erhaltene Werk Paul Gerhardts umfaßt 137 deutsche Lieder und Gedichte, 15 lateinische Gedichte, vier Leichenpredigten, mehrere Briefe, sein „Testament" - Lebensregeln für seinen Sohn, schriftliche Äußerungen in dem Streit mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm und vier sogenannte Meditationen, exegetisch-liturgische Erörterungen 34 . Das besondere Augenmerk dieser Arbeit wird auf den Liedern und Gedichten liegen. Ich verstehe dabei „Gedicht" als den umfassenden Begriff. „Lied" ist ein Gedicht, das vom Autor zur Vertonung und zum Gesang bestimmt wurde. Demnach sind von Paul Gerhardt 123 Lieder überliefert 35 . 33 PETRICH, 174-184; ROBERT DAENICKE, Paul Gerhardts Berufung nach Lübben und seine dortige Amtszeit. 34 Die deutschen Gedichte und Lieder (bis auf drei, die bei BUNNERS, Paul Gerhardt, 361-364, zu finden sind), die lateinischen Gedichte, die Leichensermone, das Testament und Auszüge der Briefe finden sich in der Ausgabe von Cranach-Sichart von 1957. Die Ausgabe Cranach-Sicharts Wuppertal/Kassel von 1982, 21991, enthält nur die Gedichte. Weitere Auszüge der Briefe bei DAENICKE, 267-271; bei BUNNERS, Paul Gerhardt, 356-360, zwei Briefe und das Testament. Die Stellungnahmen zum Konfessionsstreit sind gesammelt in den Paul-
G e r h a r d t - A u s g a b e n v o n OTTO SCHULZ, 3 1 7 - 4 2 9 , E . C . G . LANGBECKER u n d in d e m
Werk
von Η. TH. WANGEMANN, Johann Sigismund und Paulus Gerhardt. Die Meditationen sind veröffentlicht durch HERMANN PRIEBE, Eine bisher unbekannte Handschrift von Paul Gerh a r d t . Vgl. D ü n n h a u p t , Bd. 3 (1991),
1589-1598.
35
Umstritten ist die Zuordnung des Liedes ,Sey frölich alles weit und breit', das in der ,Praxis pietatis melica' von 1653 ersterschienen, dort Christian Barthold [oder: Berthold; es handelte sich um seinen künftigen Schwager] zugeschrieben wird (Nr. 164), aber in die erste Paul-Gerhardt-Ausgabe von Johann Georg Ebeling als Nr. 78 aufgenommen wurde und auch in dieser Arbeit mitgezählt wird. Aufschlüsse über die Vertonung sowie über Ort, Zeit, auch Anlaß der Entstehung der Gedichte Paul Gerhardts, finden sich in den Ausgaben von Cranach-Sichart, 494-515, und von Kemp, 44-55. Dort sind sämtliche Gedichte Gerhardts nach ihrem Entstehungsdatum geordnet mit bibliographischen Angaben angeführt. Die folgenden Ausführungen halten sich an diese Aufstellung. 41-44 findet sich dort eine Übersicht der bisherigen Gesamtausgaben. Z u F r a g e n d e r T e x t k r i t i k s. u . a. AUGUST EßELING, G e r h a r d t i a n a , WINFRIED ZELLER, Z u r
Textüberlieferung der Lieder Paul Gerhardts (aufgenommen in: ders., Paul Gerhardt, der Dichter und seine Frömmigkeit, Theologie und Frömmigkeit, Bd. 2, 132-138) und HEIMO REINITZER, Die Interpretation vor der Textkritik. Vorüberlegungen zu einer neuen historischkritischen Paul-Gerhardt-Ausgabe. Eine neue, im strengen Sinne kritische Ausgabe der Gedichte Gerhardts existiert bisher nicht, vgl. REINITZER. In dieser Arbeit wird um der besseren
Das Werk Paul Gerhardts
19
Die reinen Gedichte sind durchweg Kasualgedichte, die in eigenen Drucken zu besonderen Anlässen erschienen. Solche Anlässe waren zumeist Todesfälle, daneben auch Verheiratungen, die Übertragung akademischer Würden und Widmungen 3 6 . Bei dem ersten datierten Gedicht, das überhaupt von Gerhardt vorhanden ist, handelt es sich um ein solches Stück - eine lateinische Gratulation für eine Magisterpromotion im Jahre 164 2 37 . Das letzte datierte Gedicht ist eine Widmung aus dem Jahre 1675, also dem Jahr vor seinem Tod 3 8 . Die meisten Lieder wurden in dem geistliche Lieder enthaltenden Gesangbuch ,Praxis pietatis melica' veröffentlicht. Dieses wurde von Johann Crüger, Kantor an der St. Nicolai-Kirche in Berlin, an der Gerhardt später Pastor werden sollte, herausgegeben 39 . Crüger vertonte darin auch selbst einige der Lieder, darunter nicht wenige derjenigen von Gerhardt. Dieses Gesangbuch war erstmals 1640 unter dem Titel ,Newes vollkömliches Gesangbuch, Augspurgischer Confession . . . ' , erschienen. 1647 brachte Crüger es unter dem Titel ,Praxis pietatis melica' heraus 40 . Diese Ausgabe enthielt die ersten Veröffentlichungen von Liedern Paul Gerhardts. In den folgenden Ausgaben kamen weitere hinzu, am meisten in derjenigen von 1653, in der 82 Lieder von Gerhardt enthalten sind 41 . Mit dieser Ausgabe hatte Paul Gerhardts dichterische Produktivität ihren H ö hepunkt erreicht, in der Folgezeit ließ sie allmählich nach. In den Jahren 1666-67 gab schließlich Johann Georg Ebeling, der Nachfolger Crügers als Kantor von St. Nicolai, eine mit 120 Liedern fast erschöpfende Gesamtausgabe des gerade abgesetzten Pastors heraus: ,Pauli Gerhardi Geistliche Andachten . . ,' 42 . Der Gebrauchszweck dieser Lieder geht aus den umfangreichen Titeln der Gesangbücher hervor. In den Ausgaben der , Praxis pietatis melica' von 1653 heißt es: „ . . . zu Beförderung des so wol Kirchen- als Privat-Gottes-
Lesbarkeit willen vorwiegend nach der behutsam modernisierten Fassung von Cranach-Sichart zitiert. 36 Zur Gattung dieser Art von Dichtung s. RUDOLF DRUX, Casualpoesie, in: Deutsche Literatur, 408-417. Auch einige der Lieder sind hier hinzuzurechnen. 37 Bei CS, 385, Lateinische Gedichte I. Für ein früheres Entstehungsdatum anderer Gedichte gibt es nur Vermutungen, s.o. S. 17, bei Anm. 24. 38 CS 49. 34 Zur Rolle der Kantoren in der damaligen Zeit s. KLAUS HORSCHANSKY, Musikalischer Alltag im Dreißigjährigen Krieg, 409 f. 40 Von nun an ,P.p.m.' zitiert. Vollständige Angaben der Titel bei Fischer-Tümpel (FT), Bd.VI, Nr. 375; 462-469, vgl. die Angaben im Repertoire international des sources musicales (RISM), sowie FISCHER-KRÜCKEBERG, Johann Crüger's Praxis pietatis melica. 41 Während von der Ausgabe von 1647 mittlerweile kein Exemplar mehr erhalten ist, existiert von dieser noch eines, nämlich in der Bayerischen Staatsbibliothek München. 42 Die Ausgabe hg. v. Friedhelm Kemp stellt das Faksimile dieses Werkes dar; im Anhang dieser Ausgabe sind die bei J. G. Ebeling nicht enthaltenen übrigen Gedichte Paul Gerhardts aufgenommen worden, ausgenommen die von BuNNERS, s.o. S. 18, Anm. 34 überlieferten.
Leben u n d W e r k Paul Gerhardts im Überblick
20 dienstes
. . ,"43.
Im
Kirchengottesdienst
wurden
dabei
diese
Lieder
von
einem C h o r gesungen, w ä h r e n d die G e m e i n d e n u r ü b e r einen o f t kleinen G r u n d s t o c k meist aus d e r R e f o r m a t i o n s z e i t s t a m m e n d e r Lieder verfügte. Bei d e m „ P r i v a t - G o t t e s d i e n s t " h a n d e l t e es sich u m die
gottesdienstlichen
Feiern d e r H a u s g e m e i n d e 4 4 . D i e H a u s g e m e i n d e w a r mit d e r im
Kirchen-
g e b ä u d e sich v e r s a m m e l n d e n G e m e i n d e eines d e r b e i d e n Z e n t r e n des formatorischen Gemeindeaufbaus, f ü r die Luther
- zu H ä n d e n des
re-
Haus-
v a t e r s als i h r e s V o r s t e h e r s - s e i n e n K l e i n e n K a t e c h i s m u s k o n z i p i e r t h a t t e 4 5 . D i e s e r V e r w e n d u n g s z w e c k s o w o h l f ü r d i e K i r c h e n - als a u c h f ü r d i e H a u s gemeinde w a r den damals veröffentlichten Gesangbüchern häufig zueigen. Dies geht auch aus den Titeln anderer Gesangbücher der Zeit hervor,
so:
, F r o m m e r und Gottseliger Christen Alltägliche H a u ß m u s i k ' , hg. v. J o h a n n Rist, Lüneburg 1654. - D e r F r o n t i s p i z - K u p f e r dieser A u s g a b e z e i g t eine Familie, Instrumente spielend u n d aus Büchern singend, bei dieser H a u s m u s i k 4 6 . ,Christlich-neuvermehrt- u n d gebessertes G e s a n g b u c h / D a r i n n e n . . . Geistliche Lieder und P s a l m e n / w e l c h e so w o h l In ö f f e n t l i c h e r K i r c h - V e r s a m m l u n g / als auch z u H a u s e / und sonst Zu V e r m e h r u n g g u t e r / und G o t t g e f ä l l i g e r A n dacht gebraucht w e r d e n m ö g e n . . . ' , Erfurt 1663; , V o l l s t ä n d i g e Kirchen- und H a u s - M u s i c . . . ' , Breslau [ 1 6 7 2 ] ; 43 Vgl. auch noch den Titel der Paul-Gerhardt-Ausgabe hg. v. Feustking: „ . . . Geistreiche H a u ß - und Kirchenlieder . . . " . 44 PETRICH, 64-76; 166-168. Siehe auch die Bemerkungen Feuerleins dazu in der Vorrede zu der Ausgabe von Gerhardts Liedern, Nürnberg 1682, im Auszug auch abgedruckt bei RUDOLF ECKART, Paul Gerhardt-Bibliographie, 11. Über den Gebrauch der Praxis pietatis melica und der Ebelingschen Ausgabe f ü r den Hausgottesdienst s. auch JÖRG-ULRICH FECHNER, Paul Gerhardt (Gestalten der Kirchengeschichte), 182 ff.; 187 ff. Zu der Praxis des „geistlichen Liedes" und auch des „Kirchenliedes" in der Hausandacht s. IRMGARD SCHEITLER, Das Geistliche Lied im deutschen Barock, 90-103. Der Behauptung IRMGARD SCHEITLERS, 20, bei Anm. 44, Gerhardts Lieder seien ausschließlich Hauslieder, ist aufgrund des Titels der P.p.m. zu widersprechen. Dagegen auch BUNNERS, Zum liturgischen Gebrauch von Paul Gerhardts Liedern in deren Frühzeit; ders., Paul Gerhardts Lieder in der O r d n u n g des Kirchenjahres. Gerhardts Lieder befinden sich also in dem Grenzbereich der von SCHEITLER, 29-59, unterschiedenen Gattungen „geistliches Lied" und „Kirchenlied". So wohlbegründet diese Unterscheidung sein mag (ein Kritikversuch von KEMPER, Das lutherische Kirchenlied, 87-92, insbes. 91), werde ich mich in dieser Arbeit über Gerhardts Lieder nicht streng an diese Terminologie halten. Ein Konzentrat der Arbeit ScHEITLERs stellt ihr Aufsatz ,Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert' dar. Vgl. auch PATRICE VEIT, Das Gesangbuch in der Praxis Pietatis der Lutheraner. 45 Vgl. die Angaben im Kleinen Katechismus, BSLK 507; 510; 512; 515; 519; 521 f. O b die Bestimmung für den „Privat-Gottesdienst" Beleg für eine Tendenz zu einer individualistischen, subjektivistischen Frömmigkeit sei, wird in der Forschung diskutiert von WALTER BLANKENBURG, Paul Gerhardt 1676-1976, 110 ff., aber abgelehnt. Ich denke, eine weitere Beurteilung dieses Zusammenhangs muß eine Darstellung der Bedeutung dieser Hausgemeinde von der Reformation ab miteinbeziehen. Vgl. auch PATRICE VEIT, Private Frömmigkeit, sowie, ders., Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit; PAUL GRAFF, Bd. 1, 271-295; HANS LEUBE, Die Theologen und das Kirchenvolk. 44 Abgebildet und erklärt von DIETER LOHMEIER, Die Verbreitungsformen des Liedes im Barockzeitalter, 59 f.
Das Werk Paul Gerhardts
21
,Verneuert und Vermehret Christliches Gesangbuch/ In sich haltend . . . geistliche Lieder . . . Deren sich ein Christlich Evangelisches Hertz/ zur Erweckund Fortstellung seiner Andacht/ so in der Kirchen als zu Hause nützlich gebrauchen kann . . F r e i b e r g 1675; ,Nürnbergisches Gesang-Buch/ Darinnen . . . Lieder . . . zu Beförderung frommer Christen Hauß- und Kirchen-Andachten ...', Nürnberg 1677.
Mit seinem Liederschaffen steht Paul Gerhardt in einem Netz vielfacher literarischer Bezüge. Dies zunächst einmal durch die Nachbarschaft, in welche er seine Lieder durch ihre Veröffentlichung mit denen anderer setzte, zumal in der , Praxis pietatis melica'. Dieses Gesangbuch stellte, wie die meisten seiner Zeit, eine Anthologie dar, wobei die einzelnen Werke nicht nach ihren jeweiligen Autoren geordnet waren, sondern nach Rubriken, die sich im ersten Teil an die Teile des Kirchenjahres hielten, im zweiten an gewisse Sachthemen 47 . Die neben Gerhardt selbst am stärksten vertretenen Liederdichter sind in der Ausgabe von 1653 Johann Heermann, Martin Luther, Bartholomäus Ringwald, Johann Franck und Johann Rist. Sodann erweisen sich viele seiner Lieder - schon in der Titelgebung weisen sie darauf hin - als Nachdichtung von Vorlagen. Allen voran sind es Nachdichtungen biblischer Vorlagen oder auf einzelne Bibelstellen aufbauende Lieder 48 . Allein 25 Psalmen sind von Paul Gerhardt nachgedichtet worden. Daran schließt sich eine Reihe von Nachdichtungen von Stücken späterer christlicher Literatur an 49 . Besonders hervorzuheben sind dabei die Nachdichtungen der sieben „Passionssalven", Hymnen, in denen die Körperteile des leidenden Herrn Jesus Christus gegrüßt wurden. Diese Hymnen wurden damals allgemein Bernhard von Clairvaux zugeschrieben. Mittlerweile hält man die meisten von ihnen für ein Werk Arnulfs von Löwen 50 . Außerdem finden sich Umsetzungen von sechs Gebeten Johann Arndts aus dessen Gebetbuch ,Paradiesgärtlein' in Liedform 51 und Nachdichtungen von Gedichten Johann Stadlmayrs, Nathan Chyträus', Sebald Heydens und Paul Röbers 52 . In der letzten Zeit wurde auch darauf hingewiesen, daß Stücke aus den Evangelienpostillen von Moller, Arndt und Johann Gerhard als Vorlagen zu Gerhardt-Liedern gedient haben könnten 53 . 47
S.u. S.91 ff.
48
Ü b e r s i c h t b e i PETRJCH,
200-206.
49
Ü b e r s i c h t b e i PETRJCH,
206-217.
50
CS 18-24. Sie und Paul Gerhardts Nachdichtungen werden unten ausführlich besprochen, S. 240 ff. 51 CS 59 f.; 64 f.; 78 f. 52 All diese Vorlagen sind abgedruckt in der Ausgabe hg. v. Kemp, 26-39. Weitere Vorlagen und Abhängigkeiten werden vermutet von AELLEN, Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts, und von PETRICH, 217-230, sowie von FORNACON. 53 ELKE AXMACHER, Paul Gerhardt als lutherischer Theologe, 87, ANM. 19. Literarische Abhängigkeiten Gerhardts von Moller werden auch dargelegt von WALDTRAUT-INGEBORG SAUER-GEPPERT, Eine Vorlage zu Paul Gerhardts „O Welt, sieh hier dein Leben", verteidigt
22
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick
In den Ausgaben der Praxis pietatis melica und auch in anderen Ausgaben wie jener der Gerhardtschen Lieder von Feustking ist angegeben, zu welchem Sonn- oder Festtag des Kirchenjahres das jeweilige Lied gehört, womit auch ein Bezug des Liedes zu dem Evangelium dieses Tages gegeben ist, welches in diesen Postillen ausgelegt wurde 5 4 . Eine Beziehung auf biblische Texte ergibt sich dadurch nicht nur bei den Liedern, die ausdrückliche Nachdichtungen oder Entfaltungen eines solchen sind. Außerdem wurden diese Bibeltexte in Postillen und in kommentierten Bibelausgaben mit anderen Bibeltexten in Verbindung gebracht. Dadurch erweitert sich das Netz der biblischen Aussagen, die für ein Lied Paul Gerhardts von Bedeutung sind 55 . Weit ist auch das Feld der Anspielungen und Anklänge der Dichtungen Paul Gerhardts an außerbiblische Werke, vor allem der zeitgenössischen Literatur 5 6 .
3. Die Bildung Paul
Gerhardts
Es soll hier nicht darum gehen, die Bildung, die Paul Gerhardt empfangen hat, möglichst vollständig zu rekonstruieren, genauso wenig wie den literarischen Vorlagen und Anklängen bis ins Einzelne nachzugehen. Aufgabe ist es, Texte aus der mutmaßlichen Bildung Paul Gerhardts ausfindig zu machen, deren Aussage eine wesentliche Stelle einnimmt in dem Zusammenhang des Problems von Gott und dem Leid. gegen den Widerspruch LLSBET JUUL NICOLAISENS, (Welche Vorlage hat Paul Gerhardt für sein Lied: „O Welt, sieh hier dein Leben" benutzt?): Noch einmal: Zur Quellenfrage von Paul Gerhardts „O Welt, sieh hier dein Leben". Eine Entgegnung an Lisbet Juul Nicolaisen. Abermals aufgegriffen von ELKE AXMACHER, Praxis pietatis, 178-189. Auf die Beziehung zu Johann Gerhard verweist BERNOULL I, Johann Gerhardt's meditationes sacrae in ihrer Bedeutung für die Blüthezeit des evangelischen Kirchenliedes. Einen Uberblick über die Kirchenlieder dieser Zeit verschaffen WACKERNAGEL und FlSCHER-TüMPEL sowie ALTHAUS, Friedhof, und die Übersicht im RISM. Zu den verwandten Gattungen der Gebets- und Andachtsbücher s. die Arbeiten von HERMANN BECK, CONSTANTIN GROSSE u n d PAUL ALTHAUS D . Ä . 54 Eine Ubersicht über diese Zuordnungen in den ältesten Ausgaben bietet BUNNERS, Paul Gerhardt, 376-382, bzw. ders., Paul Gerhardts Lieder in der Ordnung des Kirchenjahres. 55
Z u d e r P o s t i l l e n l i t e r a t u r d e s 1 6 . / 1 7 . J a h r h u n d e r t s s. g r u n d l e g e n d HANS-HENRIK KRUM-
MACHER, Der junge Gryphius und die Tradition, 69-90. Für die biblischen Vorlagen und Anspielungen der Gerhardt-Lieder im EKG s. RUDOLF KÖHLER, Die biblischen Quellen der Lieder. Für deren weitere Erforschung empfehlen sich die kommentierten Bibelausgaben, welche in den damaligen kurzen Darstellungen des Theologiestudiums genannt wurden, so die ,Biblia cum glossis interlinearis' Lucas Oslanders, und die deutschen Bibelausgaben von Daniel Cramer und von Leonhard Hutter, s.Johann Hülsemann, Methodus Studii Theologici, 270; Balthasar Meisner, Brevis Instructio, 402 (beide im Anhang von Hülsemanns ,Methodus concionandi"). JÖRG-ULRICH FECHNER, Paul Gerhardts Lied, 11, und Paul Gerhardt (Gestalten der Kirchengeschichte), 187, ihm folgend HEIMO REINITZER, Die Interpretation vor der Textkritik, 155 f., verweisen auf die „Kurfürstenbibel" von 1640. * PETRICH, 2 1 9 - 2 3 0 .
Die Bildung Paul Gerhardts
23
In dem vorangegangenen Überblick über seinen Lebenslauf wurde bereits sichtbar, daß Paul Gerhardt, trotz allem „Privat- und Hauskreuze" und allgemeinem „Landes- und Stadtunglück"57, womit sein Leben übersät war, es verstanden hatte, sich eine durchaus weitläufige und gediegene Bildung zu verschaffen. In der Tat hatte er noch von dem hohen Stand von Bildung profitieren können, welcher in Deutschland bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges erreicht worden war58. Gerhardt hatte an den Stätten seines Lebenskreises studiert, die am besten dazu geeignet waren, eine solche Bildung zu verschaffen. In Grimma hatte er wahrscheinlich bereits die sieben bernhardinischen Passionssalven kennengelernt, die er später in deutscher Sprache nachdichten sollte 59 . In Wittenberg waren die Möglichkeiten noch vielfältiger. Um einen Aufschluß über Gerhardts mögliche Bildung in Wittenberg zu erhalten, wende ich mich zu diesem Zweck einer kurzen Darstellung des Theologiestudiums zu, die Johann Hülsemann, seinerzeit Professor in Wittenberg, verfaßt hatte, ,Methodus studii theologici' 60 . Dort stellt er einen Lektürekanon für Theologiestudenten zusammen 61 : - die Bibel samt Kommentatoren, - katechetische Schriften, worunter das Konkordienbuch, also die Bekenntnisschriften, zu verstehen sind, aber auch Hutters Compendium, das „ad unguem nosse", aufs genaueste zu kennen sei, - polemische Schriften: hier nennt er die Loci-Literatur, wie etwa die Loci communes Leonhard Hutters oder Johann Gerhards; Balthasar Meisner nennt sie „loci theoretici" 62 ,
57
Ein Ausdruck, den er selber zu gebrauchen pflegte, Leichensermon Wernicke, bei CS,
430. 58 TRUNZ, Meyfart, 334, beziffert die deutsche Buchproduktion pro J a h r für 1613 auf 1780, einen Stand, der erst 1780 wieder erreicht wurde. 1637 waren es allerdings nur mehr
4 0 8 . JÖRG BAUR, D i e L e u c h t e T h ü r i n g e n s , 3 3 6 , bei A n m . 5, z i t i e r t ERNST JÜNGER, „ d a ß ein
Grad der Kultur, wie er in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Krieg bestand, nie wieder erreicht wurde.", JONGER, Siebzig verweht, Bd. 2, 563. BAÜR meint, d a ß sich dieser Höchststand noch während des Krieges erhalten habe. 59 Sie waren enthalten in einem Passionale, das Adam Siber, der erste Rektor dieser Schule, zusammengestellt hatte, PETRICH, 32. 60 Sie befindet sich in dem Anhang seiner ,Methodus concionandi', nebst ähnlichen Schriften von Balthasar Meisner (Brevis Instructio) und Leonhard Hutter (De Studio Theologico), s. o. S. 22, Anm. 55. Diese Literatur der Studienanweisungen ist hervorgegangen aus Luthers Vorrede zur deutschen Gesamtausgabe seiner Schriften von 1539, s. OSWALD BAYER, Oratio, 14, Anm. 44. Siehe dazu auch RUDOLF MAU und KAUFMANN, Universität, 255, Anm. 15, mit weiterführender Lit. KAUFMANN, das., 253-318, zu den Studienanweisungen im Rostocker Bereich. " „Autorum classes qvi legendi sunt", Hülsemann, Methodus studii theologici, 266, vgl. die Ausführung, 264-299, in welcher er am Schluß noch die Kirchengeschichte hinzufügt. 62 Sie sind der Schauplatz der Kontroversliteratur: Meisner, Brevis Instructio, bei Hülsemann, Methodus concionandi, 406.
24
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick - praktische Schriften wie die Meditationes Johann Gerhards, Augustins Confessiones, die Ars moriendi usw.
Man sieht, daß die damalige Einteilung der Theologie der heutigen nicht ganz entsprach. Was heute „Dogmatik" genannt wird, wurde damals am ausführlichsten in den Loci communes theologici (theoretici) entfaltet. Dies ergab sich eben aus der Notwendigkeit, das, was man zu einem bestimmten Thema (locus) zu sagen hatte, gegen mögliche oder tatsächliche Einwände zu verteidigen. Die logisch geführte Argumentation und die dadurch herbeigeführte Entfaltung einer These sind also für diese Art von Schrifttum charakteristisch. Einen Hinweis auf Paul Gerhardts Kenntnisse dieser Loci-Literatur findet sich in einer seiner kontroverstheologischen Stellungnahmen im Konflikt mit dem Kurfürsten. Dort nennt er neben Hutter Chemnitz, Meisner, Johann Gerhard, Hülsemann, Calov, Martinius (wohl Jakob Martini), Quistorp, Hunnius, Brochmann, Calixt (!), Balduin, Mylius und H ö k e r „unsere[r] Lehrer" 63 . Einen weiteren Hinweis gibt der ,Catalogus Bibliothecae Gerhardinae', der den Nachlaß verzeichnet, den Paul Gerhardts einziges überlebendes Kind Paul Friedrich zurückließ und der 1716 versteigert wurde. Er wird auch Werke aus dem Besitz Paul Gerhardts enthalten haben. In diesem Katalog ist reichlich die Theologie der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vertreten, darunter Mathesius, Heerbrand, Heshusius, David Chyträus, mehrere Werke von Hutter, Johann Gerhards Meditationes und Schola pietatis, Balthasar Meisner, König und Calov 64 . Wenn nun unter den Werken dieser Fülle von Autoren eines ausgewählt werden soll, welches die von Paul Gerhardt anerkannte Lehre in einem ausführlicheren Umfang argumentativ entfaltet, so ist es das Nächstliegende, ausgehend von Hutters ,Compendium', welches damals Pflichtlektüre war 6 5 , sich dessen ,Loci communes theologici' zuzuwenden. Diese, postum
63
B e i LANGBECKER,
55.
64
PETRICH, 188. In den - mittlerweile staatlichen - Bibliotheken von Berlin und Dresden, wo Petrich diesen Katalog einsehen konnte, zählt er zu den Kriegsverlusten. Woanders ist er nicht zu ermitteln. - Mit Calov verband Gerhardt, nachdem er bereits in Berlin seßhaft war, während dieser inzwischen in Wittenberg die führende Stellung eingenommen hatte, eine durchaus enge Beziehung. Zwar hatte der brandenburgische Kurfürst 1662 seinen Landeskindern verboten, in Wittenberg Theologie und Philosophie zu studieren. Gerhardt hingegen führte mit Calov einen Briefwechsel, der leider nicht erhalten ist. 1664 verfaßte Gerhardt, nachdem Calovs Tochter Regina, verheiratet mit einem Sohn von Gerhardts Lehrer Wilhelm Lyser (Leyser), in Wittenberg verstorben war, ein Lied zu diesem Todesfall, das von Calov in den zweiten Teil seines Wittenbergischen Gesangbuches von 1673 aufgenommen wurde (CS 125); s. PETRICH, 137; 134; 143 f. 65 ELKE AXMACHER weist in ihrem richtungweisenden Aufsatz ,Paul Gerhardt als lutherischer Theologe', 92-103, wörtliche Übereinstimmungen von Gerhardts Liedern mit dem Compendium nach.
25
Die Bildung Paul Gerhardts
1619 veröffentlicht, „enthalten das gesammte gelehrte Material, auf dem das ,Compendium' auferbaut worden war." 66 . Sie bringen die „gelehrte Ausführung und weitere Begründung dessen, was das Kompendium in kürzester Fassung geben will" 67 . Sodann sind sie zu Gerhardts Studienzeit, in welcher er als Theologe geprägt wurde, das jüngste Loci-Werk der Wittenberger Theologie gewesen; die oben genannten damaligen Professoren Röber, Martini, Leyser und Hülsemann haben keine Loci hinterlassen 68 . Blickt man auf die praktische theologische Literatur, die für Paul Gerhardt wichtig gewesen ist, so muß man - neben Johann Gerhard und Martin Moller - zuallererst an Johann Gerhards geistlichen Vater Johann Arndt denken. Nicht nur, daß Gerhardt sechs Gebete dieses Mannes aus dessen ,Paradiesgärtlein' zu Liedern umgearbeitet hat - Gerhardt trug dieses Gebetbuch selbst ständig bei sich 69 . Das ,Paradiesgärtlein' ist selbst eine Ergänzung oder besser Durchführung von Arndts Hauptwerk, den ,Vier Büchern vom wahren Christentum', mit dem zusammen es auch oft gedruckt worden ist 70 . In den ,Vier Büchern' forderte Arndt gerade den Übergang von der theoretischen zur praktischen Ebene der Theologie; es gehe ihm, sagte er, darum, daß zu dem bloßen Wissen von Gottes Wort die praktizierte Liebe komme, wie sie sich am angemessensten im Gebet darstelle 71 . Damit ist zugleich einer der Aufgaben Genüge getan, welche die Poetik, mit weiterer Zielsetzung noch die Rhetorik, von einem Gedicht bzw. einer Rede fordert. Die Affekte der Menschen sollen dadurch bewegt werden;
"
BRECHER, A x t H u t t e r ,
477.
ROBERT D .
PREUS, T h e T h e o l o g y
of
Post-Reformation
Lutheranism, Bd. 1, 51 f., bezeichnet die ,Loci' als eine Erweiterung des ,Compendium' und sagt, sie seien als Textbuch in Seminaren benutzt worden. 67
WAGENMANN/JOHANNES KUNZE, A r t . H u t t e r ( H ü t t e r ) ,
499.
68
Von Paul Röber wird gesagt, er habe einen besonderen Einfluß auf Gerhardt ausgeübt, PETRICH 44. Diese Vermutung gründet sich, abgesehen davon, daß dieser ein Lied von ihm nachgedichtet hat, auf seine gleichgeartete Neigung zur Musik und zur praktischen Theologie. Als theoretischer Theologe ist er freilich nicht bedeutend, s. HANS LEUBE, Art. Roeber; FRANZ LAU, Art. Roeber, 1136. Johann Hülsemanns ,Breviarium theologiae', erweitert durch ein ,Supplementum' zu einer ,Extensio breviarii theologiae', bringt zu dem Stoff dieser Untersuchung nichts Wesentliches hinzu, abgesehen von dem Thema der unio mystica, auf welches unten S. 161 ff. noch eingegangen werden wird. - Ein Vollständigkeit anstrebendes Verzeichnis seiner Schriften bringt MAX KELLER-HÜSCHEMENGER, Das Problem der Fundamentalartikel bei Johannes Hülsemann, 187-189. 69 So der Gerhardt-Herausgeber Feustking, der von Gerhardts Sohn biographische Kenntnisse über ihn hatte, in dem , Vorbericht' seiner Ausgabe,)()(3v/bei ECKART, 14. Vgl. BERNARD VOGLER, D i e G e b e t b ü c h e r d e r l u t h e r i s c h e n O r t h o d o x i e ( 1 5 5 0 - 1 7 0 0 ) ; PAUL ALTHAUS D . Ä . ,
Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur; CHRISTIAN BRAW, Das Gebet bei Johann Arndt. 70 Theologenlexikon, Art. Arnd(t), Johann, 13. Zu Arndt s. Hans Schneider, Art. Arndt, Johann. 71 S.u. S. 154 ff.
26
Leben und Werk Paul Gerhardts im Überblick
der Redner will auf diese Weise seine Hörer zur Tat, zum Handeln antreiben. Für die Rekonstruktion der rhetorischen Bildung Paul Gerhardts sind die ,Rhetorices contractae' von 1606 des niederländischen Gelehrten Gerhard Johannes Vossius zugrundezulegen, eine Kurzfassung seiner ,Commentariorum rhetoricorum, sive oratoriarum institutionem libri sex'. Die ,Rhetorices contractae' waren das damals an Gymnasien im protestantischen, auch lutherischen Deutschland am weitesten verbreitete Schulbuch für Rhetorik 72 . Johann Matthäus Meyfart mit seiner - wirkungsgeschichtlich - ersten deutschen, übrigens häufig auf Vossius verweisenden, Rhetorik kommt hier nicht so sehr in Betracht, da er die gerade für uns besonders wichtigen Bereiche der inventio - worin die Affektenlehre enthalten ist und der dispositio ausläßt 73 . Auch wenn Paul Gerhardt nicht aus den ,Rhetorices contractae' gelernt haben sollte, so wird seine rhetorische Bildung mit einiger Wahrscheinlichkeit der Rhetorik des Vossius entsprochen haben. Allerdings ist diese eine weltliche Rhetorik, so daß es sich empfiehlt, auch die Kunst der geistlichen Rede, die Predigtlehre, in Betracht zu ziehen, wie sie in der ,Methodus concionandi' von Gerhardts Lehrer Hülsemann - einem erkennbar aus Vorlesungen erwachsenen Werk - greifbar ist74; hier finden sich auch Modelle der Transformierung von Lehraussagen in praxisbezogene Rede des Anspruchs und des Zuspruchs. Als dritte Aufgabe eines Gedichts nach dem docere und dem affectum movere wurde mit besonderer Hervorhebung in der Poetik dieser Epoche das delectare durch die Schönheit der Sprache behandelt. Poetik wurde in Wittenberg zu Gerhardts Zeit gelehrt von August Buchner. Buchner Schloß sich - mit Modifikationen - in seiner Poetik Martin Opitz an, der 1624 in seinem ,Buch von der deutschen Poeterey' die deutsche Dichtkunst auf neue Wege geleitet und anschließend auch Buchner in Wittenberg aufgesucht hatte 75 . Buchners Poetik, in seinen Vorlesungen vorgetragen, wurde postum in den Schriften ,Anleitung zur Deutschen Poeterey' und ,Poet' veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Buchner persönlich auf Gerhardt gewirkt hat 76 . Sowohl Buchner als auch Opitz verwiesen aber grund71 BRAUNGART, 2 1 9 - 2 2 3 , sich berufend auf das grundlegende W e r k von WILFRIED BARNER, Barockrhetorik, 2 6 5 - 2 6 8 . Weitere H i n w e i s e auf die Verbreitung des V o s s i u s bei PETERSEN, G e s c h i c h t e der aristotelischen P h i l o s o p h i e im protestantischen D e u t s c h l a n d , 191, Anm. 1; DYCK, P h i l o s o p h i s c h e s Ideal und rhetorische Praxis der Aufklärung, 193, bei A n m . 11, und bei SCHINGS, D i e patriotische und stoische Tradition, 6, bei A n m . 22. Literatur zur Person des V o s s i u s s. GARBER, Martin O p i t z , A n m . 40 (176). 73 Vgl. BRAUNGART, 220: „Wenn M e y f a r t inventio und dispositio ausklammert, s o deutet dies darauf hin, d a ß es ihm um eine E r g ä n z u n g der schulischen Lehre geht." 74 Vgl. die H o m i l e t i k e n der R o s t o c k e r P r o f e s s o r e n , KAUFMANN, Universität, 4 6 9 - 5 0 7 ; das., 4 9 4 , A n m . 370, auch der Einfluß der H ü l s e m a n n s c h e n H o m i l e t i k auf die H e i n r i c h Müllers vermerkt. 75 PETRICH, 50. 76 HAHNE, Paul Gerhardt und A u g u s t Buchner, auf den sich auch LOTHAR SCHMIDT, 2 9 7 , beruft. PETRICH, 51 f., setzt z w a r diese W i r k u n g geringer an, d o c h ist das auf seine G r u n d -
Die Bildung Paul Gerhardts
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sätzlich und wiederholt auf die ,Poetices libri Septem' von 1561 des italienischen Humanisten Julius Caesar Scaliger als der umfassenden und normativen Poetik, deren Regeln sie auf die deutsche Sprache zu übertragen suchten 77 . Das Eigentümliche von Gerhardts Poesie als geistlicher Dichtung und als mit Musik verbundener Lieddichtung muß aber nicht zuletzt auch aus ihr selbst und aus Vorreden der Ausgaben erhoben werden, in welchen sie veröffentlicht wurde. Meine Untersuchung des Verhältnisses, das Gerhardt zu Gott und dem Leid eingenommen hat, wird auf alle diese Themenfelder eingehen und behandelt zu diesem Zweck für die theoretische Theologie vor allem Hutter, daneben noch Johann Gerhard als den bedeutendsten lutherischen Dogmatiker dieser Zeit, Hülsemann, Calov und Quenstedt. Um den geschichtlichen Hintergrund sichtbar zu machen, gehe ich auf Philipp Melanchthon, die Konkordienformel und Martin Luther ein. Für die Metaphysik, welche der theoretischen Theologie das begriffliche Instrumentarium lieferte, ziehe ich Gerhardts Wittenberger Lehrer Jakob Martini und Johannes Scharf heran 7 8 , für die erbauliche, d. h. „praktische" Theologie Arndt, für die Rhetorik Vossius und Hülsemann und für die Poetik Buchner, Opitz und Scaliger.
annahme zurückzuführen, daß ein dichterischer Genius sich unabhängig von einer gelehrten Poetik entfalte. Eben diese Annahme ist zumindest bei der Dichtung des 17.Jahrhunderts problematisch. BORCHERDT, 43, behauptet, daß Gerhardt Buchner gehört habe. SZYROCKI in seinem Nachwort zu .Poetik des Barock', 263, nennt Paul Gerhardt kurzerhand einen Schüler Buchners. 77 Zur damaligen Poetik s. MARIAN SZYROCKI, Nachwort zu ,Poetik des Barock'; GEORG BRAUNGART, Rhetorik, Poetik, Emblematik, 223-228. 78 Zu Jakob Martini s. WUNDT, Die deutsche Schulmetaphysik des 17.Jahrhunderts, 106-110; LEINSLE, Das Ding und die Methode. Methodische Konstitution und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik, Bd. 1, 221-239; zu Scharf, der selber Schüler Jakob Martinis war, WUNDT, 115-117.
TEIL С
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung 1. Eigenart und Aufbau der ,Loci' Hutters. Die Verortung des Problems darin Textgrundlage für die Darstellung in diesem Teil werden durchgehend die ,Loci' und das ,Compendium' Hutters sein. Außerdem werden die ,Loci' Johann Gerhards, der beherrschenden Gestalt unter den lutherischen Theologen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, herangezogen. Zur Klärung mancher der in diesen Loci gebrauchten Begriffe wird auf die Metaphysiken Jakob Martinis und Johannes Scharfs verwiesen, die in dieser Zeit in Wittenberg lehrten. Den historischen Hintergrund dieser Theologie bilden zunächst einmal Philipp Melanchthon und die Konkordienformel, aber auch, in einer gerade für unsere Thematik bedeutsamen Kontrastierung und Problematisierung, Martin Luther. Was die Charakteristik der ,Loci' Hutters betrifft, so geht diese schon aus ihrem Titel hervor 1 und wird in den Prolegomena 2 weiter erläutert. Hutter folgt in der Darstellung der einzelnen Loci den ,Loci praecipui theologici' Melanchthons der 1545 einsetzenden tertia aetas. So bringt er zuerst stets eine Inhaltsangabe des Locus bei Melanchthon, wobei er angibt, wo gegebenenfalls Melanchthon von der orthodoxen Lehre abgeirrt sei, so daß man ihm nicht folgen dürfe. Das Korrektiv, auf das Hutter sich dabei stützt, ist die Konkordienformel 3 . Diese Lehre wird nun von Hutter anschließend in Form von Syllogismen gebracht, und zwar mit dem Zweck, gegnerische Lehren begründet abweisen zu können. Umgekehrt werden auch diese auf ihren logischen Gehalt hin untersucht, um sie widerlegen zu können. Dabei geht Hutter auch auf Kontroversen ein, die 1 Leonhard Hutter, Loci communes theologici ex sacris Uteris diligenter eruti, Veterum Patrum testimoniis paßim roborati, et conformati ad methodum Locorum Philippi Melanchthonis, adeoque singulari dexteritate ita explicati, ut divina veritas ex iis facile cognosci, et adversiorium sophismata sufficienter refutari poßint. 2 Hutter, Loci, 1-10, insbes. cap. IV, 10. 3 Hutter, Loci, Prolegomena, cap. I—III, insbes. 7-10. Man sieht also, daß Hutters Werk keineswegs den großen lutherischen Gegenschlag gegen Melanchthon darstellte, vgl. die dies naheliegenden Darstellungen von PETRICH, 35 f., und BRECHER. Es handelte sich nur um eine partielle Revision. Die ,Loci' von Martin Chemnitz - denen sich Hutter wiederum ausdrücklich für sein ,Compendium' anschließt, s. dort, XI - lehnten sich auch auf diese Art an Melanchthon an, s. deren Titel u. TROELTSCH, Vernunft und Offenbarung, 89.
Eigenart und Aufbau der ,Loci' Hutters
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Melanchthon noch nicht behandelt hat, die mittlerweile aber eine Rolle spielen. Die Punkte, die Hutter bei der Behandlung des Gegenstands eines bestimmten Locus selbst durchgeht, folgen in der Regel der Methodenlehre Melanchthons: der Name des Gegenstands wird erklärt, seine Existenz bewiesen, sein Wesen, seine Einzelteile, seine Art bestimmt, seine Ursachen (nach der Vielfalt des aristotelisch-scholastischen Ursachenbegriffs) und Wirkungen aufgeführt, mit ihm verbundene und verwandte Gegenstände behandelt und eben falsche Lehren über ihn widerlegt 4 . Was die Anordnung der Loci betrifft, erklärt Hutter in dem Vorwort seines , Compendium' unbekümmert, er lege keinen großen Wert auf die Methode 5 . Es genüge ihm, der einfachen Vorgehensweise Melanchthons und Heerbrands zu folgen: man richte sich nach der Ordnung des Glaubensbekenntnisses, und wie bei einem Gänsemarsch folge ein Locus auf den anderen, ein jeder erzeugt den nachfolgenden. Allerdings ist diese Aussage mit Vorsicht zu genießen. Denn Hutter hat in seinen ,Loci' und im , Compendium' teilweise eine verschiedene Reihenfolge und Aufteilung der Loci, und auch von Melanchthon weicht er hierin gelegentlich ab. Die Durchführung dieser Untersuchung wird auch zeigen, daß zwischen einzelnen Loci, auch wenn sie nicht unmittelbar aufeinander folgen, Querverbindungen bestehen, die durchaus von Bedeutung sind. Die Loci, in denen das Verhältnis zwischen Gott und dem Leid in erster Linie zur Sprache kommt, sind der Locus , D e Providentia' 6 - in den ,Loci' mit den daran anschließenden Loci , D e causa peccati' 7 und , D e necessitate et contingentia' 8 - und der Locus , D e cruce et consolationibus' 9 . In beiden Werken Hutters - wie auch bei Johann Gerhard und Melanchthon 1 0 , der die Providenzlehre innerhalb des Locus , D e creatione' behandelt - steht jener Locus ziemlich am Anfang, im ersten Teil einer heilsgeschichtlich aufgebauten Reihenfolge, gleich nach der Schöpfungslehre. Dieser ist einer der letzten, in einer Gruppe von eher lose, anhangsartig angeordneten Loci; eine feste Verknüpfung hat er dort nur mit dem nachfolgenden Locus über das Gebet. In der T a t stellt die Lehre von Kreuz und Trost eine
4 M e l a n c h t h o n , E r o t e m a t a dialectices, D e m e t h o d o , C R 13, 5 7 3 - 5 7 8 , unter Hinweis auf Aristoteles, vgl. WIEDENHOFER, 370. D i e s e m e t h o d i s c h e n S c h e m a t a auch ü b e r n o m m e n von C h e m n i t z , L o c i , F r a n k f u r t / M a i n 1591, B d . I , 2 1 7 , s. TROELTSCH, V e r n u n f t , 49. s H u t t e r , C o m p . , B e n e v o l o Lectori S., Xf. 6 H u t t e r , L o c i , L o c u s IV, 217-232. 7 Hutter, Loci, Locus V, 232-253. 8 H u t t e r , Loci, L o c u s V I , 253-262. 9 S o im , C o m p e n d i u m ' formuliert. In den , L o c i ' heißt es , D e cruce et calamitatibus, sive afflictionibus humanis'. D a r a n schließen A n h ä n g e an: , D e f o e d e r i b u s C h r i s t i a n o r u m ' , , D e bellis C h r i s t i a n o r u m ' , , D e f u g a C h r i s t i a n o r u m t e m p o r e pestis et persecutionibus'. 10 J o h a n n G e r h a r d , L o c u s V I , in d e r hier benutzten A u s g a b e der Loci hg. v. Preuß, T o m . 2 , 1 7 - 4 7 . In der A u s g a b e hg. v. C o t t a hat dieser L o c u s a u f g r u n d einer anderen Z ä h l u n g die N u m m e r V I I . Z u M e l a n c h t h o n s. auch TROELTSCH, V e r n u n f t , 85.
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
gewisse Anwendung und Durchführung der Providenzlehre dar. So wollen wir uns zunächst einmal der Lehre von der Vorsehung zuwenden.
2. Die Lehre ,De
Providentia'
2.1. Der Entwurf der Providenzlehre und das epikureische Dilemma Hutter geht in Locus IV ,De Providentia' seiner ,Loci' so vor, daß er nach einer Klärung des Sprachgebrauchs und einer Definition von Vorsehung ihre Existenz aus Gründen der Schrift und der Weltbetrachtung beweist, Gegengründe widerlegt (Quaestio I) 11 , dann das Ausmaß der göttlichen Vorsehung bestimmt (Quaestio II) 12 , drittens als die Form oder Art und Weise (forma quive modus) der Vorsehung in ihrem Bezug auf die Handlungen des Menschen „conservatio" und „gubernatio" nennt (Quaestio III) 1 3 , viertens schließlich die „Providentia" in Beziehung mit den verwand-
ten Begriffen „praescientia" und „praedestinatio" stellt (Quaestio IV) 14 . In den anschließenden Loci über die Ursache der Sünde (Locus V) und das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz (Locus VI) werden Gedanken weiter ausgeführt und aufgefächert, die im Locus ,De Providentia' schon eine Rolle gespielt haben. Aus diesem Grunde soll meine Darstellung der Hutterschen Providenzlehre an der Behandlung der Probleme orientiert sein, die f ü r sie wesentlich sind und sich durch alle drei Loci durchziehen.
Hutter definiert Providentia so, daß sie die praescientia, das bloße Vorauswissen, mit einschließt, aber noch mehr ist als dies. Providentia ist erstens die Fähigkeit (facultas), für andere vorzusorgen (prospicere) mit dem, was sie nötig haben, und zweitens die Anwendung dieser Fähigkeit, also die Vorsorge selbst. Providenz heißt väterliche Fürsorge Gottes für seine S c h ö p f u n g (cura 11
paterna)15.
Hutter, Loci, 2 1 8 - 2 2 2 . Hutter, Loci, 2 2 2 - 2 2 7 . 13 Hutter, Loci, 2 2 7 - 2 3 1 . 14 Hutter, Loci, 231 f. 15 Hutter, Loci, 2 1 8 a („a" und „b" n a c h der Seitenzahl bedeuten jeweils die linke o d e r die rechte Spalte). J o h a n n G e r h a r d baut in seinen ,Loci', Locus V I , D e Providentia', cap. II (Loci, T o m . 2 , 19, vgl. die Entfaltung, 19 ff.), seine D e f i n i t i o n etwas anders auf. D o r t f o l g e n aufeinander das V o r - (bzw. Alles-)wissen, der Wille, V o r s e h u n g auszuüben (voluntas, prothesis) und die A u s ü b u n g selbst. Anstelle der Fähigkeit, V o r s e h u n g auszuüben, steht also hier bereits der V o r s a t z dazu. Vgl. AXMACHER, Paul Gerhardt, 9 7 f., und für die B e h a n d l u n g dieser Lehre in der altlutherischen O r t h o d o x i e im Überblick: VLERING, G r u n d f o r m e n des V o r s e h u n g s g l a u b e n s , 5 3 7 - 5 4 9 (der sehr einfallsreich, aber auch gelegentlich z i e m l i c h u n k o n zise ist); FLÜCKINGER, V o r s e h u n g und Erwählung in der reformierten und in der lutherischen T h e o l o g i e , v o r allem 5 1 0 - 5 1 7 ; 5 2 0 - 5 2 2 ; RATSCHOW, L u t h e r i s c h e D o g m a t i k , 2 0 8 - 2 4 7 ; SCHMID, D i e D o g m a t i k , 1 2 0 - 1 3 4 ; PREUS, Bd. 2, 2 0 8 - 2 2 0 ; KROLZIK, Säkularisierung der Natur. P r o v i d e n t i a - D e i - L e h r e und Naturverständnis der Frühaufklärung; zur Lehre von K o n 12
Die Lehre , D e Providentia'
31
Das Problem, dem sich Hutter dann sogleich zu stellen hat, ist das Übel 16 . Durch die Existenz des Übels ist die Existenz einer Vorsehung in Frage gestellt. Wenn nämlich eine Vorsehung Gottes ist, argumentiert die Gegenposition - die er den Epikureern zuschreibt 17 , dann geht Gott sowohl mit Gutem als auch mit Üblem um. Wenn er aber mit ihm umgeht, warum hebt er es nicht auf? Dazu werden vier denkbare Antworten erwogen: 1. Gott will es aufheben, kann es aber nicht. Dann ist er allerdings ohnmächtig. 2. Gott kann es aufheben, aber er will nicht Dann ist er freilich neidisch. 3. Er kann es nicht und will es nicht Dann ist er sowohl ohnmächtig als auch neidisch. 4. Er kann es und will es. Dann bleibt aber die Frage ungelöst, warum er das Übel nicht aufhebt. Wenn er das aber, wie es tatsächlich der Fall ist, nicht tut, mit welchem Recht wird dann Gott Vorsehung zugeschrieben?
Man sieht, daß die These einer Vorsehung als eines Handelns Gottes an dieser Welt gleich mehrere Eigenschaften Gottes mit ins Spiel bringt. Hier sind es Gottes Allmacht und seine auf seine ganze Schöpfung sich beziehende Güte. Ein Gott, der alles für seine Schöpfung Nötige besorgt, muß die Macht besitzen, dies tun zu können, und sein Wille, der ihn dies tun läßt, ist als gütig zu bezeichnen. Eine solche Gegenüberstellung des Übels bzw. des Leids mit mehreren Eigenschaften Gottes, von denen eine fallen solle, ist also nicht erst von Hans Jonas, den ich in der Hinführung zitierte 18 , formuliert worden, sondern schon vor „Auschwitz". Bei der von Hutter referierten epikureischen Lehre handelt es sich um ein Dilemma, eine logische Figur mit mehreren Begriffen, von denen jeweils einer nicht mit den anderen vom selben Subjekt - Gott - ausgesagt werden kann. Bei Hutter handelt es sich tingenz und Prädestination bei Balthasar Meisner: SPARN, Wiederkehr, 176-180, zu Melanc h t h o n : ENGELLAND, 1 5 3 - 1 5 5 ; 2 1 6 ; 2 2 6 - 2 2 9 ; 4 1 4 - 4 2 4 ; 16
515-519.
Hutter, Loci, 219 f., hier „mala". Zur genauen Unterscheidung der Begriffe wird hier „malum" mitsamt seinen Ableitungen mit „Übel" übersetzt, das „malum culpae" (bei Leibniz „mal morale") mit „das Böse", „Schuld", „Sünde" oder ähnlichem, je nach Zusammenhang, „malum poenae" (bei Leibniz „mal physique") hingegen meint das Leid als Strafe. Diese Begriffserklärungen finden sich bei Melanchthon, Definitiones multarum appellationum, quarum in Ecclesia usus est, 1552/53, StA., 1. Aufl., VI, 808. Zu der Prägung dieser Begrifflichkeit durch Augustin s. SPARN, Art. Leiden, 690. Im Locus ,De cruce' ist für das „malum poenae" seit der Behandlung in Melanchthons ,Loci' in der evangelischen Theologie auch der Ausdruck „calamitas" geläufig, s. u. S. 58 ff. 17 Hutter nennt als Quelle Lactantius, De ira Dei, cap. 13,20 f. Die Laktanz-Ausgaben hg. v. Kraft/Wlosok (die Passage dort 46/47) und hg. v. Ingremau verweisen weiter auf Sextus Empiricus, Pyrrhonische Hypotyposen, 3,9, sowie auf Bezugnahmen bei Cicero, Tertullian, Minucius Felix, Origenes und Julian. Usener, Epicurea, Nr. 374, druckt einfach die LaktanzStelle ab. Das Dilemma entspricht, anders formuliert, der bei Boethius gestellten Frage: „Si quidem deus . . . est, unde malum?", Philosophiae consolationes libri quinque, 1,4,11, zit. bei Leibniz, Theodizee, 1,20 (Bd.II/1, 238/239). 18 S.o. S. 11.
32
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
dabei um drei Begriffe - insofern könnte man von einem „Trilemma" sprechen 1 9 , bei Jonas kommt als vierter noch die „Verständlichkeit" hinzu, womit die auf die ersten drei Begriffe angewandte Logik selbst thematisiert wird. In der T a t wird bei der weiteren Untersuchung unserer Thematik im 17. J a h r h u n d e r t auch dies gefragt sein, welche Rolle die Anwendung der Logik in dieser Thematik spielt 20 . Die Auseinandersetzung mit dem Problem, welches in dem epikureischen Dilemma formuliert wurde, geschah in der Theologie des 16. und 17. J a h r hunderts in der Regel in der Lehre von der Vorsehung. Eine eigene Lehre von den göttlichen Eigenschaften findet sich bei Leonhard H u t t e r nicht, bei J o h a n n G e r h a r d hingegen schon. Das Eigentümliche, wie dort Gottes Eigenschaften aufgefaßt werden, tritt in den Usus-Abschnitten hervor, in welchen der Gebrauch genannt wird, den man von der jeweiligen Lehre machen solle. Jedesmal zählt Johann Gerhard zu diesem usus, d a ß G o t t um dieser Eigenschaft willen gelobt werde. Eine christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes, bzw. von dem, was deren Existenz in Frage stellt, genügt also nicht sich selbst, sondern soll in einen Gebrauch umgesetzt werden. Die Eigenschaften Gottes werden in diesem Gebrauch zum Gegenstand menschlichen Lobpreises, ein Aspekt, der noch eine Rolle spielen wird, wenn der Ubergang von der gelehrten Theologie zum Lobpreis bzw. Bittgesang betrachtet wird, wie ihn die Lieder Paul Gerhardts darstellen. Die Problematik des epikureischen Dilemmas taucht in dieser Eigenschaftslehre allerdings nur am Rande auf. In dem Abschnitt zu dem usus parakletikos der Lehre von der Allmacht Gottes erklärt J o h a n n G e r h a r d , die zwei Stützen des Vertrauens (fiducia) und allen Trostes seien Dei paterna benevolentia et omnipotentialx. Die Allmacht Gottes wird also hier mit seiner Bereitschaft zusammengestellt, Gutes zu tun. Damit wird die begriffliche Grundkonstellation erreicht, gegen welche sich der epikureische Einwand wendet. In der Lehre von Gottes Gerechtigkeit bringt J o h a n n G e r h a r d dann ausdrücklich den Einwand, d a ß es den Guten schlecht, den Bösen gut geht, und beantwortet ihn mit dem Hinweis auf die Vergeltung in der Ewigkeit 2 2 . Auf entsprechende Weise geht nun auch Leonhard H u t t e r in seinem Locus ,De Providentia' auf das epikureische Dilemma ein. Er bleibt in der Logik des Dilemmas, löst es jedoch gerade an einer anderen Stelle auf als die 19
Siehe HOFFMEISTER, Art. Dilemma, Wörterbuch, 167. Vgl. die Ausführungen über die Sub-contraria-specie-Situation, unten S. 77 f.; 132 ff.; 267 ff. 21 Johann Gerhard, Locus II, cap.VIII, sect.ix, 206 (Loci, Tom. 1, 338). Vgl. die Ausführungen über den usus practicus parakletikos oder parainetikos, sect, χ, § 215, der Lehre von der Gutheit (340 f.), sect, xi, § 227 f., von der Barmherzigkeit (345 f.), sect, xii, § 241 (350) von der Gerechtigkeit und sect.xiv, § 264 von der Allweisheit Gottes (356 f.). 22 Johann Gerhard, Locus II, cap.VIII, sect, xii, 239, qu.7; vgl. § 233, q u . l , (Loci, Tom. 1, 349, vgl. 347). 20
Die Lehre , D e Providentia'
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Epikureer: das Übel muß fallen, und es fällt auch. Denn Gott geht zwar in seiner Vorsehung sowohl mit Üblem wie mit Gutem um, jedoch nicht auf gleiche Weise. Schließlich verbietet er das Böse und verabscheut es. Insofern es aber doch existiert, determiniert er es zu einem guten Ende und bestraft es 2 3 . Es ist klar, daß Hutter dabei das Dilemma an einem entscheidenden Punkt ganz anders auffaßt als die Epikureer. Diese verlangen nämlich, daß das Übel sofort aufgehoben werden müßte, ja, daß es gar nicht existiert, daß es immer schon aufgehoben sein müßte, denn seine bloße Existenz auch nur für einen Augenblick würde einen der beiden Begriffe, Allmacht und Allgüte Gottes, so wie sie gefaßt sind, ausschließen. Diese Auffassung paßt zu einer Philosophie, welche die Unsterblichkeit der Seele leugnet und ganz auf den Genuß des Augenblicks ausgerichtet ist. Hutter hingegen wendet sich von dem gegenwärtigen Augenblick ab hin auf das Ziel der Natur und der Geschichte, auf das Eschaton. Im Eschaton wird in der T a t das der Fall sein, was die Epikureer für den gegenwärtigen Augenblick schon fordern, nämlich die Abwesenheit des Übels. Allerdings ist dies eine Abwesenheit des Übels nur für diejenigen, die Gott erwählt hat und sich mit ihm der ewigen Seligkeit erfreuen. Daneben existiert die Hölle, aber darunter leiden die Seligen nicht, auch nicht aus Mitleid, denn sie sind ganz auf den Willen Gottes ausgerichtet und sehen in der Q u a l der Verdammten nur die Gerechtigkeit von Gottes Willen 24 . Auch Allmacht und Allgüte werden damit anders aufgefaßt als bei den von Hutter zitierten Epikureern. Denn Gottes Allmacht in ihrer Wirksamkeit - also seine Allwirksamkeit - vollzieht sich so, daß sie eine zeitliche Existenz des Übels zuläßt - und es erst mit dem Eintritt der Ewigkeit in gewisser Weise vernichtet. Und seine Allgüte richtet sich letztlich nur auf die von ihm Erwählten: Er gibt ihnen das, was sie nötig haben, um in der Ewigkeit zur höchsten Seligkeit zu gelangen, und richtet zu ihrem Zweck die gesamte Schöpfung mit ihrem gesamten Weltverlauf für sie ein. Übel, die die Seligen treffen könnten, werden am Jüngsten T a g aufgehoben. Die Welt selbst wird hingegen im Eschaton vernichtet 25 . Diese eigenartige Ausführung des Begriffs der Güte Gottes soll noch näher betrachtet werden, wenn es um den Zusammenhang von Providenz- und Prädestinationslehre geht 2 6 ; die Art der Wirksamkeit Gottes wird innerhalb der Providenzlehre H u t t e r , Loci, 220a. Zu dem Begriff „ d e t e r m i n a r e " s. u. S. 40, Anm. 64. H u t t e r , C o m p e n d i u m X X X I V , 7 (141 f.), w o die F r a g e beantwortet wird: „Annon G a u dium vitae aeternae contaminabitur ex eo, q u o d Beati multos s u o r u m coniunctissimorum in Inferno torqueri videbunt?" 25 H u t t e r , C o m p e n d i u m X X X , 1 . 3 (132). Inwiefern d e r neue H i m m e l und die neue E r d e ( A p k 2 1 , 2 ) mit d e r vergangenen S c h ö p f u n g sich in einer solchen Identität befinden wie die Auferstandenen mit den Personen, die sie vor ihrem T o d bzw. ihrer V e r w a n d l u n g waren, bleibt in diesem Z u s a m m e n h a n g o f f e n . Für die B e h a n d l u n g dieses T h e m a s bei J o h a n n G e r h a r d s. STOCK. 26 S . u . S. 51 ff. 23 24
34
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
weiter entfaltet. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß Hutter dem Problem der Theodizee eine eschatologische Auflösung gibt.
2.2. Die Ausübung
von Gottes Allmacht
in seinem
Vorsehungswirken
Hutter charakterisiert, was Gottes Allmacht ist, indem er seine Lehre von der Vorsehung entwickelt. Er stellt die väterliche Sorge Gottes dar, indem er von einem Ursache-Wirkung-Zusammenhang spricht, der, von Gott ausgehend, alles Seiende umfaßt. Vorsehung Gottes wird betrachtet als eine gewisse Form von Kausalität. Eine andere Betrachtungsweise, nicht nach dem causa-Schema, sondern danach, wie der Mensch vor Gott steht, kündigt sich erst an, wenn Hutter vom Gebet spricht 27 . Hutter bestimmt die Weise von Gottes Kausalität in Auseinandersetzung mit gegnerischen, zumeist aus der antiken Philosophie entnommenen Positionen. Dabei geht er so vor, daß er, wie er sagt, sich selber auf dem Königsweg in der Mitte zwischen den von ihr abirrenden Positionen hält 28 . Was die Existenz einer Vorsehung angeht, bezieht er die Mittelposition zwischen den Epikureern einerseits und den Stoikern und einer Position, die später von den Deisten vertreten wurde 29 , andererseits. Die Epikureer bezweifeln, daß es überhaupt einen durchgehenden Ursache-Wirkung-Zusammenhang gibt, der von einem bestimmten Wesen als erster Ursache ausgeht, das auf diese Weise eine Vorsehung vollzieht. Alles ist Zufall 30 . Die Stoiker und Deisten hingegen lehren, daß genau ein solcher umfassender Zusammenhang der Fall ist. Dieser Ursache-Wirkung-Zusammenhang ist dabei dermaßen umfassend und fest, daß nichts in der Welt anders sein kann als es ist, weil alles innerhalb dieses Zusammenhanges Ursache eines anderen ist. Dann ergibt sich freilich die Frage, wie es um die erste Ursache steht. Die Stoiker meinen, daß die erste Ursache, also Gott, gar nicht anders wirken könne als sie tut. Denn wie die Wirkung der Ursache, so entspricht auch die Ursache umgekehrt ihrer Wirkung. So kann auch die erste Ursache nicht den einmal gegebenen Ursache-Wirkung-Zusammenhang verlassen, der das sogenannte Fatum bildet31. Die Deisten hingegen meinen, daß Gott, nachdem er einmal den Anstoß zu einer Folge von Ursachen und Wirkungen gegeben hat, sich aus diesem Zusammenhang herausgezogen habe. Er wirkt 27
S.u. S.71 ff. Hutter, Loci, 217b. Gleichermaßen Johann Gerhard, Loci, VI, XI, 142 f. (Loci, Tom.2,44). 29 G. GAWLIK, Art. Deismus, 45. Der Einfachheit halber seien die von Hutter und Melanchthon ohne eigenen Namen versehenen Vertreter dieser Position hier „Deisten" genannt. 30 Hutter, Loci, 217b; 219a-221a. 31 Hutter, Loci, 217b; 223b; 225 (Quartum); 226b (Septimum); 229-231a; 249b. 250a nennt Hutter die Calvinisten die Genossen der Stoiker, und in der Tat scheint er mit den Stoikern als ihren antiken Vorläufern die calvinistische Prädestinationslehre treffen zu wollen. 28
Die Lehre ,De Providentia'
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nicht mehr, sondern überläßt das Wirken in der Welt der Folge der Zweitursachen. G o t t habe die Welt also wie eine Maschine geschaffen, die sich ohne ihn dann weiterbewege und erhalte. Gerade weil der Kausal-Nexus so fest ist, kann sein erstes Glied herausgezogen werden, ohne daß der Zusammenhang der folgenden Glieder darunter Schaden leidet. Das geläufige Bild d a f ü r ist das eines Baumeisters, der das H a u s oder Schiff, das er erbaut, den Bewohnern oder Matrosen überläßt 3 2 . H u t t e r nun bejaht mit der Vorsehung auch einen umfassenden UrsacheWirkung-Zusammenhang, f a ß t ihn aber nicht so streng wie die Stoiker und Deisten. Dies erlaubt ihm dann wiederum, eine Mittelposition zwischen diesen beiden einzunehmen. Gegenüber den Deisten sagt H u t t e r , d a ß alle Geschöpfe nach ihrer Erschaffung darauf angewiesen sind, d a ß G o t t ihre Existenz erhalte und d a ß er ihr Wirken lenke. G o t t bleibt also ein Glied des Ursache-Wirkung-Zusammenhanges 3 3 . Er ist dies aber nicht so, d a ß er nicht selbst eine gewisse Freiheit gegenüber dem von ihm entworfenen Ursache-Wirkung-Zusammenhang bewahren würde. So ist er imstande, den Lauf der Ereignisse abzuändern gegenüber der Ausrichtung, welche durch die Zweitursachen bestimmt wird. Dieses Eingreifen Gottes zeigt sich in Wundern 3 4 . Gegenüber den Stoikern schreibt H u t t e r auch den Zweitursachen eine gewisse Eigenständigkeit zu. Denn G o t t hat allen von ihm geschaffenen Dingen die K r a f t gegeben, selber tätig zu sein 35 . Auf diese Weise ergibt sich ein eigentümliches Miteinander-, oder besser noch: Ineinander-Wirken zweier Ursachen, nämlich Gottes und der jeweiligen geschöpflichen Ursache, welches concursus genannt wird 3 6 . Der Vollzug von Gottes Vorsehung, das Wirken seiner Allmacht wird so konkretisiert, d a ß es ein concurrere mit den Tätigkeiten der von ihm geschaffenen Dinge ist. M a n kann hier von einer Zwei- Ursachen-Lehre sprechen. J a k o b Martini, der zu Hutters Zeit in Wittenberg seine ,Exercitationes metaphysicae' herausgab, erläutert den Begriff concursus noch präziser, indem er herausstellt, d a ß die Zweitursachen in ihrer Teilnahme an diesem concursus nicht als Instrumentalursachen aufzufassen seien, sondern als principaliter agentes, welche zwar nicht unabhängig existieren und wirken - dies kann nur Gott, aber doch per formam propriam et intrinsecami7. Das Mitwirken Gottes wird dabei so 32
Hutter, Loci, 217b; 221b-222a, vgl. Johann Gerhard, Loci, VI, Einleitungsabschnitt, 1.-3. (Loci, Tom.2,17). 33 Hutter, Loci, 221b-222a. 34 Hutter, 225a (Quartum); 226a/b (Septimum). Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI, XIII: De Fato (Loci, Tom.2,46); VI, VIII, 68-70 (Loci, Tom.2,28). 35 Hutter, Loci, 226a/b (Septimum). Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI, XI, 145 (Loci, Tom.2,44); VI, VIII, 76 ff. (Loci, Tom.2,28 f.). * Hutter, Loci, 226b-227a (Octavum); 234-238. 37 Martini, Exercitationes, Liber I, Exercitatio 4, Theorema 5 (1,166 f.). Zur Ursachenlehre in der Metaphysik dieser Zeit s. WUNDT, 198-204, welcher sie anhand von Scheibler referiert.
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beschrieben, daß es ohne eine Vermittlung seiner Kraft und ohne Dazwischenschaltung eines Mediums geschieht: immediatione virtutis et immediatione suppositi^. Gottes Vorsehungswirken wird also als ein concursus näher bestimmt. Hutter nennt diese Konkretion auch die Bestimmung von forma quive modus providentiae divinae und schließt unter diesem Oberbegriff zwei Werke {opera) Gottes zusammen, nämlich sein Erhalten (conservatio) und sein Lenken {gubernatio)^. Johann Gerhard nennt dies beides ohne Verwendung dieses Oberbegriffs als die zwei actus der dioikesis, der Durchführung von Gottes Vorsehung 40 . Concursus ist bei beiden Theologen, auch noch bei Calov, anders als bei Späteren, etwa Quenstedt und König, kein eigener Gliederungspunkt in der Lehre von der Vorsehung, aber genau das, was sich aus dem Ganzen von conservatio und gubernatio ergibt 41 . Es ist nun bezeichnend, daß Hutter die Bestimmung des modus der göttlichen Providenz als conservatio und gubernatio schon in der Titelgebung der entsprechenden Quaestio auf den Aspekt hin anlegt, wie sie circa res et actiones hominum sich verhält. Desgleichen bezieht er auch die Klärung der damit verknüpften Frage nach Notwendigkeit und Kontingenz auf die res et actiones humanae42. Die Eigenursächlichkeit der geschaffenen Dinge erhält nämlich beim Menschen dadurch eine besondere Qualität, daß er über eine Freiheit des Willens verfügt. Aufgrund dessen kann der Mensch Kontingentes bewirken, d. h. etwas, das auch nicht sein kann. Ob es ist oder nicht ist, hängt von der freien Willensentscheidung des Menschen ab. Dadurch stellt sich die Frage, wie solche Kontingenz vereinbar ist mit der Notwendigkeit, welche den Dingen durch den von Gott ausgehenden Ursache-Wirkung-Zusammenhang auferlegt ist. Notwendigkeit besagt nämlich, daß etwas nicht nicht sein kann 4 3 .
38 Martini, 1,4,5 (1,169 f.), vgl. zur Erläuterung dieser Begriffe (1,161 f.): mediatio virtutis ist beim Leuchten des Mondes gegeben, dem seine Kraft zu leuchten von der Sonne verliehen wird, immediatio virtutis beim Feuer, welches aus eigener Kraft wärmt. Mediatio suppositi ist der Fall bei dem Wirken eines Handwerkers, der ein Beil benützt, immediatio suppositi, wenn das Wasser die H ä n d e kühlt, die es wäscht. 39 Hutter, Loci, Locus IV, qu.3 (227a-228a). 40 Johann Gerhard, Loci, Locus VI, cap. 6 f. (Loci, Tom.2, 27). 41
Vgl.
SCHMID/PÖHLMANN,
121 f.,
mit
126,
A n m . 8; RATSCHOW,
211-231,
sowie,
ihm
folgend, KROLZIK, Säkularisierung der Natur, 7 6 - 8 1 . Der Begriff concurrere wurde bereits von Melanchthon gebraucht: Loci, StA. I I / l , 270,20; 275,19, vgl. 273,17, w o er synonym von copulatio spricht. 12 Hutter, Loci, Locus IV,3 (227) und Locus VI (253a). Diese Konzentration tritt in Hutters Kurzfassung seiner Loci, dem Compendium, besonders deutlich hervor, wenn er im Locus VII , D e Providentia' ( 2 6 - 2 8 ) , nachdem er in den ersten vier Unterpunkten Beweis der Vorsehung und Klärung des Begriffs gebracht hat, in den folgenden sechs dann das Problem des concursus Gottes mit dem Menschen behandelt, zugespitzt schließlich auf das Problem der Verstockung in der Sünde. 43 Diese Definitionen von necessarium und contingens bei Martini, der als den besonderen
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Hutter klärt dieses Problem durch weitere Unterscheidungen des Begriffs Notwendigkeit 4 4 : Erstens gibt es eine schlechthinnige Notwendigkeit: necessitas absoluta sive simplex, von den Logikern necessitas consequentis, von den Theologen necessitas coactionis genannt. Diese Notwendigkeit läßt nicht zu, daß ein Seiendes sich ändert, da es dem Wesen dieses Seienden widerspräche, anders zu sein. Dies trifft zu auf die Wesenseigenschaften Gottes. Zweitens gibt es eine bedingte Notwendigkeit: necessitas conditionata, von den Logikern necessitas consequentiae, von den Theologen necessitas conditionis genannt. Diese besagt, das Seiende könnte durchaus anders sein als es ist, soweit es sein Wesen betrifft, das noch andere Möglichkeiten des Seins einschließt. Es ist jedoch so, wie es ist, aufgrund der Wirkung, die ein anderes Seiendes auf es ausübt. Notwendigkeit ist dann das, was von dieser Ursache-Wirkung-Beziehung ausgesagt wird: Etwas ist notwendig so, weil ein anderes auf es einwirkt. Zugleich kann diese Notwendigkeit nur von Kontingentem ausgesagt werden, denn kontingent ist eben etwas, was weder notwendig - im Sinne absoluter Notwendigkeit - noch unmöglich ist. Sein Wesen läßt mehrere Möglichkeiten zu, so oder anders zu sein 45 . Eine dieser Möglichkeiten wird durch die Einwirkung einer Ursache verwirklicht. Durch diese Betrachtung wird klar, daß die Notwendigkeit, die Gottes Vorsehung auferlegt, als necessitas conditionata, und Kontingenz sich nicht ausschließen. Die Ausführungen Hutters über das concurrere Gottes und über die Vereinbarkeit von Notwendigkeit und Kontingenz betreffen zwar die gesamte Schöpfung, werden aber vorrangig auf das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen angewandt, und hier wiederum auf die Frage des Übels. Das Übel wird dabei in erster Linie als das Böse, als die Sünde aufgefaßt, denn das Leid wird als eine Folge der Sünde verstanden, als malum poenae, mit welchem die Sünde bestraft wird; die Frage nach der Ursache des Leids führt demnach auf die Frage nach der Ursache des Bösen zurück. So wird das Übel als malum culpae im Kontext der Lehre vom concursus divinus behandelt unter der Fragestellung ,Quonam modo DEUS cum peccati actione concurrat?' 46 , und aus dem Gesichtspunkt der Thematik
Nutzen der Lehre von diesen beiden Begriffen für den Theologen erklärt, daß er durch sie zeigen kann, daß sie für die Lehre von der göttlichen Providenz keinen Widerspruch darstellen: 1,5,1 (1,181), eine damals unter lutherischen Theologen-Philosophen verbreitete Auffassung, s. PETERSEN, 328. Die Fragestellung behandelt bei Hutter, Loci, 228 f.; 253-263 ( = Locus VI), vgl. Scharf, Metaphysica exemplaris, 11,10 (124-131); Meisner, Philosophia sobria, I, 1162-1167. Zu der Thematik des necessarium und des contingens bei JAKOB MARTINIS. Wundt, 204-206. 44
Hutter, Loci, 228 f.; 259-261. Hutter, Loci, 256a. 46 Hutter, Loci, im Locus V ,De causa peccati', 234-238. Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI,IX (Loci, Tom.2,30-33): Quomodo concurrat Divina Providentia in malis hominibus actionibus, sowie VI, VIII, § 82-85 (Loci, Tom.2,29). 45
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von Notwendigkeit und Kontingenz erscheint das Übel als besonderer Fall des Kontingenten. Kontingent ist es nämlich als der Sündenfall Adams, der auch nicht hätte geschehen können. Durch diesen Fall ist nun die Sünde als Erbsünde für die postadamitische Menschheit notwendig; kontingent ist hingegen weiterhin die Tatsünde, die man auch unterlassen könnte 4 7 . In der Behandlung dieser speziellen Thematik zeigt Hutter auf die dichteste Weise, was er unter dem Vollzug von Gottes Vorsehung versteht. Gott nimmt an dem Vollzug einer sündigen Handlung in der Weise teil, daß er 1) deren causa universalis ist, 2) sie zuläßt (permissio), 3) den Sünder verläßt und 4) verstockt, 5) die Sünde vorausweiß und schließlich 5) sie lenkt (gubernatio). Der Begriff causa universalis bezeichnet nach Jakob Martini eine Ursache, die mehrere Wirkungen durch eine einzige Tätigkeit hervorbringt; eine causa particularis hingegen erzielt nur eine einzige Wirkung 4 8 . Laut Hutter gibt nun Gott dem menschlichen Subjekt der sündigen Handlung die Kraft zu handeln. Dadurch ist Gott auch die Wirkursache, und zwar causa universalis, der sündigen Handlung, jedoch nur, was das Sein dieser Handlung als solcher angeht: „ad entitatem realem Actionis" 49 . Die Qualität der Handlung als böse ist hingegen nicht auf Gott als Ursache zurückzuführen, sondern auf den freien Willen des Menschen als Partikularursache. Der Mensch macht dann von seinem freien Willen einen Gebrauch, der Gottes Gebot widerspricht. Hutter kann für die zwei Ursachen dieses concursus auch die Begriffe causa remota - für Gott - und causa proxima - für den menschlichen Willen verwenden. Der Punkt, auf welchen dabei Nähe und Ferne bezogen werden, ist das Sündig-Sein der Tat 5 0 . Das Zusammenwirken Gottes und des Menschen wird also hier so verstanden, daß beide getrennt voneinander verschiedene Aspekte ein und derselben Sache, nämlich der bösen Tat, hervorbringen. Diese Aufgliederung ist möglich durch die begriffliche Fassung, die dem Bösen gegeben wird. Insofern jedes Seiende als Seiendes auch unter dem Begriff des Guten, des Erstrebenswerten gefaßt werden kann, ist das Böse nämlich kein Sein, auch nicht eine seinsmäßige Qualität eines Seienden, sondern ein Mangel, genauer: eine Beraubung, privatio, an Sein. Es „ist" nur als Akzidenz, und zwar als ein Mangel der geschuldeten und einer Sache zukommenden Angemessenheit: „Privatio enim boni est malum." 51 47
Hutter, Loci, 254b (Tertium); 256a; 262b-263 und der nachfolgende Locus VII ,De libero arbitrio', 264 ff. 48 Martini, 1,4,5, Divisio 12 (1,168 f.); Scharf, 11,6 (98 f.). 49 Hutter, Loci, 235a; vgl. 239 (I.); 239b-240 (III.). 50 Martini, 1,4,5, Divisio 11 (1,168), definiert: „remota: quae longe distat ab effectu, propinqua: quae proxime effectum efficit. Effectus itaque non remotis, sed proximis causis sunt assignandi"; Scharf, 11,6 (98-100); Hutter, Loci, 260b-261a; Compendium VII,6 (27 f.). 51 Martini, 1,4,5, Divisio 1 (1,159); Scharf, 11,3 (67); Hutter, Loci, 250b-252b. Vgl. die
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Hutter veranschaulicht dies an zwei Beispielen: Wenn ein Dieb seine Hand ausstreckt, um etwas zu stehlen, dann ist Gott dabei die fernere Ursache: er hat die menschliche Seele dazu fähig gemacht, sich ihres Körpers bedienen zu können und trägt sie auch bei allen ihren Handlungen. Daß der Dieb aber zu einer verbotenen Sache, zu einer Störung der von Gott gesetzten Ordnung, seine Hand ausstreckt, ist auf die nähere Ursache zurückzuführen, nämlich seinen freien Willen 52 . Ähnlich verhält es sich mit einem Beispiel, das Hutter dem Bereich des physischen Übels entnimmt, um damit aber auch den Vorgang der Sünde zu beschreiben: An dem Gang eines Hinkenden ist zweierlei zu unterscheiden: die Bewegung als solche und das Hinken selbst als Störung im Voranschreiten, als Mangelhaftigkeit der Bewegung. Jenes ist auf die Fortbewegungskraft des Menschen als fernere Ursache zurückzuführen, dieses auf einen Störfaktor, etwa ein gebrochenes Bein als nähere Ursache 53 . Behält man also im Auge, daß Böses als solches nur eine privatio sein kann, dann ist klar, daß Gott ausschließlich nur in einer solchen Weise Wirkursache einer bösen Tat sein kann, daß er weder Böses noch Gutes an ihr als böser Tat bewirkt, „concurrere ad actum indifferentem circa bonitatem et malitiam". Gott bewirkt nichts Gutes in ihr, weil sie nicht gut, sondern böse ist; er bewirkt auch das Böse in ihr nicht, weil er als causa per se ens gar keine privatio bewirken kann 54 . Im Sinne dieser Indifferenz ist auch Gottes permissio aufzufassen. Sie ist kein Zulassen aus Ohnmacht, sondern geschieht aufgrund einer freien Entscheidung Gottes, besagt aber keine Zustimmung Gottes, auch keine wirksame Ablehnung - denn sonst geschähe die Tat ja gar nicht, sondern nur ein Zurückhalten seines Willens 55 . Das Verstocken Gottes wird im Grunde als ein Aspekt dieses Zulassens betrachtet und damit nicht so, als ob Gott das fortgesetzte Sündigen des Sünders bewirke 56 . Gleicherweise ist das Vorauswissen der sündigen Tat durch Gott nicht mit einem Verursachen zu verwechseln57. Die ersten fünf Momente des concursus divinus ad peccata betreffen lediglich Gottes Werk der Erhaltung, der conservatio, insofern er nämlich nicht nur das Sein der geschaffenen Dinge erhält, sondern auch deren Auseinandersetzung mit den Manichäern und den Flacianern, Compendium V I I I , 1 2 - 2 0 (32-34). 52 Hutter, Compendium V I I , 6 (27 f.), auch bei Martini, 1,4,5, Divisio 1 (1,160). 53 Hutter, Loci, 239 (I.). 54 Hutter, Loci, 235a, vgl. Martini, 1,4,1 (1,132): „ . . . quaeque caussatio sive caussalitas nihil aliud est, quam influxus ipse, sive concursus, quo vnaquaeque caussa in suo genere influit esse in effectum."; Scharf, 11,6 (96). 55 Hutter, Loci, 2 3 5 a - 2 3 6 a , vgl. 228a; die Darlegungen über das Zulassen der Sünde Adams, 243 f., und 2 4 7 b - 2 4 8 a . * Hutter, Loci, 2 3 6 a - 2 3 8 a . 57 Hutter, Loci, 238a.
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Tätigkeiten: Gott ist als Wirkursache in ihnen mit-tätig. Er ist dies auch in den von ihm verworfenen bösen Taten des Menschen, aber so, daß er in keiner Weise Ursache des Bösen ist 58 . Mit dem sechsten und letzten Moment, das Hutter für diesen concursus nennt, bringt er Gottes anderes Vorsehungswerk in Anschlag, nämlich seine gubernatio59. Damit vollzieht er eine Änderung der Blickrichtung, und dies ist höchst bedeutsam. Denn bisher hat er das Verhältnis der sündigen T a t zu ihren Wirkursachen betrachtet, deren Wirkung sie ist. Nun wird das Verhältnis in den Blick gefaßt, das die sündige Tat als Wirkursache zu dem hat, was sie selbst als Wirkung hervorbringt. Dadurch erweist sich, daß die Sünde selbst nur ein Zwischenglied darstellt in dem durchgehenden Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Gott bewirkt, was ihren Seins-Gehalt angeht, auch die sündige Handlung und kann sie somit Ursache für etwas anderes werden lassen. Der eventus, Ausgang und Wirkung der bösen Tat, ist also etwas, das letztlich alleine von Gott als Wirkursache abhängt auch wenn er sich dabei des Mitwirkens anderer Ursachen bedient. „Die Vorsehung Gottes läuft wirksam mit: . . . bei den bösen Taten, daß sie sie so lenkt, daß sie auf einen Ausgang hinauslaufen, der allein seinem Willen entspricht." 60 - und nicht dem Willen des Menschen, der sich entschieden hat, das Böse zu wollen. Hutter bestimmt diesen Ausgang näher als finis, als Ende und Ziel, welches in Gottes Ehre und der Auferbauung der Kirche besteht. Als Endziel ist es das mit Gottes Verherrlichung zusammenfallende Heil seiner Erwählten 61 . Daran, daß Gottes gubernatio sich auch auf das schuldhaft Böse erstreckt, lassen sich somit folgende Momente finden: Erstens ein determinare^2. Dieser Begriff besagt nicht, wie heute üblich, ein Verursachen, das jede andere freie Ursächlichkeit ausschließt 63 , sondern, der lateinischen Wortbedeutung gemäß: eine Grenze setzen und damit ein Ziel bestimmen 64 . Gott begrenzt also die Reichweite der Wirkung einer sündigen Handlung: wen sie trifft und wie lange sie anhält. Zweitens ein disponere: indem Gott die böse T a t so in den umfassenden Ursache-Wirkung-Zusammenhang 58 Diese Rechtfertigung Gottes ist Hutter ein besonders wichtiges Anliegen in seiner Providenzlehre. Sie nimmt das ganze erste Kapitel des Locus über die Ursache der Sünde ein, Loci, 233-248. Hutters Eifer wendet sich dabei gegen die Calvinisten, denen er vorwirft, mit ihrer Prädestinationslehre die Unschuld Gottes zu beschmutzen. Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI,X (Loci, Tom.2,33-44): Deum non esse causam peccati. 59 Hutter, Loci, 238. Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI, IX, 97-99 (Loci, Tom.2,31 f.). 60 „ . . . Providentia . . . DEI efficaciter concurrit: . . . actiones hominum . . . malas . . . ita dirigendo, ut eventum sortiantur, soli ipsius voluntati congruum.", Hutter, Loci, 226b-227a. 61 Hutter, Loci, 238b. 62 Hutter, Loci, 220a (Primam); 220b (Quartum); 222b; 227a. 234a (Sexta) bezieht Hutter den Begriff determinatio auf das Bestimmtsein einer Handlung als sündig. 63 Laut KUHLEN U.a., Art. Determinismus, 151, wurde erst etwa 1789 der Begriff „Determinismus" in diesem heutigen Sinne gebraucht. 64 Handwörterbuch der lateinischen Sprache, „determino", „determinatio", „termino".
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einfügt, daß letztlich etwas Gutes daraus folgt 65 . Drittens ein dirigere, womit das Umlenken der bösen Absicht zu einem guten Ergebnis gemeint ist 66 . Zuletzt kann man noch die Strafe hinzufügen, die den Verschulder der bösen T a t trifft 6 7 . Hutter konkretisiert seine Charakterisierung von Gottes Vorsehungswirken als einem concurrere mit den geschaffenen Ursachen, indem er herausarbeitet, daß solches concurrere auf ein Ziel hinausläuft, das Heil der Erwählten. Während es bei der sündhaften Tat Hutter, um Gott von jeder Verantwortung für die Sünde freizuhalten, darauf ankommt, zu zeigen, daß sie zwei Ursachen hat, betont er bei dem Endziel allen Geschehens, auch der verwerflichen Taten, daß es allein von Gottes Willen bestimmt wird. Mit dem Begriff finis bringt er dabei, wenn auch implizit, den Begriff der Zweckursache, der causa finalis ins Spiel. Jakob Martini erläutert diesen Begriff so, daß damit nicht im strengen Sinne ein Verursachen ausgesagt wird. Ursache im strengen Sinne kann nur eine „caussa efficiens physica" sein, „quae vere et realiter influit in effectum". Das „Physische" meint dabei nicht das Körperliche, sondern ganz allgemein das Seinsmäßige 68 . Vom Verursachen durch eine Zweckursache kann hingegen nur im metaphorischen Sinne gesprochen werden 69 . Zweckursache ist, zu wessen Gunsten etwas ist 70 . Sie übt ihren gleichsam verursachenden Einfluß dadurch aus, daß sie in einem Seienden eine Sehnsucht oder Liebe erweckt. Diese Liebe bewegt jenes Seiende dazu, als Wirkursache im strengen Sinne zugunsten desjenigen tätig zu werden, das die Liebe in ihm erweckt hat. Dabei kann zwischen einem finis hou (finis cujus) und einem finis ho (finis cui) unterschieden werden. Jenes ist der unmittelbare Zweck der auf diese Weise verursachten Handlung, dieses dasjenige Seiende, welchem wiederum dieser Zweck zugute ist. Jakob Martini nennt hier als Beispiel die Gesundheit als Zweck einer Heilbehandlung und den Menschen, der dadurch gesund wird. In Hutters theologischer Thematik wäre die Zweckursache im ersten, näheren Sinne die Ehre Gottes und das Heil der Erwählten, im zweiten, weiteren Sinne Gott und die Erwählten selbst 71 . Gott als Wirkursache und als Zweckursache sind in
65
Zusammen mit ordinäre. Hutter, Loci, 220a; 238a; 238b (Sextus). Hutter, Loci, 220a; 225a; 226b-227a; 238b (Sextus); 247b-248a; 259a; Compendium, VII,2 (26,28 f.). 67 Hutter, Loci, 220a (Primam); 225a. 68 Martini, 1,4,5, Divisio 2 (1,160). 69 Martini, 1,4,5 (1,157); 1,4,6 (1,173 f.). 70 „Finis est caussa, cujus gratia res est.", Martini, 1,4,6 (1,173); Scharf, 11,9 (119). 71 Martini, 1,4,2 (1,141); Scharf, 11,9 (120 f.). Man sieht, wie der Inhalt der gelehrten Theologie in dieser Phase der „Frühorthodoxie" schon die Struktur aufwies, die es dann erlaubte, sie nach dem Modell der Medizin in eine „analytische" Ordnung zu bringen, vgl. 66
HANS EMIL WEBER, D e r Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die o r t h o d o x e
lutherische Dogmatik, 28; 37-46; 67-70 (der Abschnitt 14-74 dieses Werkes zuvor veröf-
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diesem Falle miteinander identisch. Wenn Hutter herausstreicht, daß das Endziel allen Geschehens allein Gottes Willen entspricht, dann ist dieser Wille die Sehnsucht und Liebe, die von diesem Ziel, Gottes Verherrlichung und das Heil der Erwählten, in Gott selbst erregt worden sind und ihn zum Handeln veranlaßt haben 72 . Diese teleologische, nach der Zweckursache orientierte Betrachtung des Weltgeschehens hat auch Implikationen für die Auffassung des Leids. Zwar kommt dieses in Hutters Providenzlehre nur am Rande vor. Es wird gewissermaßen als ein sekundäres, abgeleitetes malum aufgefaßt, nämlich als malum poenae,
d. h. als ein malum, das G o t t als Strafe f ü r ein malum
culpae
schickt. Infolgedessen hat Gott als Verursacher zum Leid ein anderes Verhältnis als zum schuldhaften Übel. Während er dieses im beschriebenen Sinne nur zuläßt, schickt er das Leid. Die Aussage des Arnos 3,6: „Es gibt kein Übel in der Stadt, das nicht der Herr getan hat." bezieht sich auf das Leiden, nicht auf die Sünde 73 . Leid kann somit unter verschiedenen Aspekten als kontingent und als notwendig bezeichnet werden. Ereignisse, die zu Leiden führen, wie beispielsweise Pest, Krieg und Hunger, als Strafen für Tatsünden von Menschen, sind kontingent, insofern es am Willen der Menschen liegt, diese Sünden zu tun oder zu lassen. Notwendig sind sie, insofern diese Sünden Gottes Zorn erregen, er die Sünde straft und diese Ereignisse bewirkt 74 . Hutter präzisiert seine Auffassung von dem Handeln Gottes, in welchem er Leid schickt, indem er sagt, daß der Ausgang und Erfolg der bösen Handlungen des Menschen genauso Gott zuzuschreiben ist wie derjenige der guten Handlungen. Bei diesen ist es jedoch simpliciter Gottes Werk, während er bei jenen ein opus alienum tut. Mit dieser, Jes 28,21 entnommenen Wendung drückt Hutter aus, daß Strafe und Leid etwas sind, das
fentlicht unter dem Titel ,Die analytische Methode der lutherischen Orthodoxie'). KARL HOLL, Die Bedeutung der Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, Ges. Aufsätze, Bd. 3,319 f., hat behauptet, durch diese Methode habe die Glückseligkeit als Endziel des Menschen eine derart beherrschende Stellung erhalten, daß die Schärfe der Anfechtungserfahrung - Gott im Leiden als dessen Verursacher als liebenden Gott zu glauben und zu lieben - aufgeweicht und Gott zum Zuschauer des Geschehens degradiert, in welchem der Mensch der Handelnde und Fordernde ist. Ob dies zutrifft, wird man gerade daran überprüfen können, ob und wie ein Christ in der Anfechtung von einer teleologisch strukturierten Lehre von der Vorsehung hat Gebrauch machen können. S.u. u.a. S. 134 f. 72 An dieser Stelle der Vorsehungslehre wird bereits sichtbar, daß der Bereich einer Lehre überschritten wird, die mit Begriffen operiert, die der aristotelischen Physik entnommenen sind. Es kündigt sich eine Sphäre menschlichen Sprechens an, in der metaphorische Bildhaftigkeit und die Affekte - wie die Liebe einer ist - eine Rolle spielen, s.u. S. 175 ff.; 199 ff. 73 Hutter, Loci, 222b; 237 (IV.); 246b. Differenzierter geht Hutter auf die Ursache des Leidens in dem Locus ,De cruce' ein, s. u. S. 59 ff. 74 Hutter, Loci, 260, dieses Beispiel auch bei Jakob Martini, und zwar unter Berufung auf Melanchthon, 1,189, vgl. Scharf, 11,3 (69).
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Gottes Wesen eigentlich fremd ist. Gott verbirgt sich darin 7 5 . Dieses fremde Werk Gottes steht gleichwohl in dem auf ein Telos hin organisierten Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Aus diesem Grunde kann der von Jakob Martini formulierte Gedanke auch auf das Leid angewandt werden: daß nicht nur der Zweck, sondern auch die Mittel einer Tätigkeit als Zweckursache angesehen werden können. Sie sind es dann nicht aufgrund ihres eigenen Gut-Seins, sondern aufgrund des Umstands, daß sie Mittel zu einem begehrenswerten Zweck sind, und deswegen begehrt werden, auch wenn sie als solche überhaupt gar nicht begehrenswert sind 76 . Die Erweiterung des Blickfeldes auf den teleologischen Gesamtzusammenhang führt schließlich zur Aufhebung des Übels. Dies wird deutlich, wenn Hutter auf den Einwand gegen die Existenz einer Vorsehung eingeht, daß Zufall und Unordnung, auch in menschlichen Angelegenheiten, bestehen, was dem Walten einer Vorsehung zu widersprechen scheint 77 . Mit dem Begriff der Unordnung, der ataxia, ist aber auch das Übel mit eingeschlossen, da es ja gerade in einem Mangel an Ordnung besteht. Hutter antwortet zuerst so darauf, daß diese Unordnung nur eine begrenzte Reichweite hat; sie wird von Gott determiniert und hat so innerhalb von Gottes Ordnung Bestand, ohne ihr zu schaden. Dann fügt er aber hinzu, daß die Unordnung nur uns als Unordnung erscheint. Insofern sie in den Zusammenhang eingegliedert ist, in dem Gottes gubernatio alles auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet, ist sie gar keine Unordnung. „Unordnung" ist hiermit nur etwas, was sich durch eine bestimmte, nämlich begrenzte Betrachtungsweise der Dinge ergibt. Sieht man nur einen Ausschnitt, dann kann man auf etwas stoßen, das man dann als Unordnung auffaßt. Sieht man auf das Ganze - und das heißt: sieht man auf das Ziel, auf das hin alles geordnet ist und durch welches sich erst ein Ganzes ergibt - dann gibt es gar keine Unordnung. Überträgt man dies auf das Übel - was Hutter an dieser Stelle nicht tut, doch ist dies in seinen Ausführungen impliziert, dann heißt das: es gibt weder Schuld noch Leid, sobald man alles in seinem zielgerichteten, teleologischen Zusammenhang betrachtet. Schuld und Leid können als solche, d. h. insofern sie Unordnung sind, nur aufgrund einer partikularen Betrachtungsweise ausgesagt werden. Das Problem ist dann für den irdischen Betrachter, die Ordnung Gottes zu erkennen, in welche er die Unordnung eingearbeitet hat. Hutter nennt hier mehrere Ordnungen Gottes: die Ordnung seiner bestrafenden Gerechtigkeit, die Ordnung seiner vergebenden Barmherzigkeit und die Ordnung seiner Weisheit. Mit dieser letzten Ordnung drückt Hutter die Unerforschlichkeit von Gottes guber75
Hutter, Loci, 227a (III.). Johann Gerhard, Loci, VI, X , 109 (Loci, Tom.2,34), nennt es Gottes opus proprium, wenn er seine Gutheit anderen mitteilt und sich erbarmt. " Martini, 1,174; vgl. Scharf, 11,9 (120). 77 Hutter, Loci, 220 f. (Tertium; Quartum). Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI, XII (Loci, Tom.2,45 f.); VI,XI, 146-148 (Loci, Tom.2,44f.).
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
natio aus, die vom Menschen geachtet sein muß - bis er selber als Seliger an der Schau Gottes teilhat 7 8 . An dieser Stelle wird nun sichtbar, wie Leonhard Hutters Lehre von der Vorsehung Gottes, der Ursache der Sünde, von Notwendigkeit und Kontingenz als eine weit ausholende Explikation seiner Auflösung des epikureischen Dilemmas angesehen werden kann. D a s Weltgeschehen, in dem auch Böses und Leid sich ereignen, stellt einen großen Zusammenhang dar, der nicht nur nach den Wirkursachen geordnet ist - nämlich so, d a ß im Übel zwei Ursachen, G o t t und der böse Wille, tätig sind, sondern auch nach der Zweckursache. Das Telos des Weltgeschehens ist mit dem Eschaton identisch. Das Eintreten des Eschatons stellt f ü r den von G o t t erwählten Menschen das Gewinnen von Gottes übergeordneten Standpunkt dar, von dem aus betrachtet das Übel nichtig ist.
2.3. Die Begründung der
Providenzlehre
Bisher wurde noch nicht ausführlich dargelegt, mit welchen Argumenten H u t t e r die Lehre von der Providenz begründet. Durchgehend ist die Begründung aus der Heiligen Schrift. Auf die Fülle der Bibelzitate Hutters einzugehen, die seine gesamten Ausführungen durchziehen, ist hier nicht möglich und auch nicht nötig. Ich nenne hier nur eine Auswahl der besonders charakteristischen Stellen: In dem Eingangsabschnitt über die Existenz einer Vorsehung nennt er zunächst eine Reihe von Bibelstellen, die von Gottes Fürsorge f ü r seine Schöpfung, sein Bewahren und Lenken sprechen 7 9 . Gegen die Deisten wendet er J o h 5,17, wo Jesus von seinem und seines Vaters Wirken spricht, das jetzt noch andauert. Mit der Sabbathruhe ist also nur das W e r k der Schöpfung beendet, nicht aber das bis jetzt und darüber hinaus noch andauernde Werk der Erhaltung und Regierung 8 0 . Gegen die Stoiker und Deisten bietet er vor allem die Bibelstellen auf, die Gottes Gutheit und seine Verwerfung der Sünde bezeugen. Die Kardinalstelle ist dabei Ps 5,5: „Denn du bist nicht ein Gott, dem gottloses Wesen gefällt; wer böse ist, bleibt nicht vor dir." 8 1 H u t t e r wendet dies gegen die calvinistische Lehre, d a ß G o t t auch die Verdammnis vorherbestimmt habe. 78 Bei der Weisheit verweist H u t t e r auf den Lobpreis des Paulus, Rom 11,33. Ähnlich argumentiert er Loci 239b. D o r t weist er den zurecht, der Gott vorschreiben möchte, wie er mit der Sünde umzugehen habe. Ob Gott nun aus Langmut und Geduld, die zur Umkehr treiben (Rom 2,4; 9,22; II Petr 3,9), eine Sünde länger duldet und noch nicht straft, oder nicht, muß Gott anheimgestellt bleiben. - Zur vollkommenen Schau der Seligen s. Compendium X X X I V , 3 f. (140 f.). " Hutter, Loci, 218: Ps 36,7; Sap 6,8; 12,13.18; 11,26; 14,3; Ps 104; Hi 38-40; Act 17,24; Kol 1,17; H e b r 1,3; I Petr 5,17. 80 Hutter, Loci, 221b-222a.
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Hutter geht auch auf einen Einwand der „Sakramentierer" ein, daß seine eigene Argumentation nicht biblisch, sondern vielmehr philosophisch sei, dort nämlich, wo er mit verschiedenen Begriffe von Notwendigkeit arbeitet. Er antwortet darauf, diese Begriffe dienten nur dazu zu klären, daß in der Bibel sowohl von Ereignissen, die gemäß Gottes Gebot geschehen, als auch von Ereignissen, die Gottes Gebot verletzen, gesagt wird, sie müßten geschehen. Dieses „Müssen" könne, so Hutter, nur als eine necessitas consequentiae verstanden werden 8 2 . Diese aus der Philosophie entnommene Begrifflichkeit hat also den Zweck, die Einhelligkeit der biblischen Aussagen herauszustellen: zwischen Gottes Abscheu vor dem Bösen und der von Gott verhängten Notwendigkeit auch der bösen Ereignisse besteht kein Widerspruch. Die Unterscheidung zwischen der Wahl des Willens - für die allein der Mensch verantwortlich ist - und dem Ereignis-Werden des Gewollten, das von Gott mitgewirkt ist, wird an Jer 10,23 dargelegt: „Ich weiß, Herr, daß des Menschen Tun nicht in seiner Gewalt steht, und es liegt in niemandes Macht, wie er wandle oder seinen Gang richte." 83 Für die entscheidende Lösung des Problems, wie sich Gottes Weltregierung und das böse Wirken des Menschen zueinander verhalten, nennt Hutter besonders gerne die Josephsgeschichte mit ihrem Resümee Gen 50,20: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk." 84 und die Geschichte der Passion Jesu 85 , erhellt vor allem durch das Wort des Petrus Act 2,23: „Diesen Mann, der durch Gottes Ratschluß und Vorsehung dahingegeben war, habt ihr durch die H a n d der Heiden ans Kreuz geschlagen und umgebracht." Die Kreuzigung Jesu ist dabei wie die anderen Geschichten nur ein Exempel. Eine Systematik der biblischen Aussagen wird hier noch nicht entworfen. Dies geschieht erst in der Lehre von der Prädestination 8 6 . Einer der von Hutter genannten Bibeltexte, Hiob 38-40, verweist selbst darauf, die Schöpfung zu betrachten, um Gottes wunderbarer Erhaltung innezuwerden. In der Tat fügt Hutter der Reihe der biblischen Argumente für die Existenz der Vorsehung eine zweite hinzu, welche aus der Betrachtung der Dinge in der Welt gewonnen wird. Hier zählt er eine Reihe von Einzelargumenten auf:
81
Hutter, Loci, 233. Hutter, Loci, 260b. 83 Hutter, Loci, 255. 84 Hutter, Loci, 221a; 246; 247b; 258. 85 Hutter, Loci, 221a; 238b; 246b; 247a; 248a; 250. 86 S.u. S. 52 ff. RATSCHOW, 221-226, erzählt jeweils den Inhalt der in der Providenzlehre gebrauchten Bibelstellen, wodurch sichtbar wird, daß diese Art des Bibelgebrauchs in den damaligen Loci eine narrative Theologie darstellte. 82
46
G o t t und das Leid in theoretischer Betrachtung 1. die beständige Ordnung der Natur, so die beständige Bewegung der H i m melskörper und der beständige Lauf der Flüsse; 2. daß der Mensch mit Verstand begabt ist, den er nicht von einem vernunftlosen Wesen, sondern von einem sich um ihn sorgenden G o t t erhalten haben muß; 3. daß zwischen ehrenhaften und schändlichen Dingen ein Unterschied ist; 4. die, wenn auch nach dem Fall stark geschwächte, natürliche Gotteserkenntnis; 5. die Gewissensbisse bei Verbrechern; 6. die Erhaltung der societas politica Teufels;
und der Kirche trotz so vieler Angriffe des
7. die Reihe von Wirkursachen, die nicht ins Unendliche zurückgehen kann; 8. die höchst nützlichen Ziele bzw. Zwecke (fines) aller Dinge, die nicht v o m Zufall oder v o m verdorbenen Willen des Menschen abhängen; 9. die Vorzeichen und Anzeichen zukünftiger Ereignisse wie die Weissagungen der Propheten 8 7 .
Die weiteren Ausführungen Hutters zeigen dann freilich, daß diesen Argumenten aus der Natur und der menschlichen Geschichte nur eine begrenzte Aussagekraft zukommt, die nicht ausreicht, das zu beweisen, was er unter Vorsehung versteht. Hutter räumt selber ein, daß es in der Natur und in der Geschichte sehr viel Verwirrung gibt, die dieser Ordnung widerspricht. Zumindest wird durch sie fraglich, ob dem Menschen durch diese Ordnung dann noch geholfen wird 88 . Damit erhalten die ersten sechs Argumente Gegenargumente, und zwischen beiden Seiten entsteht ein Patt. Hutter gelingt es, diese Gegenargumente dadurch zu entkräftigen, daß er die Sachverhalte der Unordnung und der Sünde, welche in diesen Einwänden angeführt werden, in seiner Lehre von der Vorsehung integriert: Diese Sachverhalte sind begrenzt und sind selbst nur Glieder eines Zusammenhangs, der auf ein Ziel hinführt, das Gott bestimmt hat. Hutter löst also die Einwände, indem er den teleologischen Charakter der Vorsehung aufweist. Damit geht er aber über das hinaus, was er durch seine Argumente aus Natur und Geschichte hat beweisen können. Denn die ersten sechs Argumente weisen gar keine deutliche Teleologie auf. Das siebte, der kosmologische Gottesbeweis, führt nur auf eine erste Wirkursache zurück. Das neunte beweist nur eine Präscienz. Das achte ist teleologisch angelegt 89 , doch räumt Hutter selber ein, daß der Zufall oder der verdorbene Wille des Menschen hier als Störfaktor in Frage kommen könnten. An 87
Hutter, Loci, 218b-219a. Hutter, Loci, 218a; 219b-221b; 224b-225a (Tertium); 253b. 89 In der Tat kennt Hutter auch eine genaue teleologische Naturbetrachtung. So referiert er eine Auseinandersetzung Augustins mit Hieronymus. Dieser wurde offensichtlich sehr von Mücken geplagt und wollte nicht glauben, daß diese Geschöpfe Gottes Vorsehung unterliegen. Augustin wies ihn hingegen darauf hin, den kunstvollen Bau einer Mücke zu studieren, Loci, 223b-224a. Eine solche, den liber naturae studierende Physikotheologie wurde also schon lange vor dem 18. Jahrhundert geübt; vgl. damit KROLZIK, Art. Physikotheologie; SPARN, Art. Physikotheologie. 88
Die Lehre ,De Providentia'
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anderer Stelle, wo es um die Existenz giftiger Stoffe als Einwand geht 90 , verweist Hutter darauf, daß die Vollzahl der möglichen Zwecke dieser Dinge betrachtet werden müsse, dann würde sich erweisen, daß auch Gifte ihren guten Zweck haben. Nur sei uns dieses jetzt noch nicht bekannt. Hutter setzt also für seine Verteidigung der Vorsehung Hypothesen voraus, die selber nicht aus der Natur- und Geschichtsbetrachtung zu beweisen sind. Letztlich handelt es sich um die Existenz eines abschließenden Telos für den gesamten Natur- und Geschichtsverlauf, um das Eschaton. Für ein solches Telos spricht manches in der Welt, anderes widerspricht ihm. Dieses Telos kann selber nur aus Offenbarung, aus einer Verheißung, erkannt werden. Mit der Frage nach der Begründung der Vorsehung betritt Hutter, wie man sieht, den Bereich der Frage nach der natürlichen Gotteserkenntnis, der Brauchbarkeit der Philosophie und ihrer Grenze. Darüber handelt er in dem Locus ,De lege', dort nämlich, wo die Rede vom Naturgesetz ist 91 . Er führt dort zu einem großen Teil dieselben Argumente auf wie im Locus ,De Providentia' für die Existenz einer Vorsehung, nun, um zu zeigen, daß es eine natürliche Gotteserkenntnis gibt 92 . Jenseits ihrer Grenze liegt aber die gesamte Lehre des Evangeliums, das, was von Christus gesagt wird, die Verheißungen der Gnade, Weg und Wesen des ewigen Heils. All dies kann nur durch die Offenbarung erkannt werden 93 . Auch wenn Teleologie durchaus eine Möglichkeit der Philosophie sein mag, so der aristotelischen 94 , kommt das Telos, das Hutter ins Auge faßt, nur innerhalb einer offenbarten Theologie ins Blickfeld. Weil aber nun Hutter mit einem solchen teleologischen und letztlich geoffenbarten Begriff von Vorsehung arbeitet, kann dieser auch gar nicht durch die Gegenargumente getroffen werden, die sich nur gegen die Argumente aus der Weltbetrachtung wenden oder einer Position entspringen, die nur den Gedanken einer Wirkursächlichkeit kennt, wie es nämlich bei allen seinen Gegenpositionen - den Epikureern, den Stoikern und den Deisten - der Fall ist. Dieser Sachverhalt wirkt sich dementsprechend bei Hutters logischer Auflösung der Gegenargumente aus: immer wieder weist er darauf hin, daß diese Argumente gegen seine Lehre gar keinen Widerspruch darstellen. Hutter läßt sich dennoch auf eine argumentative Auseinandersetzung ein, obgleich das, was er verteidigen will, gar nicht durch diese Auseinandersetzung verteidigt werden muß und auch nicht verteidigt werden kann, weil es sich der Reichweite sowohl der Argumente pro als auch contra * Hutter, Loci, 2 2 4 b - 2 2 5 a (Tertium). " Hutter, Loci, 3 8 1 - 3 8 8 . 42 Hutter, Loci, 381 ff. 93 Hutter, Loci, 384 ff. 94 Aristoteles, Opera, Bd. 2: Metaphysik, 983a 30; 994b 5 f.; 1013a 30.
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
entzieht. Indem er es trotzdem tut, erhält seine Ausführung ,De Providentia' den Charakter einer Theodizee, das heißt, eines Versuchs, Gott zu rechtfertigen, seine Allmacht und Güte in der Vorsehung zu verteidigen angesichts der Existenz des Übels in der Welt 95 .
2.4. Die praktischen Interessen der Providenzlehre Melanchthons Entwurf
Hutten
und
Zu Beginn der Loci ,De Providentia' und ,De necessitate et contingentia' läßt Hutter erkennen, welches Interesse er an diesen Fragen hat. Sie entstehen, sagt er, angesichts der erstaunlichen Anordnung der Urteile Gottes und, was dasselbe sei, aus der Verwirrung, welche die menschlichen Angelegenheiten zu beherrschen scheint 96 . Die Lehre von einem unausweichlichen Fatum erscheint ihm sogar plausibel, wenn man die Macht der Erbsünde, die Härte des Kampfes zwischen Geist und Fleisch bei den Wiedergeborenen, die allgemeine Anarchie aller Dinge, die Ungleichheit, nämlich Ungerechtigkeit, des Schicksals der Frommen und der Gottlosen und die Verfolgungen der Kirche anschaue. Von der Last dieser Frage, sagt er, will er die Frommen befreien 97 . Es sind also genau die Probleme aus dem Fragenkomplex um Gott und das Leid, die ihn zu der Behandlung dieser Loci antreibt. Ausdrücklich nennt er als praxis oder usus dieser Lehre 98 : 1. die Erhellung von Gottes Ehre, 2. die Bildung unseres Urteils über Gottes Taten, so daß wir ihm die Ehre geben können, 3. daß die Bestreiter der Vorsehung in die Schranken verwiesen werden, 4. daß rechter Trost gewonnen wird, der sowohl Verzweiflung als auch falsche Sicherheit vermeidet.
Hutters Eifer für die Ehre Gottes wird deutlich, wenn er diese Lehre von der Vorsehung die „unverrückbare Grundlage der christlichen Religion" wer sie leugnet, leugne auch Gottes Existenz - oder das 32Hauptstück der christlichen Lehre" nennt 99 . In einem eigenen Abschnitt über usus und praxis bringt Hutter in erster Linie eine Ablehnung eines stoischen Fatalismus, die sich beispielsweise in 95
Vgl. ELKE A x M A C H E R s entsprechende Bemerkung zu den Providenzlehren in der altlutherischen Dogmatik, Paul Gerhardt, 98. 96 Hutter, Loci, 218a. 97 Hutter, Loci, 253b. 98 Hutter, Loci, 217b. 99 „immotum Religionis Christianae principium", „caput hoc Doctrinae Christianae", Hutter, Loci, 218a; 223b. Leugnung der Providenz galt damals weithin auch als Leugnung Gottes, s. HANS-MARTIN BARTH, A t h e i s m u s u n d O r t h o d o x i e ,
89-92.
Die Lehre ,De Providentia'
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der Meinung äußert, es bringe nichts, wenn sich einer um die Länge seines Lebens sorge: „Denn sein Stündlein sey ihm also auffgesetzt." Der Mensch kann und soll vielmehr, hält Hutter entgegen, von seiner Möglichkeit Gebrauch machen, frei zu wollen und zu handeln 100 . Johann Gerhard, der regelmäßig einen solchen Usus-Abschnitt auf die jeweilige Ausführung einer doctrina folgen läßt, legt diesen auf eine ganz andere Richtung an: Es wird nicht die Eigenverantwortung des Menschen hervorgehoben, sondern die übergeordnete gubernatio Gottes, die cura paterna Dei, der sich der Mensch getrost anvertrauen solle. Es werden also solche Motive aus der Providenzlehre entwickelt, die den Inhalt von Liedern Paul Gerhardts, vor allem denen ,Vom Christlichen Leben und Wandel', abgeben 101 . Damit schließt Johann Gerhard keineswegs aus, was Hutter aus dieser Lehre gefolgert hat, bringt er doch selbst solche Aussagen wie Hutter an anderer Stelle 102 . Es zeigt sich also, daß ein und dieselbe Lehre verschiedene Möglichkeiten, sich im Leben zu verhalten, zuläßt - hier wird auf die Aktivität, dort auf eine gewisse Passivität des Menschen verwiesen. Beide Möglichkeiten schließen sich nicht grundsätzlich aus, können aber gegenüber der anderen akzentuiert werden. Die Strukturen, nach denen die Providenzlehre Hutters angelegt ist und die auf ihren praktischen Gebrauch hinweisen, treten indes noch deutlicher hervor, wenn man Hutters Vorlage, die ,Loci' Melanchthons, betrachtet. In seinen ,Loci' sagt Hutter in der Vorrede zu dem Locus ,De Providentia', daß er sich in diesem und den beiden folgenden Loci ganz an den Lehrgehalt Philipp Melanchthons anschließe 103 . Dies wird bestätigt durch einen Vergleich mit Melanchthons Loci ,De creatione' und ,De causa peccati et de contingentia' 104 . Melanchthon behandelt in diesem ersten Locus Schöpfung und Vorsehung in einem Ineinander. Er bringt dabei weitgehend dieselben biblischen und philosophischen Argumente wie dann später Hutter. Auch die Frontstellung gegen Epikureer, Deisten und Stoiker ist dieselbe. Desgleichen kommen im folgenden Locus die Bestimmung des Wesens der Sünde als nihil privativum, die Unterscheidung des Begriffs der Notwendigkeit und die Zwei-Ursachen-Lehre für die Sünde. 100
H u t t e r , Loci, 229. Interessant ist in diesem Abschnitt auch sein Hinweis, d a ß es möglich sei, d a ß auch ein Frommer f r ü h stirbt. M a n d ü r f e also nicht ohne weiteres vom Ergehen aufs Tun schließen. - Solche G e d a n k e n g ä n g e werden im Locus , D e cruce' dann weiter entfaltet. 101 J o h a n n G e r h a r d , Loci, VI, X I V (Loci, T o m . 2 , 4 6 f.), vgl. ELKE AXMACHER, Paul G e r h a r d t , 98. 102 J o h a n n G e r h a r d , Loci, VI, VIII, 75 ff. (2,28 f.). 103 Loci, 217b. 1M M e l a n c h t h o n , Loci praecipui theologici von 1559, StA, 2. Aufl., I I / 1 , 2 4 0 - 2 5 0 und 250-263.
50
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
Es werden dabei die gleichen praktischen Anliegen deutlich wie bei H u t t e r . D a r ü b e r hinaus deutet er den usus der Auffassung aus, daß, wie er sich ausdrückt, die Kette der Ursachen, die G o t t und den Menschen miteinander verbinden, an beiden Enden locker sei. Die praktische Folgerung daraus besteht u. a. darin, d a ß der Mensch dazu frei ist, sich im Bittgebet an G o t t zu wenden, und G o t t dazu frei ist, unabhängig von der Ausrichtung der Zwischenursachen auf ein Ziel, das dem Menschen schaden würde, das Gebet zu erhören und den Lauf der Zwischenursachen zu ändern 1 0 5 . H u t t e r bringt hingegen diese Konsequenz seiner Providenzlehre erst in seinem Locus über das Gebet zur Sprache 1 0 6 . Zu der Bedeutung der philosophischen Argumente aus der Betrachtung der Welt sagt Melanchthon, diese seien in der T a t viel schwächer und viel mehr Zweifeln ausgesetzt als die Schrift. Aber den „bonis mentibus" seien sie gleichwohl von dem Nutzen, richtige Auffassungen („honestas opiniones") zusätzlich zu bekräftigen, nachdem sie schon von den Argumenten aus der Schrift überzeugt worden sind 1 0 7 . Es wird hier also deutlich, d a ß die Argumente aus der Weltbetrachtung keine tragende, sondern nur eine zusätzliche Rolle spielen. H i e r wie auch überhaupt in den gesamten Darlegungen ist also deutlich zu sehen, d a ß Melanchthon mit seiner Lehre praktische Ziele verfolgt, nämlich die Stärkung des Verantwortungsbewußtseins und den Trost des Menschen. Dies ist wohl auch der G r u n d , weshalb er Schöpfung und Vorsehung 1 0 8 in eins behandelt. Denn erst die Erkenntnis, d a ß G o t t die Welt nicht nur geschaffen hat, sondern auch, sie erhaltend und lenkend, in ihr gegenwärtig ist, eine Erkenntnis, die nicht durch die Vernunft, sondern allein im Glauben gegeben sein kann, ist die wahre Erkenntnis der Schöpfung. Sie ist auch nützlich, wenn G o t t im Gebet um Hilfe angerufen wird 1 0 9 . Die durchsichtig praktische Ausrichtung der Lehre wird bei Melanchthon auf die Anlage auch seiner späten Loci als rhetorische Topoi zurückzuführen sein 110 . Dieser Charakter tritt bei H u t t e r vergleichsweise 105
Melanchthon, Loci, StA II/1, 244-246; 262,31-263,6. Hutter, Loci, 965ff., s.u. S. 71 ff. 107 Melanchthon, Loci, StA II/1, 246,7-247,5. Eine ähnliche Einschätzung findet sich auch in der wichtigsten Stellungnahrae der Wittenberger Frühorthodoxie zu dem Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie, der ,Philosophia sobria' Balthasar Meisners. Dieser unterscheidet, 1,25 f., zwischen quaestionespurae, die ausschließlich nur von der Heiligen Schrift aus bearbeitet werden können, und quaestiones mixtae, zu denen die Mitarbeit der Philosophie erforderlich ist. Diese beschränkt sich allerdings auf die Klärung (intelligentia) der Begriffe und auf eine zusätzliche Bekräftigung (secundaria confirmatio) der Aussagen, welche zuallererst aus der Schrift begründet sein müssen (primaria confirmatio)·, s. auch WuNDT, 110 f. 108 Der Begriff „Providentia" fällt erst am Ende des Locus, Loci, St.A.II/1, 250. In seiner Durchführung spricht Melanchthon von conservare, sustentare und gubemare. 109 Melanchthon, Loci von 1535, StA I I / l , 245, Anm. zu Z.27. 110 Siehe WIEDENHOFER, 368-376, der dabei die dem innewohnende anti-scholastische Ten106
Prädestination und Providenz
51
zurück, der auch um lehrhafter Klarheit willen die Themen Schöpfung und Vorsehung, Ursache der Sünde und Notwendigkeit-Kontingenz in je eigenen Loci gesondert behandelt 1 1 1 . Doch wird die praktische Bedeutung an einigen Stellen immer wieder markiert.
3. Die Lehre von der Prädestination in ihrem Zusammenhang mit der Lehre von der Providenz Auf die Lehre von der Vorherbestimmung ist hier nicht in ihrem ganzen Umfang, in ihren einzelnen Auseinandersetzungen mit den Calvinisten, mit Samuel H u b e r usw., einzugehen 1 1 2 . Was f ü r die Zielsetzung dieser Studie interessiert, ist ihr Zusammenhang mit der Vorsehungslehre, durch welchen deren Ausrichtung auf den gläubigen Christen sichtbar wird. Durch die Herausarbeitung dieses Zusammenhanges kann auch besser verstanden werden, was in diesem theologischen Entwurf mit der Güte, dem Gut-Sein Gottes, gemeint ist, wem und unter welchen Bedingungen G o t t seinen Geschöpfen diese Güte erweist. 3.1. Die Providentia peculiaris als conservatio electorum Einen Hinweis auf diesen Zusammenhang gibt die Unterscheidung des Providenz-Begriffs. Im Compendium 1 1 3 unterscheidet H u t t e r \. Providentia generalis sive universalis·. Gottes Erhaltung der gesamten Schöp-
fung; 2. Providentia specialis: in welcher alle Geschöpfe Gottes Befehlen gehorchen; 3. Providentia peculiaris: diese sei den Erwählten eigentümlich und gehöre zur Lehre von der Prädestination. In den ,Loci' wird unter Providentia specialis das eine Mal Gottes gelegentliches Eingreifen in die Reihe der Zweitursachen bezeichnet, also das Schaffen von Wundern. Dies entspricht wohl dem, was im ,Compendium' mit Providentia specialis gemeint ist. Das andere Mal deckt sich dieser Begriff in seinem Schwerpunkt mit der Providentia peculiaris·. Es handelt sich dabei vor allem um die Erhaltung der Kirche auf das ewige Heil hin 1 1 4 . denz hervorhebt. In der ,Epistola ad lectorem' der Loci, StA II/1, 187,3 f., sagt Melanchthon, daß sie dazu dienen, die Angstlichen zu bilden, aufzurichten, zu bestärken und zu trösten. 111 Hutter, Loci, 217. Vgl. TROELTSCH, Vernunft, 92 f., zum Auseinandertreten von Logik und Rhetorik in der Orthodoxie. ш Hutter, Loci, Locus XXII; Compendium, Locus XIII. 113 Hutter, Comp. VII,4 (27). 114 Hutter, Loci, 222b. In der Definition des Providenz-Begriffs im Compendium, VII,2 (26,29) wird bereits der Schwerpunkt auf Gottes Vorsorge vor allem für das Heil der zu Errettenden gelegt.
52
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
Das Glied der Prädestinationslehre, wohin nun die Providentia peculiaris gehört, ist das Lehrstück von der Erhaltung der Erwählten. Dort heißt es: „Dasselbe hat sich Gott in seinem ewigen Ratschluß vorgesetzt, daß er die Gerechtfertigten in ihrer vielfachen und verschiedenartigen Schwachheit, gegen Teufel, Welt und Fleisch verteidigen, sie auf ihren Wegen lenken und, wenn sie fallen, sie auffangen werde, so daß sie in Kreuz und Anfechtungen festen Trost empfangen und zum Leben bewahrt werden." 115 Man sieht, wie alle in der Providenzlehre wichtigen Begriffe, conservatio, gubernatio, die Ausrichtung auf den Trost im Leiden, die teleologische Bestimmung, hier aufgenommen werden in den Zusammenhang der Lehre von der Vorherbestimmung.
3.2. Der „ Ordo salutis" der
Prädestinationslehre
Wie ist dieser Zusammenhang nun beschaffen? Der Begriff der Erhaltung der Erwählten ist der sechste innerhalb von acht Gliedern des Begriffs der Prädestination. Diese wird umfassend so definiert: „Vorherbestimmung oder Erwählung ist der Vorsatz und Beschluß des göttlichen Willens, der von Ewigkeit geschehen ist, durch den Gott aus reiner Barmherzigkeit in Christus zum ewigen Leben erwählt und zu retten bestimmt, die wahrhaft an Christus glauben und bis zum Ende in diesem Glauben ausharren . . ," 116 . Diese Vorherbestimmung vollzieht sich nun in acht Schritten (gradus). Diese sind 117 : 1. redemtio, Erlösung durch Christus, 2. vocatio, Berufung (in den ,Loci' beneficiorum oblatio), 3. conversio, Bekehrung (in den ,Loci' beneficiorum efficacia), 4. iustificatio, Rechtfertigung, 5. sanctificatio, Heiligung, 6. conservatio, Bewahrung, 7.finalis confirmatio, Bestärkung auf das Ziel hin (in den ,Loci' perseverantia), 8. glorificatio, Verherrlichung. 115 „Idem D E U S in aeterno suo consilio proposuit, se iustificatos in multiplici et varia ipsorum infirmitate, adversus Diabolum, mundum et carnem defensurum, et in viis suis gubernaturum, et si lapsi fuerint, manum suppositurum, ut in cruce atque tentationibus solidam consolationem percipiant, atque ad vitam conserventur." Hutter, Comp. X I I I , 12 (61). - Diese Definition wie auch alle anderen im Comp. XIII,5-14 gegebenen halten sich nicht nur in der Sache - wie die gesamte Prädestinationslehre Hutters - , sondern bis in die Formulierungen hinein an die Konkordienformel, Solida Declaratio X I , 1 5 - 2 2 , BSLK 1069 f. 116 „Praedestinatio sive Electio est voluntatis divinae propositum et decretum ab aeterno factum, quo D E U S ex mera misericordia in C H R I S T O ad vitam aeternam elegit, et salvare constituit eos omnes, qui in C H R I S T U M vere credunt, et in ea fide ad finem usque perseverant . . . " , Hutter, Comp. XIII,5 (60). 117 Hutter, С о т р . , X I I I , 7 - 1 4 (60 f.). Vgl. Loci, 781 f.
Prädestination und Providenz
53
Aus dieser Aufstellung kann der Zusammenhang ersehen werden, in welchem sich die Providenzlehre in ihrer Zuspitzung auf das Heil der Gläubigen befindet. Hutter erläutert diese Gliederung wie folgt 1 1 8 : Man kann zunächst einmal an der Prädestination das Prinzip unterscheiden, von welchem sie ausgeht, nämlich den Willen Gottes, und das Ziel, nämlich die Krönung des erwählten Menschen mit der Herrlichkeit. Augustin hat nun darauf aufmerksam gemacht, daß damit der Begriff der Prädestination noch nicht hinreichend bestimmt ist 1 1 9 . Um ein Ziel zu erreichen, sind auch Mittel nötig, und wenn man nicht auch noch die Mittel auf G o t t zurückführt, dann öffnet man dem Pelagianismus T ü r und T o r . Will man nun die Durchführung des Prädestinationsbeschlusses darstellen, dann darf man nicht nur die Verherrlichung des Menschen nennen, sondern auch die Anwendung der Mittel, die auf dieses Ziel hinführen. Diese Anwendung der Mittel wird in den ersten sieben Schritten des Prädestinationsbegriffs genannt. Die Auswahl der genannten Mittel geschah dabei ζ. T . nach M a ß gabe mehrerer Bibelstellen, Eph 1 , 1 - 1 4 , R o m 8 , 2 8 - 3 0 , sowie M t 2 2 , 1 4 , in denen eine solche Kette von Stationen genannt wird, über welche G o t t seine Erwählten zu ihrem Heil hinführt. Eine weitere Möglichkeit, innerhalb der acht Glieder dieser Kette zu gliedern, ergibt sich durch die in den ,Loci' gemäß den Ausführungen in der Konkordienformel getroffenen Charakterisierung der vocatio als Angebot und der conversio als der Wirkung der Wohltaten Gottes. Die Wohltat Gottes schlechthin ist die Erlösung des gesamten Menschengeschlechts durch das Leiden und Sterben Jesu Christi, „in dem" darum auch die Erwählung geschieht. Die Berufung stellt dann das Angebot dar, diese Wohltat anzunehmen. Die Bekehrung ist ihr Wirksamwerden in dem Menschen, der sie durch die Kraft des Heiligen Geistes annimmt. Die Schritte 3 - 7 stellen mithin dieses Wirksamwerden von Christi Opfertod im menschlichen Leben dar, angefangen durch die Bekehrung, hinzielend auf die Verherrlichung. Dieses Wirksamwerden wurde in der späteren lehrhaften Theologie des 17. Jahrhunderts zu einem eigenen Lehrstück. Die analytische Methode teilte den theologischen Stoff nach drei Gliederungspunkten ein: Ziel der Theologie, Subjekt, das zu diesem Ziel hingeführt werden soll, Ursachen und Mittel, die dazu dienen. Innerhalb dieses Aufrisses führte Abraham Calov diese Kette als die Mittel des Heils auf der Seite des Menschen auf. Dabei begann er mit der Berufung, die ein Übergangselement darstellt. Quenstedt und Hollaz sprechen hier von der ,gratia Spiritus Sancti applicatrix' 1 2 0 . Es wurden auch weitere Einzelglieder dieser
Hutter, Loci, 7 8 0 - 7 8 2 . Hutter nennt epist. 105 ad Sixtum (in der Zählung der Maurinerausgabe, M P L 33, Nr. 194, dort vor allem Nr. 10, p. 877 f.) und D e correptione et gratia, cap. 13; M P L 44,340-342. 120 Calov, Theologia positiva, s. das Inhaltsverzeichnis bei HIRSCH, 469 (294); Quenstedt, 118
119
54
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
Begriffskette hinzugefügt, so auch das Stück , D e unione mystica', auf welches weiter unten eingegangen werden wird 121 . Später erst bürgerte sich für die Begriffskette innerhalb dieses Lehrstücks der Name „ordo salutis" ein; in der hier vorliegenden Untersuchung soll die ganze Begriffskette, wie sie im Prädestinationsartikel der Konkordienformel formuliert ist, von der redemtio bis zur glorificatio, mit diesem Namen benannt werden 1 2 2 . Betrachten wir nun den Ort, den die conservatio innerhalb dieser in der FC zusammengestellten Begriffsreihe einnimmt. Sie hat als Voraussetzung erstens die Erlösung durch Jesus Christus und zweitens deren Aneignung durch die Rechtfertigung allein durch den Glauben - diesen Begriff im weiteren Sinne gefaßt 1 2 3 . Mit der Heiligung und der Beharrung bildet die Bewahrung der Erwählten dabei eine Untergruppe. Diese Begriffe stellen Aspekte des Lebens des bereits gerechtfertigten Christen dar 124 . , Heiligung' ist dabei der umfassende Begriff, unter dem das ganze Leben des Gerechtfertigten steht; , Bewahrung' und , Beharrung' sind Näherbestimmungen.
Theologia didactico polemica, bei HIRSCH, 569-591 (344-357); Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, Inhaltsübersicht bei HIRSCH, 470 (296). m S.u. S. 161 ff. 122
S i e h e JOHANN ANSELM STEIGER, A r t . O r d o s a l u t i s ; EMANUEL HIRSCH, H i l f s b u c h , 5 6 9 - 5 9 1 ( 3 4 4 - 3 5 7 ) ; MAX KOCH; HANS EMIL WEBER, D e r E i n f l u ß d e r p r o t e s t a n t i s c h e n S c h u l -
philosophie auf die orthodoxe lutherische Dogmatik, 102-144; BAUR, Die Vernunft, 137-150. Unter den historischen Voraussetzungen dieses Lehrstücks nennt ANSELM S'IEIGER, 373 ff., Luthers Aussagen über die Werke des Heiligen Geistes im Kleinen Katechismus, BSLK 512,2-8. In der Erbauungsliteratur, bei Philipp Nicolai und in Johann Gerhards ,Meditationes sacrae', findet sich auch schon eine Darstellung des ordo salutis. HIRSCH, 569 (344 f.), deutet auf eine Linie, die über Dannhauer und Mentzer auf die Rechtfertigungslehre der Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchenordnung von 1533 zurückführe, diese bei HIRSCH, 195 f. (138-140). Für die Lehrstücke ,De conservatione' und ,De glorificatione' behauptet HIRSCH, 591 (357), den Einfluß reformierter Dogmatik, wobei er offensichtlich an Melchior Leydeckers .Synopsis theologiae christianae' denkt, bei HIRSCH, 638 (392). Die Prädestinationslehre der FC wird hingegen in diesem Zusammenhang nur von MAX KOCH, Der o r d o salutis in der alt-lutherischen Dogmatik, 53, erwähnt. - Als biblische Zeugnisse für die für uns besonders wichtigen Punkte der Beharrlichkeit und der Bewahrung nennt ANSELM STEIGER, 372, I Thess 5,23 und Joh 10,27. 123 „Rechtfertigung" also so verstanden, daß Berufung - als schon wirksames Austeilen des Verdienstes Christi - , Bekehrung und Rechtfertigung im engeren Sinne - Übertragung des Verdienstes Christi - darin zusammengefaßt sind. Bei Luther findet sich meist eine Erörterung des Begriffs Rechtfertigung in diesem weiteren Kontext. 124 ANSELM STEIGER legt in seinem Artikel, vor allem 373, den Akzent darauf, daß alle Begriffe des ordo salutis von der einen Sache der Rechtfertigung ausgesagt würden. Zugleich ist aber doch die Rechtfertigung die sachliche Voraussetzung der genannten drei Begriffe. Vgl. dazu Luthers Unterscheidung und Aufeinander-Beziehen der Begriffe Glaube und Liebe, die gemeinsam das christliche Leben ausmachen, Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533), WA 38,226 f./BoA 4,267 f., bei HIRSCH, 286 (184). In der Tat ist dabei zu betonen, d a ß das Durchwandern dieser Stationen nicht unumkehrbar, die Rückerinnerung an den Anfang des Christ-Seins immer wieder nötig und der Zusammenhang mit dem Lehrstück ,De cruce' stets zu beachten ist. Genau dies wird in dem Artikel ,De conservatione' - s. die Stichworte „lapsi" und „in cruce" - ausgesagt.
Prädestination und Providenz
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D e r Begriff der Beharrung bringt dabei die beständige Ausrichtung auf das Ziel, die Verherrlichung, zum Ausdruck: „Es gehört zu jenem ewigen Beschluß [der Erwählung], d a ß er [Gott] jenes gute Werk, das er in ihnen [den Erwählten] angefangen hat, vorwärts treiben, bekräftigen und bis zum Ziel bewahren will, wenn sie nur sich auf sein W o r t wie auf einen Stab beständig stützen, seine Hilfe in brennenden Gebeten erflehen, in der Gnade Gottes beharren und die empfangenen Gaben zuverlässig und gut anbringen." 1 2 5 D e r Begriff Bewahrung besagt dann nur die negative Seite, d a ß G o t t alles von dem Erwählten abhält, das ihn letztlich von diesem Ziel abbringen würde. D e r enge Zusammenhang der beiden Begriffe und zugleich ihre praktische Ausrichtung werden sichtbar in dem auffallenden Stilwechsel, wenn die Konkordienformel aus ihrer formelhaften, systematisierenden Sprache in die Formulierung „seine [Gottes] Hilfe in brennenden Gebeten erflehen" fällt. Es wird dabei deutlich, d a ß dies der Punkt ist, an dem der theologische Autor selber steht und darum nicht umhin kann, ein persönliches Zeugnis durchschimmern zu lassen.
3.3. Vorsehung und Heilsordnung
im
Zusammenhang
Mit der Stellung des Artikels von der Bewahrung der Erwählten innerhalb der Heilsordnung der Erwählungslehre wird nun auch die teleologische Struktur der Providenzlehre konkreter. Bereits in dem Locus , D e Providentia' sagt H u t t e r , d a ß die nicht-menschliche irdische Schöpfung um des Menschen willen erschaffen ist 126 . Sie ist repräsentiert durch den Ochsen von I K o r 9,9. H u t t e r behauptet durchaus, d a ß G o t t auch um den Ochsen Sorge trage. Doch tue er dies nur in zweiter Linie um des Ochsen willen, in erster Linie aber wegen des Menschen. Alles geschaffene Irdische, das nicht der Mensch selbst ist, dient also dem Menschen, und zwar nur auf Zeit. Es wird letztlich und endgültig mit dem Eschaton vergehen 1 2 7 . Das letzte Ziel also, dem die Schöpfung dient und auf das Gottes Sorge in seiner Vorsehung ausgeht, ist das Heil seiner Erwählten. D e r Begriff der Vorsehung wird dadurch vollendet, d a ß die gubernatio in ihm eingeschlossen ist, in welcher G o t t alles auf ein Telos ausrichtet: seine eigene Ehre m „Illius aeternum decretum est, quod opus illud bonum a se in illis inceptum promovere atque confirmare et ad finem usque conservare velit, si modo verbo ipsius opem ardentibus precibus implorent, in gratia Dei perseverent et dona accepta fideliter et bene collocent." FC XI,21, BSLK 1069. In der Erstausgabe von Hutters Compendium, 1610, ist diese Formulierung verkürzt übernommen, in der Ausgabe von 1622 sind die Worte „ardentibus precibus" und „in gratia perseverent" noch hinzugefügt, s. Comp. XIII, 13 (61 mit Anm. zu Z. 11). 126 Hutter, Loci, 225 (Quintum). Vgl. Johann Gerhard, Loci, VI, VII, 65 (Loci, Tom.2,27). 127 Vgl. oben S. 33, bei Anm. 25. Inwiefern umgekehrt der Mensch auch für die anderen Schöpfungen da ist, wird in diesem Zusammenhang nicht erörtert.
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
ineins mit der Verherrlichung der Erwählten. Für sie sorgt er sich mit der Einrichtung und Regierung seiner Schöpfung in der Zeit und mit der Bereitung der Herrlichkeit in der Ewigkeit durch seinen Erwählungsbeschluß. Die Providenzlehre ist also durch den Artikel , D e conservatione' in der Erwählungslehre aufgenommen. Gottes Vorsehung in der Schöpfung dient der Verherrlichung der Erwählten. Damit ist aber auch konkretisiert, wie die Güte Gottes, die er in seiner Vorsehung erweist, zu denken ist. Sie gilt allen seinen Geschöpfen, letztlich, das heißt f ü r die Ewigkeit, aber den von ihm Erwählten allein 128 . Zugleich ist diese Güte Gottes identisch mit seiner unermeßlichen Liebe, die sich als Gnade in der Rechtfertigung des Sünders erweist, ohne welche die Erwählung nicht vollzogen werden kann 1 2 9 . In diesem teleologischen Zusammenhang erhält auch Gottes Umgang mit der Sünde eine noch konkretere Gestalt: Gottes Vorsehung erstreckt sich auch auf die Sünde und wird durch die Sünde nicht gehindert, sondern durch sie hindurch vollzogen, denn G o t t hat schon vor dem Fall Adams, wie H u t t e r unter Verweis auf Eph 1,4 sagt, beschlossen, d a ß er durch seinen Sohn das durch diesen Fall Zerstörte wiederherstellen werde 1 3 0 . Die Passion Jesu ist also nicht nur ein Exempel f ü r Gottes gubernatio über die Sünde 1 3 1 , sondern die zentrale und entscheidende H a n d l u n g von Gottes Weltregierung. In ihr bestraft G o t t das schuldhaft Üble und überwindet es. Durch Jesu Blut werden die Sünden getilgt 132 . Das stellvertretende Strafleiden Jesu Christi ist die Wohltat Gottes, in welcher er seine Sorge um die ganze Menschheit erweist und die letztlich den Erwählten zugute kommt. Diese sind aber identisch mit denen, die Christus im Glauben annehmen und darum von Gott, unter Voraussehung dieses Glaubens, erwählt werden 1 3 3 . Mit dieser Überlegung wird dann aber auch noch ein Blick auf die Begründung der Vorsehungslehre geworfen. Sie kann nur aufgrund des Glaubens - als notitia - angenommen werden, weil allein der Glaube an 128
S. o. S. 33, bei Anm. 25. Hutter, Comp. X I I , 4 - 7 (53 f.). 130 Hutter, Loci, 225b. 131 S.o. S. 45, bei Anm. 85. 132 Die Satisfaktionslehre wird angeschnitten in Hutter, Comp. III, 36 (18), 111,21 (13) und XII,8 (54). 133 Hutter, Comp.XIII,15.17-28 (61-66), insbes. XIII,26 (65). H u t t e r versucht in seiner Prädestinationslehre, ähnlich wie in der Providenzlehre, die allumfassende Wirkursächlichkeit Gottes, hier als seine reine Barmherzigkeit, mit seiner völligen Unschuld am Übel, hier an der ewigen Verwerfung, und mit der menschlichen Freiheit, hier der Notwendigkeit, den Menschen zur Umkehr aufzufordern, zu vereinbaren. Er gelangt darum zu der Auffassung, daß der Mensch aufgrund seines Glaubens erwählt werde, von dem Gott aufgrund seines nicht kausierenden - Vorherwissens weiß. - Zu dem historischen Kontext dieser Lehre s. GOTTFRIED ADAM, Der Streit um die Prädestination im ausgehenden 16.Jahrhundert, und RUNE SÖDERLUND, EX praevisa fide. 129
Prädestination und Providenz
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Jesus Christus den Blick auf das Ziel eröffnet, auf welches Gottes Vorsehung ausgerichtet ist. Zugleich vollzieht sich Gottes Vorsehung aber auch nur so, daß der Mensch durch den Glauben - als fiducia - Gottes Vorsehungswalten, konzentriert in seinem Handeln in Christi Passion, auf sich bezieht 134 . Die Gültigkeit der Lehre von der Vorsehung Gottes im umfassenden Sinn hängt also an der praxis des Glaubens. Diese letzten Ausführungen werden noch einmal vertieft, wenn man die Frage nach der Gewißheit der Prädestination betrachtet. Die Erwählung gelangt nur zu ihrem Ziel, wenn der Gläubige bis zum Ziel ausharrt oder, wenn er zwischendurch gefallen ist, spätestens bis zum Ziel wieder zum Glauben gekommen ist und im Tod an seinem Glauben festhält. Die Frage nach der Gewißheit, erwählt zu sein, spitzt sich also zu der Frage zu, ob einem die Gabe der Beharrlichkeit gegeben ist 135 . Im ,Compendium' sagt Hutter, man könne diese Gewißheit haben durch das Wissen, daß die eigene Erwählung in Jesus Christus gegründet ist, gegen den die Hölle nichts vermag, durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes, der den Menschen antreibt, und durch die Gewißheit der Gebetserhörung. In den ,Loci' vertieft Hutter diese Hinweise systematisch. Er nennt ein doppeltes Prinzip der Prädestinationsgewißheit. Dieses entspricht der Struktur der Prädestination selbst. Diese besteht eben grundlegend in dem ewigen Dekret Gottes und sodann in dessen Ausführung. Seiner Erwählung gewiß werden kann man folglich erstens dadurch, daß man den Ratschluß Gottes in seinen acht Teilen auf sich bezieht. Besonderes Gewicht erhält dabei die redemtio, und Hutter zitiert den Rat Staupitz' an den von der Prädestinationsanfechtung geplagten Luther, er solle Christi Wunden betrachten, um sich der Liebe Gottes zu ihm gewiß zu werden 136 . Dann gibt es noch eine sekundäre Möglichkeit der Vergewisserung: man kann Stücke der Ausführung von Gottes Ratschluß an sich selber feststellen, wie etwa die Einwohnung des Heiligen Geistes. Darunter wäre dann auch die Erhörung des Bittgebets zu zählen oder die Erfahrung der Bewahrung in Anfechtungen, an die man sich erinnert. Die Erhaltung der Kirche trotz so vieler Verfolgungen, die Hutter als einen Beweis für Gottes Vorsehung nennt 1 3 7 , wäre, auf den jeweiligen Christen selbst bezogen, hier als eine Vergewisserung seiner eigenen Erwählung einzubeziehen. Diese Überlegungen sind nun anzuwenden auf die conservatio, die Bewahrung des Christen in Anfechtungen. Damit der Christ diesen Anfechtungen standhält, muß er die Gewißheit haben, trotz allem sein Ziel erreichen zu können. Diese Gewißheit wird er in erster Linie dadurch er134
Hutter, Comp., Locus , D e iustificatione', XII,11-17 (55 f.). Vgl. Hutter, Comp. XIII,29 f. (66) und Loci, XXII,7 (811-815), vgl. SöDERLUND, 128 f.; 132, Anm.55. 136 Siehe Luther, Genesis-Vorlesung, WA 43, 461,11-13, erwähnt von Hutter, Loci, 814b. 137 Hutter, Comp. VII, 1,2 (26). 135
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
langen können, daß er sich die Wohltat des ihn liebenden Gottes vor Augen hält: den für ihn leidenden Christus. In zweiter Linie werden auch die Erfahrungen, die er oder andere Christen von der Treue und Bewahrung Gottes gemacht haben, seiner Vergewisserung und seinem Trost dienen. Resümierend soll noch einmal der Zusammenhang von Providenz- und Prädestinationslehre dargestellt werden 138 . Das Ziel, auf das hin Gott seine Schöpfung bewahrt und lenkt, ist letztlich das ewige Heil seiner Erwählten. Seine Güte, die sich in der Vorsehung erweist, gilt letztlich ihnen. Es ist die Güte und Liebe, in welcher er durch den T o d seines Sohnes die Sünde überwindet. Gottes Vorsehung erweist sich darum letztlich nur für diejenigen, die im Glauben den T o d von Gottes Sohn für sich annehmen. Im Blick auf ihn gewinnen sie Gewißheit, festen Trost und Bewahrung in allen Anfechtungen.
4. Die Lehre vom Leiden und vom Trost Diese Lehre findet sich bei Hutter in den ,Loci' als Locus X X X ,De cruce et calamitatibus, sive afflictionibus humanis' 139 , im ,Compendium' als Locus X X I V ,De cruce et consolationibus' 140 . Vorlage ist das Lehrstück in Melanchthons Loci ,De calamitatibus et de cruce et de veris consolationibus' 141 . Melanchthon hat es in nur etwas veränderter Form auch in seinem , Examen ordinandorum' untergebracht, in der lateinischen Fassung desselben unter dem Titel ,Quare ecclesia subiecta est cruci? De causis calamitatum, et de locis consolationum' 142 , in der deutschen Fassung, ,Der Ordinanden Examen', unter dem Titel ,Warumb die Christliche Kirch unter das Creutz geleget sey?' 143 . Dieses Lehrstück wurde als solches nicht in alle theologischen Lehrbücher des damaligen Luthertums aufgenommen. 138 Es erweist sich damit, daß keineswegs diese beiden Loci, wie F L Ü C K I N G E R , Vorsehung und Erwählung in der reformierten und in der lutherischen Theologie, 521 f., meint, in der lutherischen orthodoxen Theologie - im Unterschied zur reformierten - beziehungslos nebeneinander stünden. 159 Hutter, Loci, 933-963. 140 Hutter, Comp., 113-115. 141 Melanchthon, StA, 1. Aufl.,II/2, 622-650 (die Seitenzahlen haben sich bei der 2. Aufl. verschoben!). 142 Melanchthon, CR 23, 75-81. 143 Melanchthon, CR 23, L X X V - L X X X I I / S t A VI, 214-221. Laut der Vorbemerkung S T U P P E R J C H S , daselbst, 168 f., berührt sich das ,Examen ordinandorum' mehrfach mit der ,Wittenberger Reformation' (CR 5, 578 ff.) und dem Katechismus von 1548 (Suppl. Mel. 5, 1 S. C). Sie wurde, stärker noch in der lateinischen als in der deutschen Fassung verbreitet, Grundbestandteil vieler luth. Kirchenordnungen. Die Trostlehre findet sich auch separat als ,Loci consolationis' (1547), Epistolarum lib.X, Nr. 3834, CR 6, 483-488. Zu der Verknüpfung dieses Locus mit dem nachfolgenden über das Gebet s. M A R T I N J U N G , Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon, Bd. 2, 229 f.
Die Lehre vom Leiden und vom Trost
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Es findet sich bei Jakob Heerbrand 1 4 4 , Abraham Calov 145 und Andreas Quenstedt 1 4 6 , bei diesen beiden späteren, die nach der analytischen Methode vorgehen, im Teil ,De mediis salutis', und zwar bei Calov in jenem Unterteil, der den ordo salutis darstellt. Johann Gerhard in seinen ,Loci', Dannhauer in seiner ,Hodosophia Christiana', Hollatz in seinem ,Examen theologicum acroamaticum' hingegen haben dieses Lehrstück nicht. Allerdings begegnen Teile seines Gehaltes durchaus auch noch bei diesen Theologen, so in dem Abschnitt über den usus des Locus ,De Providentia' bei Johann Gerhard 1 4 7 . Im folgenden halte ich mich im wesentlichen an die Linie der Darstellung in den ,Loci' Hutters, wobei ich das , Compendium' und die Schriften Melanchthons zum Vergleich heranziehe. 4.1. Gründe und Arten des Leidens Nachdem er eine Einteilung der Leiden gebracht hat, auf die ich später noch eingehen werde, bringt Hutter die von Melanchthon gleich zu Beginn gestellte Frage, warum der Mensch von so vielen Leidensereignissen (calamitates) heimgesucht wird 148 . Dies ist eine Frage, die nicht bloß Christen eigentümlich ist, sondern in der gesamten Weltgeschichte immer wieder gestellt wurde 1 4 9 . Dementsprechend nennt Hutter auch zuerst die Antworten, die von heidnischen Philosophen gegeben wurden 1 5 0 . Allen voran referiert er die Antworten der Epikureer - alles sei Ergebnis von Zufall, Glück und Unglück - und der Stoiker - alles sei von einem unabänderlichen Fatum bestimmt - und greift zu ihrer Widerlegung auf das zurück, was er oben schon in ,De Providentia' gesagt hat. Unter den anderen heidnischen Lehren ist die des Aristoteles noch hervorzuheben. Dieser nennt als Ursache des Leidens die Materie, ihre Entbehrung einer Form, welche zur Folge hat, daß sie wechselnd nach verschiedenen Formen strebt 151 . Diese Erklärung wird von Melanchthon und Hutter nicht schlichtweg abgelehnt, aber ihre Geltung auf das natürliche Entstehen und Vergehen eingeschränkt. Melanchthon kritisiert auch ausdrücklich, daß man so „vom Menschen nicht anders als von Äpfeln, Veilchen und Rosen denkt." 1 5 2 Von dem 144
De cruce, vel afflictionibus, Heerbrand, Compendium, 824-840. De cruce, seu tessera electorum, Calov, Theologia positiva, 529-533. 144 De cruce, Quenstedt, Theologia didactico-polemica, Bd. 4, 1431-1436. 147 Johann Gerhard, Locus VI, cap. XIV (Loci, Tom.2,46 f.), s. dazu AXMACHER, Paul Gerhardt, 98. 148 Hutter, Loci, 937-943. 149 Melanchthon, Examen, CR 23, 75. Hutter, Loci, 937-939. 151 Hutter, Loci, 939b, vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1033a. ш „... пес de homine alter quam de pomis aut violis aut rosis cogitat.", Melanchthon, Loci, StA II/2, 631,35-37. 145
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
begrenzten Recht dieser Betrachtungsweise wird auch noch zu sprechen sein, wenn das Vanitas-Motiv in der barocken Dichtung behandelt wird 1 5 3 . Die Generalursache des menschlichen Leidens - wenn es also nicht um irgendein Vergehen, sondern um das Leid von Menschen geht, ist aber der Fall Adams. Dieser erregt den Zorn Gottes, und in seinem Zorn schickt er das Leiden, um die Sünde zu strafen. Leid ist damit als ein malum poenae bestimmt 154 . Hutter differenziert dann noch weiter, spricht zunächst von den Ursachen des Leidens der Gottlosen - hier wird der Gedanke der Strafe vertieft 1 5 5 - und kommt dann auf die Ursache des Leids der Frommen zu sprechen 156 . An dieser Stelle setzt der T r a k t a t im Compendium ein 157 . Ich bringe dessen gestraffte Darstellung. Gott läßt die Christen leiden: 1. wegen des Restes der Sünde, der sich in ihnen befindet. Durch das Leiden treibt er sie zur Buße, zu Glauben, Gebet und Erneuerung ihres Lebens, gemäß Jes 28,19, das von Luther so übersetzt wurde: „Denn allein die Anfechtung lehrt aufs Wort merken"; 2. weil Gott will, daß die Gläubigen schon in diesem Leben dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet werden, Rom 8,29; 3. weil Gott, gerade indem er die Seinen ins Leiden fallen läßt, ihnen, wenn er sie daraus herausreißt, seine Gegenwart, seine Liebe und Allmacht beweisen kann, Jes 37,20 158 ; 4. weil die Gläubigen im Leiden dazu gelangen, ein wahrhaftiges Zeugnis ihres Glaubens zu geben.
Diese Darlegung wird noch vertieft, wenn man die Unterteilung der Leidensarten hinzuzieht, die Hutter in Anschluß an Melanchthon in seinen ,Loci' bringt 159 . Leiden kann sein: 1. Strafe (timoria);
2. Prüfung (dokimasia); 3. Zeugnis (martyrion)tb 153
S.u. S. 104. Hutter, Loci, 939b-940a. 155 Hutter, Loci, 940 f. 156 Hutter, Loci, 941 f. 157 Hutter, Comp. XXIV,1 (113 f.). 158 Auf diese Zusammenstellung von Eigenschaften Gottes, die gerade im epikureischen Dilemma problematisiert werden, wird weiter unten eingegangen, wenn es um den Syllogismus practicus geht, S. 67 ff. 159 Hutter, Loci, 935-937, bei Melanchthon, Examen, CR 23, 77; Loci, StA I I / 2 , 647,26 ff. 160 Diese Leidensart entspricht der vierten Leidensursache. H u t t e r geht dabei besonders auf die Blutzeugen der Kirche ein und zitiert das W o r t Tertullians: „Sanguine martyrum irrigari Ecclesiam Christi.", und das Sprichwort: „Sanguine fundata est Ecclesia: sanguine cepit: Sanguine succrevit: Sanguine finis erit.", Loci, 941b-942a (X.). Das Sprichwort bei WALTHER, Nr. 27 290 (Bd. 4). - Melanchthon kennt noch, II Thess 1,4-7 folgend, eine andere Art des Zeugnisses, das testimonium de sequuturo judicii, Examen, C R 23, 77;80: aufgrund seiner 154
Die Lehre vom Leiden und vom Trost
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4. Lösegeld (lytron). Dies ist allein das Leiden Christi, das als völlig genügendes Lösegeld für unsere Sünde gegeben wurde.
Bemerkenswert ist an diesen beiden Aufstellungen, daß Hutter hier über seine Generalantwort, Leiden sei Gottes Strafe für die Sünde, hinausgeht. Dies zeigt sich schon bei den Ausführungen zu dem ersten Leidensgrund: Leiden, um von dem Restbestand der Sünde zu reinigen. Denn hier muß ein Christ nicht leiden wegen einer bestimmten schweren Tatsünde, die er begangen hätte. Sein Leiden ist aber auch nicht das Leiden, das er wegen seiner Grundsünde, dem peccatum originale, das ihm anhaftet, leiden müßte, denn dieses Leiden hat ja Christus übernommen, als er das Lösegeld zahlte. Obgleich dem Christen dadurch die Grundsünde vergeben ist, bleibt noch ein Rest von ihr in ihm zurück. An diesem Punkt befindet man sich in dem Kontext reformatorischer Rechtfertigungslehre, wo es um die Rechtfertigung extra nos geht und um das simul justus et peccator esse des Christen. Diese Einsichten sind zum einen impliziert in den Aussagen Hutters über den usus didacticus des Gesetzes Gottes, das auch den Wiedergeborenen zeigen muß, wo sie noch alter Mensch und sündig sind. Das Mahnen des Gesetzes wird dabei verstärkt durch die Züchtigungen (castigationes), die Gott den Wiedergeborenen erteilt 161 . Diese Ausführungen spiegeln die Ergebnisse des Antinomerstreits wider. Noch einmal kommt Hutter auf diesen Zusammenhang zu sprechen in der Lehre von der ,mortificatio carnis' 162 . Diese Tötung des Fleisches ist nichts anderes als der Kampf gegen die Restsünde nach Gal 5,17. Im Umgang mit äußeren Dingen geschieht dieser Kampf, indem Leidensereignisse, sei es in privaten, sei es in öffentlichen Dingen, im Gehorsam gegen Gott getragen werden. Dabei kehrt Hutter zwei Punkte kontroverstheologisch hervor 163 . Diesmal geht es um die Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Theologie. Erstens erklärt er, daß diese Abtötung des Fleisches kein Verdienst darstellt. Denn das Verdienst, das von Sünden befreit, ist das Verdienst Christi. Die Leiden Christi im Sinne von Kol 1,24, die noch unvollendet sind und an denen seine Glieder, die Christen, weiterleiden, sind nicht das Erlösungsleiden 164 . Zweitens ist darum ein Leid nicht so anzu-
ausgleichenden Gerechtigkeit zeigt Gott durch den Tod eines Unschuldigen an, daß er den dafür Schuldigen verdammen werde, während der Unschuldige ewigen Lohn empfange; bei Hutter, Loci, 221b; 945a (Alterum). 161 Hutter, Comp., Locus ,De lege', X,10-20, insbes. X,13 (45-48, insbes. 46). In den Loci, 490, spricht Hutter eigens ,De peccatis renatorum'. Wesentlich ist dabei, daß diese Sünden nicht gegen das Gewissen erfolgen, denn ansonsten würde der Mensch wieder aus der Gnade herausfallen. 162 Hutter, Loci, Locus XXVI (907-909). 165 Hutter, Loci, 908 f. Vgl. Сотр., XVIII,8 (87). 1Ы Dazu speziell Hutter, Loci, 942b-943a.
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
streben, wie man ein Verdienst anstrebt. Man soll es sich nicht selbst auferlegen. Wenn man sich einen Verzicht auferlegt, dann nur, um die rechte Mitte zu finden - in Nüchternheit, Enthaltsamkeit und gelegentlichem Fasten 165 . Daran knüpft eine weitere Streitfrage an, nämlich die nach dem Tragen des Leids als Genugtuung für die zeitliche Sündenstrafe 166 . Melanchthon hat, vor allem in der ,Apologie', ausführlicher darüber gehandelt 167 . Er bekämpft hier die römische Meinung, die Satisfaktion sei ein Teil der Buße, der die Aufgabe habe, die Strafe für die Sünde zu tilgen. Dabei räumt er durchaus ein, daß Strafe zur Buße gehöre, und zwar sei dies erstens die Zerknirschung über die Sünde und zweitens eben das Tragen von Leidensereignissen als Abtötung der restlichen Sünde. Da diese Leiden einen guten Zweck haben, sollen - und können - sie gar nicht durch die Absolution, bzw. die in dieser auferlegten Satisfaktionen, wie ζ. B. Ablässe, getilgt werden 168 . Melanchthon kann dann sogar, unter einem erweiterten Sakramentenbegriff, ein in dieser Weise getragenes Leid ein Sakrament nennen, da es Gottes Verheißung hat 169 . Kehren wir wieder zu Hutters Unterscheidung der Leidensarten und Leidensgründe zurück. Bei ihm begegnen diese Fragestellungen bei der Leidensart der Prüfungen, der dokimasiai, die auch tentationes, Versuchungen, oder afflictiones, Anfechtungen, genannt werden 170 . Er fragt, ob sie denn nicht auch einen Aspekt von Strafe, also von timoria an sich hätten, worüber es in früheren Jahren eine Diskussion unter den orthodox-lutherischen Theologen gegeben habe 171 . Hutter erklärt, daß es zum einen Prüfungen gibt, die von irgendeiner Tatsünde völlig unabhängig sind, wie etwa das Leiden Hiobs. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist hier also aufgebrochen.
165 Auf die sich dabei erhebende Frage, ob man Leiden, wenn man es auch nicht suchen soll, doch andererseits auch nicht abwehren dürfe, wird weiter unten eingegangen, S. 69 ff. 166 Hutter, Loci, 942. 167 Melanchthon, Apologie der Augsburgischen Konfession, XII. V o n der Büß (Beichte und Genugtuung), im Abschnitt über die Genugtuung, BSLK 2 8 4 - 2 8 9 , sowie Loci, StA I I / 2 , 648,5 ff. 168 Melanchthon, BSLK 284 f. 169 Melanchthon, BSLK 294,43 ff., vgl. 286,37 ff. und 287,51 ff. Zu diesen Leiden zählt Justus Jonas in seiner deutschen Übersetzung der ,Apologie' auch ausdrücklich den Krieg, 287,37. Übrigens erwog auch Luther für die sieben notae ecclesiae, unter welche er auch das Kreuz zählte, die Bezeichnung „Sakrament", V o n den Konziliis und Kirchen, W A 50, 628-643. 170 Hutter, Loci, 935. m Hutters Lösung ist vorgeformt bei Melanchthon, Apologie, BSLK, 286,1 ff. 37 ff. Hutter mag anspielen auf die Diskussion dieser Frage bei Aegidius Hunnius, Afflictiones temporales cur infligantur piis, Opera latina, Tomus I, 569C. Später wurde sie erörtert von Johann Gerhard, Loci X V , 125 (Loci, T o m . 3 , 280 ff.): ,An remissa culpa maneat debitum luendae poenae?' - Für diese Hinweise danke ich Herrn Prof. Bengt Hägglund, Lund.
Die Lehre vom Leiden und vom Trost
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In den meisten Fällen ist es jedoch durchaus so, daß mit der Prüfung zugleich eine Tatsünde gestraft wird. Das biblische Beispiel dafür ist David, dessen Sünden - der Ehebruch mit Bathseba und die Ermordung Urias - durch verschiedene Leidereignisse - den Tod des ersten Kindes, das er von Bathseba hatte, den Absalom-Aufstand - gestraft wurde, obgleich er von seiner Schuld bereits durch die Buße, die er vor Nathan getan hatte, befreit worden war. Man kann hier von einer Strafe im weiteren Sinne reden, die sich von jener im engeren Sinne dadurch unterscheidet, daß Gott 1. dieses Leid nicht in seinem Zorn schickt - denn der ist bereits gestillt, 2. daß es nicht der Zerstörung, sondern dem Heil der Erwählten gilt, 3. daß diese Strafen meistens nur eine kurze Zeit währen - längstens bis zum leiblichen Tode, nie aber ewig - , 4. daß die strafende Gerechtigkeit Gottes dabei mit seiner Barmherzigkeit verbunden ist Der Vater züchtigt seine erwählten Kinder mit Maßen, Jer 10,24.
Diese eigentümliche Form der „Straf-Prüfung", die zur Buße geleiten soll bzw. zur Buße gehört, ist von besonderem Gewicht. Zum einen stellt sie die Schlußfolgerung aus der reformatorischen Rechtfertigungslehre für den Umgang des Christen mit dem Leid dar, zum andern erweist sie sich als die Deutung, die Paul Gerhardt in seinen Liedern am häufigsten dem Leid gibt 172 . Geschah mit diesem ersten im , Compendium' genannten Leidensgrund der Blick zurück auf die sündige Vergangenheit, von welcher der Christ durch das Leiden befreit wird, so vollzieht sich mit dem zweiten sein Gang in die Zukunft der Herrlichkeit. Aus dem Passus Rom 8,28-30, der schon für die Bildung der Lehre von der Heilsordnung bedeutsam war, wird der Vers 29 ausgewählt. Dieser spricht von der Gleichgestaltung der Gläubigen mit dem verherrlichten Christus. Dieser Prozeß der Gleichgestaltung beginnt aber schon in diesem Leben, und er beginnt damit, daß der Gläubige dem leidenden Christus verähnlicht wird, ein Gedanke, der an anderen Aussagen des Paulus seinen Anhalt hat 173 . Hierhin gehört auch der Gebrauch des Ausdrucks crux für die calamitas, die der Christ trägt. Hutter leitet ihn ab von Jesu Aufforderung Mk 8,34: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach." 174
172 173 174
S.u. S. 128ff. Phil 3,10 f.; II Kor 1,5; 4,17 usw. Hutter, Loci, 934a.
64
G o t t u n d d a s Leid in t h e o r e t i s c h e r B e t r a c h t u n g
4.2.
Die
Tröstungen
des
Leidens
Im ,Compendium' fährt Hutter nach der Darlegung der
Leidensursachen
d a m i t f o r t , d a ß e r d i e H a l t u n g c h a r a k t e r i s i e r t , in w e l c h e r d e r C h r i s t sein Leiden tragen
solle:
1. in w a h r e r D e m u t , w e l c h e in e r n s t e r u n d b r e n n e n d e r A n e r k e n n t n i s d e r S ü n d e n besteht; 2. in w a h r e m G l a u b e n an C h r i s t u s , d u r c h d e n allein w i r v o n G o t t eine L i n d e r u n g des Leidens erbitten; 3. in w a h r e r G e d u l d , w e l c h e allein in G o t t e s Willen R u h e f i n d e t ; 4. in festen T r ö s t u n g e n , d u r c h die w i r u n s u n t e r m K r e u z aufrichten 1 7 5 . H u t t e r n i m m t darin schon das vorweg, was er im folgenden den
christli-
chen Trost nennen wird. Zuvor nennt er jedoch, wie Melanchthon, philosophische
Trostgründe.
Für
diese wie
für die theologischen,
christlichen T r o s t g r ü n d e gilt u m f a s s e n d das, w a s M e l a n c h t h o n
einige d. h.
formuliert
hat: „Nichts wird geliebt o d e r mit S a n f t m u t ertragen o h n e die Vorstellung eines guten Grundes."176. Beim philosophischen T r o s t k o m m t m a n d a r a u f hin zu folgenden
Trostgründen177:
1. die N o t w e n d i g k e i t (necessitas): d a ß m a n sich in d a s s c h i c k t , w a s u n a b ä n d e r l i c h ist, g e m ä ß d e m S p r i c h w o r t „ T r a g e es u n d t a d l e n i c h t , w a s d u n i c h t ä n d e r n kannst."178; 2. die W ü r d e d e r T u g e n d (dignitas virtutis): d a ß m a n T r o s t in d e m Stolz f i n d e t , sich nicht d u r c h den S c h m e r z zu einer u n g e r e c h t e n H a n d l u n g verleiten z u lassen; 3. d a s gute G e w i s s e n (bona conscientia): U n g e r e c h t i g k e i t leiden m u ß ;
d a ß m a n w e i ß , d a ß m a n n i c h t w e g e n einer
175 „Primum in vera humilitate, quae consistit in seria et ardenti agnitione peccatorum. Deinde, in vera fide in Christum, ut per hunc solum mitigationem calamitatum a D E O petamus. Tum, in vera patientia, quae in sola DEI voluntate placide acquiescat. Tandem in firmis consolationibus, quibus nos ipsos sub cruce erigamus." Hutter, Comp. XXIV,2 (114). 176 „Nihil diligitur aut placide fertur sine ulla boni ratione.", Melanchthon, Loci, StA I I / 2 , 635,25 ff. 177 Hutter: Comp. XXIV,4 (114), Loci, 943; Melanchthon, Examen, CR 23, 78, vgl. auch Melanchthons ,Trostschrift', zit. bei Steiger, Melancholie, 53-55, und die ,Loci consolationis', C R 6, 483-488. Gebracht wird hier eine Synopse dieser in manchen Punkten differierenden Listen. Die collatio eventuum wird nicht im ,Compendium', die nominis immortalitas wird nur im ,Compendium', die causae finales nur im ,Examen' gebracht. HERRLINGER, Die Theologie Melanchthons, 394, der auch auf die ,Postilla Melanchthoniana' verweist (CR 25, 490; 640; 829; 831) vermutet als Quelle für diese philosophische Trostlehre Cicero. Auf diesen verweist auch ausdrücklich Johannes Mathesius, Syrach Mathesij, 133 f., vgl. auch Lucas Oslander d. Α., Ein Predig, В Ilr, beide referiert u. zit. bei STEIGER, Melancholie, 31-33; 51-56. 178 „Feras, non culpas, quod mutare non posses." WALTHER, Sprichwörter Nr. 93 229 (Bd. 2), verweist dabei u. a. auf Seneca: „Optimum est pati quod emendare non possumus.", Publilius Syrus u. Quellen des 16. u. 17.Jh.s.
Die Lehre vom Leiden und vom Trost
65
4. das Beispiel anderer (exempla aliorum), mit denen man gemeinsam das Leid teilt; 5. die Hoffnung auf einen guten Ausgang (spes laeti exitus)·, 6. die Unsterblichkeit des Namens (nominis immortalitas); 7. Vergleich der Ereignisse (collatio eventmm)·. man tröstet sich, daß man dadurch, daß man dieses Unglück erleidet, ein schlimmeres vermieden hat; 8. Endzwecke (causaefinales)·,man tröstet sich durch den Gedanken an einen guten Zweck des Leidens, wie ζ. B. ein Soldat leichter den Tod auf sich nimmt, wenn er weiß, daß er damit dem Vaterland nützt. Dieser Reihe von philosophischen Trostgründen stellt Hutter, wiederum Melanchthon folgend, mehrere christliche Trostgründe entgegen, die der Heiligen Schrift entnommen sind und die allein, wie er überzeugt ist, in schwereren Anfechtungen Trost bringen können. Ich nenne hier nur die geraffte Aufzählung im ,Compendium' 1 7 9 : 1. der gute Wille Gottes: sich zu trösten, daß das Leid von diesem kommt und nicht durch Zufall, Mt 10,29 f.; 2. der gute Endzweck allen Leids, denn „wir wissen, daß alles denen, die Gott lieben, zum Guten zusammenwirkt.", Rom 8,28; 3. daß Gott seine Hilfe und seine Gegenwart verheißen hat in allen Anfechtungen, Ps 91,15; 4. das Bewußtsein eines guten Gewissens, II Kor 1,12; 5. das gewisse Vertrauen auf die Vergebung der Sünden in Christus, welches macht, daß wir in Gottes Gnade sind, von welchen Anfechtungen wir auch gequält werden, Rom 8,33-39. Zwischen der Erkenntnis der Ursachen des Leides und den Trostmitteln gegen das Leid besteht ein Zusammenhang. Melanchthon vergleicht dies mit dem Zusammenhang zwischen Diagnose und Therapie in der Medizin. Man kann dieses nicht geben, wenn jenes nicht zuvor getan wurde. Cotisolationes sind remediaUQ. Aus diesem Grunde wirken auch die philosophischen Tröstungen nicht so gut, weil auch die philosophische Erforschung der Ursachen des Leids bestenfalls oberflächlich ist 181 . So wie diese nicht den Sündenfall als die Ursache des Leids erkennt, kann dieser Trost auch nicht das Leid und den T o d , geschweige denn die Sünde aufheben. Er vermag nur, das Leid etwas zu mildern 1 8 2 . D a m i t wird auch ein entschei174
„Primum est, Bona D E I voluntas: N o n enim casu aut fortuito, sed D E O sie ordinante affligimur . . . Alterum est, Finis bonus calamitatum . . . Tertium est, Promissio auxilii et divinae praesentiae in quibusvis afflictionibus . . . Quartum est, Bona conscientia . . . Quintum et postremum, certa fiducia de reraissione peccatorum in C H R I S T O , quae facit, ut simus in gratia D E I , quibuscunque tandem exerceamur afflictionibus . . . " , Hutter, Comp. X X I V , 5 - 9 , vgl. X X I V , 3 f. (114 f.). In den Loci, 9 4 3 - 9 4 8 , bei Melanchthon, Examen, 23, 7 9 - 8 1 ; Loci, StA I I / 2 , 633,33 - 643,16. 180 Melanchthon, Loci, StA I I / 2 , 6 3 1 , 1 4 - 3 2 . 181 Melanchthon, Loci, StA I I / 2 , 631,33 ff. 182 Melanchthon, Examen, CR 23, 81.
66
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
dender Unterschied in der Struktur des philosophischen und des christlichen Trostes deutlich. Der philosophische Trost geschieht angesichts von leiderzeugenden Umständen, die dabei selber nicht verändert werden. Er wirkt also nur auf das Bewußtsein ein. Christlicher Trost tröstet durch das Bewußtsein, daß diese Umstände tatsächlich verändert werden. Diese Veränderung geschieht dabei nicht - jedenfalls nicht unmittelbar - durch den Leidtragenden selbst, sondern durch Gott. Der Leidtragende ist jedoch, wie wir sehen werden, auch daran beteiligt, nämlich durch sein Bittgebet. Die philosophische Leidens- und Trostlehre hat also einen gleichartigen, beschränkten Wert wie die natürliche Gotteserkenntnis und die Beweise für die Vorsehung aus der Weltbetrachtung. Melanchthon sagt auch ausdrücklich, daß die philosophischen Trostgründe der Lehre vom Gesetz entnommen sind und zugleich auch theologische Trostgründe darstellen. Das, worin der theologische Trost sie übertrifft, sind diejenigen Trostgründe, die aus dem Evangelium hervorgehen 183 . Dieses bedenkend, ergibt sich die Struktur der verschiedenen Trostgründe und ihr Zusammenhang mit der Lehre von der Vorsehung sowie mit der Lehre von der Vorherbestimmung, welche diese vertieft. Betrachtet man die Trostgründe in Hutters ,Compendium', so liegt zunächst einmal die Entsprechung des ersten philosophischen und des ersten theologischen Trostgrundes auf der Hand. Die Notwendigkeit aller Geschehnisse ist durch Gottes Willen bewirkt. Doch steht dieser Sachverhalt in einem anderen Zusammenhang, wenn man ihn christlich betrachtet. Die Ergebung in den Lauf der Ereignisse ist zugleich die Hoffnung auf das gute Ziel dieses Laufes, das für die erreicht wird, die Gott lieben, wie es im zweiten theologischen Trostgrund ausgedrückt wird. Der tröstende Endzweck, der erhoffte gute Ausgang ist etwas, das jenseits des Todes liegt und darum vom Tode nicht mehr bedroht werden kann. Es ist ein Ziel, das von dem Leidtragenden selber genossen werden kann, was dem Soldaten, der für sein Vaterland stirbt, oder demjenigen, der sich in der Nachwelt „unsterblichen" Ruhm erwirbt, verwehrt bleibt. Dieses tröstende Telos nun eröffnet sich nur durch die Offenbarung der Heiligen Schrift, und es eröffnet sich nur für diejenigen, welche dieser Offenbarung von Herzen vertrauen. Die anderen drei theologischen Trostgründe bringen unmittelbar ihre Begründung durch das Evangelium zum Ausdruck. Das Gewissen kann nämlich, auch wenn es durch schlechte Taten befleckt ist, durch die Vergebung der Sünden gereinigt werden 184 . Das Sein in der Gnade, das durch die Sündenvergebung geschaffen wird, ist die Voraussetzung dafür, daß der Mensch Gott anruft, Gottes Verheißung, den Seinen beizustehen, in Anspruch nimmt und seine Nähe mitten im Leid erfährt. Im Bittgebet ereignet sich die conservatio electorutn. Im Bitten des Christen und im 183 184
Melanchthon, Examen, CR 23, 78 f. Hutter, Loci, 948 (Octavum).
Die Lehre vom Leiden und vom Trost
67
Eingreifen Gottes wird die Freiheit aktualisiert, die sowohl Gott als auch der Mensch gegenüber dem Lauf der Notwendigkeit haben. Das Bittgebet als das entscheidende Vorgehen des Menschen, durch das er Trost erlangt, wird von Hutter in seinen ,Loci' innerhalb der Lehre vom christlichen Trost näher analysiert durch seine Lehre vom „syllogismus practicus" 185 . Hutter beruft sich dabei auf Luthers Auffassung, daß in dieser Schlußfolgerung jeder christliche Trost bestehe 186 . Dieser Syllogismus enthält in seinem Obersatz „die These, die Hilfe Gottes, die in seinem Wort verheißen und dem Übel entgegengesetzt ist, durch welches wir angefochten werden. Der Untersatz aber, die Annahme, eignet sich jene Verheißung in wahrem Glauben an. Von daher legt der Schlußsatz klar und gewiß dar, daß das Übel, durch welches wir bedrückt werden, geduldig und tapfer zu tragen ist, weil ja die Hilfe Gottes uns zweifellos zugegen sein wird." 187 Dies sieht dann in dem ersten Beispiel, aus Ps 25,3 f. gebildet, so aus: MAIOR: Alle, die auf dich hoffen, HERR, gehen nicht zuschanden. MINOR: Ich hoffe auf dich und erhebe meine Seele zu dir. CONCLUSIO: Also gehe ich nicht zuschanden.
Dies ist eine korrekte Anwendung der aristotelischen Logik, die ja Hutter auch durchgehend in seinen ,Loci' gebraucht, um Irrlehren zu widerlegen und seine eigenen Lehren zu bekräftigen. Aber dennoch triumphiert er hier über ihr Unvermögen. Denn diese heidnische Logik kennt nicht, so sagt er, die „Topica Spiritualis", welche den Sätzen ihren Inhalt gibt, noch kennt sie das Mittel, wodurch dieser Schluß zu vollziehen ist 188 . Handelt es sich doch um einen syllogismus practicus, und das, was bei seinem Vollzug geschehen muß, ist die Aneignung, die Applikation des Obersatzes auf den diesen Schluß Vollziehenden selber. Es ist der wahre Glaube, die Gabe des Heiligen Geistes, der dazu vonnöten ist. Das kann den Vollzug dieses Schlusses, so einfach er „in nuda contemplatione sive theoria" ist, auch 185
Hutter, Loci, 943b-948a, vor allem 943b. D a s Luther-Register, Tübingen, gibt jedoch unter dem Stichwort „Syllogismus etc." keinen Aufschluß, welche Stelle bei Luther H u t t e r meint. 187 „Cujus major Propositio, auxilium DEI, in Verbo ipsius promissum, opponat malo, quo affligimur. Minor autem sive Assumtio, illam ipsam promißionem vera fide sibi applicet: Unde Conclusio tandem evidenter & certo colligat, Malum, quo premimur, patienter & fortiter ferendum esse: siquidem auxilium DEI praestö nobis sit indubitatö adfuturum.", Hutter, Loci, 943b. 188 Weiter unten, im Locus über das Gebet, nennt Hutter die Anwendung dieser Schlußfolgerung eine „Logica Spiritus Sancti", Loci, 967b (Quinta). Dieser Begriff wird auch von Balthasar Meisner in seiner ,Philosophia sobria' verwendet, erläutert von SPARN, Wiederkehr, 92 (These 4): „Logik ist hierbei nicht die Reproduktion einer Ordnung idealer Begriffe, sondern das Denkinstrument wirklich eingetretener Sachverhalte." Auch wenn dies auf die Anwendung dieses Begriffs in der Christologie und in der Sakramentenlehre zu beziehen ist, gibt es einen Berührungspunkt mit seiner Bedeutung bei Hutter: nämlich eben diese Abhängigkeit der Logik von etwas, das sich in der Wirklichkeit tatsächlich vollzieht. 186
68
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
schwierig machen. Denn in der Anfechtung, im Kampf zwischen Geist und Fleisch, ist das eine Mal der Obersatz zweifelhaft, das andere Mal der Untersatz, das heißt, es mangelt dann an Glauben (fiducia). Die Grundlage zu beidem kann dann nur in Gott gesucht und gefunden werden 189 . Diese Logik des Trostes beruht also auf Offenbarung. Es ist das, was Asaph, der Verfasser des Ps 73, nicht mit seiner Vernunft ergründen konnte: was die Ursache davon sei, daß die Gottlosen glücklich sind, während die Frommen zu leiden haben. Die Aufklärung darüber brachte ihm nur der Gang in das Heiligtum Gottes, V. 16 f. Die Anwendung dieser Logik ist aber die praxis Davidica, die im ganzen Psalter geübt wird 190 . Diese Praxis appliziert die Heilszusagen Gottes auf das Ich des Beters. Dies entspricht der Forderung der reformatorischen Rechtfertigungslehre, die Heilstaten Gottes so aufzufassen, daß sie „für mich", pro me, geschehen seien 191 . Nur geht es hier nicht - oder nicht ausschließlich - um die iustificatio, sondern um die conservatio des Gläubigen. Hutter bringt nun eine Reihe von Beispielen für diese Praxis. Er formuliert dabei zuerst allgemeine Aussagen über verschiedene Attribute Gottes: seine Vorsehung, seine Güte, seine Weisheit, Gerechtigkeit, Allgegenwart, Allmacht und Barmherzigkeit. Diese stellen den Obersatz des Syllogismus dar. Wenn die Applikation durch den Angefochtenen vollzogen ist - dies wäre der von Hutter nicht eigens formulierte Untersatz - , dann kann der tröstende Schlußsatz formuliert werden. Dies sieht etwa so aus: „Allein Gott ist es, der den Frommen Anfechtungen schickt, und ohne dessen Willen nicht einmal ein H a a r von unserem Haupt, ja nicht einmal ein Sperling auf die Erde fallen kann. Und dieser Gott ist im höchsten Maße gut. Also läßt er es nicht zu, daß ich über meine Kraft hinaus angefochten werde, sondern wird mit der Versuchung auch einen guten Ausgang geben. Derselbe Gott ist im höchsten Maße weise. Also weiß er selbst, was meinem Heil dienen kann. Derselbe ist unser Vater. Also züchtigt er auch mich als einen Sohn nicht aus einem Affekt der Feindseligkeit, sondern väterlicher Liebe, auf daß ich nicht zusammen mit dem Gottlosen verdammt werde. Endlich ist derselbe Gott in höchstem Sinne barmherzig. Also schaut er auch mich mit den Augen seiner Barmherzigkeit an und wird dem Gerechten auch nicht auf ewig Anfechtung geben. Und indem er so folgerichtig durch die sonstigen einzelnen und allgemeinen Eigenschaften Gottes voranschreitet, kann der fromme Geist sich in allen Widrigkeiten aufrichten und stützen . . ," 192
189
Hutter, Loci, 944. Hutter, Loci, 943b. Vgl. Gerhardts Nachdichtung von Ps 73, s.u. S. 94 ff. 191 Klassisch formuliert von Luther in den Thesen 17-20; 24 f ü r die Promotionsdisputation von Hieronymus Weller und Nikolaus Medier über Rom 3,28, WA 39/1, 45 f.; bei HIRSCH, 167 (122). 1,2 „Solus DE US est, qui piis afflictiones immittit & sine cujus voluntate ne capillus quidem ln
Die Lehre vom Leiden und vom Trost
69
Die Eigenschaften Gottes also, die in dem epikureischen Dilemma gegeneinandergestellt werden, bilden hier eine Symphonie, weil sie in eine praktisch zu vollziehende Logik aufgenommen werden, die Gewißheit von einer eschatologischen Erlösung gibt. Das Ganze stellt dann ein Selbstgespräch der angefochtenen Seele dar, die mit sich zu Rate geht, wo sie Trost und Hilfe finden kann und sich dazu entschließt, sich an G o t t zu wenden 1 9 3 . So kann resümiert werden: H u t t e r gibt in dem Locus von Leid und T r o s t des Menschen, vor allem aber des Christen, eine Diagnose und eine darauf aufbauende Therapie des Leids, die wiederum auf den Komplex aufbaut, der durch die Loci , D e Providentia' und , D e praedestinatione' gebildet wird. D e r Christ findet Trost in dem Bewußtsein, d a ß alles, auch das Leid, dazu dient, d a ß er das Heil erlangt, zu dem er erwählt ist. Das Mittel, von dem er selbst dabei als Glied dieses teleologischen Zusammenhangs Gebrauch machen kann, ist das Bittgebet, in dem er Gottes Wirken f ü r sich in Anspruch nimmt.
4.3. Trost und Selbsthilfe Nun bleibt aber noch die Frage zu klären, ob denn das Verhalten des Christen gegenüber dem Leid ausschließlich von diesem Trost bestimmt ist. Zwar ist klargestellt, d a ß der Christ nicht sich selbst Leid auferlegen soll - diese römisch-katholische Lehre wird verworfen. Aber wenn Leid auf ihn zukommt, soll er ihm dann nicht ausweichen oder etwas dagegen unternehmen? Soll er dann nur im Gebet die Hilfe eines anderen, nämlich Gottes, erflehen? Im Unterschied zu der gerafften Behandlung im ,Compendium', wo er nach der Trostlehre gleich zu dem Locus über das Gebet übergeht, bringt H u t t e r in den ,Loci' noch einige Anhangteile: ,De Foederibus Christianorum' 1 9 4 , , D e Bello Christianorum' 1 9 5 und , D e Fuga, an Christianis licit a ' 1 % und geht dort auf die Frage nach der Selbsthilfe ein. de capite nostra, imo nec passerculus in terram cadere potest. Atqui hie ipse D E U S summe bonus est: Ergo non permittet supra vires me affligi, sed dabit cum tentatione salutarem exitum. Idem ille D E U S summe sapiens est: Ergo ipse novit, quid ex salute mea esse poßit: Ipse pater noster est: Ergo non hostili, sed paterno amore ac affectu, me quoque ut filium castigat, ne cum impio condemner. Tandem idem ille D E U S summe misericors est: Ergo me quoque oculis misericordiae suae respiciet, neque dabit in aeternum afflictionem justo. Et sie consequenter per reliqua attribute D E I singula & universa progrediendo, mens pia in quibusvis adversitatibus se erigere & sustentare potest . . . " , Hutter, Loci, 945a. 1,3 Hutter, Loci, 9 4 3 b - 9 4 7 . m Hutter, Loci, 9 4 8 - 9 6 0 . № Hutter, Loci, 960 f. 1% Hutter, Loci, 9 6 1 - 9 6 3 .
70
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
H u t t e r erklärt zu dieser Frage ausdrücklich, d a ß Christen durchaus grundsätzlich Mittel anwenden dürfen und sollen, womit sie Leid vermeiden, aufheben o d e r jedenfalls lindern können 1 9 7 . H u t t e r greift hier wieder auf seine Providenzlehre zurück, u n d zwar in ähnlicher Weise, wie er es d o r t in seinem Abschnitt über den usus dieser Lehre gemacht hat 1 9 8 . G o t t ist zwar die Erstursache aller Ereignisse, auch des Leids. Aber damit ist nicht die Fähigkeit des Menschen ausgeschlossen, selber frei zu wirken. E r soll auch verantwortlich von ihr G e b r a u c h machen. Selbst wenn die Pest und dergleichen eine Geißel Gottes sind, um uns zu bestrafen, befiehlt G o t t doch zugleich, ihr zu entfliehen 1 9 9 . Allerdings m u ß genau geprüft werden, welche Mittel zum Einsatz gegen das Leid erlaubt sind. So geht H u t t e r in , D e foederibus' ausführlich auf die ihn - wie er selber sagt - sehr in Verlegenheit bringende Frage ein, ob in der gegebenen politischen Situation ein Verteidigungsbündnis der Lutheraner mit den Calvinisten gegen die päpstliche Religionspartei erlaubt sei. H u t t e r bejaht diese Frage schließlich, unter der Bedingung, d a ß es sich n u r um ein Bündnis „in civilibus", nicht „in religionis negocio" handeln dürfe 2 0 0 . W a s d a n n den Krieg selbst angeht, verlangt er, auf der Linie von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, d a ß es sich um einen „gerechten Krieg" handeln müsse. Bei d e r Flucht vor ansteckenden Krankheiten u n d religiösen Verfolgungen schließlich ist es nötig, die V e r a n t w o r t u n g zu berücksichtigen, die man vor O r t anderen gegenüber hat. Alle A n w e n d u n g solcher Mittel z u r Selbsthilfe m u ß aber nun eingebettet sein in das Gebet. Insofern Leiden eine Strafe Gottes f ü r unsere Sünden darstellt, ist Buße zu tun, auch wenn man sich gegen dieses Leiden wehrt. G o t t ist stets um H i l f e anzurufen, und wenn man glücklich das Übel abgewandt hat, soll man ihm d a f ü r danken 2 0 1 . Die Selbsthilfe des Christen ist also keine Alternative zum Gebet, und zwar auch nicht zum Bittgebet. Es mag Situationen geben, in denen alle Möglichkeiten, sich selbst zu helfen, verschlossen sind, so d a ß nur das Bittgebet bleibt. D o c h gilt nicht umgekehrt, d a ß d a n n auf das Gebet verzichtet werden kann, wenn man sich selber noch zu helfen weiß. So wie G o t t als die Erstursache allen Geschehens auch in d e r Selbsthilfe des Menschen derjenige ist, d e r die K r a f t und die Ausrichtung zum G u t e n hin gibt, so soll sich der Mensch auch dessen bewußt sein und im Gebet in Beziehung zu diesem G o t t treten. W a s das heißt, wird in d e m nachfolgenden, dem G e b e t gewidmeten Locus noch weiter ausgeführt.
1,7
Hutter, Loci, 948b. S. o. S. 48 ff. m Hutter, Loci, 962b, vgl. Luthers klassische Abhandlung ,Ob man vor dem Sterben fliehen möge' (1527), WA 23, 338-379. 200 Siehe insbes. Hutter, Loci, 949a; 959a. 201 Hutter, Loci, 963a; 948a. 198
Die Lehre vom Gebet
71
5. Die Lehre vom Gebet In beiden Werken, im ,Compendium' und in den ,Loci' wie auch bei Melanchthon folgt auf die Lehre von Leid und Trost diejenige von der Anrufung Gottes 202 . Denn dies ist, wie Hutter sagt, eben der beste Trost, den man in Anfechtungen haben kann 203 . Er unterscheidet dabei unter dem Begriff invocatio mehrere Formen, im wesentlichen das Bittgebet und das Dankgebet 2 0 4 . In seinen Ausführungen geht es vor allem um jenes. Gleich zu Beginn, wo es um die Frage geht, ob überhaupt zu beten sei, zieht Hutter wieder die Verbindungslinie zu seiner Vorsehungslehre. Denn vom Standpunkt der Epikureer wie von dem der Sakramentierer und der Calvinisten aus, welcher im Grunde „stoisch" ist, wäre ein Bittgebet überflüssig205. Gott würde sich entweder nicht um das Bittgesuch kümmern und alles weiter dem Zufall überlassen, oder er ließe sich nicht erweichen und das Fatum ginge seinen Gang. Dadurch aber würde entweder alle Frömmigkeit ausgerottet oder jedenfalls das Gebet jeglicher Kraft, unser Heil zu befördern und zu erhalten, beraubt. Der von Hutter vertretene Providenz-Begriff mit seiner eigentümlichen Auffassung von Kausalität ist aber gerade so angelegt, daß der Mensch zu Gott nicht lediglich im Verhältnis einer Wirkung zu einer - nämlich der ersten - Ursache stünde, sondern daß er vor allem Gott im Gebet gegenübertreten kann. Dies zeigt sich auch bei der Widerlegung der folgenden Einwände, die vorbringen, weil Gott allwissend sei, brauche ihm gar nicht erst durch das Gebet mitgeteilt werden, wessen wir bedürfen, und weil er gütig sei, schenke er auch, ohne gebeten zu werden. Hutter kontert darauf, gerade weil Gott alles weiß, gerade weil er so gütig ist, soll er angerufen werden. Diese im Begriff der Vorsehung Gottes implizierten Eigenschaften Gottes müssen also so aufgefaßt werden, daß die praktische Folgerung, die der Mensch aus ihnen ziehen soll, das Bittgebet ist 206 . Obgleich Hutter in diesem Locus wie auch sonst, dem Schema der melanchthonischen Methodik folgend 207 , seinen Gegenstand nach seinen verschiedenen causae behandelt, zeichnet sich hier doch ab, daß zumindest dieser Gegenstand, das Gebet - damit aber doch das Verhältnis zu Gott 202 Hutter, Comp., Locus X X Y ,De invocatione' (116-119), Loci, Locus X X X I ,De cultu et invocatione Dei' (963-994), Melanchthon, Loci von 1559, Locus XXIII ,De invocatione Dei seu de precatione', ebenso in der deutschen Fassung des , Examen'. 203 Hutter, Loci, 963a. 204 Hutter, Loci, 964 f. 205 Hutter, Loci, 965. 206 Hutter, Loci, 965b, vgl. im Kleinen Katechismus Martin Luthers die Antworten zu den Fragen bei den ersten vier Bitten des Vaterunsers, BSLK 512f., z.B. bei der dritten Bitte: „Gottes guter, gnädiger Wille geschieht wohl ohn unser Gebet, aber wir bitten in diesem Gebet, daß er auch bei uns geschehe." BSLK 513,20-23, dt. Text. 207 S. o. S. 29, Anm. 4.
72
Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
schlechthin, das sich ja im Gebet verdichtet - nicht hinlänglich durch die Angaben der causae erschlossen werden kann. So findet sich in Hutters Ausführungen auch nicht die Behauptung, das Gebet des Menschen sei eine Ursache f ü r Gottes Handeln. D e r Begriff, der dabei an die Stelle des Begriffs causa tritt, ist der Begriff promissio. Denn d a ß uns G o t t etwas schenkt, erklärt H u t t e r , hängt nicht von unseren Bitten, geschweige denn von der Würdigkeit unserer Bitten etwa als einer causa dispositiva - ab, sondern von Gottes unverrückbarer Verheißung allein. Vielmehr nennt er gerade die Verheißung, und zwar ihre Gewißheit und die Unfehlbarkeit, d a ß sie erhört wird, eine Ursache, die uns zum Gebet antreibt. Dies wird durch Christus verbürgt, welcher der Mittler des Gebetes an den Vater ist: G o t t will durch unsere N ö t e berührt werden. Er macht es sich zu einer Notwendigkeit, f ü r uns Sorge zu tragen 2 0 8 . H u t t e r verläßt hier den Bereich einer Theologie, f ü r die das causa-Schema charakteristisch ist, und weist zumindest hinüber in eine andere Art von Theologie, f ü r die wesentlich ist, d a ß der Mensch vor Gott, coram Deo, steht und ihm gegenübertritt. D a s Verhältnis zwischen G o t t und dem Menschen ist ein personales; es findet ein Zwiegespräch zwischen beiden statt, in welchem beide durch Verheißung und Glaube, durch Gebet und Erfüllung miteinander kommunizieren 2 0 9 . Diese Ausrichtung des Gebets auf Gottes Verheißung macht es auch, d a ß Hutters polemischer Gegner sich diesmal anderswo befindet als sonst. Ist meistens - so auch noch zu Beginn des Gebetstraktates - der Calvinismus der Gegner wegen seiner angeblich stoischen Kausalitätslehre, so wendet sich H u t t e r nun vor allem wider die in Verzweiflung treibenden Einwände der Jesuiten gegen die Gewißheit von Gottes Verheißungen. Wir befinden uns hier an einer Stelle der reformatorischen Grundeinsicht: D a s Gebet beruht auf der Verheißung des Evangeliums, nicht des Gesetzes. D a r u m ist die Erfüllung dieser Verheißung nicht abhängig von Verdiensten, sondern vom Glauben allein. Wer glaubt, ist sich damit auch schon der Erfüllung des Gebets gewiß 2 1 0 . Das Problem, dem sich H u t t e r dann freilich sofort stellen muß, ist das der nicht erhörten Gebete. H u t t e r schränkt auch zunächst einmal die Geltung von Gottes Verheißung, alles, was der Christ erbittet, zu geben, ein. Er sagt, die Verheißungen J o h 14,14 und 16,23, gelten unumschränkt nur von geistlichen Gütern 2 1 1 , wie etwa dem Heiligen Geist selbst, der Vergebung der Sünden, der Beharrlichkeit im Glauben und der Geduld. Diese geistlichen Güter umfassen also alles, was die ewige Freude der Seligen selbst ausmacht, und alles, was unabkömmlich ist f ü r den Weg, diese zu erlangen. 208
Hutter, Loci, 965 f.; vgl. die Definition von Vorsehung als paterna cura, Loci, 218a.
209
V g l . d a z u G E R H A R D EBELING, L u t h e r ,
210
Hutter, Loci, 966. Hutter, Compendium X X V , 5 (117).
211
220-228.
Die Lehre vom Gebet
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Alles andere fällt demnach unter den Begriff „corporalia", mithin auch geistige und seelische Güter. Diese können wir nur erbitten unter der Bedingung, daß Gott in dem jeweiligen Fall sie auch wirklich geben will: „Herr, wenn du es willst . . . " , Mt 8,2; 26,39. Hutter nennt dies die Ausnahme des Kreuzes 212 . Er betont dabei, daß auch in dem Fall Gott das Gebet erhört, in dem er nicht das Erbetene gibt. Gibt er es nicht, dann deswegen, weil es nicht unserem Heil dienen würde. Er geht aber dennoch auf jedes Gebet in Jesu Namen ein und erhört es. Gott gibt, wenn er das Erbetene verweigert, etwas, das mindestens mit diesem gleichwertig ist. Das Kreuz, das Gott schickt oder über dem Christen läßt, wird dann also auch eine Art der Gebetserhörung sein. Ausschlaggebend ist bei allen Dingen ihre teleologische Ausrichtung auf unser Heil und Gottes Ehre. Die corporalia, deren Mangel das „Kreuz" darstellt, sind dabei diejenigen Dinge, die als Mittel, dieses Ziel zu erreichen, zur freien Disposition Gottes stehen und deren er sich dazu nach der Weisheit seines Ratschlusses bedient. So sagt Hutter schließlich, daß das Hauptziel aller von Gott geschickter Anfechtungen ist, daß unser Geist, getrieben durch den Heiligen Geist, durch Gebete und Seufzer, in Glaube, H o f f n u n g und Liebe mit Christus und durch diesen mit dem Vater verbunden wird, so daß wir eins mit Gott werden, Joh 17,21. Das Telos, auf das hin Gottes gesamte Providenz wirkt, ist die Einung des Menschen mit ihm, das, was in der späteren Theologie auch die unio mystica genannt wurde 213 . Die Freude dieses ewigen Heils kann und soll darum jetzt schon im Gebet zum Ausdruck kommen und unser Gemüt aufhellen. Zu diesem Zweck ist auch die Musik berufen, auch Orgelmusik und mehrstimmiger Gesang, was Hutter gegen die Düsternis der Calvinisten, wie er sagt, verteidigt. Die Musik vertreibt den Geist der Melancholie, welcher der Vater aller Traurigkeit ist. Und schließlich stellt der himmlische Gesang der Engel, Jes 6, die ewige und himmlische Harmonie dar, zu welcher wir uns alle sehnen und wovon der irdische Gesang ein Vorspiel darstellt 214 . Damit schließt sich der Bogen, der uns durch die theoretische Behandlung des Problems von Gott und dem Leid bei Leonhard Hutter, dem führenden Theologen der frühen Wittenberger lutherischen Orthodoxie, geführt hat. Der abgeschrittene Gedankenkreis kann als Modell dessen betrachtet werden, was in der gelehrten und lehrhaften lutherischen Theologie zur Zeit Paul Gerhardts zum Problemkomplex um Gott und das Leid
212
Hutter, Loci, 966a; 988 f. (qu.8: D e exauditione); 962a; 973b. Hutter, Loci, 969b (Sextum). Vgl. die eingehendere Behandlung dieses Themas unten S. 161 ff. 214 Hutter, Loci, 9 7 6 b - 9 7 7 b . Zur Melancholie-Seelsorge s.u. S. 130, Anm. 123. Zu dem Gedanken, daß Musik Melancholie vertreibe, bei Luther s. JOHANN ANSELM STEIGER, Melancholie, 20. 213
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
gesagt wurde und als theoretische theologische Grundlage seiner Dichtung betrachtet werden kann. Das Problem wurde zuerst in der Gestalt des ,epikureischen' Dilemmas als Haupteinwand gegen die Providenzlehre eingeführt. Seine Lösung geschieht durch die Ausrichtung auf ein eschatologisches Telos. In der weiteren Fortführung der Providenzlehre wurde konkretisiert, wie Gottes Allmacht in ihrem Wirken angesichts des Übels des Bösen und des Leidens - aufzufassen ist. In dem Zusammenhang der Prädestinationslehre wurde dann erläutert, wie die Güte Gottes - wem sie gilt und unter welchen Bedingungen - verstanden werden muß. Dabei erwies sich zugleich, daß dieses eschatologische Ziel - und damit die Lösung des Problems - sich nur praktisch begreifen läßt. Was das heißt, zeigen die Ausführungen über den Trost und das Gebet: diese theologische Praxis besteht im Bittgebet des angefochtenen Gläubigen. Im Bittgebet preist er Gott in seinen Eigenschaften der Allmacht und der Güte, fleht so Gott in die Tiefe seines Leids hinein und nimmt darin zugleich die himmlische Freude vorweg, auf die alles hinzielt, auch das Leid.
6. Luther
über Gott und das
Übel
Der Zugriff auf das Problem ,Gott und das Übel' ist also systembildend von seinem Einsatz innerhalb der Vorsehungslehre bestimmt. Genau gegen diese Schlüsselstellung der Vorsehungslehre in der altlutherischen Orthodoxie - und zwar in Blick auf ihre Auswirkung auf die Kirchenlieddichtung - wurden in der Forschung Einwände erhoben. Es wurde festgestellt, „daß die Frage des Gottvertrauens und Vorsehungsglaubens nach und nach die Stelle einzunehmen beginnt, die in einem Gesangbuch von wirklich reformatorischer Prägung dem Artikel von der Rechtfertigung zugekommen wäre." 2 1 5 Die zeitgenössische Dogmatik habe einen Begriff von Vorsehung zugrundegelegt, der, entgegen Luther und dem frühen Melanchthon, von der Rechtfertigung des Gottlosen abgekoppelt sei. Ausgehend vom späten Melanchthon habe man „die Gottesidee als Resultat einer . . . erbaulich teleologischen Weltbetrachtung" 216 eingeführt. Von dieser dogmatischen Weichenstellung sei auch das Kirchenlied abhängig. Ausgehend von dieser radikalen Kritik soll die hier bei Hutter dargestellte Art der Problembehandlung mit derjenigen Martin Luthers verglichen werden. Was hat Luther zu dem Problem ,Gott und das Übel' zu sagen, und wie läßt sich von dort her seine Theologie charakterisieren? Leonhard Hutter, der „wiedergeschenkte Luther", soll dem Reformator 215 INGEBORG RÖBBELEN, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 341, bei Anm. 12. 2,6
TROELTSCH, V e r n u n f t , 183, zit. b e i RÖBBELEN, 4 0 1 , bei A n m . 125, d i e , 3 9 9 - 4 0 3 , d i e s e
Kritik formuliert.
Luther über Gott und das Übel
75
selbst gegenübergestellt werden, den er unter allen Theologen an erster Stelle aufführt und nach dem er die Religion benennt, die er selbst vertritt 2 1 7 . In welchem Verhältnis zueinander stehen die offenkundig stark durch den Locus , D e Providentia' strukturierte Theologie Hutters und die um das T h e m a R e c h t f e r t i g u n g ' kreisende Lehre Luthers? Luthers Überlegungen, die als Beiträge zum „epikureischen Trilemma" angesehen werden können, thematisieren zentral den Begriff der Verständlichkeit, den H a n s Jonas als vierten Begriff neben dem der Allmacht und Allgüte Gottes und dem des Leids genannt hatte, der hingegen in der auf möglichst große Vernünftigkeit angelegten, gleichwohl keineswegs praxislosen Theologie der lutherischen Orthodoxie nur an ihrer eigenen Grenze problematisiert wurde. Durch den Blick auf Luther können wir eine Vertiefung der bisher dargestellten Zusammenhänge gewinnen und zugleich einen Gesichtspunkt f ü r die Beurteilung der geistlichen Dichtung Paul Gerhardts als praktischer Umsetzung oder Komplementierung dieses Entwurfs der lutherischen Orthodoxie.
6.1. Die zwei Formen von Theologie nach Luther Ich wähle hierzu bestimmte Gedankengänge vor allem aus Luthers Schrift , D e servo arbitrio' aus, die f ü r diesen Zweck einschlägig ist 218 . Ausgangspunkt des ersten Gedankenganges ist der Streitfall, ob die Aussage Ex 9,12, d a ß G o t t das H e r z des P h a r a o verstockt habe, im wörtlichen Sinne genommen werden müsse 2 1 9 . Erasmus von Rotterdam bestritt dies mit der Berufung auf Gen 1,31: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut", woraus hervorginge, d a ß alles, was G o t t tut, gut ist, weshalb er also nicht verstocken könne 2 2 0 . Worum es hier geht, ist Gottes Güte im Verhältnis zu seinem Wirken angesichts des schuldhaften Übels. Erasmus zufolge wirkt G o t t nicht auf den P h a r a o ein, sondern erträgt vielmehr aus Sanftmut dessen Sünde, und dies wird in einem tropologischen Sinne „verstocken" genannt 2 2 1 . Luther bestreitet dies und weist zum einen darauf hin, d a ß die Aussage, die Werke Gottes seien gut, in Gen 1,31 aus einer bestimmten Perspektive getroffen worden ist, nämlich aus der Gottes. Diese Perspektive solle der 217
Hutter, Comp., Benevolo Lectori S., XI. Vgl. die Textauswahl bei SPARN, Leiden - Erfahrung und Denken, 216-246. Der Text ist ediert in: WA 18, 600-787; BoA 3, 94-293. Die Übersetzung hält sich in der Regel an diejenige in den Ausgew. Werken, hg. v. Borcherdt u. Merz, Ergänzungsreihe, Bd. 1, ,Daß der freie Wille nichts sei'. 219 Luther, WA 18, 699 ff. 220 Erasmus, De libero arbitrio diatribe seu collatio, III a 3 (Ausgew. Schriften, hg. v. Welzig, Bd. 4,94). 221 Erasmus, III a 2 (4,93). 218
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
Mensch im Glauben einfach übernehmen, das genüge. Luther setzt dann fort, daß er aber zusätzlich, also ohne daß dies nötig sei, auch noch aus einer anderen Perspektive seine Position verteidigen wolle, nämlich aus der Perspektive der Vernunft: „Aber der Vernunft, das heißt der menschlichen Dummheit zu Gefallen, mag man faseln und dummes Zeug reden und es durch Stammeln versuchen, ob wir sie etwa beeinflussen können." 2 2 2 . Worauf Luther mit diesen Formulierungen anspielt, ist die „Narrenrede" des Apostels Paulus in II Kor 11,1-12,11, die wiederum auf der Charakterisierung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Weisheit, I Kor 1,18-25 beruht: jene ist für diese und diese ist für jene Torheit. Obgleich Paulus in seiner Narrenrede und Luther in ,De servo arbitrio' von verschiedenen Gegenständen handeln, ist ihnen doch dieses gemeinsam: sie gehen auf die Maßstäbe ihrer Gegner ein, obgleich sie diese eigentlich ablehnen, und zeigen dadurch zum einen, daß sie ihre Position - bis zu einem gewissen Grad - auch angesichts dieser Maßstäbe verteidigen können, dann aber, daß die Anwendung dieser Maßstäbe mitsamt der gegnerischen Position zum Scheitern führt. Luther führt diese Narrenrede nämlich aus, indem er nichts anderes bringt als die Zwei-Ursachen-Lehre 2 2 3 , die später auch Hutter vertritt und die auch durchaus traditionell ist 224 . Für diese Lehre benutzt er dabei solche Beispiele wie das von Gott als dem Reiter auf einem hinkenden Pferd oder als einem Zimmermann, der mit einem schartigen Beil arbeitet 225 . Gott wirkt in dem Sündigen, er gibt der sündigen Handlung die Kraft, ihr Sündig-Sein kommt aber nicht von ihm. Dadurch wird sowohl Gottes Allwirksamkeit als auch seiner Güte nach den Maßstäben der menschlichen Vernunft Rechnung getragen. Aber dennoch wird das Problem nicht gelöst, sondern verschoben. Es bleiben noch immer Fragen wie die, warum Gott nicht auch den bösen Willen wandelt, den er doch bewegt; warum er Adam hat fallen lassen; warum er alle Menschen aus Adams sündigem Samen geschaffen hat usw. 226 . Bei all diesen Fragen muß man vor Gottes unerforschlichem Geheimnis stehen bleiben. Das ist aber das, worauf Luther eigentlich hinauswill: daß die Vernunft eingestehen muß, das Problem nicht lösen zu können. Denn hinter der Vernunft steht das Herz des sündigen Menschen, das sich ihrer bedient und auf sie baut, weil sie des Menschen eigenes Erkenntniswerkzeug ist. Und dieses H e r z sucht nichts anderes als das Seine und nicht das, was 222
„ . . . tarnen in obsequium Rationis, id est, stultitiae humanae, übet ineptire et stultescere, et balbutiendo tentare, si qua possimus earn mouere.", Luther, zit. nach BoA 3, 2 0 3 , 3 7 - 3 9 / WA 18, 7 0 9 / M ü . Bd. 1, 140. 223 Luther, WA 18, 709-712. 224 So vertritt sie z.B. auch Thomas von Aquin, S.Th. I, 49, a.l, auch Erasmus, III a 10, 104-106, und später Leibniz, Theodizee 1,27 (Philosoph. Schriften, Bd.II/1, 248-250). 225 Luther, WA 18, 709. 226 Luther, WA 18, 712.
Luther über Gott und das Übel
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Gottes ist. Darum wäre es der Vernunft am liebsten, wenn Gott alle Menschen selig machen würde. Das ist der Grund, weshalb sie sich Gott als gütig denkt und weshalb sie ihn zu entschuldigen sucht, also Apologie, Theodizee treibt. Aber indem aufgewiesen wird, daß der Vernunft dies nicht gelingt, indem sie an ihre Grenze geführt wird, zeichnet sich das Scheitern dieses Trachtens des sündigen Menschen ab 227 . Dieser Redeweise der Vernunft ist nun diejenige des Glaubens gegenübergestellt, die Gottes Perspektive übernimmt. Diese soll nun charakterisiert werden. Der Glaube nimmt das an, was vor Gott, coram Deo, gilt und steht dadurch im Gegensatz zur Vernunft des fleischlichen Menschen. Er glaubt das, was dieser als absurdum erscheint 228 . Der Glaube richtet sich auf Tatsachen, „die man nicht sieht. Damit aber der Glaube Raum habe, muß alles, was geglaubt wird, verborgen sein. Es wird aber nicht tiefer verborgen als unter dem Gegensatz des Gegenstandes, der Wahrnehmung und Erfahrung." 2 2 9 Glaube richtet sich also auf Absurdes i. S. von Vernunftwidriges, und das heißt: auf etwas, das unter dem Gegensatz seiner selbst verborgen ist. Unter den Beispielen, die Luther dazu nennt, befindet sich eben auch dieses, daß Gott verstockt und daß auch von diesem Handeln Gottes gilt, daß es sehr gut ist. Das gleiche gilt von schweren Heimsuchungen und Übeln, von der Hölle und schließlich vom Evangelium und von Christus, der das Verfluchteste ist nach dem Maßstab der Welt, aber das Beste in den Augen Gottes 230 . Der Höhepunkt aber wird erreicht in der Verborgenheit Gottes selbst 231 . Gott ist der Vernunft verborgen, weil sie nicht zu erkennen vermag, warum er die einen Menschen erwählt und die anderen verwirft, warum er also, wie oben schon gesagt, den Fall Adams zuläßt, aus ihm sündige Nachkommen schafft und nur einen Teil von ihnen errettet. Ein solcher Gott ist, nach dem Maßstab der Vernunft beurteilt, zwar allmächtig und allwirksam, aber nicht gütig. Dieser Deus absconditus verbirgt jedoch Gott, der tatsächlich gütig ist. Dies ist aber Gott, wie allein der Glaube ihn erkennt. Allein der Glaube nimmt Gott an, wie er sich offenbart, als den Deus revelatus. Die Unterscheidung von Dens absconditus und Deus revelatus muß also verstanden werden von der Unterscheidung her, ob etwas nach der Vernunft - und hinter ihr von dem das Seine suchenden menschlichen Herzen - beurteilt wird oder von Gott selber und von dem Glauben, in
ш
Luther, WA 18, 730 f., sowie WA 18, 708. Luther, WA 18, 707. 229 „ . . . fides est rerum non apparentium. Vt ergo fidei locus sit, opus est ut omnia, quae creduntur, abscondantur, Non autem remotius absconduntur, quam sub contrario obiectu, sensu, experientia.", Luther, zit. nach BoA 3, 124,16-19/WA 18, 6 3 3 / M ü . Bd. 1, 44. 230 Luther, WA 18, 708. 231 Zu dem Folgenden Luther, WA 18, 684-686. 228
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welchem der Mensch dem sich offenbarenden Gott folgt. Der Deus revelatus ist demnach unter dem Deus absconditus verborgen - für die Vernunft, aber der Glaube überspringt dieses Verborgen-Sein. Dies gelingt dem Glauben gerade darum, weil er demütig ist, denn der Demütigen erbarmt sich Gott. Daß die Redeweise der Vernunft als Narrenrede ad absurdum geführt wird, gehört zu der Demütigung des Menschen, und gedemütigt gibt der Mensch Gott die Ehre und preist ihn als gerecht und weise, auch wenn er es mit seinen eigenen Fähigkeiten - nämlich der Vernunft - nicht zu erkennen vermag 232 . In diesem Lobpreis Gottes und seiner Eigenschaften geschieht aber die Rechtfertigung des Sünders: „Denn diese Gerechtigkeit ist nichts andres als die Anrufung des göttlichen Namens; der Name Gottes aber ist Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Kraft, Weisheit. Und sie ist Anklage des eignen Namens . . . Die Anrufung des göttlichen Namens aber, wenn sie im Herzen ist und in Wahrheit von Herzen geschieht, zeigt, daß das Herz und der Name des Herrn miteinander eines sind und aneinander haften. Drum ists unmöglich, daß das Herz nicht teilhabe an den gleichen Tugenden, deren der Name des Herrn mächtig ist. Das Herz und der Name des Herrn haften aber aneinander durch den Glauben." 233 Dies ist demnach die Charakteristik der anderen, der eigentlichen Redeweise der Theologie, die Luther der Redeweise nach dem Maßstab der Vernunft gegenüberstellt: Sie ist Lobpreis Gottes, also Nennung und Anrufung seiner Eigenschaften in einer Situation, in welcher diese Eigenschaften unter dem Gegenteil ihrer selbst verborgen sind. In diesem Lobpreis geschieht die Rettung des Menschen aus dieser Situation. Von dieser Art von Theologie gilt: „Durch Leben, ja durch Sterben und durchs Verdammtwerden wird ein Theologe, nicht durch Denken, Lesen oder Spekulie-
232
Luther, WA 18, 632. „Haec enim [iusticia] est nihil aliud quam invocatio nominis divini. Nomen autem dei est misericordia, Veritas, iusticia, virtus, sapientia, suique nominis accusatio . . . Invocatio autem nominis divini, si est in corde et ex corde vere facta, ostendit, quod cor et nomen domini sint unum simul et sibi cohaerentia. Ideo impossibile est, ut cor non participet eiusdem virtutibus, quibus pollet nomen domini. Cohaerent autem cor et nomen domini per fidem.", Luther, Kleiner Galater-Kommentar (1519), zu Gal 2,16, wobei das Bekenntnis des Zöllners, Lk 18,13 f., ausgelegt wird: WA 2, 490,13-15.17-20, Übersetzung nach HIRSCH, Hilfsbuch, 164 (118). 234 „Vivendo, immo moriendo et damnando fit theologus, non intelligendo, legendo aut speculando.", Luther, WA 5, 161,28 f., Operationes in Psalmos, 1521. Zu Luthers Auffassung von zwei Arten von Theologie wäre auch noch die Heidelberger Disputation zu betrachten, WA 1, 353-365, mit ihrer Unterscheidung von theologia crucis und theologia gloriae. 233
Luther über Gott und das Übel
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6.2. Luther und Hutter im Vergleich Vergleichen wir nun die Theologie Leonhard Hutters mit diesen beiden von Luther unterschiedenen Arten von Theologie. Hutters Theologie bemüht sich, in einem hohen Grade vernünftig zu sein. Dieser Anspruch geht schon aus seinen Prolegomena hervor 235 , wo er als Bestandteil seiner Methode die Anwendung des Syllogismus nennt, wie er ihn dann auch durchgehend praktiziert. Dies führt ihn auch zu einer Zwei-Ursachen-Lehre, um Gott vor dem Übel zu entschuldigen. Er gelangt sogar dazu, die biblische Redeweise von einem Verstocken Gottes in ähnlicher Weise zu entschärfen wie Erasmus 236 . An manchen Stellen gerät er jedoch an Grenzen der vernünftigen Erklärbarkeit, in einigen Fällen macht er dies sogar deutlich. So, wenn er davon spricht, daß Gottes gubernatio auch von der Ordnung seiner Weisheit geleitet sein kann, die für uns unerforschlich ist 237 . Oder auch, wenn er zu der Frage, warum Gott nicht nach dem Fall Adams einen neuen, unbefleckten Menschen geschaffen habe, wiederum auf die Unerforschlichkeit von Gottes Willen verweist 238 . Aber auch hier wie in dieser ganzen Reihe von Fragen bezüglich des Falls Adams 2 3 9 versucht Hutter, dennoch Antworten zu geben, getrieben von dem Eifer, die Lehre der Calvinisten zu widerlegen, daß Gott den Fall Adams in einem absoluten, d. h. unbedingten Dekret von vornherein schon beschlossen habe. Eine andere Stelle, an welcher die Vernunft an ihre Grenzen kommt, ist die vernünftige Beweisbarkeit der Vorsehung Gottes 240 . Die Vorsehung Gottes ist nur unter Annahme eines Telos zu beweisen, auf welches alles zuläuft und dessen Gutheit alles Übel überwiegt, das seinetwegen geschieht. Dieses Telos wird aber nur durch Offenbarung erkannt. Damit erweist sich aber, daß die Providenzlehre an der Prädestinationslehre hängt. In der Prädestinationslehre läuft nun alles auf den Glauben zu, durch den allein dieses Telos erreicht wird. Hier wird wiederum eine Grenze der Vernünftigkeit erreicht. Denn Hutter weigert sich standhaft - gegen die Calvinisten - , in das Prädestinationsdekret ein Element aufzunehmen, das den Glauben selbst kausiert. Andererseits aber erklärt er - mit Luther und der Konkordienformel, gegen den späten Melanchthon - , daß der Wille des post-adamitischen Menschen in bezug auf die conversio zum Heil unfrei und der 235
Hutter, Loci, 10b, s.o. S. 28. Hutter, Loci, 236b-237b. 237 Hutter, Loci, 220b, s. o. S. 44, bei Anm. 78. 238 Hutter, Loci, 245a (Octavo). Ähnliches bei Melanchthon, s. ENGELLAND, 423 f.; 515-519. PREUS, Bd. 2, 219 f., kommt ebenfalls zu dem Fazit, daß die altlutherische Orthodoxie ihren Anspruch, das Problem zu lösen, nicht einlösen konnte und verweist darauf, daß Luther es auf seine, eben paradoxale Art, angegangen wäre. 2)9 Hutter, Loci, 242a-246a. 240 S. o. S. 44 ff. 236
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Gott und das Leid in theoretischer Betrachtung
Glaube darum von Gott gewirkt sei. Hutter gerät hier in einen Widerspruch 241 . Bei Luthers Nachfolgern ist im Grunde das auseinandergefallen, was er selber in dem schroffen Gegensatz von Deus absconditus und Deus revelatus vereinigt hatte. Die Calvinisten gaben dem Deus absconditus den Vorzug und lehnten es daraufhin ab, überhaupt von einem allgemeinen Heilswillen Gottes zu sprechen 242 . Die Lutheraner hingegen bekräftigten den allgemeinen Heilswillen und ließen den Deus absconditus zurück, insofern sie bestritten, daß Gott unabhängig von dem Unglauben des Menschen seine Verwerfung verfüge. Beide Richtungen strebten, um der Polemik gegeneinander aufzuhelfen, eine Vernünftigkeit ihrer Theologie an, durch welche sie sich der absurditas entzogen, die nach Luther unvermeidlich ist, wenn man das Verhältnis zwischen Gott und dem Übel vernünftig zu ergründen versucht 243 . Eine weitere Einschränkung der Vernünftigkeit besteht bei Hutter in der Fassung des Kausalitätsbegriffes. Zwar sucht er die als vernünftig erscheinende Mitte zwischen der epikureischen Lehre, daß alles Unordnung sei, und einem strengen Kausalitätsbegriff auf, doch der Ordnung der Vernunft voll entsprechend wäre doch genau nur dieser. Dadurch, daß Hutter nun lehrt, daß die Ursache-Wirkung-Kette an beiden Enden locker sei, bereitet er aber den Ubergang auf eine ganz andere Ebene vor, die des Gebets, wo der sündige Mensch imstande ist, den allmächtigen gerechten Gott zu einer Änderung der Verhältnisse zu bewegen. Hutter stellt zwar - und dabei ausdrücklich Luther folgend! - das Bittgebet in einem Syllogismus dar, aber er betont zugleich, daß dieser als Syllogismus practicus nicht so leicht zu vollziehen wie zu durchdenken ist und daß es dazu des Heiligen Geistes bedarf. Mit dieser Logica Spiritus Sancti bringt Hutter aber nun nichts anderes als das, was Luther als die eigentliche, die angemessene Art von Theologie darstellt. Denn die im Obersatz ausgesagten Eigenschaften Gottes sind demjenigen, der diesen Syllogismus vollzieht, also dem Betenden, ja verborgen unter ihrem Gegenteil; befindet er sich doch unter dem Kreuz. Bei
241 Vgl. Hutter, Loci, 800-804, mit der Lehre vom unfreien Willen im Locus ,De libero arbitrio', im Comp., Locus IX (36-43), in den ,Loci' Locus VII, auch im Locus ,De praedestinatione', Loci, 804. S. o. S. 56, bei Anm. 133. Hutter nennt den Glauben eine causa ordinis ratione, nicht eine causa meritoria. Wenn der Glaube aber nicht aufgrund des Erwählungsdekretes von Gott gewirkt ist, muß er doch in gewisser Weise eine causa meritoria sein. FLÜKKINGER, 513, spricht hier von einem „Geheimnis", in welchem die Lutheraner diese Frage zurückließen. Vgl. SÖDERLUND, 75-77; 96, Anm. 32; 97 f. 242 Calvin, Institutio 111,24,15-17. Calvin weicht dabei in ähnlicher Weise die ihm entgegenstehenden Schriftstellen auf wie Erasmus, der späte Melanchthon oder Hutter es bei den Aussagen von Gottes Verstocken tun. 243 Eine Charakteristik der Orthodoxie als rationalem System entwickelt HANS EMIL WEBER, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, I / 1 , 298 ff.
Luther über Gott und das Übel
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Luther handelt es sich in dem zitierten Beispiel um die Rechtfertigung des Sünders, der unter dem Zorn Gottes steht. Bei H u t t e r geht es um die Bewahrung des bereits Gerechtfertigten in der Anfechtung. D o c h in dieser Situation wird nichts anderes wiederholt als die Rechtfertigung. Sie ist es, die bewahrt wird gegen die Angriffe von Teufel, Welt und Fleisch 244 . Hutters Theologie ist also trotz allem keine solche Theologie, die nach Luthers Urteil einfach nur der Befriedigung des menschlichen Fleisches dient. Zwar ist ihr das Trachten nach Vernünftigkeit konstitutiv, und H u t t e r hätte seine logischen Ausführungen nie wie Luther als eine N a r renrede bezeichnet. Die Situation der Anfechtung wird nicht selber in der Struktur dieser Theologie aufgenommen und dargestellt. Aber, obgleich selber theoretisch, ist diese Theologie angelegt auf eine Praxis, die Praxis des Gebets, und zwar des Gebets des Angefochtenen. Das, was f ü r Luther den Kern der Theologie darstellt, wird also abstrahiert, d. h. aus der Darstellung der Loci so weit als möglich herausgezogen, aber nicht einfach abgelegt, sondern auf ein anderes Feld geschoben, zu dem ein - wenn auch sehr weit gespannter - Zusammenhang bleibt. D e r unterschiedliche Charakter dieser beiden theologischen Entwürfe kann auch so beschrieben werden: Für H u t t e r ist der aus den Loci ,De Providentia' und , D e praedestinatione' gebildete Komplex grundlegend f ü r die gesamte Theologie; f ü r Luther gilt: „Der Artikel von der Rechtfertigung ist der Meister und Fürst, H e r r , Lenker und Richter über alle Arten von Lehre" 2 4 5 . Er geht dabei von der konkreten Situation der Rechtfertigung des Sünders coram Deo aus, wie er sie in dem obigen Zitat aus dem Kleinen Galater-Kommentar geschildert hat 2 4 6 . Von daher bestimmt sich auch seine Beurteilung der Vernunft als Werkzeug des sündigen Herzens und sein Umgang mit dem Kausalitätsbegriff in der Lehre vom unfreien Willen, den der späte Melanchthon als stoisch zu bezeichnen nahegelegt hat 2 4 7 . H u t t e r hingegen steht in einer anderen kirchen- und theologiegeschichtlichen Situation als der Reformator. Er bewegt sich im Gebiet der schulmäßigen Loci-Dogmatik, die von Melanchthon begründet worden war, und schon 244 Dabei wird deutlich, daß Bewahrung in der Anfechtung zweierlei bedeuten kann. Der Christ kann vor calamitates bewahrt werden, unter denen die Gottlosen auch zu leiden haben und die auch diesen schon Fragen aufgeworfen haben. Dabei handelt es sich um den Lauf der Zweitursachen, die Ereignisse bringen, die den Menschen gefährden. Teufel, Fleisch und Welt - und mit und hinter ihnen der Zorn Gottes - fallen nicht unter diesen Begriff. Auf diese Zweiheit oder vielmehr Zweistufigkeit der Anfechtung wird bei Paul Gerhardt noch eingegangen werden, s.u. S. 130 ff. 245 „Articulus iustificationis est magister et princeps, dominus, rector et iudex super omnia genera doctrinarum", fortgesetzt: „..., qui conservat et gubernat omnem doctrinam ecclesiasticam et erigit conscientiam nostram coram Deo. Sine hoc articulo mundus est plane mors et tenebrae.", Luther, Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann (1537), WA 3 9 / 1 ,
2 0 5 , 1 - 5 ; bei HIRSCH, 172 244 247
(125).
S.o. S. 78, bei Anm.233. Melanchthon, Brief an Veit Dietrich, CR 3, 383.
82
G o t t u n d das Leid in theoretischer Betrachtung
Melanchthon hatte in der Entwicklung seiner ,Loci' von der Erstausgabe 1521 bis zur letzten Ausgabe 1559 danach gestrebt, immer mehr Loci aufzunehmen. Dazu war aber eine andere Disposition nötig als in den ,Loci' von 1521, die alles, was sie zu sagen hatten, in einer Darlegung der Rechtfertigungslehre einschlossen. Die lutherische Orthodoxie Hutters übernimmt dieses Anliegen möglichst großer Vollständigkeit und damit auch die Disposition des späten Melanchthon 248 : Alle Werke Gottes ad extra, in denen er sich selber darstellt und in denen alles andere umfaßt wird, was ist, sind enthalten in den Loci von der Schöpfung bzw. der sie fortsetzenden Vorsehung und von der Vorherbestimmung. Im Locus ,De Providentia' der Breite nach, denn er umfaßt alle geschaffenen Wesen, im Locus ,De praedestinatione' der Länge nach, weil er Gottes Handeln nach außen in der heilsgeschichtlichen Spannweite von dem Terminus „vor" bis zu dem Terminus „nach", jenseits dieser geschaffenen Welt, darlegt. Dieser Aufriß muß nun vernünftig gegliedert sein, und das heißt: durch die Verwendung des сдшд-Schemas. Zum einen dient dies der Übersichtlichkeit, zum anderen soll in der kontroverstheologischen Debatte gezeigt werden, daß der eigene Entwurf der vernünftige, also der richtige ist. Auch hier, in der Art, Kontroverstheologie zu treiben, befindet sich Hutter in einer anderen Situation als Luther. Die Rechtfertigung erscheint nun innerhalb eines solchen vernünftig geordneten Aufrissen nur als eine Station in dem Ordo salutis des Prädestinationsdekrets. Allerdings ergibt eine genauere Betrachtung, daß sie für den Menschen, der diese globale Theologie vorträgt, die entscheidende Station ist. Nach der Vorsehung und nach der Rechtfertigung entwickelte Theologie schließen sich also in diesen beiden Fassungen von Martin Luther und von Leonhard Hutter nicht völlig aus, ja, sie können auch nicht völlig ohne einander auskommen. Auf dieses Verhältnis zwischen Vorsehung und Rechtfertigung wird bei Paul Gerhardt noch zurückzukommen sein249.
Vgl. die allgemeine Charakteristik lutherisch-orthodoxer Theologie, MARKUS MATTHIAS, Art. Orthodoxie I. Lutherische Orthodoxie, 476,45-49. 249 S.u. S. 161 ff. 248
TEIL D
Die Transformation theologischer Lehre in der Dichtung Paul Gerhardts 1. Die Lehre von den fünf genera dicendi als Modell einer Einheit von theoretischer und praktischer Theologie In den bisherigen Darlegungen über Gott und das Leid in der theoretischen Betrachtungsweise Leonhard Hutters ist schon an einigen Stellen deutlich geworden, wie und wo dieses Thema auf die praktische Ebene überführt werden kann und muß. Man wird auch bereits nach einer ersten Kenntnisnahme der geistlichen Gedichte Paul Gerhardts eine Vorstellung davon haben, wie er in ihnen die Loci theoretici, die er von Leonhard Hutter gelernt hat, umsetzt. Nach Hutter ist die Grundhaltung, welche der an Gott glaubende Mensch angesichts des Leids einnimmt, die des Gebets zu Gott. Im Gebet preist der Mensch die Eigenschaften Gottes, seine Allmacht und Güte, - und bittet ihn, sich als allmächtig und gütig zu erweisen, indem er ihn aus dem Leid rettet. Gottes rettendes Eingreifen ist für ihn die entscheidende Tröstung. Und in der Tat ist dies in Gerhardts Liedern zu finden: Lobpreis und Bittgebet, oder auch die Mahnung und Aufmunterung dazu, und der Zuspruch der Tröstung, die dadurch gewonnen wird. Die sehr naheliegende Vermutung, daß Gerhardt hier die praktischen Konsequenzen aus Hutters Theologie gezogen hat, auf welche diese selbst hinausläuft, kann aber noch untermauert werden durch die Einsicht, daß Gerhardt für diese Übertragung des Theoretischen ins Praktische ein Modell zur Verfügung stand, in dem genau dies geregelt wurde. Bei diesem Modell handelt es sich um die Lehre von den fünf genera dicendi, den fünf Sprechweisen der geistlichen Rede. Referiert wird sie hier nach der Fassung, in welche sie Johann Hülsemann, der zu Paul Gerhardts Studienzeit in Wittenberg unterrichtete, in seiner Predigtlehre, seiner ,Methodus concionandi' gebracht hat. Hülsemann verweist selbst darauf, daß er diese Lehre von den reformierten Theologen Aisted (1588-1638) übernommen habe. In der Tat handelte es sich um ein allgemein verbreitetes Schema 1 . 1 Hülsemann, Meth. CONC., 18 f. Vgl. MARKUS MATTHIAS, Art. Orthodoxie, Lutherische, 474,40-44; KRUMMACHER, Gryphius, 131; FECHNER, Paul Gerhardt (Gestalten der Kirchengeschichte), 187. Die Vorrede der „Kurfürstenbibel" setzt ebenfalls mit einer Betrachtung der Zwecke der Heiligen Schrift nach II Tim 3,16 ein, (a)Vv-(b)Iv.
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Die Transformation theologischer Lehre
Hülsemann definiert den Gegenstand seines Unterrichtswerkes so: „Eine geistliche Rede ist die kunstgerechte Anordnung und Verkündigung eines biblischen Textes, die zur Unterrichtung und Widerlegung in der Lehre, zur Bildung und Korrektur in den Verhaltensweisen und endlich zum Tröste geeignet ist." 2 Obgleich Hülsemann hier selber in erster Linie an die Kanzelrede denkt, ist auch das geistliche Gedicht hier mitinbegriffen, worauf bei der Darstellung der Poetik des geistlichen Gedichts noch eingegangen werden wird 3 . In dieser Definition nennt Hülsemann bereits die fünf einzelnen Gattungen geistlicher Rede. Zu deren Erläuterung kommt er, nachdem er zuerst die Bibel als die causa materialis concionis genannt hat, indem er nun die causa finalis aufführt, den Zweck, dem die geistliche Rede dienen soll. Dieser causa finalis entspricht die Form, welche die Rede in rhetorischer Hinsicht erhält (die anderen Aspekte der Formung der Rede sind der logische und der grammatikalische). Hülsemann betritt also hier das Feld der Rhetorik. Die profane Rhetorik teilt die Rede nach ihren Absichten in drei genera dicendi ein, nämlich das genus demonstrativum, juridiciale und deliberativum, worauf ich später noch eingehen werde 4 . Hülsemann hingegen entnimmt seine Einteilung der geistlichen Rede der Bibel, und zwar den Aussagen II Tim 3,16 und Rom 15,4 über Sinn und Zweck der Heiligen Schrift selbst. An der ersten Stelle heißt es: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre (didaskalia), zur Zurechtweisung (elegmos), zur Besserung (epanorthosis), zur Erziehung (paideia) in der Gerechtigkeit." Die zweite Stelle lautet: „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre (didaskalia) geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost (paraklesis) der Schrift Hoffnung haben." - Was also Zweckbestimmung der Heiligen Schrift ist, das muß auch Zweckbestimmung ihrer Verkündigung in der geistlichen Rede sein und die Anordnung ihrer Struktur gestalten 5 . Aus diesen biblischen Bestimmungen gewinnt Hülsemann die fünf genera dicendi geistlicher Rede: 1. 2.
didascalium/demonstrativum elenchticum/refutatorium
2 „Oratio Sacra est textus cujusdam Biblici artificiosa & ad instituendum & arguendum in doctrina, ad informandum 8c corrigendum in moribus, ad consolandum denique apta dispositio & enunciatio.", Hülsemann, Meth. conc., 1. 3 S.u. S. 229, bei Anm. 128. 4 S.u. S. 176, bei Anm. 26. 5 Johann Matthäus Meyfart, der Verfasser der wirkungsgeschichtlich ersten deutschen Rhetorik (1634) weist ebenfalls darauf hin, daß die Bibel nicht nur den Inhalt (causa materialis), sondern auch die rhetorische Gestaltung der Predigt bestimmt, s. JOHANN ANSELM STEIGER, Rhetorica sacra seu biblica, 542 f., sowie 524 f., w o STEIGER von dort aus eine durchaus berechtigte scharfe Kritik derzeitiger pseudo-rhetorischer Homiletik anbringt. Einen Überblick über die evangelische Rhetorik geistlicher Rede von Melanchthon bis zu Meyfart bietet STEIGER, 5 3 2 - 5 4 1 .
Die Lehre von den fünf genera
dicendi
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3. paideuticum/instructorium 4. epanorthoticum/correctorium 5. paracleticumlconsolatorium, welches er so erläutert: „die Aufrichtung des Hörers gegen alle denkbaren Übel der Bestrafung, der Schuld und der Prüfung."6 Diese fünf Redearten bilden dabei eine Systematik 7 . Die ersten vier verhalten sich paarweise gegensätzlich zueinander. Das erste Paar bezieht sich dann auf die credenda, und zwar so, daß im genus didascalium eine Sache dargestellt wird, im genus elenchticum entgegengesetzte Meinungen von derselben widerlegt werden. Das zweite Paar bezieht sich auf die facienda, wobei im genus paideuticum die Beziehung zur Sprache kommt, die der Mensch zu dieser Sache hat, und zwar als Mahnung, wie er sich angesichts dieser Sache oder dieses Sachverhaltes verhalten soll. Im genus epanorthoticum wird dann umgekehrt vor einem entgegengesetzten Verhalten gewarnt. Das genus consolatorium bezieht sich ebenfalls auf das objectum faciendum, aber so: es spricht von dem, was der Mensch zu empfangen erwarten darf, wenn er sich derart verhält. Es verheißt also das praemium thematis paideutici und tröstet auf diese Weise. D e r Systematik entsprechend müßte in einem sechsten genus noch die Strafe für das Mißverhalten angedroht werden, aber dies ist im genus epanorthoticum mit untergebracht. Hülsemann illustriert diese Einteilung an mehreren Beispielen, in denen er zugleich zeigt, wie man von der einen Redeart zu der anderen überleiten kann. Diese Darlegungen machen einen großen Teil seiner Predigtlehre aus 8 . So kann eingesetzt werden mit der Aussage, daß die Welt von Gott geschaffen worden ist. Diese Passage gehört dann dem genus didascalium an. Wenn daraus gefolgert wird, daß die Welt demnach nicht aus sich selber besteht, und derartige Ansichten zurückgewiesen werden, bewegt man sich im genus elenchticum. Aus der Vortrefflichkeit eines solchen Wesens, das die ganze Welt erschaffen hat, folgt, daß wir es zu verehren und ihm zu gehorchen haben (Act 14,17). Damit befindet man sich im genus paideuticum. V o r einer Verehrung anderer Wesen wird gewarnt im genus epanorthoticum·, wer dies trotzdem tut, ist unentschuldbar. Aus der Nützlichkeit der Schöpfung - daß Gott dies alles dem Menschen zum Dienst und Nutzen geschaffen hat - folgt, daß er den, der ihn als diesen Schöpfer anerkennt, nicht verlassen werde. Dieser Trost wird dem Gläubigen im genus consolatorium zugesprochen 9 . 6 „ . . . auditoris adversus quaevis mala poenae, culpae & probationis erectio", Hülsemann, Meth. conc., 19. 7 Hülsemann, Meth. conc., 37 f. An anderer Stelle, 147, gliedert Hülsemann die fünf genera nach ihrem jeweiligen usus·, der usus dogmaticus umfaßt die beiden ersten, der usus moralis die drei anderen. 8 Hülsemann, Meth. conc., 34 ff.; 1 5 6 - 1 8 0 . ' Hülsemann, Meth. conc., 35 f.
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Die Transformation theologischer Lehre
Vom genus epanorthoticum zum genus consolatorium kann unmittelbar übergegangen werden: Es wird Strafe für die Sünde angedroht - Gott trennt die Frommen von den Gottlosen; wer aber umkehrt, Buße tut, der darf hoffen - ihm wird Lohn verheißen 10 . Ausgehend vom genus consolatorium kann dann wiederum denen Strafe angedroht werden, die nicht umkehren. Sodann kann die Beschaffenheit des Trostes, mit dem Gott tröstet, beschrieben werden, wie dies II Kor 1,5 getan wird: „Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus." Damit befindet man sich in lehrhafter Redeweise. Eine falsche Auffassung von Gottes Wohltaten wird mit Rom 2,4 zurückgewiesen: sie leiten zur Buße an. Damit befindet man sich im Grunde schon im genus paideuticum. Dieses hat noch andere Möglichkeiten, so diejenige, daß man durch Gottes Trost zur Dankbarkeit angeleitet wird, wie sie etwa im ganzen Ps 34 ausgedrückt wird 11 . Wie hier zu sehen ist, können jedem genus jeweilige Schriftstellen zugeordnet werden, desgleichen bestimmte biblische Exempel. Aus diesen biblischen Texten können auch spezifische Argumente gewonnen werden, wie etwa bei der Trostrede: Gottes Barmherzigkeit, das Verdienst und die Fürsprache Christi, die Beihilfe des Heiligen Geistes, die Vorsehung Gottes, das gemeinsame Schicksal aller Gläubigen, das Beispiel Christi, der Nutzen und die Kürze der Anfechtung, die Gutheit der Sache, um die gelitten wird, und die Uberschwenglichkeit der künftigen Herrlichkeit 12 . Man sieht, daß die ganze Lehre von den Trostgründen aus den Loci Melanchthons und Hutters hier wiederkehrt. Die Predigt muß schließlich, so Hülsemann, hinauslaufen auf den usus seu applicatio13. Hier geht es um ihre beabsichtige Wirkung. Dabei ist der descensus ad singularia zu vollziehen, die Anwendung des Gesagten auf die gegenwärtigen Hörer, an diesem Ort und zu dieser Zeit. Es handelt sich also, nur von der Seite des Predigers, nicht der des Gläubigen aus gesehen, um das, was Hutter meint, wenn er von dem syllogismus practicus spricht 14 . Die hier umrissene homiletische Lehre von den fünf genera dicendi bringt den Schlüssel des Verständnisses dafür, wie das christliche Geistesleben des 17. Jahrhunderts von der gedanklichen Abstraktheit, den immer weiter verfeinerten Begriffsbestimmungen, der ausufernden Fülle an Gelehrsamkeit und Wiederholungen und, last not least, der geifernden Streitbarkeit sich hinschwingen konnte zu den herzergreifenden und innig schlichten 10
Hülsemann, Meth. Hülsemann, Meth. Gerhardt, CS 105. 12 Hülsemann, Meth. 13 Hülsemann, Meth. 14 S.o. S. 67 ff. 11
conc., 40 f. conc., 41 f. Vgl. damit die Nachdichtung dieses Psalms durch Paul conc., 26 ff. (cap. 3, Nr. 5). conc., 131; 147 ff.
Die Lehre von den fünf genera dicendi
87
Liedern Paul Gerhardts. Das theoretische, polemische theologische Schrifttum ist dem genus didascalium und dem genus elenchticum zuzuordnen, das geistliche Lied hingegen vor allem dem genus consolatorium. Spätere Betrachter dieser Zeit empfanden dies als einen unerklärlichen Widerspruch, der sich auch noch in der einen Person Gerhardts selbst zuspitzte, von dem folgendes gesagt wird: Gerhardt sei „während der Berliner Religionsgespräche der starrsinnigste Lutheraner" gewesen, „dessen Feindschaft und Intoleranz den reformierten Christen gegenüber unüberboten dasteht." Und: „Es bleibt weiterhin ein ungeklärtes Phänomen, daß in seinen Liedern von konfessioneller Polemik nichts spürbar wird." 15 In der Beurteilung dieses Problems lassen sich mit ELKE AXMACHER in der bisherigen PaulGerhardt-Forschung folgende Tendenzen unterscheiden 16 : erstens eine anti-dogmatische Richtung, die den Dichter entweder deswegen geschätzt, weil seine Dichtung nicht gereimte Dogmatik sei 17 - oder deswegen getadelt, weil sie's ist 18 , dies verbunden mit einer Ablehnung der altlutherischen Orthodoxie 1 9 ; zweitens eine undogmatische Richtung, die meint, daß seine Dichtung unabhängig von einer besonderen - konfessionell-kontroverstheologischen - Bindung sei 20 ; und schließlich eine Richtung, in welcher die grundlegende Bedeutung der zeitgenössischen Dogmatik für Paul Gerhardts Dichtung anerkannt und bei deren Interpretation berücksichtigt wird 21 . Angesichts dieser Lage resümiert sie, daß die theologische PaulGerhardt-Forschung erst an ihrem Anfang stehe 22 . Dem 17.Jahrhundert waren eine die Vernunft als Instrument bis zum Äußersten in Anspruch nehmende Lehre und eine betont gefühlsintensive Frömmigkeit jedoch offenbar kein Widerspruch, sondern sie stellten sich als ein - wenn auch durchaus weit geschwungener - Zusammenhang dar. 15
BEESKOW, Brandenburgische Kirchenpolitik und -geschichte des 17. Jahrhunderts - ein Beitrag zur Paul-Gerhardt-Forschung, Bd. 1, Kap. 10, IX, These 12. 16 ELKE AXMACHER, Paul Gerhardt als lutherischer Theologe, 79-84. Übrigens wies sie, 89-97, auch konfessionelle Polemik in einem Lied Gerhardts - CS 34 - nach. V ZLMMERMANN, Lutherischer Vorsehungsglaube in Paul Gerhardts geistlicher Dichtung, 7. 18
BARNIKOL, 4 3 4 ; WERNLE, P a u l u s G e r h a r d t , 3 8 ; PETRICH, 2 3 1 .
19
ZIMMERMANN, 7; BARNIKOL, 4 3 6 ; 4 4 1 ; 4 4 3 ; 4 4 6 f.; 4 4 9 ; BEESKOW. D i e
entstellendsten
Mißdeutungen der Lyrik des 17. Jahrhunderts hat eine solche Haltung hervorgebracht bei KEMPER, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2: Konfessionalismus. Dort zu GerhardtG e d i c h t e n 2 3 3 - 2 3 5 ; 2 6 6 - 2 9 0 . S i e h e z u KEMPER d i e R e z e n s i o n v o n ELKE AXMACHER, S ä k u -
larisierung und Kontingenzbewältigung in der frühneuzeitlichen Lyrik? 20 TRILLHAAS, Die großen Deutschen, 541; HAUSCHILDT, Botschaft, 66. Hinzuzufügen wäre RÖBBELEN, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18.Jahrhunderts, 16; 27; 54. 21
DE BOOR,
30;
KRUMMACHER,
Paul
Gerhardt,
2 8 0 f.; GERHARD EBELING,
Dogmatik
1,328; HOLL, Die Bedeutung der Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, Ges. Aufsätze, Bd. 3, 318 f.; REINITZER, Nachwort, 132; BAYER, 109 f.; SCHMIDT; BRÄNDLE. Im Übergang dazu befinde sich PETTUCH, 231 f.; 266, vgl. 234. 22 AXMACHER, Paul Gerhardt, 104.
88
Die Transformation theologischer Lehre
Frömmigkeit und Wissen gehören zusammen, erklärte Hutter in der Vorrede seines , Compendium': „Wie nämlich die Frömmigkeit nutzlos ist, wenn sie der Unterscheidung des Wissens entbehrt, so ist das Wissen nichts, wenn es nicht den Nutzen der Frömmigkeit hat." 23 Und Hülsemann sagt, das Gebet als ersten der Bestandteile des Studiums der Theologie anführend: „Das Gebet ist das Studium der Theologie selbst." 24 Der polemische Eifer eines Hutter oder Calov oder Gerhardt selbst entsprach dabei durchaus der Glut des Herzens, die in Gebeten und Liedern, zu denen sie aufmunterten, die sie herausgaben, die sie selbst verfaßten, sich ausdrückt. Für den Paul-Gerhardt-Herausgeber Feustking sind es einander entsprechende Vorzüge der lutherischen Religion, daß sie gegenüber den anderen „Religionen" (nämlich den Papisten und den Calvinisten) die reine Lehre und Verkündigung habe und mit Abstand die am meisten geistreichen und gottseligen Lieder, und für Gerhardts Lieder hebt er im besonderen hervor, wie geeignet sie seien, die reine Lehre weiter zu verbreiten 25 . In der Lehre von den fünf genera dicendi geistlicher Rede besaß die Kirche des 17. Jahrhunderts ein Instrument, das ihrem Glauben die verschiedensten Ausdrucksformen möglich machte und zugleich einen lebendigen Zusammenhang zwischen ihnen herstellte. Das Charakteristische dieser Zeit ist dabei, daß sie es unternahm, jede Möglichkeit, sich auszudrücken und überhaupt tätig zu werden, in ihrer Eigenart bis zum Äußersten auszuschöpfen und dadurch die verschiedenen Möglichkeiten so weit wie möglich ins Extrem gegeneinander zu bringen und gegeneinander auszuspielen - ohne daß ihr Zusammenhang, der dabei bis zum Äußersten gespannt wurde, zerriß. Diese Charakterisierung der Lebensund Geistesform des 17. Jahrhunderts nähert sich derjenigen W I L H E L M H A U SENSTEINS über das „Genie des Barock", wenn er sagt: „Wie Attribute, wie Superlative, wie Grade des Ausdrucks . . . durch barocke Inversion ins Definitionslose überschlagen und damit die Perspektive ins Unbegrenzte aufreißen, so werden vom Barock, systematisch mehr als zufällig, wenn auch nicht minder genial als rationell, Gegenteile zu aufreizend verschlungener Wirkung aneinandergekoppelt." 26 Es ist jedoch genau zu beachten, daß das Ausgreifen in extreme Möglichkeiten im Falle Gerhardts jedenfalls
23
„Quemadmodum enim inutilis est pietas, si scientiae discretione careat: ita nulla est scientia, si utilitatem pietatis non habeat . . H u t t e r , Compendium, X. Hutter beruft sich dabei auf Gregor den Großen. Mit dieser Formulierung steht Hutter übrigens ganz in der Tradition spätmittelalterlicher und reformatorischer Frömmigkeitstheologie, vgl. BERNDT HAMM, Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. 24 „Oratio est ipsum Studium Theologicum.", Hülsemann, Methodus studii theologici, im Anhang der Methodus concionandi, 257. Gelegentlich kann der Zusammenhang von poimenischer und polemischer Theologie auch explizit werden, und diese tritt in jener hervor, so etwa in August Pfeiffers ,Antimelancholicus', 311 f.; 329, s. STEIGER, Melancholie, 104-108. 25 Feustking, Vorbericht, )(6r -)(9r. 26 HAUSENSTEIN, Vom Genie des Barock, 41.
Die Lehre von den fünf genera dicendi
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nicht so weit ging, daß sie einander aufheben und auf diese Weise die Perspektive in eine Unendlichkeit gewinnen, wie HAUSENSTEIN dies von der barocken bildlichen Kunst, zumal von der römisch-katholischen, sagen konnte. Es bleibt ein positiver Sinnzusammenhang bewahrt, der - noch imstande ist, diese Fülle zusammenzuhalten. Voraussetzung dafür war die Auffassung dieser Zeit, daß alle Dinge, mögen sie auch noch so verschieden sein, ihren Platz in einem von Gott begründeten Ordo haben, so daß mit E R I C H T R U N Z gesagt werden kann: „So wenig die Glaubensinnigkeit gestört wurde durch das Lernen des Katechismus, so wenig die dichterische Kraft durch das Lernen der Poetik." 27 . Die Fünf-Genera-Lehre bildet für das Vollziehen und Nachvollziehen dieses Ordo der verschiedenen Bereiche menschlichen Sprechens den Leitfaden. Für die Lieder Paul Gerhardts besagt die Fünf-Genera-Lehre, daß man erwarten kann, daß Aussagen, daß Bestandteile der lehrhaften, theoretischen Theologie, also der Rede im genus didascalium bzw. elenchticum, in diesen Liedern gleichwie in einer oratio sacra aufgenommen werden. Das heißt nun aber nicht, daß die lehrhafte, „dogmatische" Theologie innerhalb von Liedern lediglich wiederholt würde. Vielmehr ist sie jetzt etwas, wovon „Gebrauch" gemacht wird. Es werden aus ihr Folgerungen gezogen für Ermahnungen, für Warnungen und für Tröstungen; dies alles wird auf einen H ö r e r der Rede in seiner jeweiligen Situation angewandt. In diesem Sinne kann gesagt werden, lehrhafte Theologie werde in den Liedern Paul Gerhardts „transformiert", „aufgenommen" oder „umgesetzt". Dies ist aber nur so zu verstehen, indem man zugleich erkennt, daß Lehre nun als etwas anderes, neues qualifiziert wird. Sie ist jetzt selber Rede, sie befindet sich nun als Teil in einem neuen Ganzen, das durch die fünf Genera strukturiert wird. Wenn zu Beginn dieser Studie ihre Methode als „analytisch" bezeichnet wurde 2 8 , dann hat das einen Grund darin, daß theologische Lehre immer schon als Teil dieses Ganzen begriffen werden muß, den es in diesem Zusammenhang mit den vier anderen homiletischen Genera bildet, in einem weiteren Zusammenhang auch noch mit den Funktionen des affectum movere und des delectare. Ausgangspunkt dieser Zusammenhänge ist auch nicht die Lehre an sich, sondern das Ganze der Bibel, wie im übernächsten Kapitel exemplarisch demonstriert werden soll. Wie die in Teil С dargeΏ ERICH TRUNZ, Weltbild und Dichtung im deutschen Barock, in: Aus der Welt des Barock, Stuttgart 1957, 1 f. Vgl. ZELLER, Paul Gerhardt, der Dichter und seine Frömmigkeit, in: ders., Theologie und Frömmigkeit, Bd. 2, 131: „Für Gerhardt und seine Zeit wird im Gegenteil das Wort der heiligen Schrift zur unmittelbaren Erlebnis- und Lebensform." - Der ganze Aufsatz von TRUNZ bietet eine umfassende Skizze des Barockgeistes aufgrund des Leitgedankens des Ordo. - Einen Zusammenhang von Feldern, die spätere Forschung meist
a u s e i n a n d e r g e r i s s e n h a t , a r b e i t e t J O H A N N ANSELM STEIGER a u c h b e i d e m g r ö ß t e n
evangeli-
schen Theologen dieser Epoche heraus: Seelsorge, Dogmatik und Mystik bei Johann Gerhards. Ein Beitrag zu Theologie und Frömmigkeit der lutherischen Orthodoxie. 28 S.o. S. 12, bei Anm.6.
90
Die Transformation theologischer Lehre
botenen Lehrstücke im Ganzen der fünf homiletischen Genera transformiert 2 9 werden, wird nun in den folgenden Kapiteln (2-10) gezeigt.
2. Die Ordnung der Lieder Paul Gerhardts Als erstes m u ß nun freilich geklärt werden, wie das dichterische W e r k Paul Gerhardts seinem Inhalt nach zu gliedern ist. Erst dann ist ein Zugriff auf bestimmte Motive dieses Werks statthaft, und erst dann kann verfolgt werden, wie diese Motive sich durch die verschiedenen genera hindurch entwickeln. Bisher wurde eine Strukturierung der Aussagen über G o t t und das Leid nur auf der theoretischen, dogmatischen Ebene untersucht: In welchen Loci wurde darüber gehandelt, welches ist ihr Zusammenhang? Es darf nicht von vornherein angenommen werden, d a ß in der Dichtung diese Strukturierung ohne weiteres übernommen wird. Stattdessen ist zunächst einmal zu fragen, nach welchen Kriterien Paul G e r h a r d t selbst seine dichterischen Werke geordnet hat. Diese Frage ist nicht direkt zu beantworten, denn G e r h a r d t hat nie selbst seine Dichtungen veröffentlicht. Die erste, noch zu seinen Lebzeiten veranstaltete Gesamtausgabe, die von J o h a n n Georg Ebeling, teilt in zehn D u t z e n d e ein, doch sind diese nicht überschrieben und ihre inhaltliche Systematik ist in der T a t ziemlich locker 3 0 . Aus diesem G r u n d e muß man sich an die Rubrizierung in den Ausgaben der , Praxis pietatis melica' halten, in welcher der größte Teil von Paul Gerhardts Liedern erstveröffentlicht wurde. Ich denke, man trifft gerade das Selbstverständnis Gerhardts als Kirchenlieddichter, wenn man davon ausgeht, d a ß er seine Lieder mit der Absicht geschaffen hat, d a ß sie als Teil einer jeweils f ü r sie passenden Rubrik eines Gesangbuches, so wie damals Gesangbücher geordnet waren, erscheinen sollten 31 . Es wird besser sein, die Lieder Ger29 Der hier verwendete Begriff der „Transformation" deckt sich nur zum Teil mit dem Sinn, wie ihn CHRISTOPH BURGER bestimmt hat. BURGER meint nämlich damit eine „Weitergabe der Ergebnisse theologischer Arbeit auf höherem Niveau als auf dem der Katechese", BURGER, Transformation, 51. In den Liedern Paul Gerhardts findet in der Tat eine vergleichbare Elementarisierung theologischer Lehre statt, aber nicht nur das. Es wird auch das genus didascalium selbst verlassen. 30 Dies ist auch die Einschätzung von BuNNERS, Paul Gerhardt, 257. FECHNER, Paul Gerhardts Lied, 11 f., vermutet ein System von gegenseitigen Verweisen in Ebelings Ausgabe. Es ist mir jedoch bisher nicht gelungen, dieses zu entschlüsseln. 31 Die Ordnung der , Praxis pietatis melica' stimmt wohl auch mit derjenigen der meisten Gesangbücher dieser Zeit überein, s. RÖBBELEN, 3 0 - 5 1 ; M A H R E N H O L Z , Das evangelische Kirchengesangbuch, 47-51, beschreibt die Entstehung dieses Aufbaus aus demjenigen des von Luther autorisierten ,Babstschen Gesangbuches' von 1545 unter dem Einfluß der Gesangbücher der böhmischen Brüdergemeinde seit dem Gesangbuch F r a n k f u r t / O d e r 1562. Von mir selber wurden durchgesehen und dabei dieser Aufbau als übereinstimmend befunden: Cantional Oder Gesang-Buch Augsburgischer Confession, Leipzig 1645; Neu eingerichtetes
91
D i e O r d n u n g der Lieder Paul Gerhardts
hardts n a c h der W e i s e zu klassifizieren, wie dies zur Zeit ihrer Entstehung g e s c h a h , u n d v o n d o r t aus eine B e s t i m m u n g ihrer Eigenart z u
unterneh-
m e n , als u n a b h ä n g i g d a v o n e i n e T y p o l o g i e z u e n t w i c k e l n , d e r d a n n d i e s e Lieder unterworfen werden32. Ich orientiere mich für die f o l g e n d e thematische Ubersicht über
Paul
Gerhardts Liederwerk an der A u s g a b e der ,Praxis pietatis melica' v o n 1653, d e r j e n i g e n , in w e l c h e r , v e r g l i c h e n m i t a n d e r e n A u s g a b e n , d i e m e i s t e n Lieder v o n ihm z u m ersten Mal Dieses
erschienen33.
B u c h i s t in f ü n f T e i l e g e g l i e d e r t .
Ich gebe außer den
Liedern
P a u l G e r h a r d t s , d i e darin e n t h a l t e n sind (in d e r N u m e r i e r u n g v o n
Cra-
nach-Sichart, CS), auch die Numerierung der insgesamt darin enthaltenen Lieder an, damit die Proportionen dieser Teile eingeschätzt w e r d e n
kön-
nen. 1. T ä g l i c h e
Morgen-,
Abend-
und Bußgesänge,
,Von der
Rechtfertigung'
(1-77) D o r t finden sich als M o r g e n l i e d e r ( 1 - 1 8 ) : C S 35 und 36, als A b e n d l i e d ( 1 9 - 3 3 ) : C S 38, als Bußlieder ( 3 4 - 7 2 ) : C S 51 und 52. U n t e r den Rechtfertigungsliedern ( 7 3 - 7 7 ) ist nichts v o n Paul Gerhardt. 2. H o h e F e s t - u n d D a n k l i e d e r , L o b - u n d
Danklieder
N a c h d e m Stichwort , H o h e Fest- und D a n k l i e d e r ' wird das g a n z e Kirchenjahr d u r c h g e g a n g e n ( 7 8 - 2 1 7 ) . D a b e i finden sich unter , V o n Jesu Christi M e n s c h w e r d u n g ' [ = A d v e n t ] ( 7 8 - 8 6 ) : C S 1 und 2; , V o n der G e b u r t Jesu Christi' ( 8 7 - 1 1 2 ) : C S 3 - 6 ; , V o m neuen Jahre Jesu Christi' ( 1 1 3 - 1 3 0 ) : C S 10 und 11 (zu N e u j a h r als z u m T a g der B e s c h n e i d u n g Christi); , V o n Jesu Christi L e y d e n und Sterben' ( 1 3 1 - 1 5 8 ) : C S 1 2 - 1 7 ; , V o n Jesu Christi Auferstehung' ( 1 5 9 - 1 7 8 ) : C S 2 6 - 2 8 ;
Geistliches Gesangbuch, Hall in Sachsen, 1650; Harmonisches Chor- vnd Figural GesangBuch, F r a n k f u r t / M a i n , 1659; Christlich-neuvermehrt- und gebessertes Gesangbuch, Erfurt 1663; Neu Lüneburgisch -Vollständig-wolverbessertes Gesangbuch, Lüneburg 1663; NeuVollständiges Marggräfl. Brandenburgisches Gesang-Buch, Bayreuth 1672; Vollständige Kirchen· und Haus-Music, Breslau 1672; Verneuert und Vermehret Christliches Gesangbuch, Freyberg, 1675; Nümbergisches Gesang-Buch, Nürnberg 1677; D. Martin Luthers und anderer Gottsgelehrter Manner Geistreiche Lieder, F r a n k f u r t / M a i n 1679; Geistreiches Gesangbuch, Hamburg, 1680. 32 Wie dies BRODDE tut, Zur Typologie der Paul Gerhardt-Lieder. Er verwendet dabei den Begriff des „Vertrauensliedes" - wie übrigens auch AXMACHER, Paul Gerhardt, 97 f., allerdings mit Distanz - , welches, aus dem „Lehrlied" entwickelt, die Gewißheit der reinen Lehre voraussetze und diese anwende. Dieses Vertrauenslied sei einer der bei Paul Gerhardt häufigsten Typen. - Es wird noch später darauf eingegangen werden, was an dieser Typologie Realitätsgehalt hat, s.u. S. 152, bei Anm. 201. 33 Die Ausgabe von Cranach-Sichart - und übrigens auch noch das E K G - lehnen sich an diese Rubrizierung an. Allerdings stimmt die jeweilige Einteilung der Lieder bei ihm nicht immer mit derjenigen in der ,Praxis pietatis melica' überein.
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Die Transformation theologischer Lehre ,Von der Sendung des H.Geistes' (187-201): CS 32. ,Von der heiligen Dreyfaltigkeit' (202-210): CS 32. Danach finden sich noch Lieder anderer Autoren zu Mariä Heimsuchung [Verkündigung] (211-212) und zu St. Michael (213-217). Unter den Lob- und Dankliedern (218-243) sind von Paul Gerhardt: CS 96; 99; 101-102; 104-106; 108.
3. K a t e c h i s m u s g e s ä n g e , V o m W o r t G o t t e s und d e r christlichen K i r c h e Unter den Katechismusgesängen (244-272) findet sich in dieser Ausgabe von Paul Gerhardt nichts 34 , unter den Liedern ,Vom Wort Gottes/und der Christlichen Kirchen' (273-296) ist auch CS 103. 4. Diese R u b r i k ( 2 9 7 - 4 2 5 ) ist die g r ö ß t e n a c h d e r R u b r i k 1. Sie enthält Lieder, die n a c h bestimmten Anlässen des Lebens g e o r d n e t sind, in denen sie gesungen w e r d e n k ö n n e n . Es sind dies: ,Vom Christlichen Leben und Wandel' (297-337): CS 45; 54-55; 58-63; 72-76; 83-84; 87; 89; 114; ,Vom Creutz und Anfechtung' (338-388): CS 53; 56; 67-69; 71; 77-82; 85-86; 88; 107; ,Umb den lieben Frieden' (389-398): CS 97; ,Dancksagung für den lieben Frieden' (399-402): CS 98. Dann folgen mehrere Lieder, die vom Gedeihen der Landwirtschaft, dem dafür wichtigen Wetter und damit Verwandtem handeln (403-413), so ein Frühlingslied, ein Bittlied um fruchtbares Wetter, Bittlieder um fruchtbaren Regen, Danklieder für ihn, Bittlieder um Sonnenschein, eines in Ungewitter und einen Dank nach Ungewitter. Von Paul Gerhardt ist dabei der ,Sommergesang' (404), CS 40, und das ,Dancklied für einen gnädigen Sonnenschein' (411), CS 42. Unter den Reiseliedern (414-418) stammt von Gerhardt CS 43 als ,Dancklied nach der Reise' (418), unter den Pestliedern (419-424) schließlich CS 90. 5. Sterbegesänge, V o m jüngsten T a g e u n d A u f e r s t e h u n g d e r T o t e n , Litanei (426-493): Die Sterbegesänge (426-479) enthalten in dieser und in den anderen - jedenfalls den zu Lebzeiten erschienenen - Ausgaben der ,Praxis pietatis melica' nichts von Paul Gerhardt 3 5 , unter den Gesängen von der Auferstehung der Toten (480-493) ist CS 120. A u ß e r d e m enthielt d e r A n h a n g einige L i e d e r G e r h a r d t s , die s p ä t e r in die R u b r i k e n einsortiert w u r d e n , nämlich C S 18-21 u n d 100 3 6 . 34
Feustking zählt in seiner Paul-Gerhardt-Ausgabe zu diesen die Lieder CS 34; 45-46 und 111. Es sind also, dem Inhalt von Luthers Katechismus entsprechend, darin u. a. Sakraments· und Ehestandslieder enthalten. 55 Bei Feustking sind in dieser Rubrik CS 115-117; 125; 127-129; CS 134 als .Himmelslied'. Die meisten der von Cranach-Sichart in seiner Sammlung unter dieser Rubrik versammelten Lieder, CS 115-134, sind in Einzeldrucken zu jeweiligen Bestattungsfeiern erschienen.
Die Ordnung der Lieder Paul Gerhardts
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Aufs Ganze gesehen werden die Lieder Paul Gerhardts also von zwei Gruppen beherrscht. Die Lieder der ersten Gruppe handeln von den Festen des Kirchenjahres, also von den Ereignissen der Heilsgeschichte, die in diesen gefeiert werden. Die Lieder der zweiten sollen zu bestimmten Anlässen gesungen werden, die das Leben des Christen selber mit sich bringt. Sie können insofern als „Kasual-Lieder" bezeichnet werden und sind wiederum nach bestimmten Sachthemen eingeteilt. In der Paul-Gerhardt-Ausgabe Feustkings sind, mit einigen Abweichungen, diese Rubriken die gleichen. Auch sind Gerhardts Lieder meistens in dieselben Rubriken aufgeteilt. Feustking spricht in seinem ,Vorbericht' von den „charismata poötica", den Gaben, die der Heilige Geist gegeben hat, um ein geistliches Lied der jeweiligen Rubrik zu verfassen. Auf diese Weise gibt Feustking Hinweise zum Verständnis der Liederrubriken 3 7 . So definiert er die Glaubenslieder als eine Fassung der Glaubensartikel in Reime - dies wird den von Feustking dann selber so genannten Katechismus-Liedern entsprechen. Das Buß-Lied dient dazu, die Sünden des Menschen erschrecklich vorzustellen, das Bitt- und Bet-Lied 38 dazu, ganz „beweglich" - also so, daß das Gemüt dabei bewegt wird - , sein H e r z auszuschütten. Das Trostund das Sterbens-Lied soll den Betrübten M u t zusprechen und die Niedergeschlagenen aufrichten, indem ihnen das ewige Leben vorgehalten wird. Die Frage ist nun, welche Beziehung zwischen dieser gängigen Rubrizierung der Gesangbücher und der Gliederung der Loci in der lehrhaften Theologie besteht. Ingeborg Röbbelen spricht von den Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts als „compendia locorum theologicorum" und erwägt einen - wie sie meint, freilich eher losen - Zusammenhang zwischen den Rubriken ,Von christlichem Leben und Wandel' und ,In Kreuz und Anfechtung' mit verschiedenen Loci 39 . In den nächsten Kapiteln (3-8) soll an den Liedern Gerhardts untersucht werden, welchen Charakter die jeweiligen Rubriken haben, in welchen sie gruppiert sind, und welche Loci sie auf welche Weise aufnehmen. Dann kann im einzelnen beobachtet werden, wie ein bestimmtes Motiv, den theoretischen Loci entnommen, in den Gedichten als geistlicher Rede unter Anwendung der Lehre von den fünf genera dicendi zu praktischer Verwendung kommt. Als erstes möchte ich mich dazu der Rubrik ,Vom christlichen Leben und Wandel' zuwenden, in welcher, wie sich zeigen wird, die Problematik von G o t t und dem Leid in einer Exposition dargelegt wird, die in deutlicher Weise mit dem Locus , D e Providentia' korrespondiert.
36 D i e Passionssalven C S 1 8 - 2 1 k a m e n in d e n f o l g e n d e n A u s g a b e n zu den Passionsliedern, CS 100 z u den Lob- und D a n k l i e d e r n . 37 9v, A u s z u g bei ECKART, 13 f. 38 In seiner Sammlung sind dies C S 53; 60; 65; 88. и RÖBBELEN, 38, insbes. A n m . 22. Sie nennt dabei , D e cruce et calamitatibus', , D e invocatione', , D e übertäte Christiana' und , D e nova oboedientia'.
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3. ,Sei wohlgemut, о Christenseel' als Beispiel fiir Paul Gerhardts Lieder von christlichem Leben und Wandel Es gibt zwei gegensätzliche Möglichkeiten, Lieder und Gedichte zu besprechen. Entweder, man nimmt ein Gedicht und deutet es in jeglicher Hinsicht aus. Der Betrachter hat dann den Text selbst vor Augen. Diese Methode bereitet aber Schwierigkeiten, wenn der gesamte wesentliche Gehalt eines Werkes, das aus einer Vielzahl von Dichtungen besteht, erhoben werden soll. Man müßte eine Einzelinterpretation an die andere fügen, gerade bei einem Werk wie dem Paul Gerhardts, wo in der Tat die meisten Gedichte ein starkes Einzelgepräge haben und nur wenige in Gruppen sehr ähnlicher Gedichte zusammengefaßt werden können. Die andere Möglichkeit besteht darin, das jeweils Gleiche aus der Vielzahl der Gedichte zu abstrahieren und in seinem logischen Zusammenhang darzustellen. Die einzelnen Gedichte würden dann freilich nur noch als Beleg- und Fundorte auftauchen, so wie in der Dicta-probantia-Methode mit der Bibel umgegangen wird. Um die Nachteile beider Methoden zu vermeiden, soll ein Lied ausgewählt und interpretiert werden, das möglichst viele der Motive in sich vereint, die für die jeweilige Gattung wesentlich sind. Sodann können diese Motive in ihrem Zusammenhang dargestellt werden, wobei mehr oder weniger stark noch auf andere Lieder eingegangen wird. Ein weiteres Kriterium der Auswahl ist, daß es sich bei diesem Lied um eine Nachdichtung eines Bibeltextes, naheliegenderweise also eines Psalmes, handeln sollte. Denn die Bibel, insbesondere der Psalter, ist das Vorbild der geistlichen Dichtung 40 . Aus diesem Grunde setze ich ein mit dem Lied ,Sei wohlgemut, о Christenseel', CS 89, einer Nachdichtung von Ps 73. Ps 73
CS 89
V. 1
1. Sei wohlgemut, о Christenseel, Im Hochmut deiner Feinde; Es hat das rechte Israel Noch dennoch Gott zum Freunde, Wer glaubt und hofft, der wird geliebt Von dem, der unsern Herzen gibt Trost, Friede, Freud und Leben.
40 Siehe die obigen Ausführungen über Hülsemann, S. 84, und die folgenden über die Poetik von Gerhardts Liedern, s. u. S. 215 ff. Einen Hinweis dafür bietet schon der Umstand, daß jedes der Hefte, in welchen Johann Georg Ebeling zum ersten Mal Gerhardts Lieder dutzendweise herausgab, mit einer Vignette verziert ist, die König David, mit Krone und Harfe, als Psalmensänger zeigt. - Dieser Ansatz steht diametral demjenigen PETRICHs, 193-230; 271-273, entgegen, der das eigentliche Wesen, das Charakteristische einer Dichtung dort erblickt, wo sie sich am meisten von ihren Vorlagen unabhängig macht. Gerhardts Wille war aber - auch dort, wo er in freieren Variationen sich weiter vom biblischen Wortlaut löste - , in Gehalt und Form der Heiligen Schrift zu folgen.
, Sei wohlgemut, о Christenseel' (V. 2) V. 3-8
V. 9
V. 10
(V. 11 f.)
2. Zwar tut es weh und ärgert sehr, Wenn man vor Augen siehet, Wie dieser Welt gottloses Heer So schön und herrlich blühet; Sie sind in keiner Todesfahr, Erleben hier so manches Jahr Und stehen wie Paläste. 3. Sie haben Glück und wissen nicht, Wie Armen sei zu Mute; Gold ist ihr Gott, Geld ist ihr Licht Sind stolz bei großem Gute; Sie reden hoch, und das gilt schlecht [schlicht]: Was andre sagen, ist nicht recht, es ist ihn'n viel zu wenig. 4. Des Pöbelvolks unweiser Häuf Ist auch auf ihrer Seite; Sie sperren Maul und Nasen auf Und sprechen: Das sind Leute! Das sind ohn allen Zweifel die, Die Gott vor allen andern hie Zu Kindern auserkoren. 5. Was sollte doch der große Gott Nach jenen andern fragen, Die sich mit Armut, Kreuz und Not Bis in die Grube tragen? Wem hier des Glückes Gunst und Schein Nicht leuchtet, kann kein Christe sein. Er ist gewiß verstoßen.
V. 13 f.
6. Solls denn, mein Gott, vergebens sein D a ß dich mein Herze liebet? Ich liebe dich und leide Pein, Bin dein und doch betrübet. Ich hätte bald auch so gedacht Wie jene Rotte, die nichts acht't Als was vor Augen pranget.
V. 15 (/V. 2)
7. Sieh aber, sieh, in solchem Sinn War ich zu weit gekommen, Ich hätte bloß verdammt dahin Die ganze Schar der Frommen; Denn hat auch je einmal gelebt Ein frommer Mensch, der nicht geschwebt In großem Kreuz und Leiden?
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V. 16 f.
8. Ich dachte hin, ich dachte her, Ob ich es möcht ergründen, Es war mir aber viel zu schwer, Den rechten Schluß zu finden, Bis daß ich ging ins Heiligtum Und merkte, wie du, unser Ruhm, Die Bösen führst zu Ende.
V. 18 f.
9. Ihr Gang ist schlüpfrig, glatt ihr Pfad, Ihr Tritt ist ungewisse; Du suchst sie heim nach ihrer Tat Und stürzest ihre Füße. Im Hui ist alles umgewendt, Da nehmen sie ein plötzlich End Und fahren hin mit Schrecken.
V. 20
V. 23a
(V. 22)
(V. 21)
V. 23b.24
10. Heut grünen sie gleich wie ein Baum, Ihr Herz ist froh und lachet, Und morgen sind sie wie ein Traum, Von dem der Mensch aufwachet, Ein bloßer Schatt, ein totes Bild, Das weder Hand noch Augen füllt, Verschwindt im Augenblicke. 11. Es mag drum sein; es wäre gleich Mein Kreuz so lang ich lebe, Ich habe gnug am Himmelreich, Dahin ich täglich strebe. Hält mich die Welt gleich als ein Tier, Ei, lebst du, Gott, doch über mir, Du bist mein Ehr und Krone. 12. Du heilest meines Herzens Stich Mit deiner süßen Liebe Und wehrst dem Unglück, daß es mich Nicht allzu hoch betrübe; Du leitest mich mit deiner H a n d Und wirst mich endlich in den Stand Der rechten Ehren setzen.
V. 25
13. Wenn ich nur dich, so starker Held, Behalt in meinem Leide, So acht ichs nicht, wenn gleich zerfällt Das große Weltgebäude. Du bist mein Himmel, und dein Schoß Bleibt allezeit mein Burg und Schloß, Wann dieser Erd entweichet.
V. 26
14. Wann mir gleich Leib und Seel verschmacht, So kann ich doch nicht sterben, Denn du bist meines Lebens Macht
, Sei wohlgemut, о Christenseel'
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Und läßt mich nicht verderben. Was frag ich nach dem Erb und Teil Auf dieser Welt? Du, du, mein Heil, Du bist mein Teil und Erbe.
V. 27
V. 28
15. Das kann die gottvergessene Rott Mit Wahrheit nimmer sagen; Sie weicht von dir und wird zum Spott, Verdirbt in großen Plagen. Mir aber ists, wie dir bewußt, Die größte Freud und höchste Lust, Daß ich mich zu dir halte. 16. So will ich nun die Zuversicht Auf dich beständig setzen, Es41 werde mich dein Angesicht Zu rechter Zeit ergötzen. Indessen will ich stille ruhn Und deiner weisen Hände Tun Mit meinem Munde preisen.
Str. 1,1, „Sei wohlgemut", ist ein Aufruf, nämlich der, „wohlgemut" zu sein, einen bestimmten Seelenzustand einzunehmen, und zugleich ein Zuspruch: du kannst diesen Seelenzustand einnehmen, denn die Lage ist dementsprechend. Es wird also an das Verhalten des Menschen appelliert - es geht um die praxis, die mores. Aber der Akzent liegt dabei nicht auf der Aktivität des Angesprochenen, sondern auf dem, was er empfängt, so daß er, sich darauf einstellend, wohlgemut sein kann. Dieser Vers gehört also ins genus consolatorium und stellt in seiner Kürze die knappeste Form einer Trostrede dar. Am Ende des Liedes, S t r . l 6 , l f . , sind die Worte „So will ich nun die Zuversicht / Auf dich beständig setzen" die Antwort auf diese Aufforderung: Ihr wird Folge geleistet und der Zuspruch damit angenommen. Der Seelenzustand der Wohlgemutheit wird dabei weiter beschrieben durch den Begriff der „Zuversicht", der fiducia, durch das Ergötzen an dem Angesicht Gottes, 16,4, und das stille Ruhen, 16,5. Durch diesen letzten Ausdruck wird besonders deutlich, daß der Akzent dieser Rede nicht auf dem Sich-Verhalten des Menschen als einer Aktivität liegt, sondern auf dem Empfangen, auf dem Sich-Einstellen auf die gegebene bzw. zu erwartende Lage. Der Aspekt der Aktivität des Menschen wird benannt als das Preisen des Mundes, 16,7. Es ist gerade derjenigen überlegenen Aktivität entgegengestellt, auf die es hier ankommt und welche die Lage bestimmt, nämlich dem Tun der Hände Gottes, 16,6. Str. 1,1 und Str. 16 umrahmen also das ganze Lied und qualifizieren es dadurch als Trostrede. Innerhalb dieser Trostrede gibt es jedoch weite Abschnitte, die anderen genera dicendi angehören. 41
Bei CS „Er", verbessert nach der Ausgabe v. J. G. Ebeling und der P.p.m. 1653.
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„ . . . о Christenseel", Str. 1,1, benennt denjenigen, dem dieser tröstende Zuspruch gilt. Dieser erweist sich in Str. 16 als der Sprechende selbst, denn dort findet sich - wie in Str. 6-8; 11-15 - die explizite Ich-Form. Es handelt sich also hier um Verkündigung, um Predigt im weiteren Sinne, entsprechend der Definition Hülsemanns, und zwar als eine Verkündigung an sich selbst, ein Selbstgespräch. Dies ist eine der drei Formen der menschlichen Kommunikation, die sich bei Gerhardt finden und welche Christian Bunners erhellend herausgearbeitet hat: erstens Selbstgespräch, zweitens Rede an andere Geschöpfe - einen anderen Christen, die christliche Gemeinde, die Feinde oder die Gottlosen, die Menschen im allgemeinen oder alle Geschöpfe überhaupt - , drittens Rede an Gott, also Gebet 42 . Als weitere Kommunikationsform müßte nun noch die Rede Gottes an den Menschen genannt werden, wie dies etwa in CS 67 durchgehend der Fall ist. Für sich genommen könnte Str. 1,1 auch an jemand anderen als an den Sprecher selbst gerichtet sein. In der Tat ist die „Christenseele" des Sprechers nur ein Beispiel für jede andere Christenseele. Das „Ich" in diesem Lied ist - wie das „Ich" des Psalms - mithin ein repräsentatives. Dadurch, daß es repräsentativ ist, lädt es auch den Leser, Sprecher, Sänger des Liedes ein, sich mit ihm zu identifizieren und das Lied als sein eigenes zu singen bzw. mit anderen als gemeinsames zu singen. Dies ist, so weit ich sehe, in den Liedern Gerhardts durchgehend der Fall43. Allerdings ist es für Gerhardt von wesentlicher Bedeutung, daß diese Christenseele nicht nur angesprochen wird oder selber einen anderen anspricht, sondern auch mit sich selber ins Gespräch tritt und dadurch ihren Selbstbezug verwirklicht. Darüber wird noch zu reden sein44.
42 BUNNERS, Paul Gerhardt, 160-162. Als Beispiele fürs erste nennt er CS 99, 1,1 f., fürs zweite CS 80, 1,1 f. und CS 111, 1, fürs dritte CS 78, 1,1 und 113, 1,1 f. In CS 101, 1 sind die beiden letzteren Formen ausgeführt und die erste angedeutet: „Ich singe dir mit Herz und Mund / Herr, meines Herzens Lust, / Ich sing und mach auf Erden kund, / Was mir von dir bewußt." Zur Struktur des Gebetsgespräches s. ZLMMERMANN, 36-40. 43 BUNNERS, Paul Gerhardt, 248 f., versucht in der Diskussion über das „Ich" bei Gerhardt zwischen den beiden Positionen eines „überzeitlichen" und eines „individuellen Ich" eine Mittellage einzunehmen, das „partizipatorische Ich", welches individuell ist, aber sehr oft seinen Anteil an übergreifenden Ordnungen zum Ausdruck bringt und dadurch selber anderen an sich selbst Anteil anbietet. Eine Besonderheit des „Ich" oder des „Wir" Gerhardts kann ich jedoch weithin nur darin sehen, daß es christlich - in Gerhardts Sinne - gläubig ist. Nur in den wenigen Liedern mit Bezug auf Zeitereignisse begegnet eine weitere Eingrenzung des mit der ersten Person Gemeinten. Ähnlich urteilt WALDTRAUT-INGEBORG SAUER-GEPPERT, Art. Gerhardt, 288. GROHMANN hat bereits 1917 in einem ausführlichen Aufsatz die etwa von PETRICH, 265 f. u. Ö., ähnlich von KOCH, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 1/3, 293-296, u. anderen geäußerte Meinung widerlegt, daß Gerhardts geistliche Lyrik sich wesentlich von der Luthers darin unterscheide, daß sie subjektivistisch sei. 44 S. u. S. 244 ff.
,Sei wohlgemut, о ChristenseeP
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In diesem Lied umfaßt die Passage des Selbstgesprächs Str. 1-5, wobei das Ich des Liedes ab 1,3 sich selbst nicht mehr anredet, sondern sich bestimmte Sachverhalte mitteilt. Es spricht dann in darstellender Rede. Ab Str. 6 geht es um Rede des Ich an Gott, wobei es zwischendurch aber auch zugleich von sich spricht - Str. 6,1-7,4; 8; 11-14; 15,5-16,7 - oder Sachverhalte darstellt: Str. 9 f.; 15,1-4. In solcher darstellender Rede wird in Str. 1,3 f. eine These formuliert: „Es hat das rechte Israel / Noch dennoch Gott zum Freunde,". Als These, in 1,5-7 paraphrasiert und dadurch erläutert, steht sie im genus didascalium. Sie beschreibt die Lage, in welcher die Christenseele sich befindet und aufgrund derer sie getrost und wohlgemut sein kann und soll. Die Charakterisierung dieser Lage steht derjenigen entgegen, die in Str. 1,2 als Näherbestimmung der Anfangsaussage gegeben wurde: die Christenseele befindet sich im Hochmut ihrer Feinde. In diesem Kontext wird darum die These 1,3 f. zur Begründung des Trostzuspruchs 1,1. Die Verknüpfung dieser beiden Redeweisen kommt in 1,5-7 deutlich zum Ausdruck: Gott ist eben derjenige, der den trostbedürftigen Gläubigen Trost gibt. Im Psalm steht lediglich die lehrhafte Aussage V.l: „Gott ist dennoch Israels Trost / für alle, die reinen Herzens sind." Gerhardt hat in seiner Paraphrase den tröstenden Gehalt dieser Aussage expliziert zu einem ausdrücklichen Trostzuspruch. Es wurde bereits angesprochen, daß die Lage, in welcher sich der Christ befindet, auf zweifache Weise charakterisiert werden kann. Er ist von Feinden umgeben und ihrem Hochmut ausgesetzt - und er hat Gott als Freund. Diese Doppelseitigkeit seiner Lage hat zur Folge, daß der 1,3 f. formulierten These auch widersprochen werden kann. Dieser Widerspruch kündigt sich an in der Formulierung „Zwar . . . " , Str. 2,1, und führt schließlich zu einer Gegenthese 4,4-7: „Das sind Leute! / Das sind ohn allen Zweifel die, / Die Gott vor allen andern hie / Zu Kindern auserkoren." Mit diesen Leuten sind diejenigen gemeint, die in 2,2-4,4 charakterisiert werden. Es sind diejenigen, die, soweit man sehen kann (2,2), Glück haben (3,1), deren Leben also nach Maßstäben gelingt, die weithin akzeptiert werden: von ihnen selber und von dem „Pöbel" (4,1) am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala, womit das Ganze der Gesellschaft umschrieben wird 45 . Zugleich sind sie aber diejenigen, die gottlos sind („dieser Welt gottloses Heer", 2,3), was die Welt - sie selber und der Pöbel - aber nicht erkennt, weshalb sie zu der These 4,4-7 kommt. Diese beiden einander entgegengesetzten Thesen, 1,2-7 und 4,4-7, bringen Aussagen über Gott und zugleich über den einzelnen Christen bzw. die Kirche 46 . In den Aussagen über Gott geht es um sein vorsehend-len45
Vgl. Gryphius' Sonett ,Einsamkeit', Z.5, GA 1,68. In Aufnahme von Ps 73,1.15 spricht Gerhardt vom rechten Israel (1,3), den auserkorenen Kindern Gottes (4,5-7), der Schar der Frommen (7,4). 46
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kendes und um sein erwählendes Handeln, also um den Komplex von Providenz- und Prädestinationslehre. Die Frage lautet: Gestaltet Gott seine Vorsehung, seine Lenkung der Widerfahrnisse der Kirche bzw. des jeweiligen Lebenslaufes so, daß diejenigen, die glauben, diejenigen, die er erwählt hat, die Güter der Schöpfung (3,4) durchweg genießen und nach innerweltlichen Maßstäben ihr Leben gelingt? Oder läßt er es auch zu, daß sie unter Übeln leiden bzw. schickt er ihnen auch Übel? Es ist bemerkenswert, daß Gerhardt hier an einem wesentlichen Punkt von Psalm 73 abweicht, was er sonst nicht tut47. Denn dort lautet die Gegenthese V . l l : „Wie sollte Gott es wissen? / Wie sollte der Höchste etwas merken?" Es wird also mit Gottes Allwissenheit seine Providenz bestritten. Diese These, die Hutter und Melanchthon in ihren lehrhaften Darstellungen als die These der Epikureer bezeichnen, wird hier nicht wiedergegeben; sie spielt explizit jedenfalls überhaupt bei Gerhardt keine wesentliche Rolle 48 . Das Problem ist nicht so sehr, ob Gott überhaupt die Welt vorsehend gestaltet, sondern wie er sie gestaltet 49 . Ekklesiologisch gestellt lautet die Frage folgendermaßen: Ist es ein Wesensmerkmal der Kirche, der Gemeinschaft der Erwählten, daß ihre Glieder sich des Glücks und der Gunst der Umstände erfreuen? Oder kann sie auch vom Leiden getroffen werden, ja ist vielmehr das Leiden ein solches Merkmal? Leonhard Hutter hatte mit Nachdruck die zweite Möglichkeit bejaht; die Kirche ist wie eine Rose unter Dornen, Cant 2,2 50 . Die Lehre von der Kirche ist an diesem Punkt in Entsprechung zu der Lehre vom Kreuz gestaltet 51 . Dieser zweiten Möglichkeit zufolge sind allein Glau-
47 Eine andere Abweichung ist Str. 11,5-7. Während dort die Welt die christliche Seele f ü r ein Tier hält, ist es Ps 73,22 Gott, für den sie in ihrem Zweifel und ihrer Anfechtung wie ein Tier ist. Doch handelt es sich hier nur darum, daß Gerhardt diesen Ausdruck, eine Niedrigkeitsmetapher - s. WINDFUHR, 186 f., vgl. CS 50 - für die Verachtung des Gläubigen durch seine Feinde verwendet, von der ja auch im Psalm die Rede ist. 48 Impliziert ist sie freilich in einem Lied wie ,Ich hab oft bei mir selbst bedacht', s.u. S. 116. 49 Es legt sich die Frage nahe, ob Paul Gerhardt an dieser Stelle nicht deswegen von der biblischen Vorlage abgewichen ist, weil er sich zu einer aktuellen Auseinandersetzung mit dieser ekklesiologischen These - Reichtum sei Zeichen der Erwählung - genötigt sah. MAX WEBER hat bekanntlich diese These derjenigen Strömung der protestantischen Ethik zugeschrieben, aus welcher, vom Calvinismus kommend, der „Geist des Kapitalismus" hervorging, s. vor allem den bei WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 172, bei Anm. 235 zitierten Text von Baxter. Ob ähnliches von den reformierten Theologen im Blickfeld Gerhardts gelehrt wurde, müßte in Erfahrung gebracht werden. Dies wird von KEMPER, Deutsche Lyrik, Bd. 2, 280-283, behauptet, aber nicht hinreichend bewiesen. 50 Hutter, Loci, Locus XVI: De Ecclesia, cap.III: De notis ac signis sive gnorismasi ecclesiae, 557b-558a. Übrigens nennt er als biblische Belege neben dieser Stelle, H i 21; Jer 12; H a b 1 auch die Pss 73 und 37. Aus letzterem hat Gerhardt die Verse 5 und 7 in den Liedern CS 84 und 94 entfaltet. Luther hatte unter die notae ecclesiae als siebente auch das Erleiden des Kreuzes genannt, Von den Konziliis und Kirchen, WA 50, 641-643. 51 Vgl. die Formulierung des Titels dieses Locus bei Melanchthon, in der deutschen Fassung
,Sei wohlgemut, о Christenseel'
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be, H o f f n u n g und Liebe (1,5; 6,2 f.) Merkmale des Christen, und zwar hinlängliche. Träfe die erste Möglichkeit zu, dann könnte man aus der Beobachtung der Geschichte, die jedem Menschen kraft seiner natürlichen Fähigkeiten möglich ist, einen wesentlichen Anhaltspunkt dafür gewinnen, was Kirche ist und wer ein Christ ist. Es werden dabei die allgemein menschlichen Maßstäbe benutzt, ob Leben gelingt. Wem Leben gelingt, so die These von Str. 4,4-7, der ist von Gott erwählt, wem es mißlingt, wer leidet, der ist verworfen - Str. 5. Der zweiten Möglichkeit zufolge kann allein, was man im „Heiligtum", Str. 8,5, erfahren kann, die Offenbarung, als Maßstab dienen. Diese Offenbarung wird vom Glauben geglaubt, dessen sich der Gläubige bewußt werden kann. Die Erkenntnis dieser Offenbarung und die Selbsterkenntnis als Glaubender führen zu der Erkenntnis dessen, was ein wahrer Christ ist. Die Streitfrage hat also auch noch diesen Aspekt, mittels welcher Erkenntniskräfte und nach welchem Kriterium sie entschieden werden soll: nach dem, was „man vor Augen siehet" (Str. 2,2, vgl. 6,7) oder nach dem Glauben. Je nachdem, worauf man sich verläßt, kommt man zu entgegengesetzten Ergebnissen. Das Lied entfaltet sich zwischen der Einrahmung Str. 1,1 f. - Str. 16 als Nachdenken des Sprechers, als Mit-sich-zu-Rate-Gehen - mithin als Selbstgespräch über diese beiden Thesen. Es stimmt darin mit dem Psalm überein, der in der Exegese des 20.Jahrhunderts als Weisheitslied 52 und als Klagepsalm, in welchem sich Reflexion mit Gebet verbindet 53 , bezeichnet wurde. Die Reflexion des Lieds vollzieht sich folgendermaßen: Mit den Worten „Zwar tut es weh und ärgert sehr", Str. 2,1, wird die Darstellung dessen eingeleitet, was dem Anschein nach einer solchen Einschätzung der Lage des Christen widerspricht, daß er „wohlgemut" sein könnte. Gerhardt nennt in Str. 2,2-4,7 in recht freier Paraphrase von V.3-10 des Psalmes mehrere Lebensumstände, die beispielhaft als Argumente für eine entgegengesetzte Einschätzung seiner Lage sprechen. Derjenige, der bloß glaubt und hofft, aber bis zum Tode in Armut und Not lebt (5,3 f.), steht denen gegenüber, die in Glück und Reichtum alt werden (3,1.3 f.; 2,5 f.). An dem Maßstab der Welt gemessen, können die Leidenden verachtet werden und die Glücklichen hochmütig sein. Wer leidet, kann gar kein Christ sein (4,4-5,7). Diese Meinung der Hochangesehenen und der großen Masse bringt den Leidenden, der von sich weiß, daß er Gott liebt und zu ihm
des ,Examen ordinandorum' „Warumb die Christliche Kirch unter das Creutz geleget sey?", CR 23, LXXV, in der lateinischen „Quare ecclesia subiecta est cruci?", CR 23, 78. In dieser Fassung liegt übrigens der Anstoß für Melanchthon darin, d a ß es der Kirche noch schlechter geht als den Heiden, in jener, daß es ihr gleich schlecht geht. 52
FOHRER,
5J
WESTERMANN,
313. 117.
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gehört, in Zwiespalt mit sich selbst: Str. 6. Er neigt dazu, diese Meinung zu übernehmen. Täte er dies, dann müßte er verzweifeln und jede Hoffnung auf das ewige Heil aufgeben - oder sich bemühen, nach dem Maßstab der Welt erfolgreich zu sein. In beiden Fällen würde er tatsächlich seines Heiles verlustig gehen. Die Konsequenz aus dieser Meinung wäre allerdings, daß alle Menschen, von denen er sich gewiß ist, daß sie fromm waren, tatsächlich nicht fromm gewesen sind, da sie alle gelitten haben. Umgekehrt wären die Gottlosen von Gott Erwählte: Str. 7. Diesen Konflikt kann der Sprecher nicht aus eigener Kraft lösen. Er sucht die Antwort bei Gott und erhält sie: Str. 8-10. Die Lösung des Konflikts liegt in der Erkenntnis des Endes der Gottlosen. Bei diesem Ende kann es sich nicht um den leiblichen Tod handeln, den beide, die glücklichen Gottlosen und die leidenden Frommen, erfahren. Denn zu dieser Erkenntnis wäre kein Gang ins Heiligtum vonnöten. Auch die Gottlosen sterben, aber sie leben lang, sie erleben „hier so manches Jahr" (2,6). Wenn sie nun verschwinden 54 und „mit Schrecken" dahinfahren (9,7), dann ist dies nicht einfach das natürliche Vergehen, sondern der Vollzug des eschatologischen Gerichts. Es geht also um die jenseitige Vergeltung des irdischen Lebens55. Gerhardt legt dies dar, indem er den Ausdruck „Himmel und Erde" im Ps 73,25, wonach der Beter nicht fragt, wenn er Gott nur hat, so entfaltet, daß er von der endzeitlichen Vernichtung der Schöpfung, der consummatio mundt'b, spricht: Str. 13,3-7. Diesem Vergehen der ganzen Schöpfung und dem Vergehen des eigenen Daseins (Str. 14,1) stellt er das Gut entgegen, das bleibt (Str. 13 f.). Dieses Gut ist Gott selbst: „Du bist mein Himmel . . . " (Str. 13,5), „ . . . du bist meines Lebens Macht" (Str. 14,3), „Du, du, mein Heil / Du bist mein Teil und Erbe" (Str. 14,6 f.). Der Sprecher kann gerade deshalb Gott sein Gut nennen, weil er in Glaube, Hoffnung und Liebe Gott zugewandt ist (Str. 1,5; 6,2), weil er sich zu Gott hält (Str. 15,7). Umgekehrt gilt dann nämlich, daß Gott zu einem solchen Menschen hält - dies ist gerade die Aussage der These von Str. 1,3 ff. Daß dies aber auch angesichts des Leidens des Gläubigen wahr ist, erweist sich erst durch den Blick auf die eschatologische Zukunft. Durch diesen Blick wird also der Widerstreit der beiden Thesen entschieden. Mit dem endzeitlichen Vergehen und Zu-Spott-Werden der Gottlosen erweist sich auch ihr Glück als ein scheinbares Glück und ihre These
54 G e r h a r d t beschreibt dies mit einer Reihe von V a n i t a s - M e t a p h e r n (Str. 9 f.), vgl. WlNDFUHR, 188-191; JONS, 235-255. 55 Dies auszusagen, ist auch die Aufgabe des Liedes f ü r seinen gottesdienstlichen Gebrauch. Es w a r f ü r den 1. Sonntag nach Trinitatis d e r Evangelienperikope Lk 16,19-31 zugeordnet, d e r Geschichte vom reichen M a n n und vom armen Lazarus, s. die Auflistung bei BuNNERS, Paul G e r h a r d t , 380. 56 Vgl. H u t t e r in seinem C o m p e n d i u m , Locus X X X (132 f.).
,Sei wohlgemut, о Christenseel'
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als unwahr. Umgekehrt erweist das eschatologische Heil der Gläubigen die Eingangsthese als wahr und das Leid der Gläubigen als etwas, das nur scheinbar Folge und Merkzeichen von Gottes Verwerfung ist. Damit ist auch die Seite des Konflikts geklärt, die Gottes Providenz und Prädestination betrifft. Gott gestaltet sie also nicht so, daß die von ihm Erwählten im irdischen Leben nur Gutes empfangen. Gott läßt Übel nicht nur überhaupt zu (inwieweit Gott Übel nur zuläßt oder auch schickt, wird in diesem Lied offengelassen), er läßt auch die Erwählten unter ihnen leiden. Dies hebt seinen Erwählungsentschluß nicht auf. Schließlich ist damit entschieden, daß Gottes Handeln in dieser Welt nicht mit den Mitteln der Welt verstehbar ist. Sein Sinn ist nicht etwas, was „vor Augen" liegt. Das Leid läßt keinen Rückschluß darauf zu, daß der Leidende von Gott verworfen sei, das Glück nicht, daß der Glückliche erwählt sei. Aus anderen Liedern Paul Gerhardts geht, wie gezeigt werden wird, hervor, daß dieses Verhältnis aber auch nicht umkehrbar ist, so daß der Leidende mit Gewißheit erwählt, der Glückliche bestimmt verworfen wäre. Leid kann auch Folge von Sünde sein, und für den, der sich dadurch nicht zur Umkehr bewegen läßt, ist es dann ein Merkzeichen der Verdammnis. Der Gläubige kann auch irdisches Glück erbitten, erwarten und empfangen 5 7 . Mithin ist Gottes Handeln - genauer: die Absicht von Gottes Handeln - in dieser Welt verborgen. Sichere Aussagen kann nur der Glaubende machen, und zwar nur aufgrund seines Glaubens und nur im Rückbezug auf sich selbst. Inwieweit der Glaubende auch noch über andere Menschen Aussagen machen kann, warum und mit welcher Absicht Gott an ihnen handelt, das wird noch geklärt werden müssen 58 . In der Lösung des Konflikts zwischen den beiden Thesen sind noch folgende Gedanken impliziert: der Mensch wird vor die Frage gestellt, nach welchem Gut er sich orientieren soll: Entweder er orientiert sich nach Gott als dem höchsten Gut - dem höchsten Gut auch im zeitlichen Sinne, d. h. dem einzig bleibenden Gut. Dessen Gut-Sein erfährt, d. h. genießt er freilich in der Zeitlichkeit nicht im vollen Umfang, sondern erst in der Ewigkeit, ja, er kann, trotz der Orientierung auf dieses Gut hin, sogar in der Welt leiden. Oder er orientiert sich nach den geschaffenen Gütern, deren Besitz weltliches Glück darstellt. Diese kann er in ihrem vollen Umfang hier und jetzt genießen - und zwar, wie dieses Lied sagt, besser, wenn man ganz auf diese Güter hin orientiert ist, als wenn man sich auf Gott ausrichtet. Sie sind das, was vor Augen liegt und als Sichtbares mit der Qualität „schön" oder „herrlich" bezeichnet werden kann (2,4). Allerdings vergehen diese Güter.
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S.u. S. 136. S. u. S. 289 f.
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Es ist zu beachten, d a ß bei Gerhardt die Vanitas-Darstellung immer als Teil, als die eine Seite dieser Orientierungsfrage zu sehen ist. Die Gegenüberstellung von vergänglichem und unvergänglichem G u t stellt den Menschen vor die Entscheidungsfrage, nach welchem er sich orientieren will, und stellt einen Aufruf dar, sich nach dem unvergänglichen Gut, also nach G o t t hin zu orientieren 5 9 . Dieser Umgang mit dem Vanitas-Motiv entspricht demjenigen, der in der Dichtung des 17. Jahrhunderts üblich war. Ferdinand van Ingen hat dies bei der Strukturierung des ,Memento mori' aufgewiesen. Die Erinnerung an die Flüchtigkeit - auch an die Wertlosigkeit - des menschlichen Lebens dient dazu, zu einer Lebensgestaltung „sub specie aeternitatis" zu ermahnen. Dem flüchtigen und geringen Gut des menschlichen Lebens wird dabei das höchste G u t entgegengehalten. Wenn dabei die Darstellung des vergänglichen Gutes mehr Raum einnimmt, dann hat dies vorwiegend den Zweck, ein größeres Pathos zu erzeugen, das die didaktische (besser: paideutische) Funktion der gesamten Darlegung unterstützt. Es geht dabei also nicht um das Ausmalen einer angeblich im Barock vorherrschenden pessimistischen Stimmung 6 0 . Die Aufforderung zur Orientierung nach Gott f ü h r t hin zu einem exklusiven Verhältnis zwischen dem gläubigen Menschen und Gott: „Wenn ich nur dich . . . / Behalt . . . so acht ichs nicht, wenn gleich zerfällt / Das große Weltgebäude." (Str. 13,1-4), usw. D e m entspricht, d a ß der einzige, auf dessen Hilfe der Gläubige uneingeschränkt zählen kann, eben G o t t ist: „Es hat das rechte Israel / Noch dennoch G o t t zum Freunde." (1,3 f.) wenn auch die ganze Welt dagegen steht. Es zählt f ü r den Gläubigen einzig das Ansehen, das er bei G o t t hat (11,5-7). Dieses nach außen scharf abgegrenzte Verhältnis gestaltet sich nach innen als eine Seinsgemeinschaft Gottes und der christlichen Seele. Ich spreche darum von „Seinsgemeinschaft", weil sie nicht nur etwas von diesen
w Siehe z.B. CS 1, 4,6-8; 4,5; 12,7; 18, 4,5 f.; 37,7 f.; 44,14; 53,13; 72,3-6; 74,9; 76,7-12; 80,14; 82;3; 83,9 f.; 87,9; 94,4;12-14; 95,5-10; 99, 1,9 f. (der Kehrvers „Alles Ding hat seine Zeit / Gottes Lieb in Ewigkeit."); 105,4; 108,2 ff.; 112,3 f.; 114,10-13; 120,9 f. - CHROTAN BuNNERS hat in seinen vielfach erhellenden Ausführungen über den Begriff „Sinn(-e)" bei Paul Gerhardt aufgezeigt, daß dieser Begriff u. a. dazu dient, den Menschen als ein Wesen zu charakterisieren, das auf etwas „sinnt", mithin nach Orientierung sucht. Siehe ζ. B. CS 37, 5,1-3; BuNNERS, Paul Gerhardt, 155 ff. 60 VAN INGEN, Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, vor allem 67-102; zur größeren Länge der Vanitas-Darstellung: 87, Anm. 57, zur Funktion derselben: 306. Keine wesentliche Abhängigkeit vom dreißigjährigen Krieg: 320, keine Pessimismus-Stimmung: 324 ff. - Ein Beispiel bietet das Einsamkeits-Sonett des Gryphius: „Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh'", Z.6 - „ / diß . . . Ist schön und fruchtbar m i r / der eigentlich e r k a n t / D a ß alles/ ohn ein Geist/ den Gott selbst h ä l t / muß wancken.", Ζ. 13 f., GA 1,68. CONRADY, 277-290, der freilich noch von „Pessimismus" spricht, weist zutreffend darauf hin, daß die ganze Vanitas-Topik nicht erst im Barock aufgekommen, sondern aus dem Mittelalter als allgemeingültige Lehre überkommen ist, woraus gefolgert werden muß, daß der Dreißigjährige Krieg sie nicht hervorgebracht haben kann.
,Sei wohlgemut, о ChristenseeP
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beiden umfaßt, sondern sie beide ganz. Diese Seinsgemeinschaft wird auf vielfache Weise umschrieben: durch die Beziehung von Glaube, H o f f n u n g (1,5) und Liebe (6,2 f.), umgekehrt durch die Freundschaft Gottes (1,4), durch ein Geliebt-Werden von G o t t (1,5; 12,2) und Empfangen von Gaben Gottes, das kein äußerliches, sondern ein Empfangen des Herzens ist (1,6 f.). Die Herzlichkeit dieser Beziehung wird auch noch an anderen Stellen (6,2; 12,1) hervorgehoben, die Liebe Gottes in diesem Zusammenhang süß genannt (12,2). Von besonderem Gewicht ist die Bezeichnung dieser Beziehung zu G o t t als Kindschaft; genau dieses Prädikat ist zwischen den Vertretern der beiden Thesen umstritten (4,7). Des weiteren wird diese Liebesbeziehung so aufgefaßt, d a ß die beiden Liebenden einander gehören: der Mensch gehört G o t t (6,3 f.), G o t t gehört dem Menschen (14,6 f.). Das Beieinander der Kommunikation der christlichen Seele mit G o t t und ihrer Kommunikation mit sich selbst, bzw. auch des Sprechens von G o t t und von sich in den Gedichten Gerhardts, ist der Vollzug dieser Seinsgemeinschaft 6 1 . Betrachten wir, wie Paul G e r h a r d t diesen vielseitigen Gedankenkomplex in dem zweiten Teil seines Gedichts (Str. 9 - 1 6 ) entfaltet. Die Auflösung des Problems, die Erkenntnis d e r Wahrheit durch die Offenbarung, wird von der Seite her angegangen, d a ß das letztgültige Geschick der Gottlosen erkannt wird (Str. 9 f.). In Str. 11-16 wird dann die Schlußfolgerung daraus zur Sprache gebracht, die Gottes vorsehendes und erwählendes Handeln betrifft - „drum . . . " , Str. 11,1. U n d zwar wird sie in der Weise zur Sprache gebracht, d a ß die gläubige Seele, die Gegenstand dieses Handelns ist, dies von ihrem Standpunkt aus zur Sprache bringt. Dieses Reden von Gottes Vorsehung wird darum zu einem Bekenntnis der Zuversicht des Gläubigen. So bekennt sie in Str. 11 ihre Entscheidung in der Orientierungsfrage: sie hat sich nach G o t t orientiert. Die Anrede an Gott, in 11,6 f. begonnen, wird aufgrund dessen, Str. 12, zu einem Kompendium der Lehre de Providentia und de praedestinatione in der Weise, daß wesentliche Begriffe derselben dort einem angeredeten Du, dem Du Gottes, zugesprochen werden: das conseruare vor den Anfechtungen, hier als Heilen ihrer Wunden (12,1 f.), das impedire mala, verbunden mit einem permittere des Übels, das aber ein bestimmtes M a ß nicht überschreiten darf 6 2 (12,3 f.), das gubernare (12,5), und als Ziel all dieser Handlungen das glorificare (12,6 f.), als E n d p u n k t des O r d o salutis. Was G e r h a r d t hier bringt, ist der geraffte Vollzug des Syllogismus practicus, von dem H u t t e r spricht 6 3 . Die dort im Obersatz genannten Eigenschaften Gottes werden als Lobpreis Gott zugesprochen und gleich verbunden mit dem Bekenntnis des Vertrauens auf G o t t und dem Bekenntnis der Zuversicht, d a ß G o t t auch f ü r den Sprecher 61 62 ω
Zum Begriff ,Seinsgemeinschaft' s.u. S. 162, Anm. 237. Hutter, Comp. VII,2 (26,26 f.). S. o. S. 67 ff.
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selber einen solchen Gebrauch von seinen Eigenschaften mache, daß er zuversichtlich sein könne. Vom Stichwort des glorißcare her kommt Gerhardt auf die letzten Dinge zu sprechen. Auf die himmlische Herrlichkeit läuft Gottes Vorsehungswalten hinaus. Aufgrund ihrer Gewißheit hat das Vertrauen des Menschen auf Gottes Providenz Bestand: Str. 13 f. Dieses Bekenntnis der Zuversicht bis ins Ende der Welt hinein, das über Str. 11-14 entwickelt wurde, wird dann der eigentliche Prüfstein im Streit zwischen den beiden Thesen. Denn die Vorsehungslehre in dieser Gestalt, daß ein Mensch sie als Sorge Gottes für ihn auf sich selbst bezieht, kann der Vertreter der gegnerischen These nicht zur Sprache bringen: „Das kann die gottvergessne Rott / Mit Wahrheit nimmer sagen;" (Str. 15,2). So wird deutlich, daß das Verhältnis zwischen den beiden Parteien sich verkehren wird: die Glücklichen und Hochgeachteten werden zum Spott, die Verachteten werden glücklich sein (Str. 15,3-7). Str. 16 zieht zum Abschluß die Summe daraus. Der entscheidende Begriff der Zuversicht wird nun genannt (16,1). Der Sprecher nimmt die Aufforderung, die er sich selber zu Beginn des Liedes gegeben hat, an und entwirft mit diesem Entschluß eine Lebensplanung, die bis an sein Ende gelten soll, an welchem er seine Verherrlichung erwartet (16,2-4) und bis zu dem er sich in der Haltung des Stille-Ruhens und des Lobpreises der weisen Vorsehung Gottes überläßt (16,5-7). Alle wesentlichen Motive und Merkmale dieser Psalmennachdichtung Paul Gerhardts sind, explizit oder implizit, schon in dem Psalm enthalten. Die neuere Exegese unterscheidet in dem , Klagepsalm des Einzelnen' mehrere Teile, die in veränderten Konstellationen auch in anderen Gattungen von Psalmen auftauchen 6 4 : Klage - im Ps 73 V.3-16 - , Bitte - hier implizit in dem Gang ins Heiligtum, V.17, Bekenntnis der Zuversicht - V.1.23-28b - und Gelübde des Lobs - V.28c. All dies übernimmt Gerhardt. Dabei drückt er den in dem Bekenntnis der Zuversicht, V.l, beschlossenen tröstlichen Gehalt in einem eigenen Trostzuspruch aus, mit welchem er sein Lied einleitet. In der Begrifflichkeit der Lehre von den fünf genera dicendi gesagt, beginnt er im genus consolatorium. Das Corpus des Liedes steht jedoch im genus didascalium und im genus elenchticum. Es stellt nämlich eine Disputation über zwei entgegengesetzte Lehrthesen dar, von welchen die eine widerlegt wird. Dieser Lehrstreit betrifft material zwei Komplexe von Loci: zum einen den Komplex der Providenz- und der Prädestinationslehre, zum anderen die Lehre von der Kirche bzw. vom Leid des Christen. Dabei ist noch der formale Aspekt wesentlich, nach welcher Erkenntnisgrundlage der Streit entschieden werden kann, welche Erkenntnisgrundlagen also diese Lehren, insbesondere die von der Vorsehung, haben. Damit ist das Problem der Deutung der Geschichte verbunden. "
WESTERMANN, 1 1 6 ff.
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Eine Eigentümlichkeit der Darstellung dieses Lehrstreits ist, daß die Situation, in welcher er stattfindet, selber in die Darstellung mithineingenommen wird: Der Disputierende ist in seiner Selbsteinschätzung selber von dem Ausgang dieser Disputation betroffen. Er ist als Disputierender zugleich Angefochtener und Trostbedürftiger. Die Darstellung der Disputation nimmt den Klageteil des Psalmes ein. Die Auflösung der Streitfrage ist zugleich ein wesentlicher Grund seines Trostes. Dieser Trost hat zwei Momente: die Seinsgemeinschaft des Angefochtenen mit Gott und die eschatologische Aussicht, daß der Angefochtene in die Herrlichkeit seines Gottes aufgenommen werden wird. In Entsprechung zu Hutters Behandlung des epikureischen Dilemmas wird also die durch das Leiden gestellte Frage eschatologisch beantwortet. Das andere Moment des Trostes ist aber die Seinsgemeinschaft, die selber Voraussetzung der eschatologischen Antwort ist und wiederum durch diese bekräftigt wird. Zu dieser Seinsgemeinschaft gehört die Orientierung des Menschen auf Gott als sein höchstes Gut, welches dem vergänglichen, der Vanitas unterworfenen Gut der Welt gegenübergestellt wird, das Sein also dem Schein. Durch diese Orientierung kommt der Christ in ein exklusives Verhältnis zu Gott. Diesen inhaltlichen Motiven entsprechen nun bestimmte Merkmale der Gestaltung des Liedes als Rede. Der Seinsgemeinschaft entsprechen die Kommunikationsformen der Rede an Gott und des Selbstgespräches. In diese Formen wird dann auch die Darstellung und Widerlegung von Lehre aufgenommen. Dabei wird es geradezu zu einem Kriterium für die Wahrheit einer allgemein formulierten These, ob derjenige, der sie spricht, zugleich in Wahrheit die Aussagen der Providenzlehre pro me bezogen in der Anrede an Gott aussprechen kann. Letzteres ist aber nichts anderes als das Bekenntnis der eigenen Zuversicht. Aus dieser resultiert eine bestimmte Lebenseinstellung, ein Lebensentwurf, der abschließend als Lobgelübde formuliert wird.
4. Die Lieder vom christlichen Leben und Wandel in Übersicht 4.1. Die Bitte um gelingendes
Leben
Die in ,Sei wohlgemut, о Christenseel' aufgezeigten Motive und Merkmale werden in den anderen Liedern der Rubrik ,Vom christlichen Leben und Wandel' aufgenommen, teilweise weiter entfaltet und ergänzt 65 . 65 Diese Merkmale treffen weitgehend auch auf die Lieder anderer Verfasser in der P.p.m. 1653 zu, so etwa von Heermann FT 1,319 (in der P.p.m. Nr. 324); 320 (Nr. 302); 355 (Nr. 334), von Johann Franck FT IV,98 (Nr. 304); 99 (Nr. 305), von Ringwald W IV,1420 (Nr. 333); 1521 (Nr. 337), das Lied W 111,167 (Nr. 326 unter dem Namen Ringwalds, eine
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Voraussetzung für die Problematik, die jenes Lied beschäftigt, ist die Behauptung, daß Gott sich überhaupt vorsehend dieser Welt annimmt. Diese These wird vom singenden Subjekt auf sich bezogen und nimmt dadurch die Gestalt einer Verheißung an: Wer auf diese Verheißung damit antwortet, daß er sich Gott anvertraut, der wird von Gottes Vorsehung so geleitet werden, daß er sein Leben als gelingend betrachten kann. Es wird also ein Ubergang vom genus didascalium ins genus consolatorium vollzogen; das in der Lehre Ausgesagte wird für den, der sie glaubt, zur Gabe, die er empfängt. Im strengen Sinne tröstlichen Gehalt gewinnt diese Verheißung dann angesichts des Leidens und der Sünde. In klassisch einfacher Form findet sich die eine Verheißung für den Gläubigen bergende These von Gottes Vorsehung in Gerhardts Nachdichtung des Ps 1, ,Wohl dem Menschen, der nicht wandelt / In gottloser Menschen Rat!', CS 61. Die „Summa" dieses Liedes lautet: „Gott liebt alle Frommen, / Und wer bös ist, muß umkommen.", Str. 4,7 f. Diese Liebe Gottes zeigt sich dergestalt: „Gott gibt Glück zu seinen Taten, / Was er macht, muß wohlgeraten.", Str. 3,7 f. Genau diese Behauptung wird durch das Leid des Frommen und das Glück des Gottlosen in Frage gestellt. Bevor die Entfaltung dieses Problems weiter dargestellt wird, soll aber zunächst einmal aufgezeigt werden, welche Aspekte allein schon mit dieser These von Gottes Providenz und der damit verbundenen Verheißung gegeben sind. Eine erste Folgerung daraus ist nämlich, daß der Mensch sich dann an Gott wenden kann mit der Bitte, daß sein Leben gelingen möge. Diese Bitte nimmt in vielen Liedern Gerhardts breiten Raum ein. So heißt es in einer Paraphrase von Prov 30,7-9: „Zweierlei bitt ich von dir, . . . / Dir, der alles reichlich gibt, / Was uns dient und dir beliebt;", CS 54, 1,1.3 f. Was da erbeten wird, ist, nach dem Fernhalten von Lüge und Abgötterei, gerade das rechte M a ß zwischen Armut und Reichtum, so daß man gleichermaßen von der Gefahr der Gottlosigkeit der weltlich Glücklichen entfernt ist wie von der Not, die den Armen dazu bringen kann, Gottes Gebote zu brechen. Das Thema von Ps 1 - CS 61 wird variiert in den Psalmen-Nachdichtungen CS 62, , H ö r t an ihr Völker, hört doch an', nach Ps 49, und CS 63, ,Wohl dem, der den Herren scheuet', nach Ps 112. Dabei wird die Wahrheit dieser Verheißung in jenem Lied ähnlich wie in CS 89 erst mit dem Tode des Gottlosen offenbar, der wie ein Vieh von hinnen fährt, während in CS 63 schon das irdische Glück des Frommen als Beweis aufgeführt werden kann: „Wer den Höchsten liebt und ehrt / Wird erfahren, wie sich mehrt / Alles, was in seinem Leben / Ihm vom Himmel ist gegeben. / / Seine Kinder werden stehen / Wie die Rosen in anonyme Nachdichtung des Liedes W 111,166 von dem Wiedertäufer Georg Grüenwald), schließlich von Luther W 111,8 (Nr. 330) und unter seinem Namen, aber wohl von Lazarus Spengler W 111,72 (Nr. 329).
D i e L i e d e r v o m c h r i s t l i c h e n L e b e n u n d W a n d e l in Ü b e r s i c h t
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der Blüt", usw. (Str. 1,5 - 2,2). Allerdings wird dieses Glück auch in der Weise entfaltet (Str. 3;5 f.), daß der Fromme in den Stürmen des Unglücks standhaft bleibt; von seinem Leid wird hier freilich nicht ausdrücklich gesprochen. Eine Vertiefung und Verinnerlichung der Bitte an den vorsehenden und fürsorgenden Gott stellt die Bitte um die Seinsgemeinschaft mit ihm dar, wie sie in den Liedern ,Ich danke dir demütiglich', CS 59, und , Ο Jesu Christ, mein schönstes Licht', CS 60, vorgetragen wird. Beide sind nach Gebeten von Johann Arndt gedichtet, dem ,Gebet um zeitliche und ewige Wohlfahrt' und dem ,Gebet um die Liebe Christi' 66 . Im Lied CS 59 werden mehrere Stationen des Ordo salutis, wie er in dem Prädestinationsartikel der Konkordienformel aufgeführt wird, durchgegangen. In den ersten beiden Strophen dankt der Beter für das Werk der redemtio: „Ich danke dir demütiglich / . . . daß du . . . deinen Sohn / . . . Uns in die Welt gesendet.", Str. 1,1 f.4.6. Diese Tat Gottes wird in Str. 2 beschrieben. Die vocatio, die nächste Station, wird nun nicht eigens in Worte gefaßt, wohl aber das Verhalten des Menschen, welcher der vocatio Folge leistet. Er bittet: „Herzlieber Vater, nimm mich an / In diesen edlen Orden, / Der durch dies Blut / Gerecht und gut / Und ewig selig worden.", Str. 3,2-6. Dies ist also eine Bitte um die Eingliederung in die Kirche, eine Bitte um die Zueignung des Erlösungswerkes, mithin die Bitte um iustificatio. Es wird dabei deutlich, daß in der Rechtfertigung der ganze weitere Weg mit eingeschlossen ist bis hin in die Ewigkeit. Mit den Worten „Laß meines Glaubens Aug und H a n d / Ergreifen dieses werte Pfand" (4,2 f.) - nämlich Christi Blut - wird ausgesagt, daß der Glaube Instrumentalursache der Rechtfertigung ist 67 . Daran schließt folgerichtig die sanctificatio an, die mit der mortificatio carnis, als ihrer negativen Seite, verbunden ist: „Bereite meiner Seelen Haus, / Wirf allen Kot und Unrat aus," (5,1 f.). Die Ausführungen darüber sind verwoben mit der Bitte um eine Seinsgemeinschaft mit Gott, welche von den lutherischen Schultheologen seiner Zeit eine unio mystica genannt werden würde 6 8 : „Wann ich dich hab, ist alles mein; / Du kannst nicht ohne Gaben sein," (6,1 f.). Die Bitten, die an den fürsorgenden Gott gerichtet werden, gipfeln also in dieser Bitte um ihn selbst. Aus dem Bewußtsein dieser Verbundenheit mit Gott resultiert dann auch die Gewißheit der conservatio electorum: „Die Frommen sind dir, Herr, bewußt; / Du bist ihr und sie deine Lust / Und werden nicht zuschanden," (10,1-3). Diese Gewißheit hält auch dem Vergleich mit dem größeren irdischen Glück der Gottlosen stand (Str. 9) und " Arndt, Paradiesgärtlein 111,17; 11,5, abgedruckt in der Paul-Gerhardt-Ausgabe hg. v. Kemp, 37 f. u. 35. 67 Vgl. Hutter, Comp. XII, 11 (55). 68 S . o . S. 54, bei Anm. 121.
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wird in den folgenden Strophen noch vielfach ausgelegt. Das Lied endet - wie die meisten Lieder Gerhardts - mit dem Ausblick auf die perseverantia usque ad finem und die glorificatio: „Treib, Herr, die böse Höllenschar / . . . Daß deine Herd / Hie zeitlich werd / Und ewig dort erhalten." (16,2.4-6). Johann Arndt, dem sich Paul Gerhardt hier in allen wesentlichen Aussagen anschließt, versteht also unter „zeitlicher und ewiger Wohlfahrt", daß das Wirken von Gottes Erwählungs- und Vorsehungswalten, gegliedert nach dem Muster der Konkordienformel, Gegenstand menschlicher Aneignung wird. Zwischen dem Hauptwortführer der lutherischen Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts und diesem Hauptdokument lutherischer offizieller Theologie dieser Zeit besteht, jedenfalls in diesem, von Paul Gerhardt ausgewählten Stück, keinerlei Gegensatz 69 . Ahnlich verhält es sich in der zweiten Arndt-Nachdichtung, CS 60, in welcher nicht Gott der Vater, sondern Jesus Christus angesprochen wird. Er ist konkret Gott in der gegenseitigen Gemeinschaft mit dem Gläubigen und die entscheidende Gabe, in der alles enthalten ist, was der Mensch für sein Leben braucht. Dies wird wiederum in der Stufenfolge der FC ausgedrückt. Die beiden letzten Strophen lauten: sanctificatio
poenitentia
conservatio perseverantia
glorificatio
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15. Laß meinen Stand, darin ich steh, Herr, deine Liebe zieren Und, w o ich etwa irre geh, Alsbald zurechte führen; Laß sie mir allzeit guten Rat Und gute Werke lehren, Steuern, wehren Der Sünd, und nach der Tat Bald wieder mich bekehren! 16. Laß sie sein meine Freud im Leid, In Schwachheit mein Vermögen, Und wann ich nach vollbrachter Zeit Mich soll zur Ruhe legen, Alsdann laß deine Liebestreu, Herr Jesu, bei mir stehen, Luft zuwehen, D a ß ich getrost und frei M ö g in dein Reich eingehen!
Auch die von MAX KOCH am Schluß seiner Untersuchung, 199, aufgestellte These, das Dogma vom ordo salutis sei für die Frömmigkeit unbrauchbar, wird durch diesen Befund nicht bestätigt. - Mit diesem Fazit soll aber keine Beantwortung der Frage getroffen werden, ob Arndt selbst als ein Theologe eingeschätzt werden soll, der im wesentlichen mit der lutherischen Theologie in Einklang steht, oder nicht. Es geht hier lediglich um Arndt, wie er von Paul Gerhardt rezipiert worden ist.
Die Lieder vom christlichen Leben und Wandel in Übersicht
4.2. Sich Gottes gubernatio
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Überlassen
Wenn der Mensch auf die Erkenntnis von Gottes Providenz hin seine Verheißung annimmt, daß er ihn mit allem fürs Leben Nötigen versorge und ihn darum bittet, dann ist damit ein Zweites verbunden. Parallel zum genus consolatorium - der Zusage von Gottes Verheißung - kommt man ins genus paideuticum: Es geht darum, daß der Mensch damit zugleich Gottes Weltregiment, seine gubernatio, anerkennt, welche gemeinsam mit seiner conservatio die Gestalt seiner Providenz ausmacht. Die Führung des eigenen Lebens wird also - letztlich - Gott überlassen. Sprachlich dargestellt wird dies in einem direkten Ubergang von der Lehre im genus didascalium zur Ermahnung im genus paideuticum·. Gott führt alles, auch dein Leben - überlaß ihm deine Lebensführung! 7 0 Paul Gerhardt hat dies in klassischer Weise in seiner Paraphrase von Ps 37,5 zum Ausdruck gebracht (CS 84, l) 7 1 : Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreusten Pflege Des, der den Himmel lenkt: Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann.
Gerhardt vollzieht hier einen Schluß von der Providentia generalis auf die Providentia peculiaris, die derjenige, den er anspricht, für sich persönlich in Anspruch nehmen soll. Bezeichnend ist auch die Stelle „Bist du doch nicht Regente, / Der alles führen soll; / Gott sitzt im Regimente / Und führet alles wohl.", Str. 7,5-8. Damit ist schon angedeutet, daß dem mit diesen Worten geratenen Verhalten eine andere Möglichkeit der menschlichen Lebensführung entgegensteht, nämlich die, daß der Mensch absolut sein Leben selber führt. Von dieser Möglichkeit abratend, kommt Gerhardt in einigen seiner Lieder ins genus epanorthoticum und entwickelt dabei einen Lehrstreit zwischen den sich in beiden Lebensweisen praktisch auswirkenden Thesen. Auf der einen Seite die These von Gottes Regiment, welchem das Leben des Menschen untergeordnet ist, auf der anderen Seite die These 70
Außer an den im Folgenden besprochenen Stellen kommt dieses Motiv auch noch vor:
C S 37, 9,6-10; 50,4; 73,1.10-12; 89,16; 91,17; 94,1. 71
ELKE AXMACHER, Paul Gerhardt, 98-100, hat in ihrer Analyse dieses Liedes dessen Ubereinstimmung mit dem Locus de Providentia bis in einzelne Termini hinein aufgewiesen. Ihre Charakterisierung der Sprechweise dieses Liedes als „direkt applizierend" (100) im Unterschied zu der darstellenden Rede Johann Gerhards in dem Usus-Teil dieses Locus (Loci, Bd. 2,47) kann durch die Erinnerung an die Lehre von den fünf genera dicendi historisch verifiziert und präzisiert werden.
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Die Transformation theologischer Lehre
einer menschlichen Autonomie, nach welcher jeder Mensch vollständig und letztgültig f ü r sein Leben Sorge tragen muß. In hoher Differenziertheit hat G e r h a r d t diesen Streit in seinem Lied , D u bist ein Mensch, das weißt du wohl', C S 75, ausgetragen 7 2 . E s hat in der Ausgabe J o h a n n G e o r g Ebelings (dort N r . 36) den bezeichnenden Titel befunden: „ S o r g und sorg auch nicht zu viel / E s geschieht doch was G o t t haben wil". G e r h a r d t leitet das Lied mit einer Zurechtweisung ein, Str. 1: Du bist ein Mensch, das weißt du wohl, Was strebst du denn nach Dingen, Die Gott, der Höchst, alleine soll Und kann zu Werke bringen? Du fährst mit deinem Witz und Sinn Durch so viel tausend Sorgen hin Und denkst: wie wills auf Erden Doch endlich mit mir werden? D a m i t ist die zu widerlegende T h e s e genannt. In abgewandelter Formulierung bringt er sie in Str. 9: Noch dennoch soll dein Angesicht Dein ganzes Leben führen; Du traust und glaubest weiter nicht, Als was dein Augen spüren; Was du beginnst, da soll allein Dein Kopf dein Licht und Meister sein, Was der nicht auserkoren, Das hältst du für verloren. In der ersten Formulierung dieser T h e s e hat G e r h a r d t schon begonnen, seine Gegenargumente einzufädeln. Sie lauten: a) Was du beanspruchst, steht allein Gott zu, nicht dir als einem Menschen. Du bringst dich damit unter Gottes Zorn. b) Diese Lebenseinstellung bringt dir nur Sorge, und schließlich: c) Sie erweist sich als unnütz: „Es ist umsonst. Du wirst fürwahr / Mit allem deinen Dichten / Auch nicht ein einzges kleinstes Haar / In aller Welt ausrichten" usw. (Str. 2,1-4). D a s Leid in diesem Zusammenhang ist gerade Folge dieser falschen Lebensplanung: „Wie o f t bist du in große N o t / Durch eignen Willen kommen . . . " , Str. 11,1 ff. 72 In anderen Liedern, etwa in .Befiehl du deine Wege', wird auch das Sorgen-Motiv behandelt, nur nicht so klar argumentativ strukturiert.
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Diesen Merkmalen der verworfenen Lebenseinstellung sind diejenigen der von Gerhardt propagierten genau entgegengesetzt, Str. 3,1-4: a) Willst du was tun, was Gott gefällt c) Und dir zum Heil gedeihet, b) So wirf dein Sorgen auf den Held, Den Erd und Himmel scheuet.
Im folgenden, Str. 4-8, wird gezeigt, daß Gott tatsächlich solche Eigenschaften zukommen, daß man ihm tatsächlich die Sorge für das eigene Dasein überlassen kann. Es wird nämlich alles namhaft gemacht, was Gott bereits, bevor der jeweilige Mensch selbst Sorge für sich hat übernehmen können, aus Sorge für ihn bereitgestellt hat: sein Werk als Schöpfer, Erhalter und Lenker, aber auch sein Erlösungswerk (4,5). Doch auch angesichts des eigenen Sorgens des Menschen erweist sich Gott als der Überlegene. Während der Mensch dadurch Böses anrichtet (11,1 ff.), lenkt Gott es zum Guten um 73 : „Der aber, der uns ewig liebt / Macht gut, was wir verwirren," usw. (12,1 f.).
4.3. Gottes Hilfe bei der menschlichen
Beschlußfassung
Nun ist das Ganze nicht so aufzufassen, daß der Mensch schlechtweg gar keine Sorge für sich wahrnehmen sollte. Freilich wirken Gerhardts Aussagen - auf das heutige Gemüt - oft gleichsam „quietistisch" - ohne daß sich eine Verbindung zu der „quietistischen" Mystik seiner Zeit herstellen ließe - , und man hat ihm in der T a t auch Mangel an Aktivität, Verzicht auf Welteroberung zugunsten kleinbürgerlicher Zufriedenheit usw. vorgeworfen 7 4 . Fürs erste ist dabei darauf hinzuweisen, daß Gerhardt es durchaus billigt, daß der Mensch von seiner Fähigkeit, Entschlüsse zu fassen und zu handeln, Gebrauch macht. Daß er dies immer in irgendeiner Weise macht, ist vorausgesetzt. Worauf es Gerhardt ankommt, ist, daß der Mensch dies in der Weise macht, daß er Gott um Rat bittet für seinen eigenen Ratschluß. Diese Bitte bzw. die Ermahnung zu dieser Bitte ist die Form, in welcher Gerhardt auf praktische Weise von dem concursus Gottes mit dem Wollen und Handeln des Menschen redet. Dies ist das Hauptthema mehrerer Lieder, nämlich , Ο Gott, mein Schöpfer, edler Fürst', CS 55, nach n D i e directio mali, bei Hutter, C o m p . V I I , 2 ( 2 6 , 2 5 - 2 9 ) : „actiones h o m i n u m . . . ita permittit, ut tarnen ratione finis eas dirigat, etiam contra voluntatem D i a b o l i et impiorum, ad suam gloriam, et Electorum salutem". U PETRICH, 2 6 3 f. D a s Kriterium seiner Beurteilung scheint von ALBRECHT RLTSCHL übern o m m e n z u sein. Vgl. die ähnliche E i n s c h ä t z u n g bei VIERING, 5 1 5 - 5 3 3 , der den Lutheranern, die bestenfalls im Ertragen H e l d e n seien, die Calvinisten gegenüberstellt, und d a g e g e n BuNNERS' Zurechtstellung, Paul Gerhardt, 191.
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D i e Transformation theologischer Lehre
Sir 23,1-6, ,Ich weiß mein Gott, daß all mein Tun', CS 58, und ,Herr, aller Weisheit Quell und Grund', CS 6475. Das zweite dieser Lieder, CS 58, bei Ebeling (Nr. 30) überschrieben ,Umb Glück und Segen zu allem Christlichen Thun und Vorhaben', stellt sich schon im Eingangsvers als eine Paraphrase von Jer 10,23 vor: „Ich weiß, Herr, daß des Menschen Tun nicht in seiner Gewalt steht, und es liegt in niemandes Macht, wie er wandle oder seinen Gang richte." Diese biblische Aussage ist nicht nur lediglich ein Beleg für Gottes Providenz 76 , sondern in der gelehrten Theologie bei Melanchthon 77 und Hutter 7 8 insbesondere der Ort, wo im Zusammenhang der Providenzlehre die Unterscheidung zwischen der Wahl des Willens und dem Fall des Ereignisses herausgearbeitet wird. Gott läßt dem Menschen die Wahl des Willens frei, bestimmt aber das Ereigniswerden des Gewollten. Melanchthon, der stets Lehre und praktische Anwendung miteinander verbunden vorträgt, hebt dabei hervor, daß dieser Sachverhalt auch einen Trost enthalte. Diesen Sachverhalt einzusehen entlaste den Menschen nämlich davon, die volle Verantwortung für die Konsequenzen seiner Vorhaben zu tragen, die von ihm alleine doch gar nicht recht gestaltet werden können. Dem Christen ist es möglich, zu Gott zu fliehen und von ihm Leitung und Hilfe zu erbitten. Genau dies führt Paul Gerhardt in seinem Lied durch. Dabei bittet der Mensch nicht nur um Gottes Hilfe bei der Verwirklichung seines Vorhabens, sondern konsequenterweise darum, daß er sich schon bei der Beschlußfassung für das richtige Vorhaben entscheidet. Damit bereits die Wahl des Willens von Gott geleitet ist, muß der Mensch sich bittend an Gott wenden. Gerhardt entwickelt dies so, indem er zuerst, Str. 2-5, die entsprechende Gegenthese widerlegt, die auf der Autonomie-Haltung des Menschen beruht. Widerlegt wird diese These durch Exempel, daß menschliches Planen scheitert, wenn Gott nicht zuerst um Rat gefragt wurde. Die Konsequenz daraus ist, daß Gott gebeten werden muß: „Drum, lieber Vater, . . . / Vernimm mein Wort . . S t r . 6,1.4. Bei dieser Bitte handelt es sich nun darum, daß der endliche Mensch Anteil erhält an dem Ratschluß der unendlichen Weisheit Gottes. Dies drückt Gerhardt in einem emblematischen Bild aus (Str. 7): Verleihe mir das edle Licht, D a s sich v o n d e i n e m A n g e s i c h t In f r o m m e Seelen strecket 75
Dieses Motiv begegnet u. a. auch noch CS 35,9; 37, 5,4-10; 39,7-9 (insbes. 8); 47, 6,6; 47, 8,2; 60, 15,1-6. 76 Hutter, Comp. VII,1 (26,12 f.), worauf AXMACHER ZU Beginn ihrer erhellenden Analyse dieses Lieds, Paul Gerhardt, 100-104, hinweist. 77 Melanchthon, Loci, St.A.II/1, 257. 78 Hutter, Loci, 255. S. o. S. 45, bei Anm. 83.
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Das Problem des Leids Und da der rechten Weisheit Kraft Durch deine Kraft erwecket.
In dem Bild des Lichtes wird das ausgedrückt, worum es geht, nämlich eine Verbindung zwischen dem Höchsten und dem irdischen Menschen, der unendlich weit von ihm, der Sonne, entfernt ist und doch von ihr erhellt wird 7 9 . Dies wird im folgenden übersetzt, „Gib mir Verstand aus deiner H ö h " (Str. 8,1), und entfaltet. Ab Str. 11 wird dann von dem Gelingen der T a t gesprochen, zu welcher der Entschluß auf solche Weise gefaßt wurde: „Ists W e r k von dir, so hilf zu Glück" (11,1), bzw. G o t t wird gebeten, ein Werk, das ohne seinen Rat getan werden sollte, zu verhindern: „Ists Menschentum, so treibs zurück" (11,2). Das Lied , H e r r , aller Weisheit Quell und Grund', CS 64, welches sich ziemlich frei an Arndts Gebet um Weisheit 8 0 anlehnt und seinen Gehalt aus Prov 7 - 9 entnimmt, bringt inhaltlich die gleichen Aussagen, formuliert sie aber konzentriert auf den biblischen Begriff der Weisheit. Weisheit ist es, was Gottes Vorsehung leitet. Diese Weisheit braucht der Mensch, um f ü r sich selber Vorsehung wahrzunehmen und sich vorzusehen. Im Mitbesitz von Gottes Weisheit empfängt der Mensch das Gespür, das Taktgefühl, das er braucht, um sein Planen und H a n d e l n in den Rhythmus der Ereignisse einzuordnen, die aus Gottes Planen hervorgehen.
5. Das Problem des Leids und seine argumentative
Bewältigung
Diese erste praktische D u r c h f ü h r u n g der Providenzlehre ihrem positiven Gehalt nach in Paul Gerhardts Liedern ,Vom christlichen Leben und Wandel' enthält also folgende Motive: Die Aussage, d a ß G o t t alles in der Welt erhalte und lenke, wird zur Verheißung, d a ß er den Menschen, die dies anerkennen, alles gibt, wenn sie ihn darum bitten, was nötig ist, um ihr Lebensziel zu erreichen, nämlich die Glückseligkeit in der Gemeinschaft mit ihm. Diese Bitte ist die eine Seite einer praktischen Umsetzung der Providenzlehre. Die andere Seite ist die Ermahnung, sich Gottes Lenkung zu unterstellen, bzw. das Abraten davon, dies nicht zu tun. Die Unterwerfung unter Gottes Willen f ü h r t dann zu der Bitte um seine Fürsorge. Diese n Vgl. das Emblem ,In Deo Laetandum', Emblemata, Sp. 29 (bei Schoonhovius Nr. 13), welches eine Sonne zeigt, die mit ihren Strahlen die Erde berührt. Das Subscriptum dazu lautet: „Cynthius ignifera contingit lampade terrain,/ Et tarnen aethereo servat in axe locum:/ Sic Animus, quanquam sit nostri corpori hospes,/ Aßiduo auctori debet adesse Deo.", übers.: „Seine Freude soll man in Gott suchen" - „Apoll [Beiname Cynthius] berührt mit seiner feurigen Fackel die Erde und behält doch seinen Platz am hohen Himmel. So soll unser Geist, wenn er auch Gast unseres Körpers ist, stets bei Gott, seinem Schöpfer sein." Zu dem Begriff des sichtbaren und des sprachlichen Emblems s.u. S. 122 f. 80 Arndt, Paradiesgärtlein 1,14, bei Kemp, 38 f.
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Die Transformation theologischer Lehre
Unterwerfung hebt nicht den eigenen Willen des Menschen auf, sondern ermutigt ihn, Gottes Rat für die Beschlußfassung des eigenen Willens zu erbitten. Dieser positive Zusammenhang wird nun durch das Problem des Leids gestört. Zugleich gilt: er wird gerade angesichts dieses Problems bekräftigt. Dies ist in den meisten Liedern Gerhardts der Fall, die der Rubrik ,Vom christlichen Leben und Wandel' angehören oder diese Thematik ansprechen. Die Konstellation, in welcher dieses Problem auftaucht, kann variieren. So wird in dem Lied CS 74 gleich zu Anfang die Frage gestellt (Str. I) 8 1 : Ich hab oft bei mir selbst gedacht, Wann ich den Lauf der Welt betracht, Ob auch das Leben dieser Erd Uns gut sei und des Wünschens wert, Und ob nicht der viel besser tu, Der sich fein zeitlich legt zur Ruh. Es ist dies die Frage, ob Leben - in dieser Welt - überhaupt gelingen kann. Damit ist freilich die Frage impliziert, ob Gott für den Lauf dieser Welt überhaupt Vorsehung wahrnehme. In den Strophen 2-7 dieses Liedes wird denn, in Erläuterung und Bekräftigung dieser Frage, auch gezeigt, daß, gleichgültig ob der jeweilige Mensch glaube oder nicht, jedes innerweltliche Glück an einem Mangel leidet 82 . Eine anderere Konstellation ergibt sich in dem Lied ,Ich hab in Gottes Herz und Sinn / Mein H e r z und Sinn ergeben', CS 73. Die in diesen Eingangsworten ausgedrückte Selbst-Ubereignung an Gottes gubernatio wird in Frage gestellt durch die Erfahrung des Leids. Nachdem Akte und Eigenschaften der göttlichen Providenz als Argumente für diese Ergebung aufgezählt worden sind (Str. 3-5), wird in einem Selbstgespräch auf den Einwand eingegangen: „Du denkest zwar, wenn du nicht hast, / Was Fleisch und Blut begehret / Als sei mit einer großen Last / Dein Glück und Heil beschweret," (6,1-4).
81 ZELLER, Paul Gerhardt, in: Theologie und Frömmigkeit, Bd. 1, 156, nennt dieses ein „Theodizeelied". Eine Gattung solcher Lieder existiert freilich nicht, und es wird hier auch nicht - wie auch sonst nirgendwo von Gerhardt - die „Theodizee-Frage" gestellt. Es geht nicht um die Rechtfertigung Gottes, sondern darum, ob dieses Leben wünschenswert ist. Indirekt geht es damit freilich um die Wahrheit von Gottes Providenz-Verheißung, wie sie in Ps 1 - CS 61 gegeben ist. Es ist dabei aber zu beachten, daß Gerhardt niemals eine Rechtfertigung Gottes angesichts des Unglücks unternimmt, sondern diesen Fragenkomplex so auflöst, daß er dem Menschen Trostargumente nennt. Vgl. PETRICH, 245, und s.u. S. 167,
b e i A n m . 2 5 9 ; IHLENFELD, H u l d i g u n g , 82
136.
Eine gewisse Abwandlung stellt CS 76 dar, ,Du liebe Unschuld du, wie schlecht wirdst du geacht't', in welchem das Fazit gezogen wird (5,3 f.), daß sie in der Welt keinen Lohn erntet.
Das Problem des Leids
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In einer dritten Konstellation wird gleich mit dem Gram und der Trauer eingesetzt, die den niederdrücken, der Leid erfährt. Um ihn aus diesem Seelenzustand herauszureißen, ist es nötig, ihm unmittelbar mit einer Trostrede zu begegnen: ,Nicht so traurig, nicht so sehr, / Meine Seele, sei betrübt', CS 72, oder ,Warum sollt ich mich denn grämen?', CS 83. Ausgehend von jenem ersten Lied, CS 72, welches sich an I Tim 6,6-12 anschließt, sollen nun die Argumente, also die Trostgründe, genannt werden, die Paul Gerhardt gegen diesen Einwand des Leids entwickelt. Auf den in Str. 1,1-4 genannten Trostzuspruch folgt zunächst eine Ermahnung „Nimm vorlieb mit deinem Gott!" (1,5) und eine These „Hast du Gott, so hats nicht not." (1,6). Dieser Komplex aus Trost, Mahnung und Lehre wird im folgenden entfaltet, und zwar so, daß zuerst erklärt wird, daß der Mensch gar keinen Rechtsanspruch habe, vor Gott ein Glück in dieser Welt einzufordern: „Du noch einzig Menschenkind 8 3 / H a b t ein Recht in dieser Welt" (2,1 f.). Mangel an weltlichem Glück wird also für gar nicht des Trauerns, insofern auch nicht des Trostes für würdig erklärt 84 . Trost besteht darum im ersten Schritt gerade darin, daß die Aufmerksamkeit von dem, was mit Trauer erfüllt, fortgelenkt wird auf etwas anderes, dessen Betrachtung Freude bringt 85 . Gerhardt stellt darum hier die Orientierungsfrage: Willst du dich nach dem weltlichen Gut oder nach dem himmlischen Gut orientieren, welches dir allein am Ende bleiben kann? Zu der Entscheidung in dieser Frage fordert er mit den Worten auf: „Bist du doch darum nicht hier, / D a ß du Erden haben sollt, / Schau den Himmel über dir, / Da, da ist dein edles Gold," (3,1-4, variiert bis Str. 6). Entsprechend wird die Eitelkeit und Nichtigkeit, die Vanitas des irdischen Gutes herausgestellt: „Erdengut zerfällt und bricht / Seelengut, das schwindet nicht." (6,5 f.). Diese Wendung vom Irdischen weg zu Gott vollzieht Gerhardt auch in anderen Liedern. Die Vergänglichkeit alles Irdischen wird dabei entweder, wie hier, von dem irdischen Gut ausgesagt 86 oder wie in ,Sei wohlgemut, о Christenseel', von den irdisch Gesinnten, den Feinden, den Gottlosen, die mit diesem Gut untergehen 87 .
83
Will heißen: Weder du noch ein einziges Menschenkind. Ähnlich in CS 83, 2 , 1 - 3 , 4 ; 117,1. 85 Vgl. Melanchthons Bemerkung oben, S. 64, bei Anm. 176. 96 O f t verbunden mit dem verwandten Motiv von der Minderwertigkeit des irdischen Guts: CS 60,10; CS 74,9.11.13; 83,9 f.; 112,3; 1 2 7 , 1 - 9 (einer Nachdichtung von Ps 90) und in den Sterbeliedern, s. u. S. 138 f. Für den Zusammenhang mit der „Orientierungsfrage" s. o. S. 104. 87 Beides hintereinander in CS 114,3 f . 5 - 1 6 , als Nachdichtung von Ps 39. Mit der consummatio mundi verbunden ist das Vanitas-Motiv außer CS 89,13 auch 37,7 f. 73, 8 , 8 - 1 0 wird es bezogen auf das Verschwinden des Leids. 78,9 unterstützt der Hinweis auf die Sterblichkeit des Menschen die Bitte an Gott, sich zu erbarmen. 52,6 ist die Vergänglichkeit Merkzeichen der Schuld. 81
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Die Transformation theologischer Lehre
Wie bei ,Sei wohlgemut, о Christenseel' gezeigt, löst Gerhardt damit die Anfechtung durch das Leid durch den Ausblick auf die eschatologische Herrlichkeit. Nun ist die Frage, wie der Mensch sich dieser Herrlichkeit gewiß sein kann. In jenem Lied war es die Offenbarung durch den Gang ins Heiligtum unter Voraussetzung einer schon bestehenden Seinsgemeinschaft mit Gott. In CS 72 setzt Gerhardt nun mit einer anderen Begründung ein: „Ach, wie bist du doch so blind / Und im Denken unbedacht! / Augen hast du, Menschenkind, / Und hast doch noch nie betracht / Deiner Augen helles Glas: / Siehe, welch ein Schatz ist das!" (Str. 7). In den beiden folgenden Strophen wird damit fortgefahren, den Menschen zu einer Betrachtung der irdischen Güter seines Lebens aufzurufen, die er auch mit seinen natürlichen Mitteln erkennen kann. Diese Betrachtung weist darauf hin, daß Gott den angesprochenen Menschen mit diesen Gütern versorgt hat, daß Gott also tatsächlich seine Vorsehung wahrnimmt und gütig ist. Nachdem dies durch mehrere Exempel nachgewiesen wurde, kann dann gesagt werden (10,1-11,1): Wüßte, der im Himmel lebt, Daß dir wäre nütz und gut, Wonach so begierig strebt Dein verblendet Fleisch und Blut, Würde seine Frömmigkeit [treue Güte] Dich nicht lassen unerfreut. Gott ist deiner Liebe voll
Was hier getrieben wird, ist der Beweis der Providenz durch die Betrachtung von Natur und Geschichte, wie ihn auch Melanchthon und Hutter führen 88 . Gerhardt tut dies auch sonst noch. So spricht er von der Schöpfung offensichtlich aufgrund eines einfachen Rückschlusses „Ich bin ja von mir selber nicht / Entsprungen noch formieret, / Mein Gott ists, der mich zugericht't . . . " und folgert dann: „Wer so viel tut, / Des Herz und Mut / Kanns nimmer böse meinen." (CS 73, 3,1-3.8-10). Gleichermaßen spricht er von der Erhaltung: „Ich wäre längsten tot und kalt, / Wo mich nicht Gott umfangen" (CS 73, 4,3 f.)89. Gerhardt praktiziert hier genau den Übergang vom genus didascaliutn ins genus consolatorium, wie ihn Johann Hülsemann ausdrücklich am Thema der Schöpfung vorexerziert hatte 90 .
88
S. o. S. 44 ff.; 50. Ähnliches in CS 7 5 , 4 - 8 ; 84,1. Zu dieser N a t u r b e t r a c h t u n g g e h ö r t zu erkennen, d a ß die ganze S c h ö p f u n g so eingerichtet ist, d a ß sie dem Menschen - k o n k r e t also dem im Lied angeredeten Menschen - dient. Die Providentia Dei generalis erweist sich als d e r Providentia Dei peculiaris eingeordnet, s. CS 56,2; 75, 6,6 f.; 81,8 f.; 99,6; 101,3-5. Vgl. oben S. 55, bei Anm. 126. 40 S. o. S. 84 ff. 89
Das Problem des Leids
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Die Frage ist nur, ob dieser Schluß, den er zieht, gültig ist. Eben noch hat Gerhardt gezeigt, daß alles, was man mit Augen sehen kann, vergeht, und man sich nicht darauf verlassen soll, und dann leitet er aus dem Sichtbaren Gottes Güte ab. Ausgangspunkt der ganzen, dieses Lied ausmachenden Rede ist das Leiden, das aus dem Mangel irdischer Güter erwächst, „Daß dir Gott Glück, Gut und Ehr / Nicht so viel wie andern gibt!", CS 72, 1,3 f. Es wird angemahnt, sich nicht für solche Güter zu interessieren, dann aber wird darauf aufmerksam gemacht, daß man doch über einige Güter verfüge, und daraus Gottes Güte bewiesen. Dieses nicht unproblematische Schlußverfahren Gerhardts soll im einzelnen erläutert werden. Bewegt man sich im Bereich der Erfahrung, dessen, was „man vor Augen siehet" (CS 89, 2,2), dann zerfällt dieser Bereich in einen Teil, in welchem Gutes und in einen Teil, in welchem Mangel und Übel erfahren werden. Diese beiden Teilbereiche stehen einander gegenüber. Aus dem einen Teilbereich, dem des als gut Erfahrenen, schließt Gerhardt nun darauf, daß hinter dem Ganzen die Güte Gottes stehe 91 . Entgegen dem Anschein ist auch das als Übel Erfahrene gut: es ist, wie in der oben abgedruckten Strophe 72,10 gesagt, dem darunter leidenden Menschen nützlich und eben deswegen gut 92 . Das Übel ist also nur dem Anschein nach Übel. Von dem Gesichtspunkt des Telos betrachtet, von welchem der Gesamtzusammenhang überschaut werden kann, ist alles gut 93 . Schein und Sein stehen einander gegenüber, und nach dem Sein soll man sich ausrichten. Nun ist freilich auch der entgegengesetzte Schluß denkbar, wenn man von einem Teilbereich auf das Ganze schließen darf: Man schließt von der teilweisen Erfahrung des Übels darauf, daß alles dem eigenen Verderben diene. Hinter dem Weltgeschehen steht dann ein böser Dämon, der den Menschen nur deswegen auch teilweise Gutes erfahren läßt, damit er ihn täuscht und dadurch zum Verderben führt. Gerhardt hat sich in seinen Liedern nie auf diesen Gedankengang eingelassen. Zwar kennt er durchaus die Anfechtung durch die Welt und den hinter ihr stehenden Teufel. Der Gläubige hört, wie die Welt ihm zuschreit, „es sei / Mir Gott nicht gewogen," (CS 81, 7,1 f.). Doch gerade darauf antwortet er mit einer Aufzählung der Gaben Gottes, voran der Schöpfungsgaben (CS 81, 7,5-12,8). Es war Gerhardts Zeitgenosse Descartes, der dem analogen Gedankengang nachging, daß Gott auch ein Betrüger sein könne und also alles, was der Mensch für wahr halte, darauf zurückzuführen sei, daß Gott ihn getäuscht habe. Descartes widerlegt diesen Gedankengang dadurch,
91
Dieser Schluß vom Teil aufs Ganze findet sich auch CS 40,9; 43, 17,1 f. Dieser Nutzen wird in vielen Liedern Paul Gerhardts als der Nutzen der angesehen, s.u. S. 128 f. ,3 Diese Auffassung auch CS 74,15; 75,16; 80,12; 84,9; 86,5; 91,3. 92
Züchtigung
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Die Transformation theologischer Lehre
d a ß er auf die W a h r h e i t des G e d a n k e n s vertraut, d a ß d e r Akt des Betrügens nicht mit dem Begriff eines vollkommenen Wesens vereinbar sei 94 . G e r h a r d t läßt sich w e d e r auf dieses Gegenargument noch auf seine Widerlegung ein, und so steht zunächst einmal ein mehrfaches Problem da: d a ß er von einem Teilbereich aufs G a n z e schließt, d a ß man d a n n genauso gut von dem anderen, entgegengesetzten Teilbereich aufs G a n z e schließen könnte, d a ß das, wovon sein Schluß ausgeht, vergänglich ist, u n d d a ß er selbst woanders eine solche Beurteilung von Gottes Verhältnis zu uns aufgrund dessen, was sichtbar ist, als unchristlich verworfen hat, so etwa in ,Sei wohlgemut, о Christenseel'. Dieses Problem ist im G r u n d e dasselbe wie in M e l a n c h t h o n s u n d H u t t e r s Begründung der Providenz aus der N a t u r - und Geschichtsbeobachtung. U n d es ist wohl auch in derselben Weise zu lösen, bzw. einzuschätzen. Dieser Beweisgang hat f ü r den T r o s t keine tragende Funktion, sondern eine zusätzliche. Er wird, wie auch H u t t e r dies gleich zu Beginn seines Locus , D e Providentia' sagt 9 5 , n u r f ü r den angefochtenen Christen entwickelt. D a s Christ-Sein des Angefochtenen ist also vorausgesetzt, und der entscheidende T r o s t besteht in der Vergewisserung über das eigene ChristSein, also über die Seinsgemeinschaft mit Gott. D a ß G e r h a r d t nun in dem Lied , N i c h t so traurig, nicht so sehr' so abrupt auf den Nachweis der Nichtigkeit der irdischen G ü t e r gerade diese als T r o s t g r u n d gebraucht, mag folgenden G r u n d haben: E r läßt sich auf die Argumentationsweise ein, die ganz im Bereich der weltlichen E r f a h r u n g verbleibt. Von dieser E r f a h r u n g ist ja die eigene Seele bedrängt, wenn sie leidet. G e r h a r d t zeigt nun, d a ß sogar schon, wenn man die W e l t e r f a h r u n g fragt, es nicht berechtigt ist, sich ganz der T r a u e r hinzugeben. Sodann f ü h r t er, von der W e l t e r f a h r u n g ausgehend, von ihr weg in dem regressus auf G o t t als den ersten Beweger. Dieser aber ist das bleibende G u t , und der Christ, d e r es besitzt, kann getrost sein. D a ß dieser G o t t aber das G u t des Christen ist und damit alles, was er im Weltlauf bewirkt, dem Christen zugute kommt, ist eine Erkenntnis des Glaubens: „Aber was die Seele nährt, / Gottes H u l d und Christi Blut, / W i r d von keiner Zeit verzehrt, / Ist und bleibet allzeit gut." (CS 72, 6 , 1 - 4 ) . Diese Glaubensaussage ist die Voraussetzung des „natürlichen Beweises" in Str. 7 - 1 1 . G e r h a r d t begibt sich also nur in die Sphäre weltlicher E r f a h r u n g und Beurteilung, indem er von der Sphäre des Glaubens ausgeht und wieder in sie zurückgeht. D e r Bogen, den er durch jene Sphäre zieht, h a t also den gleichen Zweck wie bei M e l a n c h t h o n , wenn dieser sagt, diese philosophischen Argumente seien in der T a t viel schwächer als die aus der O f f e n b a r u n g und würden n u r benutzt, um eine zusätzliche Bestätigung zu erreichen, n a c h d e m die Christen schon durch die O f f e n b a r u n g überzeugt 94 95
Descartes, Meditationes de prima philosophia, IV,2. 17; V,15. Hutter, Loci, 218a.
Das Problem des Leids
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worden sind 96 . Paul Gerhardt schlägt also hier einen durchaus anderen Weg ein als Descartes oder später Leibniz 97 ihn beschritten haben. Allerdings kann gelegentlich der Offenbarungsbeweis bei Paul Gerhardt so weit zurücktreten, daß an der Oberfläche gar nicht erkennbar ist, daß er eine Rolle, und zwar die entscheidende Rolle spielt. Analog zu der „natürlichen" Begründung von Gottes Providenz läuft die Widerlegung der Autonomie-These aus einem sichtbaren Scheitern derjenigen, die ohne Gott ihr Leben planen, das für jeden zu beobachten ist, so in CS 58,2-6; 64,6-8. Dies läuft mit dem schon öfter bemerkten Umstand zusammen, daß in rund der Hälfte der Lieder Paul Gerhardts der Name Jesu überhaupt nicht erwähnt wird 98 . Das ist etwa in dem Lied ,Ich hab in Gottes Herz und Sinn / Mein Herz und Sinn ergeben', CS 73, der Fall. Zwar beginnt dieses Lied mit Aussagen, daß das singende Ich ein Sohn Gottes sei (Str. 1,5-7; 2,2); inwiefern und wodurch etwa er dies ist, wird aber nirgendwo ausdrücklich gesagt. Jesus Christus wird in diesem Lied nirgends erwähnt. Stattdessen wird die in den beiden Eingangsstrophen ausgedrückte Zuversicht dessen, der sich Gott ergeben hat, in Str. 3-7 aus der Schöpfung und Vorsehung begründet. Wiederum wird aus den sichtbaren Wohltaten Gottes abgeleitet, daß alles, also auch das Leid, dem Menschen zum Guten dient. Dies wird in Str. 8 unmittelbar, in Str. 9 durch Bilder ausgedrückt, die analoge Sachverhalte in der Natur darstellen: Das Feld kann ohne Ungestüm Gar keine Früchte tragen: So fällt auch Menschenwohlfahrt üm Bei lauter guten Tagen.
* M e l a n c h t h o n , S t . A . I I / 1 , 2 4 6 , 7 - 2 4 7 , 5 . S . o . S. 50; g e g e n RÖBBELEN, 401 f., die Provid e n z l e h r e bei M e l a n c h t h o n und im 17. Jahrhundert sei natürliche T h e o l o g i e . - Ahnlich ist auch Gerhardts V o r g e h e n s w e i s e in d e m Lied CS 81, , Schwing dich auf z u deinem Gott'. D e n Strophen 7 - 1 2 gehen nämlich die Strophen 1 - 6 voraus, in w e l c h e n die G u n s t G o t t e s aus der H i n g a b e seines S o h n e s bewiesen wird. D i e A u f z ä h l u n g der G a b e n G o t t e s nennt d a n n schließlich Str. 11 f. die O f f e n b a r u n g und m ü n d e t 13,1 in die Bekräftigung der Seinsgemeinschaft mit Gott. 97 Leibniz beweist T h e o d i z e e , 1,7 ( B d . I I / 1 , 2 1 6 - 2 1 8 ) aus der K o n t i n g e n z der erfahrbaren D i n g e die Existenz G o t t e s als eines W e s e n s , das uneingeschränkte M a c h t , Weisheit und G ü t e besitzt. Darauf folgt, 1,8 ( 2 1 8 / 2 1 9 ) , der Satz: „ N u n hat aber diese h ö c h s t e Weisheit in V e r b i n d u n g mit einer Güte, die nicht w e n i g e r unendlich ist als sie, nur das Beste w ä h l e n können." {„Or, cette supreme sagesse, jointe α une bonte qui n'est pas moins infinie qu'elle, n'a pu manquer de choisir le meilleur."), w o r a u s er seine weiteren bekannten G e d a n k e n g ä n g e entwickelt. 98 So RÖBBELEN, 4 2 3 - 4 2 5 , die ( 4 2 3 ) behauptet: „Für die Gottesvorstellung seiner Vertrauenslieder ist es charakteristisch, d a ß ihnen n a h e z u jegliche christologische Begründung fehlt und d a ß sie ihre einzelnen G e d a n k e n fast ausschließlich d e m ersten Artikel entnimmt.". Ahnlich NELLE, G e s c h i c h t e des deutschen evangelischen Kirchenliedes, 146 ff. Berichtigend bereits GROHMANN, 571, vgl. ZIMMERMANN, 11 f.
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Die Aloe Bringt bittres Weh, Macht gleichwohl rote Wangen: So muß ein Herz Durch Angst und Schmerz Zu seinem Heil gelangen. Jedem dieser beiden Sachverhalte auf der Bildebene - das Feld und die Aloe betreffend - folgt die Übertragung auf die Sachebene. In der Anschauung der Natur kann - vermittelt durch diese Übertragung - der Mensch eine Struktur erkennen, deren Einsicht dem Trost seiner Seele dient. Nun ist aber dieses Eine zu bedenken: die Natur, die da angeschaut bzw. imaginiert wird, ist keine reine Natur, als solche ohne Beziehung zu einer höheren, geistigen oder geistlichen Ebene. Die beiden Bilder, die Gerhardt in dieser Liedstrophe entwirft, sind sprachliche Embleme. Im sichtbaren Emblem wird zumeist ein geistiger Sachverhalt in einem Satz (inscriptio) ausgedrückt, welcher über einem Bild (pictura) steht. Unter dem Bild steht eine Erklärung (subscriptio), die den Zusammenhang aufweist zwischen dem in dem Bild Sichtbaren und der Überschrift". Die zitierte Liedstrophe stellt nichts anderes dar als zwei subscriptions, in welchen das Bild, mit der Sprache genannt, und die Aussage der inscriptio mit enthalten sind 100 . Dabei ist nun zu beachten, daß das Bild nur genannt und für diesen geistigen Sachverhalt herangezogen werden kann, weil in dem Bild bzw. in dem sichtbaren Sachverhalt also immer schon der geistige Sachverhalt mit vorhanden ist. Seine Wahrheit ist vorausgesetzt und soll durch das Bild nur noch zusätzlich bekräftigt werden 1 0 1 .
" Siehe BRAUNGART, Rhetorik, Poetik, Emblematik, 234-236; HARMS, Art. E m b l e m / E m blematik. 100 TRUNZ, Weltbild, 31, spricht in solchem übertragenen Sinne vom Emblem und verweist dabei auch auf Gerhardts ,Nun ruhen alle Wälder', CS 38. Eine gleichartige Auffassung von einem sprachlichen Emblem vertritt WINDFUHR, 94-98, insbes. 95. Zu dieser Art von Emblematik bei Paul Gerhardt s. BuNNERS, Paul Gerhardt, 252; SCHMITZ, Art. Paul Gerhardt, 246. 101 BRAUNGART, 236: „Als Argumentationsform ist das Emblem in seiner Doppelung von Zeigen und Erklären, Demonstrieren und Bestätigen strukturell affirmativ . . . Dabei steht die so vermittelte Lehre im Kontext des Weltbildes immer schon fest." Die Struktur des Emblems impliziert als solche eine alles Seiende durchwaltende Analogie, welche die Bild- und die Sachebene miteinander verbindet, s. TRUNZ, Weltbild, 10 ff. Allerdings kann das Emblem zu durchaus anderen lehrmäßigen Aussagen verwendet werden als derjenigen, die eine solche Analogie behauptet, so bei Arndt ger gerade zu einer Entgegensetzung irdischen und transzendenten Seins, s. MARTIN GRESCHAT, Die Funktion des Emblems in Johann Arnds ,Wahrem Christentum', insbes. 158-164; ders., Zwischen Tradition und neuem Anfang, 91; ELKE MOLLER-MEES, 360 f. So kommt es bei der Beurteilung des Lehrgehalts eines Emblems stets auf den Kontext an, für den es verwendet wird, vgl. BRAUNGART, 234. Eine theologische Grundlegung der Emblematik und überhaupt der Naturbetrachtung durch die Anwendung der Lehre von der ,communicatio idiomatum' findet sich bereits bei Luther, s. JOHANN ANSELM STEIGER, Die communicatio idiomatum als Achse und M o t o r der Theologie Luthers.
Das Problem des Leids
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Die sprachlichen Embleme in dieser Paul-Gerhardt-Strophe sind damit nicht als ein Beweis im strengen Sinne zu sehen noch als eine Deutung menschlichen Leidens nach dem Muster der genannten rein leiblichen Sachverhalte. Vielmehr liegt diese emblematische Rede ganz auf der Linie von Melanchthons Einschätzung der philosophischen Argumente für die Providenz. Sie ermöglicht es, die geistigen Sachverhalte, um die es geht, fast ganz zu verschweigen und in Bildern auszudrücken. Dem Kundigen ist jedoch deutlich, worum es geht. Dies kann aufgezeigt werden bei dem zweiten Emblem, welches von der Aloe handelt. Man vergleiche damit den Text eines bildlichen Emblems das Bild selbst zeigt eine Aloe: „Der bittere Saft gibt den Schwachen Kraft" (inscriptio - hier als Nennung des leiblichen Sachverhaltes) - „Der Kranke ist oft traurig und bekümmert, wenn ihm der Arzt eröffnet, daß er ihn mit dem bitteren, in Vergessenheit geratenen Aloesaft reinigen müsse, der ihn aber, wenn er auch schlecht schmecke, heilen werde. Widerstände und Unglücksfälle, von denen der Mensch glaubt, sie töteten ihn, sind eine [innere] Reinigung und ein himmlisches Getränk, das die ganze Gesundheit wiederherstellt und ewiges Leben spendet." (subscription02. In der Formulierung ist schon angedeutet, daß dieser geistige Sachverhalt auch einen geistlichen einschließen mag. Dieser geistliche Sachverhalt wird in diesem Emblem und bei Gerhardt aber erst dann hinreichend erfaßt, wenn aufgeschlüsselt wird, daß die Aloe, nach Joh 19,39 für die Einbalsamierung für Jesu Leichnam verwendet, für die Passion Jesu steht 103 . Das Leiden Jesu, im Glauben angenommen, ist also der Grund dafür, daß für den Gläubigen auch das Leiden auf den Zweck der Seligkeit hinwirkt. In seinem Leiden wird der Gläubige dem, an den er glaubt, verähnlicht und kann die H o f f n u n g haben, auch seiner Herrlichkeit gleichgestaltet zu werden. In nuce ist also in diesem sprachlichen Emblem die Deutung enthalten, die Hutter dem Begriff crux gibt 104 . Gerhardt hat dies in anderen Liedern - ζ. B. ,Ach treuer Gott, barmherzigs Herz', CS 78 - entfaltet 105 . - Embleme bei Gerhardt u.a. CS 58,7, s.o. S. 115 bei Anm. 79, oder CS 102, 1,1 f.: „Auf den Nebel folgt die Sonn/ Auf das Trauern Freud und Wonn,". 102 Übersetzung nach Emblemata, Sp. 339. Das Original (Covarrubias III, Nr. 84) lautet: „TULIT FESSIS SUCCUS AMARUS ОРЕМ" - „Esta el enfermo triste у congoxado,/ Porque el Medico dize a de purgalle/ Con el amargo azibar oluidado/ Que aunque le sepa mal, a de sanalle:/ La aduersidad у caso destrado,/ Que piensa el hombre tiene de matalle,/ Es una purga у celestial beuida,/ Que da entera salud, у eterna vida." Dabei könnte „salud" auch mit „Heil" übersetzt werden. - Als allgemeine Lebensweisheit formuliert heißt es bei Ovid, Amores 111,11,8: „Saepe tulit lassis sucus amarus opem" und Remedia amoris I, 227 f.: „Saepe bibi sucos, quamvis invitus, amaros/ Aeger, et oranti mensa negata mihi." 103 Siehe KRAUSE, Christuskreuz und Christenkreuz bei Paul Gerhardt, 301. Sein Verweis auf AUERBACH, Gloria Passionis, 57, führt allerdings nicht weiter, da dieser von der Myrrhe spricht. Ob zugleich eine Beziehung zu Cant 4,14 besteht, müßte noch erkundet werden. 104 S.o. S.63, bei Anm. 174. 105 S.u. S. 131 ff.
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Die Transformation theologischer Lehre
In anderen Fällen sind es nur noch Anspielungen, in welchen G e r h a r d t sich auf die Sendung Christi bezieht, wenn der Sänger G o t t als seinen G o t t , sich als dessen Kind bezeichnet usw. Es ist dann nur aus dem Zusammenhang, in welchem solche Stellen oder ganze Lieder innerhalb des gesamten Gerhardtschen Liedcorpus stehen, zu schließen, d a ß die Seinsgemeinschaft des Menschen mit Gott, die dort ausgesagt wird, durch Jesus Christus begründet worden ist 106 . V o r allem sind dann die Lieder zu beachten, die den Festtagen des Kirchenjahres zugeordnet sind und von den heilsgeschichtlichen Taten Gottes handeln 1 0 7 .
6. Das Leid in den Liedern ,In Kreuz und Anfechtung' Das Problem des Leids erscheint in den Liedern vom christlichen Leben mehr oder weniger als eine Störung der Zuversicht auf Gottes Providenz. Dementsprechend wird der Mensch angesichts dieses Leids getröstet, indem seine Zuversicht auf die göttliche Vorsehung bekräftigt wird. Die Argumente dazu stammen aus dem Bewußtsein, in einer Seinsgemeinschaft mit G o t t verbunden zu sein, und aus der Beobachtung der Natur. Die Darstellung des Leidens wird differenzierter, wenn nun die Lieder der Rubrik ,In Kreuz und Anfechtung' hinzugezogen werden 1 0 8 . Charakteristisch f ü r eine große Gruppe dieser Lieder 1 0 9 ist CS 69, , Kommt, ihr traurigen Gemüter', nach H o s 6,1-3: 1. Kommt, ihr traurigen Gemüter, Kommt, wir wollen wiederkehrn Zu dem Herren, dessen Güter Kein Verderben kann verzehrn; Dessen Macht kein Unglück fällt, Dessen Gnade wieder stellt, Was sein Eifer umgestürzet: Seine Gnad bleibt unverkürzet. 106
Was bereits von ALBRECHT RITSCHL, Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, 173 f., bemerkt worden ist. Vgl. die verborgenen Hinweise in CS 73, die KRAUSE, 299, aufzählt, der in seinem aufschlußreichen Aufsatz (299-302) nachweist, d a ß auch dort, wo vom Christenkreuz, nicht aber vom Christuskreuz ausdrücklich geredet wird, dieses für die Bewältigung von jenem vorauszusetzen ist. Vgl. zu dieser Fragestellung auch ZLMMERMANN, 31-34. 107 Dieser Hinweis bei ZELLER, Paul Gerhardt, in: Theologie und Frömmigkeit, Bd. 1, 160. 108 Für die P.p.m. 1653 s. die Aufstellung oben S. 92; bei Feustking sind darüber hinaus dieser Rubrik CS 70; 72; 75;76; 84; 92-95; 103. Ähnlichen Charakter haben die von anderen Dichtern stammenden Lieder in der P.p.m. 1653, so von Heermann F T 1,342 (in der P.p.m. die Nr. 339); 345 (Nr. 387); 361 (Nr. 343), von Johann Franck F T IV,98 (Nr. 304); 99 (Nr. 305), von Ringwald W IV,1470 (Nr. 388), das Ringwald zugeschriebene Lied Nr. 341, welches aber bei Wackernagel nicht unter den Liedern Ringwalds zu finden ist, jedoch dem Lied W V,73 von Martin Moller ähnelt, das anonyme Lied W IV,277 von 1561 (Nr. 340), von Paul Eber W IV,6 (Nr. 338) und von Nicolaus Herman W 111,1428 (Nr. 386). 109 CS 67-69; 71; 77; 85; 88.
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2. Zwar er hat uns ja zerrissen Mit ergrimmtem Angesicht Und uns, da er uns geschmissen, Sehr erbärmlich zugericht't. Doch deswegen unverzagt! Eben der uns schlägt und plagt, Wird die Wunden unsrer Sünden Wieder heilen und verbinden. 3. Alle Not, die uns umfangen, Springt vor seinem Arm entzwei; Wenn zwei Tage sind vergangen, Macht er uns vom Tode frei, Daß wir, wenn des dritten Licht Durch des Himmels Fenster bricht, Fröhlich auf erneurter Erden Vor ihm stehn und leben werden. 4. Alsdann wird man acht drauf haben Und mit großem Fleiße sehn, Was für Wundergnad und Gaben Uns von obenher geschehn. Da wird dieses nur allein Unsers Herzens Sorge sein, Daß wir Gott, des wir uns nennen, Mögen recht und wohl erkennen. 5. Denn er wird sich zu uns machen Wie die schöne Morgenrot, Uber welche Lust und Lachen Bei der ganzen Welt entsteht. Er wird kommen uns zur Freud Eben zu der rechten Zeit, Voller süßen Kraft und Segen, Wie die früh und spaten Regen. 6. Ach, wie will ich dich ergötzen, О mein hochgeliebtes Volk! Meine Gnade soll dich netzen Wie ein ausgespannte Wolk, Eine Wolke, die das Feld, Wann der Morgen weckt die Welt Und die Sonne noch nicht leuchtet, Mit dem frischen Tau befeuchtet. Hier erscheint das Leiden als etwas, was der Mensch verschuldet hat. Konkret handelt es sich dabei um die Menschen, zu denen der Sänger als einer der Ihren spricht. N a c h dem Bibeltext ist dies das Volk Israel, in dem Zusammenhang, für den Gerhardt dieses Lied gedichtet hat, die
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D i e T r a n s f o r m a t i o n theologischer Lehre
Kirche 110 . Das, worunter die Christen leiden, ist etwas, was sie selber verschuldet haben, Str. 2,7: es sind die „Wunden unsrer Sünden." 111 . Dieser Zusammenhang von Sünde und Leid ist aber vermittelt durch ein Drittes. Und dies ist gerade Gott selbst, und zwar Gott in seinem Zorn und Eifer (1,7-2,6). Durch diesen dreigliedrigen Zusammenhang ergibt sich der Aufriß des Liedes. In Str. 1 wird dazu aufgefordert, sich wieder Gott zuzukehren, sich mithin von der Sünde abzukehren und sich nach Gott als dem wahren und unvergänglichen Gut zu orientieren. Es wird also zur Buße aufgerufen. In Str. 2 wird darauf zurückgeblickt, daß die Sünde, die Abkehr von Gott, durch Gottes Zorn das Leid hervorgerufen hat. Dieser Rückblick mündet aber (ab 2,5) in die Verheißung, daß Gott auch aus dem Leide helfen werde. Die Voraussetzung dafür, daß er dies tut, ist gerade die Umkehr des Sünders. Durch sie wird der ganze Zusammenhang Sünde - Zorn Gottes - Leid wieder aufgehoben. Der Zusammenhang, der an seine Stelle tritt, lautet dann: Umkehr des Sünders - Gnade Gottes - Rettung aus dem Leid. Dies wird auch in anderen Liedern ausgedrückt, so in CS 67, ,Ist Ephraim nicht meine Krön?', Str. 8, als Rede Gottes an alle Sünder: K o m m t , alle Sünder, k o m m t z u mir, Bereuet eure Sünden U n d suchet G n a d an meiner Tür, Ihr sollt sie reichlich f i n d e n ! W e r sich mit Ephraim bekehrt, Wird auch mit Ephraim erhört U n d hier u n d d o r t getröstet.
Oder auch: „Wenn wir nur fromm sind, wird sich Gott / Schon wieder zu uns wenden, / Den Krieg und alle andre Not / Nach Wunsch und also enden" (CS 71, 7,l-4) 1 1 2 . Bereits in der ersten Strophe von CS 69 führt Paul Gerhardt die Argumente auf, welche die Angesprochenen zur Umkehr bewegen sollen. Sie berufen sich auf drei Eigenschaften Gottes 113 :
no P e t r i c h , 52-54, vermutet, daß dieses Lied ebenso wie CS 67 f. aufgrund einer Feuersbrunst entstanden ist, die 1640 einen Teil Wittenbergs einäscherte. Diese Lieder waren also ursprünglich an die Wittenberger Gemeinde gerichtet. 111 Nicht bloß von sich selber, sondern auch von den „Feinden" wird, im Sinne der Psalmen, an einigen Stellen gesagt, daß ihre Schuld mit Leid bestraft wird: CS 70,4-6; 90,4; 109, 14,6-8. Daß Leid ohne Schuld erlitten wurde, wird ausdrücklich von den seligen Märtyrern, CS 134, 4,7 behauptet. Zu weiteren Einschätzungen der Verantwortung für das Leid s.u. S. 131, Anm. 125. 112 Ähnlich CS 77,4 f. 113 In CS 85,8-10 argumentiert Gerhardt ähnlich, wobei in Str. 8 f. das Argument des wahren Gutes in dem von Gottes Liebe und Gnade mit eingeschlossen ist.
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a) V.3 f.: Er ist das wahre Gut, zu dem hin man sich orientieren soll. Wer bei diesem Gut ist und es hat, der ist vor Leid geborgen. b) V.5 f.: Er ist allmächtig. Er kann also, wenn er gnädig ist, dem Leidenden aufhelfen. Diese Eigenschaft Gottes wird nun in Str. 2 gerade dadurch bewiesen, daß Gott imstande war, das Leiden zu schicken. c) V. 8: Er ist gnädig. Er ist also willens, sein Gut-Sein dem Menschen mitzuteilen. Bedingung dafür, daß dies geschieht, ist die Zuwendung des Menschen zu ihm.
Es ist klar, daß zwischen dem zweiten und dem dritten Argument in der gegebenen Situation eine Spannung besteht. Denn in dieser Situation ist Gottes Allmacht dem Leidenden dadurch anschaulich, daß er in seinem Zorn ihn leiden läßt. Es geht deswegen darum, den Leidenden davon zu überzeugen, daß Gottes Allmacht auch mit seiner Gnade verbunden sein kann. Paul Gerhardt geht in seinen Liedern dieses Problem von zwei Seiten an: zum einen, indem er das Verhältnis zwischen Zorn und Liebe in Gott darstellt, zum anderen, indem er auf die Frage eingeht, wie Leid zu deuten sei. Das erste hat er in besonders eindrücklicher Weise in dem Lied CS 68 durchgeführt, ,Was soll ich doch, о Ephraim, was soll ich aus dir machen?' (nach H o s 11,8 f.) 114 . Dieses Lied stellt fast durchweg - bis auf die letzte von sechs Strophen - eine Rede Gottes an den Stamm Ephraim (bzw. das Nordreich Israel) dar, der für den sündigen Christen steht. Durch diese Rede gewährt Gott Einblick in den Vollzug seiner eigenen Ratschlußfassung. In Str. 1,1 - 3,2 bringt Gott die Argumente, die dafür sprechen, daß er über Ephraim seinen Zorn ergehen läßt. Diese Argumente sind die Sünde Ephraims und Gottes Gerechtigkeit, die Strafe für Sünde verlangt: „Sollt ich nicht billig deiner Tat / Und Leben gleich mich stellen?" (2,1 f.). Ab Str. 3,3 werden jedoch die Gegenargumente genannt: „Allein es will mir nicht zu Sinn, / Ich hab ein andres Denken" (3,3 f.). Diese Argumente sind nun die des Herzens Gottes: „Mein Herze will durchaus nicht dran, / D a ß es dir tu, wie du getan, / Es brennt für Gnad und Liebe" (3,5-7) usw. Hier überschreitet Paul Gerhardt die Grenze dessen, was mit Argumenten erreicht werden kann, die vom Denkvermögen allein akzeptiert werden können. Was er unternimmt, ist, mit der Darstellung der Liebe Gottes den Affekt des Menschen anzusprechen, um in ihm Zuversicht und Gegenliebe zu erwecken. Auf diesen Aspekt wird weiter unten noch einzugehen sein 115 . Das Zweite, womit Gerhardt versucht, zu zeigen, daß der allmächtige Gott zugleich gnädig ist, besteht in der Beantwortung der Frage nach der Deutung des Leidens. Er hat diese Deutungsfrage beispielhaft in dem Lied ,Noch dennoch mußt du drum nicht ganz / In Traurigkeit versinken', CS 85, behandelt. Dort sagt er (Str. 3): 114 115
Ähnlich in CS 67,7; 85,8. S.u. S. 185 ff.
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Die Transformation theologischer Lehre
So ist auch Gottes Meinung nicht, Wenn er uns Unglück sendet, Als sollt darum sein Angesicht Ganz von uns sein gewendet; Nein, sondern dieses ist sein Rat, D a ß der, so ihn verlassen hat, Durchs Unglück wiederkehre.
Was hier zur Debatte steht, das ist auf der einen Seite die Deutung eines Leidens als Äußerung eines Entschlusses Gottes, daß er den leidenden Menschen verworfen habe, und dem gegenüber die Deutung, daß Gott das Leiden nur gesandt habe, um den Menschen zur Buße zu bewegen. Dies zweite wird in den folgenden beiden Strophen in klassischer Weise erläutert: Denn das ist unsers Fleisches Mut, Wenn wir in Freuden leben, D a ß wir dann unserm höchsten Gut Am ersten Urlaub geben, Wir sind von Erd und halten wert Viel mehr, was hier ist auf der Erd Als was im Himmel wohnet. Drum fährt uns Gott durch unsern Sinn Und läßt uns Weh geschehen; Er nimmt oft, was uns lieb, dahin, Damit wir aufwärts sehen Und uns zu seiner Güt und Macht, Die wir bisher nicht groß geacht, Als Kinder wiederfinden.
In diesen Versen wird auch deutlich, daß die Sünde, die das Leiden hervorruft, keineswegs eine bestimmte Tatsünde sein muß, sondern lediglich das Vertrauen des menschlichen Herzens auf das Irdische. Zudem wird deutlich, daß hinter dem Zorn Gottes, der mittels des Leides die Sünde straft, Gottes Liebe steht, der durch das Leid diejenigen, die er erwählt hat, seine „Kinder", wieder zu sich führen will. So heißt es auch (CS 81,14): Kinder, die der Vater soll Ziehn zu allem Guten, Die gedeihen selten wohl Ohne Zucht und Ruten; Bin ich denn nun Gottes Kind, Warum will ich fliehen, Wenn er mich von meiner Sünd Auf was Guts soll ziehen.
Gerhardt vertritt also in diesen Liedern die Deutung des Leids als Züchtigung, mit welcher Gott dem ungläubigen Sünder begegnet. Es kann kaum
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genug betont werden, daß mit dieser Züchtigung bei Paul Gerhardt nun gerade keine Strafe im strengen Sinne gemeint ist 116 . Die Lehrdiskussion über timoria und dokimasia, welche dieser Bewertung zugrunde liegt, wurde oben schon dargestellt 117 . Durch die Entscheidung dieser Deutungsfrage118 wird die Vorstellung, das Leiden sei lediglich Ausdruck von Gottes Zorn, als Schein erwiesen, ein Schein, hinter dem die Wahrheit verborgen liegt, daß es letztlich Ausdruck von Gottes Liebe ist 119 . Die Probleme der Vermittlung dieses Gedankens hat bereits Melanchthon formuliert. Melanchthon gesteht zu, daß der erste theologische Trostgrund, den er nennt, nämlich daß das Leiden gemäß dem Ratschluß Gottes komme, als solcher noch keinen vollständigen Trost darstellt 120 . Diesen Trostgrund konkretisiert er dann in einem zweiten Schritt mit dem Begriff der causa finalisr. das Leiden ist deswegen in Gottes Ratschluß aufgenommen, weil es den Zweck hat, zur Umkehr aufzurufen. Melanchthon räumt aber selbst ein, daß man sich überwinden muß, um diesen Trost anzunehmen, weil man dabei zuerst akzeptieren muß, daß Gott uns gerechtermaßen züchtigt 121 . Paul Gerhardt versucht diese Uberwindung dadurch zu erleichtern, daß er mit den rhetorischen Mitteln der Affekterregung, die ihm zur Verfügung stehen, dem Leidenden Gottes Liebe vor Augen stellt. Doch bleiben wir noch bei der Darstellung der argumentativen Zusammenhänge. Die Zusage, daß Gott, auch wenn er Leiden schickt, den Sünder liebe, hat eine Begründung. Wie in den Liedern vom christlichen Leben ist hier für den Trost die entscheidende Voraussetzung, daß bereits eine Seinsgemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen besteht - oder jedenfalls bestand oder hergestellt werden kann. Ist sie durch die Sünde zerbrochen, so ruft Gott gerade durch die Sendung des Leidens in sie zurück. Der Horizont einer Liebesbeziehung Gottes zu dem Menschen wird nie ver-
116 Charakteristisch ist auch die Formulierung Gerhardts in CS 80, 12,3, wonach Gott „mit der Vaterrut" winkt. Ausschlaggebend für dieses dem heutigen Sprachgebrauch zuwiderlaufende Verständnis des Begriffes „Züchtigung" ist der gute Zweck, dem die Züchtigung dient, s. die erste Bedeutungsgruppe in den Artikeln ,Züchtigen' und ,Züchtigung', Deutsches Wörterbuch, Bd.XVl, 269 f.; 272. Leid wird als Züchtigung verstanden u. a. in CS 50, 7,5 f.; 74, 14,5-15,6; 75,16; 80,12; 91, 3,6-8; 93, 3,4-6; 97,3; 99,9 f.; 104,5. An die Auffassung des Leids als dokimasia erinnert am stärksten CS 74, 14,1-4 unter Anspielung auf den Topos I Petr 1,7, sowie CS 78,13. 117 Vgl. oben S. 62 f. 118 Diese Deutungsfrage wird u.a. auch aufgeworfen CS 76, 16,6-8; 86,5; 104, 8,1 f.; 112,14. Das Schweigen Gottes wird CS 112,8 als die Langmut gedeutet, in welcher Gott die Sünden nicht straft. 119 Die Gegenüberstellung von Schein und Sein u. a. auch in CS 2, 12,1 f.; 16, 9,1 f.; 44, 7,5-7; 73, 1,3; 74,10; 94, 9,5-9; 102, 11,5-7; 113, 4,7 f. Vgl. oben, S. 119, bei Anm.93, sowie SCHMITZ, Art. Paul Gerhardt, 246. 120 Melanchthon, St.A.II/2, 643. m Melanchthon, St.A.II/2, 636,13 f.; 637,20 f.
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lassen. Würde allerdings diese Liebe Gottes zu dem Sünder in Frage gestellt, dann könnte der Mensch auch im Leid nicht den Trost mehr darin finden, daß es doch nur Ausdruck von Gottes Liebe sei. Es gibt also zwei Ebenen der Gefährdung, der Anfechtung des Menschen mit einem jeweils spezifischen Trost. Auf der unteren Ebene besteht die Anfechtung im Leid, im Nicht-Gelingen des Lebens. Auf der Meta-Ebene besteht die Anfechtung darin, daß durch die Schuld des Menschen Gottes Liebe und damit der Trost der unteren Stufe in Frage gestellt wird. Es muß also zwischen einer „leiblichen" und einer „hohen" Anfechtung unterschieden werden 122 . In zweien seiner Kreuz-Lieder hat sich Gerhardt darauf konzentriert, dieser zweiten, hohen Anfechtung zu widerstehen. Es sind dies , Schwing dich auf zu deinem Gott', CS 81, und ,Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich', CS 82, jenes bei Ebeling, Nr. 18, ein ,Trost-Gesang in Schwermuth und Anfechtung' 123 , dieses, Nr. 13, ein ,Christliches Trostund Freuden-Lied. Auß dem 8.Cap. an die Römer' betitelt. Wer in dem ersten Lied anficht, ist der Teufel bzw. nachher die Welt. Dem Teufel wird entgegnet (81, 3,1-4): „Wirfst du mir mein Sünd'gen für? / Wo hat Gott befohlen, / Daß mein Urteil über mir / Ich bei dir soll holen?" Wie in CS 82 wird von Anfang an die Seinsgemeinschaft mit Gott bekräftigt und explizit gesagt, worauf sie sich gründet: „Hab ich was nicht recht getan, / Ist mirs leid von Herzen; / Dahingegen nehm ich an / Christi Blut und Schmerzen." (Str. 4,l-4) 1 2 4 . Davon ausgehend kann dann gesagt werden (Str. 13):
122 Yg] 0 {,en S. 81, Anm. 244. Diese Unterscheidung zwischen einer hohen, geistlichen Anfechtung, die im Entzug der Gnade besteht und das Gewissen anficht, und einer Anfechtung, die im Entzug zeitlicher Güter besteht, findet sich bei Johann Arndt, Wahres Christentum II, 50,9 f. (Ausgabe v. 1708, 448), die hohe Anfechtung dort weiter behandelt 11,52 ff. (456 ff.), bei Paul Gerhardt auch in den Liedern CS 25,14; 34, 1,1-3,2; 51. Ш JOHANN ANSELM STEIGER verweist auf dieses Lied in seiner Schrift über Melancholie, 10, Anm. 4. Zu dem Zusammenhang zwischen Melancholie und Angeklagt-Sein durch das Gesetz bei Luther s. dort, 14. Luther zitiert dazu ebenfalls Rom 8,28, und redet ganz ähnlich wie später Gerhardt dabei den Teufel an, s. Predigten des Jahres 1531, WA 34/11, 70 f. Daniel Seiffart übrigens nannte Paul Gerhardts Lied ,Warum sollt ich mich denn grämen', CS 83 den „beste[-n] Antimelancholikus", s. VLERING, 532. Paul Gerhardts Dichtung gehört damit auch in die antimelancholische Literatur, die STEIGER darstellt. In der geistlichen Dichtung findet sich Melancholie-Seelsorge auch bei Gryphius, ,Qui avolvet nobis lapidem ab ostio monumenti' (Oden 111,8, GA 11,85), Heermann, ,Was wiltu dich betrüben,/ О meine liebe seel?' (FT 1,342), Gottfried Wilhelm Sacer (FT IV,605), Wolfgang Christoph Deßler (FT V,390), s. BERGER, Barock und Aufklärung im geistlichen Lied, 120. Weitere Lit. bei STEIGER, u. a. ERNST KOCH, Die höchste Gabe in der Christenheit. Der Umgang mit der Schwermut in der geistlich-seelsorgerlichen Literatur des Luthertums im 16. und 17. Jahrhundert. 124 Vgl. auch in CS 68, 5,4-10.
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Ich bin Gottes, Gott ist mein: Wer ist, der uns scheide? Dringt das liebe Kreuz herein Mit dem bittern Leide, Laß es dringen, kommt es doch Von geliebten Händen, Bricht und kriegt geschwind ein Loch, Wenn es Gott will wenden.
Darauf folgt dann in Str. 14 f. eine Entfaltung des Zuchtgedankens. Wird die Liebe Gottes, die hinter dem Leid steht, dabei so sehr betont, dann entwickelt sich in diesen Liedern auch noch eine zweite, ergänzende Deutung des Leids. Das Leid wird zugleich geschickt von einem Wesen, das in der T a t die Vernichtung des Menschen will, nämlich dem Teufel: „Wer sich mit dem [Christus] verbindet, den Satan fleucht und haßt, / D e r wird verfolgt und findet / Ein hohe schwere L a s t . . ( C S 82, 11,1-4). Leid gehört darum zur condicio Christiana, zu der wesentlichen Verfassung der Christen auf ihrem Weg in dieser Welt. D e r Christ leidet, weil er von den Feinden Gottes, die zugleich seine Feinde sind, angegriffen wird 1 2 5 . Zugleich zeichnet ihn sein Leiden als Christ aus, weil er dadurch Christus selbst ähnlich wird. Mit dem klaren Bewußtsein der Christus-Verbundenheit wird f ü r den Christen das Leiden eine Verähnlichung mit Christus. Dies ist Hauptmotiv einer U m s e t z u n g von J o h a n n Arndts Gebet ,Vmb Gedult in grossem Creutz' 1 2 6 , ,Ach treuer Gott, barmherzigs H e r z ' , CS 78. In den ersten drei Strophen wird der Zuchtgedanke entwickelt und zu dem Prinzip hingeführt, d a ß der Weg aufwärts zur Herrlichkeit durch die Niederungen des Leids führen muß. Sodann wird Jesus Christus als das Urbild dieses Vorgangs erkannt (Str. 4): Das hat, Herr, dein geliebter Sohn, Selbst wohl erfahrn auf Erden; Denn eh er kam zum Ehrenthron, Mußt er gekreuzigt werden. Er ging durch Trübsal, Angst und Not, Ja durch den herben bittern Tod Drang er zur Himmelsfreude.
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CS 79, 8,5-7; 89, 7,5-7; 128,4-7; 116,5-10. Ich verwende hier den Begriff „condicio Christiana" analog zu dem Begriff „condicio humana" mit der gleichen Schreibweise, vgl. Art. Condicio humana, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 337-348. Die Auffassung des Leids als Teil der condicio humana, CS 74,1-7; 131,2-6, erhält dadurch eine bezeichnende Konkretisierung. - Die „Feinde", im Sinne der Psalmen, erzeugen den Gläubigen Leid in CS 70, 1-3; 77,7-9; 94,11; 104,2; 111, 27,2; 114, 9,1 f.; 114, 1,4. ш Arndt, Paradiesgärtlein 111,27, bei Kemp, 35 f. Die Christus-Verähnlichung auch in CS 116,2 und vor allem in den Passionsliedern.
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Die Transformation theologischer Lehre
So kann dann folgendermaßen fortgefahren werden (Str. 5): Hat nun dein Sohn, der fromm und recht, So willig sich ergeben, Was will ich armer Sündenknecht Dir viel zuwider streben? Er ist ein Spiegel der Geduld, Und wer sich sehnt nach seiner Huld, Der muß ihm ähnlich127 werden.
In einer weiteren Passage wird dann, wobei Hebr 5,7-9 im Hintergrund steht, Jesus selbst angesprochen (Str. 10): „Ach Jesu, der du worden bist / Mein Heil mit deinem Blute, / Du weißt gar wohl, was Kreuze ist / Und wie dem sei zu Mute, / Den Kreuz und großes Unglück plagt; / Drum wirst du, was mein Herze klagt, / Gar gern zu Herzen fassen" und um Mitleid und Trost gebeten. Eigentümlicher- und bezeichnenderweise ist dieser Rekurs auf Christi Leiden gar kein Argument, das die Vernunft zufriedenstellt. Im Gegenteil heißt es nach den oben zitierten Strophen 4 und 5 in der sechsten Strophe: Ach, liebster Vater, wie so schwer Ists der Vernunft, zu glauben, Daß du denselben, den du sehr Schlägst, solltest günstig bleiben! Wie macht doch Kreuz so lange Zeit! Wie schwerlich will sich Lieb und Leid Zusammen lassen reimen!
Der Gegensatz zwischen Schein und Sein in der Deutung des Leidens, der Gegensatz zwischen einem dem Anschein nach zürnenden - oder nur die Glücklichen liebenden - Gott und einem den leidenden Gläubigen in Wahrheit liebenden Gott wird hier auf die höchste Spitze getrieben. Gott ist unter entgegengesetzter Gestalt verborgen. Dieser Gegensatz wird in einigen der Passionslieder, besonders in den Passionssalven, aufgenommen und dargestellt. Das Problem, worum es dabei geht, besteht darin, daß das, was in der Tat Schein ist, dasjenige ist, was der Leidende erfährt und woraus seine Vernunft - nach dem Muster, wie dies in der „Welt" geschieht - Schlüsse zieht. Darum ist die Vernunft hier überfordert 1 2 8 , und der Sänger des Liedes muß in den nächsten Strophen Gott bitten, ihm den Glauben zu erhalten. 127 Bei CS „endlich", verbessert nach Ebeling, Nr. 63, „ehnlich". Bei Arndt ist von der Nachfolge, der imitatio Christi, die Rede. 128 An anderer Stelle, als Abschluß einer Argumentation mit Gottes Liebe und Allmacht, wird dies so ausgedrückt (CS 85, 11): „Deucht dir die Hilf unmöglich sein / So sollst du gleichwohl wissen: / Gott räumt uns dieses nimmer ein, / D a ß er sich laß einschließen / In unsers Sinnes engen Stall; / Sein Arm ist frei, tut überall / Viel mehr als wir verstehen." Die Unerforschlichkeit von Gottes Weisheit auch CS 46,9.
D a s Leid in den Liedern ,In Kreuz und Anfechtung'
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Dieser Gegensatz wird dramatisch als Wechselrede zwischen Gott und dem Leidenden gestaltet in einer anderen Dichtung nach Arndt, , Barm herz ger Vater, Höchster Gott', CS 79, in der ,Praxis pietatis melica' m i t , H e r r n Johann Arndts Creutz-Gebät wen Gott die Hülffe lange verzeucht' 129 , überschrieben. Gott spricht dort tröstend den Leidenden an (Str. 9): Ich habe dich ein'n Augenblick, О liebes Kind, verlassen, Sieh aber, sieh, mit großem Glück U n d T r o s t ohn alle M a ß e n Will ich dir schon D i e Freudenkron Aufsetzen und verehren; D e i n kurzes Leid Soll sich in Freud U n d ewges Heil verkehren.
Das in diesem Zuspruch Zugesagte steht jedoch in genauem Widerspruch zu der Erfahrung des Leidenden. Der spricht: „Ach Herr, wie lange willst du mein / So ganz und gar vergessen? / Wie lange soll ich traurig sein / Und mein Leid in mich fressen / Wie lang ergrimmt / Dein Herz . . (11,1-6), und nochmals: „Willst du verstoßen ewiglich . . . " (12,1). Nachdem dieser Hilferuf sich in Sehnsucht nach Gott, in Zuversicht auf seine Hilfe gewandelt hat, kommt dann in Str. 16,3-10 noch einmal ein heftiger Anfall des Zweifels an Gottes Hilfe, bis der Leidende sich in den beiden Schlußstrophen in dem Vertrauen auf Gott befestigt. Der Gegensatz, der sich hier ereignet zwischen Gottes Zuspruch und der Erfahrung der Menschen, ist zugleich ein Gegensatz zwischen Gottes Ewigkeit, in welcher das Leid zu einem kleinen Augenblick, ja - wie noch gezeigt werden wird - zu einem Nichts zusammenschmilzt, und der Endlichkeit des Menschen, für dessen Vorstellungsweise diese Ewigkeit verschlossen ist und für die gerade das Leid, das er erfährt, unendliche Ausmaße bekommt. Der Gegensatz zwischen der Weise, wie Hutter und wie die Epikureer selbst das epikureische Trilemma betrachten, erscheint in dieser Konstellation: Betrachtung sub specie aeternitatis oder Betrachtung, die bei dem gegenwärtigen Augenblick verweilt 130 . Das menschliche Verhalten des Menschen ist hier die Ungeduld, die sich in dem Klageruf „Wie lange ...?!" (nach Ps 13,2f. in CS 86 und 92) äußert. Die Gabe Gottes besteht in der Geduld, die Hutter zu der Haltung, worin der Christ sein Kreuz tragen solle, zählte 1 3 ', und der Paul Gerhardt 129
Dieses im Paradiesgärtlein 111,26, bei Kemp 36 f. S. o. S. 33. 131 Comp. XXIV,2 (114,17 f.). Dieses Zeitproblem, der Gegensatz zwischen der kurzen Dauer des Leids aus der Sicht Gottes und seiner langen Dauer aus der Sicht des Leidenden, findet sich auch artikuliert CS 91, 7,3 f.; 91, 8,1-3; 95, 6,1-4; 108,9. 130
134
Die Transformation theologischer Lehre
ein eigenes Lied gewidmet hat, ,Geduld ist euch vonnöten', nach Hebr 10,35-37 (CS 91). Das, was dem Menschen aus diesem Gegensatz heraushilft, ist dieses, daß er Gottes Verheißung, daß er ihm Geduld schenken und ihn aus Liebe erretten werde, im Glauben fest annimmt 132 . Dieser auf die Verheißung antwortende Glaube äußert sich wiederum in dem Bittgebet, in welchem Gott um seine verheißene Gabe gebeten wird. Konzentriert wird dies in einer Nachdichtung von Ps 116 zum Ausdruck gebracht, CS 107. Dort heißt es (Str. 1,1-4): „Das ist mir lieb, daß Gott, mein Hort / So treulich bei mir stehet; / Wann ich ihn bitte, wird kein Wort / In meiner Bitt verschmähet". In dem Rückblick auf die erlittene Not wird dieses Bittgebet auch formuliert: „O Herr, ich weiß, du wirst / Als des Lebens Fürst / Schon führen meine Sach!" (2,5-7). Der damit sich vollziehende Vorgang wird dann wie bei Hutter in einem syllogismus practicus ausgedrückt: „Wer Gott vertraut, der bleibet." (5,4) - dies ist der Obersatz; zwischengeschaltet ist die Beurteilung durch die Welt, die diese „Logica Spiritus Sancti" verspottet: „Die Welt und böse Rott / Lacht des, mir zum Spott, / Ja plagt mich noch dazu;" (5,5-7). Im Gegensatz dazu wird aber - der im Bittgebet zuvor schon ausgedrückte Untersatz wird hier nicht expliziert die Schlußfolgerung gezogen: „Ich aber steh und ruh / Auf dir, mein Gott und Helfer. / / Du stürzest meiner Feinde Rat" usw. (5,8 - 6,1). Zur Behandlung des Problems des Leids in den Liedern ,In Kreuz und Anfechtung' kann resümiert werden, daß dieses Problem hier in größerer Differenziertheit aufgefaßt wird als in den Liedern ,Vom christlichen Leben und Wandel'. Dies hat seinen Grund in einer intensiveren Auffassung der Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen. In den Lebensliedern ist Gott vor allem der Garant der Providenz. In den Kreuzliedern tritt aber nun die Verantwortung des Menschen vor Gott hervor: sein Leid ist eine von Gott über ihn verhängte Folge seiner Sünde. Was aus dem Leid rettet, ist Gottes sich erbarmende Liebe, die der reuige Sünder erfleht. Im Bittgebet bezieht er Gottes Verheißung, sich zu erbarmen, auf sich. Im Bewußtsein der Liebesverbundenheit wird das Leid ein Weg der Verähnlichung mit Jesus Christus. Wird dem Menschen jedoch Gottes Liebe zweifelhaft, so bedeutet dies einen gegenüber dem einfachen Leid noch höheren Grad der Anfechtung. In der „leiblichen" Anfechtung durch das Leid, potenziert in der hohen Anfechtung durch die Schuld der Sünde, welche den Sünder aus der Liebe Gottes auszuschließen scheint, ist Gottes Liebe unter ihrem Gegensatz verborgen. Die teleologische Ausrichtung allen Geschehens auf das Heil entschwindet in die unendliche Entfernung der Ewigkeit von dem Hier und Jetzt der Zeit. Hier holt Paul Gerhardt, die 132
Von der Verheißung Gottes als dem Grund des menschlichen Vertrauens wird ausdrücklich gesprochen CS 44, 16,3; 67,3 f.; 70, 7,3 f.; 85, 9,5-7; 88, 7,1 f.; 106, 6,2; 107, 4,9; 109, 2,4 f.
Die Einstellung des Menschen zum Leid
135
orthodoxe Providenzlehre in der Praxis umsetzend, die Situation des sub contraria specie ein, welche Luther mit solcher Konsequenz herausgearbeitet hat. In dieser Situation gilt es, an Gottes Verheißung trotz des entgegengesetzten Scheins festzuhalten.
7. Die Einstellung
des Menschen zum
Leid
Zum Abschluß der Ubersicht über die Lieder vom christlichen Leben und in Kreuz und Anfechtung soll nun betrachtet werden, welche Entwicklung die praktische Umsetzung der Providenzlehre in ihnen nimmt. Es wurde schon weiter oben 133 gesagt, daß dies in einer ersten Durchführung, dem positiven Gehalt dieser Lehre entsprechend, so geschieht, a) daß der Gläubige den Satz, Gott regiere und sorge für alles, als Verheißung auf sich bezieht, b) daß er diese Verheißung in Anspruch nimmt, indem er Gott bittet für alles, was er zum Gelingen seines Lebens braucht, und c) daß er seine eigene Lebensführung der gubematio Gottes unterstellt. d) Dies geschieht in der Weise, daß er Gott um Hilfe bei seiner Beschlußfassung und beim Gelingen bittet und e) daß er sich, indem er dies erbittet, darauf einstellt, daß Gott sein Planen und Tun in den von ihm nach seiner göttlichen Weisheit gefaßten Plan einordnet. Dies umfaßt auch die Möglichkeit, daß Gott solches menschliches Planen nicht gelingen läßt.
Dieses Vertrauen auf Gottes Vorsehung wird durch das Leid in Frage gestellt. Es wird aber dem Leid gegenüber auch bekräftigt. Die verschiedenen Argumentationen, mit welchen dem Problem des Leids begegnet wird, haben ja diesen Zweck. Durch das Eingehen auf das Problem des Leids gewinnt dabei das Providenzvertrauen einen vertieften Gehalt. Zugleich zeichnet sich damit die Einstellung des Menschen zum Leiden ab, zu welcher Paul Gerhardt rät. Dies ist in mehreren der Lebens- und der Kreuzlieder, vor allem in den Schlußstrophen, zu erkennen: Die Bitte um Gottes Fürsorge (b) wird zu der Bitte um Gottes Eingreifen und Errettung in der Not, wie es in dem im vorangegangenen Kapitel genannten Beispiel (CS 107) geschieht. Aber auch die Ergebung in Gottes Willen (e) gewinnt dabei eine besondere Gestalt. So heißt es als abschließende Summa am Ende von , Nicht so traurig, nicht so sehr, / Meine Seele, sei betrübt' (CS 72,15): Führe deines Lebens Lauf Allzeit Gottes eingedenk. Wie es kommt, nimm alles auf 133
S.o. S. 115.
136
Die Transformation theologischer Lehre
Als ein wohlbedacht Geschenk. Geht dirs widrig, laß es gehn! Gott und Himmel bleibt dir stehn. D e r Mensch soll also sein Leben führen, aber so, daß er sich ständig Gottes übergeordneter Führung bewußt ist („Gottes eingedenk"). D a z u gehört, d a ß er auch erwarten muß, Dinge zu erleben, die ihm „widrig' sind, d. h. seiner eigenen Lebensplanung widersprechen. Diese Dinge kann er nicht verhindern, da sie in Gottes Planung beschlossen liegen und G o t t durchsetzt, was er beschlossen hat. Paul Gerhardt empfiehlt hier, diese Dinge hinzunehmen („laß es gehn"). Er tröstet dabei mit dem Hinweis auf das höchste Gut, das dem gläubigen Christen erhalten bleibt („ Gott und Himmel bleibt dir stehn"), und mit dem Gedanken, d a ß auch dieses erlittene Leid eine sinnvolle Stelle auf dem Weg zu diesem Gut hin darstellt („als ein wohlbedacht Geschenk"). Die Einstellung des Christen zum Leid ist also hier Ergebung134. Diese Ergebung kommt auch in den Begriffen des Stille-Seins und des Sich-zufrieden-Gebens zum Ausdruck: „Meine Seel ist in der Stille, / Tröstet sich des Höchsten K r a f t " usw. 135 bzw. „Gib dich zufrieden und sei stille / In dem Gotte deines Lebens" 1 3 6 . Es ist dies also ein Ruhen nicht in sich selbst und nicht einfach abgeschieden von allem, sondern ein Ruhen in Gott, in Gottes Willen 1 3 7 . Ein eigenes Tun des Menschen wird hingegen nur noch selten angedeutet 1 3 8 . Das, was dem Christen als Tätigkeit in einer solchen Situation bleibt, ist allein das Gebet, als Lobpreis 1 3 9 und als Bitte: „Tu als ein Kind und lege dich / In deines Vaters Arme, / Bitt ihn und flehe, bis er sich / Dein, wie er pflegt, erbarme" (CS 75, 18,1-4). Mit dem Bittgebet kann der Mensch jedenfalls hoffen, d a ß teilweise seine eigene Lebensplanung erfüllt wird: „Was hier ist in der Welt, da sei nur unbemüht, / Wird dirs ersprießlich sein, wies G o t t am besten sieht, / So glaube du gewiß, er wird dir deinen Willen / Schon geben und mit Freud all dein Begehren stillen." (CS 76, 15) 140 . In dem Leiden, das ihn aber doch trifft, soll der Christ zum einen Festigkeit bewahren: „ M u ß t du viel leiden hie und dort, / So bleibe fest an deinem H o r t , " 1 4 1 . D e r Gläubige soll sich von seiner 134
So auch CS 73,11 f.; 74,16; 83,3. CS 95, 1,1 f., nach Ps 62,2; vgl. im ganzen 95, 1. 4 f., sowie 50, 10,1; 83, 7; 89, 16,5-7. 136 CS 94, 1,1 f., nach Ps 37,7a. Jede der 15 Strophen dieses Liedes wird mit der Ermahnung „Gib dich zufrieden" abgeschlossen. 137 Dies, „was Gott gefällt", wird mehrfach umkreist in den 20 Strophen des Liedes CS 80, wo jede Strophe mit diesen Worten schließt. 138 „Stärk unsre Füß und Hände", CS 85, 12,3. 139 CS 89, 16,5-7. 140 D a ß Leid von Gott verhindert wird, z.B. in CS 59,11 f., daß es beendet wird in 84, 12,1 f. 141 CS 80, 17,1 f.; vgl. im ganzen 80,15-18; 82,12-14; 83,4-8; 95,1; 95,4 f.; 63,6; 89, 1,1-4. Dazu gehört, d a ß der Leidende fest beim Gebet bleibt: 78,8. 135
D i e Einstellung des Menschen z u m Leid
137
Orientierung an G o t t nicht abbringen lassen. Zum andern wird ihm aber empfohlen, das Leiden anzunehmen. So spricht der Gläubige dann zu Gott: „Leg auf die Last, / Die du mir hast / Beschlossen aufzulegen, / Leg auf, doch d a ß / Auch nicht das M a ß / Sei über mein Vermögen!" 1 4 2 . Wird in den Kreuz-Liedern das Leid insbesondere als Folge der Sünde angesehen, kann diese Leidensbereitschaft auch Bußwilligkeit sein: „Ich habs verdient, was will ich doch / Mich wider G o t t viel sperren?" 1 4 3 . Die Leidensbereitschaft steigert sich sogar bis zu der Formulierung: „Was du mir zugemessen hast, / Das will ich gerne leiden", CS 107, 7,1 f. Ähnlich heißt es CS 80, 1,1 f.: „Was G o t t gefällt, mein frommes Kind, / Nimm fröhlich an! Stürmt gleich der Wind", usw. 144 . Nun ist hier aber genau zu beachten, d a ß sich in den Adverbien „gern" bzw. „fröhlich" kein Verlangen nach dem Leiden als solchem ausdrückt, sondern ein Verlangen nach dem, „was G o t t gefällt". Nicht das Leiden selbst ist begehrenswert, sondern dieses daran, d a ß G o t t es will - unter einer bestimmten Absicht. Dies wird auch in den der erstgenannten Stelle folgenden Versen deutlich erläutert: „Wer fröhlich trägt des Kreuzes Last, / Dem hilfst du aus mit Freuden." (CS 107, 7,3 f.). Die Einstimmung in den Willen Gottes - auch in dem Fall, d a ß er Leid schickt - ist also eine Bedingung dafür, d a ß G o t t aus dem Leiden hilft. Es liegt auf der H a n d , d a ß dabei mitgesetzt ist, d a ß das Leiden als solches weder von G o t t noch von dem Gläubigen erwünscht ist. D a ß G o t t das Leid des Gläubigen als solches verwirft, wird dann noch in den weiteren Versen der Strophe betont: „Du weißt der Deinen N o t / U n d hältst ihren T o d / Sehr hoch, sehr lieb und wert, / Auch läßt du auf der Erd / Ihr Blut nicht ungerochen." (Str. 7,5-9). Ohne d a ß sie irgendwo expliziert würden, stehen bei diesen Stellen drei eng miteinander verknüpfte, wesentliche Elemente der Providenzlehre im Hintergrund, nämlich die Lehre von den zwei Ursachen des Übels, die Unterscheidung von Wirk- und Zweckursächlichkeit und die abgeleitete Zweckursächlichkeit der Zwischenglieder des Ursache-Wirkung-Zusammenhanges 1 4 5 . Was „fröhlich" angenommen werden soll, ist nicht das Leid als solches (also als Beraubung von etwas, das f ü r die Erfüllung der Lebensplanung gewünscht wird), geschweige denn die Sünde, die solches Leid hervorruft - das malum culpae als Ursache des malum poenae. Sondern was bejaht wird, ist der Wille Gottes, der, als Wirkursache des Übels moralisch neutral, als zweckmäßig handelnde K r a f t alles, auch das Leid, zu einem Ziel hintreibt, welches die ewige Seligkeit des Gläubigen
142
CS 79, 14,5-10. Ähnlich in dem oben zitierten CS 81, 13, sowie CS 80,1; 80,15. CS 77, 1,1 f.; vgl. 77, 1-3. Es gibt allerdings auch die Bitte, nicht die begangenen Sünden entgelten zu müssen: CS 87,8. 144 Siehe auch CS 37,11; 91, 7,5-8; 102,14. 145 S. o. S. 40 ff. Dieser Überlegung entspricht die These VAN iNGENs, Vanitas, 339, daß in der Lyrik des Barock nicht Todessehnsucht, sondern Todesbereitschaft verkündigt werde. 143
138
Die Transformation theologischer Lehre
darstellt. Durch das disponere des Willens Gottes wird das leidvolle Ereignis zu einer Zweckursache im sekundären, abgeleiteten Sinne. Es kann begehrt werden, mithin „gut" sein - um dessentwillen, weil es als Mittel zu dem Zweck dient, dessen Gutheit alles übersteigt und in sich einschließt, was es in dieser endlichen Welt gibt.
8. Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken Das Problemfeld ,Gott und das Leid' hat in den Liedern der beiden Rubriken ,Vom christlichen Leben' und ,In Kreuz und Anfechtung' seine differenzierteste Bearbeitung erfahren. In den meisten der anderen Rubriken taucht es allerdings auch auf; diese sollen hier durchgangen werden. 8.1. Die Bußlieder Die vier Bußlieder (CS 50 - 53)146 haben große Ähnlichkeit mit der größten Gruppe der Kreuzlieder 147 , nur daß das Thema des Leidens vergleichsweise zurücktritt 148 . Aus den Linien ,Sünde - Zorn Gottes - Leid' bzw. ,Umkehr des Sünders - Gnade Gottes - Rettung aus dem Leid' treten also die beiden ersten Glieder stärker hervor. ,Weg, mein Herz, mit dem Gedanken / Als ob du verstoßen wärst' (CS 51) hat dabei besondere Ähnlichkeit mit , Schwing dich auf zu deinem Gott', da es in beiden Liedern um die Überwindung der „hohen Anfechtung" geht, dem Zweifel nämlich, daß Gott nicht zum Verzeihen bereit sei. 8.2. Die Lieder von Tod und Ewigkeit Die bei Cranach-Sichart unter dem Titel ,Tod und ewiges Leben' versammelten Lieder stammen historisch aus verschiedenen Gruppen 149 . 146
CS 5 1 - 5 3 unter dieser Rubrik in der P.p.m. 1653, 5 0 - 5 2 bei Feustking. S . o . S. 124, Anm. 109 - CS 6 7 - 6 9 ; 71; 77; 85; 88. 148 In CS 51, 3. In CS 53, 10.13 f. als von den Feinden, nicht von der eigenen Sünde Verursachtes. 149 CS 1 1 5 - 1 3 4 . In der P.p.m. findet sich - jedenfalls bis 1666 - kein Lied Paul Gerhardts unter der Rubrik ,Sterbegesänge'. Unter ,Vom jüngsten Tage und Auferstehung der Toten' befindet sich , D i e Zeit ist nunmehr nah' (CS 120), was als Beispiel von Geschichtsdeutung aufgrund bestimmter Zeichen noch näher zu betrachten sein wird, s. u. S. 287 ff. Bei Feustking gehören zu den Sterbeliedern CS 114 (in der P.p.m. unter ,Christliches Leben'), CS 115-117; 125; 1 2 7 - 1 2 9 . CS 134 ist als ,Himmelslied' aufgeführt. Als Teile von eigenen Drucken anläßlich von Trauerfeiern erstveröffentlicht sind CS 116-119; 121-125; 131-133. CS 126 gehört als Abschluß zu Joachim Paulis eschatologischer Schrift, welche mit Meyfarts eschatologischer Trilogie verglichen werden kann, s. Kemp, 5 3 / CS, 514. CS 130 fällt bei Feustking unter die Loblieder. 147
Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken
139
Die zu einem gegebenen Trauerfall geschaffenen Lieder - also im Grunde mit Musik verbundene Kasualpoesie 150 , variieren auf immer wieder neue, durch die individuelle Eigenart des Kasus geprägte Weise einen Trostzuspruch, der darin besteht, daß der Eitelkeit dieser Welt die Herrlichkeit gegenübergestellt wird, in welcher der Verstorbene sich nun befindet. Führt die Anteilnahme an seinem T o d zur Trauer, so muß sie noch mehr zur Mit-Freude über seine jetzige Freude werden, die zur Vor-Freude auf die eigene Seligkeit überleitet 151 . Das Leid besteht also hier vor allem in der Trauer über den Verlust eines geliebten Angehörigen, bzw. es wird als Aspekt der Vanitas betrachtet. In einem Lied wendet Gerhardt ausnahmsweise philosophischen Trost an 152 , welcher aber die gleiche Struktur hat wie der geistliche. Nur stehen sich hier die Trauer und das Ansehen des Verstorbenen nach Wertmaßstäben damaliger bürgerlicher Ethik gegenüber. In der Begrifflichkeit der damaligen Loci würde man von dem Trost durch die ,immortalitas nominis' sprechen 153 . Die in Feustkings Gesangbuch unter , Sterbelieder' arrangierten Werke verfolgen hingegen z.T. 1 5 4 eine andere Absicht. Es geht ihnen um Trost, indem die bedrohliche Macht des Todes entlarvt wird, welcher mit der Sünde durch Christus überwunden worden ist und nun als Eingang in die himmlische Herrlichkeit dient. Dann gibt es noch Einzelstücke: , H e r r Gott, du bist ja für und für', CS 127, nach Ps 90, ist im Grunde ein Bußlied, in welchem die menschliche Vergänglichkeit als Folge der Sünde und von Gottes Zorn dargestellt wird. ,Ich bin ein Gast auf Erden', CS 128, ist eine ausladende Durchführung der Orientierungsfrage: der zwischen das Gast-Sein auf der durch Vergänglichkeit, Bosheit und Leid gezeichneten Welt und der himmlischen Herrlichkeit gestellte Mensch orientiert sich nach dieser hin. ,Ich weiß, daß mein Erlöser lebt', CS 130, nach Hi 19,25-27, tröstet, indem die Wiederherstellung des menschlichen Leibes in der Auferstehung dargestellt wird. Das ,Himmelslied' CS 134, J o h a n n e s sähe durch Gesicht / Ein edles Licht' (Apk 7,9 ff.) beschreibt nur, den Historienliedern 1 5 5 vergleichbar, 150 Vgl. damit die unvertonten Gedichte zu Trauerfällen, CS, 385-393, Nr. II-III; V-VI; VIII-XI; XIII; Bunners Nr. 2 (Paul Gerhardt, 363 f.), welche zumeist die gleiche Art von Trost aufweisen. Einen mehr weltlichen, philosophischen Trost bringen nur Nr. II und V. Nr. XI ist eher ein Epigramm, auf die Umstände des verstorbenen Hoffmanns Tod bezogen. Nr. II gehört übrigens zu demselben Trauerfall wie CS 117, Nr. V wie Bunners Nr. 2. 151 Dies ist der Fall bei CS 116-119; 121-125; 131; 133. Anders ist CS 109, auf den Tod Joachim Schröders - vgl. den Leichsermon, CS, 395-414 - geschrieben. Er ist eine Nachdichtung von Ps 71 mit allen Elementen eines Kiagepsalms. 152 CS 132. 153 Vgl. Hutter, Comp. XXIV,4 (114). Eine ähnliche Reduktion auf bürgerliche Werte im Sinne einer „Zivilreligion" geschieht in ,Du liebe Unschuld du', CS 76, s. u. S. 220 f. 154 CS 115 (nach Paul Röber), in gewisser Weise 125, sodann 129 und 131. 155 CS 14-17; 27, in denen in der Bibel berichtete Begebenheiten, insofern „Historien", ausführlich nacherzählt werden, s. u. S. 222 f.
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Die Transformation theologischer Lehre
die himmlische Herrlichkeit, wobei der darin enthaltene Trost nicht explizit gemacht wird. ,Hörst du hier die Ewigkeit', CS 126, ist gar kein Trostlied, sondern eine Mahnung durch die Androhung von Jüngstem Gericht und Hölle.
8.3. Die LobliederJ56 Während die Büß- und Sterbelieder sich auf bestimmte Motive der Lebensund Kreuzlieder beschränken, sie konkretisieren oder amplifizieren, begegnet in den Lobliedern die ganze Fülle dieser Motive. Umgekehrt findet sich das Motiv des Lobes auch ausdrücklich in einer großen Zahl von Liedern anderer Rubriken: In ,Sei wohlgemut, о Christenseel', welches als Modellfall für die Lebenslieder betrachtet wurde, bringt die Schlußstrophe die Zusammenfassung dessen, was der Beter als seine Lebenshaltung einnimmt, und in den beiden letzten Versen - als „Gelübde", wie in den Klagepsalmen üblich der Vorsatz des Lobpreises: „Und deiner weisen Hände Tun / Mit meinem Munde preisen" (CS 89, 16,6 f.). Der gesamte Argumentationsgang, die ganze Darstellung der durchlebten Anfechtung mündet also in den Lobpreis Gottes. Lobpreis findet sich als solches Ergebnis in den Schlußstrophen vieler Gerhardt-Lieder 157 . Ebenfalls handeln die Schlußstrophen auch oft von der eschatologischen Verherrlichung des Gläubigen durch Gott. So heißt es beispielsweise 158 : Leb immerhin, so lang er [Gott] will! Ists Leben schwer, so sei du still, Es geht zuletzt in Freuden aus: Im Himmel ist ein schönes Haus, Da, wer nach Christo hier gestrebt, Mit Christi Engeln ewig lebt.
Das Leben dessen, der sich in der Orientierungsfrage für Gott entschieden hat, zielt auf diese Herrlichkeit. Alles, auch das Leiden, ist unter dieser Ausrichtung eingeschlossen. Die Deutung des Leidens des Christen als Züchtigung des Kindes durch den Vater, der es liebt, und als Verähnlichung mit dem Sohn Gottes dient als Bestätigung dieser Auffassung. Leonhard Hutter zufolge ist das Leiden sogar nur etwas, das sich durch einen eingegrenzten Betrachtungswinkel für die menschliche Erfahrungs156 In der P.p.m. 1653: CS 96; 9 9 - 1 0 2 ; 104-106; 1 0 8 - 1 0 9 . Bei Feustking: CS 96; 9 9 - 1 0 2 ; 104; 106-108; 110; 112-113. Ein spezielles Loblied ist etwa CS 98 ,Gott Lob! N u n ist erschollen'. Vgl. BUNNERS, Paul Gerhardt, 193 ff. 157 CS 70, 9,7 f.; 71, 9,7; 81, 17,6-8; 82, 15,7 f. usw. 158 74, 1 6 , 3 - 6 , vgl. CS 66, 20,3 f.; 67, 8,7; 72, 15,6; 75, 18,8; 77, 9; 80, 20; 83, 1 2 , 5 - 8 usw. Es fiele leichter, die Lieder aufzuzählen, bei denen es nicht der Fall ist.
Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken
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weise ergibt. Betrachtet man alle Ereignisse gleichsam mit einem Blick, sub specie aeternitatis, dann erkennt man, daß alles in einer zweckmäßigen Ordnung beschlossen ist, daß es mithin keine Unordnung, also auch kein Leid gibt 159 . Es wird später noch erörtert werden, ob dieser Gedanke auch bei Gerhardt eine Rolle spielt 160 . D a ß die glorificatio der Zielpunkt des menschlichen - konkret: des christlichen - Lebens ist, gelangt nun ganz konsequent dadurch zum Ausdruck, daß sie am Schluß des jeweiligen Liedes zur Sprache kommt. Das Lied ist ja - im Unterschied zum Bild - etwas, dessen Existenz sich in einem zeitlichen Verlauf vollzieht. Dies ist ein Merkmal, das Sprache und Musik als menschliche Ausdrucksformen, die durch das Gehör wahrgenommen werden, von denen unterscheidet, auf welche der Gesichtssinn gerichtet ist. In diesem Merkmal stimmt das Lied mit dem menschlichen Leben und der Geschichte selbst überein, von der es handelt: sie sind, indem sie sich in der Zeit vollziehen. So entspricht die Stelle der glorificatio-Aussagen am Schluß des Gedichtes, bzw. des Liedes, genau der teleologisch-eschatologischen Sicht von Leben und Geschichte. Das Lied ist gleichsam ein Mikrokosmos mit der Seligkeit am Ende. Fragt man nun nach dem, worin die Herrlichkeit des Menschen, worin seine Tätigkeit als Seliger besteht, so stößt man auf das andere in den Schlußstrophen so verbreitete Motiv, dem des Lobpreises. Das, worauf der Gläubige nach der Lösung des Gegensatzes widerstreitender Thesen kommt, das, wohin er nach der Uberwindung seines Leids gelangt, ist das Lob Gottes. So heißt es 161 : Sollt ich denn auch des T o d e s W e g U n d finstre Straßen reisen: W o h l a n , so tret ich Bahn und Steg, D e n mir dein Augen weisen. D u bist mein Hirt, D e r alles wird Zu solchem Ende kehren, D a ß ich einmal In deinem Saal D i c h ewig m ö g e ehren.
An einigen Stellen wird ausdrücklich hervorgehoben, daß dieser Lobpreis gesungen ist 162 : S. o. S. 43. S.u. S. 160f. 161 CS 73,12. 162 CS 86, 6. Der Gesang 79,18; 92,7; 103,12; 128,12 usw., vom eschatologischen Lobpreis auch CS 32,8; 78,16; 99, 12,9 f. usw. Ansonsten ist die Herrlichkeit konkretisiert durch die Schau Gottes CS 32,5; 96,9, das unmittelbare Hören Gottes CS 94,15, die vollkommene Freude: CS 100, 15,7 f.; 101, 18,3 f. usw. 160
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D i e T r a n s f o r m a t i o n theologischer Lehre
M e i n H e r z e lacht v o r g r o ß e r Freud, W a n n ich bei mir b e d e n k e , W i e herzlich gern in b ö s e r Zeit D e i n H e r z sich z u uns lenke. D e r H e r r ist f r o m m e s M u t s , T u t uns nichts als Guts. D a s ist mein L o b g e s a n g , D e n ihm z u m E h r e n d a n k Ich hier und d o r t will singen.
Die Freude über Gottes Sieg und die Errettung aus der Not verschafft sich in der konkreten zeitlichen Situation {„hier") im Lobpreis Ausdruck. Dieser Lobpreis wird aber auch die Ewigkeit des Gläubigen erfüllen, wenn der Sieg Gottes endgültig und die Freude vollkommen ist {„und dort). Das heißt aber: das konkrete Lied, so wie es Paul Gerhardt geschaffen hat und wie es in einer bestimmten Lebenslage gesungen wird, ist Vorwegnahme, Vorspiel von etwas, was die Aktivität des Menschen in der Seligkeit ganz ausfüllen wird. So bildet sich eine Kette des Lobpreises, welche in der Zeit die Generationen der Kirche durchzieht, die Schöpfung miteinschließt und in der Ewigkeit der Herrlichkeit gemeinsam mit den Engeln fortgesetzt wird 163 . Paul Gerhardt hat, Ps 145,4-7 folgend, diese Kette beschrieben (CS 112,4-7). In diesem Zusammenhang spielt ein besonderer Gedanke eine Rolle, nämlich der Gedanke von der Unendlichkeit des Lobes, bzw. von der Unauslobbarkeit Gottes: Zunächst richtet sich Dank an Gott wegen der Taten, die er in der Geschichte verrichtet hat, und Lob wird ihm aufgrund dieser Taten gespendet. Bereits diese Taten sind so viele, daß der Lobsänger nicht zum Ende kommen kann. So heißt es nach einer summarischen Aufzählung einiger solcher Taten Gottes: A c h , ich bin viel z u w e n i g , Zu rühmen seinen R u h m ! D e r H e r r allein ist K ö n i g , Ich eine w e l k e Blum.
163 Der von den Engeln gesungene Lobpreis wird außer CS 112, 4,3 u.a. auch noch CS 40,10 erwähnt, der von der ganzen Schöpfung gesungene 40,8. - Es mutet eigentümlich an und ist zugleich ganz folgerichtig, wenn der Nürnberger Prediger Conrad Feuerlein in einer postumen Ausgabe von Gerhardts Liedern von diesem sagt, daß „er nunmehr die allerherrlichsten Lieder, im Chor der Auserwählten, höchst=mit=freudig anstimmet." Feuerlein fährt fort: „Also wir die Seinen so lange singen, bis wir auch dahin gelangen, da wir mit ihme, und der gantzen Schaar der Seeligen, einen Chor machen, und ein Halleluja nach dem anderen, ja das Lied des Lammes (so von Gott eingegeben) unablässig wiederholen, und sogar den H. Engeln nichts bevor geben werden. Wozu uns Gott nach diesem hinderlassenen Thränen=Thal (darinnen man jetzt höret, wovon einem die Ohren gellen) genädig helffen wolle, um des zu Bethlehem besungenen Jesus=Kindlein willen. Amen!", Vorrede)(VT -)(VT,
zit. n a c h ECKART, 11 f.
G o t t und d a s Leid in den anderen Liederrubriken
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J e d o c h weil ich gehöre G e n Zion in sein Zelt, Ists billig, daß ich mehre Sein L o b vor aller Welt ( C S 108,10, nach Ps 146,10).
Doch an seinen Taten wird Gott selbst erkennbar, an deren Größe seine Größe. Mit der unzählbaren Fülle seiner Wohltaten hat Gott „sein Gemüte / Und unerschöpfte Güte / Mir klar gezeiget an." (CS 39, 2,8-10). Genau diese Größe Gottes aber ist es, in welcher auch der Gegensatz zwischen Leid und Freud, zwischen Tod und Leben eingefangen und umschlossen ist, in welchem, in der Zeitlichkeit, der Gläubige sich noch zu quälen hat: G o t t , du bist sehr hoch zu loben, D i r ist nirgend etwas gleich, W e d e r hier bei uns noch droben In d e m Stern- und Engelreich. Dein T u n ist nicht auszusprechen, Deinen R a t kann niemand brechen, Alles liegt dir in dem Schoß, U n d dein Werk ist alles groß. D u ergibst mich großen N ö t e n , G i b s t auch wieder große Freud, H e u t e läßt du mich ertöten, M o r g e n ist die Lebens Zeit, D a ermunterst du mich wieder U n d erneuerst meine Glieder, H o l s t sie aus der E r d e n k l u f t , G i b s t dem H e r z e n wieder L u f t ( C S 109,11 f., nach Ps 7 1 , 1 9 f.).
Schließlich heißt es in der Nachdichtung von Ps 145,3: „Gott ist alleine groß und schön, / Unmöglich auszulohen" 164 (CS 112, 4,1 f.). Das gilt nicht nur für die Gläubigen in der Zeit, sondern „Auch denen, die doch allzeit stehn / Vor seinem Throne droben. / Laß sprechen, wer nur sprechen kann, / Doch wird kein Engel noch kein Mann / Des Höchsten Groß aussprechen." (CS 112, 4,3-7). Es ergibt sich also eine Vielheit von Aussagen über Gott, die aber nicht - etwa als eine Pluralität von „Positionen" - einander widersprechen, sondern sich bestätigen und so aufeinander aufbauen, ohne doch jemals zu einem Ende kommen zu können. Eben dies macht „Ewigkeit" aus. Daß diese im Lobpreis enthaltenen Aussagen über Gott aber nie abgeschlossen werden können, besagt andererseits keineswegs, daß Gott im Grunde gar nicht - jedenfalls nicht mit der Sprache - erfaßt werden könne. Gerhardt sagt mit Absicht nicht, Gott sei „unaussprechlich", sondern er sei „unmöglich auszulo164 WALTER DRESS hat übrigens in seinem nach diesem Liedvers benannten Aufsatz, 195, diesen Vers die Summa dessen genannt, was Paul Gerhardt zu sagen hatte.
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Die Transformation theologischer Lehre
b e n " 1 6 5 . D a s Sprechen als Lobpreisen e r f a ß t also G o t t sehr wohl. Es ist gerade die W e i s e , wie G o t t e r f a ß t werden kann, die W e i s e , sich ihm zu n ä h e r n , die allein ihm angemessen ist. U n d zwar ist sie dies gerade, indem sie nie zu E n d e k o m m e n kann. E s gibt nie ein letztes W o r t vor dem Schweigen 1 6 6 . D a s G o t t - A n s p r e c h e n nimmt vielmehr die ganze Ewigkeit ein. D a r u m ist j a die Ewigkeit der „ O r t " und die „ Z e i t " des Lobpreises. In jedem begrenzten W o r t , auch in dem G e d i c h t oder Lied mit seinem Anfang und E n d e , ist j e d o c h auch schon die Fülle des gesamten unendlichen Lobpreises zusammengefaßt und vorweggenommen. U n d zwar geschieht dies gerade dadurch, d a ß er überhaupt angestimmt wird - das bewußte Anstimmen ist dabei ein spezifisches M e r k m a l der Loblieder - und indem am Schluß, dort, wo das Lied aufhören muß, auf die ewige Herrlichkeit, auf den ewigen Lobpreis in derselben verwiesen wird. D a s , was von G o t t über die jeweiligen, nie vollständig abzuzählenden Prädikate hinaus gesagt werden kann, das, was er ist, weil er überhaupt Gegenstand von Lob ist, wird in dem zitierten Liedvers mit den M e t a - P r ä d i k a t e n „ G r ö ß e " und „ S c h ö n heit" artikuliert. „ G r ö ß e " wird ausgelegt durch die Unendlichkeit des L o b preises. D e r andere Begriff der „ S c h ö n h e i t " entspricht der Vielfalt des Lobpreises, der Variationskunst, die sich in ihm vollzieht, wie in den Ausführungen über die Poetik noch gezeigt werden wird 1 6 7 . Aus diesen Vorüberlegungen wird der besondere C h a r a k t e r der L o b - und Danklieder Paul Gerhardts verständlich. Sie enthalten im Grunde alles, was in anderen Liedern auch enthalten sein kann, nur stellen sie es - und dies wird oft schon im Anfang deutlich - unter das Vorzeichen des Lobpreises. U m g e k e h r t werden dadurch alle Lieder auch anderer Gattungen, also der geistliche Gesang schlechthin, als gesungenes Lob G o t t e s erkennbar. Charakteristisch für viele D a n k - und Loblieder ist der Einsatz, in welchem der Sänger sich selbst o d e r die Gemeinde zu D a n k und L o b G o t t e s auffordert: Nun danket all und bringet Ehr, Ihr Menschen in der Welt, Dem, dessen Lob der Engel Heer Im Himmel stets vermeldt168.
165 Diese oder ähnliche Wendungen auch CS 23, 6,3; 60, 1,4. Bei Johann Arndt, Wahres Christentum: 11,26,10 (Ausgabe v. 1708, 321). 166 Im Gegensatz zu einer mystischen Auffassung des Wortes, welche Karl Rahner klassisch formuliert hat, das Wort „Gott" sei „gerade in der richtigen Verfassung, daß es uns von Gott reden kann, indem es das letzte Wort vor dem Verstummen ist, in welchem wir es durch das Verschwinden alles benennbaren einzelnen mit dem gründenden Ganzen als solchem zu tun haben.", Grundkurs des Glaubens, 56. Vgl. GERDA VON BROCKHUSEN, Art. Sprache der Mystik, 467. 167 S. u. S. 203 ff. 168 CS 96,1, nach Sir 50,24.
Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken
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O d e r an sich selbst gerichtet, also als besondere Form des Selbstgespräches, des sprachlich vollzogenen Selbstbezuges: Du meine Seele, singe, Wohlauf und singe schön Dem, welchem alle Dinge Zu Dienst und Willen stehn. Ich will den Herren droben Hier preisen auf der Erd, Ich will ihn herzlich loben, So lang ich leben werd169.
Die Entwicklung der Einzelglieder des Lobliedes ergibt sich dann dadurch, d a ß G r ü n d e angeführt werden, weshalb G o t t denn zu loben ist. So heißt es beispielsweise: „Sollt ich meinem G o t t nicht singen / Sollt ich ihm nicht d a n k b a r sein? / Denn ich seh in allen Dingen / Wie so gut ers mit mir mein." (CS 99, 1,1-4) Was dann folgt, ist eine Darstellung der auf den Sänger selbst ausgerichteten Providentia Dei peculiaris, gegliedert nach den Schema des O r d o Salutis im Prädestinationsartikel 1 7 0 . Dabei wird auch f ü r das erlittene Leiden gedankt, das als heilsame Züchtigung erkannt worden ist (Str. 9-11). Ein anderer Typus besingt nach dem Vorbild der Psalmen die Errettung aus bestimmten Notfällen 1 7 1 . Dies kann auch mit der Durchf ü h r u n g einer Disputation verbunden sein. So wird in ,Auf den Nebel folgt die Sonn', CS 102, ganz wie in ,Sei wohlgemut о Christenseel' die Anfechtung durch die These des Satans durchgekämpft „Gott ist . . . fern von dir / Alles Unglück bricht h e r f ü r , " (Str. 6,5 f.) 172 . Nach der Überwindung der Anfechtung eröffnet der Schluß die Zuversicht mit den Worten: „Bis d a ß ich deine Lieb / U n d ungezählte Zahl / D e r großen Wunderdinge / Mit ewgen Freuden singe / Im güldnen Himmelssaal." (CS 104, 12,4-8).
8.4. Die Lieder aus kleineren
Gruppen
Die Lieder aus kleineren Rubriken lassen sich auf die bereits erfaßten Typen verteilen. So sind die Morgenlieder (CS 35 - 37) 173 im wesentlichen spezielle Loblieder in der Situation des Tagesanfangs. In ,Die güldne Sonne' (CS 37) geschieht dabei auch die Selbstübereignung an Gottes gubernatio (Str. 9,6-10), und daraus erwächst die Bereitschaft zu leiden CS 108,1, nach Ps 146,1 f. Des weiteren CS 98,1; 99,1; 100,1, sowie 5,1; 10,1; 35,1; 37,3; 38, 1,4-6; 39, 1,7-10; 43,1 f. 170 Ähnlich in CS 96; 101; 105; 106. m CS 102; 104; 108; 109, nach Ps 71; CS 113, nach Sir 51,1-17. 172 Ahnlich in CS 104, wo Str. 4 f. außerdem, wie in den Bußliedern unter den Kreuzliedern, der Zusammenhang Sünde - Leid eingefügt wird, sowie CS 108 und 109. 173 CS 35-36 in der P.p.m. 1653, CS 37 bei Feustking.
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Die Transformation theologischer Lehre
(Str. 11) in der Aussicht darauf, daß Gott dem Leiden ein Ende bereiten wird (Str. 12). Auch die Abendlieder (CS 38 - 39)174 haben mit ihrem Selbstaufruf zum Lob den Charakter eines Lobliedes. Dabei wird in ,Nun ruhen alle Wälder' (CS 38) die Situation des Abends zum Bild für das Sterben, und in Str. 3-7 geht es um das Sich-Einstellen aufs Sterben und auf das ewige Leben 175 , vergleichbar mit dem Sterbelied ,Ich bin ein Gast auf Erden', CS 128. ,Der Tag mit seinem Lichte', CS 39, enthält, Luthers Abendsegen nachgedichtet, in Str. 4-5 ein Bußgebet. Wie in ,Nun ruhen alle Wälder' der Abend, wird in dem ,Sommer-Gesang' 176 ,Geh aus mein Herz, und suche Freud' (CS 40) die Situation des Sommers zum Bild, und zwar in einem Lobliedteil (Str. 1-12) für das ewige Leben, und in einem Bittgebet (Str. 13-15) für die Heiligung eines Lebens, das auf die Ewigkeit schon hinlebt 177 . Der ,Buß- und Betgesang bei unzeitiger Nässe und betrübtem Gewitter' (J. G. Ebeling) ,Ο Herrscher in dem Himmelszelt' (CS 41) stellt, diesem Titel entsprechend, ein Kreuzlied im Sinne eines Bußliedes in dieser besonderen Situation dar. Gleichsam aus dem Rückblick auf diese Situation erfolgt dann das ,Danklied für einen gnädigen Sonnenschein' 178 , ,Nun ist der Regen hin' (CS 42). Die Verbindung der Situation des Ungewitters mit dem Zorn Gottes ist dabei etwas der damaligen Frömmigkeit Geläufiges. Dementsprechend hat Gerhardt auch bevorzugt Ausdrücke aus dem Bereich des Ungewitters als Metaphern für das Leid benutzt 179 . Das ,Danck-Lied einer reisenden Persohn auf dem Rück-Wege' (J. G. Ebeling) 180 ,Nun geht frisch drauf, es geht nach Haus' (CS 43) transzendiert den Dank für die Bewahrung auf einer Reise zum Dank für Gottes conservatio im ganzen Leben.
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CS 38 in der P.p.m. 1653, CS 39 bei Feustking. Vgl. die Interpretationen von HEIMO REINITZER in seinem Nachwort zu: Paul Gerhardt, Ich bin ein Gast auf Erden, 132-135, und von ALBRECHT GRÖZINGER, Warum Matthias Claudius den Mond besingt und Paul Gerhardt nicht, insbes. 13 f. 176 Unter diesem Titel in der P.p.m. 1653 und bei J. G. Ebeling. 177 Zur genaueren Interpretation dieses Liedes s. LOTHAR SCHMIDT, Hertz- und GartenZier, sowie BRÄNDLE, „Schau an der schönen Gärten Zier" und MICHAEL VON ALBRECHT, Spuren der Rhetorik, 284-292. m So die P.p.m. 1653 und bei J. G. Ebeling. m Beispiele von Wetterliedern: Johann Heermann ,In großem Ungewitter', nach einem Gebet aus Arndts Paradiesgärtlein, FT 1,343; Rist, FT 11,224; Johann Saubert d.J., FT V,257, vgl. BERGER, 118 f.; BECKER, Studien zum geistlichen Lied des Barock, 66 f. Zur Wettermetaphorik bei Gerhardt s. CS 56, 5,6; 63, 3,3; 63,5; 80, 1,2 f.; 81, 6,1; 88,6; 90, 1,3; 92, 2,3 f.; 122, 2,3 128, 3,1 f.; 129,8; von emblematischem Charakter 73, 9,1-4; 99, 11,5; 102,1; 127, 11,1. Vgl. im Zusammenhang 69, 4,1; 58, 6,3. Bei Gryphius s. das Sonett ,An die Welt', GA 1,61, und die Belege bei WLNDFUHR, 192 f. Den Zusammenhang Zorn Gottes - Schuldbewußtsein - Gewitter hat HEINZ-DIETER KLTTSTEINER versucht zu bearbeiten, allerdings in theologischer Hinsicht völlig mangelhaft. 180 In der P.p.m. 1653 als ,Dancklied nach der Reise'. 175
Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken
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Schließlich haben vier Lieder (CS 44-47) 1 8 1 die Ehe zum Gegenstand. Die meisten von ihnen (CS 44; 46-47) sind im Grunde auf die spezielle Situation der Ehe bezogene Lebenslieder. So wird in ,Der aller Herz und Willen lenkt' (CS 44) auch auf das Problem des Leids eingegangen (Str. 7 - 1 1 ) und der Gewißheit Nachdruck verliehen, daß, wer Gott liebt, auch im Leide Gottes Kind bleibt und wieder aus dem Leid gerettet wird. ,Ein Weib, das Gott den Herren liebt' (CS 45) ist hingegen ein Loblied, das nicht - jedenfalls nicht unmittelbar - Gott gilt, sondern der vorbildlichen Ehefrau. Dabei werden Prädikate, die Gott in seiner Providenz auszeichnen, in gleichsam abgeleiteter Weise von ihr ausgesagt 182 . Die beiden von den Sakramenten handelnden Lieder (CS 33-34) besingen schließlich die Begründung und Bestätigung der Seinsgemeinschaft mit Jesus Christus und stehen damit in großer Nähe zu den Liedern, die auf die Kirchenfeste bezogen sind.
8.5. Die Lieder zu den
Kirchenfesten
Die Struktur der zentralen Größe, die in dieser Studie „Seinsgemeinschaft" genannt wird, kann näher betrachtet werden in den beiden Schlußstrophen des Kreuzliedes ,Warum sollt ich mich doch grämen?' (CS 83, 11,1-12,4): Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, Du bist mein, Ich bin dein, Niemand kann uns scheiden: Ich bin dein, weil du dein Leben Und dein Blut Mir zugut In den Tod gegeben. 181 CS 44, , D e r aller H e r z und Willen lenkt' veröffentlicht in einem Sonderdruck zur Hochzeit von Joachim Fromme und Sabina Barthold 1643, s. CS, 501; Kemp, 44, die älteste nachweisbare Veröffentlichung eines Gerhardtschen Liedes. CS 45, ,Ein Weib, das Gott den Herren liebt', erschien 1653 in der P.p.m. unter den Lebensliedern (wie auch J e s u , allerliebster Bruder', CS 65). CS 46, ,Voller Wunder, voller Kunst', wurde von Feustking, wohl in Blick auf das Ehebüchlein Martin Luthers, den Katechismusliedern zugeordnet, CS 47, ,Wie schön ists doch, H e r r Jesu Christ, . . . Im Stande heiiger Ehe', den Standes-, Amts- und Berufsliedem. 182 So ist z.B. „Sie schläft mit Sorg, ist früh heraus" (CS 45, 5,1) nach Prov 31,15 auch ein Anklang an Ps 121,4. „Sie tut ihm [ihrem Ehemann] Liebes und kein Leid,/ Durchsüßet seine Lebenszeit" (Str. 3,1 f.) verwendet den Ausdruck des „Durchsüßens" (auf ihn wird unten, S. 161, noch eingegangen werden), welcher sonst von Gottes Trostwirken ausgesagt wird. Eine ähnliche Erscheinung findet sich in dem Bittgebet nach Arndt ,Umb Christliche beständige Freundschafft' (J. G. Ebeling) J e s u , allerliebster Bruder' (CS 65, in der P.p.m. 1653 ebenfalls unter den Lebensliedern), wo von dem erbetenen Freund auch erwartet wird, daß er tröste (Str. 9) und züchtige (Str. 11).
148
Die Transformation theologischer Lehre
Du bist mein, weil ich dich fasse Und dich nicht, О mein Licht, Aus dem Herzen lasse. Diese Gemeinschaft ist als Gemeinschaft zweier Partner eine doppelseitige Beziehung. Jesus Christus bezieht sich auf den Menschen und dieser auf ihn. Die Formel „Du bist mein, ich bin dein" 183 charakterisiert diese Gemeinschaft als Liebesgemeinschaft, und zwar als gegenseitige Habe. Diese Gemeinschaft ist nun auf verschiedene Weise begründet, je nachdem von welchem der beiden Partner aus man sie betrachtet. Von der Seite Jesu aus ist sie durch seine Taten in der Heilsgeschichte begründet. Durch diese Taten - gipfelnd in seinem Tod - hat sich Jesus seine Gemeinde und die einzelnen Menschen darin erkauft - bzw. sich ihr zueigen gemacht 184 . Von der Seite des Menschen wird die Beziehung zu Jesus Christus dadurch begründet und erhalten, daß er ihn durch den Glauben in sein H e r z aufnimmt und an ihm festhält - oder auch sich selbst Jesus im Glauben und der Liebe schenkt und in Gott eingeschlossen wird 185 . Diese doppelseitige Begründung der Seinsgemeinschaft zwischen Gott und Mensch ist das Hauptthema der Kirchenjahreszeitlieder, und zwar indem die einzelnen Taten Gottes, mit welchen er von seiner Seite aus die Beziehung zu dem Menschen herstellt, jeweils differenziert betrachtet werden. Paul Gerhardt hat Lieder zum Advent geschrieben, zu Weihnachten, Neujahr, dem Tag der Beschneidung Christi, zur Passion, zu Ostern, Pfingsten und Trinitatis 186 . Indem sie von den Festen bzw. Zeiten des Kirchenjahres handeln, singen diese Lieder von den Ereignissen der Heilsgeschichte, die diese Feste feiern und in diesen Zeiten bedacht werden. Alle Lieder laufen in irgendeiner Weise darauf hinaus, daß das Heil, das Gott auf diese Weise geschaffen hat, angenommen wird, damit aber Gott selbst. Diese Seinsgemeinschaft verleiht dann Zuversicht auf die Bewahrung durch Gott vor Sünde und im Leid und H o f f n u n g auf die eschatologische Verherrlichung 187 . So heißt es in dem Advents-Gesang 188 ,Wie soll ich dich empfangen' an den ankommenden Jesus gerichtet: „Du kommst und machst mich groß / Und hebst mich hoch zu Ehren / Und schenkst mir großes Gut," (CS 1, 183
Diese Formel stammt aus dem Minnegesang und nimmt Cant 2 , 1 6 ; 6 , 2 auf, s. H A U F E , Das wohltemperierte geistliche Lied Paul Gerhardts, 65 f. 184 Das durch die Sendung Jesu Bewirkte hat sowohl den Aspekt, daß der Mensch Jesus zueigen ist, wie auch, daß Jesus dem Menschen zueigen ist, s. CS 6,3. 185 Diese Möglichkeit z.B. in CS 12, 5,8-10; 21,5; 23,7. 186 Für die P.p.m. 1653 s.o., S.91 f. Vgl. die Besprechung bei B U N N E R S , Paul Gerhardt, 173-188. 187 Vgl. die Charakterisierung dieser De-tempore-Lieder durch W A L T R A U T - I N G E B O R G S A U E R - G E P P E R T , Art. Gerhardt, 287. 188 Vom Advent: CS 1-2.
Gott und das Leid in den anderen Liederrubriken
149
4,4-6). Indem Jesus so kommt, umfängt er „alle Welt / In ihren tausend Plagen / Und großen Jammerlast" (Str. 5,4-6). Nachdem diese Tat Gottes geschildert ist, wendet sich der Sänger an die Gemeinde: „Das schreib dir in dein Herze, / Du hochbetrübtes Heer / Bei denen Gram und Schmerze / Sich häuft je mehr und mehr. / Seid unverzagt . . . " (Str. 6,1-5). Dieses heilsgeschichtliche Ereignis - das Kommen Christi ins Fleisch - wird aus der Vergangenheit herausgeholt, indem erinnert wird, indem es in die memoria, hier heißt es ins „Herze", eingeschrieben wird. Dadurch wird der Christ an der Stelle der Geschichte, wo er steht, der Tragweite dieses heilsgeschichtlichen Ereignisses gewahr und kann sich den Trost zusprechen lassen, welcher daraus entspringt. Auf eine Rede im genus didascalium folgen Reden im genus paideuticum bzw. consolatorium. Diese Struktur - Erzählung der Heilstat, dann Aneignung durch den Gläubigen - durchzieht die meisten Kirchenjahreslieder Gerhardts. Dabei kann das Gewicht der beiden Teile schwanken. In manchen Liedern - es handelt sich aber um die kleinere Zahl - überwiegt der erzählende Teil, so daß es sich fast ganz um eine leicht paraphrasierende Nacherzählung der biblischen Geschichte handelt. Doch auch hier finden sich applikative Elemente 189 . Ahnlich wie in jenem Adventlied heißt es dann in dem Weihnachtslied 190 ,Ich steh an deiner Krippen hier': „Eh ich durch deine H a n d gemacht, / Da hast du schon bei dir bedacht, / Wie du mein wolltest werden." (CS 6, 3,5-7). Von der Seite Gottes her wird die Seinsgemeinschaft mit dem Menschen schon durch seine Menschwerdung begründet. Von der Seite des Menschen lautet dann die Bitte: „Daß ich dich möge für und für / In, bei und an mir tragen. / So laß mich doch dein Kripplein sein . . . " (Str. 14,3-5). Ohne daß das Ereignis aufgelöst wird, daß Gott Mensch wurde und als Kind in einer Krippe lag, wird die Krippe zur Metapher für die memoria, das menschliche Herz, in welches der Gläubige seinen Heiland aufgenommen hat 191 .
1!B CS 7; 14-17; 27. Ähnlichen Charakter haben CS 111 (nach Dtn 32) und CS 134 (nach Apk 7,9 ff.). Auf diese Lieder trifft die Poetik geistlicher Lieder in niederem Stil ru, die KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 393-457, dargelegt hat. - Das Verhältnis Erzählung Applikation in CS 14, der Nachdichtung eines Passionsliedes von Sebald Heyden, ist meisterhaft analysiert von GERHARD KRAUSE, 287-295. Allerdings trifft es nicht zu, wenn KRAUSE, 291, meint, gegenüber dem „nicht mehr darstellbaren Weiterwirken" des dargestellten Kreuzgeschehens „im Gebet" müsse „auch das Aneignungspathos" zurückweichen. Das Gebet (ζ. B. CS 14, 19,10-12) ist gerade Gebet um Aneignung und so gerade in Worten dargestelltes Weiterwirken der Heilstat. l *> Zu Weihnachten: CS 3-8. 1,1 Ähnliches geschieht mit der Grabhöhle in dem Gesang ,Vom Begräbnis des H E R R N JEsu' (J. G. Ebeling) ,Als Gottes Lamm und Leue', wo es am Schluß heißt: „ . . . ich will dir / Dein Grab bereiten in mir hier, / So leb und sterb ich selig." (CS 17, 10,5-7). Desgleichen im Schlußchor von J. S. Bachs Matthäuspassion.
150
Die Transformation theologischer Lehre
In den Liedern von der Passion 192 , in welcher Gottes Kondeszendenz ihr Ziel erreichte, findet auch die Darstellung dieser gegenseitigen Seinsgemeinschaft von Gott und Mensch ihren Höhepunkt. Nach der Erzählung von dem Opfergang des Lammes in ,Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld' heißt es: „O süßes Lamm, was soll ich dir / Erweisen dafür, daß du mir / Erweisest so viel Gutes? / / Mein Lebetage will ich dich / Aus meinem Sinn nicht lassen; / Dich will ich stets, gleich wie du mich, / Mit Liebesarmen fassen." usw. (CS 12, 4,8-5,4). Dabei ist Gerhardt bewußt, daß dieses Aufnehmen Gottes das natürliche Fassungsvermögen des Menschen übersteigt: „Erweitre dich, mein Herzensschrein / Du sollst ein Schatzhaus werden . . . " (Str. 7,1 f.). Diese Seinsgemeinschaft legt sich dadurch aus, daß der Gläubige, wie er es eben hier tut, von Jesus singen will (Str. 6,1 f.) und drückt sich aus in der Zuversicht, von Jesus bis zum Eintritt in die Herrlichkeit bewahrt zu werden (Str. 8-10): „Und wenn des Kreuzes Ungestüm / Mein Schifflein treibet üm und üm / So bist du dann mein Anker." (Str. 9,8-10). In , Ο Welt, sieh hier dein Leben' (CS 13) nennt Gerhardt in dem Aneignungsteil (Str. 9-16) zu Beginn den Vorsatz „Es soll dein Tod und Leiden / . . . Mir stets in meinem Herze ruhn." (10,4-6) und führt dies aus nach dem Schema lutherischer Passionsbetrachtung meritum - satisfactio - monitumm: Durch die Einsicht, daß Jesus dieses Leiden in Stellvertretung {satisfactio) für unsere Sünden getragen hat, erkennen wir unsere Sünden (Str. 11 f.). Zugleich ist Jesu Leiden für uns Vorbild (monitum): „Ich will daraus studieren / Wie ich mein H e r z soll zieren / Mit stillem, sanften Mut" (13,1-3) usw. Die in manchen Kreuzliedern 194 hervorgehobene Leidensbereitschaft erhält hier in Jesu Verhalten ihren Grund. Ihren Gipfel erfährt Gerhardts Passionsdichtung in den sieben PassionsSalven an die Glieder des leidenden Christus nach den Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Hymnen (CS 18-24). Sie werden als höchste Verdichtung der in Gerhardts Werk wirksamen Motive zum Abschluß von deren Darlegung noch eigens näher betrachtet werden 195 . In den Osterliedem 1 9 6 wird die geläufige Struktur fortgesetzt. So heißt es nach dem Bericht von Jesu Auferstehung in ,Auf auf, mein Herz mit Freu-
m
CS 12-24. CS 25 gehört in der P.p.m. 1666 zur Rubrik ,Vom christlichen Leben und Wandel'. 1,3 Das erste Stück dieses Schemas, die Betrachtung des meritum, das Christus für uns erwirkt hat, ist in der Erzählung seiner Heilstat, Str. 6-8, gegeben. Dazu TRAUGOTT KOCH, Drei Passionslieder Paul Gerhardts, 3; 12-15. In diesem Aufsatz analysiert er auch ,Ein Lämmlein geht' und , Ο Haupt voll Blut und Wunden'. ,Ein Lämmlein geht' ebenfalls interpretiert von LUISE GNÄDINGER. ZU dem Schema der Passionsmeditation s. AXMACHER, Aus Liebe, 62. " · S.o. S. 137f. S. u. S. 240 ff. 1% CS 26-28.
Charakteristik der Liederrubriken
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den': „Ich hang und bleib auch hangen / An Christo als ein Glied, / Wo mein Haupt durch ist gangen, / Da nimmt er mich auch mit, / Er reißet durch den Tod, / Durch Welt, durch Sünd, durch Not" (CS 26, 7,1-6). In den Pfingstliedern 197 Paul Gerhardts gibt es hingegen keine Nacherzählung des Pfingstereignisses von Act 2, sondern, meist gleich zu Beginn, die Bitte, daß der Heilige Geist ins Herz komme und so die Seinsgemeinschaft herstelle. Diese Bitte ist, was ihr gleichsam motivierende Kraft verleiht, verbunden mit einem Lobpreis des Heiligen Geistes und auch mit Bitten um das, was er im einzelnen bewirken kann. So wird in , Zeuch ein zu deinen Toren, / Sei meines Herzens Gast' auch darum gebeten, daß der Heilige Geist in dem vom Krieg zerstörten Land wieder Frieden schaffe (CS 29,9-12): „Ach, edle Friedensquelle, / Schleuß deinen Abgrund auf / Und gib dem Frieden schnelle / Hier wieder seinen Lauf." (Str. 9,1-4). Auf diese Weise wird deutlich, daß der Heilige Geist es ist, durch dessen Kommen ins Herz des Menschen von der menschlichen Seite aus die Seinsgemeinschaft mit Gott hergestellt wird. Desgleichen ist zu sehen, daß Gott seine Providenz in der Geschichte dadurch vollzieht, daß er als Heiliger Geist in den Menschen wirkt. In dem einzigen Trinitatislied ,Was alle Weisheit in der Welt' endlich wird die Lehre von der Dreieinigkeit wiedergegeben, wobei unter ihren Werken nach außen (CS 32,9), in heilsgeschichtlicher Reihenfolge dargestellt, auch gerühmt wird, daß sie „all dein Kreuz durchsüßet" (Str. 4,8) und der Gesang schließlich in das eschatologische Lob des Geheimnisses der Dreieinigkeit mündet (Str. 8).
9. Charakteristik
der Liederrubriken
in ihrer Umsetzung der Loci
theoretici
Der Durchgang durch die verschiedenen Liederrubriken der , Praxis pietatis melica' von 1653, in denen Lieder von Paul Gerhardt enthalten sind, hat gezeigt, daß sie ein jeweils deutliches Profil besitzen. Eigenart und Zusammenhang der Liederrubriken ergeben eine Ordnung, innerhalb derer die Lieder Paul Gerhardts zu verstehen sind. Ganz im Sinne von Hülsemanns Definition der „geistlichen Rede" erweisen sich die geistlichen Lieder dabei als eine kunstgerechte Anordnung und Verkündigung eines Bibeltextes unter bestimmten Absichten 198 . Sie sind - engere oder weitere - Bibelparaphrasen. Zur gedanklichen Strukturierung dieser Paraphrasen wird auf die Loci theoretici zurückgegriffen, deren Zweck gerade in einer thematisch und argumentativ geordneten Aufarbeitung des Lehrgehalts der biblischen Botschaft besteht 199 . CS 2 9 - 3 1 . " · S. o. S. 84, bei Anm. 2. m Damit ist die These RÖBBELENS, 150, Anm. 68, widerlegt, in der Erörterung des „usus" 1,7
152
Die Transformation theologischer Lehre
9.1. Charakteristik Gerhardts
der Lebenslieder - die ,Praxis' in den Liedern Paul
In den Liedern ,Vom christlichen Leben und Wandel' ist Thema das Leben des Christen. Der Christ wird betrachtet in der Beziehung zu Gott, zu der Schöpfung und zu seinen Mitmenschen, die teils mit ihm - als Kirche - zusammengehören, teils - als Welt - ihm feindlich gesonnen sind. Dieses Thema wird vorwiegend so gestaltet, daß der Christ Gegenstand von Gottes Vorsehung - von seiner Providentia peculiaris - ist. Leben und Wandel des Christen vollziehen sich wesentlich unter Gottes Vorsehung. Andere Themen des christlichen Lebens wie Ehe und Freundschaft werden in diesen Zusammenhang eingeordnet 200 . Die Topik, auf die hier vor allem zurückgegriffen wird, ist die der Loci ,De Providentia', sowie, was den Ordo salutis anbelangt, ,De praedestinatione'. Dabei wird jedoch, anders als in den Loci theoretici, im ganzen keine ausschließlich lehrhafte Darstellung geboten, sondern der Gehalt dieser Lehraussagen wird in die Kommunikation aufgenommen, die sich wechselseitig zwischen Gott und dem Sänger sowie von dem Sänger zu sich selbst oder zu einem anderen Christen - oder der christlichen Gemeinde - vollzieht. Der Sänger redet also Gott an als denjenigen, der alles Nötige für ihn besorgt, weil er ihn aufgrund seines Glaubens erwählt hat. Umgekehrt sprechen Gott oder der Sänger den Christen (der mit dem Sänger in diesem Fall identisch sein mag) an und sprechen ihm als Verheißung zu, daß Gott für ihn sorge und für ihn vorsehe. Der Christ soll diese Verheißung annehmen und getrost sein. Auf diese Weise wechselt das Motiv von der Vorsehung Gottes für die Gläubigen durch die fünf verschiedenen genera dicendi. Der Gemütszustand, der dabei in dem Gläubigen erweckt bzw. bestärkt werden soll, ist derjenige des Vertrauens. In diesem Zusammenhang betrachtet mag man die Lebenslieder Paul Gerhardts wie etwa , Befiehl du deine Wege' als „Vertrauenslieder" bezeichnen 201 . Allerdings sollte man dabei nicht übersehen, daß es in fast allen Liedern Paul Gerhardts darum geht, fiducia zu erwecken. Untersuchen wir nun genauer den Umgang Gerhardts mit den Loci theoretici. Die Polemik gegen Epikureer, Deisten und Stoiker, in den Loci von strukturierender Bedeutung, ist überhaupt nicht in seinen Liedern anzutreffen. Allerdings sind die positiven Ergebnisse dieser Polemik - als Aussagen des genus didascalium - zentral für die Lebenslieder Gerhardts: Der Auflösung des epikureischen Dilemmas entsprechend wird der Weltverlauf, genauer: der Verlauf des christlichen Lebens, eschatologisch-teleokämen, schon innerhalb der Loci theoretici wie bei Johann Gerhard, Motive zum Durchbruch, die der in Unfruchtbarkeit isolierten reinen Lehre fremd seien. 200 S.o. S. 147, bei Anm. 181. 201 Vgl. oben, S. 91, Anm. 32.
Charakteristik der Liederrubriken
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logisch betrachtet. Der Anstoß, der das Leid für die Lehre von der Vorsehung Gottes bietet, konkret: den es für das Vertrauen auf Gottes Vorsehung ist, wird überwunden durch den Ausblick auf die Herrlichkeit, die am Ende des Christenlebens alles Übel ausscheiden wird 202 . Die Lehre von den zwei Ursachen zur Erklärung des Übels - unmittelbar der bösen Tat, mittelbar des Leids - , in den Loci differenziert entwickelt, kommt gar nicht vor. Allerdings ist das, was Gerhardt von der Ergebung, ja der freudigen Bejahung des Leids sagt, nur auf dem Hintergrund dieser Lehre verständlich. Das Hinwegfallen dieser beiden Themenkomplexe - der Polemik und der Zwei-Ursachen-Lehre - wird darauf zurückzuführen sein, daß Gerhardt sich in der Form eines Liedes äußerte. Er mußte sich vergleichsweise kurz fassen und hatte ein vorwiegend praktisches Interesse. Die polemischen Ausführungen im genus elenchticum, die er bringt, sind durch eben dieses Interesse bedingt: die Widerlegung des menschlichen Autonomieanspruchs führt zur Ergebung in Gottes Willen und in die Bitte um seine Hilfe bei der eigenen Beschlußfassung. Die Widerlegung der These, ein Christ könne nur weltliches Glück erfahren, dient dem Trost der leidenden Christen. Die Begründung der Providenzaussagen läuft auf der gleichen Linie wie in den Loci. Es wird dabei bestätigt, daß die Providentia generalis nur im Zusammenhang mit der Providentia peculiaris aufzufassen ist. In den Gedichten Gerhardts läuft alles, was von Vorsehung gesagt wird, auf die Vorsehung Gottes für den erwählten Gläubigen hinaus. Dementsprechend ist der Grund seiner Gewißheit, daß Gott für ihn vorsehe und ihn bewahre, das Bewußtsein, durch den Glauben mit Gott zu einer unzertrennbaren Seinsgemeinschaft verbunden worden zu sein. Zusätzlich, aber nicht entscheidend kommt die Begründung aus der Betrachtung von Natur und Geschichte hinzu, die in der Dichtung in emblematischer Form gestaltet sein kann. Der die Gattungen Loci theoretici und geistliches Lied als geistliche Rede miteinander verbindende Zusammenhang ist aber der in den Loci selber verlangte Übergang von der theoria zur praxis. Dieser Übergang ist, wie gezeigt wurde, nötig, um das theoretisch gestellte Problem der Fraglichkeit von Gottes Vorsehung angesichts des Leids zu lösen. Die bestrittenen Eigenschaften Gottes, Allmacht und Güte, können letztlich nur so aufgefaßt werden, daß sie im Bittgebet, das der Gläubige an Gott richtet, in Anspruch genommen werden. Der Weg zu einer Zuversicht des Angefochtenen ist nur durch einen Syllogismus practicus zu erreichen. Werden diese Eigenschaften Gottes im Bittgebet in Anspruch genommen, dann wird Gott im Grunde schon gelobt. Der Gläubige bittet, was zu loben ist, und
202
Vgl. ZIMMERMANN, 4 2 - 5 3 .
154
Die Transformation theologischer Lehre
er bittet, um - nach der Befreiung - zu loben. Das für die Reflexion in darstellender Sprache gestellte Problem wird auf die Ebene der Rede gebracht und dadurch gelöst, oder besser: als Anfechtung überwunden. Diese Rede ist die Wechselrede zwischen Gott und dem Menschen. Dieser bittet und lobt Gott, jener - oft vermittelt durch den Sänger - ermahnt und tröstet den Menschen. Es ist auffallend, daß praxis und usus der Vorsehungslehre in den Liedern Paul Gerhardts ausschließlich in einer Rede, eben in dem Sprechen bzw. Singen dieser Lieder selbst bestehen. Bei Hutter gab es hingegen auch noch die Möglichkeit der Umsetzung der Lehre in die Tat: weil Gott durch seine Vorsehung nicht die Freiheit des Menschen aufhebt, wie die Stoiker meinen, kann und soll der Mensch auch handeln. So soll er auch zur Selbsthilfe schreiten. Diese Möglichkeit wird bei Gerhardt fast ganz zurückgestellt. Sie ist impliziert in der Bitte um Gottes Hilfe bei der menschlichen Beschlußfassung, die Thema eigener Lieder ist - aber eben nur impliziert. Und auch das Tun guter Werke wird in den Liedern, die vom Leben und Wandel eines Christen handeln, nur selten erwähnt 203 . Gerhardt betont also eine Haltung des Vertrauens, der Ergebung, des Stille- und Zufrieden-Seins, die sich im Sprechen bzw. Singen äußert, gegenüber einer Haltung der Aktivität, die sich im Handeln äußert. Auf diesen Umstand soll später noch einmal eingegangen werden 204 . Zunächst mag nur bemerkt werden, daß Gerhardt damit gerade das reflektiert (im doppelten Sinne des Wortes), was der Tätigkeit zu eigen ist, die er in seinen Liedern vollzieht, nämlich dem Singen. Er hat dies selber einmal gleichsam programmatisch formuliert, nämlich in einem Widmungsgedicht für Joachim Pauli, wo er in der ersten Strophe den Gott gesungenen Lobpreis die höchste aller menschlichen Tätigkeiten nennt und in der zweiten denjenigen Gesang am höchsten stellt, welcher mit Andacht geschieht 205 . Auf diese Weise konkretisieren die Lieder Paul Gerhardts den Begriff „praxis", wie er in dem Titel des Gesangbuches, in welchem die meisten von ihnen erstveröffentlicht wurden, formuliert ist: „Praxis Pietatis Melica. Das ist Vbung der Gottseligkeit in Christlichen und Trostreichen Gesängen . . ." 206 . Diese Auffassung von „praxis" ist derjenigen ähnlich, die in Erbauungsbüchern dieser Zeit vorgetragen wurde. Dabei ist nicht nur an Lewis Baylys ,Practise of Piety' von 1611 zu erinnern, welche 1628 in 203
CS 23, 5,8-12; 40,13-15; 50,8; 60, 15,6; 63, 4,3-5. S. u. S. 290 ff. 205 CS 48; s.u. S. 223. 206 Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Titeigebungen anderer Gesangbücher der Zeit: ,Exercitium Pietatis, Übung in der Gottseligkeit. Das ist: Inbrünstige Seuffzer vnd andächtige Lehr- und TrostSprüchlein . . . , von Johann Heermann' 1630 (FT VI, Nr. 246, vgl. dazu BUNNERS, Philipp Jakob Spener und Johann Crüger, 129, Anm. 104) oder ,Herrn Johann Gerhards . . . tägliche Übung der Gottseligkeit', eine Übersetzung der ,Meditationes sacrae' (FT VI, Nr. 836). 204
Charakteristik der Liederrubriken
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deutscher Übersetzung unter dem Titel „Praxis pietatis: ,Das ist / Vbung der Gottseligkeit'" erschien 207 . Zu denken ist auch an Martin Mollers , Praxis Evangeliorum' von 1601208 und an Ausführungen Johann Arndts, welche in einigen Aspekten deutlich mit Grundzügen übereinstimmen, die hier für Paul Gerhardt herausgearbeitet worden sind. Die Wertschätzung Arndts durch Paul Gerhardt ist überliefert 209 . Er trug das von Arndt verfaßte Gebetbuch ,Paradiesgärtlein' ständig bei sich und arbeitete sechs Gebete daraus zu Liedern um. Das ,Paradiesgärtlein' selbst ist eine Durchführung des Programms von Arndts Hauptwerk, den ,Vier Büchern vom wahren Christentum', als deren Anhang es häufig veröffentlicht wurde. In der Vorrede des ersten der ,Vier Bücher vom wahren Christentum' erklärt Arndt, er wolle in ihnen zeigen „ . . . worin das ware Christenthumb stehe / nemlich in Erweisung des waren lebendigen thetigen Glaubens / durch rechtschaffene Gottseligkeit / durch Früchte der Gerechtigkeit. .. ." Er fährt fort: „Es ist nicht gnug, Gottes Wort wissen / sondern man muß auch dasselbige in die lebendige thetige Übung bringen. Viel meinen, die Theologia sey nur eine bloße Wissenschaft und Wortkunst, da sie doch eine lebendige Erfahrung und Übung ist."210 In einem Brief an den Herzog August den Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg erläutert er diesen Gedanken 211 : „Erstlich habe ich die Gemühter der Studenten und Prediger wollen zurück ziehen von der gar zu disputier- und streitsüchtigen Theologie, daraus fast wieder eine Theologia Scholastica geworden ist. Zum andern habe ich mir vorgenommen, die Christgläubigen von dem todten Glauben ab- und zu dem Fruchtbringenden anzuführen. Drittens, sie von der blossen Wissenschafft und Theorie zur würklichen Übung des Glaubens und der Gottseligkeit zu bringen. Und vierdtens zu zeigen, was das rechte Christi. Leben sei, welches mit dem wahren Glauben übereinstimmet ...". Die einzelnen Darlegungen in den ,Vier Büchern' laufen
207
STRÄTER, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall, 76-83. Philipp Jakob Spener hat in seiner Vorrede zu der Berliner P.p.m. von 1702 die seitdem oft übernommene Vermutung geäußert, daß Crüger mit dem Titel seines Gesangbuches sich an Bayly gehalten habe - was jedoch keineswegs sicher ist, s. BUNNERS, Philipp Jakob Spener und Johann Crüger, 119. Zu den Zusammenhängen zwischen Erbauungsliteratur und geistlicher Lyrik dieser Zeit s. auch ZELL, Untersuchungen zum Problem der geistlichen Barocklyrik, 99-110. 208
209
ELKE AXMACHER, P r a x i s , 2 3 2 - 2 3 8 . Z u d e n A s p e k t e n d e s P r a x i s - B e g r i f f s s. d o r t 2 3 3 - 2 3 5 .
S.o. S. 21; 25. 210 Arndt, Wahres Christentum, Buch I, Vorrede (Ausgabe 1610, aiiv; aiii'). Zu Verlebendigung und Verinnerlichung des Christentums als den Hauptmotiven Arndts s. HAMIDEH BEHJAT, Johann Arndts „Wahres Christentum" als Erbauungsbuch, 108-122, und BERNDT HAMM, Johann Arndts Wortverständnis. 211 Arndt, Der XXV. Sendbrief. Extract einer andern Antwort vom 29. Jan. 1621. an obbemeldten Hertzog Augustum den Jüngern, Geistreiche Schriften und Werke, Bd. 3, 616. Zit. auch bei HAMIDEH BEHJAT, 117 f., bei Anm. 436, aus der Ausgabe .Sechs Bücher vom wahren Christenthum', Nürnberg 1762, VI, II, ,Das sechste Sendschreiben', sowie bei IHLENFELD, Huldigung, 166 f.
156
Die Transformation theologischer Lehre
d a r a u f hinaus, d a ß sie im G e b e t u m g e s e t z t w e r d e n . So f o l g t am E n d e eines Kapitels in d e r Regel ein G e b e t o d e r ein Verweis auf ein solches im , P a r a d i e s g ä r t l e i n ' . In d e r V o r r e d e zu d e m s e l b e n e r k l ä r t auch A r n d t ausd r ü c k l i c h , das G e b e t sei „Eine tägliche Ü b u n g aller C h r i s t l i c h e n T u g e n d " , welche eben im G e s p r ä c h zwischen G o t t u n d M e n s c h bestehe: „ G O t t h a t d e n M e n s c h e n f ü r n e m l i c h d a r z u e r s c h a f f e n / d a ß er mit demselben r e d e n / u n d sich in ein g n ä d i g G e s p r ä c h einlassen wollen / wie d e n n v o n A n f a n g geschehen: U n d d a ß d e r M e n s c h h i n w i e d e r mit G O t t r e d e n , u n d G O t t f r a g e n solte / ihn a n r u f f e n , loben u n d preisen. G O t t h a t sein g a n t z e s H e r t z d u r c h r e d e n d e n M e n s c h e n o f f e n b a r e t / u n d wil h a b e n / d a ß solches d e r M e n s c h w i e d e r t h u n solle." 2 1 2 M a n vergleiche n u n diese A u s f ü h r u n g e n mit H u t t e r s A u f f a s s u n g von „praxis" u n d mit den B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n , die Q u e n s t e d t d e n Begriffen praxis tes pisteos seu fidei - praxis tes eusebeias seu pietatis gibt. J e n e ist die gläubige A n n a h m e des Verdienstes Christi u n d d e r V e r h e i ß u n g , diese ist die Ü b u n g in guten W e r k e n 2 1 3 . W e n d e t m a n letztere D e f i n i t i o n auf A r n d t s D a r l e g u n g e n an, so e r k e n n t m a n , d a ß bei A r n d t diese Ü b u n g in guten W e r k e n im G e s p r ä c h des H e r z e n s mit G o t t k o n z e n t r i e r t - o d e r eben: verinnerlicht ist. In diesem Anliegen, vom G l a u b e n z u m christlichen Leben, zu einer Praxis, einer Ü b u n g d e r F r ö m m i g k e i t zu k o m m e n , i n d e m sich die Innerlichkeit des G l ä u b i g e n m e h r u n d m e h r f ü r G o t t erschließt, s t i m m e n die P r a x i s - P r o g r a m m e eines A r n d t , eines Bayly o d e r eines M a r t i n M o l l e r überein. D i e Frage, die d a b e i jeweils b e a n t w o r t e t w e r d e n m u ß t e , ist die, ob diese verinnerlichende F r ö m m i g k e i t als F r u c h t eines lebendigen G l a u b e n s o d e r als E r g ä n z u n g , ja Ü b e r b i e t u n g eines als n u r äußerlich o d e r g a r t o t g e d a c h t e n G l a u b e n s a u f z u f a s s e n sei 2 1 4 . In einem d e r f o l g e n d e n A b s c h n i t t e w i r d versucht w e r d e n zu klären, welche B e d e u t u n g f ü r das „christliche L e b e n " g e m ä ß P a u l G e r h a r d t s Liedern die L e h r e von d e r R e c h t f e r t i g u n g allein d u r c h d e n G l a u b e n hat 2 1 5 .
212 Arndt, Vorrede zum Paradiesgärtlein, Ausgabe v. 1708, A6 r ; A5 r / V . Nach d. Ausgabe Leipzig 1747 zit. bei Bunners, Singende Frömmigkeit, 12, bei Anm. 22. Zur Lehre Arndts vom Gebet s. des weiteren Wahres Christentum 11,20; 34 ff.; 111,19. 213 Quenstedt, Theologia didactico-polemica 1,1,xii (Bd. 1,16b): „Distinguitur inter praxin tes pisteos seu fidei, et praxin tes eusebeias seu pietatis; lila, seil, vera et viva fidei praxis, est fiducialis meriti Christi et promissionum Evangelicarum apprehensio; haec est Studium bonorum operum, quod ex ilia ceu rivulus e fonte emanat, et ut fruetus arborem conseqvitur. Utraqve praxis in Theologia datur, illa tarnen, non haec, a parte nostra est unicum medium vel perveniendi vel perducendi ad salutem; ac proinde Theologia non ob hanc, sed propter illam practica dicitur." 214 Siehe ELKE AXMACHER, Praxis, 235-238 sowie 306-314. Moller ist der ersten Position zuzurechnen, während Arndt changiert, s. auch BERNDT HAMM, Johann Arndts Wortverständnis. Vgl. unten S. 271 ff. 215 S.u. S. 161 ff.
Charakteristik der Liederrubriken
9.2. Charakteristik
der übrigen
157
Liederrubriken
Was oben über die Lebenslieder gesagt wurde, gilt, mit entsprechenden spezifischen Änderungen, auch für die anderen Rubriken. Die Kreuzlieder stellen in gewisser Weise in ihrer Topik einen Ausschnitt aus den Lebensliedern dar. Insofern überschneiden sie sich inhaltlich teilweise. Manches Lebenslied könnte ein Kreuzlied sein, gelegentlich auch umgekehrt. Entsprechend gibt es in der ,Praxis pietatis melica' und in der Ausgabe Feustkings zuweilen auch verschiedene Zuordnungen. In den Kreuzliedern geht es speziell um das Leid als Teil des Christenlebens. Zusätzlich zu den jeweiligen Teilen der Loci ,De Providentia' und ,De praedestinatione' wird in diesen Liedern aus dem Locus ,De cruce et consolationibus' geschöpft. Die vorherrschende Deutung des Leids - oft als solche reflektiert - ist die als Züchtigung. Dies stellt eine Kombination aus den Leidensarten der timoria - im weiteren Sinne - und der dokitnasia dar. Auffallenderweise begegnet fast nirgendwo 216 die Deutung des Leids als Martyrium, obgleich der Krieg, in dem Gerhardt die erste Hälfte seines Lebens verbrachte, und das Vorbild von Luthers Märtyrerlied 2 1 7 ihm dazu Gelegenheit gegeben hätten. In der Dramendichtung dieser Zeit - man denke etwa an die Märtyrerdramen des Gryphius - war es anders bestellt 218 . Von den Ursachen des Leids ist neben jener, durch die Züchtigung geläutert, innerlich abgetötet zu werden, diese von Gewicht, daß, wer leidet, Christus verähnlicht wird. Die philosophischen Trostgründe spielen - außer in ein paar Trauergedichten - keine Rolle. Dies entspricht Gerhardts Poetik der geistlichen Dichtung, worauf noch einzugehen sein wird. Die theologischen Trostgründe werden hingegen voll übernommen. In ihnen wird die Konsequenz aus dem Komplex von Providenz- und Prädestinationslehre gezogen. Der aufgrund seines Glaubens Erwählte kann sich der Fürsorge Gottes gewiß sein. Wie es spezifisch für die christlichen Trostgründe laut Melanchthon und Hutter ist, besteht darum auch bei
2
" A u ß e r C S 134,4. Luther, Eynn hübsch Lyed von denn z e w e y e n Marterern Christi, zu Brüssel von den Sophisten z u Louen verbrandt („Eyn n e w e s lyed w y r heben an . . W A 3 5 , 4 1 1 - 4 1 5 / W 217
111,1. 218 D a z u s. vor allem SCHINGS, D i e patristische und stoische Tradition bei A n d r e a s G r y phius, 1 6 6 - 2 9 5 , sowie 1 4 5 - 1 5 8 . V o r allem 2 2 2 , bei A n m . 17, arbeitet SCHINGS heraus, d a ß die diesem Märtyrerdrama eigentümliche A u f f a s s u n g des Leidens nicht die von Strafe o d e r von Züchtigung ist; das Leid ist hier eine v o m Märtyrer b e s t a n d e n e Prüfung, dokimasia, durch die G o t t den Märtyrer aus dieser W e l t befreit und in seine Herrlichkeit hineinzieht. D a s Martyrium führt zu einer Christusverähnlichung, aber nicht zu einer strengen Identifikation mit Jesu Passion; es kann nie, in der Begrifflichkeit M e l a n c h t h o n s und Hutters zu sagen, ein lytron werden. D i e s hat, in A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit ALBRECHT SCHÖNE, ELKE AXMACHER bei Gryphius' Carolus Stuardus-Drama g e z e i g t , s. AXMACHER, AUS Liebe, 8 9 - 9 8 .
158
Die Transformation theologischer Lehre
G e r h a r d t der christliche T r o s t nicht in einer bloßen Veränderung des Gemütszustandes angesichts unveränderter Umstände, die Leid erzeugen, sondern in der Veränderung eben dieser Zustände. Aufgrund dieser Veränderung kann dem Gläubigen Trost zugesprochen werden; aufgrund dieses Zuspruchs wird seine Seele getröstet. Diese Situationsveränderungen sind Taten Gottes: seine bereits geschehene Erlösungstat in Christus, sein erhofftes und erbetenes Eingreifen in bestimmte Notlagen und die künftige völlige Erneuerung von Himmel und Erde 2 1 9 . Gegenüber den Lebensliedern zeichnen sich die Trostlieder dadurch aus, d a ß sie - mit den Leidenszwecken der Züchtigung und der Christusverähnlichung - die Beziehung zwischen dem Gläubigen und G o t t als solche thematisch machen. Anfechtung ist dann nicht mehr nur Ausbleiben der von G o t t als dem H e r r n der Vorsehung verheißenen geschöpflichen Gaben, sondern darüber hinaus die G e f ä h r d u n g der Beziehung zu G o t t aufgrund der Sünde und der Einflüsterungen des Teufels. Die anderen Liederrubriken haben wesentliche Elemente mit den Lebensund den Kreuzliedern gemeinsam. In den Bußliedern geht es in Sünde und Buße eben um die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Die Sterbelieder handeln von Trost in einer bestimmten Situation. Die Lieder in den kleineren Rubriken {Wetter-Lieder usw.) sind jeweils spezielle Lebens- und Kreuzlieder. Die Loblieder sind durch ein Element ausgezeichnet, das als solches kein Gegenstand der Loci theoretici ist, nämlich gerade durch das Lob. Dieses Element ist dem besonderen praktischen Charakter der Lieder Paul Gerhardts eigentümlich: ihre Praxis besteht darin, zu loben. Unter dem leitenden Gesichtspunkt des Lobes werden in den Lobliedern alle inhaltlichen Themen aufgenommen, die in den Loci strukturiert sind 2 2 0 . In den Liedern zu den Kirchenfesten schließlich werden Aussagen der Loci über Christus und den Heiligen Geist aufgenommen (in den Sakramentsliedern entsprechend von diesen). Anders aber als in den Lebensund Kreuzliedern werden hier nicht nur biblisch begründete Aussagen in die verschiedenen genera dicendi umgesetzt - oder Stücke aus der Bibel paraphrasiert, die eine solche Umsetzung enthalten - , sondern die biblischen Ereignisse, voran Geburt, T o d und Auferstehung Christi, werden erzählt, vor Augen gestellt. Diese Ereignisse sind die Taten Gottes, die Trost schaffen. Indem G o t t sie bewirkt und indem der Mensch, von ihnen hörend, sie sich vor Augen stellend, sie als f ü r ihn geschehend auf sich bezieht, entsteht eine gegenseitige Beziehung zwischen G o t t und Mensch. 219 Siehe WALTRAUT-INGEBORG SAUER-GEPPERT, „Trost" bei Paul Gerhardt, insbes. 55, sowie dies., Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 22-35, zum Zusammenhang mit der Trostlehre Hutter s. auch BÜNNERS, Paul Gerhardt, 216-230. 220 Vgl. OSWALD BAYER, Der Schöpfungsmorgen·. Gotteslob ist praktischer Vollzug der Rechtfertigung.
Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts
159
Diese Seinsgemeinschaft ist es, auf der vornehmlich das Vertrauen gründet, das die Lieder vom christlichen Leben, vom Kreuz usw. dem Gläubigen in der Anfechtung durch das Leid zusprechen. Erwägt man die zentrale Bedeutung, welche die Vergegenwärtigung Christi am Kreuz als des Grundes der Erwählung für die Erwählungsgewißheit hat und damit für den gesamten Zusammenhang der Vorsehungslehre, dann wird man sich auch des Gewichtes bewußt, welches die Passionslieder Paul Gerhardts, insbesondere die Passionssalven, für das Ganze seiner Liederdichtung haben.
10. Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts aus ihrem Zusammenhang mit der Theologie in bestimmten Einzelfragen 10.1. Die Auffassung des Leids Uber den Kontext, in welchem das Problem des Leids auftaucht, und über die Einstellung des Menschen zum Leid wurde schon in den obigen Ausführungen etwas gesagt. Hier soll näher betrachtet werden, in welcher Weise das Wesen des Leids aufgefaßt wird, und zwar, in welchem Verhältnis es zu seinem Gegensatz steht, dem gegenüber es sich überhaupt erst heraushebt, dem Wohlergehen und der Freude. In diesem Verhältnis betrachtet gibt es verschiedene Auffassungen des Leids in den Liedern Paul Gerhardts. Die Rückbindung dieser Lieder an die theoretische Theologie gibt Aufschluß über diese verschiedenen Auffassungen. In einer ersten Auffassung ist Leid etwas, das dadurch bestimmt ist, daß es sich in einem ausschließlichen Gegensatz zu dem Wohlergehen des Menschen befindet. Gott vollzieht seine Vorsehung so, daß er den Menschen, für den er sorgt, von Leid frei hält: „Gott hat den, der ihn fürchtet, lieb, / Sieht zu, daß ihn kein Unfall trüb," 2 2 1 . Diese Auffassung entspricht der Aussage Hutters von der impeditio mali: daß Gott die bösen, also leiderzeugenden Handlungen des Menschen verhindere 222 . Darüber baut sich eine zweite Auffassung des Leids auf. Die Vorsehung Gottes läßt zwar den Gläubigen von Leid getroffen werden, lenkt aber in ihrem concursus das Leid so, daß es zu einer Zwischenursache zu dem Endzweck wird, der in der Ehre Gottes und dem Heil der Erwählten besteht. Bei Hutter ist dies die directio mali22i. Bei Gerhardt lautet das dann so: „Alles dient zu deinem Frommen, / Was dir bös und schädlich scheint," 224 . Die vielen Aussagen bei Gerhardt von der Nützlichkeit des 221
CS 59, 11,1 f., ähnlich CS 96, 7,3 f.; 101, 16, 3 f.; 104, 26-8; 104, 3,7 f. Das Femhalten des Teufels CS 35, 2,4, des Sündigens CS 60, 15,7 f. 222 Hutter, Compendium VII,2 (26,27). 223 Hutter, Compendium VII,2 (26,27-28). 224 CS 2, 12,1 f.; ähnlich 73, 8,4 und wohl auch 112, 12,5.
160
Die Transformation theologischer Lehre
Leids, die Deutung des Leids als Züchtigung, laufen auf eine solche Auffassung des Leids hinaus. In der zitierten Formulierung wird schon hervorgehoben, d a ß das Leid, wenn man es unter dem Gesichtspunkt betrachtet, d a ß es zu einem guten Telos umdirigiert wird, im G r u n d e gar nicht mehr vom Wohlergehen abgegrenzt werden kann. Es ist nur dem Schein, nur dem Namen nach schlecht. G o t t „macht gut, was wir verwirren" (CS 75, 12,1 f.) - also ist es nicht mehr schlecht, sondern gut. Damit zeigt sich der Übergang zu der dritten Auffassung des Leids an, wonach das Leid bei Eintritt der ewigen Seligkeit gar kein Leid mehr ist. In manchen Versen bedient sich G e r h a r d t der Formulierung, d a ß G o t t das Leid in Freud verkehre. Dies läßt sich unter Umständen so verstehen, daß, innerhalb der Zeit, eine Phase des Leides von einer Phase der Freude abgelöst wird, etwa: G o t t „kehr ihr bittres Weinen / Zu seiner Zeit, die er bestellt, / Auf Weis und Art, die ihm gefällt, / In Freud und süßes Singen." 225 An anderer Stelle heißt das Verkehren aber eindeutig soviel wie Verwandeln: „Des Höchsten W o r t d ä m p f t alles Leid / U n d kehrts in lauter Lust und Freud;" (CS 74, 12,1 f.). Eindrücklich heißt es schließlich in einer Arndt-Nachdichtung: „Daselbst" - im neuen, eschatologischen Leben „wirst du . . . Mein Kreuz, das dir und mir bewußt, / In Freud und Ehre wandeln; D a wird mein Weinen lauter Wein, / Mein Ächzen lauter Jauchzen sein!" (CS 78, 16,1-6). D a ß die in demselben Gedicht (CS 78, 6,6 f.) ausgeschrieene N o t , wie schwer sich Lieb und Leid zusammenreimen lassen, hier überwunden, ja eben verwandelt ist, wird bis in den Binnenreim und ins Wortspiel hinein ausgedrückt, so wie G e r h a r d t auch o f t „Freud" sich auf „Leid" reimen läßt 2 2 6 . D a ß das Leiden sein Wesen als Leiden verliert, geschieht erst mit dem Eintreten in die ewige Seligkeit. Rückwirkend von diesem Zeitpunkt an aber ist alles, was geschehen ist, Freude und nichts mehr darin als Leid aufzufassen. So heißt es in einem Lied ,Christlicher Todes-Freude' 2 2 7 : „Dein Seufzen, Klag und Sehnen; / Dein Jammermeer / Wird niemand mehr, / Als nur in Freud erwähnen." Die himmlische Freude umfaßt also nicht bloß etwas, was in einem zukünftigen Zeitraum existiert, sondern alles, was je geschehen ist, geschieht oder geschehen wird. Theoretisch reflektiert laufen Gerhardts Aussagen auf die These Hutters hinaus, d a ß von der U n o r d n u n g im Weltverlauf, mithin auch von allem Leid, nur
225
CS 131, 9,4-7; ähnlich 27, 11,6 f.; 81, 16,7 f.; 104, 10,3; 111, 27,5-8 u. 127, 11,3 f. Vom Verwandeln und Werden des Leids zur Freude sprechen auch 3, 18,4; 79, 9,8-10; 81,16; 119,10; 120, 18,5 f. Biblischer Ausgangspunkt für diese Auffassung ist J o h 16,20. Der Reim „Leid-Freud" kommt mehr als 40mal vor, vgl. Z e l l e r , Paul Gerhardt, in: Theologie und Frömmigkeit, Bd. 1, 159. 227 So bei Ebeling, Nr. 24. Die Stelle: CS 129, 14,5-7. 226
Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts
161
aufgrund eines eingeschränkten Betrachtungswinkels gesprochen werden könne. Sub specie aeternitatis gibt es kein Leid 228 . Zwar steht der Zeitpunkt noch aus, ab welchem der Christ ohne Einschränkung alles unter diesem Gesichtspunkt betrachten kann. Dieser Zeitpunkt kann aber vorweggenommen werden kraft der Verbindung, die der Heilige Geist zwischen Gott in seiner Ewigkeit und dem Gläubigen in der Zeit herstellt. Das wird deutlich daran, wie Paul Gerhardt in dem Pfingstlied , Zeuch ein zu deinen Toren' von dem „Freudensaal" spricht, der durchgehend bei ihm der Ort des eschatologischen, des noch ausstehenden Gotteslobes ist 229 . Es heißt dort (CS 29,6): Du bist ein Geist der Freuden, Von Trauern hältst du nicht, Erleuchtest uns im Leiden Mit deines Trostes Licht. Ach ja, wie manchesmal Hast du mit süßen Worten Mir aufgetan die Pforten Zum güldnen Freudensaal.
Die süßen Worte - gerade die des Trostliedes - sind es, die dem Menschen jetzt schon den Eintritt in den Freudensaal, d. h. in die alles, alle Geschichte umfassende Freude verschaffen. Diese totale Aufweitung des Blicks oder sozusagen rückwärtige Wirkung des Eschatons auf alle leidvollen Geschehnisse hat Gerhardt auch in den Begriff des „Durchsüßens" gefaßt. So heißt es, daß Gott „all dein Kreuz durchsüßet / Mit seinen heiigen Worten." 2 3 0 Dem Ausströmen der Süßigkeit der Vollendung in die Zeit entspricht die Vorwegnahme des himmlischen Lobpreises im irdischen Loblied 231 .
10.2. Rechtfertigung, unio mystica und
Providern
Ich bin bereits in der abschließenden Beurteilung der Theologie Leonhard Hutters auf die These eingegangen, daß in der Theologie und Frömmigkeit der altlutherischen Orthodoxie das zentrale Dogma der Reformatoren, die Rechtfertigungslehre, zurückgedrängt worden sei. Zu denken sei an eine Verdrängung durch die Thematik von Gottvertrauen und Vorsehungsglaube im Bereich des Kirchenliedes, und zwar auch bei Paul Gerhardt 2 3 2 , im 228
S.o. S. 43. Vom Himmels- oder Freudensaal ist CS 26, 8,1; 31, 14,5; 34, 8,12; 43, 21,3 f.; 3,20; 104, 12,8 die Rede, von dem Lob Gottes dort die letzten beiden Stellen. 230 CS 32, 4,8; desgleichen CS 21, 4,9; 27, 29,1 f.; 31, 9,1; 82, 10,8. Übertragen auf das Wirken der Ehefrau: CS 45, 3,2; 46,13,4. 231 S.o. S. 140ff. 232 INGEBORG RÖBBELEN, 341 ff. (350 nimmt sie allerdings selbst diese These zurück); 229
162
Die Transformation theologischer Lehre
Bereich der Dogmatik sodann auch durch die Lehre von der unio mystica233. Dies gibt Anlaß, über das Verhältnis der Rechtfertigung zum einen zur unio mystica, zum anderen zur Providenz in den Liedern Gerhardts nachzudenken und dabei zu fragen, welche Stelle in diesem Zusammenhang das Leidproblem hat. Wenden wir uns zuerst dem Thema , Rechtfertigung und unio mystica' zu. Die Betrachtung der Theologie der Lieder Gerhardts hat erbracht, daß die gegenseitige Habe, die Seinsgemeinschaft von Gott - konkret: Christus - und Mensch die zentrale Stelle darin einnimmt. Sehr treffend hat Petrich bemerkt 234 , der Mittelpunkt dieser Theologie sei „die in Christo aus Gnaden hergestellte Liebesgemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen." Dieser Mittelpunkt habe eine objektive Seite: „Gott ist mein Vater durch die Erlösungstat seines Sohnes" und eine subjektive: „Ich bin Gottes Kind und deshalb allezeit fröhlich, getrost und unverzagt." Petrich entfaltet, was er hier mit „objektiv" meint, als das, was im genus didascalium über Gott, Mensch und Schöpfung ausgesagt werden kann 235 . Die „subjektive", die Frömmigkeitsseite, umfaßt nun genau denselben lehrhaft aussagbaren Gehalt, aufgenommen in den Vollzug des wechselseitigen Liebens und Anredens von Gott und Mensch 236 . Das Bewußtsein dieser Seinsgemeinschaft ist es, das dem Menschen im Leiden den entscheidenden Trost verschafft. Ohne daß jemals der Terminus oder an ihn erinnernde Wendungen von Gerhardt gebraucht würden, stimmt der Sache nach das, was ich bei ihm „Seinsgemeinschaft" genannt habe, überein mit dem, was die Schultheologie seiner Zeit unter ,unio mystica' verstand 237 .
399-403; 404-425 der Exkurs: „Rechtfertigung" und „Gottvertrauen" in der Liederdichtung Paul Gerhardts. 233 WILHELM KOEPP, Art. Unio mystica; ders., Wurzel und Ursprung der orthodoxen Lehre von der Unio mystica; OTTO RLTSCHL, Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. 4, 192-230. Vgl. auch MAX KOCH. Im Hintergrund steht die Kritik ALBRECHT RITSCHLS, Theologie und Metaphysik, 2. Aufl. 24-32 (Nr. 3); 40-55 (Nr. 5); Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, 2.Aufl., 117-129 (§ 18); 347-363 (§ 48); Bd. 3, 3. Aufl., 20 f.; 108 f.; 171 f.; 174 f.; Geschichte des Pietismus., 3-34 (§ 27). 234
235
PETRICH, 2 3 5 .
PETRICH, 235-248, gegliedert nach Loci. In der zitierten Formulierung bringt er jedoch selber statt darstellend-lehrhafter Rede eine Ich-Aussage. 236 PETRICH, 248-251, sowie 255 f. (Trostgriinde); auf 248-250 eine ganze Reihe von Belegen der verschiedenen Ausdrucksformen für die Seinsgemeinschaft. 237 S.o. S. 109, bei Anm.68; vgl. auch S.73, bei Anm.213; S. 54, bei Anm. 121. - Ich habe den Begriff , Seinsgemeinschaft' bewußt im Zuge einer Phänomenologie eines Gerhardtschen Gedichts eingeführt (S. 104 f.), damit der Betrachter seiner Lieder nicht vorschnell auf den dogmatischen Terminus ,unio mystica' festgelegt wird, noch auf den stets klärungsbedürftigen Begriff ,Mystik' (zu diesem s.u. S.244ff.). Was an der ,Seinsgemeinschaft' im geistlichen Lied Gerhardts mit der Schuldogmatik sich deckt, was an ihr in welchem Sinne „mystisch" ist, das soll am jeweils gegebenen Ort dieser Untersuchung erörtert werden. Irgendwelche vorweggreifende Konnotationen mit einer „Substanzontologie" sind mit dem Begriff ,Seinsgemeinschaft' nicht beabsichtigt.
Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts
163
Während Leonhard Hutter auf diesen Gegenstand der Theologie nur am Rande, allerdings an bedeutsamer Stelle einging 238 , hat Johann Hülsemann sich dieser Sache ausführlicher gewidmet unter dem Titel ,De unione iustificatorum cum Christo, eorumque perseverantia'239. Hülsemann hebt dabei in Auslegung von Eph 5,30-32; Joh 17,23 und I Kor 6,15-17 hervor, daß es sich um eine Verbindung der Substanz des gläubigen Menschen mit der Substanz der gesamten Dreieinigkeit handelt, nicht bloß um eine communio affectuum, eine Willenseinung, sondern um eine unio totius substantiae, aber auch nicht um eine unio essentialis, bei welcher Gott und Mensch gleichen Wesens wären 240 . Die causa meritoria dieser Einung ist Christus, die causa Instrumentalis der Glaube 241 . Diese unio dient dem größeren Trost der Gläubigen 242 . Sie vermehrt die Gnadengaben durch eine noch stärkere Art und Weise. Diese Vermehrung bezeugt sich im Herzen des Gläubigen durch eine Stärkung des Vertrauens 243 . Ziel und Wirkung der Einung sind die Vergewisserung des Gläubigen im Leiden, die Erhaltung im Stande der Gnade und die sichere Zuversicht auf die künftige Herrlichkeit 244 . Folgerichtig schließt darum die Lehre von der Perseveranz an. Es liegt auf der Hand, daß dieser Begriff von unio genau zutrifft auf die bei Gerhardt in vielfältiger Weise formulierte Seinsgemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Die Frage ist jedoch, ob diese Unio ein „Doppelgänger" des Artikels von der Rechtfertigung sei, „zugleich in der denkbar engsten Verbundenheit und der größten Spannung mit ihm."245
238 S . o . S. 73, bei Anm. 213, vgl. die ähnliche marginale E r w ä h n u n g in d e r FC, S D 111,65, die VI. Verwerfung, BSLK 935,42 f. 239 H ü l s e m a n n , Extensio breviarii theologici, cap.XIV, 208-228, wobei 2 0 8 - 2 2 1 das ,Breviarium' wiedergegeben wird und 221-228 das ,Supplementum breviarii theologici'. Im Inhaltsverzeichnis heißt es „Conversorum" statt „iustificatorum". Eine f r ü h e Verwendung der lateinischen Begriffsprägung in d e r lutherischen O r t h o d o x i e findet sich bei dem Wittenberger Balthasar Meisner, O r a t i o de Christiano (De praestantia et dignitate Christiani) von 1622, zit. nach d e r Ausgabe Leipzig 1693 bei JÖRG BAUR, Salus Christiana, 81-86, insbes. 83, bei Anm. 108; 84, bei Anm. 114. Zu Meisner s. auch SPARN, W i e d e r k e h r , 180-187; ders., Die Krise der Frömmigkeit, 60, Anm. 11; ders., Art. Meisner. 240 H ü l s e m a n n , Extensio, 209 f. 241 H ü l s e m a n n , Extensio, 213 f. 242 H ü l s e m a n n , Extensio, 210: „ad m a j o r e m consolationem fidelium". 243 H ü l s e m a n n , Extensio, 213: „ . . . praesentia Dei . . . quae äuget d o n a gratiae intensiore q u o d a m m o d o . . . illudque augmentum sentiri facit per attestationem in c o r d e credentis, per corroborationem fiduciae". 244 H ü l s e m a n n , Extensio, 214: „ . . . certificatio fidelis in calamitate, conservatio in statu gratiae & certa fiducia de secutura gloria". A b r a h a m Calov unterscheidet dann zwischen einer Gemeinschaft d e r G ü t e r jetzt schon, im Reich d e r anhebenden G n a d e , und dann einst im Reich der noch zu vollendenden Herrlichkeit. Dementsprechend ist d e r finis internus dieser Einung die perseverantia in fide und die conservatio ad aetemam beatitudinem, d e r finis extemus aber das ewige Heil selbst, s. Theologia positiva, 505-510, insbes. 509. 245 KOEPP, Art. Unio mystica, 1368.
164
Die Transformation theologischer Lehre
In der T a t findet sich in der Rubrik ,Von der Rechtfertigung' in der , Praxis pietatis melica' kein einziges Lied von Paul Gerhardt. In Ubereinstimmung mit der These Ingeborg Röbbelens sind die meisten Lieder - in der Ausgabe von 1653 sind es alle - von Dichtern der ersten Generation der Reformation 2 4 6 . Dennoch gibt es bei Paul G e r h a r d t deutliche Aussagen zu dem T h e m a Rechtfertigung. Eine solche wurde bereits oben zitiert (CS 59,3 f.) 247 . Christi Blut macht die Erwählten gerecht, und der Glaube empfängt die Rechtfertigung, indem er das Blut Christi ergreift. Diese Verbindung der Begriffe R e c h t f e r t i g u n g ' und ,Blut Christi' findet sich auch bei H u t t e r bzw. in der FC. Im Rahmen der Erörterung der communicatio idiomatum wird gesagt, I J o h 1,7 sei so zu verstehen, d a ß „im W e r k der Rechtfertigung . . . sein [Christi] Blut uns in der Weise der Wirksamkeit von aller Sünde reinigt." 2 4 8 Das Blut Christi bewirkt also die Vergebung der Sünden bzw. - von der positiven Weise her aufgefaßt - die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi 2 4 9 . Wenn G e r h a r d t vom Blut Christi spricht, dann kann dies, dem Kontext entsprechend, auf die Rechtfertigung bezogen werden 2 5 0 . Betrachten wir von dort her die Stelle CS 83,11 f. 251 , in welcher die Seinsgemeinschaft, die unio zwischen G o t t und Mensch definitionshaft dargestellt wird, dann wird folgendes deutlich: indem Christus sein Blut, d. h. aber sich selbst gibt, und indem im Glauben das Blut Christi, d. h. er selbst, angenommen wird, indem und weil also Rechtfertigung stattfindet, kommt die Einung des Menschen mit Christus, also mit G o t t in seiner ganzen Fülle zustande. Die Rechtfertigung ist also die notwendige Voraussetzung der unio, und diese ist ihre notwendige Folge.
246
RÖBBELEN, 194-197. Es handelt sich um Lazarus Spengler, D u r c h Adams fall ist ganz verderbt, W 111,71 (in der P.p.m. 1653 die N r . 73), Paul Speratus, Es ist das heil uns kommen her, W 111,55 (Nr. 74), Elisabeth Creutziger, H e r r Christ der einig Gotts son, W 111,67-69 (Nr. 76), Luther, Es spricht der unweisen mund wol, W 111,4 (Nr. 77); N u f r e u t euch lieben Christen gmein, W 111,2 (Nr. 75). In der P.p.m. von 1666 findet sich das anonyme Lied ,Also hat G o t t die Welt geliebt,/ D a ß er Christum hat geben', W V,116 (von 1586), und Lieder zeitgenössischer Dichter: von Joachim Pauli, So sind wir ingesampt, F T 111,554, und von Christoph Runge (diese Zuschreibung bei FT, in der P.p.m. anonym), Des H ö c h s t e n kind, F T 111,521; W e r wil, was G o t t außerwehlet, F T 111,520. 247 S.o. S. 109. Vgl. CS 25,10. 248 Hutter, Comp. 111,22 (13,26-28): „ . . . quod in negotio iustificationis . . . ipsius sanguis, per modum efficaciae nos ab omni peccato e m u n d e t . " / FC, SD VIII,59 (BSLK 1035,30-34). V g l . ANSELM STEIGER, J o h a n n G e r h a r d , 249
94-123.
Siehe H u t t e r , C o m p . X I I , l - 3 (52 f.), sowie die Vorlagen in der FC, Ep.III,7 (BSLK 783); S D 111,17 (BSLK 919). Rechtfertigung wird als aus diesen beiden Momenten der Vergebung und der Anrechnung bestehend aufgefaßt. 250 Ein besonders eindrückliches Beispiel die Folge CS 12, 7 - 1 0 . In anderen Fällen - oder auch gleichzeitig - ist Jesus selbst gemeint, s. vor allem die Passionssalven; vgl. RÖBBELEN, 130, A n m . 2 5 . 251 S.o. S. 147 f.
Schlußfolgerungen für die D i c h t u n g Paul Gerhardts
165
Gerhardt liegt hier auf der gleichen Linie mit Luther, wenn in dessen klassischem Rechtfertigungslied ,Nu frewt such, liebe Christen gmeyn' (W 111,2) Christus zu dem Sünder spricht: . . . h a l t d i c h an m i c h es soll dir y t z t gelingen, Ich geb m i c h selber g a n t z für dich da will ich fur dich ryngen. D e n n ich b y n d e y n und d u byst m e y n , und w o ich bleib, da soltu seyn, unns soll der feind nicht s c h e y d e n . V e r g i e s s e n w i r t er m i r m e y n b l u t , d a z u mein leben rawben: D z l e y d e i c h alles d i r z u g u t t , das halt mit festem glauben: D e n todt verschlingt d z leben mein, meyn unschult tregt die sunden deyn, d a b i s t u s e l i g w o r d e n . (Str. 7 f . )
Dadurch, daß Christus sich selber, sein Blut vergießend, für den Sünder hingibt, und dadurch, daß dieser sich an ihn hält - was in der folgenden Strophe mit „glauben" ausgedrückt wird, entsteht die Seinsgemeinschaft, die Luther mit der gleichen Formel charakterisiert wie später Gerhardt. Gleicherweise läßt er in der nächsten Strophe aus dieser Seinsgemeinschaft den Trost in der Trübsal folgen. Die Seinsgemeinschaft hängt also bei Gerhardt an der erfolgten Rechtfertigung des Sünders. Wiederum hängt, wie gezeigt worden ist, der Trost in der hohen Anfechtung durch das Gesetz und in der niederen Anfechtung durch den Verlust der „leiblichen Dinge", mithin die Bewahrung, die conservatio electorum, an der Seinsgemeinschaft und also letztlich an der Rechtfertigung. Es ist darum wohl nicht angemessen zu sagen, an die Stelle der Sündenvergebung träten die Güter, welche die Rechtfertigung erwirkt, beispielsweise der Trost, oder an die Stelle der Rechtfertigung träte eine menschliche Jesusfrömmigkeit 2 5 2 . Vielmehr besteht zwischen diesen Größen ein dichter Zusammenhang, in welchem die Rechtfertigung sich an der tragenden Stelle befindet 2 5 3 . 252 So RÖBBELEN, 2 2 4 - 2 3 0 und 2 4 2 - 2 7 9 . Welchen Charakter die Jesusfrömmigkeit" in den Liedern Gerhardts hat, wird später noch bei der Interpretation der Passionssalven erörtert werden. 253 Entsprechend wird man für die Lehre von der unio etwa bei Hülsemann und Calov neu prüfen müssen, ob die von KOEPP und OTTO RLTSCHL geäußerte Kritik trifft. Schließlich ist nach Hülsemann die unio auf dieselben Ursachen - Christus und der Glaube - zurückzuführen wie die Rechtfertigung, und die durch die Rechtfertigung geschaffene Einwohnung Gottes wird nur durch eine variatio modi verändert, nicht durch das Hinzusetzen eines qualitativ Neuen, s. Extensio, 209; 213, was KOEPP, Wurzel und Ursprung, 60, übersieht.
166
D i e T r a n s f o r m a t i o n theologischer Lehre
Desgleichen ist es, jedenfalls, was Gerhardt anbetrifft, auch nicht zutreffend zu sagen, mit dem Vanitas-Motiv werde eine Ausrichtung auf das Jenseits an Stelle der Rechtfertigung in diesem Leben gesetzt, wobei zugleich die Antithetik von Vergänglichkeit und Ewigkeit mit ihrem innerweltlichen Charakter die Antithetik zwischen der Sünde des Menschen und der Heiligkeit Gottes verdränge 254 . Das höchste Gut, welchem die Vergänglichkeit des Irdischen entgegengesetzt wird, kann in der Lyrik des 17. Jahrhunderts auf verschiedene Weise näher bestimmt werden 255 . Bei Gerhardt heißt es nach einem Hinweis auf die Vergänglichkeit der irdischen Güter: A b e r w a s die Seele nährt, G o t t e s H u l d u n d Christi Blut, Wird v o n keiner Zeit verzehrt, Ist und bleibet allzeit gut; E r d e n g u t zerfällt und bricht, Seelengut das s c h w i n d e t nicht. (CS 7 2 , 6 )
Das ewige Gut, nach dem der Mensch sich orientieren soll, sind also die beiden ersten Ursachen der Rechtfertigung, die Huld und Liebe Gottes und Christus bzw. sein Blut, in welchem diese Liebe Gottes gegründet ist256. Die Weise, den Menschen zu betrachten, als sei er nicht mehr als ein anderes vergängliches Ding, an welcher bereits Melanchthon Bedenken geäußert hatte 257 , mag gerade dazu dienen, die demütigende Niedrigkeit aufzuweisen, zu welcher der Mensch herabgesunken ist, weil er vor Gott gesündigt hat. So ist das Vanitas-Motiv bei Gerhardt keineswegs Teil einer abstrakten Antithetik von Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit, sondern hängt letztlich auch an der Rechtfertigung. Man kann allenfalls sagen, daß all diese Begriffe - Seinsgemeinschaft, Trost, Unvergänglichkeit usw. - bei Paul Gerhardt und bei vielen anderen seiner Zeit eine stärkere Akzentsetzung erfahren als das Thema Rechtfertigung. Das heißt, sie werden ausführlicher behandelt, sie geben die Themen der Lieder, sie erhalten besonderen rhetorischen Nachdruck und poeEs scheint sich bei der unio um das Wachstum des mit der Rechtfertigung ein für allemal Gegebenen zu handeln, nicht aber um eine Konkurrenzgröße. In diese Richtung äußern sich neuerdings auch verschiedene Beiträge in dem Sammelband ,Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie', so vor allem der sorgfältige Aufsatz von THEODOR MAHLMANN, Die Stellung der unio cum Christo in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts, dort insbes. 119 f.; 128; 144 f.; 152 f.; 179, vgl. die Aufsätze von VAAHTORANTA und SÖDERLUND. In diesem Sinne schon WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums, Bd. 1, 135-154. 254
255
RÖBBELEN, 2 6 0 , A n m . 7 6 ; 7 7 .
Siehe VAN INGEN, Vanitas, 83. Siehe Hutter, Comp. XII,4 ff. (53 ff.). Die dritte Ursache ist - als Instrumentalursache ( C o m p . X I I , l l ) - der Glaube, in welchem der Mensch nun gerade diese Orientierung vollzieht. Vgl. PETRICH, 244 f. 257 S.o. S. 59, bei Anm. 152. 256
Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts
167
tische Ausschmückung. Man kann also einen gewissen Wandel des Interesses feststellen. Es geht vor allem nicht mehr so sehr um die Grundsatzfrage der Rechtfertigung, insbesondere um ihre lehrhaft präzise Fassung 258 , sondern darum, das durch die Rechtfertigung Errungene, eben die Seinsgemeinschaft mit Jesus, im christlichen Leben zu bewahren. Es geht um conseruatio. Der sachlichen Bedeutung nach ist aber weiterhin die Rechtfertigung vorgeordnet. Dieser Sachverhalt ist nun auch von Belang für die Problematik des Leids. Denn die in dem epikureischen Dilemma gestellte Frage, wie Gottes Allmacht und Güte - um nicht gleich zu sagen, Gottes Existenz - vereinbar seien mit der Existenz des Übels oder die verwandte Frage der Theodizee, wie Gott angesichts des Übels zu rechtfertigen sei 259 , besaß demnach ein deutlich geringeres Gewicht als die Frage, wie der sündige Mensch vor Gott zu rechtfertigen sei. Für einen Menschen des 17. Jahrhunderts wird - soweit die Lieder Paul Gerhardts für seine Lebenshaltung repräsentativ sind - das Leid, das er erlitt, für sein Gottesverhältnis mitnichten von der Bedeutung gewesen sein wie die Frage, wie er von seiner eigenen Schuld erlöst werden könne, oder genauer: wie er im Stande der Gnade beharren könne 260 . Die eigentlichen Sorgen Paul Gerhardts bestanden nicht in der Bewahrung vor innerweltlichen calamitates, sondern in der hohen Anfechtung durch Teufel, Fleisch und Welt 261 . Umgekehrt konnte ein im Sinne Gerhardts sich verstehender Mensch im Leid getrost sein, wenn er sich
258 Bei den oben S. 164, Anm. 246 angeführten Rechtfertigungsliedern der Reformatorengeneration ist übrigens das einzige, das sich wirklich auf den Locus ,De iustificatione' beschränkt und dabei auch bis auf die letzten drei von 14 Strophen im genus didascalium steht, das Lied ,Es ist das heil uns kommen her' von Paul Speratus, W 111,55. Alle anderen bringen noch eine Reihe weiterer Themen zur Sprache und gehen häufiger in andere genera über. 259 Soweit ich sehen kann, geht Gerhardt nur ein einziges Mal explizit auf diese Frage ein, und zwar CS 25, 12,1-4: „An dir, о Gott, ist keine Schuld,/ Du, du hast nichts verschlafen;/ Der Feind und Hasser deiner H u l d / Ist Ursach deiner Strafen" usw. Mit dem „Feind" ist hier der Mensch gemeint, der Gottes Erlösungstat im Unglauben ablehnt, mit der „Strafe" bemerkenswerterweise kein zeitliches Leid, sondern die ewige Verdammnis. Der Hintergrund ist offensichtlich eine Polemik gegen die reformierte Prädestinationslehre. 260 Was auch KARL HOLL feststellt, Die Bedeutung der Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, Ges. Aufsätze, Bd. 3, 314. Von daher wird seine Bemerkung, das., 313, relativiert: „So rückt das Leiden, das Rätsel des Leidens und die Aufgabe, sich damit abzufinden, in den Vordergrund des religiösen Bewußtseins. Vielleicht ist es die bedeutsamste Wirkung des dreißigjährigen Krieges gewesen, daß von ihm ab - vollends seit Bayle - die Frage des Übels der Angelpunkt der ganzen Weltanschauung wird." 261
S i e h e z u t r e f f e n d JUTTA Z I M M E R M A N N , 7 6 - 9 7 . D i e L i e d e r C S 8 2 u n d 8 3 , v o n RÖBBELEN,
406, als „die bezeichnendsten und überzeugendsten Beispiele f ü r die lutherische Rechtfertigungsanschauung ihres Verfassers" genannt, finden sich in den Rubriken ,In Kreuz und Anfechtung' bzw. ,Vom Christlichen Leben und Wandel' und haben, genau genommen, nicht das Lehrstück ,De iustificatione' innerhalb des O r d o salutis zum Gegenstand, sondern die
conservatio electorum.
168
Die Transformation theologischer Lehre
vor Gott gerechtfertigt wußte. Das Schlimmste, was sein Leid hätte sein können, wäre es als Zeichen von Gottes ewiger Verwerfung gewesen. Für den aus Glauben Gerechtfertigten war diese Möglichkeit ausgeschlossen. Sein Leid konnte nicht einmal Strafe im strengen Sinne sein, sondern nur „Züchtigung", d. h. eine Maßnahme des seine Kinder liebenden Gottes, um seine Kinder von den Resten der Sünde zu reinigen. Mit diesen Erwägungen ist im Grunde auch schon beantwortet, in welchem Verhältnis Vorsehung bzw. Vorsehungsvertrauen und Rechtfertigung sich bei Paul Gerhardt befinden. Das Verhältnis dieser beiden Größen entspricht dem, wie es in der lehrhaften Theologie Leonhardt Hutters ausgemacht werden konnte. Dabei ergeben sich nun beide Perspektiven der theologischen Darstellung, die bei der Gegenüberstellung von Luther und Hutter charakterisiert werden konnten. Zum einen gibt es den Versuch eines Nachvollzugs der göttlichen Betrachtung sub specie aeternitatis durch den menschlichen diskursiven Verstand, wodurch sich Theologie als Aufeinanderfolge mehrerer Lehrstücke in einer linearen Ordnung ergibt. Bei Gerhardt zeigt sich dies an durch die Verwendung des Ordo salutis als Gliederungsprinzip in einer Reihe seiner Lieder 262 . Andererseits kommt es in manchen Liedern durchaus zu einer Konfrontation zwischen der Betrachtungsweise Gottes und der begrenzten Perspektive des Menschen. In dieser Konfrontation ist Gottes Allmacht und Güte sub contraria specie verborgen. Hier steht der Mensch vor der Frage, wie sein Leiden zu deuten sei, auf daß nicht die leibliche Anfechtung zur geistlichen Anfechtung eskaliere. Hier ist der Glaube zu üben, dessen Wesen darin besteht, die Eigenschaften Gottes zu loben und im Bittgebet in Anspruch zu nehmen, die der Vernunft verborgen sind 263 .
262 Etwa CS 59; 96; 99; 101; 105; 106. Übrigens ist dies nicht ausschließlich für die Lieder des 17. Jahrhunderts charakteristisch. Luthers ,Nu frewt euch, liebe Christen gmeyn' vollzieht sich aus dem Blickwinkel des bereits Gerechtfertigten und darum als Erzählung im Rückblick. Spenglers ,Durch Adams fall ist ganz verderbt' (W 111,71) stellt sogar einen Überblick über die gesamte Heilsgeschichte seit dem Sündenfall dar. 263 S.o. S. 132 ff.; zutreffend KRAUSE, 292-295. Gegen PETRICH, 248 (ähnlich RöBBELEN, 313, bei Anm. 66), die subjektive Seite des von ihm 235 formulierten Kernsatzes der Gerhardtschen Theologie sei durch Erfahrung zu wissen. Desgleichen erweist sich damit RöBBELENs Kritik, 413 f., es gebe bei Paul Gerhardt kein ,sub contraria specie', als gegenstandslos, ebenso ihre Behauptung, 417 f., es gebe bei ihm keinen Gerichtsernst (man betrachte nur die Bußlieder und die entsprechenden Kreuzlieder!) und es sei bei ihm zu einer optimistischen Verflachung gekommen, bzw., 425 (desgleichen BERGER, 168), zu einer gefährlichen Sicherheit. - Der über-lutherische (oder über-barthianische) Maßstab der von LUKAS CHRIST, Das evangelische Kirchenlied, ausgehenden Kritik INGEBORG RÖBBELENS am Kirchenlied des 17.Jahrhunderts hat bereits in der Rezension von ERWIN MÜLHAUPT eine Zurückweisung erfahren. Dennoch bleiben an ihrer Untersuchung die Sichtung des weiten Materialfeldes und der Ernst ihrer Fragestellung beachtenswert.
Schlußfolgerungen für die Dichtung Paul Gerhardts
169
10.3. Die trinitarische Struktur der Dichtung Paul Gerhardts Beide beschriebenen Betrachtungssituationen finden sich in dem Gesamtcorpus der Lieder Paul Gerhardts. Es wird auch nicht gelingen, das, was er in seinen Liedern zu sagen hatte, auf einen einzigen zentralen Punkt zu bündeln. Das hat aber seinen Grund nicht in einer Zusammenhanglosigkeit, einer Heterogenität des von Paul Gerhardt Gesagten. Vielmehr liegt es begründet in seiner trinitarischen Struktur. Versucht man, die Theologie Gerhardts auf die Struktur der Vorsehungslehre zu bringen, dann läuft alles auf den Ratschluß Gottes des Vaters zu, in welchem alles beschlossen ist, was sich ereignen wird, und der sich auf das Telos hin verwirklicht, das er selber gesetzt hat. Man kann aber nicht ohne Zwang alles ausschließlich in diese Struktur einfügen. Denn es ist zugleich noch eine andere Dimension vorhanden: die Lieder sind Zwiegespräch zwischen Gott und Mensch, ein Zwiegespräch konkret zwischen dem Menschen und Jesus oder auch zwischen dem Menschen und dem Vater, aufgrund der Gotteskindschaft, die Jesus für die durch ihn Erlösten und Berufenen begründet hat. Gelegentlich ist es auch ein Gespräch mit dem Heiligen Geist, der durch Jesus kommt. In dieser Gesprächssituation ist also Jesus das zentrale, auch den Vater und den Geist vermittelnde Gegenüber, und mit ihm gewinnt das Gespäch die größte Intimität. Es ist in der Behandlung der theoretischen Betrachtung des Themas dieser Studie gezeigt worden, daß die ununterbrochene Perspektive der Providenzlehre nur gezogen werden kann, wenn zugleich diese persönliche Dimension des Glaubens an Jesus Christus verwirklicht ist. Schließlich gibt es auch noch eine dritte Dimension, die weitgehend implizit ist, aber gleichwohl ganz grundsätzlich. Diese Lieder sind Zuwendung des Menschen an Gott, konkret zuerst an Jesus Christus und dadurch Eröffnung der Perspektive, die Gott der Vater in seinem Ratschluß entwirft. Sie sind dies als eine gewisse Art von Aktivität des Menschen, nämlich als Loben und Singen. Dieses Aktiv-Sein oder Aktiv-Werden wird in den Lobliedern eigens bewußt gemacht dadurch, daß der Mensch sich selber dazu aufruft oder überhaupt immer wieder ins Gespräch mit sich selbst kommt. In den Pfingstliedern Paul Gerhardts vor allem wird deutlich, daß dies alles eben dadurch geschieht, daß der Heilige Geist im Herzen des Menschen wirksam ist. Von ihm heißt es: „Dein Beten wird erhöret, / Dein Singen klinget wohl." 264 Singen und Beten des Menschen ist Tätigkeit des Heiligen Geistes im Menschen 265 . Diese drei Dimensionen 264
CS 29, 5,3 f., Hervorhebung von mir. Vgl. CS 82,7 nach Rom 8,15, CS 82,9 nach Rom 8,26 f. Dieser Sachverhalt ist auch grundlegend für die Poetik. So hat Opitz gefordert, zu Beginn eines jeden Gedichts nicht die Musen, sondern den Heiligen Geist anzurufen, Buch von der Deutschen Poeterey, С 4 Ь / Ges. Werke I I / 1 , 361. 265 Dies wird auch hervorgehoben in frühen Bemerkungen zu Gerhardts Liedern. So spricht
170
Die Transformation theologischer Lehre
in der Dichtung Gerhardts entsprechen also der Dreiheit in Gott. Und genauso, wie keine der Personen der Trinität auf eine der anderen reduziert werden kann, läßt sich diese Dreidimensionalität der Dichtung Gerhardts im genauen Sinne des Wortes „vereinfachen"266.
J o h a n n Heinrich Feustking von der Fülle des Geistes, aus welcher diese geflossen (Vorrede, )(9r) und allgemein davon, d a ß die Gabe, ein geistliches Lied zu verfassen, eben vom Heiligen Geiste stamme, ein charisma poeticum sei (Vorrede, )(10 r ). Das Gutachten der Greifswalder theologischen Fakultät zur Ebelingschen Ausgabe von G e r h a r d t s Liedern bekennt, d a ß sie aus dem Antrieb des Heiligen Geistes herrühren (bei BuNNERS, Paul G e r h a r d t , 360). D e r Ausdruck „geistlich" oder „geistreich" als P r ä d i k a t seiner Lieder und der „geistlichen" Dichtung im allgemeinen besagte genau dies, s. die Verwendung dieser Ausdrücke passim in Feustkings Vorrede und die Titelgebung der Ausgaben von Ebeling und Feuerlein. 266 Vgl. PETRICH, 236. Die Nichtbeachtung der trinitarischen Struktur der Dichtung Gerhardts - sowie der diese voraussetzenden Sub-contraria-specie-Situation - f ü h r t zu solchen Mißverständnissen wie demjenigen, in der geistlichen Lyrik des 17.Jahrhunderts befänden sich ein dämonischer, zürnender G o t t und ein liebender, rational verständlicher G o t t bzw. Jesus in einem exklusiven Gegensatz, und im Laufe der Entwicklung sei jener von diesem a b g e l ö s t w o r d e n , s. BERGER, 1 2 7 , b e i A n m . 1 1 0 ; BECKER, 6 6 - 7 1 ; KEMPER, D e u t s c h e
Lyrik,
Bd. 2, 227 ff. Auf den trinitarischen C h a r a k t e r von G e r h a r d t s Liederwerk verweist auch NORBERT MÜLLER,
165-167.
TEIL Ε
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet In den bisherigen Darlegungen dieses Teils meiner Studie wurde immer wieder gezeigt, d a ß und wie die Lieder Paul Gerhardts eine Umsetzung theoretischer, gelehrter Theologie in eine andere Ebene sind, die ihre eigenen Gesetze hat. Durch diese Umsetzung oder Transformation gewinnt auch das Problem des Leids eine andere Gestalt und der Mensch einen anderen Umgang damit. Die Ebene, auf welcher sich diese Lieder bewegen, wurde als die der Praxis im Gegenüber zur Theorie charakterisiert oder auch näher als Ebene der Rede. Die Rede nimmt durchaus das Element der Lehre als eines von mehreren Elementen mit auf, unterscheidet sich aber von der abstrakt gefaßten Lehre dadurch, daß sie als Rede von einer Person zu einer anderen Person gerichtet ist 1 . Damit bewegen sich Gerhardts Lieder aber in dem Bereich, der durch die Rhetorik seine Gesetze erhält. Zu Beginn dieses Teils habe ich zur Einführung schon auf die Rhetorik der geistlichen Rede zurückgegriffen. H i e r soll nun im einzelnen betrachtet werden, wie sich die Lieder Paul Gerhardts zu den Anweisungen der geistlichen und der weltlichen Rhetorik verhalten. Gerhard Johann Vossius, von dessen Schulrhetorik ,Rhetorices contractae' als Modell profaner Rhetorik hier ausgegangen wird 2 , definiert Rhetorik als „die Fähigkeit, in jeder einzelnen Sache zu sehen, was in ihr geeignet ist, um zu überzeugen." 3 E r fährt fort: „Das letzte Ziel eines
1 Aus diesem Grunde ist es unzureichend, Gerhardts Dichtung „Gedankenlyrik" zu nennen, wie dies PETRICH, 274, und CRANACH-SICHART in der Einleitung seiner Gerhardt-Ausgabe, IXX f., meinen. 2 S. o. S. 26, bei Anm. 72. Hinweise auf die rhetorische Gestaltung der Lieder Paul Gerhardts finden sich bereits in den Untersuchungen von AELLEN, Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts; FECHNER, Paul Gerhardts Lied; ELKE AXMACHER, Paul Gerhardt, 86,
A n m . 14; LOTHAR SCHMIDT, 2 8 5 ; KRUMMACHER, P a u l G e r h a r d t ,
2 8 7 ff.; VON ALBRECHT,
284-292, u. a. Jedoch wurde, soweit ich sehe, bisher nie der Versuch gemacht, in einer maßgeblichen Rhetorik aus Paul Gerhardts Zeit der Terminologie und Sache nach den rhetorischen Charakter seiner Lieder konsequent festzumachen. Bei FECHNER liegt zudem eine Vermischung der Gattungen Lied, Liedpredigt und aus Liedern zitierende Predigt vor (mit letzterer befassen sich Johann Mollers ,Loci Communes Cantionum Ecclesiasticarum'), die keinesfalls als rhetorisch gleichartig aufzufassen sind. 3 „ . . . facultas videndi in unaquaque re, quod in ea est ad persuadendum idoneum.", Vossius, Rh. c. 1,1, § 1 (13), ausdrücklich als Definition des Aristoteles (Rhetorik 1,2, 1355 b ) zitiert, unter Verweis auf Cicero (De oratore I, 31,138).
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Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
Redners ist zu überzeugen, was heißt, durch eine wohlgeordnete Rede jemanden zum Handeln zu veranlassen." 4 Damit ist die Verwandtschaft, aber auch der Unterschied zwischen Rede und Lehre gegeben. Dies zeigt Vossius bei der Aufgliederung der Aufgabe des Redners 5 . Sie umfaßt vier Teile: erstens Argumente zu finden (inventio), zweitens, sie anzuordnen (dispositio), drittens sie auszuschmücken (exornare), viertens sie vorzutragen (pronunciare). Mit den beiden ersten Teilaufgaben befaßt sich auch die Dialektik, jedoch ist diese dabei von einer anderen Absicht geleitet, nämlich der des Lehrens, während es dem Redner um die Veranlassung zur T a t geht. In der Dialektik - und dies kann auf die theoretische Theologie übertragen werden - werden Argumente also nur betrachtet, ob sie als solche wahrscheinlich sind. Wer die genügende Klugheit besitzt, wer in die Logik eingeweiht ist, dem wird dies genügen, um zur Erkenntnis zu kommen. Die Rede hat ein anderes Ziel und einen anderen, nämlich weiteren Adressatenkreis. Aufgrund dessen verlangt der Vorgang des Uberzeugens als solcher größere Aufmerksamkeit. Zu der Wahrscheinlichkeit der Argumente muß hinzukommen, daß der Redner sich Vertrauen bei seinen Zuhörern verschaffen und daß er die Gefühle und damit den Willen seiner H ö r e r bewegen können muß. Die inventio, bzw. der Kreis der zu findenden Argumente, umfaßt darum auch noch die ethika, die Eigenschaften des Redners, die er den H ö r e r n mitteilen muß, damit sie ihm vertrauen 6 , und die pathetika, die Affekte der H ö r e r , auf die der Redner mit geeigneten Argumenten einwirken muß 7 . Während die Dialektik also von vornherein sich ausschließlich auf den Überzeugungswert einer bestimmten Sache konzentriert und es sich leisten kann, wie Vossius sich ausdrückt, trocken und mager zu sein 8 , befaßt sich die Rhetorik mit allen Faktoren, die bestimmen, d a ß es tatsächlich zu einer bestimmten Überzeugung kommt, und faßt darum „Überzeugen" als ein Geschehen zwischen zwei Personen, der redenden und der hörenden, ins Auge.
4
„Finis Oratoris ultimus est persuadere. H o c est, diserta oratione aliquem impellere ad agendum . . . " , Vossius, Rh. c. 1,1, § 4 (14). 5 Vossius, Rh. c. 1,1, § 8 (18-21). 6 Es sind dies die mores des Redners, nämlich Klugheit (prudentia), Rechtschaffenheit (probitas) und Wohlwollen (benevolentia), Vossius, Rh. c. 11,15 (138-149). Dazu und zu den Affekten s. Art. Affektenlehre, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 (1992), 218-253, u. Art. Ethos, das., Bd. 2 (1994), 1516-1543. Es zeigt sich hier wieder wie auch sonst die starke Orientierung Vossius' an Aristoteles und Cicero. 7 Vossius definiert: „Affekt ist eine Veränderung des sinnlich empfindlichen Strebevermögens, das hervorgeht aus der gegebenen Vorstellung einer guten oder schlechten Sache" oder, mit Aristoteles: „Affekt ist eine Erregung des Gemüts, durch welche der Mensch verändert nicht mehr auf dieselbe Weise von denselben Dingen urteilt." („Affectus est appetitus sensitivi immutatio ab objecta rei bonae vel malae specie proveniens", „Affectus est animi commotio, per quam homo immutatus non eodem modo de iisdem rebus judicat."), Rh. c. 11,1 (100). 8 Vossius, Rh. c. 11,1 (100).
Die rhetorische Gestaltung der dispositio in den Liedern Paul Gerhardts 173 Im folgenden soll gezeigt werden, wie die rhetorische Gestaltung der dispositio und der inventio in den Liedern Paul Gerhardts vollzogen werden.
1. Die rhetorische Gestaltung der dispositio in den Liedern Paul Gerhardts Der Aspekt, den die Rhetorik mit der Dialektik bzw. mit der Logik gemein hat, kommt zur Geltung in der Gliederung, die, nach Vossius, der Hauptteil einer Rede aufweisen muß. Sie soll nämlich durch die logische Ordnung bestimmt werden, deren sich die Dialektik bedient. So enthält eine Rede eine These (propositio), welche durch eine Beweisführung mit Argumenten (probatio / fides / contentio / confirmatio) bewiesen werden soll 9 . Eine entgegengesetzte These muß umgekehrt durch geeignete Argumente widerlegt werden (confutatiof0. D a ß die Disputation und der Beweis einer bestimmten These bzw. die Widerlegung einer entgegengesetzten These den Inhalt einiger Lieder Paul Gerhardts ausmacht, vor allem solcher aus der Rubrik ,Vom christlichen Leben und Wandel', haben wir bereits gesehen 11 . Dabei macht Gerhardt Gebrauch von Möglichkeiten der Beweisführung, die für die Rede spezifisch sind. Während die Logik sich ausschließlich des strengen Syllogismus bedient, kann die Rede auch die Argumentationsformen des Enthymema benutzen (bei welchem eine der beiden Prämissen weggelassen wird), sowie die Inductio und das Beispiel (Exemplum)12. Paul Gerhardt verwendet besonders gerne die Inductio, in welcher eine Reihe von Dingen, Ereignissen usw. aufgezählt wird (enumeratio), in welchen in ähnlicherWeise der Sachverhalt vorhanden ist, der bewiesen werden soll. Die Inductio ist also eine Reihe von Beispielen, das Exemplum eine abgekürzte Inductio. So werden in CS 58,3-5 Fälle aneinandergereiht, aus denen jeweils hervorgeht, daß das Planen eines Menschen scheitert, mag er noch so klug sein, wenn er Gott nicht um Hilfe bei seiner Beschlußfassung gebeten hat. In CS 64,8 nennt er dazu nur ein einziges Beispiel, nämlich das des Ahitophel. In CS 75,4-8 und 72,7-9 werden Beispiele aus der eigenen Erfahrung angeführt, die zeigen, daß Gott sich um den Menschen kümmert und Vorsehung für ihn wahrnimmt. In CS 128,4-6 werden Beispiele der „lieben Alten" genannt ' Vossius, Rh. c. III (121-274), insbes. 111,1 (121 f.), vgl. Art. Dispositio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 831-866; Art. Confirmatio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 352-355; Art. Argumentatio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 (1992), 904-914. 10 Vossius, Rh. c. 111,8 (264-267), vgl. Art. Confutatio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 355-357. 11 S.o. S. 99 ff., z.B. CS 89; 58. 12 Vgl. Art. Argumentation, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 (1992), 914-991, insbes. 914-944.
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Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
- namentlich Abraham, Isaak und Jakob - um zu beweisen, daß das Kreuz zur condicio christiana gehört 13 . In Str. 7 bezieht dann das Ich des Liedes diesen allgemeinen Sachverhalt auch auf sich und zieht daraus Str. 8 ff. wiederum die Folgerung, sein Leben nach der ewigen Herrlichkeit zu orientieren. So bestimmt der Gebrauch der Inductio die Gestalt eines großen Teils der Lieder Gerhardts. Gerhardt zieht sie den kürzeren Formen des strengen Syllogismus oder des Enthymemas vor. Diese haben ihren Platz in entsprechend kurzen Gedichten - dem Sonett oder dem Epigramm 14 . Gerhardt hingegen trachtet danach, Länge zu gewinnen, entsprechend der damals vorherrschenden Auffassung vom vielstrophigen Kirchenlied, der poetischen Aufgabe der variatio15 und dem meditativen Zweck des „Wiederkäuens", der ruminatio16. Außerdem verschafft Gerhardt dem Publikum durch eine Vielfalt von Beispielen eine um so größere Anschaulichkeit 17 . Schließlich ist diese Argumentationsform mit der der amplificatio verwandt, welche nicht die Vernunft zu überzeugen sucht, sondern in welcher die Aufweitung dazu dient, einen Sachverhalt zu betonen (exaggerare) und so auf die Affekte einzuwirken 18 . Die übrigen Teile von Vossius' Aufriß einer Rede sind das exordium, das am Anfang den Hörer von den Tugenden der Redners überzeugen soll, die narratio, die gelegentlich dem exordium folgt, und eine bestimmte gegebene Sachlage bzw. den Hergang einer Sache darlegt, und der epilogus (auch peroratio): am Schluß wendet der Redner sich gezielt an die Affekte der Hörerschaft, damit die gewonnene Einsicht auch in die Tat umgesetzt wird 19 . Diese Teile werden von Gerhardt nicht so deutlich übernommen. In gewisser Weise kann der Aufruf an den Hörer - oft die eigene Seele
13 Siehe Art. C o n d i c i o h u m a n a , H i s t o r i s c h e s W ö r t e r b u c h der Rhetorik, Bd. 1 ( 1 9 9 2 ) , 337-348. 14 Ein Beispiel das Epigramm des Gryphius ,An die A p o s t e l über die A n k u n f f t des heiligen Geistes', G A 11,176: „Ihr scheint / nun Jesus w e g / g a n t z o h n e T r o s t z u seyn / / D r u m z e u c h t der T r o s t G o t t selbst in eure H e r t z e n ein." H i e r ist in der ersten Zeile der U n t e r s a t z , in der zweiten ( „ D r u m . . . " ) die C o n c l u s i o genannt. D e r O b e r s a t z „Wer v o n G o t t verlassen scheint, zu d e m k o m m t er selbst als Trost." ist w e g g e l a s s e n . D u r c h diese V e r k ü r z u n g und durch die p a r a d o x e E n t g e g e n s e t z u n g von T r o s t l o s i g k e i t und T r o s t = G o t t wird d e m Ideal der Argutia entsprochen, w e l c h e s d e m Epigramm z u eigen ist, s. O p i t z , Buch von der D e u t schen P o e t e r e y V , D 2 b / Ges. W e r k e I I / l , 366; Art. A r g u t i a - B e w e g u n g , H i s t o r i s c h e s W ö r t e r b u c h der Rhetorik, Bd. 1 ( 1 9 9 2 ) , 9 9 1 - 9 9 8 ; ELSCHENBROICH, N a c h w o r t , 152; 159. 15
S. u. S. 2 0 3 ff. Siehe RUPPERT, M e d i t a t i o - R u m i n a t i o , vgl. STRÄTER, M e d i t a t i o n , 40, u. a. Stellen. 17 D i e Anschaulichkeit wird v o n A u g u s t Buchner als W e r t der P o e s i e erörtert in seiner Schrift ,Poet', 2 7 - 3 2 ; 5 f., s. u. S. 198 ff. M i t dieser Anschaulichkeit wird letztlich der Z w e c k verfolgt, besser belehren und ü b e r z e u g e n z u k ö n n e n . 18 Vossius, Rh. c. 111,7, § 17 (264); I V , 2 0 , insbes. § 11 f. ( 3 6 9 f.) zur U m s c h r e i b u n g (periphrasis). " Vossius, Rh. c. 111,1, insbes. § 3 f. (222), und 111,9, § 7 ( 2 7 0 ff.). 16
Die Einschätzung der Affekte in den Liedern Paul Gerhardts
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insbesondere der Aufruf zu loben 20 , mit einem Exordium verglichen werden, insofern es nach Vossius auch dem Zweck dienen soll, die Aufmerksamkeit des Hörers zu erregen 21 . Manchmal erhält die Schlußstrophe den Charakter eines epilogus, so in CS 89,16 oder 81,17. So wird hier zum Handeln aufgefordert (CS 81,17) bzw. schon der Entschluß zu diesem Handeln verkündet (CS 89,16). Dieses „Handeln" besteht bei Paul Gerhardt - wie bereits bemerkt wurde 2 2 - darin, daß das Gemüt der Ermahnung folgt, sich Gott anzuvertrauen und ihn zu loben und damit den Zustand des Getrostseins, der Zuversicht und Freude zu gewinnen. Aus der bewiesenen These folgt dieses Handeln. In der Terminologie der oratio sacra ausgedrückt, entspringt aus der Durchführung im genus didascalium in diesen Epilog-Teilen die dementsprechende Rede im genus paideuticum bzw. consolatorium21.
2. Die Einschätzung der Affekte in den Liedern Paul Gerhardts Vossius zufolge richtet sich die inventio, die Findung von Mitteln, die geeignet sind, eine gewünschte Überzeugung zu bewirken, nicht nur auf Argumente, die dem Verstand einleuchten, sondern auch auf Aussagen, welche die Affekte des Hörers bewegen und auf solche, die den Redner ihm glaubwürdig machen. Wir haben gesehen, daß für das erstere Paul Gerhardt auf die Argumentationsmuster der Loci theologici theoretici zurückgreift, welche für die geistliche Rede an der Stelle stehen, wo sich bei Vossius die Dialektik befindet. Die mores des Redners können für eine Analyse der Lieder Paul Gerhardts unter die Mittel subsumiert werden, Affekte zu erregen, insofern sie auch dazu dienen, beim H ö r e r den Affekt der confidentia oder der gratia, des Wohlwollens, bzw. der lenitas zu erregen 24 . 20
S . o . S. 97; S. 144 f. V o s s i u s , Rh. c. 111,2, § 7 (226); § 14 ff. (228 f.), vgl. LOTHAR SCHMIDT, 285. 22 S . o . S. 154. 23 D i e vier erhaltenen Leichensermone Gerhardts lehnen sich - als R e d e n im engeren Sinne - an diese A n o r d n u n g nach Vossius an, mehr n o c h naheliegenderweise j e d o c h an die Oratona ecclesiastica, die Methodus concionandi J o h a n n H ü l s e m a n n s . Siehe dort, Sectio II = cap. 6 - 1 0 , insbes. p. 70, die Einteilung in Exordium, Propositio, Partitio ( G l i e d e r u n g d e s Predigttextes und damit zugleich der Predigt), Deductio ( D u r c h f ü h r u n g derselben, zugleich Confirmatio) und Peroratio. Eigentümlich bei Gerhardts Sermonen sind dabei die d o p p e l t e n Exordien. D e r Stil seiner Predigten ist somit in der dispositio, aber nicht nur darin, deutlich von der der Lieder unterschieden. G e r h a r d t bleibt auch viel m e h r innerhalb des genus didascalium, ist lehrhafter, auch gelehrter - lateinische Formulierungen einstreuend! - als in den Liedern. G e g e n AELLEN, 36, der einen Einfluß des Predigtstils auf Gerhardts Liedstil behauptet, aber nur an der V e r w e n d u n g bestimmter rhetorischer Figuren festmacht, die für Predigten als solche gar nicht typisch sind. 24 D i e rhetorische T r a d i t i o n kannte diese M ö g l i c h k e i t einer Subsumption, s. Art. A f f e k tenlehre, H i s t o r i s c h e s W ö r t e r b u c h der Rhetorik, Bd. 1, 218; 220. 21
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Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
Der Behandlung der Affekte in den Liedern Paul Gerhardts soll hingegen hier die besondere Aufmerksamkeit gelten. Vossius führt dieses Thema in seine Rhetorik ein, als gelte es lediglich, die Beweiskraft vernünftiger Argumente zu verstärken. Dies sei für einen hinreichend weisen Menschen nicht notwendig, angesichts der verbreiteten menschlichen Schwachheit für weitere Kreise jedoch schon 25 . Vossius schreibt der Bewegung der Affekte jedoch selbst noch mehr als bloß diesen Hilfscharakter zu. Dies wird sichtbar, wenn man seine Einteilung der verschiedenen Redegattungen bedenkt. Er vertritt die traditionelle Einteilung in genus demonstrativum, genus deliberativum und genus juridicialelb. Diese Gattungen werden noch weiter unterteilt 27 . Das genus deliberativum enthält Reden zum Lob oder zum Tadel, und im einzelnen u. a. auch die Traueransprache (oratio funebris) oder Klagerede (oratio lamentatoria). Von diesen Redeformen sagt Vossius selbst einleitend, daß sie nur dazu dienen, das Wesen einer Sache oder Person zu zeigen (demonstrare) und nicht eine Handlung der H ö r e r im engeren Sinne bezwecken. Dementsprechend bezieht diese Art von Rede sich auf etwas Gegenwärtiges, eben diese Sache oder Person. Was gezeigt werden soll - dies ist der Lehrzweck einer solchen Rede - ist die honestas, die Ehrbarkeit oder Lobwürdigkeit dieser Person oder Sache. Der dabei zu bezweckende Affekt ist der des delectare. weil sich der Angesprochene an Eigenschaften dieser Person oder Sache freut, lobt er sie. Im Lob bringt er seine Freude zum Ausdruck 28 . Es ist demnach hier eher so, daß der Beweis der Lobwürdigkeit als - allerdings notwendige - Voraussetzung dafür dient, daß der H ö r e r sich an dem Lobwürdigen freuen kann. Die Vernunftargumente zielen also letztlich auf einen Affekt bzw. eine affektbestimmte Tätigkeit, das Loben. In den beiden anderen Redegattungen hingegen verhält es sich anders. Im genus deliberativum geht es darum, den H ö r e r davon zu überzeugen, daß er einen bestimmten Entschluß zu einer bestimmten Handlung fassen soll, die in der Zukunft zu vollziehen ist. Er muß also von der Nützlichkeit dieses Entschlusses bzw. dieser Handlung unterrichtet werden, und der Affekt der Hoffnung, daß sie sich als nützlich erweise, muß in ihm erweckt werden. Bei der Gerichtsrede schließlich liegt ein in der Vergangenheit vollzogener Tatbestand vor, angesichts dessen ein gerechtes und angemessenes Urteil zu finden ist. Dabei können die Affekte der Milde und der Härte eine Rolle spielen. Betrachtet man also die erste Redegattung, so sieht man, daß das Loben und die darin sich äußernde Freude gewissermaßen Selbstzweck sind 29 . In 25
Vossius, Rh. c. Vossius, Rh. c. 27 Vossius, Rh. c. 28 Vossius, Rh.c. 11,5 f. (114-118). 26
1,1, § 8 (18-21); 11,1 (100 f.); 111,1, § 3 (122). 1,3 (28 f.), sowie 1,4-6 (29-63); vgl. LAUSBERG, Bd. 1,53-56. 11,16-27 (149-220). 1,3 - 1,4, § 1 (28 f.), vgl. laetitia und gratia als Affekte dieses Genus,
Die Einschätzung der Affekte in den Liedern Paul Gerhardts
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den Liedern Paul Gerhardts hat, wie gezeigt wurde, nun gerade das Loben eine zentrale Stellung. Zu loben sind Gott und seine Taten, in welchen sich sein Wesen offenbart. Die Freude, die dem Gefallen an Gott entspringt und sich im Lob Ausdruck gibt, ist das Ziel des menschlichen Lebens 30 . Die Süßigkeit, welche alles, auch das Zeitliche, sub specie aetemitatis betrachtet, erfüllt, ist eben das Wesen Gottes, unter dem Aspekt gesehen, daß der Mensch Gefallen daran findet 3 1 . Der Affekt steht also im Grunde gleichberechtigt neben der Einsicht in eine wahre Lehre. Das Uberwechseln aus dem genus didascalium ins genus paideuticum und consolatorium bedeutet gerade dies, daß zu dem Belehrtwerden das Sich-Anvertrauen und das Getrostsein des Gemüts hinzutreten. In diesem Zusammenhang wird erst ganz deutlich, welchen kritischen Stellenwert das Leid annimmt. Denn das Leid ist dann nun nicht mehr, wie innerhalb der Lehre als solcher, bloß als privatio boni aufzufassen, welche durch die Einwirkung eines anderen verursacht wird, sondern als dolor, als Schmerz, der dem Affekt der Freude genau entgegengesetzt ist 32 . Das Leid wäre der Grund, Gott nicht zu loben, so daß der Mensch seine Bestimmung nicht erreichen würde. Und so kann das gesamte Liederschaffen Paul Gerhardts als ein Unternehmen betrachtet werden, Freude zu bewirken bzw. auszudrücken und Leid und Schmerz zu überwinden. Mit dieser hohen Einschätzung der Affekte nimmt Gerhardt auch Stellung in dem alten Streit darüber, ob Affekte für den Menschen überhaupt wünschenswert oder nicht besser zu überwinden seien. Vossius referiert, daß die Stoiker sich für das letztere, die Anhänger des Aristoteles hingegen für das erstere entschieden hätten 33 . Die Bemerkung des Vossius, der Weise habe es zu seiner Urteilsbildung nicht nötig, daß seine Affekte in entsprechender Weise berührt würden, paßt zu der stoischen Position. Bei Gerhardt ist hingegen klar, daß das Ziel des Menschen nicht in einer völligen Auslöschung der Affekte, in apatheia bestehen kann, sondern in der höchsten Steigerung des Affekts der Freude. Gerhardt sieht keine Erlösung vom Leid durch das Erreichen völliger Empfindungslosigkeit vor. So ist es von Bedeutung zu beobachten, daß er Ausdrücke des Schalls und der Bewegung 29 Ähnliches kann man bei der Trostrede beobachten, obgleich Vossius sie ins genus deliberativum einordnet. Denn ihr Zweck ist, dem Gemüt des Trauernden Ruhe zu verschaffen, nicht aber, ihm zu einem Beschluß zu verhelfen, Rh. c. 111,24, § 2 (198). 30 S. o. S. 141 ff. Hutter nennt Comp. IV,6 (20) als Zweckursache der Schöpfung, daß Gott von den Kreaturen erkannt und gefeiert würde und zitiert Comp. X X X I V , 2 (140) in seiner Antwort auf die Frage „Quid est vita aeterna?" aus Ps 16,11: „ . . . adimplebis me laetitia vultus tui: delectationes ad dexteram tuam in seculum seculi." 31 S.o. S. 161; s.u. S. 210ff. 32 Vossius gewinnt den Grundaufriß seiner Affektenlehre nach stoischem Vorbild durch die Kombination zweier Kriterien, der Unterscheidung des Positiven bzw. Negativen und des Gegenwärtigen bzw. Zukünftigen. So kommt er auf die Grundaffekte Freude - Schmerz H o f f n u n g (spei bzw. confidentia / fiducia, Zuversicht) - Furcht, Rh. c. 11,1, § 1 (102). 33 Vossius, Rh. c. 11,1, § 1 (102 f.).
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Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
nicht nur für das Leiden verwendet 34 , sondern auch für die Beschreibung des Zustands, in welchem das Leid aufgelöst ist. Wer Freude empfindet, der lacht 35 , und besonders liebt Gerhardt dabei den Ausdruck „Springen", den er vorzugsweise mit „Singen" reimt, um diese Freude darzustellen. Eindrücklich ist diese Schlußstrophe: Mein Herze geht in Springen Und kann nicht traurig sein, Ist voller Freud und Singen, Sieht lauter Sonnenschein. Die Sonne, die mir lachet, Ist mein Herr Jesus Christ, Das, was mich singen machet, Ist, was im Himmel ist. 36
Zum einen ist die Erfüllung der menschlichen Bestimmung also von Bewegung gekennzeichnet, von Lachen und Springen. Zum anderen ist sie zugleich ein Ruhen und Stillsein. Dies wird in einer anderen Schlußstrophe ausgedrückt: Hab ich dies, so ruht mein Wille, Denn ich habe selber dich, Dich, du unvermessne Fülle Dessen, was mich ewiglich In dem Himmel laben soll. Wohl mir, wohl und aber wohl! Soll mich Gottes Fülle laben, Woran will ich Mangel haben? 37
Beides, höchste Steigerung affektiver Bewegung und Ruhen des erfüllten affektiven Strebens, hat Paul Gerhardt in dialektischer Einheit zusammengeschlossen in der Schlußstrophe seiner Hymne an das verwundete Herz Jesu, dem wohl am stärksten gefühlsgeladenen seiner Lieder38: „Nimm mein 34
Siehe die Metaphern von Donner, Ungewitter und Sturm, oben S. 146, Anm. 179. f.; 73, 4 , 1 0 ; 7 8 , 16,6; 79, 8 , 4 ; 81, 1 6 , 8 ; 103, 10,3; 120, 10,5; 127, 11,4; 129, 3,3; 130, 9,4, vgl. ZELLER, Paul Gerhardt, in: Theologie und Frömmigkeit, Bd. 1, 159. 36 CS 82,15. Diesen Reim auch CS 5,1; 101, 13,1; 118, 6,7; 120, 13,3; 121, 3,5; 123, 12,3 f., ähnlich 129, 15,3; 81, 17,3; 77, 9,2. 37 CS 50,10, ähnlich 2, 7,6; 13, 16,6; 94, 1,1; 95, 1,1; 129, 19,1. Die hier verwendeten Ausdrücke decken sich mit denjenigen, die für die Ergebung in Gottes Willen stehen, in welcher der Mensch sich schon auf die eschatologische Ruhe einstellt, s.o. S. 136. Vossius sagt, daß die Wirkung der Freude (laetitia) das Wohlgefallen (delectatio) sei, nämlich die Ruhe des Geistes, welcher auf süßeste Weise in dem gegenwärtigen Gute Ruhe findet („tranquillitas animi in bono praesenti suavissime acquiescentis."), Rh. c. 11,5, § 3 (114). 38 CS 23, 7,1-8. Auf die Affektenbehandlung in den Passionssalven, insbesondere auf die Deutung des Schmerzes und der Süßigkeit in ihnen, wird weiter unten eingegangen werden, S. 259 ff. 35
C S 12, 8 , 4 ; 2 1 , 11,7; 2 6 , 6 , 1 ; 6 9 , 5 , 3 ; 7 0 , 5 , 7
Die Loci probationis
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Herz, о mein höchstes Gut, / Und leg es hin, wo dein H e r z ruht, / Da ists wohl aufgehoben." - soweit ist von der ersehnten Ruhe die Rede. Dies wird aber sogleich in eine Rede von höchster Bewegtheit umgesetzt: „Da gehts mit dir gleich als zum Tanz, / Da lobt es deines Hauses Glanz / Und kanns doch nicht gnug loben", um wieder in Ausdrücke der Ruhe zu münden: „Hier setzt sichs, hier gefällts ihm wohl, / Hier freut sichs, daß es bleiben soll."
3. Die Loci probationis D a ß die Bewegung der Affekte nicht nur auf die Unterrichtung des Verstandes bezogen werden, sondern dieses Verhältnis auch umgekehrt werden kann, zeigt sich auch an der Verwendbarkeit der loci probationis. So nennt Vossius die Klassen von Argumenten, die dazu dienen, den Verstand anzusprechen. Deren wichtigste sind das honestum und das utilei9. Im honestum sind das decorum, das legitimum, das aequum bzw. pium und das gloriosum, zusammengefaßt. Zu dem utile gehören auch das necessarium, das possibile und das jucundum. Außerdem wird noch der Fall des eventus genannt. Das utile dient Gerhardt als heuristisches Prinzip, um auf der Grundlage seiner eschatologisch-teleologischen Weltbetrachtung Argumente zu sammeln, die beim H ö r e r eine Uberzeugung von der Sinnhaftigkeit alles Geschehens schaffen. Damit findet Gerhardt aber zugleich Argumente, die, vermittelt über den Verstand, im Gemüt den so wichtigen Affekt der Zuversicht erzeugen. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung des Zuchtgedankens bei Gerhardt besonders scharf erkennbar 4 0 : Indem er beweist, daß alles seinen sinnvollen Platz in Gottes Vorsehung hat, also alles, mithin auch das Leid, nützlich ist, verschafft er dem Menschen Zuversicht und Hoffnung. Die unter dem Begriff des Nützlichen gesammelten Verstandesargumente dienen also zugleich dazu, diese Affekte zu erregen, so wie laut Vossius der utilitas als Lehrzweck die Hoffnung als affektiver Zweck entspricht 41 . Das jucundum, das Angenehme, Erfreuliche, spricht Gerhardt in folgenden Versen an (CS 94,10) 42 : Bleibt gleich die Hilf in etwas lange, Will sie dennoch endlich kommen, 39
Vossius, Rh. c. 1,4, § 30 f. (40) beim genus demonstrativum, ausführlicher 1,5, § 5-14 (50-55) beim genus deliberativum, и.о. bei den einzelnen Untergattungen von Reden. Vgl. Art. Honestum, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3 (1996), 1546-1555. 40 S.o. S. 128f. 41 Vossius, Rh. c. 1,3, § 3 f. (28) 42 Vossius, Rh. c. 1,5, § 9 (52 f.); 11,24, § 21 (202).
180
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
Macht dir das Harren angst und bange, Glaube mir, es ist dein Frommen. Was langsam schleicht, Faßt man gewisser, Und was verzeucht, Ist desto süßer. Gib dich zufrieden! In der ersten Hälfte der Strophe wird das utile aufgewiesen („Frommen'), in 2.7 f. wird dies zum jucundum abgewandelt: das Begehrte gewinnt an Reiz für das Genießen, wenn auf den Genuß gewartet werden muß. In dem - in der Vorstellung vorweggenommenen - Rückblick aus dem Augenblick des Genusses auf die Zeit des Erwartens erscheint auch diese als süß. Allerdings trägt Gerhardt bezeichnenderweise in diesen Gedanken von der Qualitätssteigerung durch das Leiden nicht auch noch das Argument des necessarium ein, welches den Hörer dadurch zu überzeugen sucht, daß ihm die Notwendigkeit dessen, was er tun oder auf sich nehmen soll, vorgehalten wird 43 . Das Leid, nun einmal vorhanden, dient zwar dazu, dem Menschen, wenn er das Ziel der Seligkeit erreicht hat, ein höheres Maß an Süßigkeit zu verschaffen. Doch wird nicht behauptet, daß das Leid notwendig gewesen sei, um zu einem Maximum an Genuß zu verhelfen, und daß dies anders nicht hätte geschehen können. Gerhardt bleibt dabei, daß die Sünde und als ihre Folge die leidvolle Existenz des Menschen nicht aus dem Willen Gottes zu erklären sind. Im Hintergrund steht die Zwei-Ursachen-Lehre für die Existenz des Übels, hinter die nicht weiter zurückgegangen wird. Leibniz hat an dieser Stelle einen anderen Weg beschritten 44 . Eher selten kommt Gerhardt auf das honestum zu sprechen, welches den Affekt der Bewunderung erregt 45 . Er formuliert dies (CS 83, 7,1-4): Unverzagt und ohne Grauen Soll ein Christ, Wo er ist, Stets sich lassen schauen. Für den Christen, der dies hört, liest, mitsingen soll, sind diese Verse deswegen ein Grund, sich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen, weil er sich vor anderen so sehen lassen möchte, wie es einem Christen gebührt. Es ist seine Ehrliebe, sein Verlangen, von anderen geschätzt und bewundert zu werden und sich nicht schämen zu müssen, das ihn dazu bewegt 46 . Von
43
Das necessarium bei Vossius definiert: Rh. c. 1,5, § 8 (52). Leibniz, Theodizee, 1,7 (Bd.II/1, 218), vgl. oben S. 121, bei Anm.97. 45 Vossius kommt auf diesen Affekt bei der Behandlung des entgegengesetzten Affektes des Schamgefühls (pudor) zu sprechen, Rh. c. 11,4, insbes. § 2 (110 f.). 46 Das honestum auch noch in CS 72, 4,1; 72, 14,1 f.; 118, 4,8 - 5,8 (die Passage stellt eine Lobrede auf den verstorbenen Petrus Fritzen dar); 119, 7,3. 44
Die Behandlung der einzelnen Affekte
181
Nützlichkeit des Leidens und H o f f n u n g auf ein besseres Dasein ist hier nichts zu sagen. Man wird annehmen dürfen, daß das Motiv des Ehrbaren für den Trost Paul Gerhardts gerade darum eine so vergleichsweise geringe Rolle spielte, weil er alles auf die H o f f n u n g ausrichtete 47 .
4. Die Behandlung der einzelnen Affekte in den Liedern Paul Gerhardts Vossius und Hülsemann haben eine Reihe von Gefühlen in ihren Affektenlehren erörtert 4 8 , und man kann untersuchen, ob und wie diese Anweisungen von Paul Gerhardt aufgenommen werden und welche Gefühle er in welchem Stadium der Entwicklung in einem Gedicht jeweils zu erwecken sucht. Ich konzentriere mich hier jedoch auf das zentrale Interesse von Gerhardts Umgang mit den Affekten seiner Hörer. Es ist ganz darauf ausgerichtet, zur Vollendung der eschatologischen Freude hinzuleiten und dadurch Schmerz und Furcht zu überwinden. Dies geschieht zum ersten durch eine Vorwegnahme der Freude an dem künftigen Gut, welches der Selige erlangen wird, zum anderen durch das Hervorrufen der Zuversicht, der confidentia, in welcher sich der Mensch auf die Freude als etwas Künftiges, noch Ausstehendes ausrichtet. Es ist bereits gezeigt worden, daß die Lieder Paul Gerhardts zum Lob Gottes aufrufen und zu diesem hinführen, so daß die Süße der glorificatio schon in diese Welt hineinreicht und geschmeckt werden kann 4 9 . Es ist also eine irdische Vor-Freude der himmlischen Freude möglich. Gerhardt vermag dies dadurch zu verwirklichen, daß er die Schönheit und Süßigkeit der künftigen Welt benennt und beschreibt und sie seinem H ö r e r somit vergegenwärtigt. Er macht auf diese Weise Gebrauch von Vossius' Definition: „Freude ist eine Bewegung des Gemüts, die hervorgeht aus der Vor47 Anders verhält es sich in Vossius' Konzeption einer Trostrede, Rh. c. 11,24, § 2 7 - 3 0 (203-205). Vossius lehnt sich hier mehr an den philosophischen Trost an, verweist u. a. auch auf Cicero und Seneca. Er baut die consolatio stufenweise auf: was einem Menschen, einem Mann, einem klugen Manne, einem Christen, letztendlich einem Lehrer des Christentums geziemt, ist, sich nicht vom Leid übermannen zu lassen. Obgleich er also das Christliche mit ins Spiel bringt und auch den theologischen Locus de Providentia Dei in malo erwähnt, ist sein übergeordnetes Prinzip das honestum. Eine ähnliche Denkweise wird bei Opitz zu beobachten sein, s.u. S. 314 ff. 48 Vossius behandelt in dem eigens den Affekten gewidmeten Abschnitt Rh. c. 11,1-14 (100-138) die Furcht, die Zuversicht, die Scham, die Freude, die Wohlgesonnenheit, den Zorn, die Sanftmut, die Liebe, den Haß, die Entrüstung, den Neid, das Mitleid, die Lust nachzueifern und die Verachtung. Außerdem geht er auch innerhalb der Lehre von den Untergattungen der Reden, 11,16-27 ( 1 4 9 - 2 2 0 ) auf die Erregung der jeweils dazu passenden Affekte ein. Hülsemann gibt in den abschließenden cap. 11-13 (180-241) seiner Homiletik unter dem Titel „Pathologia" eine Affektenlehre und befaßt sich mit Liebe, Haß, Furcht, Mitleid und Scham (cap. 11, 180-202). 44 Siehe oben S. 160 f.
182
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
Stellung eines gegenwärtigen Gutes." 50 . Die Vorstellung, die Imagination, ist also ein wesentlicher Bestandteil des Wesens der Freude, und sie kann vor dem Erscheinen des Guts selbst schon vollzogen werden und Freude bereiten. So bittet Paul Gerhardt am Ende eines Kreuzliedes den Heiligen Geist (CS 78, 15,1-4): „Ach laß mich schauen, wie so schön / Und lieblich sei das Leben, / Das denen, die durch Trübsal gehn, / Du dermal einst wirst geben" usw. Der Mensch, welcher sich für die Orientierung auf das höchste und bleibende Gut hin entschieden hat, findet in dessen Imagination Freude und Trost. Dies ist auch ein bevorzugter Trost Paul Gerhardts in seinen Liedern zu Trauerfällen: die Hinterbliebenen werden dadurch getröstet, daß sie sich vorstellen, in welcher Herrlichkeit der Verstorbene sich jetzt befindet, die auch auf sie selber wartet 51 . An anderen Stellen sind es Vergleiche mit der Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur, durch welche die künftige Herrlichkeit anschaulich gemacht wird: „Denn er wird sich zu uns machen / Wie die schöne Morgenrot / Uber welche Lust und Lachen / Bei der ganzen Welt entsteht." usw. 52 Von der Freude ist die Zuversicht bzw. das Vertrauen oder die H o f f n u n g dadurch unterschieden, daß sie als solche sich auf etwas Künftiges ausrichtet 53 . Außer solchen Verstandesargumenten, welche unter den locus probationis des utile subsumiert werden können und so mittelbar den Affekt der Zuversicht erzeugen, stehen dem Redner noch weitere Mittel zur Verfügung. Hülsemann unterscheidet in seiner ,Pathologia' genannten Affektenlehre hierbei grundsätzlich eine pathologia realis, in welcher Gegenstände bzw. Sachverhalte aufgeführt werden, deren Nennung in besonderer Weise dazu geeignet ist, bestimmte Gefühle zu erregen, eine pathologia verbalis, bei welcher dies durch entsprechende Redefiguren und -tropen geschieht, und schließlich eine pathologia morata, welche den Umgang mit der Stimme, Mimik, Gestik und Körpersprache unter diesem Gesichtspunkt behandelt 54 . Vossius bleibt in dem Hauptstück seiner Affektenlehre im Rahmen einer pathologia realis und nennt in dem Kapitel über die confidentia mehrere Sachverhalte, die in Argumenten für diese Empfindung verwendet werden können 5 5 . So sagt er, daß man Menschen in Not erinnern solle, daß in
50
„Laetitia est motus animi proveniens ex imaginatione boni praesentis.", Vossius, Rh. c. Π.5. § 2 (114). 51 Vor allem CS 116 f., vgl. die Vorfreude auf Jesu Wiederkehr, CS 120, und das ,Himmelslied' CS 134. 52 CS 69, 5,1-4, s. Str. 5 f. im Ganzen u. CS 71,8 f. Vgl. SCHÖNBORN. 53 Vossius, Rh. c. 11,1, § 1 (102); 11,3, § 1 (107). 54 Die pathologia realis Meth. conc., 180-202, verbalis das., 202 ff., morata das., 229-241. Vossius behandelt die pathologia verbalis unter dem Titel ,De figuris pertinentibus ad argumenta Pathetikct, Rh. с. IV,21 (370-382). Hülsemann und Vossius zählen hierzu u. a. Ausrufe, wie sie sich auch in Gerhardts Liedern finden. 55 Vossius, Rh. c. 11,3 (107-110).
D i e Behandlung der einzelnen A f f e k t e
183
ähnlichen oder sogar in schlimmeren Fällen schon Hilfe gekommen ist. Paul Gerhardt vollzieht eine vergleichbare affektbestimmte Argumentation, wenn er zur Beobachtung der Natur aufruft, um Zuversicht zu erwecken: Gott hat dem Angefochtenen bereits durch die Schöpfung und Erhaltung seiner eigenen Person gezeigt, daß er vertrauenswürdig ist56. Es werden also Sachverhalte genannt, die jeder Mensch sich bewußt machen kann. Tut er das, dann hat dies auch eine Auswirkung auf sein Gemüt: er faßt Vertrauen und wird getrost. Darüber hinaus erinnert Gerhardt, den Psalmen, die er nachdichtet, folgend, daran, daß das Volk der Gläubigen in seiner Geschichte schon oftmals in Gefahr geriet und von Gott errettet wurde. Der Einzelne wird also zu der Betrachtung der Geschichtserfahrungen seines Volkes angehalten. So heißt es nach Ps 85: „Herr, der du vormals hast dein Land / Mit Gnaden angeblicket, / Und des gefangnen Jakobs Band / Gelöst und ihn erquicket," 57 . Es ist Gott, der hier angesprochen und auf diese Weise erinnert wird. Zugleich werden aber auch diejenigen Christen, die dies hören, daran erinnert, daß Gott sich der Kirche schon früher einmal erbarmt hat 58 . Aus den Geschichtsexempeln wird dann darauf geschlossen, daß auch jetzt dergleichen geschehen kann, neue Zuversicht gewonnen und Gott gebeten: Willst du, о Vater, uns denn nicht N u n einmal w i e d e r laben? U n d sollen wir an deinem Licht N i c h t w i e d e r Freude haben? A c h g e u ß aus deines H i m m e l s H a u s , H e r r , deine G ü t und Segen aus Auf uns und unsre H ä u s e r ! 5 9
Des weiteren empfiehlt Vossius, von den Hilfsmitteln zu sprechen, die einem zu Gebote stehen, und von der göttlichen Gunst, die sich vor allem in bestimmten Vorzeichen bekundet, wobei er allerdings an die heidnischen Götter seiner antiken Beispiele denkt. Gerhardt folgt diesen Anweisungen, indem er von der Allmacht und der Liebe bzw. Güte und Barmherzigkeit Gottes spricht. Gott erweist diese seine Eigenschaften in seiner Providenz, 56 Etwa der Abschluß einer Reihe solcher Beispiele mit den Worten „Gott ist deiner Liebe voll", CS 72, 11,1. S.o. S. 118. 57 CS 71, 1,1-4, vgl. Str. 1 f. als Ganzes. 56 In den Loci theoretici taucht dieses Motiv in ähnlicher Form im Zusammenhang der Frage auf, wie der Christ sich seiner Erwählung vergewissern kann: Er soll in seiner Lebensgeschichte entdecken, was darin schon Durchführung von Gottes Erwählungsdekret ist, s. Hutter, Loci, XXII,7 (811-815), vgl. oben S. 57 f. 59 CS 71, 4,1-4. Ahnlich in CS 85,2 und 128,4-6, wobei dort die Geschichtserfahrung, daß das Leid zur condicio humana bzw. christiana gehört, mit der Erinnerung der Errettung verbunden wird, zu welcher der Sänger die Gemeinschaft aufruft, die dies erlebt hat. Vgl. auch CS 86, 6,1-4; 92,6 nach Ps 13,6a; CS 107 nach Ps 116; CS 111 nach Dtn 32; CS 113 nach Sir 51,1-17.
184
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
welcher der Mensch sich anvertrauen soll. Gerhardt drückt sie in Attributen aus, die besonders dazu geeignet sind, den Affekt der Zuversicht zu erwecken. Gottes Allmacht drückt er aus, indem er Gott einen Helden nennt: „Du bist ja ungebundner Kraft / Ein Held, der alles stürzet, / Du hast ein H a n d , die alles schafft, / Die ist noch unverkürzet." 6 0 Gottes Liebe wird zur Sprache gebracht, wenn Paul Gerhardt Gott bevorzugt „Vater" nennt 61 oder die Beziehung zwischen Jesus und dem Gläubigen nach dem Gleichnis der Liebe zwischen Mann und Frau darstellt 62 . So ist die Seinsgemeinschaft Gottes mit dem Menschen als Liebesgemeinschaft Grund für dessen Zuversicht. In der Tat steht bei Gerhardt die Liebe Gottes zu den Seinen im Zentrum seiner affektbezogenen Darlegungen. Fast alle seiner Lieder laufen darauf hinaus, das Vertrauen des Christen zu erwecken durch den Hinweis, daß Gott ihn liebt. Die Betrachtung der Natur und der Geschichte des Gottesvolkes sollen nichts anderes sein als Beweise der Liebe Gottes. Die promissio, die Voraussetzung für das Bittgebet des Gläubigen und damit für seinen Trost ist, stellt selbst nichts anderes als einen Ausdruck dieser Liebe Gottes dar. So spricht Gott Ephraim an: Ich denk noch wohl an meinen Eid, Den ich geschworen habe, Da ich aus lauter Gütigkeit, Mich ihm zu eigen gäbe; Ich sprach: du hast mein Herz erfüllt Mit deiner Lieb, ich bin dein Schild Und wills auch ewig bleiben. 63
Dieser Eid umfaßt den Vorsatz Gottes, sich des reuigen Sünders zu erbarmen. Daß Gott seinen Sohn für den Sünder in den Tod gegeben hat, ist für diesen ein Beweis, daß Gott ihn liebt, woraus wiederum Zuversicht erwächst: 60 CS 79, 15,1-4, vgl. 32, 7,1; 75, 3,3; 84, 3,6; 87, 2,3; 89, 13,1. In wiederholten Wendungen hat Paul Gerhardt von dem starken Gott gesprochen, welcher dem schwachen Menschen hilft: CS 36, 8,4; 65, 14,1-4; 60, 16,2; 78,12; 108,5, s. ZELLER, Paul Gerhardt, in: Theologie und Frömmigkeit, Bd. 1, 158. Vgl. zu dieser und der folgenden Anmerkung
WINDFUHR, 61
372-375.
Fast passim. In dem Vaternamen ist auch die Allmacht eingeschlossen, s. auch ARNDAL, Famiiiarisierung des Glaubens. Gerhardt knüpft in dieser häufigen Verwendung des Vaternamens an Luther an und verstärkt dabei seinen emotionalen Charakter. Was ARNDAL als Unterschied zwischen Gerhardt und Luther ansieht, daß bei Gerhardt unter dem Namen Gottes als Vater nicht nur seine Allmacht und Liebe, sondern auch sein Zorn Inbegriffen ist, hat seinen Grund darin, daß Paul Gerhardt besonders von dem Zorn schreibt, den die bereits Gerechtfertigten, also die Kinder Gottes, zu leiden haben, nicht so sehr von dem Zorn, der den Noch-nicht-Gläubigen trifft. 62 Hülsemann nennt die Vaterschaft Gottes und die Brautliebe Christi als affektive Argumente, um Liebe zu Gott zu erregen, Meth. conc., 184 f. Vgl. unten S. 252 ff. 63 CS 67,4. Das Zitat dieses Eides geht bis einschließlich Str. 6. Zur promissio bei Gerhardt s.o. S. 134, bei Anm. 132.
Die Behandlung der einzelnen Affekte
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Stürme, Teufel und du Tod, Was könnt ihr mir schaden? Deckt mich doch in meiner Not Gott mit seiner Gnaden. Der Gott, der mir seinen Sohn Selbst verehrt aus Liebe, Daß der ewge Spott und Hohn Mich nicht dort betrübe. (CS 81,6).
Schließlich kann Gerhardt unmittelbar in einer Selbstaussprache Gottes dessen Liebe zur Darstellung bringen, damit das Gemüt des Hörers Vertrauen schöpfen kann 6 4 . Er tut dies bezeichnenderweise dort, wo es um Gottes Liebe als mitleidende Liebe geht. Es ist das Leid des Menschen, und zwar gerade des - reuigen - Sünders, das Gottes Liebe aufs höchste entflammen Iäßt. In der Beratschlagung, ob er seiner strafenden Gerechtigkeit folgen soll oder seiner Barmherzigkeit, gibt Gott dem zweiten Maßstab nach, welcher der seines Herzens ist (CS 68, 3,5-8): „Mein Herze will durchaus nicht dran, / D a ß es dir tu, wie du getan, / Es brennt für Gnad und Liebe: / Mich jammert dein von Herzen sehr." An anderer Stelle spricht Gott so (CS 67,7): Nun kehrt zu mir mein Ephraim, Sucht Gnad in meinen Armen, Drum bricht mein Herze gegen ihm Und muß sich sein erbarmen. Der Unmut fällt mir mit Gewalt, Mein Eingeweide hitzt und wallt In treuer Lieb und Gnade.
Auf diese Weise soll der Sünder die Zuversicht und das Vertrauen gewinnen, die nötig sind, damit er sich wie Ephraim aufmacht, um Buße zu tun und Trost zu finden (CS 67,8): Kommt, alle Sünder, kommt zu mir, Bereuet eure Sünden Und suchet Gnad an meiner Tür, Ihr sollt sie reichlich finden! Wer sich mit Ephraim bekehrt, Wird auch mit Ephraim erhört Und hier und dort getröstet.
Gottes Empfänglichkeit für menschliches Leid, seine Anteilnahme, ist demnach auch wesentlich anders aufzufassen als die Empathie, von der Vossius sagt, daß der Tröster sie zu Beginn einer Trostrede dem zu 64
Meth. conc., 180, empfiehlt Hülsemann, die Liebe Gottes zu uns zur Sprache zu bringen, um Gegenliebe im Menschen zu erzeugen. Die so gezeigte Liebenswürdigkeit Gottes ist zugleich auch eine Voraussetzung dafür, daß der Mensch seine Zuversicht in ihn setzt.
186
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
Tröstenden entgegenbringen solle65. Vossius empfiehlt, der Tröster solle den Geist des Leidenden so in sich hineinziehen, daß er dadurch anfangs mehr den Anschein erwecke, ihm in seinem Schmerz folgen als ihm Linderung bringen zu wollen. Doch dient dies nur dazu, daß der Leidende ein Beispiel vor sich hat, wie man vom Leid zum Gleichmut gelangen kann. Bei Gerhardt hingegen führt das Mitleiden Gottes zu einer Tat Gottes, welche den Leidenden von dem Übel befreit. Der Gleichmut ist für den Leidenden in keiner Weise ein Ziel. Vielmehr führt sein Weg von Affekt zu Affekt: vom Schmerz zur Zuversicht und Freude. Dabei gewinnt sein Schmerz geradezu eine konstruktive Aufgabe. Denn indem der Schmerz, in Worte gefaßt, klagend Gott entgegengebracht wird, wird dessen Mitleid erregt. So sagt Gott von sich „Ich höre seines [Ephraims] Seufzens Stimm / Und hochbetrübtes Klagen" 66 , was Gott zu dem entsprechenden Sinneswandel veranlaßt. Aus diesem Grunde gibt auch Gerhardt, den Psalmen folgend, dem Schmerz eine breite und anschauliche Darstellung, wie etwa in dieser Strophe: Wie lang, о Herr, wie lange soll Dein Herze mein vergessen? Wie lange soll ich Jammers voll Mein Brot mit Tränen essen? Wie lange willst du nicht Mir dein Angesicht Zu schauen reichen dar? Willst du denn ganz und gar Dich nun von mir verbergen?67
Gerade dadurch, daß der Leidende seinen Schmerz über Gottes scheinbare Abwesenheit in einer Rede an Gott zum Ausdruck bringt, fordert er die Erfahrung von Gottes Anwesenheit ein, erlangt Zuversicht und gelangt dazu, seinen Schmerz zu überwinden.
5. Das Übergewicht
des Affektes gegenüber
dem
Verstand
An einigen Stellen dieser Studie ist schon angedeutet worden, daß das Getriebenwerden durch die Affekte beim Menschen, aber auch bei Gott, eine stärkere Geltung hat als der Überzeugungswert von Vernunftargumenten. Dieses Motiv soll jetzt näher betrachtet werden. Als Modell dazu dient das Lied ,Ach treuer Gott, barmherzigs Herz', CS 78, nach dem Gebet 65
Vossius, Rh.c. 11,24, § U f f . (200f.). CS 67, 2,1 f., ähnlich CS 79, 2,5-7 u. öfter in diesem Lied; 84, 1,1-4; 94,5; 95, 6,5-8; 101,15 (nach I Petr 5,7); 103, 3,1-4 (nach Ps 30,3). 67 CS 86,1, vgl. die Weiterführung bis Str. 3, nach Ps 13,2-4a, nach demselben Vorbild CS 92, 1,1-4,4, sowie CS 88,1 f.4-6,8 nach Ps 42, CS 79, 10,1-12,7; 52, 9,2-5 u.a. 66
Das Übergewicht des Affektes gegenüber dem Verstand
187
Johann Arndts um Geduld im Kreuz. In den ersten fünf Strophen legt der Beter Gott - und dabei zugleich sich selbst - die Deutungen des Leids als Züchtigung und als Christusverähnlichung vor. Diese Lehren werden als wahr angenommen, doch kann die Vernunft ihnen aus ihrem eigenen Vermögen nicht zustimmen. Es liegt in der Eigenart des Menschen, von seinem Wohlergehen auf einen ihm wohlwollenden Gott zu schließen und umgekehrt von seinem Leid auf einen Gott, der ihm zürnt oder ihn gar nicht mehr beachtet. Darum ist die Vernunft auch nicht imstande, dem Gemüt Zuversicht zu vermitteln (Str. 6,1-4): Ach, liebster Vater, wie so schwer Ists der Vernunft, zu glauben, D a ß du demselben, den du sehr Schlägst, solltest günstig bleiben! Wie macht doch Kreuz so lange Zeit! Wie schwerlich will sich Lieb und Leid Zusammen lassen reimen!
Der Mensch bittet deshalb Gott, daß er ihm die Kraft gibt, die nötig ist, um zu glauben, daß sich Gott genau entgegengesetzt verhält, als es erscheint (Str. 7-9). Bis zur neunten Strophe ist das Gebet an Gott Vater gerichtet. Nun wendet es sich an den Sohn (Str. 10,1-11,4): Ach Jesu, der du worden bist Mein Heil mit deinem Blute Du weißt gar wohl, was Kreuze ist Und wie dem sei zu Mute, Den Kreuz und großes Unglück plagt; Drum wirst du, was mein Herze klagt, Gar gern zu Herzen fassen. Ich weiß, du wirst in deinem Sinn Mit mir Mitleiden haben Und mich, wie ichs jetzt dürftig bin, Mit Gnad und Hilfe laben.
Danach wird die Bitte um Glaubensstärke, die zuvor schon dem Vater vorgetragen worden war, in abgewandelter Form wiederholt (Str. 11,513,7). Diese Bitte hat aber nun an Motivationskraft dadurch gewonnen, daß Jesus angesprochen worden ist. Denn der Sohn Gottes hat sich, weil er Mensch geworden ist und gelitten hat, als des Mitleids fähig erwiesen 68 . Paul Gerhardt schöpft hier aus Hebr 2,14-18; 4,15; 5,2.7-9. An der Stelle also, wo die Vernunft an dem Paradoxon scheitert, daß Gott die leiden läßt, die er liebt, tritt der Affekt auf, und zwar der Affekt Gottes. Gott ist von seinem Affekt - nämlich dem der mitleidenden Liebe 68
Desgleichen CS 4,11-13.
188
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
- so sehr abhängig, daß der Mensch mit seinem Bittgebet auf ihn einwirken kann. Gott verhält sich in dem Gesprächswechsel zwischen ihm und dem Menschen nicht anders als ein Mensch: er kann umgestimmt werden 69 . Mit der Gewißheit der Zuversicht kann der reuige Sünder sich so an Gott wenden: „Ach Herr, schone, will ich sprechen, / Laß mein Wort dein Herze brechen!" (CS 50, 7,7 f.). Diese Zuversicht hat ihren Grund nicht in einer besonderen Kraft oder Würdigkeit des Menschen, sondern in der Verheißung, daß Gott von dem Affekt der Liebe getrieben wird, wenn der Mensch nur umkehrt 7 0 . Die Darstellung Gottes als eines affekterfüllten Wesens, dessen Eingeweide von Liebe entflammt sind, hat aufgrund dieser Verheißung ihr Recht und ihre Notwendigkeit 7 1 . Wohl wird auch von dem Brennen seines Zorns gesprochen 72 , aber stärker noch als der Zorn ist seine Liebe - wenn nur die Bedingung der Umkehr des Menschen erfüllt wird. Gott unterscheidet sich nicht darin vom Menschen, daß er weniger oder gar nicht von Affekten abhängig ist, sondern darin, daß seine Liebe stärker ist als sein Zorn 7 3 : Gott zürnet nicht, Wie wohl geschieht Bei uns hier auf der Erden, Da mancher Mann Nie wieder kann Zur Sühn erweichet werden. Nein, traun! Das ist nicht Gottes Sinn, Sein Zorn, der hat ein Ende, Wann wir uns bessern, fällt er hin
Dieses Beherrscht-Sein vom Affekt der Liebe kann Gerhardt auch in dem Bild der Weichheit ausdrücken. Es ist geradezu Gottes Wesen, weich zu sein und nicht hartherzig. Eben deshalb läßt er sich umstimmen und erweichen, und Paul Gerhardt kann in seinem Bittgesang um den lieben Frieden die Frage stellen, die weniger als Aufschrei der Entrüstung oder Verzweiflung aufgefaßt werden darf, sondern bei aller Not als rhetorische " SUSANNE TÜRCK hat in ihrem einfallsreichen Aufsatz ,Paul Gerhardt, entwicklungsgeschichtlich' verkannt, d a ß die Menschlichkeit Gottes bei Paul Gerhardt nicht eine Stufe einer Entwicklung zu einer Vermenschlichung und Entgöttlichung Gottes ist, sondern ihren Grund in der Menschwerdung Gottes bzw. in seiner Fähigkeit und Absicht hat, Mensch zu werden. 70 Dies als Bedingung in CS 67,6 f.; 69,1 f.; 71, 7,1 f.; 77,4 f. Wohl geht die Liebe Gottes der Umkehr schon voraus - „Da ich noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren" (CS 6, 3,1 f.) usw. - doch ist es nötig, daß der Mensch umkehrt, damit er die Wohltat von Gottes Liebe empfangen kann. 71 Vgl. CS 5, 8,5; 13, 8,6; 25, 2,5; 31, 3,1; 51,3.5.7; 67,7; 68, 3,5-8; 75, 15,6-16,1. 72 CS 13,12; 111,17. 73 CS 77, 4,5-5,3, nach Micha 7,18, wobei auch H o s 11,8 f., paraphrasiert in CS 68,4f., mit hineinspielt.
Das Übergewicht des Affektes gegenüber dem Verstand
189
Frage: „Du bist ja G o t t und nicht ein Stein, / Wie kannst du denn so harte sein?" 74 Diese Bildlichkeit steht der anderen gegenüber, die G e r h a r d t aus den Psalmen übernimmt, wonach G o t t als Fels angeredet und damit seine Festigkeit und Unverrückbarkeit hervorgehoben wird 7 5 . Mit dieser Metapher wird Gottes Allmacht ausgedrückt als Voraussetzung seiner Verheißung, die garantiert, d a ß nichts verhindern kann, d a ß er sie erfüllt. Mit der Weichheit Gottes wird jedoch die andere Voraussetzung seiner Verheißung bildhaft gemacht, d a ß G o t t den Menschen liebt, d a ß er überhaupt gewillt ist, etwas zugunsten des Menschen zu tun. Diese Ubermacht von Gottes Liebe über sein Wollen stimmt überein mit den zahlreichen Wendungen in Gerhardts Liedern, wonach G o t t den Menschen lieben „muß" und anders „nicht kann": „Das kann mir fehlen nimmermehr, / Mein Vater muß mich lieben!" oder „Er kanns nicht böse machen." 7 6 Gelegentlich wird damit die logische Notwendigkeit ausgesagt, mit der aus der Sendung und Dahingabe von Gottes Sohn geschlossen wird, d a ß G o t t uns liebe 77 . An anderer Stelle wird hingegen deutlich, d a ß gemeint ist, d a ß „Lieben" als Wollen und Tun Gottes mit Notwendigkeit aus dem affektiven Teil von Gottes Wesen, seinen „Eingeweiden", ursächlich folgt. Ich „muß mich sein erbarmen" spricht Gott, denn „mein Eingeweide hitzt und wallt / In treuer Lieb und Gnade." (CS 67, 7,4.6 f.). D e r Glaube an diese mit Notwendigkeit zwingende Macht von Gottes Liebe als eines Affekts führt G e r h a r d t dazu, einen Topos der Liebesdichtung aufzugreifen, nämlich den von der Liebe als alles bezwingender Macht: Amor vincit omnia - sie besiegt sogar Gott 7 8 . Er verbindet dies mit einem anderen T o p o s der Liebesdichtung, nämlich der Auffassung der Liebe als Krankheit, als etwas, das Schmerzen, ja den T o d bringt 7 9 . Diese
74 CS 97, 16,4 f., das Erweichen auch CS 4, 11,4-6; 86, 3,9; 93, 12,1-3; 101, 10,1 f. Ähnlich heißt es bei Paul Gerhardts Berliner Dichterkollegen Joachim Pauli, FT III, 553,11,3-6: „Ich hab einn Schatz gefunden / In Jesu Christi Wunden / Damit kan ichs vergleichen / Und dir das Herz erweichen". Schärfer anklagend, aber mit derselben Intention und derselben Zuversicht sagt Heermann: „Offtmals hab ich bey mir gedacht. / ein harter Stein wird hol gemacht / Durch Regentröpfflin, die so klein; / Dein Hertz wil fast noch härter seyn. / / Mein ThrenenWasser sich ergeust / Und über meine Wangen fleust, / Feit auff dein Hertz gar mildiglich; / Dennoch lests nicht erweichen sich. / / . . . Darumb, О Gott, laß ferne seyn, / Daß du wolst härter seyn als Sein.", FT I, 345, 3. 4. 8,3 f. Vgl.
BECKER, 6 6 . 75
CS 88, 7,5 (Ps 42,10); 109, 2,5 (Ps 71,3); 111, 2,7 (Dtn 32,4). CS 73, 2,1 f. und 85, 1,7, desgleichen CS 1, 5,1-3; 1, 7,5; 59, 13,1; 67, 7,4; 68, 3,9-4,2; 83, 5,7 f.; 85, 8,1-4; 86, 5,4; 97, 16,5. 77 CS 4, 7,6; 5,5. 78 Zu diesem Topos s. PYRITZ, Paul Flemings Liebeslyrik, 247-250, verbunden mit einer spekulativen Weltdeutung, - die Liebe die zentrale Macht des Alls, 241-244. 79 PYRITZ, 124-127; vgl. auch LUCIA HASELBÖCK, Studien zur Passionslyrik des Barockzeitalters, 403-406. Auf Gerhardts Aufnahme von Topoi der geschlechtlichen Liebesdichtung wird unten, S. 252 ff., bei der Besprechung der Passionssalven eingegangen. 76
190
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
Zusammenhänge hat Paul Gerhardt in seinem Passionslied ,Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld' ausgedrückt 80 . Nachdem er in Str. 2 f. den Dialog zwischen Gott Vater und Sohn dargestellt hat, in welchem der Vater den Sohn heißt, den Zorn zu tragen, den die verlorene Menschheit sich verdient hat, und der Sohn willig diese Sendung annimmt, bricht der Sänger in Staunen aus: О Wunderlieb, о Liebesmacht, Du kannst, was nie kein Mensch gedacht, Gott seinem Sohn abzwingen. О Liebe, Liebe, du bist stark, Du streckest den ins Grab und Sarg, Vor dem die Felsen springen. Du marterst ihn am Kreuzesstamm Mit Nägeln und mit Spießen; Du schlachtest ihn als wie ein Lamm, Machst Herz und Adern fließen: Das Herze mit der Seufzer Kraft, Die Adern mit dem edlen Saft Des purpurroten Blutes.
Es ist dabei m. E. müßig darüber zu streiten, ob es Str. 3,7 heißen soll „Gott seinem Sohn abzwingen" oder „Gott seinen Sohn abzwingen" 81 . Sowohl der Vater als auch der Sohn werden von der Liebe zu den Sündern getrieben und genötigt, voneinander zu lassen. Die Emphase dieser Verse liegt darauf, daß Gottes Liebe dazu führt, daß der allmächtige Gott leidet. Diese Liebe ist, streng genommen, nichts von Gott Verschiedenes, sondern eigentlich Gott selbst. Sie ist sein Geist, der „ein Geist der Liebe" ist (CS 29,7). Der Heilige Geist als vinculum amoris bindet Vater und Sohn gerade so aneinander, daß sie beide im willentlichen Einverständnis miteinander sich voneinander trennen. Gottes Innerstes, Gottes Identität, besteht gerade darin, nicht in sich selbst zu bleiben, auch nicht in der ungebrochenen Verbundenheit von Vater und Sohn, sondern über sich selbst hinauszugehen und sich selbst zu verleugnen, um sich des leidenden Menschen zu erbarmen. Für den in Schuld, Leid und Angst sich quälenden Menschen ist dies der innerste Grund seines Trostes. Sein nach menschlichem Muster schließender Verstand kann sich diesen Trost nicht erschließen: daß Gott die liebt, die leiden - und dazu noch aus eigener Schuld, und daß Gott selbst sich aus dieser Liebe ins Leiden begibt, um die Menschen aus ihrem Leid zu erretten. Dies ist das, wie Gerhardt mit 80
CS 12, 3,5-4,7, ähnlich in dem Salve an das Herz Jesu, CS 23, 1,7-13. AUGUST EßELING, Gerhardtiana, 309 f., fordert die Schreibweise „seinem", welche in der P.p.m. 1647 und dem Rungeschen Gesangbuch von 1653 überliefert ist. In der P.p.m. ab 1653 und in der Ausgabe J. G. Ebelings steht hingegen „seinen". 81
Das Übergewicht des Affektes gegenüber dem Verstand
191
einer verdoppelten, verstärkten Verneinung sagt, „was nie kein Mensch gedacht" 8 2 . Es ist damit deutlich geworden, daß Paul Gerhardt mit dem Mitleidsbegriff bricht, den Vossius nach Aristoteles und Cicero vertritt 83 . Vossius nennt die misericordia eine animi aegritudo, eine Krankheit des Gemüts 8 4 . Voraussetzung für das Empfinden solchen Mitleids ist eine Ähnlichkeit zwischen Leidendem und Mitleidendem, aufgrund deren der Mitleidende sich vorstellen kann, daß ihn ein ähnliches Übel treffen könnte. Besonders angestachelt wird dieses Mitleid, wenn der Leidende unverdient leidet. Es liegt auf der H a n d , daß bei G o t t diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. D e n n der Mensch leidet in den meisten Fällen, in welchen Gerhardt von Gottes Mitleid spricht, höchst verdientermaßen 8 5 . U n d Gott selber kann als solcher gar nicht als für Leiden empfindlich vorgestellt werden, ja überhaupt als für Affekte und Krankheiten des Gemüts empfänglich solange er als unbewegter Beweger vorgestellt wird. In gewisser Weise kommt dieser aristotelische Mitleidsbegriff zu seinem Recht, da ja G o t t hat Mensch werden müssen, um leiden zu können. D o c h ist die Menschwerdung Gottes und sein Leiden andererseits motiviert durch die mitleidende Liebe, die der Vater und der Sohn im Heiligen Geist zu den Men-
82 TRAUGOTT KOCH regte diese und die ähnliche Stelle CS 13, 8,6 zu der Überlegung an, die Überwindung der lutherischen Passionslehre durch den „Gedanken der in sich konsequenten Liebe" sei hier angebahnt (21, im Kontext 20-23). D o c h darf nicht übersehen werden, d a ß auf der Ebene d e r rationalen Reflexion, des docere, die f o r d e r n d e Gerechtigkeit Gottes eine unabänderliche Voraussetzung von Jesu Passion bleibt, während diese Aussagen von der zwingenden M a c h t von Gottes Liebe sich auf einer anderen Ebene befinden, der des affectum movere, auf welcher der Dichter sich der Sprache der Liebesdichtung bedient und nicht der lehrhaften Theologie. Beide Ebenen sind voneinander zu unterscheiden, können aber auch nicht in der Sache voneinander getrennt werden. 83 Vossius, Rh. c. 11,13 (132-136), vgl. Aristoteles, Rhetorik 11,8, zum Begriff des eleos. H i e r wie auch in den vorangegangenen Punkten zeigt sich, d a ß G e r h a r d t zwar durchaus in dem Rahmen des Themenkatalogs bleibt, den eine p r o f a n e Schulrhetorik wie die des Vossius vorgibt, aber durchweg eine höhere Schätzung der Affekte hat als der ζ. T. neostoisch denkende Vossius. G e r h a r d t Position befindet sich hier in Übereinstimmung mit dem von ihm verehrten Arndt, mit den erbaulichen Schriften des Arndt-Schülers J o h a n n G e r h a r d und mit Hülsemanns Homiletik. ω Vossius, Rh. c. 11,13, §1 (132), bei Cicero, Tusculanae disputationes IV, 8,18, bei Aristoteles lype, Schmerz. D e r Zweck der T r a g ö d i e ist, von diesem Affekt zu reinigen, gerade indem dargestellt wird, was Mitleid erregt, s. Aristoteles, Poetik, VI, 1449b; X I V , 1453b. 85 Eine größere Ähnlichkeit hat das Empfinden Gottes an diesem P u n k t mit dem Affekt des Sanftmuts (praotes, lenitas) nach Aristoteles, Rhetorik 11,3, und Vossius, Rh. c. 11,8 (122125), denn deren Voraussetzungen sind Reue und D e m u t bei dem, dem gegenüber Sanftmut entstehen soll, und der U m s t a n d , d a ß er schon Strafe erlitten hat. D o c h wird diese Sanftmut wesentlich als Abklingen des Zorns verstanden, und nicht als eine Art von Liebe, die durch das Mitleiden mit fremdem Leid hervorgerufen wird. Hülsemanns Rhetorik der geistlichen Rede befindet sich hingegen in Übereinstimmung mit G e r h a r d t s biblischer Auffassung. Das Sündenbekenntnis und die H e r v o r h e b u n g des Elends sind hier Voraussetzungen von Gottes Mitleid (compassio), Meth. conc., 195-197.
192
Die Dichtung Paul Gerhardts als Rede betrachtet
sehen haben, und der Sohn offenbart in seinem Leiden, daß Gott ein Herz voll väterlicher, mitleidsvoller Liebe hat. Gelegentlich drückt dies Paul Gerhardt in dem Ps 56,9 entnommenen Motiv aus, daß der über alles erhabene Gott sich so weit herabbeugt, daß er die Tränen der Seinen zählt 86 : Du zählst, wie oft ein Christe wein Und was sein Kummer sei, Kein Zähr- und Tränlein ist so klein, Du hebst und legst es bei.
6.
Resümee
Die Betrachtungen über die Rolle der Rhetorik, insbesondere des Affekts, in den Liedern Paul Gerhardts können wie folgt zusammengefaßt werden: Das Problem, wie Gott und das Leid sich zueinander verhalten, das theoretisch gestellt und als Teil theologischer Lehre behandelt werden kann, wird in diesen Liedern in die Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen hineingestellt. Diese Beziehung vollzieht sich im Gespräch: in Reden, die wechselseitig der Gläubige und Gott aneinander richten. In diesen Reden ist das eingeschlossen, was lehrmäßig, unter Anwendung der Vernunft, zu dieser Problematik gesagt werden kann. Es wird aber noch darüber hinausgegangen, und dadurch werden wesentliche neue Dimensionen gewonnen. Denn im Redegeschehen zwischen zwei Personen wirkt nicht nur ihre vernünftige Einsichtsfähigkeit mit. Nicht nur der Bereich der natürlichen Vernunft, sondern auch der Bereich, der für die Vernunft durch die gläubig angenommene Offenbarung erschlossen worden ist, wird überschritten. Der Mensch, aber auch Gott, kommen nämlich jetzt als Wesen zur Sprache, sprechen sich als solche Wesen aus und einander an, die Affekte haben. Wie sie einander ansprechen, beeinflussen sie die Affekte des anderen. In der Tat werden alle Vorgänge der auf den Verstand abzielenden Argumentation begleitet von entsprechenden Vorgängen im Gefühlsleben. So wird, indem die Nützlichkeit des Leidens bewiesen wird, im Gemüt des Leidenden H o f f n u n g und dadurch Trost bewirkt. Das Ziel des Menschenlebens ist die Erkenntnis Gottes und zugleich die Freude darüber. Das Leid ist der Schmerz, welcher der Feind der Freude ist und durch die Vorfreude und die Zuversicht, dieses Ziel zu erlangen, überwunden werden muß und kann. Dabei gewinnt das Gefühl an entscheidenden Stellen ein stärkeres Gewicht als der logisch arbeitende Verstand. Der Verstand kann sich nämlich nicht logisch erschließen, sondern nur als geoffenbartes Paradoxon gläubig 86
CS 101,11, vgl. 94, 3,5; 105, 12; 112, 17,4.
Resümee
193
annehmen, daß die vom Übel der Sünde und des Leidens belasteten Menschen von G o t t geliebt werden. Genauso scheitert er daran, zu verstehen, daß der allmächtige heilige G o t t dieses Übel auf sich nimmt, um die Menschheit davon zu befreien. Worum es Paul Gerhardt geht, ist, daß der Mensch in seinem Leid - wie auch, was noch mehr gilt, im Bewußtsein seiner Schuld - getrost und voller Zuversicht werden soll. D a z u kann er letztlich nicht durch eine vernünftige Überzeugung, auch nicht durch eine theoretische Lösung des Problems des Übels gelangen. D a s einzige, was ihm hilft, ist ein blindes Vertrauen auf Gott. Blind insofern, weil das, worin Gottes Vertrauenswürdigkeit bestehen soll, seine Liebe zu dem Menschen, nicht dem Verstand einsichtig ist. Sie müßte durch Rückschluß aus dem gefolgert werden, was dem Menschen als Erscheinung zugänglich ist. Aus dem Schuldig-Sein oder aus dem Leid des Menschen kann aber nicht darauf geschlossen werden, daß G o t t ihn liebe. Es bleibt also allein übrig, daß das Gemüt, der affektive Bereich des Menschen, so berührt wird, daß die H o f f n u n g auf G o t t in ihm die Ü b e r m a c h t b e k o m m t über seinen Schmerz und seine Furcht. Es ist möglich, das Gemüt des Menschen derart zu bewegen, weil G o t t selber mehr von seinem Affekt bestimmt wird als von dem, wonach, menschlicher Vernunft zufolge, ein Gott bestimmt sein sollte. G o t t läßt - in gewisser Weise - seine Allmacht, seine Unversehrtheit vom moralischen und physischen Übel fahren, was für den Verstand nicht mehr nachvollziehbar ist. Gott tut dies aber, weil sein übermächtiger Affekt der Liebe ihn dazu drängt. D e r „unvernünftige" Affekt von Gottes Liebe erregt den „unvernünftigen" Affekt der Zuversicht des leidenden Menschen. D a s , womit jener Affekt diesen berührt, ist die Verheißung, die Rede, in welcher Gott sich, seine Liebe, dem Menschen eröffnet und ihm Trost zuspricht. Paul Gerhardts Dichtungen sind nichts anderes als Gestalten von Wechselreden zwischen Gott und dem Menschen, die diese Verheißung enthalten. Mit dieser Überlegung sind wir aber schon an der Schwelle des nächsten Kapitels angelangt, in welchem die Lieder Paul Gerhardts nicht nur als Lehre, auch nicht bloß darüber hinaus noch als Rede, sondern als Poesie betrachtet werden sollen. D e n n die angemessene und ihrem Zweck im vollen Maße dienliche Gestalt der göttlichen Verheißung - wie auch der menschlichen Antwort darauf - ist Poesie. Sie ist Poesie, weil sie mit der wahren Lehre und der Kraft, das Gemüt zu bewegen, auch die Schönheit vereint.
TEIL
F
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie 1. Die Merkmale der Poesie Bislang wurden die Lieder Paul Gerhardts als Lehre und als Rede betrachtet. Damit sind freilich nur Aspekte dieser Lieder betroffen gewesen, und auch das Problem von Gott und dem Leid konnte dementsprechend nur in diesen Aspekten erörtert werden. Paul Gerhardts Lieder enthalten theologische Lehre, aber sie sind nicht Lehre. Sie stellen Reden dar, aber sie sind nicht nur das. Sie sind Gedichte und - auch noch darüber hinaus: sie sind Lieder. Mit jeder Bestimmung tritt ein weiterer Aspekt hinzu, bis schließlich eine umfassende Umsicht dieses Gegenstandes, der Lieder Paul Gerhardts, gewonnen ist. Dementsprechend wird auch das Problem, das mit dem Verhältnis zwischen Gott und dem Leid gegeben ist, erst dann umfassend ergründet, wenn man dem Umstand Rechnung trägt, daß Gerhardt sich diesem Problem in der Form von Poesie widmet 1 . So soll es jetzt darum gehen, Paul Gerhardts Lieder als Dichtung, als Poesie, und zuletzt, auch wenn dies nur umrißhaft möglich ist, als mit Musik verbundene Gedichte, als zu singende Lieder zu betrachten. Zuallererst muß dazu aber geklärt werden, was nach dem damaligen Verständnis überhaupt Poesie war, und ob die Lieder Gerhardts diesem Begriff von Poesie entsprechen. In dem Überblick für Leben und Bildung Paul Gerhardts wurde erwähnt, daß zu der Zeit, als er in Wittenberg studierte, August Buchner dort Vorlesungen über deutsche Poetik hielt. Der Rang dieser Poetik Buchners kann in der Weise bestimmt werden, daß, wie sein Biograph Borcherdt sagte, von ihm „die philosophische Begründung der . . . Ästhetik der Opitzianischen Schule" stammte 2 , welche damals die Führung in der deut1 Die bisher umfassendste Untersuchung der Poetik in Paul Gerhardts Poesie findet sich bei PETRICH, 267-304. Sie ist jedoch so sehr an der Poetik der Goethezeit orientiert sowie an einer abschätzigen Beurteilung des 17. Jahrhunderts, daß sie trotz vieler wertvoller Einzelbeobachtungen nicht ihrem Thema gerecht wird. Ahnlich steht es mit der Dissertation von EUGEN AELLEN, Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts, welche mehr eine Aufstellung von Quellen und Stilmerkmalen als eine eindringende Analyse darstellt. Neuere poetologische Betrachtungen von Gerhardts Werk, welche diese Hindernisse nicht mehr kennen, sind u. a. bei BUNNERS, Paul Gerhardt, 241-252; KRUMMACHER, Paul Gerhardt, 277-288, und in der
Gedichtinterpretation von LOTHAR SCHMIDT z u finden. 2
BORCHERDT, 5 9 .
Die Merkmale der Poesie
195
sehen Dichtung übernahm. D a ß Gerhardt bei Buchner hörte, ist wahrscheinlich 3 . So können die Schriften, in denen postum Buchners Poetik veröffentlicht wurde, die ,Anleitung zur deutschen Poeterey' und der ,Poet' als Grundlage herangezogen werden für das, was in Gerhardts Umkreis als Poesie verstanden wurde 4 . Buchner definiert nun zu Beginn seiner ,Anleitung' folgendermaßen: „Das Werck / so der Poet durch Sinnreiche Erfindung in einer wol- und artiggebundener Rede zu Liecht bringt / wird von den Griechen so wol / als den Lateinern / zu weilen ein Poema / von uns aber ein Gedicht genennet. Denn obwol es auch bey andern Wercken / die auf der Rede und Feder bestehen / Dichtens und Denckens von nöthen hat; so wird doch solches bey diesem zum meisten erfordert. Massen die Rede / und zwar mit angenehmen / und denen Sachen / die da behandelt werden / zu stimmender Art / gebunden werden muß / dazu sich nicht jede Wort schicken. Die Rede ferner für sich selbst auf eine besondere und fremde Weise anzustellen: Zu dem die Sachen meistentheils erst ausgesonnen / und endlich nicht nach gemeiner Art eingerichtet und geordnet werden müssen. Und über dieses auch allezeit dahin zusehen / damit der Leser nicht allein einer Sachen berichtet / sondern auch unter solcher Erzehlung so wol bewogen / und in Verwunderung gesetzt / als auch erlustiget und ergetzet werden möge." 5 Was die Dichtung von anderen sprachlichen Erzeugnissen unterscheidet, ist also die Angemessenheit der Worte, die für eine gegebene Sache verwendet werden, das prepon bzw. aptum. Dieses Sprechen wie es „sich geziemt" macht die Zierde, das decorum der Sprache aus 6 . Die Zweckbestimmung einer auf solche Weise gestalteten Rede ist dreifach: erstens soll sie von etwas berichten oder lehren, zweitens das Gemüt bewegen, drittens soll sie erfreuen. Buchner übernimmt also die klassische Definition des Horaz: „Aut prodesse volunt aut delectare Poetae, / aut simul et jueunda et idonea dicere vitae." 7 , wobei er das Nützen als Lehren bestimmt und als dritte Zweckbestimmung die Bewegung des Gemüts hinzufügt 8 . 3
S. o. S. 17, bei Anm. 22; S. 26 f. Benützt wurde die Nachdruck-Ausgabe hg. v. Marian Szyrocki. Auszüge aus derselben befinden sich in dem Band ,Poetik des Barock', hg. v. Marian Szyrocki, 35-53. Zur Überlieferung von Buchners Poetik s. in jener Ausgabe 3*-7*, in diesem Band, 263 f.; HAHNE, 4
2 3 f.; BORCHERDT, 4 5 - 5 4 . 5
Buchner, Anleitung, 5 f. Buchner verbindet beides eng miteinander, Anleitung, 26, „ziert und sich geziemet", vgl. den ganzen Kontext, Anleitung, 19 ff., sowie BRAUNGART, 231; Art. Decorum, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 423-452; zu dem antiken Ursprung (Rhetorica ad Herennium) s. SCHINGS, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 8 f., Anm. 3 0 . 7 „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen.", Quintus Horatius Flaccus, Epistula ad Pisones de arte poetica, 333 f. 8 Buchner gibt diese drei Zweckbestimmungen uneinheitlich wieder. Anleitung, 15, sagt 6
196
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Der Nutzen der Dichtung besteht also in der Lehre. Dies hat sie allerdings mit der Philosophie gemeinsam, aber auch nur dies: „Der Philosophus / und die da sonst lehren / sind begnüget / wenn sie ihre Meinung / andern zum Unterricht / mit verständlichen klaren Worten vorgebracht." 9 Die beiden anderen Zwecke zu erfüllen geht der Dichter jedoch über die Sprachgestaltung des Philosophen hinaus. Die Rede des Dichters soll zwar verständlich sein, doch auch „schön, lieblich und scheinbar", will sagen von ansehnlichem Schein, sein 10 . Den Zweck des Gemütbewegens und des Erfreuens hat der Poet nun zwar auch mit dem rhetorisch geschulten Redner sowie dem Historiker gemeinsam, doch ergibt sich auch hier ein Unterschied: „Und ob zwar der Orator ebener massen auf Schmuck und Ansehen der Worte zu trachten hat / einem Historico auch sehr wol anstehet / wenn er sich einer hurtigen und lebhaften Art zu reden gebraucht / damit er dem Leser eine Lust mache / und zur Nachfolge rühmlicher Exempel / die er beschreibt aufwekken und reitzen möge: doch aber ist beyder Rede noch so beschaffen / daß sie / also zu sagen / vulgaris / und neben dem Volck allzeit hergehe / und so gar etwas sonderlichs nicht habe / da hingegen der Poet ausstreicht / sich in die H ö h e schwingt / die gemeine Art zu reden unter sich trit / und alles höher / kühner / verblümter und frölicher setzt / daß was er vorbringt neu / ungewohnt / mit einer sonderbahren Majestät vermischt / und mehr einem Göttlichen Ausspruch oder Orakel . . . als einer Menschen-Stimme gleich scheine." 11 Diese letzte These schränkt er allerdings sogleich wieder ein, indem er sagt, daß nicht in jeder Gattung von Dichtung dieser hohe Stil zu gebrauchen sei, für die Komödie beispielsweise nicht. Buchner spricht damit die in Poetik und Rhetorik überlieferte Dreistillehre an, nach der
er, ein Poet solle: „ . . . das Gemüth des Lesers bewegen / und in demselben eine Lust und Verwunderung ob den Sachen / davon er handelt / erwecken . . . " , und Anleitung, 27, bestimmt er: „Denn des Poeten Ampt ist / neben nützlichen Unterricht / die Gemüther zu förderst zu belustigen und zu ergetzen.", welches eine Paraphrase der klassischen Definition des H o r a z ist, die er, Poet, 32 f., nochmals paraphrasiert und anschließend zitiert. Buchner hatte die Poetik des H o r a z herausgegeben und ist ihr selber sehr stark gefolgt, s. BORCHERDT, 34; 59. Opitz übernimmt die Definition des H o r a z Poeterey, B4V Ges. Werke, I I / l , 351,8 f. ' Buchner, Anleitung, 14 f. 10 Buchner, Anleitung, 15. Siehe Art. Scheinbar, ld), Deutsches Wörterbuch, Bd.VIII (1893), 2434 11 Buchner, Anleitung, 15 f. Diese Unterscheidung der Sprachgestaltung, der elocutio des Philosophen, des Redners, des Historikers und des Dichters findet sich auch bei dem Rhetoriker Vossius. Er verweist dabei auf die Bemerkung des Cicero von der eigenen Sprache der Poeten, De oratore II, und er spricht selbst von dem höheren Alter der Poesie - nach Aristoteles, Rhetorik III - was einen Altersbeweis f ü r den Vorrang der Poesie impliziert: Rh. с. IV, 1, §2 f. (275). Es handelt sich also nicht um eine erst von Buchner erfundene Legitimation des Vorranges der Dichtkunst vor der Redekunst, gegen DYCK, Philosoph, Historiker, O r a t o r und Poet, insbes. 4; 6, vgl. ders., Ticht-Kunst, 37-39, und FISCHER, Gebundene Rede, 53.
Die Merkmale der Poesie
197
jeder Gattung eine bestimmte Stilhöhe zugeordnet ist. Es gibt einen hohen, einen mittleren und einen niederen Stil. Buchner verweist dabei auf die Ausführungen des f ü r das späte 16. und das 17. J a h r h u n d e r t maßgeblichen Poetikers, Julius Caesar Scaliger 12 . Dichtung und Rede haben also dieselben Zweckbestimmungen. Dabei ist aber zu beachten, d a ß das delectare f ü r den Redner nichts anderes ist, als beim H ö r e r einen bestimmten Affekt, nämlich den der Freude zu erregen, wie dies besonders in der Lobrede das Ziel ist. D e r Zweck des Ergötzens kann also dem Zweck der Bewegung der Affekte zugeordnet werden. Wird die Rede vor allem als ein Vorgang verstanden, beim H ö r e r eine bestimmte Überzeugung zu schaffen, dann ist auch die Bewegung der Affekte wiederum auf das Ziel der Belehrung hingeordnet. Was die Dichtung nun auszeichnet, ist die besondere Akzentuierung des delectare. O b gleich man es auch in der Dichtung als auf das movere und vermittelt über dieses auf das docere hingeordnet betrachten kann, wird es jedoch auch als eigener Zweck der Poesie aufgeführt. U n d die Poetiken räumen dem Erwecken des Gefallens besonders weiten Raum ein, und zwar dem Erwecken solchen Gefallens nicht so sehr durch eine Auswahl von Gegenständen, die gefallen 1 3 , sondern durch die sprachliche Gestaltung, die elocutio der Rede. Sie eben soll „schön, lieblich und scheinbar" sein. Es geht um „Zierligkeit" und Angemessenheit der Worte und der Rede 1 4 . Am größten ist diese Zierlichkeit auf der Ebene des hohen Stils. Dem Zweck der sprachlichen Gestaltung dienen die meisten Ausführungen in Buchners ,Anleitung' gleicherweise wie in Opitzens Poetik oder bei Scaliger. Das, was die Poesie also auszeichnet, ihr Proprium, ihre differentia specifica, ist die Akzentuierung ihrer sprachlichen Gestalt, durch welche sie Gefallen erwecken möchte 1 5 .
u Buchner, Anleitung, 17 f. Scaliger, Poetices libri Septem, Buch IV, und zwar IV,2, Nachdruck-Ausgabe hg. v. Buck, 183 b В zum hohen Stil (grandiloquus), IV,21, 193 b С zum mittleren Stil (aequabile dicendi), IV, 19, 193 a D zum niederen Stil {genus infimum). D a z u ILSE REINEKE, Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, 36. Opitz geht auf die Dreistillehre ein: Poeterey, F r - F 2 b , Ges. Werke I I / l , 3 8 2 - 3 8 5 . In der Rhetorik des Vossius wird Rh. с. IV,4 f. ( 4 0 8 - 4 1 6 ) dieses Thema behandelt, vgl. BRAUNGART, 231 f. 15 Also im Rahmen einer pathologia realis, s . o . S. 182 f. 14 Siehe den Titel von Cap. III der ,Anleitung' Buchners, 19. 15 Rede und Poesie sind, den damaligen Rhetoriken und Poetiken zufolge, eng verwandt, aber d o c h unterschieden. D i e elocutio ist ein fester Bestandteil der Rhetorik, und Vossius weist ihr die Aufgabe zu, zum einen für die Verständlichkeit der Rede zu sorgen (elegantia), zum anderen, Schmuck (ornatus) zu sein, der Lust und Wohlgefallen (delectatio) bereiten soll, Rh. с. IV,1, § 1 - 8 ( 2 7 4 - 2 7 6 ) , IV,3, §1 f. (301 f.). Eigens spricht er auch von der venustas, der Schönheit der Rede, Rh.c. V , 6 ( 4 1 6 - 4 2 1 ) . D o c h stehen alle diese Ausführungen unter der umfassenden Zielsetzung einer Rede, nämlich jemanden zu überzeugen. Siehe Art. Elocutio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 1 0 2 2 - 1 0 8 3 , insbes. 1028; 1056 f.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie 2. Die Schönheit der Poesie
Buchner nennt jene Qualität der Sprache, die das Gefallen erweckt, Schönheit oder Lieblichkeit, oder auch das Angenehme. Dabei referiert und zitiert er H o r a z , der vom „dulce" spricht, das dem „utile" zur Seite gestellt werden soll 16 . Buchner stellt dies in Zusammenhang mit dem Topos von der Dichtung als versüßter Arznei. Die Dichter seien „Denen Medicis gleich / welche die Artzeneyen / so etwan den Patienten zuwieder seyn möchten / überzuckern / oder von aussen süsse zu machen pflegen / damit Er solche desto lieber annehmen / und zu seinem besten gebrauchen möge." 17 Das Verhältnis der Dichtung zur Philosophie wird anhand dieses Gleichnisses dargestellt: Die Lehre wird dann besser aufgenommen, wenn sie durch die Poesie eine angenehme Gestalt gewonnen hat, so wie auch eine Heilung bringende Medizin vom Kranken eher genommen wird, wenn sie süß schmeckt. Die sprachliche Schönheit, die Süßigkeit der Dichtung wird hier, vermittelt über das Erfreuen als movere, als Hilfsmittel für das docere gesehen. Im folgenden soll dargelegt werden, worin nach Buchner sprachliche Schönheit besteht, und die Lieder Paul Gerhardts sollen daraufhin untersucht werden, ob sich in ihnen Schönheit in solchem Sinne findet.
2.1. Die Schönheit der poetischen Redeweise gegenüber der lehrhaften In der Schrift ,Poet' legt Buchner den Topos von der versüßten bzw. mit Wein vermischten Arznei aus, indem er sagt, der Poet habe es „doch nicht von nöthen / daß er alles nach Dialectischer Art genau zerlegen abtheilen / unterscheiden / und durch scharffsinnige Schlußreden als ein Philosophus erörtern dürffe." 1 8 Der Poet hingegen spricht Buchner zufolge so, daß er seinen Gegenstand „darstelle / als es sein äusserlich wesen und der Augenschein mit sich bringet." 19 Der Poet ist, wie sein griechischer Name besagt, ein „Macher", er schafft den Gegenstand, von dem er spricht, indem er ihn mit Worten so darstellt und beschreibt, daß für die Vorstellungskraft dessen Anblick entsteht. So ist die Dichtung mit der Malerei zu vergleichen 20 . Diese Vorgehensweise hat gegenüber der dialektischen Methode des reinen Philosophen erstens den Vorteil, daß die Sache dadurch leichter aufzufassen ist. Poesie ist also angenehmer und anmutiger. 16
Buchner, Poet, Buchner, Poet, 31 f. Siehe BACHEM, 18 Buchner, Poet, 19 Buchner, Poet, 20 Buchner, Poet, 17
32-34. Horaz, De arte poetica, 343. 6; etwas abgewandelt - die Arznei wird mit Wein vermischt - , Poet, Dichtung als verborgene Theologie, 29-32. 25 f. 26. 26 f., vgl. 1 f.; 5.
Die Schönheit der Poesie
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Dies ist als ein erstes Merkmal poetischer Schönheit anzusehen 21 . Sodann besteht ein ganz besonderer Reiz gerade darin, daß das Wesen der Dinge auf diese Weise nicht ergründet wird, sondern verborgen bleibt. Die Poeten „haben . . . auch weislich bedacht / daß alles das jenige / was versteckt und verborgen / herrlicher geschätzt / und in grösserm Werth und acht gehalten würde." 2 2 Buchner verbindet hier den Topos von der Dichtung als versüßter Arznei mit demjenigen von der Dichtung als verborgener Theologie, auf welchen noch weiter unten näher eingegangen werden wird 23 . Der Vorzug der poetischen Darstellungsweise besteht hier in der Verborgenheit des geistigen Gehalts des so anschaulich Gesagten. Schließlich hat die Dichtung einen ähnlichen Reiz wie die Malerei, weil die Darstellung einen größeren Reiz ausübt als das Dargestellte selbst. So werden die Sachen von den Poeten „mit glatten und schönen Worten / gleich als mit bunten und lebendigen Farben artig außgestrichen / und fast schöner / als es für sich selbst war / für Augen gestellet." Buchner nimmt hier den Mimesis-Gedanken der aristotelischen Poetik auf 24 . Das erste der hier aufgeführten Merkmale poetischer Schönheit findet sich in den Liedern Gerhardts durchgehend. Es wird erfüllt im Einsetzen sichtbarer Gegenstände, die durch die Sprache imaginiert werden, an die Stelle von Begriffen und vollständig ausgeführten Schlußfolgerungen. Wohl haben einige von Gerhardts Liedern den Charakter einer Lehrdisputation 25 , und durchgehend liegen ihnen, wie gezeigt worden ist, die begrifflichen Gliederungen der lehrhaften Theologie zugrunde. Doch werden die theologischen Lehrbegriffe weitgehend vermieden und an ihre Stelle sinnlich vorstellbare Dinge gesetzt. Dies läßt sich beispielsweise an der ersten Strophe von , Befiehl du deine Wege' zeigen (CS 84,1): Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreusten Pflege Des, der den Himmel lenkt: Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann.
21
Buchner, Poet, 29 Buchner, Poet, 6, die weiteren Ausführungen dazu bis 8. Vgl. damit Paul Gerhardts Verse „Und was verzeucht, / Ist desto süßer.", CS 94, 10,7 f., s.o. S. 179 f. 23 S.u. S. 231. Opitz, Poeterey, B1V Ges. Werke, I I / l , 344,3 f. 24 Buchner, Poet, 4, im Kontext bis 5, wo der Darstellung noch mehr Kraft zu erfreuen zugesprochen wird als dem Gegenstand selbst, sowie 30. 34 f. wird dies auch auf die Tragödie bezogen. Zur mimesis bei Aristoteles, s. vor allem Poetik, 1,2, 1447a u. ö., bei Opitz, Poeterey, B4V Ges. Werke II/1, 350 f. 25 Siehe oben S. 99 ff. 22
200
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Diese Strophe stellt eine Aufforderung dar, sich Gottes gubernatio anzuvertrauen, und bietet den Trost an, der daraus entspringt. Es geht um die rechte Gestaltung der actiones hominwn und um den concursus des göttlichen Handelns mit ihnen 26 . Und doch werden nicht diese Begriffe verwendet, sondern für die actiones hominum, insofern sie etwas von dem Menschen in seinem Ratschluß für die Zukunft Geplantes sind, wird in dem ersten Vers der anschauliche Ausdruck „Wege" verwendet. In den letzten beiden Versen wird wieder der Ausdruck „Wege" gebraucht, diesmal für das, was durch das Handeln Gottes in seiner Providenz geschaffen wird, um gelingendes menschliches Handeln zu fördern. Paul Gerhardt verwendet diesen Ausdruck also zweimal, zu Beginn und zu Ende der Eingangsstrophe, jeweils in einer anderen Bedeutung, doch greifen die beiden Bedeutungsinhalte ineinander, und Gerhardt verschafft dadurch dem Sachverhalt des concursus divinus, der mit dem Verstand schwierig zu erfassen ist, in dem Bild des Weges einen anschaulichen Ausdruck 27 . In der zweiten Hälfte der Strophe liegt eine Begründung der Aufforderung, sich Gottes gubernatio anzuvertrauen, durch eine Trostverheißung vor. Diese enthält wiederum einen Schluß: Wenn Gott an allen Geschöpfen seine Providentia generalis wahrnimmt, dann nimmt er auch an dir seine Providentia peculiaris wahr: er sorgt für dich. Diese Schlußform wird, obgleich sie erkennbar bleibt, nicht schulmäßig scharf herausgearbeitet. Statt der Fachausdrücke nennt Gerhardt wieder bildhaft Anschauliches. Für das Wirken Gottes in der Providentia generalis werden passende Beispiele gebracht: Himmel, Wolken, Luft und Winde. Auch sie haben für ihr Eigenwirken von Gott geschaffene „Wege, Lauf und Bahn", entsprechend den für den Menschen geschaffenen „Wegen" in der vorletzten Zeile. Das Eigenwirken des Menschen wird schließlich mit der anschaulichen Metonymie vom Gehen des menschlichen Fußes ausgedrückt. Gibt Paul Gerhardt in seiner Dichtung durchweg klassische Beispiele für die malerische sprachliche Darstellung von theologischen Sachverhalten, die als solche durchaus schwierig aufzufassen sind, so verzichtet er auf die gewissermaßen umgekehrte Möglichkeit, mittels der sprachlichen Fassung einen süßen Reiz der Art auszuüben, daß unter der Form der geistige Sachverhalt absichtlich verborgen, also Dunkelheit angestrebt wird. Andere Dichtungen seiner Zeit, wie etwa die Concetti, trachteten genau
26 Vgl. Hutter, Comp.VII,2 (26,22-26): „Providentia D E I est talis actio, qua D E U S . . . actiones hominum bonas praecipit, iuvat, promovet . . . " , und VII,5 (27). 27 Vgl. ELKE AXMACHER, Paul Gerhardt, 97-100, insbes. 98, Anm. 34, sowie 99, Anm. 35. Der Gebrauch der Weg-Metapher verfolgt also genau den Zweck, Theologie in poetische Form zu bringen; die von germanistischer Interpretation aufgewiesene Charakteristik dieses Liedes als Weg-Lied ergibt sich geradewegs aus dieser Bestimmung, vgl. SAUER-GEPPERT, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 58-62.
Die Schönheit der Poesie
201
danach. Ein Beispiel dafür ist das Epigramm des Gryphius ,An Cajum über sein steinern Bild': Recht hawt man dich aus Stein / gleich gibt / gleich wie man spricht / Du wärest vor ein Stein / doch Stein gibt nach / du nicht. Auch hier wird ein bildhafter Ausdruck verwendet, „Stein", der für die Herzenshärte des Cajus steht. Zugleich meint der Ausdruck aber auch das steinerne Denkmal des Cajus und die Beschaffenheit von Stein an sich. Die Bildlichkeit und die Aquivokation erzeugen hier ein Wortspiel, das zum Nachdenken herausfordert 2 8 . Für Paul Gerhardt hingegen diente die Bildhaftigkeit fast durchgehend der leichten Faßlichkeit des Gehalts. Die lehrhaften theologischen Strukturen seiner Dichtungen werden nicht verdeckt, sondern vereinfacht und bildhaft dargestellt. So erklärt der Gerhardt-Herausgeber Feustking, Gerhardts „Redens=Arten sind schriftmäßig / die Meynung klar und verständig" 29 - die Korrektheit des docere muß in der Klarheit der Sprache zum Ausdruck kommen. Und eine der ältesten überlieferten Beurteilungen von Paul Gerhardt als Dichter, diejenige in Erdmann Neumeisters Dichterlexikon ,De Poetis Germanicis hujus seculi praecipuis Dissertatio compendiaria' von 1695 stellt fest: „Gerhardt ist ein wahrhaft christlicher Dichter, süß, klar, dessen zahlreiche Hymnen alle fromm sind und gar nichts Geschminktes an sich haben." 30 Die Süßigkeit der Dichtung steht also zusammen mit ihrer Klarheit, ihrer perspicuita^. Die dritte im ,Poet' genannte Möglichkeit poetischen Reizes, nämlich die von dem Reiz der Darstellung, der mimesis, als solcher, spielt bei Gerhardt, wenn, dann nur eine untergeordnete Rolle. Denn Paul Gerhardt bezweckt letzten Endes gar keine Darstellung oder Nachahmung. Es wird
28
Gryphius, GA 11,209, vgl. SZYROCKI, D i e deutsche Literatur des Barock, 65 f.; WIND-
FUHR, 2 6 8 - 2 8 1 ,
zu diesem Epigramm dort
270.
29
Feustking, Vorbericht, )(9v. 30 D e r Eintrag bei Neumeister, D e Poetis Germanicis, 38, lautet vollständig „Gerhard / (Paul) Poeta vere Christianus, dulcis, perspicuus, cujus Hymni perplures, pii omnes ac infucati neutiquam, Ecclesiae nostrae oppido sunt familiares. Sunt mihi ipsius Geistreiche Andachten, Nürnb. 8 / 8 3 . " Erwogen werden kann, ob die Süßigkeit von Jesu Leiden in den Passionssalven nicht von Gerhardt absichtlich als Oxymora-Concetti entworfen worden sind, vgl. unten S. 259 ff. und WINDFUHR, 2 7 6 - 2 7 8 . D i e gelegentlichen Wortspiele bei Gerhardt sind hingegen m. E. nicht auf gesuchte Dunkelheit oder Spitzfindigkeit hin angelegt, s. die Aufstellung von AELLEN, 8 4 f. 31 N a c h Scaliger, Poetices libri Septem, IV,3 ist die perspicuitas eine der durchgehenden Eigenschaften einer gelungenen Dichtung in allen Stillagen, sie zählt also zu den affectus perpetui unter den affectus communes, vgl. REINEKE, 36 f. („Affectus" heißt bei Scaliger soviel wie Stilqualität). Opitz fordert solche „deutligkeit" im Cap. VI seiner Poetik innerhalb der Darlegung der Kriterien „elegantz oder ziehrligkeit" (E3* vgl. D 4 b / Ges. Werke I I / 1 , 377; 371). Buchner kommt im entsprechenden Cap. II (Anleitung, 1 3 - 4 7 ) mehrmals darauf zu sprechen.
202
D i e L i e d e r P a u l G e r h a r d t s als P o e s i e
nicht, um es in einer später aufgekommenen Begrifflichkeit auszudrücken, ein „lyrisches Ich" vorgestellt, dem der Leser lauschen sollte32. Sondern das Lied Paul Gerhardts dient der eigenen praxis. Alles kommt darauf an, daß der Leser nicht Betrachter bleibt, nicht bei der Beobachtung, der theoria verweilt, sondern die vorgestellte Wirklichkeit des singenden Ich oder Wir zu seiner eigenen macht 33 . Es ist geradezu eine Forderung, die aus Gerhardts Verständnis von geistlicher Poesie erwächst, und zwar ihrer Aufgabe, im Ernstfall zu nützen, die zur Folge hat, daß die Mimesis nicht sein oberstes Anliegen sein kann 34 . Allerdings gibt es in der Tat Partien in Gerhardts Dichtungen, in denen er ein Sinnbild emblematisch entwickelt oder Gegenstände und Personen der Heilsgeschichte imaginiert. So wird in den ersten sieben Strophen des Sommer-Gesangs mit den poetischen Mitteln, die Gerhardt zur Verfügung standen, ein Bild des Sommers gemalt 35 . Allein, die Schönheit dieses sprachlichen Bildes hat nicht den letzten Zweck, an sich selbst Bewunderung und Gefallen zu erregen. Sie soll vielmehr weiterleiten - nicht zu der Freude an dem Sommer selbst, sondern zu der Freude bzw. Vor-Freude an „Christi Garten" (CS 40, 10,2). So heißt es an der Wendestelle des Liedes (CS 40,9): A c h , d e n k ich, b i s t d u h i e r so s c h ö n U n d l ä ß t d u u n s so lieblich g e h n Auf dieser armen Erden, W a s will d o c h w o h l n a c h d i e s e r W e l t D o r t in d e m f e s t e n H i m m e l s z e l t U n d güldnen Schlosse w e r d e n !
Das mit Worten entworfene Bild des Sommers dient also - durchaus der aristotelischen Deutung der Mimesis verwandt 36 - dem Erlernen einer Einsicht. Diese Einsicht wird mittels einer Schlußfolgerung vom Kleineren zum Größeren gewonnen. Gott gönnt uns in seiner Providentia generalis den irdischen Garten - also gönnt er seinen Erwählten in seiner Providentia peculiaris erst recht den himmlischen Garten. In der zitierten Strophe wird dies so ausgedrückt, daß die bis zu dieser Stelle des Liedes dargestellte Schönheit der Schöpfung die Schönheit Gottes ist - „bist du hier so schön" - die auf die ewige Schönheit Gottes hinweist. Das tatsächliche Erlangen 32 So IRMGARD SCHEITLER, Das Geistliche Lied im deutschen Barock, 48 f. Ich bezweifle auch, ob bei den von IRMGARD SCHEITLER aufgeführten Vertretern des „geistlichen Liedes" in ihrem Sinne - an dieser Stelle Spee, sodann Weckerhlin, Opitz, Dach, Rist, Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg - ein solches Belauschen des lyrischen Ichs bezweckt ist und nicht vielmehr ein Mitvollzug in der eigenen Praxis. 33 S.o. S. 154 ff. 34 S.u. 215 ff. 35
LOTHAR SCHMIDT,
36
Aristoteles, Poetik, IV, 1 f., 1448b.
286-290.
Die Schönheit der Poesie
203
des himmlischen Gartens und der Freude an seiner Schönheit ist aber nur durch die praxis des eigenen Glaubens zu haben. Das Wirken Gottes muß jeder Mensch jeweils auf sich beziehen und für sich annehmen. Diese praxis des Ich wird auch „Andacht" genannt, worauf noch später bei der Darlegung der geistlichen Poetik eingegangen werden wird 3 7 . Sie beginnt in dem Lied nach der Entfaltung des Sommer-Bildes mit dem Einstimmen des Ich in den allgemeinen Lobgesang: „Ich selbsten kann und mag nicht ruhn; / Des großen Gottes großes Tun / Erweckt mir alle Sinnen; / Ich singe mit, wenn alles singt" (CS 40, 8,1-4). Wenn der Mensch, von G o t t bewahrt, in dieser praxis bleibt, wird er an der unübertrefflichen Schönheit des himmlischen Sommers teilhaben: „Verleihe, d a ß zu deinem Ruhm / Ich deines Gartens schöne Blum / Und Pflanze möge bleiben!" (CS 40, 14,4-6). Mit den meist zu den Kirchenfesten zu singenden heilsgeschichtlichen Liedern verhält es sich entsprechend. Auch hier wird eine sprachliche Darstellung der Geschehnisse gegeben. Doch die Absicht des Dichters ist, d a ß der Mit-Sänger des Liedes das Dargestellte auf sich selbst anwendet, sich selbst appliziert 3 8 . Vor allem handelt es sich darum, d a ß der Sänger und Beter des Liedes Jesus, wie er ihm in diesen Liedern vorgestellt wird, gläubig und in Liebe annimmt und umgekehrt sich selbst Jesus zueignet, wovon später noch zu sprechen sein wird 3 9 .
2.2. Die Schönheit sprachlicher
Variation
In der ,Anleitung zur Deutschen Poeterey' gibt Buchner vor allem Anweisungen, wie die sprachliche Ausarbeitung, die elocutio, der Dichtung dem Zweck dienen kann, Gefallen zu erzeugen. So erklärt Buchner, d a ß des Poeten „Zweck zu belustigen ist / und aber solches zu foderst erhalten wird / wenn man immer etwas neues hervorbringet / so hat er dahin fleissig zu sehen / d a ß er eine Rede auf viel und mancherley Weise abwechseln und verändern könne / damit ob er gleich von einer Sache rede / dieselbe doch immer eine neue Gestalt gewinne / und also ausser allem Eckel seyn möge." 4 0 Buchner leitet mit diesen Worten die Darlegung des Variationsprinzips ein, welches f ü r die Dichtung des 17. Jahrhunderts konstitutiv ist 41 . E r fährt fort: „Und kann man eine Rede verändern / 17
S.u. S. 221 ff. S.o. S. 148 ff. Besonders deutlich läßt sich dieses Verhältnis von mimesis und praxis an der Nacherzählung der Passionsgeschichte CS 14 beobachten, s. KRAUSE, 287-295. 39 S. u. S. 243. 110 Buchner, Anleitung, Cap. IV: Wie ein Thun und Meinung auf mancherley Art gegeben und ausgeredet werden könne, 48 f. 41 SZYROCKI, Die deutsche Literatur des Barock, 51-63, erläutert ausgehend von diesen Worten Buchners die barocken Stilmerkmale der insistierenden Nennung, der Häufung, der Periphrase usw., die sich auch bei Gerhardt finden. 38
204
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
theils schlechter Art nach / theils auch nach dem Sinn und des Gemüths Bewegung / damit sie vorgebracht wird. Denn ich erstlich von einem Dinge schlecht / durch ein blosses bejahen oder verneinen / und denn mit einer Bewegung sprechen kann. Als wenn ich sage: Der Mensch ist von Natur zum Bösen nur geneiget.
Oder welches eben so viel ist: Der Mensch ist von Natur vom guten abgewandt.
Das wäre eine schlechte Rede. Wenn ich es aber so setzte: Wie ist der Menschen thun zum bösen doch geneiget?
So wäre es nicht eine schlechte Rede / sondern es käme durch die Veränderung und aufschreyung. Wie ist etc. eine Gemüths = Bewegung darzu. Und solcher gestalt kann man eine Rede vielfältig ändern. Denn also könnte ich in gestalt einer Frage sagen: Wer ist doch / sage mir / zum bösen mehr geneiget / Als nur die Sterblichen?
Ich könnte auch in gestalt eines beklagens also sagen: Wir armen Sterblichen / wie sind wir allezeit / Zum bösen doch geneigt!
Und könnten dergleichen Arten mehr gefunden werden . . ," 42 Buchner zeigt hier, welche Variationsmöglichkeiten es gibt, angefangen von der „schlechten", d. h. schlichten Art der doppelten Verneinung. Alle diese Variationen dienen dem Zweck des delectare. Diesem Zweck werden im Kontext dieser Ausführungen auch die Möglichkeiten untergeordnet, das movere, die Bewegung des Gemüts zu erzeugen - durch die figurae patheticae von Frage, Ausruf, Beklagung 43 . Sodann aber zieht Buchner auch die Möglichkeiten des docere heran, um erfreuende Variation zu erzielen. Denn in dem Beispielsatz, welchen er zu Beginn bringt, formuliert er eine zentrale Aussage christlicher Theologie, welche in dieser Form in den Loci communes theologici stehen könnte. Und die Variationsmöglichkeiten sind nichts anderes als Aussagen, die mit dieser ersten in Verbindung stehen gemäß dem Zusammenhang von Lehraussagen 44 . Die Neigung zum Bösen, 42 Buchner, Anleitung, 49-51. Im weiteren Verlauf des Kapitels (48-67) bringt Buchner weitere Möglichkeiten von Variationen: Variationen und Umschreibungen von einzelnen Wörtern durch Gebrauch von Epitheta, durch Synekdoche, durch Gleichnisse und durch Metaphern. 43 S.o. S. 182, Anm. 54. 44 So könnte dazu auf Hutters Compendium, VI,4 f. (25 f.); VIII, 1.4-7.21 (29 f.; 34 f.); IX,7 (38) u.a. Stellen zurückgegegriffen werden.
Die Schönheit der Poesie
205
bzw. das Abgewandt-Sein vom Guten - ein Mittleres, ein absolution velle, kommt nicht in Frage - ist in die Natur des gefallenen Menschen gelegt. Diese Beschaffenheit der menschlichen Natur führt zu einer entsprechenden Neigung der menschlichen Taten. Die Folge der Sünde ist der T o d , die Menschen sind sterblich. Das Epitheton „arm" hebt noch zusätzlich die vanitas der gefallenen menschlichen Natur hervor. Diese Lehraussagen werden in Formen gebracht, welche den Affekt ausdrücken, der zu ihnen paßt: affekthaft kann man sie nur als rhetorisch fragende, aufschreiende Klage aussprechen. Als Sündenerkenntnis ausgesprochen, müssen sie in der ersten Person stehen. Die Vielfalt von Aspekten eines Themas theologischer Lehre wird also auf ihren affektiven Gehalt hin ausgewertet, und diese Vielfalt dient als solche dem Zweck des Erfreuens - mag sie auch einen solch düsteren Inhalt haben wie diese Aussagen. Es zeigt sich an diesem Beispiel, daß das Erfreuen, welches ganz besonders die Poesie zu erreichen sucht, ein Erfreuen durch die sprachliche Form ist. Wie nun das Erfreuen und das Bewegen des Gemüts dem Belehren dienen - was der Topos von der versüßten Arznei besagt - , so können also umgekehrt Lehre und affektive Rede in den Dienst solcher poetischer Schönheit gestellt werden. Obgleich Buchner die inventio und dispositio in seiner Poetik nicht behandeln möchte und dafür auf das Buch III bei Scaliger verweist 45 , deutet er mit diesem Exempel für das Variationsprinzip auf einen Themenschatz und auf eine Ordnungsstruktur, welche für die geistliche Dichtung - und nicht nur für diese - zur Verfügung stehen. Es sind dies Inhalt und Aufbau der christlichen Lehre, und die Übung des delectare wird nicht anders vollzogen als dadurch, daß die verschiedenen Aspekte einer Lehraussage, daraus folgende, vorausgesetzte oder verwandte Aussagen, angeführt werden. Es ist offensichtlich, daß Paul Gerhardt mit Buchners Auffassung hier übereinstimmt und in entsprechender Weise sein Dichten vollzieht. Die Möglichkeit des Lobliedes, die Möglichkeit jedes geistlichen Liedes, da es letztlich Loblied ist, beruht auf der Lobwürdigkeit Gottes, die Gerhardt grundsatzartig so bestimmt hat: „Gott ist alleine groß und schön, / Unmöglich auszulohen" (CS 112, 4,1 f.) 4 6 . Größe und Schönheit Gottes zeigen sich darin, kommen darin zur Sprache, daß man mit seinem Lob nie zu Ende kommen kann. Es sind immer wieder neue Aspekte von Gottes Gottheit ausfindig zu machen, die im Lob genannt werden können. Die immer neue Abwandlung des Lobpreises entspricht nicht nur Gottes unendlicher Größe, sondern auch seiner Schönheit. Auf diese Weise ist der Lobpreis selber schön.
15 Buchner, Anleitung, 13. E r will sich auf die Rede (elocutio) und, was im Grunde einen besonderen Aspekt von ihr darstellt, auf Vers und Reim beschränken. S . o . S. 143 f.
206
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Theologische Lehre und poetische Schönheit rufen einander durch die Anwendung des Variationsprinzips immer wieder gegenseitig hervor. Diese Variationskunst Paul Gerhardts wird besonders deutlich, wenn man seine Gedichte mit den Vorlagen vergleicht, von denen er ausgeht. D e r eben zitierte Vers stammt aus einer Nachdichtung von Ps 145, dessen Überschrift ,Ein Loblied Davids' lautet, bevor er so einsetzt: „Ich will dich erheben, mein Gott, du König, / und deinen Namen loben immer und ewiglich." Bei G e r h a r d t heißt es dann (CS 112, 1,1-4): Ich, Und Will Und
der ich oft in tiefes Leid große Not muß gehen, dennoch Gott mit großer Freud Herzenslust erhöhen.
D e r Verweis auf David in der Überschrift des Psalms wird also von G e r h a r d t zu einer Erläuterung des „Ich" im ersten Satz des Psalmes in Anspruch genommen. G e r h a r d t bewirkt so, um es mit einem rhetorischen Fachausdruck zu sagen, eine Amplifikation oder periphrasis*7, und er verschafft Wohlgefallen durch die Abwandlung und Vermehrung des Wortlauts der Psalmenstelle. Zugleich reißt er f ü r den Inhalt des Lieds einen Spannungsbogen auf: auf der einen Seite das Leid, das David erlitten hat - mit welchem sich jeder Sänger des Lieds identifizieren kann, der es singt. Auf der anderen Seite die Lobwürdigkeit Gottes, die trotz des Leides bestehen bleibt und eben dadurch noch betont wird. G e r a d e diese theologische Spannung bewirkt eine Form von poetischer Schönheit. Ein anderes Beispiel ist die bereits betrachtete N a c h d i c h t u n g von Ps 37,5: „Befiehl dem H E R R N deine Wege / und h o f f e auf ihn, er wird's wohlmachen." G e r h a r d t setzt in CS 84,1 an Stelle des Wortes „ H E R R N " unmittelbar ein „ D e r allertreusten Pflege" - womit auf den theologischen Ausdruck der paterna сига f ü r die göttliche Providenz verwiesen wird 4 8 . Dieser Begriff wird näher bestimmt und entfaltet: „Des, der den Himmel lenkt.", was nochmals aufgenommen wird in einem zweiten, den ersten paraphrasierenden Satz „ D e r Wolken, Luft und Winden / Gibt Wege, Lauf und Bahn . . . " . Die fortlaufende Variation des Bibelverses vollzieht G e r h a r d t , indem er aus dem Locus , D e Providentia' schöpft und dabei zugleich die theologischen Argumente gewinnt, mit welchen er zu der Annahme der in Ps 37,5 enthaltenen A u f f o r d e r u n g motivieren kann. Die weitere Entwicklung des Liedes in zwölf Strophen, deren Anfangsworte als Akrostichon den in dem ganzen Lied paraphrasierten Psalmvers ergeben, ist ein besonders namhaftes Beispiel von G e r h a r d t s Variationskunst.
47 48
Vossius, Rh. с. IV,20, § 11 (369). Hutter, Loci, 218a; AXMACHER, Paul Gerhardt, 99.
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Der Vers Jer 31,20 „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn und mein liebes Kind?" galt in der damaligen Lehrtheologie und Homiletik als Inbegriff des Ausdrucks der tröstenden Barmherzigkeit Gottes 4 9 . Paul Gerhardt schafft aus dieser Anrede eine ganze Strophe (CS 67,1): Ist E p h r a i m nicht meine K r ö n U n d meines H e r z e n s Wonne, Mein trautes K i n d , mein teurer Sohn, Mein Stern und meine Sonne, Mein Augenlust, mein edle Blum, Mein auserwähltes Eigentum U n d meiner Seelen Freude?
Das in Schuld verstrickte, von Gottes Zorn mit Leid geschlagene Ephraim - es steht für das durch eine Feuersbrunst zu einem großen Teil eingeäscherte Wittenberg 50 - dieses Ephraim wird von einer Schönheit bedeckt, die in dem Immer-wieder-neu-Sagen seiner Anrede durch Gott besteht. Diese Schönheit ist der Ausdruck der brennenden Liebe Gottes, mit welcher Gott den leidenden reuigen Sünder liebt, mit immer wieder neuen Koseworten überschüttet und sich seiner erbarmt. Gottes Barmherzigkeit wird also sprachlich in einer Weise zum Ausdruck gebraucht, die geeignet ist, das Herz des Leidenden zu erfreuen. Das delectare, welches die Poesie mit den ihr eigenen Mitteln erzielt, stimmt so mit ihrem Zweck als Trostwort zusammen. Gerhardts Variationsfreude und Variationskunst läßt sich fast durchgehend an seinen Dichtungen beobachten. Er geht darin über manchen anderen Kirchenlieddichter seiner Zeit hinaus, wie sich an dem Vergleich seiner Nachdichtung von Sir 50,24-26 mit derjenigen von Martin Rinckart zeigt 51 , und gelangt bis hin zu Häufungen variierter Präpositionen wie in jener Anrede an das Jesuskind, in welcher diesem der Wunsch nach innigster Seins- und Liebesgemeinschaft angetragen wird: „Daß ich dich möge für und für / In, bei und an mir tragen." (CS 6, 14,3 f.).
4 ' Hutter, Loci, 946b; Hülsemann, Meth. conc., 178. In beiden Fällen innerhalb des lateinischen Textes deutsch zitiert. 50 PETRICH, 52-54. 51 CS 69, ,Nun danket all und bringet Ehr,'; Rinckart, FT 1,526, ,NUn dancket alle Gott'. EUGEN AELLEN, 26-29, bringt den Vergleich zwischen diesen Liedern Gerhardts und Rinckarts als Beispiel der für Gerhardt charakteristischen Liebe zur Variation. Ein weiteres Feld für Gerhardts Kunst waren die verschiedenen Strophenformen. In seinen Liedern finden sich insgesamt 56 verschiedene Formen, darunter einige, die erstmals bei ihm nachzuweisen sind, s. BUNNERS, Paul Gerhardt, 244 f.; 149; 154.
208
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
2.3. Die Schönheit des Verses Ich übergehe die Ausführungen Buchners über die Wahl angemessener Worte 5 2 und über ihre angemessene klangliche Gestalt 53 und einen Nachweis ihrer Anwendung in Gerhardts Dichtungen 5 4 und konzentriere mich auf die Kunst des Verses, in welcher ein Proprium der Poesie nicht nur gegenüber der Lehre, sondern auch gegenüber der rhetorisch gestalteten Rede liegt. Buchner erklärt: „Weil man aber auch in einer freyen Rede oder Prose nicht wenig dahin sehen soll / daß sie wol falle und klinge / so hat man in einer gebundenen Poetischen ümb so vielmehr Fleiß anzuwenden Ursach / daß alles einen gebührlichen / guten / und angenehmen Klang gebe / weil des Poeten Zweck ist / die Gemüther der Menschen / wie oben auch angedeutet / zu belustigen." 55 Dieser Aufgabe der Poesie dient der rechte Gebrauch der Worte nach dem gegebenen Versmaß. Buchner übernimmt dabei die von Opitz eingeführte Regel, welche für die deutsche Dichtkunst epochal wurde: „Das maß der Verse kömmt aus denen Sylben und derer Zusammenfügung in gewisser Art / welche die Lateiner pedes nennen . . . Die Sylben sind entweder lang oder kurtz: welche ihre Beschaffenheit in unser deutschen Poeterey bloß und allein aus der Ausrede und dem Thone zu ermessen. Denn nach dem ich eine Sylbe kurtz oder lang ausspreche / also ist sie auch und irret nichts . . . sie bleibet einen weg wie die andern bey ihrer Art / in welcher sie ausgesprochen wird." 56 Es wird also verlangt, daß die Worte nach den Betonungen, welche sie in der gewöhnlichen Sprache haben, sich dem Versmaß einfügen müssen. Ein Beispiel dafür, wie Paul Gerhardt diese Regel angewandt hat, findet sich durch den Vergleich seiner Bearbeitung eines Gedichtes seines Wittenberger Lehrers Paul Röber mit der Vorlage. In den Silben, auf welchen die Betonungen liegen, habe ich den betonten Vokal in Kursiv gesetzt. Bei Röber lautet die erste Strophe so 57 : 52
Buchner, Anleitung, Cap. III: Von Rein- und Zierligkeit der Worte und Reden, 19-47, einschließlich des korrekten Gebrauchs der Grammatik. 53 Anleitung, Cap. V, 68-104. 54 Siehe dazu BUNNERS, Paul Gerhardt, 245-248. Für die stilbildenden Formen und Figuren in Gerhardts Liedern bieten, ungeachtet unzutreffender Wertungen, die umfassendsten Ubers i c h t e n AELLEN, 3 7 - 1 0 3 , u n d PETRICH, 2 6 7 - 3 0 4 . 55
Buchner, Anleitung, Cap. VI, Von der Harmonie oder Zusammenstimmung, 106. Buchner, Anleitung, Cap. VII: Vom masse der Verse und ihren Arten, 113 f.; bei Opitz, Poeterey, G2VGes. Werke II/1, 392,16-393,10; vgl. LAATHS, Geschichte der Welditeratur, 378 f. 57 Abgedruckt bei Gerhardt, Geistliche Andachten, hg. v. Kemp, 33. HAHNE hat, 21 f., an dem Vergleich dieser beiden Gedichte aufgezeigt, daß nicht Paul Röber f ü r Gerhardt das stilistische Vorbild hat sein können, sondern August Buchner. Eine ähnliche Umarbeitung eines älteren, vor-opitzianischen deutschen Gedichtes mit Korrekturen aufgrund des Versmaßes stellt auch die Nachdichtung von Sebald Heydens ,Passion auss den vier Evangelisten', bei Kemp, 31-33, in CS 14 dar. Siehe auch PETRICH, 52; 206 f. 54
Die Schönheit der Poesie
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О T o d , о T o d , schreckliches Bild, О ungeheure Larve, Wie machst du dich so groß und wild Mit deinen Pfeilen scharfe! Hier ist ein H e r z , das dich nicht acht, Und spottet deiner schnöden Macht, Deiner verbrochnen Pfeilen.
Bei G e r h a r d t heißt es dann ( C S 115,1): О T o d , о T o d , du gre«lichs Bild Und Feind voll Zorns und Blitzen, Wie machst du dich so groß und wild Mit deiner Pfeile Spitzen? Hier ist ein H e r z , das dich nicht acht Und spottet deiner schnöden Macht, Und d e r zerbrochnen Pfeile.
G e r h a r d t hat von den sieben Zeilen dieser Strophe drei in vollem Wortlaut übernommen, nämlich die dritte, die fünfte und die sechste. D a ß er Änderungen aufgrund der Metrik vollzogen hat, wird deutlich an der ersten und der siebenten Zeile. Denn dort widersetzt sich bei R ö b e r die natürliche Betonung der Worte derjenigen, welche von der Folge der J a m b e n verlangt wird. In Zeile 1 würde man betonen „schreckliches", was einen Daktylus ergäbe, desgleichen in Zeile 7 „ D e i n e r " . D i e Kunst Paul G e r h a r d t s , dem Versmaß nach der Opitzschen Betonungsregel zu genügen, ohne zu Umstellungen, welche der deutschen G r a m m a t i k widersprechen, oder zum Einsetzen von Füllwörtern gezwungen zu sein, hat früh Anerkennung gewonnen. Sein H e r a u s g e b e r Feustking stellt fest, d a ß G e r h a r d t s Lieder sowohl „Geist und Kunst / K r a f f t und Zierlichkeit" enthalten und fährt fort: „Kein vergebliches / kein unnützes Wort findet man darinnen / es fället und fleußt dem G e r h a r d alles auffs lieblichste und artlichste . . . d a ist nichts gezwungenes / nichts eingeflicktes / nichts verbrochenes". D i e Reime sind „recht auserwehlet / leicht / und auserlesen schön." 5 8 D e r Ruhm, den sich G e r h a r d t s Verse aufgrund ihrer Schönheit verschafft haben, scheint, solange jedenfalls hierin Opitzens Poetik anerkannt bleibt, anzuhalten. So urteilt ein Germanist am E n d e des 20. Jahrhunderts mit g a n z ähnlichen Worten wie Feustking, G e r h a r d t seien „die Lieder so scheinbar mühelos aus der Feder geflossen . . . , daß selbst ausgesprochen prosaische Wendungen sich bruchlos dem Rhythmus der Verse einfügen" 5 9 .
58 F e u s t k i n g , V o r b e r i c h t , ) ( 9 r - )(9v. Ähnlich ist die Beurteilung J o h a n n Philipp T r e u n e r s in d e r V o r r e d e z u seiner G e r h a r d t - A u s g a b e , bei ECKART, 16. 59 KRAUSSE, 426.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
2.4. Die Begriffe „schön" und „süß" in der Dichtung Paul Gerhardts Buchner nennt als die spezifische Qualität der Poesie dies, daß sie süß, schön, lieblich und dergleichen sei 60 . Nachdem nun aufgezeigt worden ist, daß die Gedichte Paul Gerhardts diese Qualität gemäß den Kriterien Buchners aufweisen, soll gefragt werden, ob Paul Gerhardt selbst sprachliche Äußerungen mit diesen Begriffen qualifiziert hat und welche Bedeutung sie bei ihm haben 61 . Süß und schön nennt Gerhardt vieles in der Schöpfung Gottes, gelegentlich schon metaphorisch und emblematisch auf Gott hin zu deuten Himmel, Sonne, Mond und Gestirne 62 , den Leib des Menschen 6 3 , Blumen und Landschaften usw. 64 . All diese Schönheit wird aber übertroffen von derjenigen Gottes und Jesu 65 . Gott ist derjenige, der in der Schönheit der Schöpfung schön ist, wie es in dem Sommergesang heißt 66 . Seine Schönheit ist an sich selbst also am größten, und sehr oft spricht Gerhardt von der Schönheit und Süßigkeit Gottes in Superlativen wie etwa CS 37, 10,6-10: Gott ist das Größte, Das Schönste und Beste, Gott ist das Süßte Und Allergewißte, Aus allen Schätzen der edelste Hort.
Oder er stellt Gottes Schönheit in der Gegenüberstellung zur vergänglichen Welt heraus (CS 112, 3,1.5 / 4,1 f.): „Die Welt, die deucht uns schön und groß / . . . Und ist doch alles lauter Nichts / . . . Gott ist alleine groß und schön / Unmöglich auszulohen". „Schön" und „süß" sind dabei sinnverwandte Begriffe, die oft aufeinander folgend, auch in Zwillingsformeln gebraucht werden 6 7 . In Ubereinstimmung mit Buchner ist bei Gerhardt das Schöne und Süße dadurch bestimmt, daß man daran Gefallen findet, sich erfreut, „ergötzt" und „labt", 40
S.o. S. 195 u. 198. " Vgl. folgende Untersuchungen mit der Zusammenstellung der Verwendung von „süß" bei diversen Kirchenlieddichtern in: SAUER-GEPPERT, Sprache, 35-50. 62 Schön: CS 6, 9,5-7; 56, 2,3; 69, 5,2; 101, 4,1; lieblich: 37, 1,5; süß: 41, 15,4. 63 Schön: CS 75, 5,8; 108, 7,5; 111, 22,4; 114, 11,1 f.; 123, 1,2; 123, 2,1.4. 64 Schön: CS 40, 1,4; 40, 9,1; 40, 14,5; 41, 15,3; 42, 9,1; 47, 4,2; 61, 2,3; 98, 4,5; 99, 11,6; 134, 9,3; süß: 21, 3,1. 65 Schön: CS 6, 2,3; 6, 9,5-7; 8,8,1; 14, 22,6; 18, 2,5; 19, 5,8; 22, 1,2; 23, 6,1; 24, 1,5; 25, 3,3; 30, 1,2; 37, 10,7; 40, 9,1; 60, 1,1; 60, 12,1; 82, 4,2; 95, 10,8; 108, 4,5; 112, 4,1; 112, 6,6; süß: 3, 10,1; 5, 12,1; 12,4,8; 21, 3,1; 21, 4,5; 22, 4,1; 23, 2,3; 23, 6,8; 30, 1,1; 37, 10,8; 40, 11,2; 51, 12,4; 79, 4,1; 88, 1,7; lieblich: 12, 6,1. " S. o. S. 202. A
C S 6 , 2 , 3 ; 8, 8 , 1 f.; 3 0 , 1,1 f.; 3 7 , 1 0 , 7 f.; 4 1 , 1 5 , 3 f.; 4 3 , 2 2 , 2 . 4 ; 6 0 , 3 , 1 ; 6 4 , 1 3 , 1 ; 6 6 ,
15,1; 78, 1 5 , 1 - 1 6 , 2 ;
1 1 7 , 1 5 , 1 . Z u r Z w i l l i n g s f o r m e l s. ELFRIEDE STUTZ, D a s F o r t l e b e n d e r
mittelhochdeutschen Zwillingsformel im Kirchenlied, besonders bei Paul Gerhardt.
Die Schönheit der Poesie
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wie Gerhardt meistens, in Entsprechung des lateinischen delectare, sagt 68 . Mit dem Guten ist der Sache nach das Schöne und Süße identisch, doch wird ein anderer Aspekt dabei zur Sprache gebracht. Das Gute erscheint in erster Linie im Kontext der „Orientierungsfrage", wo das vergängliche Gut der Welt und das unvergängliche und unübertreffliche Gut, das Gott ist, einander gegenübergestellt werden, und der Mensch aufgefordert wird, sich zu entscheiden, auf welches Gut hin er sich orientieren will. Dieses Orientiert-Sein vollzieht sich als das „Sinnen", als das Streben, das der Mensch auf das Gut richtet, dessen er teilhaftig sein möchte 69 . Mit dem Schön- und Süß-Sein dieses Guts wird das ausgedrückt, was an diesem wahrgenommen wird, sobald man seiner teilhaftig geworden ist, es genießt und sich an ihm ergötzt. Was der Mensch darin empfindet, ist Freude, als derjenige Affekt, der sich auf ein gegenwärtiges Gut richtet70. Schön und süß ist dem Liebenden das Geliebte, wenn er das Geliebte erlangt hat und es ihm gegenwärtig ist. Darum auch wird das Schöne und Süße immer wieder sinnverwandt mit dem Lieblichen, also Liebenswerten und Liebe Erregenden genannt. Und die Benennungen Gottes, konkret: Jesu, als schön und süß, sprechen immer wieder den liebenden Umgang aus, den der ihn liebende Mensch mit ihm hat. Dem Jesuskind wird zugerufen: D u h a s t mit deiner Lieb erfüllt Mein Adern und
Geblüte,
D e i n s c h ö n e r G l a n z , d e i n s ü ß e s Bild L i e g t m i r g a n z im G e m ü t e . W i e k ö n n t ich dich, mein Aus meinem H e r z e n
Herzelein,
lassen!71
Das Heil, das Endziel der menschlichen Existenz, ist darum süß, weil es Vereinigung mit dem geliebten Gott ist: „Süßes Heil, laß dich umfangen" 72 . Mit dem Prädikat „süß" kann dabei ausgedrückt werden, daß Gott so nahe ist, daß er „geschmeckt" werden kann: „Mein Gott . . . / Laß mich allzeit aller Orten / Schmecken deine Süßigkeit; / Liebe mich und treib mich an, / Daß ich dich, so gut ich kann / Wiederum umfang und liebe" 73 . 68 w
C S 2, 8 , 4 ; 16, 7 , 1 ; 19, 5 , 1 0 ; 6 9 ; 6 , 1 ; 83, 9 , 4 ; 89, 1 6 , 4 ; 115, 5 , 4 ; 1 2 3 , 7,1 f.; 125, 1 0 , 4 . S . o . S. 1 0 4 , bei A n m . 5 9 .
S . o . S. 182, bei Anm. 50. C S 6 , 2 , vgl. 5, 1 2 , 1 ; 12, 4 , 8 ; 18, 2 , 5 ; 6 0 , 1,1; 6 0 , 3 , 1 ; 6 0 , 8 , 6 ; 6 9 , 5 , 7 - 6 , 2 ; 7 1 , 2 , 3 ; 89, 1 2 , 2 . 71 C S 5, 1 2 , 1 . H i e r wird Jesus so angeredet, vgl. 2 3 , 6 , 8 ; 8 0 , 7 , 3 . Das Heil als Abstraktum - das konkret aber stets mit Jesus identisch ist - wird süß, schön usw. genannt - oder seine Begleitumstände so beschrieben - C S 1, 1 0 , 3 ; 2, 9 , 1 ; 12, 10, 3 . 9 ; 19, 5 , 8 - 1 0 ; 4 0 , 1 4 , 5 ; 4 3 , 2 2 , 2 . 4 ; 7 6 , 1 3 , 3 ; 78, 1 6 , 2 ; 84, 6 , 8 ; 9 1 , 1 2 , 3 ; 9 9 , 1 1 , 6 ; 104, 1 1 , 8 ; 115, 5 , 4 ; 118, 6 , 5 . 8 ; 118, 8 , 5 ; 1 1 9 , 1 7 , 3 ; 120, 3 , 1 ; 1 2 0 , 6 , 1 ; 125, 1 0 , 4 - 6 ; 129, 1 3 , 4 ; 129, 1 9 , 1 ; 1 3 4 , 1 , 3 - 5 ; 134, 2 , 7 ; 134, 9 , 3 . 70 71
73 C S 51, 1 2 , 1 - 7 . Ähnlich 1 0 5 , 4 (nach Ps 3 4 , 9 ) . D e r Geschmack, sapor, der Süßigkeit Gottes, welcher in einer unmittelbaren Begegnung mit G o t t liegt, wurde traditionell in einer
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
D a ß Paul Gerhardt, im Unterschied zu dem spärlichen Sprachgebrauch der Bibel, wiederholt von Gottes Schönheit spricht, geschieht in Ubereinstimmung mit Aussagen anderer Theologen seiner Zeit, die dabei sich ausdrücklich auf die Rede der Diotima am Schluß von Piatos ,Symposion' beriefen 74 . Das Wesen der Liebe, des Eros, wird bei Plato als Streben nach dem Schönen sowohl als nach dem Guten und der Weisheit erläutert. Das Streben nach dem Schönen durchschreitet dabei einen Stufenweg vom sinnlich wahrnehmbaren und seelischen, aber irdischen Schönen hinweg über die Schönheit einer Rede oder Erkenntnis, bis es sein Ziel erlangt, in welchem Glückseligkeit liegt: die Schau der Idee des Schönen selbst, welche das göttlich Schöne genannt wird. Diese Identifikation des höchsten Schönen mit dem Göttlichen als Gegenstand der Liebe wird unter ausdrücklicher Berufung auf diese Stelle bei Plato von Johann Hülsemann aufgenommen, wenn er die Schönheit Gottes in seiner Affektenlehre unter demjenigen nennt, das imstande ist, die Liebe zu Gott zu erregen 75 . Auch Johann Arndt verweist auf Plato und nennt die Schönheit Gottes, die Lieblichkeit seines Wesens, als Beweis der Liebe Gottes zu uns, der wiederum dazu führen soll, daß wir Gott lieben 76 . Der Begriff der Schönheit Gottes steht also für die Liebenswürdigkeit Gottes, und zwar in der Hinsicht, daß der Mensch in die Gegenwart des von ihm geliebten und ihn liebenden Gottes gelangen kann. D a ß dies in dem Zusammenhang bei Arndt, Hülsemann und Gerhardt nur unter der Voraussetzung des Glaubens an Jesus Christus geschieht, macht einen ersten wesentlichen Unterschied zu Plato aus. Ein weiterer wird erkennbar, wenn die Bedeutung der Rede und ihrer Schönheit in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen erwogen wird. Bei Plato ist die Schönheit einer Rede lediglich eine Zwischenstufe auf dem Weg zu der Idee des Schönen, die geschaut wird. Man erreicht diese Zwischenstufe und läßt sie hinter sich. Anders verhält es sich bei Gerhardt. In seinen Weihnachts- und Passionsliedern vor allem finden sich zwar Darstellungen des Anblicks Jesu, und immer wieder werden in bezug auf Gott und Jesus Metaphern aus dem Bereich des Sehens wie Licht, Glanz, Sonne usw. verwendet. Doch ist zu beachten, daß dies alles im Medium der Sprache vorgestellt wird. An mehreren Stellen seiner Lieder spricht Gerhardt von der Süßigkeit von Jesu Mund, so etwa in einer Rede an das eigene Herz: „Hörst du, wie er dich ergötzet / Mit dem zuckersüßen Mund?" (CS 2, 8,3 f.). Die Süße von Jesu Mund, durch welche er erfreut, deutenden Etymologie mit der Weisheit Gottes, der sapientia, verbunden, s. KARL HEIM, Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher, 16 f., vgl. OHLY, Süße Nägel der Passion, 405; 459-471; zu der biblischen Benennung Gottes als süß s. JOSEPH ZLEGLER, Dulcedo Dei. Paul Gerhardt spricht von der Süßigkeit und Schönheit von Gottes Weisheit CS 64, 13,1 und 66, 15,1. 74 Plato, Symposion, 201d - 212a, insbes. 203c - 205a; 75 Hülsemann, Meth. conc., 182-184. 76 Arndt, Wahres Christentum, Buch 11,30 (Ausgabe v. 1708, 333 f.), vgl. 11,26,10 (321).
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besteht jedoch, genau betrachtet, nicht so sehr in dem, was geschaut wird, als in dem, was gehört wird - „Hörst du ...": in den Reden, die aus Jesu Mund kommen. An anderer Stelle heißt es von Jesus: „Dein Mund hat mich gelabet / Mit Milch und süßer Kost" (CS 24, 5,5 f.). Dies ist - wobei auch Ps 19,11 und 119,103 mit hineinspielen - eine Aufnahme und U m deutung von Cant 4,11, sowie 2,14. Ist dort die Süßigkeit des Kusses der Geliebten gemeint, so bei Paul G e r h a r d t die Süßigkeit von Jesu Wort. So wird das, was Jesus, was Gott, der Heilige Geist oder die göttliche Weisheit sagen, immer wieder als süß oder auch als schön bezeichnet 7 7 . Die Schönheit und Süßigkeit Gottes selbst zeigt sich dem irdischen Menschen nie in einer Schau, sondern stets nur in dem Wort, das G o t t spricht. Und sogar die Glückseligkeit der glorißcatio kann auch so bestimmt werden, d a ß der Mensch dann G o t t selbst sprechen hört 7 8 , und nicht nur als die unmittelbare Schau Gottes 7 9 . Wird die schuld- und leidvolle Verworrenheit dieser Welt unter dem Gesichtspunkt betrachtet, d a ß alles der Verherrlichung Gottes und seiner Erwählten dient, dann dringt Gottes Schönheit und Süßigkeit in diese Welt ein. Die Verwandlung des Leids in Freude, die auf diese Weise zustande kommt, wird auch als Durchsüßen des Leids bezeichnet, und gelegentlich hebt G e r h a r d t hervor, d a ß dieses Durchsüßen dadurch geschieht, d a ß G o t t zu dem Leidenden spricht. Die Süßigkeit des Trostes ist darum insbesondere die Süßigkeit des Trostwortes 8 0 . Umgekehrt kann das Sprechen des Menschen zu G o t t an der Schönheit und Süßigkeit Gottes und seines Sprechens teilhaben. Dies geschieht dann, wenn der Mensch die Schönheit und Süßigkeit Gottes rühmt, wenn diese also zum Inhalt menschlicher Rede wird. So rühmt der Gläubige den süßen Namen Gottes, seine „Wundermacht . . . und so herrlich schöne Pracht" und seine „schöne Regimentsgestalt", also die Struktur seiner gubernatio, welche auch das Übel zu ihren Zwecken gebraucht 8 1 . So kann das Lob Gottes selber als schön und süß bezeichnet werden: „Du meine Seele, singe, / Wohlauf und singe schön / . . . Ich will den Herren droben / H i e r preisen auf der E r d , " (CS 108, 1,1 f.5 f.). In der Zuversicht, die den Gläubigen zu G o t t sprechen läßt „Du bist mein einzge Freude . . . / U n d führst mich aus dem Leide", verspricht er als Gelübde: „ D a f ü r will ich mein Leben lang / D i r manchen schönen Lobgesang / Zum D a n k und O p f e r 77
Von Jesus CS 5, 7,4; 6, 6,3; 16, 7,1; 27, 29,1 f.; 119, 16,1, von Gott 32, 4,8; 81, 10,2; 93, 11,2-4; 102, 5,7; 117, 5,1, vom Geist 29, 6,6, von der Weisheit 64, 13,1. Vgl. OHLY, Süße Nägel der Passion, 481-485. 78 CS 94, 15,8 f. 79 Die Schau Gottes CS 32, 5,7-9; 88, 9,7 f., das Schmecken 51,12, die drei Sinne des Schmeckens, Hörens, Sehens zusammen CS 80, 20,3-5. 80 Vgl. oben S. 161. Von dem Durchsüßen mittels des Wortes spricht Gerhardt CS 27, 29,1 f.; 29, 6,6-8; 32, 4,8, von der Süßigkeit des Trostes: CS 53, 6,2; 60, 9,6; 64, 13,1; 79, 4,1; 82, 9,2. 81 CS 105, 4,5; 112, 6,6; 112, 10,6, sowie 117, 11,8.
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bringen." 82 . Es ist nur konsequent, wenn Gerhardt dabei von Psalmen, Liedern und Gesängen spricht und solches menschliches Sprechen selbst als Lied gestaltet, also als mit Musik verbundene, gesungene Poesie. Denn die menschliche Sprache partizipiert dann an Gottes Schönheit nicht nur dem Inhalt oder der praktischen Intention ihres Sprechens nach - Trost zu spenden - , sondern auch in ihrer Form, nämlich in ihrer poetischen Schönheit. So hat die Schönheit, die der Dichter durch die Kunst fortlaufender Variation erzeugt, ihren Grund in der Schönheit Gottes, die auf seiner Unauslobbarkeit beruht: „Gott ist alleine groß und schön / Unmöglich auszulohen" (CS 112, 4,1 f.). Und einer der ersten Rezensenten von Gerhardts Liedern, Johann Heinrich Feustking, meinte, daß gereimte Verse „insgemein etwas himmlisches und geistliches mit sich führen", so daß er der Vermutung Johann Ludwig Praschs zustimmte, daß „die ordentliche Sprache der Auserwehlten auff die Weise wird eingerichtet/ und gleichsam eine Poesie und gebundene Rede seyn". So wie der irdische Lobgesang diesen himmlischen schon anstimmt und vorwegnimmt, hat er auch an dessen himmlischen und geistlichen Charakter teil, zu welchem auch die in Versen gebundene Sprache gehört. Dies ist, Feustking zufolge, besonders in Gerhardts Verskunst der Fall, von welcher er urteilt, daß sie „auserlesen schön" sei 83 . So schöpft die menschliche Sprache durch die poetische Schönheit, wie sie in der Kunst der Variation oder des Versbaus in Erscheinung tritt, erst alle ihre Möglichkeiten aus, der Schönheit Gottes ähnlich zu werden. Paul Gerhardt verwirklicht die in Buchners Poetik geforderte Schönheit der Poesie in seinen Liedern, weil in ihnen sich die wechselseitige Beziehung zwischen Gott und dem gläubigen Menschen in Rede und Gegenrede vollzieht und solchem Sprechen Schönheit angemessen ist. Gerhardt nimmt den Gedanken Piatos von der höchsten, göttlichen Schönheit, die beseligendes Endziel menschlicher Liebe ist, auf und wendet ihn an auf das Sprechen Gottes zu dem Menschen und auf das Sprechen des Menschen zu Gott. In diesem wechselseitigen Sprechen besteht seiner Auffassung nach - anders als bei Plato - unhintergehbar die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Aus diesem Grunde nennt er solches Sprechen schön und süß und gestaltet es selber als Poesie. Paul Gerhardt hat selbst die Schönheit der Dichtung auch zum Gegenstand poetologischer Reflexion gemacht, und zwar in einem seiner Widmungsgedichte, demjenigen zu der Psalmenübersetzung seines Berliner Dichterkollegen Johann Heintzelmann 8 4 . Und zwar macht er dort beson82 CS 92, 7,2.4.5-7, nach Ps 13,6, desgleichen CS 8, 8,3; 40, 11,6; 42, 6,4; 118, 6,8; 131, 9,7; 134, 2,7. 83 Feustking, Vorbericht, )(9v; Prasch, Discurs von der Natur des Teutschen Reimes, § 12, B7 v -B8 r . 84
Bei BuNNERS, Paul G e r h a r d t , 364 ( N r . 3).
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ders die Eignung der deutschen Sprache, schön zu sein, zum Thema. Er setzt ein mit den Worten: „David sang in seiner Sprachen / Manches schönes, liebes Lied," (Str. 1,1 f.) und setzt diesen Gedankengang fort (Str. 2 f.): Wir, die wir in Deutschland wohnen, Singen David fröhlich nach, Ehren Gott mit unsrer Sprach' Auf des Psalters schönsten Tonen. Hierzu weckt Gott manchen Mann Jeder macht's, so gut er kann. Was Herr Heintzelmann gesungen, Da er Davids Harfe nahm Und ihm auf die Spure kam, Ist ihm wahrlich wohl gelungen. Deutsch zwar singt er, aber schön, Wie die Himmelssaiten gehn.
Es ist deutlich, daß es durchgehend Gerhardts Anliegen ist, daß Dichtung, und zwar, wie man sieht, geistliche Dichtung, schön sei. Für die deutsche Sprache in ihrem Verhältnis zu der hebräischen Ursprache nimmt er dies gerade in Anspruch durch eine Anspielung auf einen Bibelvers, Cant 1,5. „Schwarz bin ich, aber schön", sagt dort die Geliebte von sich. Genau das gleiche gilt, Paul Gerhardt zufolge (Str. 3,5 f.), von der deutschen Sprache 85 .
3. Die Poetik von Paul Gerhardts Liedern als geistlicher Dichtung 3.1. Die geistliche Poesie und das Leid Das Problem des Leids wurde in diesen Ausführungen über die Poetik der Lieder Paul Gerhardts bisher nur gestreift, wo es um die Süßigkeit des Trostwortes ging. Nun, da das Gefüge der Poetik, nach welcher Gerhardts Lieder sich richten, aufs erste umrissen ist, soll die Frage gestellt werden, welche Bedeutung der poetische Charakter seiner Lieder für seine Behandlung des Leidproblems hat. Es zeigt sich, daß sie eng verbunden ist mit seiner Auffassung von geistlicher Poesie. 85 Gerhardts Aussagen in diesem Gedicht stehen in Zusammenhang mit der damaligen Suche nach einer Ursprache, einer Sprache Gottes, als welche das Hebräische angenommen wurde, s. TRUNZ, Weltbild, 21 ff., und in dem Kontext der Bemühungen, der durch den Dreißigjährigen Krieg erschütterten Selbstachtung des deutschen Volkes einen neuen Halt zu geben durch die Pflege der deutschen Sprache, vgl. Opitz, Vorrede zu den Weltlichen Poemata, 4 1644 [)(xir - ) ( x i f ]. Siehe auch, die Thesen Schottels betreffend, DYCK, Rhetorische Argumentation und poetische Legitimation, 82-85.
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Gerhardt hat, wie wir gesehen haben, sich in seinen Liedern nur implizit zur Thematik der Poetik geäußert. Anders verhält es sich mit einigen seiner Widmungsgedichte. In diesen hat er, beim Anlaß einer Widmung zu dem Werk eines anderen Dichters, grundsätzlich zu den Aufgaben und Eigenschaften von Dichtung Stellung genommen. Dabei ist zu bemerken, daß Gerhardt sich hauptsächlich auf das Wesen geistlicher Poesie bezogen hat. Und es ist besonders bemerkenswert zu sehen, daß Gerhardt die Bestimmung des Wesens geistlicher Poesie mit der Frage verknüpft hat, was dem Menschen im Leiden hilft. Zu denken ist hier an das umfangreichste von Gerhardt verfaßte Widmungsgedicht, ,Weltskribenten und Poeten' (CS 57) von 1650. Gerhardt widmete es Michael Schirmer, damals Subrektor am Gymnasium des Grauen Klosters in Berlin, zu dessen Werk , Biblische Lieder und Lehrsprüche in allerhand gebräuchliche Reimarten verfasset' 86 . Gerhardts Biograph Petrich nimmt mit einigem Recht an, daß dieses Widmungsgedicht eine „berichtigende Antwort" darstelle auf eine These, die Schirmer 1649 in einem Trauergedicht auf den T o d von Johann Georg Spengler, einem Sohn von Adam Spengler, den Rektor des Grauen Klosters, geäußert hatte 87 . Schirmer erwähnt zu Beginn dieses Gedichtes die antike Sage von Niobe, die so maßlos über den T o d ihrer Kinder trauerte, daß sie zu Stein wurde. Schirmer kommentiert, diese Sage sei „ein nützliches Gedichte" (Str. 2,6), und fährt fort (Str. 3): Denn in ihrem Fall und Nöthen Können Christen die Poeten Brauchen auch zu ihrer Lehr, Und zu lindern die Beschwer: Kommen dazu heiige Schriften, Können sie mehr Nutzen stiften.
Die Lehre besteht darin, Niobe als abschreckendes Exempel zu nehmen und durch das Vergießen von Tränen das Leid zu lindern. Dafür, daß Weinen Leid lindert, ist neben Gestalten der Bibel auch Agamemnon ein positives Beispiel (Str. 7,3). Wirklich geheilt wird des „Herzens Pein" (Str. 11,4) aber nur durch das Wort Gottes, die Bibel. Paul Gerhardts Widmungsgedicht, das offensichtlich auf dieses Gedicht Schirmers Bezug nimmt, lautet: 1. Weltskribenten und Poeten Haben ihren Glanz und Schein, Mögen auch zu lesen sein, Wenn wir leben außer Nöten; In dem Unglück, Kreuz und Übel Ist nichts Bessers als die Bibel. 86 87
Nachweis in ,Geistliche Andachten', hg. v. Kemp, 46. PETRICH, 81. Das Gedicht abgedruckt bei BACHMANN, M. Michael Schirmer, 164-167.
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2. Cato deuchte sich zu stellen In der Angst mit Plato Buch, Aber Gottes Zorn und Fluch Drückt ihn gleichwohl bis zur Höllen; Sein verirrter blinder Sinn Ging und wußte nicht wohin. 3. Was Homerus hat gesungen Und des Maro hoher Geist, Wird gerühmet und gepreist Und hat alle Welt durchdrungen; Aber wenn der Tod uns trifft, Was hilft da Homerus' Schrift? 4. Gottes Wort, das ists vor allen, So uns, wenn das 88 Herz erschrickt, Wie ein kühler Tau erquickt, D a ß wir nicht zu Boden fallen. Wenn die ganze Welt verzagt, Steht und siegt, was Gott gesagt. 5. Wenn die Scharen aller Teufel Sich empören und bemühn, Dich von Christo abzuziehn Und zu stürzen in den Zweifel, Und du sprichst nur: So spricht Gott! Werden sie zu Schand und Spott. 6. Darum liebt, ihr lieben Herzen, Gottes Schriften, die gewiß In der Herzensfinsternis Besser sind als alle Kerzen; Hier sind Strahlen, hier ist Licht, Das durch alles Herzleid bricht. 7. Unser Schirmer wirds euch lehren, Wenn ihr, was sein heiiger Fleiß Ihm zum Trost und Gott zum Preis Hier gesetzet, werdet hören. Lobt das Werk und liebt den Mann, Der das gute Werk getan. D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g , in w e l c h e r P a u l G e r h a r d t m i t d i e s e n S t r o p h e n Stellung n i m m t , g e h t u m d i e V e r h ä l t n i s b e s t i m m u n g geistlicher u n d weltlic h e r P o e s i e . G e r h a r d t f a ß t d a b e i d i e weltliche P o e s i e mit allen A r t e n v o n S c h r i f t t u m z u s a m m e n , w e l c h e s n i c h t a u s d r ü c k l i c h christlich ist, H o m e r u n d Vergil ( „ M a r o " ) mit P l a t o , u n d n e n n t sie „ W e l t s k r i b e n t e n u n d P o e t e n . " 88
Bei CS „des", korrigiert nach Kemp, 17.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Es herrschte zu Gerhardts Zeit ein scharfes Bewußtsein von der Unterschiedenheit dieser beiden Arten von Poesie 89 . Paul Gerhardt bedient sich bei dieser Verhältnisbestimmung der beiden Kriterien, die H o r a z für die Dichtung aufgestellt hatte: prodesse - was Gerhardt mit Buchner als Nützen durch Lehren bestimmt - und delectare90. Das zweite gesteht Gerhardt der weltlichen Poesie ohne Umstände zu: sie hat decus, „Glanz und Schein" (Str. 1,2). Ihr Nutzen ist jedoch äußerst begrenzt. Gerhardt mißt dabei den Nutzen von Poesie an dem, was sie in Notlagen hergibt. Dies tut auch Schirmer, der dabei zu dem Urteil kommt, daß weltliche Poesie - die Niobe-Sage in den Metamorphosen Ovids jedenfalls etwas nütze. Gerhardt vertritt hingegen die Ansicht, daß sie gar nichts nützt. Seine Beurteilung weltlicher Dichtung fällt dabei zusammen mit derjenigen philosophischer Trostgründe, wie sie sich bei Melanchthon und Hutter finden, wo sie den theologischen, christlichen Trostgründen gegenübergestellt werden 91 . Gerhardt kommt zu seinem scharfen Urteil, weil er noch härtere Belastungsproben für die Tauglichkeit von Dichtung auswählt als Schirmer. Es sind ihrer drei: die Situation, in welcher die Frage nach der Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens angesichts des Leids gestellt wird (Str. 2), die Situation des eigenen Todes - nicht bloß des Todes enger Angehöriger, wie bei Schirmer (Str. 3) - und die Situation der hohen Anfechtung durch die Anklage des Gesetzes oder den Prädestinationszweifel (Str. 5). Für die erste Situation nimmt Paul Gerhardt den auch von Augustin behandelten Fall des jüngeren Cato zum Beispiel, welcher im belagerten Utica Selbstmord beging, um dem Schicksal zu entgehen, auf Caesars Großmut angewiesen zu sein, was für ihn offenbar das größte Unglück gewesen wäre. Zu dieser Tat hatte ihn auch die Lektüre von Piatons Dialog ,Phaidon' ermutigt, in welchem die Unsterblichkeit der Seele gelehrt wird 92 . Diese Situation, in welcher sich die Frage nach dem Selbstmord als die grundlegende philosophische Frage erweist, hat Gerhardt in einigen seiner Lieder ,Vom christlichen Leben und Wandel' erörtert, etwa in diesem 93 : Ich hab oft bei mir selbst gedacht, Wann ich den Lauf der Welt betracht, 89 Martin Opitz hatte beispielsweise in die erste Ausgabe seiner gesammelten Gedichte, den ,Acht Büchern Deutscher Poematum' von 1625 Werke beiderlei Art aufgenommen, aber f ü r die geistlichen Gedichte das erste Buch reserviert. In den Ausgaben letzter H a n d von 1638 und 1644 sind beide Arten von Dichtung getrennt. Siehe ERICH TRUNZ, Nachwort von: Martin Opitz, Geistliche Poemata 1638, 16*, vgl. 18*ff. 90 S.o. S. 195ff. 91 S. o. S. 64 ff. 92 Plutarch, Vitae parallelae, Cato Minor, 67-72; vgl. die Erörterung bei Augustin, D e civitate Dei, 1,23, im Kontext 1,20-27, und die Hinweise in der Ausgabe ,Vom Gottesstaat', übertr. v. Wilhelm Thimme, eingel. u. kommentiert von Carl Andresen, Bd. 1, 540. 93 CS 74,1, vgl. oben S. 116 und Albert Camus, Der Mythus von Sisyphos, 9.
Die Poetik von Paul Gerhardts Liedern als geistlicher Dichtung
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Ob auch das Leben dieser Erd Uns gut sei und des Wünschens wert, Und ob der nicht viel besser tu, Der sich fein zeitlich legt zur Ruh.
Für Paul G e r h a r d t steht völlig fest, d a ß der Selbstmord die falsche Antwort auf diese Frage darstellt. Mit Augustin ist er der Auffassung, d a ß derjenige der ewigen Pein verfällt, welcher sich tötet, um der zeitlichen zu entgehen (CS 57, 2,3 ff.) 9 4 . C a t o hat seine Wege nicht G o t t anbefohlen, ihm leuchtete nicht das W o r t Gottes. In dieser Situation wie in den beiden anderen, in denen es unmittelbar um das ewige Leben geht, ist das einzige, was dem Menschen hilft, das W o r t Gottes. Alles andere ist nutzlos, wenn nicht schädlich, wie etwa jenes Buch Piatons. Mit diesem Hinweis auf den ausschließlichen Nutzen der biblischen Lehre in extremen Leidsituationen empfiehlt nun G e r h a r d t solche Gedichte wie die von Schirmer veröffentlichten ,Biblischen Lieder und Lehrsprüche.' Das heißt aber: Literatur solcher Art - generell gesprochen: geistliche Dichtung - hat teil an diesem exklusiven Vorzug der Bibel. Sie sind, ihrem Lehrgehalt und der daraus entspringenden T r o s t k r a f t nach, mit der Bibel eins. Aus diesem Umstand wird deutlich, d a ß geistliche Poesie f ü r Gerhardt, soll ihre Lehre wahr und ihr Trost wirksam sein, nichts anderes sein kann als eine Paraphrase der Bibel, eine Paraphrase, in welcher das unausschöpfliche, unauslobbare Wesen Gottes immer wieder neu ausgesprochen wird 9 5 . G e r h a r d t selber hat fast nur solche geistliche Poesie hinterlassen. Das Widmungsgedicht an Schirmer legt nahe, d a ß d a f ü r ihre Kraft ausschlaggebend war, extremes Leid zu überwinden, wie die Verzweiflung angesichts der scheinbaren Sinnlosigkeit der Welt und die Angst vor der ewigen Verdammnis, wie sie in der Todesstunde und in der hohen Anfechtung aufbricht. O f f e n b a r war f ü r G e r h a r d t ein wesentliches Motiv seines Dichtens, f ü r solche Situationen T r o s t zu geben. Einen eindeutig nicht-geistlichen Charakter besitzen nur einige seiner Kasualgedichte 9 6 . Von den Mitteln philosophischen Trostes wird nur wenig Gebrauch gemacht, so in dem Lied , U m b den lieben Frieden', ,Wie ist so groß und schwer die Last' 9 7 , wo Str. 3 - 9 der Trost durch eine collatio eventuum gegeben wird: die Leid-
" Vgl. Augustin, D e civitate Dei, 1,26, hg. v. Dombart u. Kalb, Bd. 1, 4 2 , 9 - 1 2 . Vgl. JOHANN ANSELM STEIGER, Rhetorica sacra seu biblica, 542 f. 96 U n d zwar die lateinischen Gedichte CS II; XI; XII; X I V und X V . CS V ist hier etwas unklar, allerdings ist es mit dem geistlichen Gedicht bei BUNNERS, Paul Gerhardt, Nr. 2 (386 f.) zu demselben Todesfall verbunden. Bei solchen Kasualgedichten konnte auch ein gewisses Verschwimmen von christlicher und heidnisch-religiöser Terminologie statthaben, so etwa in den ansonsten klar geistlichen Gedichten CS III, w o V. 5 von den Parzen und CS IV, w o V. 20 von „Deo", V. 21 von den „Numina" gesprochen wird. Vgl. oben S. 139. " CS 97, Rubrikenüberschrift in der P.p.m. 1653. 45
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
tragenden sollen doch sehen, daß andere noch schlimmer durch den Krieg getroffen worden sind. Gerhardt griff wahrscheinlich deswegen zu diesem Mittel, weil in der Tat die Mark Brandenburg zu der Zeit, da er dieses Lied verfaßte, sich in einem weniger schlimmen Zustand befand als andere Teile des Reiches. In den meisten anderen Liedern ist kein solcher klarer Zeitbezug da, der einen derartigen Trostgrund nahelegen würde, und Gerhardt verwendet in ihnen ausschließlich christlichen Trost. In zwei Gedichten wird übrigens eine Art von Religiosität sichtbar, die nicht streng christlich bzw. lutherisch ist, aber auch nicht aus einer bloß literarischen Verwendung von Ausdrucksformen der griechisch-römischen heidnischen Religion besteht. Das eine Gedicht ist ,Du liebe Unschuld du, wie schlecht wirst du geacht't' (CS 76), als eines von wenigen Gerhardts in Alexandrinern verfaßt. Es hat in der Struktur der Gedankenführung eine große Ähnlichkeit mit anderen Liedern wie etwa ,Ich hab oft bei mir selbst gedacht', mit welchen es auch in die Rubrik ,Vom christlichen Leben und Wandel' gesetzt wurde 9 8 . Der Unterschied besteht darin, daß das angefochtene Christ-Sein dort charakterisiert wird durch den Satz „Du sprichst, die Tugend sei der Christen schönste Krön" (Str. 4,1) - während Gerhardt sonst sagt, daß das Blut Christi der Schmuck des Christen sei, ζ. B. CS 12,10. Die Seinsgemeinschaft mit Gott, in welcher der Angefochtene Trost findet, wird durch einen Zuspruch Gottes so charakterisiert: „So spricht er nun: du bist mein, dein Tun gefällt mir wohl!" (Str. 8,1). Zwar bleibt in der Tat in einigen der Lebenslieder die Beziehung auf Christus und sein Werk blaß, kann aber durch den Zusammenhang mit anderen Liedern dann ergänzt w e r d e n " . Eine solche Konkretisierung der Gottesbeziehung wie in diesem Lied stellt hingegen einen deutlichen Gegensatz zu der reformatorischen Rechtfertigungslehre dar. Das Lied scheint das Zeugnis einer „Zivilreligion" zu sein, die damals neben und mit dem christlichen Glauben einherlief und auch mit christlichen Gedanken angereichert werden konnte. Diese Zivilreligion kann so definiert werden, daß ihr Gehalt durch ihre Funktion bestimmt ist, dem Bürger all das einzuprägen, was zum Erhalt und zum Gedeihen des Staates notwendig ist. Ihr Wesen ist die „Tugend" des vorbildlichen Staatsbürgers 100 .
98 CS 74, auch mit CS 72, , N i c h t so traurig, nicht so sehr, meine Seele, sei betrübt', und ,Sei wohlgemut, О Christenseel', CS 89. Auch CRANACH-SICHART, 505, erkennt den „weltlich-moralischen" Charakter dieses Lieds im „Ton eines Opitzschen Lehrgedichts". Jedoch trifft es nicht zu, daß Ebeling dieses Lied deswegen nicht in seine Sammlung aufgenommen habe; vielmehr steht es dort, Nr. 19, unter dem Titel ,Wider das Ergerniß der bösen glückseligen Welt'. " S . o . S. 1 2 3 f . 100 Zum Begriff „Zivilreligion" s. WOLFHART PANNENBERG, Art. Zivilreligion, insbes. 1169, zur Bildung des Begriffs (religion civile) bei Rousseau. D a s T h e m a wird bei Opitz, s.u. S. 305 ff., weiter verfolgt werden.
Die Poetik von Paul Gerhardts Liedern als geistlicher Dichtung
221
Ein ähnlicher Fall liegt wohl in dem ebenfalls in Alexandrinern abgefaßten Trauergedicht auf den Berliner Bürgermeister Reichardt vor, ,So geht der alte liebe H e r r nun auch dahin' (CS 132). Dieses Gedicht enthält kein Element, das sich noch christlich deuten ließe. Es ist schlichtweg Klage und Lob der Größe des Verstorbenen, von dem gesagt wird, er sei „Ein Mann von alter Treu / Und deutscher Redlichkeit" gewesen (Str. 4,1 f.). Ähnlich wie in den Dramen Rists, in denen die „alte deutsche Redlichkeit" einen zentralen Begriff darstellt, liegt hier ein Übergang von der streng christlichen Sphäre in die Sphäre einer Tugendreligion vor 101 .
3.2. Die Bedeutung der Andacht in der geistlichen
Dichtung
Abgesehen von diesen ziemlich spärlichen Ausnahmen also hat Paul Gerhardt fast nur geistliche Poesie verfaßt, mit der ausdrücklichen Absicht, dem leidenden Menschen Trost zu geben. Die Kraft dieses Trostes führt er auf die in der Bibel gegebene wahre Lehre zurück, welche mit der Autorität Gottes versehen ist (CS 57,4 f.). Es scheint von daher nahezuliegen, daß allein in der Lehre, im docere, der spezifische Charakter geistlicher Poesie liege und allein darin ihre Trostwirksamkeit beruhe. Diese Überlegung stimmt mit der These Hans-Henrik Krummachers überein, der in seiner bahnbrechenden Untersuchung der geistlichen Poetik des 17. Jahrhunderts das Kirchenlied dieser Zeit, namentlich auch das Paul Gerhardts, dem sogenannten „niedrigen Stil", dem sermo humilis, zugeordnet hat. Dieser Stil zeichnet sich durch eine möglichst sparsame Verwendung der rhetorischen bzw. poetischen Schmuckformen aus. Bedingt sei dies dadurch, daß er als angemessen für eine Dichtung erachtet wurde, die „auf Erzählung und Auslegung von Texten, auf Lehren und auf Erweckung von Andacht" gerichtet ist 102 . Ausgehend von der Vorrede Gryphius' zu seiner Nachdichtung der Passionsgeschichte, ,Tränen über das Leiden Christi' 103 , hat Krummacher die Argumente für diese Verbin101 Zu Rist s. VAN INGEN, D e r Dreißigjährige Krieg in der Literatur, 2 4 9 f. Bei Gerhardt wäre als weiteres Zeugnis n o c h zu nennen das W i d m u n g s g e d i c h t zu Samuel Sturms , Fünfz e h n - ä s t i g e r N i e d e r - L a u s i t z e r Palm-Baum', C S 49, übrigens Gerhardts letztes überliefertes G e d i c h t ( 1 6 7 5 ) . Ein Beispiel dafür, daß streng lutherische Rechtfertigungslehre und eine solche Zivilreligion nebeneinander vertreten werden k o n n t e n , wird für eine frühere E p o c h e Lazarus Spengler g e w e s e n sein, s. dessen , E r m a h n u n g und U n t e r w e i s u n g z u einem t u g e n d haften Wandel', Schriften, Bd. 1, 1 2 - 5 5 , insbes. die D i s k u s s i o n der D a t i e r u n g s f r a g e (vor o d e r nach Spenglers A n s c h l u ß an Luther) durch die H e r a u s g e b e r , 6 - 8 . 102 KRUMMACHER, D e r junge Gryphius, 4 3 2 , dort auch zu Gerhardt. Zur T h e m a t i k im g a n z e n s. 3 9 3 - 4 5 8 , insbes. 3 9 3 - 4 3 4 , vgl. KRUMMACHER, Paul Gerhardt, 2 8 4 - 2 8 6 . Eine Ü b e r sicht über Q u e l l e n zur geistlichen Poetik dieser Zeit bietet auch ZELL, U n t e r s u c h u n g e n z u m Problem d e r geistlichen Barocklyrik, 7 9 - 9 9 . Zur D i s k u s s i o n von KRUMMACHERS T h e s e s. u. S. 2 3 2 , Anm. 146. 103
Gryphius, G A II, 9 7 - 1 0 1 , das g a n z e W e r k 9 5 - 1 4 7 .
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
dung der geistlichen Dichtung mit dem niedrigen Stil zusammengestellt. Es sind dies 1. die ausschließliche Konzentration auf Erweckung der Andacht, 2. die Notwendigkeit, vor Gott in Demut, humilitas, zu treten, 3. das Achten Gottes auf das Herz, nicht auf den äußeren Schmuck, 4. daß dieser der vanitas unterliegt, 5. bestimmte allegorisch gedeutete Bibelstellen, 6. die Notwendigkeit, von Ungebildeten verstanden zu werden, 7. entsprechend die Ausrichtung auf die Einfalt, welche die Einfalt nicht nur des Ungebildeten, sondern mehr noch des andächtigen Herzens ist, 8. die Selbstentäußerung Christi am Kreuz (I Kor 2,1-5; 4,20), 9. das Bewußtsein, daß der Heilige Geist selbst und nicht rhetorische Hilfsmittel für die Überzeugung sorgen 104 . Aufgrund dieser Argumente wird also, Krummacher zufolge, für das Kirchenlied der niedrige Stil gewählt, der mit der Aufgabe der Lehre verbunden ist, während der mittlere Stil, dessen Zweck das delectare, und der hohe Stil, dessen Zweck das movere ist, nicht verwendet werden 1 0 5 . Nun läßt sich in der Tat eine wesentliche Bedeutung der theologischen Lehre für die Dichtung Paul Gerhardts nachweisen, wie dies in dieser Studie auch geschehen ist. Die Bibel und die Loci communes theologici dienen dem Kirchenlieddichter Paul Gerhardt als Fundort für seine inventio, und Gerhardt will mit seinen Liedern dementsprechend auch Lehre mitteilen. Dennoch kann man nur von einem recht kleinen Teil der Lieder Gerhardts sagen, daß sie lediglich den Zweck der Lehre verfolgen und nicht auch den Zweck der Bewegung des Gemüts und poetischen Schmuck weitgehend missen lassen. Zu dieser kleinen, nicht scharf abgrenzbaren Gruppe von Liedern können bestimmte Festtagslieder gezählt werden: zu Weihnachten (CS 7 und 8), zur Passion (CS 14, auch 15-17) und zu Ostern (CS 27), sowie die Nachdichtung des Moseliedes Deut 32 (CS 111), auch das Himmelslied (CS 134). Man kann noch die Sakramentslieder CS 33 und 34 hinzufügen. Musterbeispiele sind CS 14, die Nachdichtung der in Verse gefaßten Passionsgeschichte von Sebald Heyden in 29 Strophen, und CS 27, ,Nun freut euch hier und überall', die Ostergeschichte in 36 Strophen, das längste Gedicht Paul Gerhardts. Die Ähnlichkeit dieser Gedichte zu den ,Tränen über das Leiden Jesu Christi' des Gryphius ist in der Tat sehr stark. Es handelt sich um eine Paraphrase, welche sich ziemlich eng an den Text der Evangelien hält. Es geht also um eine fast durchgehende Nacherzählung von Geschehenem, insofern könnte man von „Historienliedern" sprechen 106 . In allen anderen Liedern verfolgt Gerhardt nicht nur und auch nicht überwiegend den Zweck des Lehrens, sondern zugleich, damit auch verbunden, das Anliegen, das Gemüt zu bewegen und durch poetischen Schmuck zu erfreuen. 1M 105 106
KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 393-406. KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 407-412 u. ö.. Vgl. oben, S. 139, bei Anm. 155.
Die Poetik von Paul Gerhardts Liedern als geistlicher Dichtung
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D o c h auch in jenen Liedern gibt es immer wieder Stellen, in denen es um die Aneignung des nacherzählten Heilswerkes geht, so in der Passion nach Sebald H e y d in den beiden Schlußstrophen. H i e r redet der E r z ä h l e r die G e m e i n d e an, für welche er die G e s c h i c h t e erzählt hat und sagt ihr, welchen T r o s t sie aus ihr ziehen soll, welche W a r n u n g vor falschem und M a h n u n g zu rechtem Verhalten sie ihr entnehmen soll. U n d bei dem Lied , H e r r J e s u , meine Liebe' ( C S 34), in welchem G e r h a r d t die lutherische Lehre vom Heiligen Abendmahl - mit durchaus anti-calvinistischen polemischen Spitzen - vorträgt, wird schon in der ersten Strophe gesagt, welche T r o s t k r a f t in ihr beschlossen ist 1 0 7 . D i e s e W e n d u n g der Lehre zum T r o s t ist wesentlich für geistliche Poesie nach G e r h a r d t s Verständnis; dies besagt auch der Beweisgang in seinem Widmungsgedicht für Schirmer. Sie ist notwendig verbunden mit einem anderen wesentlichen Begriff der G e r h a r d t s c h e n Poetik, nämlich dem der intellektuellen und gefühlsmäßigen Aneignung, oder auch, wie man es nannte, mit der Andacht. G e r h a r d t hat davon in einem anderen Widmungsgedicht geschrieben; es ist das für die , V i e r geistlichen Lieder' von J o a c h i m Pauli verfaßte ( C S 48): Unter allen, die da leben, Hat ein jeder seinen Fleiß Und weiß dessen Frucht zu geben; Doch hat der den größten Preis, Der dem Höchsten Ehre bringt Und von Gottes Namen singt. Unter allen, die da singen Und mit wohlgefaßter Kunst Ihrem Schöpfer Opfer bringen, Hat ein jeder seine Gunst; Doch ist der am besten dran, Der mit Andacht singen kann. In der ersten Strophe wird der geistlichen Dichtung - und zwar der Liederdichtung - ein H ö c h s t m a ß an W ü r d e zugesprochen im Vergleich zu allen anderen Tätigkeiten. Singen zum L o b G o t t e s wird also als T ä t i g k e i t betrachtet, nämlich als die ehrenvollste aller Tätigkeiten. In der zweiten Strophe wird das Singen geistlicher Lieder unter dem Singen von Liedern aller Art hervorgehoben. All dieses Singen geschieht zum L o b G o t t e s , dem Singen geistlicher Lieder aber gebührt die höchste Anerkennung, wenn es mit „ A n d a c h t " geschieht. D a s mit A n d a c h t gesungene geistliche Lied stellt also das potenziert H ö c h s t e dar, was ein M e n s c h tun kann. D i e Kunstge107
S i e h e d i e I n t e r p r e t a t i o n v o n ELKE AXMACHER, P a u l G e r h a r d t ,
89-97.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
mäßheit des Liedes, seine Schönheit also, wird dabei vorausgesetzt, aber noch durch die Andacht übertroffen. Was bedeutet nun „Andacht" eigentlich? Das Wort hatte ursprünglich nicht nur eine geistliche Bedeutung. Das Grimmsche Wörterbuch definiert allgemein: „Sammlung der Gedanken auf einen Gegenstand" und nennt als Beispiel Luthers Übersetzung von Hos 7,6: „Denn jr herz ist in heisser andacht / wie ein Backofen" - dies wird gesagt von dem bösen Sinnen der Gottlosen 1 0 8 . Paul Gerhardt selbst verwendet den Begriff nur im geistlichen Sinne. Aus dem Widmungsgedicht an Joachim Pauli geht hervor, daß Andacht etwas ist, womit ein Lied, und zwar ein geistliches Lied, gesungen werden sollte - es wäre also denkbar, ein geistliches Lied ohne Andacht zu singen. Für denjenigen, der es singt, ist es jedoch das Angemessene, wenn er es mit Andacht tut. Andacht ist also nicht etwas mit dem Lied selbst schon Gegebenes, sondern muß von demjenigen, der das Lied singt, in dieses Lied, genauer: in das Singen dieses Liedes hineingetragen werden. Allerdings ist das Lied gerade daraufhin angelegt. Der Zweck eines geistlichen Liedes ist es, mit Andacht gesungen zu werden. Dies geht auch aus den Titeln und Vorreden von Gesangbüchern dieser Zeit hervor, wo es ein geläufiger Topos ist, daß die Lieder der Erweckung und Förderung der Andacht dienen sollten, indem sie mit Andacht gesungen werden 109 . Dementsprechend wurden auch Ausgaben geistlicher Lieder - wie auch, zuvor schon, geistlicher Betrachtungen - „Andachten" genannt, so ja auch die erste Gesamtausgabe der Lieder Paul Gerhardts durch Johann Georg Ebeling 110 . Schließlich nannte man das Sich-Einstellen zu einer geistlichen Übung, welche mit Andacht vollzogen werden soll, selbst „Andacht" 1 1 1 .
108 Siehe Art. Andacht, Deutsches Wörterbuch, Bd.I (1854), 302 f.; Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, H o s 7,6, vgl. 7,7. 109 Crüger, Vorrede zur P.p.m. 1640, bei B U N N E R S , Paul Gerhardt, 348; Gutachten der Greifswalder Theologischen Fakultät zu der Ebelingschen Ausgabe (1669), bei B U N N E R S , Paul Gerhardt, 360; Christlich-neuvermehrt- und gebessertes Gesangbuch (1663); Verneuert und Vermehret Christliches Gesangbuch (1675); Pauli Gerhardi, Geistreiche Andachten hg.v. Feuerlein, (1683). Feuerlein schreibt übrigens in seiner Vorrede,)(IV R - ) ( I V , mit der gewaltigen Vermehrung von Liedern und Gesangbüchern in der letzten Zeit habe die Andacht nicht Schritt gehalten. 110 Siehe dazu W A L T E R B L A N K E N B U R G , Johann Georg Ebeling, der Herausgeber und musikalische Bearbeiter von Paul Gerhardts Geistliche Andachten, 6 f. Vorbilder für Ebeling waren dabei Andreas Hammerschmidt, der den Begriff mit seinen .Musikalischen Andachten', 1638-54, erstmals in die Kirchenmusik einführte, und Rist, der erstmals eine Ausgabe von Liedern, nämlich seine eigenen, 1654 so benannte. Geistliche Betrachtungen wurden so genannt von Philipp Kegel, 1616, von Joseph Wilhelmi, 1648 (einer deutschen Übersetzung der Meditationes sacrae Johann Gerhards in Versen) und vom Freiherrn von Hohenfeld, 1659. 111 Nürnbergisches Gesang-Buch, 1677, vgl. das Verneuert und Vermehret Christliches Gesangbuch, 1675.
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Gerhardts Verständnis von „Andacht" im erstgenannten Sinne wird erläutert durch die anderen Stellen, an denen er in seinem Werk diesen Begriff verwendet. Es sind insgesamt nur vier: In dem Passionssalve an Jesu Brust heißt es (CS 22,2): Mein Jesu, neige dich zu mir Mit deiner Brust, damit von dir Mein H e r z in deiner Lieb entbrenn U n d von der ganzen Welt sich trenn H a l t H e r z und Brust in Andacht reich U n d mich g a n z deinem Willen gleich.
Der entsprechende lateinische Text lautet 112 : Pectus mihi confer mundum, Ardens, pium, gemebundum, Voluntatem abnegatam, Tibi semper conformatam, Juncta virtutum copia.
Es wird hier deutlich, daß mit Andacht nicht nur eine Konzentration des Verstandes mit seinen Gedanken, sondern auch des Willens auf einen Gegenstand gemeint, und daß mit dem Willen auch der Bereich der Gefühle, des Affekts eingeschlossen ist. In dem semantischen Umfeld des Affekthaften befinden sich auch die Begriffe des „Brennens" oder der „Flammen", die immer wieder mit dem der „Andacht" verbunden werden 113 . Ein weiterer Begriff, der in das Umfeld von „Andacht" gehört, ist der der „Brust" bzw. des in der Brust eingeschlossenen „Herzens". Im Herzen wird alles, was sonst außen liegt, zusammengeführt, konzentriert, „verinnerlicht" 114 . In dem Salve an Jesu Herz formuliert Gerhardt (CS 23, 5,6 f.): „Und zeuch mich auf die Stufen / Der Andacht und der Freudigkeit", nach der lateinischen Fassung 115 : „Ut se possit applicare / Devoto tibi pectore." In einem Lied nach Arndt (CS 59, 8,3) schreibt er: „Denn das
112
Ad pectus, Str. 4, bei Kemp, 28. So werden, auch inmitten von Texten ganz streng lehrhaften Charakters, Gebete als „brennend" bezeichnet: FC, SD XI,21 (BSLK 1069,45), Hutter, Comp., Ausgabe von 1622, XIII,13 (61, Anm.zu Z . l l ) , vgl. oben S. 55, bei Anm. 125. 114 Vgl. auch die übereinstimmende Umschreibung des Begriffes Andacht in der zeitgenössischen Passionsliteratur bei ELKE AXMACHER, Aus Liebe, 100: „Andacht ist dabei die subjektive Entsprechung zur Belehrung, die Aufnahme und Verinnerlichung des in der Lehre Gehörten: das, was die Predigt das Bedenken nennt." Aus dieser Formulierung ELKE AXMACHERs geht schon von selbst hervor, daß „Andacht" sich nicht auf trockenes docere beschränken kann. 115 Ad cor, Str. 9,4 f., bei Kemp, 29. 113
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ist ja ein großer Gwinn, / In steter Andacht liegen." Die Vorlage lautet: „ . . . denn es ist ein grosser gewinn, Gottselig seyn . ,." 1 1 6 . In frühen Vorreden von Gerhardt-Liedern wird der Aspekt des Innerlichen noch schärfer dargestellt. So spricht Johann Georg Ebeling davon, daß das äußere Wort des Liedes und seine Melodie eine doppelte Schnur seien, um „die Andacht und den Eifer des inneren Menschen mit dem äußerlichen" zu verbinden - ansonsten bliebe diese also ganz in dem inneren Menschen eingeschlossen 117 . Und Conrad Feuerlein erklärt, daß die Andacht unmittelbar zu Gott hochflamme, während die guten Taten eines Menschen erst dann Gottes Lob verkündigen, wenn sie zu Gemüte gezogen werden. Er vergleicht dabei die äußeren Taten mit dem Holz und den Steinen, woraus ein Brandaltar gebaut, die geistlichen Lieder mit den Opfergaben und die Andacht mit dem Feuer, welches zu Gott den lieblichen Geruch emporsendet 1 1 8 . Andacht, so kann nun abschließend gesagt werden, ist in dem von Paul Gerhardt verwendeten Sinne die Aneignung des in dem Lied Gesagten durch denjenigen, der es liest, spricht oder singt. Diese Aneignung wird sowohl mit dem Verstand als auch mit dem Willen unter Einschluß der Gefühle vollzogen. Der Begriff „Andacht" entspricht also, für den Bereich einer geistlichen Übung mit einer Meditation oder einem Lied, demjenigen, was im Bereich der theologischen Lehre „Glaube" oder „fides" genannt wurde 1 1 9 . Der rechtfertigende Glaube ist nicht nur Kenntnis historischer Sachverhalte (notitia) oder Zustimmung zu einer Lehraussage (assensus), sondern zugleich auch Vertrauen (fiducia), in welchem der Glaubende die Verheißung Gottes für sich annimmt 120 . In dem Begriff der fiducia ist erstens die Beziehung auf das menschliche Subjekt, das pro me, enthalten und zweitens der Einschluß von Wille und Gefühl - handelt es sich doch um einen Begriff, der zugleich in der rhetorischen Affektenlehre behandelt wurde. Wir begegneten dieser Ausrichtung auf das jeweilige Ich auch schon in der Trostlehre Hutters, wo er von dem syllogismus practicus der Logica Spiritus Sancti sprach, in welchem gerade die praxis Davidica der Psalmen geübt wird 1 2 1 , und in der Predigtlehre Hülsemanns, wo von der Umsetzung von Lehre in Mahnung, Warnung und Trost die Rede ist, welche auf die jeweilige Person des Hörers zugespitzt werden muß - descensus ad singularia122. 116 Bei Kemp, 37. D i e Verbindung mit dem Anliegen Arndts und Gerhardts, die Gottseligkeit, die pietas, zu üben, wird hier deutlich. 117 Ebeling, Vorrede zum ersten Dutzend, in: D e r Protestantismus des 17.Jahrhunderts, 289. 118 Feuerlein, Vorrede, )(II r - ) ( Ι Ι Γ . 1)9 So kann auch Conrad Tiburtius Rango miteinander verbinden: „ohne Glaube / ohne Andacht", V o n der Musica, 26. 120 Hutter, Comp. X I I , 1 2 - 1 5 (55 f.). S. o. S. 67 ff.
Die Poetik von Paul Gerhardts Liedern als geistlicher Dichtung
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Im Zusammenhang der Poetik des geistlichen Liedes, die Gerhardts Liedern zugrundeliegt, ist „Andacht" ein Zentralbegriff. Wird in diesem Begriff der Aspekt der Verinnerlichung betont, dann kann er zur Begründung eines einfachen, „niedrigen" Stils benützt werden: Aller als äußerlich eingeschätzter Schmuck soll wegfallen, allein auf die Einfalt der Herzens kommt es an, das sich ganz auf das Eine ausrichtet, das not tut. Allerdings liegt in dem Begriff der Andacht auch die Wendung zum Persönlichen, zu Trost und Mahnung, zum Affekthaften. Und so kann das andächtige Singen zur Entfaltung des ich-bezogenen affektgeladenen Gehaltes einer Lehre führen, wie dies auch in den meisten Liedern Paul Gerhardts geschieht. Der Begriff Andacht vermittelt den Übergang von der Lehre zu den anderen genera dicendi und zum affectum movere und darüber hinaus auch noch zum delectare, wenn die Schönheit Gottes, vermittelt über die Schönheit der Sprache, dazu dienen soll, ein trostbedürftiges Gemüt in der Andacht zu erquicken. Dieser ganze Zusammenhang ist impliziert in dem bereits als Beleg für Gerhardts Anliegen poetischer Schönheit zitierten Widmungsgedicht für Johann Heintzelmanns Deutschen Psalter. Die erste Strophe lautet dort ganz 123 : David sang in seiner Sprachen Manches schönes, liebes Lied, Wenn die Feind' ihm sein Gemüt Und betrübtes Herze brachen. Und so oft er also sang, Kam der Feind' ihr Untergang.
Alles hier Ausgesagte kann auf eine Poesie übertragen werden, welche sich an diese biblische Poesie hält 124 , wie es in der vierten und letzten Strophe heißt: Gott verleihe seine Gabe, Daß dies deutsche Psalterspiel In dem Himmel oft und viel Große Kraft und Nachdruck habe. Der des David Stimm' erhört, Hör auch, was dies Buch uns lehrt.
Die Autorität des Bibelwortes, die Vollmacht des Bittgebetes, die tröstende Kraft der daraus erwachsenden Zuversicht, Lehrhaftigkeit, Affektgeladenheit und poetische Schönheit sind hier miteinander verbunden. m
S. o. S. 86. Bei BUNNERS, Paul G e r h a r d t , 364, vgl. oben S. 215. 124 In der Tat wurde von Dichtern des 17.Jahrhunderts der Nachweis geführt, daß die Bibel selbst die Legitimation dafür gibt, daß eine rhetorische und poetische Ausgestaltung mit der Reinheit des docere vereinbar sind, s. DYCK, Rhetorische Argumentation und poetische Legitimation; ders., Ticht-Kunst, 135-173; STEIGER, Rhetorica sacra seu biblica, passim. ш
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
3.3. Docere, Movere und Delectare in der Dichtung Paul Gerhardts und ihr Bezug zu dem Leidproblem Es ist im Verlauf dieser Untersuchung an den Gedichten Paul Gerhardts selbst gezeigt worden, daß sie gleichermaßen drei Zwecke verfolgen: die Mitteilung von Lehre, die Bewegung des Gemüts, das Erwecken von Wohlgefallen durch sprachliche Schönheit. Dies wird bestätigt durch Beurteilungen von Gerhardts Werken aus der Feder seiner Zeitgenossen, in welchen ihre poetologischen Voraussetzungen wirksam wurden. So kann schließlich zusammenfassend dargelegt werden, in welchem Verhältnis diese drei Zweckbestimmungen zueinander stehen und welche Relevanz dieses Zusammenspiel für unsere Frage nach Gott und dem Leid hat. Aus den ersten Rezensionen von Gerhardts Liedern geht hervor, daß alle drei Aufgaben, die des docere, des movere und des delectare, von einem Kirchenlied erwartet wurden und ein solches nach diesen Kriterien geprüft wurde. So stellt das Gutachten der theologischen Fakultät Greifswald zu der Ebelingschen Ausgabe von Gerhardts Liedern fest, daß sie Gottes Wort entsprechen und nichts Synkretistisches enthalten, wie ja auch von einem Mann wie Gerhardt zu erwarten, der seines Widerstands gegen den Synkretismus wegen sein Amt verloren. Dies wird aber im Zusammenhang mit der Auffassung ausgedrückt, daß wahre „geistreiche" Psalmen im Herzen zu reden, singen und spielen seien - womit der Affekt angesprochen ist. Hinzugefügt wird dann noch, daß die Melodien Ebelings lieblich und diese Lieder wohlklingend seien 125 . Thomas Crenius bekennt: „Die Gedichte und Lieder dieses Gerhardts tragen solchen Geist und eine solch große Kraft, das Gemüt zu bewegen mit sich, daß ich selten ohne Tränen jene Lieder gesehen habe." 126 Conrad Tiburtius Rango legte großen Wert auf die Reinheit des Glaubens in Kirchenliedern. Die Lieder, sagte er, seien Glaubensbekenntnisse. Diese These wird von ihm dann so fortgeführt, daß die meisten Lieder „entweder ein Stück des Glaubens" seien „oder [sie] handeln von Sitten und Trost." 1 2 7 An dieser Stelle wird also ausdrücklich gesagt, daß für das Kirchenlied dieselbe Lehre von den fünf genera dicendi zugrundegelegt wurde wie für die geistliche Rede im engeren Sinne und somit in einem Lied Lehre nicht nur unmittelbar mitgeteilt, sondern auch in ihre verschiedenen Gebrauchs125
Das Gutachten bei BUNNERS, Paul Gerhardt, 360 f. „Carmina istius Gerhardi & cantiones . . . tantum spiritum, tantamqve vim commovendi secum ferunt, ut sine lacrymis ego raro illas cantatas viderim." Später heißt es noch: „Est enim singularis qvaepiam hujus in Theologi carminibus commovendi vis, qvae ob verba scripturae sacrae vel Spiritus Sancti tenacissime ac summo studio retenta magnaqve venae ас naturae facilitate & ingenti cura rythmo inligata apud ceteros non temere reperitur." Thomae Crenii Animadversiones Philologicae et Historicae, 1698, Pars III, Caput IV, § X (179 f.), 126
b e i PETRICH, 3 4 2 , A n m . 3 8 3 z u S. 2 9 8 ; b e i ECKART, 20. 127
Rango, Von der Musica, Alten und neuen Liedern, Vorrede, 26.
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formen umgesetzt wurde 1 2 8 . Außerdem sagt Rango: „Der Gesang ermuntert mit Lust das Gemühte / machet herzliches Verlangen nach dem / davon man singet.", spricht also von der Affektbezogenheit des Kirchenliedes 129 . Schließlich hebt er polemisch stark hervor, daß es in den Liedern nicht auf die poetische Zierlichkeit, sondern auf die wahre Lehre, Geist und Saft ankomme - so, wie es auch bei einem Arzt darauf ankomme, daß er wohl kurieren und nicht bloß etwas zierlich vorschwatzen könne. Aus dieser Bemerkung geht aber gerade hervor, daß poetische Zierlichkeit durchaus eine Eigenschaft der damaligen Lieder war und - nach verbreiteter Auffassung - sein sollte 130 . Die Bemerkung Neumeisters wurde bereits zitiert, der zufolge sich Gerhardt in seinen Liedern nicht nur dadurch auszeichne, daß er „perspicuus" sei - was der Aufgabe des Lehrens zugerechnet werden kann - sondern auch dadurch, daß er „dulcis" sei 131 . Johann Heinrich Feustkings Lobpreis der poetischen Schönheit von Gerhardts Liedern haben wir bereits erwähnt 1 3 2 . Er verbindet dies mit dem Urteil, daß sie zugleich „Geist" und „Krafft" haben, wobei er, ähnlich wie Rango und das Greifswalder Gutachten, damit auch die Wahrheit der vom Heiligen Geist gewirkten Lehre dieser Lieder meint. So sagt er, „die Redens = Arten sind schriftmäßig/ die Meynung klar und verständig". Die Summa seines Urteils lautet denn auch: „alles ist herrlich und tröstlich/ daß es Safft und Krafft h a t / hertzet/ afficiret und tröstet." 1 3 3 Besonders aufschlußreich sind seine Ausführungen über die „charismata poötica" und die verschiedenen Arten von Liedern, die zu dichten sie dienen 134 . Die Kategorie der „Glaubenslieder" entspricht dabei wohl demjenigen Begriff von Kirchenlied, in dem in der Tat nur an die Lehre gedacht wird: eine reimweise Fassung der Glaubensartikel. Feustking sagt selbst, daß Gerhardt nur wenige Lieder solcher Art geschrieben habe 135 . Bei den anderen Liedarten wird hingegen die jeweilige Wirkung auf das Gemüt besonders hervorgehoben. Nach diesen Ansprüchen an das Kirchenlied und seine Untergattungen richtet sich auch das Lob Gerhardts: Über seine wenigen Glaubenslieder müsse man sich verwundern - womit 128
Vgl. oben S. 83 ff. Rango, 11. 130 Rango, 29. Die hier von Rango vertretene Position paßt durchaus zu LEUBES Charakterisierung, er sei der „lutherische Ketzerhammer" dieser Zeit gewesen, HANS LEUBE, Pietismus, 117. An dieser Stelle rühmt Rango zugleich Paul Gerhardts Lieder als besonders von theologischem Geist erfüllt, abgedr. bei PETRICH, 167. 131 S.o. S. 201. 132 S.o. S. 209, bei Anm. 58; S. 214, bei Anm. 83. Ausdrücklich nennt Feustking, )()(3v, die Lieder nach Arndt-Gebeten, CS 78 und 79, schön. 133 Feustking, Vorbericht,)(9r -)(9v. 134 S. o. S. 93. 135 Feustking, Vorbericht, )(10v. Nimmt man an, d a ß Feustking diese Kategorie mit der Rubrik der Katechismuslieder in seiner Ausgabe identifiziert hat, dann meint er damit die Lieder CS 34 (Abendmahl), 45 und 46 (Ehestand) und 111 (das Moselied). 125
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wohl das didaktische Geschick Gerhardts in diesen Liedern gemeint ist. U b e r die Bußlieder müsse man weinen, über die Trost- und Freudenlieder sich ergötzen. Diese Bemerkungen werden durch die Darlegungen Augustins in ,De doctrina christiana' erhellt, die f ü r die damalige Theorie geistlicher Rede und Dichtung grundlegend waren 1 3 6 . Das Weinen ist Ausdruck höchster Affiziertheit. Eine solche zu erreichen, ist in einem Bußlied nötig, denn darin soll ein Mensch nicht nur belehrt, sondern dazu gebracht werden, etwas zu tun - eben Buße zu tun, und zwar soll dies ein Mensch tun, der diesem Tun an sich stärkstens widerstrebt - eben weil er sündig ist. Das Ergötzen - also dasjenige, was auch durch poetische Schönheit vermittelt wird - ist als Affekt betrachtet hingegen von mittlerer Stärke. Es entspricht einem ausgeglichenen Zustand, in dem sich die Spannungen gelöst haben. Augustin bezieht das delectare ausdrücklich auf das Lob Gottes, was Feustking mit „Freudenlied" meint. Schreibt dieser dem Trostlied ebenfalls das „Ergötzen" zu, dann wohl deswegen, weil es gerade die Aufgabe des Trostliedes ist, einen solchen ausgeglichenen Seelenzustand herbeizuführen, in welchem man Freude empfindet. Eine besonders starke K r a f t der Affektion bezeugt Feustking schließlich von den Passionssalven an die leidenden Gliedmaßen Jesu (CS 18-24), „welche so beschaffen seyn / d a ß sie der Mensch ohne innerliche Bewegung und Rührung seiner Seelen nicht kan lesen oder absingen." 1 3 7 Lehre, Bewegung des Gemüts und Erweckung von Wohlgefallen aufgrund sprachlicher Schönheit sind also in der ersten Generation, aus welcher Urteile über Gerhardt überliefert sind, aus der Zeit zwischen dem Erscheinen der Ebelingschen Ausgabe bis zur Feustkingschen 30 Jahre nach Gerhardts T o d , die Aufgaben, die ein Kirchenlied zu erfüllen hat. Dabei werden, auch bei Feustking, diese drei Aufgaben nicht gänzlich voneinander getrennt auf verschiedene Gattungen von Liedern verteilt, sondern sie kommen, wenn auch dem M a ß e nach verschieden, jeder oder jedenfalls fast jeder Gattung zu und stehen stets in einem Zusammenhang miteinander. Eine Entgegensetzung, die Gerhardts Lieder als Herzens-, nicht als Hirnpoesie kennzeichnet, wie sie 1708 Johann Philipp Treuner in seiner Vorrede vorbrachte, ist jener Auffassung des geistlichen Liedes noch fremd 1 3 8 . D e r Zusammenhang der drei Aufgaben wird dabei dadurch konkretisiert, d a ß es sich bei solcher Dichtung um geistliche Dichtung handelte. Denn die Wahrheit, die in ihr gelehrt wird, ist mit G o t t identisch und
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Augustin, De doctrina christiana, IV, xii-xvi, insbes. xii,27-xiii,29; xvii,34; xix,38; xxiv,53f.; vgl. KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 408; 412. 137 Feustking, Vorbericht,)(1 lr. 138 Treuner, Auszug bei ECKART, 1 6 . - Die sprachliche Schönheit wird von Treuner allerdings gerühmt. - BUNNERS, Paul Gerhardt, 2 6 1 , rechnet Treuner der „Liedauffassung des Pietismus" zu.
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wiederum mit der Schönheit an sich. Die geistliche Poesie ist wahr, indem sie recht von Gott lehrt, und indem sie das tut, ist sie auch schön. Denn ihre Sprache hat Anteil an der Schönheit Gottes, von dem sie wahr lehrt, der Schönheit, an der Anteil habend alles andere Schöne erst schön ist. Die Transzendentalien des Wahren, des Schönen und des Guten - Gott als Gegenstand des Wollens, des Affektes der Liebe - sind in Gott vereint; in ihm laufen die drei Aufgaben der Poesie zusammen 139 . Dies ist letztlich der Fall bei aller Poesie, wie denn Opitz zu Beginn des II. Kapitels seiner Poetik ,Worzü die Poeterey / vnd wann sie erfunden worden' erklärte: „Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie / vnd vnterricht von Göttlichen sachen." 1 4 0 Opitz bezieht sich dabei auf die in den Dichtungen Homers und anderer Griechen ausgebreitete Mythologie und spricht das Problem an, inwiefern erdichtete Wirklichkeit Wahrheit enthalten könne. Opitz führt seine These so aus, daß Dichtung eine allegorische Figur der theologischen Wahrheit darstelle. Die Dichter hätten diese Darstellungsweise gewählt, weil sie sich dem Fassungsvermögen der Menschen hätten anpassen müssen. Buchner, demzufolge „die Poeterey in Wahrheit eine Philosophie ist" 1 4 1 , verbindet diesen Topos von der Dichtung als verborgener Poesie mit dem von der Dichtung als versüßter Arznei, der bereits oben dargestellt worden ist 1 4 2 . Für die geistliche Poesie ist diese Vermittlung hingegen nicht in derselben Weise notwendig, denn sie spricht ihre Lehre unmittelbar aus, wenn auch in einer auf den Rezipienten besonders eingerichteten Form, und die Pille, die sie gibt, hat nicht nur eine süße Umhüllung, ihr Kern ist noch süßer. Mit Andacht vollzogen, führt die geistliche Poesie in die Wirklichkeit hinein, von welcher die weltliche Poesie nur ein Gleichnis bieten kann. So sind die drei Aufgaben der Dichtung in der geistlichen jeweils aufeinander beziehbar. Bewegung des Gemüts und, als eine besondere Gemütsbewegung, Erweckung von Freude durch poetische Schönheit können als Hilfsfunktionen der Lehre angesehen werden. Umgekehrt kann aber auch die Kenntnis der Lehre als eine notwendige Voraussetzung dafür betrachtet werden, daß der Mensch in eine wirkliche Beziehung zu Gott Eine Zusammenstellung von Transzendentalien bietet Gerhardt CS 37, 10,6-10: „Gott ist das Größte, / Das Schönste und Beste, / Gott ist das Süßte / Und Allergewißte, / Aus allen Schätzen der edelste Hort." 140 Opitz, Poeterey, В Г / Ges. Werke H / 1 , 3 4 4 , dort, Anm. 1, eine ähnlich lautende Ronsard-Stelle angegeben. Zu der Thematik s. BACHEM, Dichtung als verborgene Theologie; ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 221-234. Die These kann zurückgeführt werden bis auf Aristoteles, Metaphysik, 1,3, 983b 27. 141 Buchner, Poet, 22. 142 S.o. S. 198. Grimmelshausen hat diesen doppelten Topos auf sein eigenes Romanwerk angewandt, also die darin enthaltene dichterische Darstellung der Wirklichkeit des Dreißigjährigen Krieges als Umkleidung der Wahrheit, die dadurch vollzogen wird, daß man, wie Simplicissimus es als Einsiedler tut, die Welt verläßt: Der abenteuerliche Simplicissimus, Continuatio, Kap. 1 (485 f.).
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tritt, mit allen Affekten, die auf beiden Seiten dabei wirksam sind. Derjenige Affekt, zu dem alle anderen Affekte des Menschen hinführen, ist die Freude. Der Mensch gewinnt Freude an der Schönheit Gottes, und diese Schönheit Gottes wird eingeschlossen in der Rede, die Gott an den Menschen richtet. Auf diese Rede antwortend, Gottes Schönheit lobend, wird des Menschen eigenes Sprechen selber schön. Welche Stillage die Lieder Paul Gerhardts dabei einnehmen, wird von seinen ersten Beurteilern nicht vermerkt. Die durch Cicero bestimmte Tradition verband, ausgehend von den Belangen der Gerichtsrede, das bloße Lehren mit dem niedrigen Stil, das Ergötzen mit dem mittleren und die kräftige Bewegung des Gemüts mit dem hohen Stil. Augustin ordnete, diese Einteilung auf die christliche Predigt anwendend, das Ergötzen wiederum dem Lob Gottes zu und die kräftige Gemütsbewegung der Bußrede 1 4 3 . Diese Anordnung hat als Kriterium die Steigerung der Gemütsbewegung: auf der ersten Stufe gar keine, dann mehr - die Freude wird hier als ein mittelstarker Affekt aufgefaßt - , schließlich das Höchstmaß. Der hohe Stil muß dementsprechend nicht das H ö c h s t m a ß an sprachlichem Schmuck enthalten 1 4 4 . Von der Stärke des Affekts betrachtet können die oben genannten „Historien"- und „Lehrlieder" Paul Gerhardts dem niedrigen Stil zugeordnet werden 1 4 5 , die Bußlieder, die Passionssalven und ähnliche Lieder entsprechend Feustkings Urteil dem hohen Stil, die meisten Lieder aber, ihrem Lobcharakter entsprechend, dem mittleren Stil. Würde man den sprachlichen Schmuck als Kriterium anlegen, dann würden mehr oder weniger alle Lieder Paul Gerhardts, die erstgenannte Gruppe ausgenommen, in der mittleren Lage einzuordnen sein. D a ß sie poetische Schönheit besitzen, ist gezeigt worden. Vergleiche mit zeitgenössischen Dichtungen, die einhellig dem hohen Stil zugerechnet werden, wie denjenigen des Gryphius, zeigen, daß sich Gerhardt der poetischen Schmuckmittel jedoch eher maßvoll bediente 1 4 6 . Wie sehr damaligem
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Cicero, Orator, 21, 69; Augustin, De doctrina Christiana IV, xvii,34. Augustin, De doctrina Christiana IV, xx,42. 145 S.o. S. 222, bei Anm. 106. 146 WINDFUHR, 370-372, setzt Gerhardt von den Vertretern des „barocken Extremstils" (370), ab, ohne jedoch die damals gültige Dreistil-Lehre zu beachten. ARNDAL, H . A . Brorson und die Tradition des reformatorischen Kirchenliedes in Deutschland, 112, ordnet Gerhardts Lieder dem mittleren Stil zu, „dessen Affektgrad der Ethos ist, ein Gefühl, das auf die pathetisch bewegende Sprache des hohen Stils verzichtet und den Zuhörer eher durch O f fenheit, Ehrlichkeit und Eindringlichkeit bewegt." Für den mittleren Stil plädiert auch LOTHAR SCHMIDT, 297. IRMGARD SCHEITLER, Das Geistliche Lied im deutschen Barock, 127, Anm. 97, weist darauf hin, daß Gerhardt „keineswegs nur einfache Lieder" verfaßt habe. Die Geltung von KRUMMACHERs These, in der geistlichen Dichtung habe lange im 17. Jahrhundert der niedrige Stil vorgeherrscht, ist also einzuschränken, s. SCHEITLER, 124-141. Die These Erdmann Neumeisters, wonach das Kirchenlied zum mittleren Stil gehöre, von KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 423, Anm. 50, als Ausnahme bezeichnet, wird doch von SZYROCKI, Die deutsche Literatur des Barock, 269; Nachwort zu ,Poetik des Barock', 260 f., nicht ohne 144
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Gemeinverständnis die Klarheit der Aussage in den Passionssalven verdunkelt wurde, wo Gerhardt sich der Ausdrucksformen des geistlichen Petrarkismus bedient, muß hier offen bleiben. In den meisten Liedern Gerhardts sind die drei Aufgaben der Lehre, der Bewegung des Gemüts und des Erfreuens gleich stark ausgeprägt und halten einander in Balance. Gerhardts Dichtung gewann dadurch ein gleichsam klassisches M a ß oder einen volksliedhaften Charakter 1 4 7 , der sie für so breite Schichten und über so lange Zeit hinweg beliebt machte. Doch sind in dieser Dichtung sowohl die nur mit dem geschärften Verstände zu erfassenden Distinktionen und Beweisgänge der Hutterschen Dogmatik verborgen wie auch die gleichen affektiven Abgründe und Aufschwünge, die bei Andreas Gryphius so erschütternden Ausdruck erhielten 148 . In den Zusammenhang dieser drei Aufgaben der Dichtung ist nun auch einzuordnen, welches Verhältnis zum Leid der sich mit den Liedern Paul Gerhardts Identifizierende einnimmt: Als Gegenstand der Lehre erscheint das Leid als Gegenargument gegen eine göttliche Vorsehung, gegen die Existenz von Allmacht und Güte Gottes. Das Leid ist also Gegenstand einer Reflexion, in welcher der nachdenkende Mensch durch das Abwägen einander widersprechender Argumente ein Problem zu lösen sucht. Ein Problem zu lösen heißt, eine den Forderungen des Verstandes befriedigende Sicht der Dinge zu erlangen. Die Durchführung dieser Lösung in der rein lehrhaften Form, wie wir sie bei Hutter studiert haben, zeigt jedoch, daß die Ebene der Reflexion, die in der Form von Lehre dargestellt werden kann, verlassen werden muß. Die Lösung des Problems verlangt, daß der Mensch nicht auf dem Standpunkt des Reflektierenden, des Betrachtenden verweilt, der seine Sicht der Dinge zu klären wünscht. Vielmehr muß er sich von der geistigen Schau, der theoria, zum Tätigsein, zur praxis, begeben. Diese praxis wird grundsätzlich, bei Hutter wie bei Gerhardt, darin gesehen, daß der Mensch vor Gott tritt. Er vollzieht die praxis des Glaubens. Und zwar vollzieht sich
Recht generalisiert worden sein. - Mir scheint, eine weitere Bearbeitung des Themas der geistlichen Poetik wird auch in Betracht ziehen müssen, ob es sich bei dem biblischen Stoff der Nachdichtungen um die erzählerischen Stücke der Evangelien handelte wie bei Gryphius' ,Tränen über das Leiden Jesu Christi' oder um die Psalmen, wie dies vorherrschend bei Gerhardt der Fall war. 147 AELLEN, 65 f.; PACHALY, 503, und PETRICH, 270, schreiben Gerhardts Stil einen volkstümlichen Ton, eine Nähe zum Volkslied zu. In der Tat mag das Kirchenlied als Kunstlied aufgrund seiner Einordnung in den niederen oder mittleren Stil Elemente des Volkslieds aufgenommen haben können. Ein Beispiel dafür bietet die aus dem Volkslied stammende Formel „Du bist mein, ich bin dein", die, Cant 2,16; 6,2 verwandt, Gerhardt zur Beschreibung der Seinsgemeinschaft aufnehmen konnte, s. HAUFE, 65 f. 148 HAUFE hat die Merkmale Gerhardtscher Dichtung, die mich zu dieser Einschätzung kommen lassen, mit dem Begriff des „Wohltemperierten" bedacht: Das wohltemperierte geistliche Lied Paul Gerhardts. Dies mag angehen, doch versteht er darunter, daß Gerhardt die Spannungen, die Extreme, welche in den Gegenständen seiner Dichtung gegeben sind, zurechtstutzte und abdämpfte, nicht aber, wie ich meine, bloß verberge.
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diese praxis als Rede des gläubigen Menschen zu dem ihn anredenden Gott. So wird das Leid von einem Gegenstand der Theorie zu einem solchen der praktizierten Rhetorik. Diese hat zwei Teile, welche in der geistlichen Dichtung durch den Begriff Andacht miteinander verklammert sind. Der erste besteht in der verschiedenfachen Umsetzung eines Themas in den fünf genera dicendi. Gottes Vorsehung wird dabei zur Verheißung an den gläubigen Menschen, das Leid wird zur Gefährdung dieser Verheißung. Indem Gottes Verheißung trotz des Leides, ja sogar, indem sie es benutzt, sich durchsetzt, wird sie zum wirksamen Trost, den Gott dem leidenden Gläubigen zuspricht. Die Rede des Menschen an Gott ist dementsprechend Bittgebet, in welchem er diese Verheißung für sich in Anspruch nimmt, und Lob Gottes, weil Gott ihn aus dem Leid errettet. Der andere Teil der rhetorischen Behandlung des Leidthemas ist die Behandlung der Affekte. Das Ziel von Gottes Vorsehung ist die unumschränkte Freude des Menschen. Das Leid bewirkt, dieser Freude entgegengesetzt, Schmerz. Führt die „Lösung" des theoretisch gestellten Leidproblems aus der Sphäre theoretischer Lösungen hinaus in die Sphäre der Praxis eines Gesprächs zwischen Gott und dem Menschen, dann müssen auch die Affekte dieser beiden Gesprächspartner miteinbezogen werden. Der Mensch drückt seinen Schmerz aus in der Klage, die er vor Gott bringt. Durch diese Klage bewegt er das Gemüt Gottes. Er erregt Gottes Mitleid und veranlaßt ihn zum Eingreifen. Gott wiederum sucht durch seine Trostrede in dem Menschen Zuversicht und Vorfreude zu erwecken, um den Schmerz des Menschen zu stillen und sein Gemüt zu beruhigen. Dieser affektgeladene, rhetorisch bestimmte Umgang mit dem Leid führt aber nun auch zu seiner poetischen Formgebung. Denn die höchste Freude, zu welcher Gottes Verheißung den Gläubigen durch das Leid hindurch hinführt, ist die Freude, die er in der liebenden Gemeinschaft mit Gott hat. Diese Freude ist der Genuß der Schönheit Gottes. Wenn aber das gemeinsame Gespräch, das Sich-Anreden, ein wesentlicher Aspekt dieser Liebesgemeinschaft ist, dann formt die Wohlgefallen erregende Schönheit Gottes sich folgerichtig auch in den Mitteln der Sprache aus. Das heißt: die Rede des liebenden Gottes an den Menschen und die Rede des Menschen, der auf Gottes Liebe mit Gegenliebe antwortet und ihm so mehr und mehr ähnlich wird, verlangen nach poetischer Schönheit. So ist die angemessene Sprache des Glaubens die poetische, ja die musikalische. Die lehrhafte Sprache der Theologie ergibt sich nur durch eine Abstraktion, einen Auszug aus jener Sprache. Entsprechend wird das „Leid-Problem" von der dogmatischen Ebene auf die poetische transponiert - oder vielmehr: es erweist dort seine Relevanz in einem vielfach dimensionierten Ganzen 1 4 9 . 149 Man kann in diesem Weg des „Leid-Problems" aus der Theorie in die Poesie eine gewisse Gemeinsamkeit mit der Hiob-Auffassung GERD THEOBALDS feststellen: Hiobs Botschaft. Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodizee.
D i e Bedeutung der Musik
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Damit ist aber das Problem gestellt: Wie verhält sich das Leid zur Schönheit und Süßigkeit der Poesie? Ich habe dieses Verhältnis bereits angesprochen, wo es um die Verwandlung, die Versüßung des Leids, um die Süßigkeit der Trostrede und die Schönheit des menschlichen Lobgesangs ging. In der Auslegung der Salven an die Gliedmaßen des leidenden Christus soll die Verflechtung von Liebe, Leid, Süßigkeit und Poesie eingehend betrachtet werden. Doch bevor dies geschieht, soll noch ein Blick auf den Umstand geworfen werden, d a ß die geistliche Poesie Paul Gerhardts mit Musik verbunden werden sollte.
4. Die Bedeutung der Musik Es ist deutlich geworden, d a ß diese Betrachtungen sich auch noch auf den Sachverhalt erstrecken müssen, d a ß Paul G e r h a r d t die weitaus meisten seiner Gedichte geschrieben hat, damit sie gesungen werden. Es ist damit die Frage nach der Bedeutung der Musik f ü r seine Dichtung gestellt. Zugleich liegt auf der H a n d , d a ß diese Frage nur an der äußersten Grenze dieser Untersuchungen erörtert werden kann. Handelt es sich doch erstens darum, d a ß die Musik - genauso wie die Sprache - hier einzig deswegen und eigentlich nur zur Betrachtung kommt, weil der eminent theologische Ausgangspunkt dieser Studie es in strenger Konsequenz erfordert. Zweitens ist die Musik der Lieder Paul Gerhardts nicht selbst Gerhardts Werk, sondern die seiner Kantoren J o h a n n Crüger und Johann Georg Ebeling bzw. der früheren Komponisten, deren Melodien seinen Liedern unterlegt wurden 1 5 0 . So sagen auch die Texte von Gerhardts Liedern selbst nichts Spezifisches über die Verbindung von W o r t und Musik aus außer dem Grundsätzlichen, d a ß das Lob Gottes gesungen wird. Eine Reflexion dieses Grundsätzlichen ist zu finden vor allem in den Vorreden der Gesangbücher, in denen Gerhardts Lieder veröffentlicht wurden. Diese Vorreden wurden gerade von den Komponisten verfaßt, welche die Gerhardt-Lieder vertonten, von Crüger in den Berliner Ausgaben der , Praxis pietatis melica' bis zu der letzten vor seinem T o d e , welche 1661 erschien, von Ebeling in den Vorreden der zehn H e f t e , in welchen er Gerhardts Lieder 1666-67 dutzendweise unter dem Titel ,Geistliche Andachten' veröffentlichte 1 5 1 . Außerdem 150 Arbeiten, welche eine umfassende Betrachtung des Textes und der musikalischen Einfassung der Lieder Paul Gerhardts in Angriff nehmen, stammen vor allem von dem verstorbenen WALTER BLANKENBURG, S. das Literaturverzeichnis. Einen Horizont der Zusammenhänge von Musik, Frömmigkeit und Theologie im 17. Jahrhundert entwirft das Werk von
CHRISTIAN BUNNERS, K i r c h e n m u s i k u n d 151
Seelenmusik.
Die Vorreden Ebelings sind in der Faksimile-Ausgabe, hg. v. Kemp, enthalten, die Vorreden zum ersten und zum siebenten Dutzend wurden abgedruckt in ,Der Protestantismus des 17.Jahrhunderts', hg. v. Winfried Zeller, 287-289; 289-291.
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wird die Vorrede Christoph Runges zu der Berliner , Praxis pietatis melica' von 1662 herangezogen, der, als Drucker und Verleger dieses Gesangbuches, nach Crügers Tod an seine Stelle als Herausgeber trat, sowie die Vorreden der Frankfurter Ausgaben der ,Praxis' von 1662 und 1666, eine Ode auf die Ebelingsche Ausgabe, verfaßt im Namen des Kollegiums des Berliner Gymnasiums, und das Gutachten der Greifswalder Theologischen Fakultät zu derselben 152 . Eine Betrachtung dieser verschiedenen Texte zeigt nun, daß der Musik die gleichen Aufgaben zugeschrieben wurden wie der Poesie. Erstens dient die Musik dem docere: In der Vorrede zum neunten Dutzend rühmt Johann Georg Ebeling die Fähigkeit der Musik, die Erziehung zu fördern: die Erziehung zur Gottesfurcht und zur wahren Erkenntnis Gottes 1 5 3 . Ahnlich heißt es in der Vorrede zu der Frankfurter , Praxis pietatis melica' von 1666, daß durch den Gesang „Erweckung der Andacht und Gottseligkeit" geschieht, „Dieweil dadurch das wahre Erkäntniß und die rechte furcht Gottes einem menschen von kindesbeinen an / beydes daheim zu hause und in der öffentlichen Kirchenversammlung / eingepflantzet wird. Ja, nicht allein den Jungen / sondern auch den Alten wird durch den Gesang die seligmachende Lehr gleichsam eingeflösset / und so starck in das hertz gebildet / daß es so leichtlich nicht darauß zu bringen / und gehet / wie man sagt: Jung gewohnt / alt gethan . . ," 154 . Solche Äußerungen knüpfen damit an eine von Melanchthon formulierte Auffassung an, welche für den Umgang mit der Musik in der lutherischen Kirche bestimmend war. Melanchthon sagt: „Zweifellos ist die Musik vor allem der heiligen Dinge wegen dem Menschengeschlecht gegeben worden. Erstens, damit durch den Gesang, gleichwie durch die Buchstaben, die von Gott gegebenen Offenbarungen bewahrt und verbreitet werden. Denn die Erinnerung an Rhythmen und Gesänge ist dauerhafter." 1 5 5 Vers und
152 CHRISTIAN BUNNERS hat in seinem Aufsatz ,Singende Frömmigkeit' die Widmungsreden Crügers zu den Berliner Ausgaben der ,Praxis' von 1640, 1656, 1657 und 1661 untersucht, in dem Aufsatz ,Philipp Jakob Spener und Johann Crüger' die Vorreden der Frankfurter Ausgaben von 1662 und 1666, außerdem die Frankfurter Vorrede von 1668 und die Berliner von 1702. Jene wurde vermutlich, diese mit Sicherheit von Spener verfaßt, der auch die Leichenrede auf die Witwe Crügers hielt. Die Vorreden Speners lasse ich hier außer acht, da sie nach Gerhardts Tod verfaßt wurden und nicht als Teil des ursprünglichen sprachlichmusikalischen Entwurfes angesehen werden können, für den Gerhardt seine Texte verfaßte. 153 J. G. Ebeling, in: Pauli Gerhardi Geistliche Andachten, Vorrede zum neunten Dutzend. 154 P.p.m. Frankfurt 1666, 5b. Zit. nach Bunners, Philipp Jakob Spener und Johann Crüger, 109. Die Vorrede der Frankfurter P.p.m. von 1662 stimmt weitgehend mit der von 1666 überein. 155 „Non dubium est musicam generi humano praecipue datam esse, sacrorum causa, Primum vt cantu, tanquam literis conservarentur & propagarentur oracula divinitus tradita, Durabilior est enim numerorum & Carminum memoria ...", Melanchthon, Vorrede zu: Tenor. Selectae Harmoniae, Β1.ΑΑΓ, zit. nach KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 117, bei Anm.97. Zu dem gesamten Zusammenhang von der Unterstützung des docere durch Vers und Musik
Die Bedeutung der Musik
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Melodie dienen also dadurch der Lehre, d a ß sie das W o r t besonders einprägsam machen. Dieser Gedanke wurde bereits in der alten Kirche überliefert, und der T o p o s von der versüßten Arznei, den wir bei dem Vergleich von Poesie und Philosophie kennengelernt haben, findet sich bei Basilius von Caesarea auch schon auf die Musik angewandt 1 5 6 . Zweitens dient die Musik aber auch - und dies wird noch mehr betont - dem affectum movere. Dies wurde von Melanchthon in der Fortsetzung der oben zitierten Stelle sogleich hinzugefügt: „Sodann, damit die richtigen Lehrsätze mehr ins Gemüt eindrängen und das menschliche H e r z noch stärker berührten und bewegten." 1 5 7 Christoph Runge entfaltet diesen Gedanken in seiner Vorrede zu der ,Praxis pietatis melica' von 1666 durch eine Reflexion über die drei unsichtbaren Wunder: Schall, Wahrnehmungsfähigkeit des Gehörs und Bewegung des Gemüts. Diese drei Dinge, die wunderbar sind, weil dem Gesichtssinn entzogen, bilden einen Zusammenhang, dessen sich der Heilige Geist bedient. So kann er eine schöne Melodie und eine gute Harmonie dazu gebrauchen, um vermittelst des gehörten Schalls eine Bewegung des Herzens zu bewirken 1 5 8 . Entwickelt Runge diesen Zusammenhang in der Richtung darauf, wie Affekte zu bewirken seien, so legt ihn Ebeling in der umgekehrten Richtung dar, wie dem Herzensaffekt Ausdruck zu geben ist: G o t t hat dem Menschen nicht nur ein Gemüt gegeben, zu empfinden, sondern dazu auch die Fähigkeit, es als Rede mit Mund und Zunge auszudrücken und - dies ist H ö h e p u n k t und Abschluß - die Fähigkeit, diese Rede mit einer Stimme zu singen. Dadurch kann der Mensch seine Empfindungen anderen Menschen mitteilen und sie „erbauen", d. h. als Glieder der Gemeinde Christi stärken. Die Musik übertrifft dabei die Sprache noch an dem Punkt, d a ß sie mit noch geringeren Mitteln zu einer Kunst unendlicher Variation imstande ist. Während die Sprache 24 Buchstaben benutzt, so kann „mit
s. KRUMMACHER, D e r junge Gryphius, 1 1 4 - 1 2 3 , mit einer Vielzahl von Belegen aus d e m 17., 16. und früheren Jahrhunderten, u . a . auch Aristoteles, Rhetorik, III, 1409b. Siehe auch BuNNERS, Kirchenmusik und Seelenmusik, 50 f. 156 Vgl. oben S. 198. Basilius, H o m i l i a in Psalmum 1, M P G 29, 2 1 1 B - C , vgl. KRUMMACHER, D e r junge Gryphius, 118, Anm. 98. 157 M e l a n c h t h o n , Vorrede zu: Tenor. Selectae H a r m o n i a e , Bl.AA'", zit. nach KRUMMACHER, D e r junge Gryphius, 117, bei Anm. 97: „ D e i n d e vt rectae Sententiae magis penetrarent in animos & ferirent ac mouerent hominum pectora vehementius.", vgl. die Belege bei KRUMMACHER, 118, Anm. 98 u. 99, u . a . Plato, Politeia, III, 40 l d . Allerdings meint KRUMMACHER, а. а. O., Anm. 98, d a ß die affektive Bedeutung bei M e l a n c h t h o n im Hintergrund bliebe. D i e s entspricht seiner T e n d e n z , die Funktion der geistlichen D i c h t u n g für das docere im frühen Protestantismus zu betonen gegenüber d e m movere und d e m delectare. D i e s läßt sich aber nicht aus den angegebenen Stellen bei M e l a n c h t h o n sowie den herangezogenen Quellen aus dem Umkreis Paul Gerhardts beweisen. Vgl. auch BUNNERS, Kirchenmusik, 1 2 2 - 1 3 6 . 158 Runge, Vorrede, P.p.m. Berlin 1666, A3'-A3 V .
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
noch viel weniger, etwa sieben oder auf das höchste zwölf merklichen Veränderungen der Stimme man sich nimmermehr aussingen" 159 . Ebeling fährt fort, daß Gott den Gesang den Menschen - wie den Engeln - besonders zu dem Zweck geschenkt habe, ihn zu preisen, so daß „ein gutes, geistreiches Lied mit einer angenehmen und wohl disponierten Melodie gleichsam eine doppelte Schnur ist, welche die Andacht und den Eifer des inneren Menschen mit dem äußerlichen desto mehr und fester verbindet." 160 Der äußere Mensch, d. h. die sinnliche, und weil sinnliche, den anderen Menschen kommunizierbare Seite des Menschen, wird also durch Sprache und Musik mit der „Andacht", der auf Gott gerichteten Gemütsbewegung des inneren, unsichtbaren Menschen verbunden. Ahnlich wie in Runges Vorrede ist es also der auf das Gehör gerichtete, dem Sehen entzogene Charakter der Musik, welcher sie zu einem Verwandten der Sprache macht und zu einem Medium, das zu der Verständigung zwischen Gott und der Seele und zwischen den Seelen der Menschen tauglich ist 161 . Parallel zur Rhetorik bediente sich dabei die Musik des 17. Jahrhunderts einer Affektenlehre, deren Ursprünge ebenfalls in der Antike liegen 162 . Es wäre musikwissenschaftlich zu untersuchen, wie die Vertonungen der Lieder Paul Gerhardts nach einer solchen Affektenlehre gestaltet sind, um die Sprache bei ihrem Zweck zu unterstützen, der Gemütsbewegung des singenden Menschen Ausdruck zu verleihen und selbst solche Gemütsbewegung hervorzubringen. Drittens dient aber die Musik ebenfalls dem delectare. Dieser, auch bei Melanchthon angedeutete Gedanke 1 6 3 , wird von Johann Crüger in seiner Vorrede zu seinem als erste Auflage der , Praxis pietatis melica' gezählten Gesangbuch von 1640 ins Spiel gebracht durch eine allegorische Auslegung des Hohenliedes, Cant 2,10.14: „Stehe auff meine Freundin / und komme / meine Schöne komm her / meine Taube auß den Felslöchern und Steinritzen / zeige mir deine gestalt / und Iaß mich hören deine Stimme / denn deine Stimm ist süsse." Crüger legt dies aus als eine Anrede Christi an seine Braut, der Kirche bzw. deren einzelnen Gliedern, und erklärt, Jesus ansprechend: „Und zeigest damit an / wie dir unter andern höchlich und hertzlich wolgefalle / wenn du hörest / wie sie ihren Mund auffthut / Ihre stimme erhebet / und ein andächtiges Gebet oder Danckliedlein in159
Ebeling, Vorrede zum ersten Dutzend, in: Der Protestantismus des 17.Jahrhunderts,
288. 160
Ebeling, Vorrede zum ersten Dutzend, in: Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, 288 f., Zitat 289. „Geistreich" heißt dabei so viel wie „vom Heiligen Geist erfüllt". 161 Ähnliches auch in der Vorrede der P.p.m. Frankfurt 1662 und 1666, dort 6b, s. Bunners, Philipp Jakob Spener und Johann Crüger, 109. 162
163
Siehe WALTER SERAUKY, Art. A f f e k t e n l e h r e ; WERNER BRAUN, Art. A f f e k t .
So spricht er von „blandae & dulces melodiae", Vorrede zu Tenor. Officiorum de Nativitate Circumcisione . . . , Tomus primus, Β1.Α2Γ, vgl. CR 10,96, zit. nach KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 117. Vgl. auch BUNNERS, Kirchenmusik, 125, Anm.63.
Die Bedeutung der Musik
239
toniret / vnd singet . . . " 1 6 4 . D i e M u s i k gehört also zu dem liebenden U m g a n g , dem Liebesgespräch zwischen Christus und dem Gläubigen. D i e singende Stimme des Gläubigen ist süß und erfreut den geliebten Bräutigam J e s u s . U n d in den Titeln der .Praxis pietatis melica' wird seit 1647 hervorgehoben, daß diese G e s ä n g e schön seien 1 6 5 . C r ü g e r übernimmt diese Ausdeutung des H o h e n Lieds auf die Süßigkeit des G e s a n g s in den V o r reden von 1656 und 1657 und fügt das M o t i v von der Fortsetzung des irdischen L o b g e s a n g e s in dem Lobpreis der Engel und der Seligen hinzu 1 6 6 . In den Vorreden von 1653 und 1661 verteidigte er auch den Gebrauch von Musikinstrumenten für die Kirchenmusik aufgrund biblischer Beispiele, ähnlich wie Hutter es gegenüber den Calvinisten tat. D e r Zweck der Instrumentalmusik ist ebenfalls der, zu erfreuen 1 6 7 . D a s Greifswalder G u t achten bemerkt, daß die Melodien Ebelings lieblich und diese Lieder wohlklingend seien 1 6 8 . D i e O d e des Kollegiums des Berliner Gymnasiums auf die Ebelingsche A u s g a b e rühmt ihre Melodien als süß 1 6 9 . Ebeling schließlich kommt selbst auf die Schönheit der M u s i k zu sprechen, indem er in seiner Vorrede zu dem siebenten Dutzend der ,Geistlichen Andachten' den alten T o p o s von der Sphärenmusik erwähnt. Die Vorrede ist an eine Anzahl von „Sekretarien", also Geheimräten gerichtet, denen Ebeling mit einem berlinischen Augenzwinkern diesen durchaus bekannten T o p o s als erst neulich ihm zu Ohren gekommenes Geheimnis kundtut: „Indem sich auch eine gar geheime Musik über uns in den Lüften befinden soll, da, durch die Planeten ihre Sphären und mächtig geschwinde und subtil umlaufende Zirkel eine unglaublich schöne Harmonie zuwege gebracht . . . daß alle unsere irdische Musik dagegen nichts zu rechnen, sondern nur ein Geheule der Täler und Wüsteneien zu schätzen sein solle." D i e Schönheit irdischer Musik wird also durch die Sphärenmusik noch überboten, welche Ebeling anschließend mit der M u s i k der Engel identifiziert. Erst die Seligen mit ihrem verherrlichten Leib sind imstande, sie zu hören 1 7 0 . Andererseits steht schon der irdische Mensch in einem Z u s a m m e n h a n g mit dieser überwältigenden himmlischen Schönheit, wird doch sein Musi161 Crüger, Vorrede, Newes vollkömliches Gesangbuch / Augspurgischer Confession 1640, zit. nach BuNNERS, Singende Frömmigkeit, 11, vgl. 10. Der Text dieser Vorrede auch bei BuNNERS, Paul Gerhardt, 347 f. ш Siehe die Übersicht F T VI, 462-469. ш BUNNERS, Singende Frömmigkeit, 13 f., vgl. oben S. 142, bei Anm. 163. BUNNERS, Singende Frömmigkeit, 16; Text der Vorrede von 1661 bei BUNNERS, Paul Gerhardt, 349 f. Hutter, Loci, 976b-977b, vgl. oben S. 73, bei Anm. 214. Auch Rango verteidigt die Figural- und Instrumentalmusik als Vorbild und Vorgeschmack der himmlischen Musik, da die Erwählten den Engeln gleich sein werden (Apk 5,8 ff.), Vorrede, 16. 168 Bei BuNNERS, Paul Gerhardt, 361. 1M Bei BuNNERS, Paul Gerhardt, 352 f. 170 Ebeling, Vorrede zum siebenten Dutzend, in: Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, 289 f., s. HELGA DE LA MOTTE-HABER / PETER NITSCHE, Begründungen musiktheoretischer Systeme, 49.
240
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
zieren mit dieser Himmelsmusik verglichen. Sie ist ein, wenn auch geringer, Vorgeschmack und Widerhall derselben. Mit dem Topos von der Sphärenmusik wird ein Bereich betreten, in welchem etwas von dem Eigentümlichen der Musik gegenüber der Sprache liegt. H a t sie mit dieser gemeinsam, daß sie, durch Schall bewegt, in das O h r eingeht und dem Gesichtssinn entzogen ist, so steht sie in anderer Hinsicht mit der Astronomie in Zusammenhang. Die ganze jetzige Schöpfung und die künftige Welt sind in einem O r d o verbunden, der solche Analogien möglich macht. In den Harmonien der Musik ist dieses Geordnet-Sein der Welt ausgedrückt. Die menschliche Musik entspricht, so unvollkommen sie vergleichsweise auch sein mag, der himmlischen Musik, so daß ein Kepler die Analogien zwischen menschlicher Musik und Astronomie zu ergründen versuchen konnte 1 7 1 . Musik stellt Ordnung dar und ist imstande, Ordnung wiederherzustellen. Darauf wird auch zurückzuführen sein, daß Musik die Fähigkeit hat, physische Krankheiten zu heilen 172 . Und wiederum damit verwandt ist die Eigenschaft, die in den Titeln der ,Praxis pietatis melica' und der Ebelingschen Ausgabe dem Gesang zugeschrieben wurde, nämlich die, Trost zu bringen. Auch die Ode auf Ebelings Ausgabe rühmt seine süßen „Melodeien, / Die ein betrübtes Herz der Qual befreien." 173 Mit Hilfe der Musik wird Leid überwunden und der leidende Mensch in die sinnhafte Ordnung Gottes zurückgeführt.
5. Die Passionssalven 5.1. Die Stellung der Passionssalven in Paul Gerhardts Werk In der ,Praxis pietatis melica' von 1653 wurden im Anhang unter dem gemeinsamen Titel ,Des Heil. Bernhardt Paßionssalve an die gliedmassen Christi' vier Lieder Paul Gerhardts zum ersten Mal veröffentlicht, ,Sei mir tausendmal gegrüßet' (CS 18), ,Gegrüßet seist du, meine Krön' (CS 19), ,Sei wohl gegrüßet, guter Hirt' (CS 20) und ,Ich grüße dich, du frömmster Mann' (CS 21). Die Gliedmaßen Jesu, an welche sich diese Lieder richten, sind, in der genannten Reihenfolge, seine Füße, seine Knie, seine Hände und seine Seite. In der Ausgabe der ,Praxis' von 1656 finden sich diese Lieder in der Rubrik der Passionslieder, wobei drei weitere hinzugefügt sind: ,Gegrüßet seist du, Gott mein Heil' (CS 22), an die Brust Christi, 171
Siehe TRUNZ, Weltbild und D i c h t u n g im deutschen Barock, 3 - 5 ; HELGA DE LA МОТГЕ-
HABER /
PETER N I T S C H E ,
51-53.
172
Ebeling, V o r r e d e zum sechsten D u t z e n d ; TRUNZ, Weltbild und D i c h t u n g im deutschen Barock, 19 f., vgl. BuNNERS, Kirchenmusik, 49 f.; 54 f. D e r G e r h a r d t - H e r a u s g e b e r J o h a n n Philipp T r e u n e r bezeugt von sich selbst, durch das Anstimmen des Liedes , D u bist ein Mensch, das weißt du wohl' aus tödlicher K r a n k h e i t errettet w o r d e n zu sein, s. seine V o r r e d e b e i ECKART, 173
17.
Bei BUNNERS, Paul G e r h a r d t , 353.
Die Passionssalven
241
, Ο Herz des Königs aller Welt' (CS 23), an sein Herz, und , Ο Haupt voll Blut und Wunden' (CS 2 4 ) an das Antlitz 174 . Damit lag eine vollständige Nachdichtung eines Zyklus von sieben lateinischen Gedichten vor 1 7 5 , der unter dem Titel ,Rhythmica oratio ad unum quodlibet membrorum Christi patientis et a cruce pendentis' unter dem Namen des Bernhard von Clairvaux überliefert wurde. Spätere Nachforschungen haben die an Jesu Füße, Knie, Hände, Seite und Antlitz gerichteten Salven dem Zisterziensermönch Arnulf von Löwen, Abt von Villers (gest. 1250) zugeschrieben. Die Eingangsstrophe des letztgenannten Salve hat in der Vorlage, die Gerhardts Nachdichtung zugrundelag, eine veränderte Gestalt; das Salve an die Brust hat einen anonymen Verfasser, dasjenige an das Herz hat wahrscheinlich nicht Arnulf, sondern der Prämonstratenser Hermann Joseph von Steinfeld (gest. nach 1225) geschrieben 176 . Paul Gerhardt war nicht der einzige, der diesen Zyklus nachdichtete. Außer seinen gibt es auch Passionssalven beispielsweise von Rist, Harsdörffer und Silesius 177 . Im Unterschied zu manchen von Gerhardts Passionsliedern, deren Stoff eine Nacherzählung der Passionsgeschichte darstellt, aus welcher dann
174
Einzelinterpretationen dieser Lieder gibt es beinahe nur von , Ο Haupt voll Blut und
Wunden':
SAUER-GEPPERT,
Sprache,
212-239;
MARLIES LEHNERTZ, V o m
hochmittelalterli-
chen katholischen Hymnus zum barocken evangelischen Kirchenlied; TRAUGOTR KOCH, 9 - 1 2 ; LUCIA HASELBÖCK, О Haupt voll Blut und Wunden; dies., Studien zur Passionslyrik des Barockzeitalters, 240-252. Dieses Lied ist auch das fast einzige der Salven, das sich noch in heute gebräuchlichen Gesangbüchern findet. Der Herz-Jesu-Hymnus ist - in stark gekürzter und veränderter, geglätteter Form - aufgenommen in das römisch-katholische ,Gotteslob'; eine Interpretation dieses Liedes liegt von WILHELM FLÜCKINGER vor. 175 Gerhardts Passionssalven sind, außer bei CS, auch noch abgedruckt in der Ausgabe hg. v. Rödding, welche den Ebelingschen Text abdruckt, 8 - 1 9 . 176 Siehe J . - M . CANIVEZ, Art. Arnoul de Louvain; WORSTBROCK, Art. Arnulf von Löwen; ders., Art. Hermann Josef von Steinfeld; OHLY, Hoheliedstudien, 213; MARLIES LEHNERTZ, 7 5 6 f., A n m . 1 - 3 ; SAUER-GEPPERT, S p r a c h e , 2 1 2 , A n m . 2 2 1 ; PETRICH, 2 0 9 - 2 1 1 . D e r T e x t d e r
lateinischen Vorlagen bei Kemp, 2 6 - 3 0 ; in den Opera Omnia Bernhards, hg. v. Mabillon: Vol.3 ( M P L
184), Nr. 9 0 0 - 9 0 2
(1319-1324).
Siehe PETRICH, 211; 32; KRUMMACHER, Der junge Gryphius, 367 f., bei Anm. 7, innerhalb einer Aufstellung der verschiedenen Arten der Passionsdichtung dieser Zeit. Die Nachdichtungen Rists sind enthalten in dessen ,Neue Hoch = heilige Paßions=Andachten', 229-260, unter dem Titel ,Die Sonderbahre Heilige Andachten / über die Allerheiligste / Jämmerlich geplagte / und gemarterte Glieder Unseres liebsten Heilandes und Seligmachers JEsu CHristi'. Einzelne Stücke daraus sind abgedruckt F T II, 214-217; diejenigen Schefflers - sehr frei und mit weiteren Variationen - in der ,Heiligen Seelenlust' II, xlviv-lii, Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke, Bd. 2, 98 ff. Angeregt von den Passionssalven ist auch das weiter unten, S. 256, bei Anm. 221, zitierte Gedicht Lohensteins und das Sonett des Gryphius ,An den gecreuzigten JEsum', GA 1,6/ 1,32, welches unmittelbar ein Gedicht des Sarbievius an die Füße Jesu zur Vorlage hat, s. Gryphius, Gedichte, hg. v. Eischenbroich, 4, Anm. 1. Die lateinische Fassung der Salven wurde auch - in Auszügen - vertont, so von Dietrich Buxtehude, ,Membra Jesu nostri patientis sanctissima' (BuxWV 75) von 1680. Vgl. auch BLANKENBURG, Die deutsche Liedpassion. 177
242
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Trost und Ermahnung für den gegenwärtigen Christen entwickelt werden (CS 14-17), sind die Salven lediglich Betrachtung einer bestimmten Situation dieser Geschichte, und zwar ihres Höhepunktes. Sie sind Betrachtung und Anrede des am Kreuz hängenden, leidenden, ja schon gestorbenen Jesus. Die Anrede beginnt in der lateinischen Vorlage fast stets mit dem Wort „Salve", woher der Name dieser Dichtungen kommt 178 . Als Betrachtung und Anrede ähneln den Liedern dieses Zyklus unter den Passionsliedern nur , Ο Welt, sieh hier dein Leben' (CS 13) und, nachdem der Hergang des Geschehens in Str. 1,1 - 3,4 wiedergegeben worden ist, ,Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld' (CS 12). Mit dem Blick auf diesen Charakter wird das systematische Gewicht der Passionssalven innerhalb des gesamten geistlichen Liederwerks Paul Gerhardts deutlich. Leonhard Hutter hatte in seinen Loci als die vornehmlichste Möglichkeit des Christen, sich seiner Erwählung zu vergewissern, diejenige genannt, die schon Staupitz dem jungen Luther empfohlen hatte: Christi Wunden betrachten, um sich der Liebe Gottes gewiß zu werden und damit des eigenen Erwähltseins durch Gottes Liebe 179 . Durch die Betrachtung des leidenden Jesus kann also der Mensch den gesamten Ordo Salutis auf sich beziehen, der in der Prädestinationslehre formuliert ist, somit auch das im Lehrstück von der conservatio Ausgesagte: die Betrachtung von Jesu Leiden verleiht Festigkeit und Trost in dem eigenen Leiden, welches die Anfechtung durch Teufel, Welt und Fleisch oder die Anfechtung durch innerweltliche calamitates bereiten. Dies ist ein erster von drei Aspekten der Relevanz, die das Leiden Christi für das Leiden des Christen hat, das Christuskreuz für das Christenkreuz 1 8 0 . Diese Aspekte können in das überlieferte Schema der Passionsbetrachtung eingeordnet werden 1 8 1 : die Passion Christi stellt das meritum, das Verdienst dar, das Christus für uns erworben hat; daraus gewinnen die Gläubigen Trost in der Anfechtung. Das zweite Stück dieses Schemas ist die satisfactio: Jesus leidet, weil er an unserer Stelle die Sünde trägt. Daraus erkennen wir, daß wir sündig sind. Der Schmerz Jesu steht also in einer Beziehung zu dem Schmerz des Menschen, der in der Erkenntnis seiner eigenen Sünde besteht. Drittens folgt schließlich das monitum: der Christ wird ermahnt, sich so in das Leiden zu schicken, wie Jesus es tat. Das Leiden des Christen wird demzufolge aufgefaßt als Vertiefung der Gemeinschaft mit Jesus, als Gleichgestaltung mit ihm. Diese Leidensnachfolge ist überhaupt erst der Grund dafür, daß das Leiden von Christen als crux bezeichnet werden kann. Man sieht, wie die verschiedenen Fäden, die Paul Gerhardts Liedwerk durchziehen, in den Passionssalven zusammen178
179
V g l . LEHNERTZ, 7 6 0 f.
Siehe Hutter, Loci, X X I I , 7 (811-815); Luther, WA 43, 461,11-13, vgl. oben S.57. «О YGI CLEN dieses Thema in seinem Titel formulierenden Aufsatz von KRAUSE. 181 Zu diesem Schema s.o. S. 150.
Die Passionssalven
243
laufen. Die Betrachtung des leidenden Christus enthält für den Christen eine vielfältige Gemeinschaft mit ihm. Sie besteht zum einen im Leid, welches einerseits der Schmerz der Sündenerkenntnis sein, andererseits als Christusverähnlichung verstanden werden kann. Zum anderen gibt diese Gemeinschaft dem Christen in seinem Leid Trost. Das Verhältnis von Leid und Trost in der Betrachtung des leidenden Christus soll in diesem Kapitel näher untersucht werden. Die Gemeinschaft des Christen mit Christus hat, wie wir oben schon sehen konnten, zwei Seiten 182 . Sie wird von der Seite Christi her begründet dadurch, daß er den Weg in die Welt gegangen ist, der ihn zum Tod am Kreuz führte. Diese Begründung besteht also in einer bestimmten Folge von Ereignissen in der Geschichte, die zusammengefaßt Heilsgeschichte genannt werden kann. Von der Seite des Christen her wird diese Gemeinschaft begründet dadurch, daß er Christus in sein Herz, seine Seele, sein Gemüt aufnimmt und dort festhält. Die im andächtigen Singen eines solchen Passionssalve vollzogene Betrachtung Christi stellt gerade dieses Aufnehmen bzw. Festhalten dar. Es geschieht also durch einen Vollzug von Sprechen, durch ein Gedicht, ein Lied, das, wie gezeigt worden ist, durch die drei Funktionen des Lehrens, der Bewegung des Gemüts und des Erfreuens durch sprachliche Schönheit bestimmt ist. Die Seele des Menschen ist dementsprechend als ein Organ daran beteiligt, das sowohl zur Erkenntnis der Wahrheit wie auch zu Bewegungen des Affekts befähigt ist. Zu diesen Gemütsbewegungen gehören Schmerz und Freude. Es ist nun bedeutsam, daß Paul Gerhardt mit der sprachlichen Gestaltung dieser Lieder, in welchen die Seele ihre Verbindung mit Christus vollzieht und lebt, sich in den Kontext zweier literarischer Strömungen gestellt hat, nämlich der als „mystisch" bezeichneten Literatur und der Liebeslyrik. Dieser Kontext ist keineswegs ein zufälliger, sondern dient so, wie Gerhardt ihn ausformt, ganz konsequent seinem Anliegen. Eine Ergründung dieses Kontextes gibt darum auch letzte Aufschlüsse darüber, wie Paul Gerhardt von dem Verhältnis von Trost und Schmerz, von Gott und dem Leid gesprochen hat. 5.2. Die Passionssalven und die bernhardinische Mystik Daß die lutherische Frömmigkeitsliteratur seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert zu einem sehr großen Teil aus Quellen schöpft, welche als mystisch bezeichnet werden, ist seit den Forschungen von Paul Althaus dem Alteren bekannt 1 8 3 . Was dabei jedoch „mystisch" heißen soll, müßte geklärt werS.o. S. 147 f. PAUL ALTHAUS D.Ä., Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur, insbes. 143-162. Paul Gerhardt selbst hat vermutlich schon als Schüler in Grimma die lateinischen Passionssalven kennengelernt, s. o. S. 23, bei Anm. 59. 182
183
244
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
den. Johannes Tauler beispielsweise, der von Arndt stark rezipiert wurde, hat den Begriff selten, wenn überhaupt benutzt 1 8 4 . Von dem, was in dieser Studie zurückhaltend mit „Seinsgemeinschaft" zwischen G o t t und dem Menschen bezeichnet wird, haben die Konkordienformel und H u t t e r ohne Verwendung eines Begriffes gesprochen, Johannes Hülsemann hat dies unter den Begriff ,unio' gebracht, Balthasar Meisner, Calov und Quenstedt sprachen von einer ,unio mystica' 1 8 5 . Es muß also scharf unterschieden werden zwischen Worten wie „mystisch" und dergleichen, und einer Sache, die man aufgrund eines bestimmten Begriffes als „mystisch" bezeichnet. D e r Begriffsbestimmungen von Mystik sind viele; f ü r die Belange dieser Untersuchung soll darum eine bestimmte Gedankenlinie bei Bernhard von Clairvaux als Modell von Mystik angesehen werden. Die Wahl fällt auf Bernhard, und zwar auf seine Hoheliedpredigten, weil in der T a t , auch wenn Bernhard nicht der unmittelbare Verfasser der Passionssalven war, sie doch in seinem Wirkungsbereich stehen, und weil insbesondere das Hohelied in der Auslegung, die Bernhard ihm gibt, f ü r sie von besonderer Bedeutung ist 186 . 5.2.1. Mystik, Anfechtung und Ich In der ersten seiner Predigten gibt Bernhard mit einer Charakterisierung des Hohelieds auch die seiner Auslegung, mithin dessen, was man als seine Mystik bezeichnen kann 1 8 7 . Bernhard sagt, daß zum Hohenlied nur Zutritt hat, wer zuvor durch die beiden anderen Schriften Salomos gegangen ist, nämlich die Proverbien und den Ecclesiastes. Er m u ß die Eitelkeit der Welt und seiner selbst erkannt und hinter sich gelassen haben. D a n n erst kann die Seele sich mit Christus vermählen. Von dieser Vermählung, zugleich von der Vermählung der Kirche mit Christus, singt das Hohelied 1 8 8 . Die Linien dieses Weges finden sich auch in den Liedern Paul Gerhardts. In der als Muster f ü r seine Lieder analysierten Nachdichtung von Ps 73, ,Sei wohlgemut, о Christenseel' (CS 89), treten diese Linien bereits hervor 1 8 9 . Das Ich des Gläubigen steht zum einen vor Gott, zum anderen 184
Zur Begriffsgeschichte, s. H . - U . LESSING, Art. Mystik, mystisch, 2 6 8 - 2 7 3 , insbes. zu Tauler 270; zur Verwendung Taulers bei Arndt s. EDMUND WEBER, Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, 7 7 - 1 0 5 . 185 S . o . S. 161 ff. Quenstedt, Theologia didactico-polemica III, bei HIRSCH, § 587 (355 f.); Calov, Theologia positiva, IV,9, bei HIRSCH, § 469 (294). 186 Zu Bernhard und seiner Nachwirkung auf die Passionssalven und auf die ,Jesusminne in der Lyrik des deutschen Barock" s. die diesen Titel tragende Arbeit von MARIE-LUISE WOLFSKEHL, 187
10-12.
Vgl. KÖPF, Hoheliedauslegung als Quelle einer Theologie der Mystik, insbes. 5 0 - 5 4 und
6 4 - 7 2 ; OHLY, H o h e l i e d - S t u d i e n , Bd. I f f . , M ü n c h e n 1 9 9 0 ff., 188 189
1 3 6 - 1 5 7 ; RUH, G e s c h i c h t e d e r a b e n d l ä n d i s c h e n
226-275.
Bernhard, Sermones super Cantica Canticorum 1, 1,1-3; IV,8. S. o. S. 9 7 ff.
Mystik,
Die Passionssalven
245
seinen Feinden gegenüber. Alles, was nicht G o t t ist, kann dem Gläubigen, in der Verfassung, in der er ist, schaden und Leid zufügen. D e r einzige T r o s t besteht in der Zuwendung zu Gott, in der Vereinigung und der Gemeinschaft mit ihm. Zu diesem T r o s t gelangt der Mensch also nur, wenn er das höchste Gut, das G o t t ist, und die Güter der Welt, die vergänglich, aber nahe und erfahrbar sind und darum ebenso verführerisch wie schädlich, miteinander vergleicht und sich zu G o t t hin orientiert. So bekennt das Ich in dem Salve an das H e r z Jesu 1 9 0 : Mein H e r z ist kalt, hart und betört Von allem, was zur Welt gehört, Fragt nur nach eitlen Sachen, Drum, herzes Herze, bitt ich dich, Du wollest dies mein H e r z und mich W a r m , weich und sauber machen.
Dies geschieht dann, indem Jesus das gesamte All ausfüllt: „Erweitre dich, mach alles voll!" (CS 23, 4,1). In dem Lied , О Jesu Christ, mein schönstes Licht' nach Arndts , Gebet um die Liebe Christi', welches sich wie eine erweiterte Dublette zu dem Herz-Jesu-Salve liest, werden diese beiden Motive, Abwendung von der Welt und Vereinigung mit Jesus, noch schärfer ausgeführt: „Gib, daß sonst nichts in meiner Seel / Als deine Liebe wohne" ( C S 60, 2,1 f.), umgekehrt (60, 1 0 , 5 - 9 ) : Denn außer dir ist lauter Pein, Ich find hier überalle Nichts denn Galle; Nichts kann mir tröstlich sein, Nichts ist, das mir gefalle.
Die Welt entschwindet, was allein bleibt, sind Christus und die Seele. Damit ist aber bei Gerhardt nicht ausgeschlossen, daß die christliche Seele zugleich Glied der Kirche ist, genausowenig wie die Deutung der Geliebten im Hohenlied auf die Seele bei Bernhard diejenige auf die Kirche ausschließt. So erklärt Bernhard: „Denn das wird nicht so auf die Kirche bezogen, daß nicht wir einzelnen, die wir zugleich Kirche sind, an diesen ihren Seligpreisungen Anteil haben müssen." Und an anderer Stelle betont er, daß es dasselbe sei, ob von der Liebe zwischen der Seele und dem göttlichen W o r t oder zwischen der Kirche und Christus gesprochen würde, „außer daß durch den Namen der Kirche nicht eine Seele, sondern die Einheit vieler Seelen oder vielmehr deren Einmütigkeit bezeichnet wird" 1 9 1 . 1.0 C S 2 3 , 3 , 1 - 6 . „ S a u b e r " hat hier, im G e g e n s a t z zu „ b e t ö r t " , die Bedeutung von „nüchtern" („sobrius"), vgl. Art. Sauber, 2 b ) , D e u t s c h e s W ö r t e r b u c h , B d . V I I I ( 1 8 9 3 ) , 1 8 5 0 f. 1.1 „ N o n enim sie ista de ecclesia referuntur, ut non singuli nos, qui simul ecclesia sumus, partieipare his eius benedictionibus d e b e a m u s " ; „nisi quod ecclesiae nomine non una anima,
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Das Ich in den Liedern Gerhardts ist ein exemplarisches Ich, das ohne Einschränkungen in fast allen Fällen auf die gesamte Kirche verallgemeinert werden kann. Doch ist es keineswegs Beliebigkeit, wenn umgekehrt die Kirche in bestimmten Situationen exemplarisch durch das einzelne Ich repräsentiert wird, wenn nicht nur von der Kirche in der dritten Person gesprochen wird, wenn sie nicht bloß, in der zweiten Person, angesprochen wird, sondern in der ersten Person selbst spricht, und zwar nicht so sehr in der ersten Person Plural, sondern als eigenes, einzelnes Ich. Die Situationen, in welchen es auf diese Ich-haftigkeit der Kirche ankommt, sind bereits aus verschiedenen Blickpunkten dargestellt worden 1 9 2 . Es ist immer wieder eine Situation der Anfechtung und, von dort darin übergehend, eine des Lobes. In diesen Situationen muß der einzelne Angefochtene die Trostzusage Gottes jeweils auf sich selber beziehen und sein Lied mit Andacht singen. Es ist klar, daß diese Anfechtungen weniger solche sein können, welche die Kirche als eine Gemeinschaft von Christen von außen her als Ganzes treffen, wie dies in dem Bittgesang zu Kriegszeiten, CS 97, und in dem Loblied für den Frieden, CS 98, bezogen auf die Christenheit in der Mark Brandenburg und in Deutschland der Fall ist. Sondern die Anfechtung wird in einer solchen Weise erfahren und darum auch so dargestellt, daß sie tiefste Gefährdung des Gottesverhältnisses ist. Es handelt sich dann um die hohe Anfechtung oder auch um die niedere Anfechtung, wenn der Verlust „leiblicher" Güter auf den Verlust von Gottes Gnade hinzuweisen scheint 193 . So geht es immer wieder darum, daß der Mensch sich darüber vergewissert, daß sein Verhältnis zu Gott von Gottes Gnade und Liebe bestimmt ist, und daß er auf Gott vertrauen kann. Ein solches Verhältnis zu Gott kann aber nur ein jeweiliges „Ich" einzunehmen. Das spezifische Merkmal des Ichs, das in diesen Situationen immer wieder hervortritt, ist dieses, daß es ein Verhältnis zu sich selbst haben kann. Es nimmt die Trostzusage Gottes an, indem es diese eben auf sich bezieht. Diese Rückbezüglichkeit des Ich tritt immer wieder in der Weise hervor, daß das Gespräch des Ich mit Gott zugleich verwoben ist mit einem Gespräch mit sich selber. Eine besonders ausgeprägte Formulierung dieses Doppelverhältnisses ist der 42. Psalm, von Gerhardt nachgedichtet ,Wie der Hirsch in großen Dürsten' (CS 88). Hier spricht das Ich sowohl zu Gott als auch zu „sich selbst" und, im Sprachgebrauch davon unterschieden, zu seiner „Seele". Das Ich nimmt auf diese Weise eine Mittlerrolle ein zwischen Gott auf der einen, dem „sich selbst" und seiner „Seele" auf
sed multarum unitas, vel potius unanimitas designator." Bernhard, Sermones super Cantica Canticorum, 57, 11,3; 61, 1,2, s. OHLY, Hohelied-Studien, 147, bei Anm. 1. 1.2 S.o. S. 67 ff.; 86; 221 ff. 1.3 Vgl. damit ELKE AXMACHERS Einschätzung der Veränderung der Auffassung des Leidens von der Luther-Generation zum 17. Jahrhundert: damals die Bedrohung der Kirche durch das Papsttum, dann die Bedrohung des einzelnen Frommen durch die „Welt", s. AXMACHER, Aus Liebe, 88.
Die Passionssalven
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der anderen Seite. In der Rede des Ich an Gott drückt es seine - und damit auch seiner Seele - Not aus. Das gleiche geschieht in der Rede zu sich selbst. In der Rede an seine Seele hingegen spricht das Ich ihr - und damit sich selbst - Trost zu. Die Zuspitzung, ja Isolierung auf das einzelne Ich hin befindet sich bei Gerhardt in einem unauflösbaren dialektischen Verhältnis dazu, daß das Ich in eine Gemeinschaft, in ein Wir eingebunden ist. Dies tritt in Erscheinung, wenn andere Christenseelen, welche sich in der gleichen Lage befinden, als „Ihr" angeredet werden, und vor allem dann, wenn das aus der Anfechtung gerettete Ich seinen Lobgesang anstimmt und so in den Lobgesang derer einstimmt, die schon bei Gott sind, der Seligen und der Engel: „Da man bei Gotte lebet / Und bei der Schar, die fröhlich singt / Und in der Wollust schwebet" 194 . Dieses Singen ist, im Gegensatz zu manchen Gestalten von Mystik, kein letztes Sprechen vor dem Verstummen angesichts dessen, das „unaussprechlich" ist 195 , sondern ergießt sich gerade so in Gottes Unendlichkeit, daß es ein nicht endender Lobgesang ist. Auch die „Welt", als ein Drittes neben Gott und dem Ich bzw. der als Gemeinschaft mehrerer Ich konstituierten Kirche, tritt, in verwandelter Form, in der Seligkeit wieder auf. Es ist die Himmelslandschaft und Himmelsstadt, die in dem ,Himmelslied' (CS 134), nach Apk 7,9-17, dargestellt wird 196 . 5.2.2. Mystik und die Betrachtung des leidenden Christus Auf welche Weise vollzieht sich nun der Weg der Seele aus der als verführerisch und insofern bedrohlich aufgefaßten Welt hin zu Gott bzw. zu Christus? Hier setzt Bernhard genau bei der Betrachtung Jesu, insbesondere des leidenden Jesus ein, und dies eben ist der Punkt, welcher die Passionssalven als eine Entfaltung bernhardinischer Mystik erscheinen läßt. In der zwanzigsten seiner Predigten über das Hohelied (zu Cant 1,2) spricht Bernhard von der dreifachen Weise, in welcher Gott uns liebt, nämlich „süß, weise und stark." Dies erläutert er, indem er diese drei Begriffe mit drei Verhaltensweisen Jesu verbindet: „Süß, möchte ich sagen, weil er Fleisch annahm, klug, weil er sich vor Schuld hütete, stark, weil 1W
CS 55, 6,6-8, vgl. 52,19; 67,8; 74,16; 103,12; 105, 15,5 f. Diese aufgezeigte Struktur, das Schwingen vom Ich zum Wir oder umgekehrt, läßt sich auch an Liedern aus der vorangegangenen Epoche zeigen, so etwa in Luthers ,Nu frewt euch, liebe Christen gmeyn', W 111,2, wo der Aufruf zu Freude, Getrost-Sein und Lob in Str. 1 sich an die gesamte Christengemeinde richtet, aber die Ausführung des Grundes, weshalb sie sich freuen solle, nämlich die Darstellung der Errettung aus der höchsten Anfechtung, streng ich-bezogen durchgeführt wird und in ein Zwiegespräch zwischen Jesus und dem einzelnen Christen mündet. m Siehe oben S. 143 f., bei Anm. 165. 1W Es müßte erörtert werden, ob an diesem Punkt ein Unterschied zwischen Gerhardt und Bernhard vorliegt.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
er den Tod erlitt" 197 . Damit beginnt Bernhard, eine Kette aus Dreierstrukturen zu entwickeln, die er miteinander in Beziehung setzt, bis er schließlich sagt: „Christ, lerne von Christus, wie du Christus lieben sollst." 198 Er setzt dann von der Seite der Liebe des Christen zu Christus her das Durchspielen von Dreierstrukturen fort, wobei die Identifikation mit Herz, Seele und Kraft nach Deut 6,5 besonders wichtig wird: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft." Die Liebe des Herzens kommt, Bernhard zufolge, aus dem Bereich der Gefühle, sie ist ein zelus affectionis, die Liebe der Seele entstammt dem Bereich der Vernunft, die der Kraft wird mit der Beständigkeit (constantia) in Beziehung gebracht. Damit ist eine Reihenfolge in bezug auf Rang und Stelle in der Entwicklung des Christen aufgestellt. Die Hinwendung des Menschen zu Christus beginnt mit der Liebe des „Herzens", des Gefühlsbereiches. Was, von diesem Bereich ausgehend, den Menschen mit Jesus verbinden kann, befindet sich auf derselben Ebene wie das, was ihn, Bernhard zufolge, an die Welt bindet. Eben darum ist dies der Angriffspunkt, an welchem der Mensch seine Trennung von der Welt beginnen muß: „Der Herr Jesus sei deinem Gemüt angenehm und süß, zumal gegen die üblen süßen Verlockungen des fleischlichen Lebens, und Süßigkeit soll Süßigkeit besiegen, wie ein Nagel einen anderen Nagel heraustreibt." 199 Angefangen mit dieser Stufe steigt die Liebe dann auf die höheren Stufen der „Seele" und der „Kraft". Die erste Stufe erläutert dann Bernhard weiter: „Und beachte, daß, weil die Liebe des Herzens auf eine gewisse Weise fleischlich ist, sie das menschliche Herz mehr zum Fleisch Christi und zu dem, was Christus im Fleische getan und geboten hat, bewegt." 200 Bernhard gibt verschiedene Beispiele für diese Art von Liebe, darunter schließlich auch die Liebe zu dem im Fleisch leidenden Christus. Ein Mensch, der auf diese Weise liebt, „fühlt Mitleid mit dem leidenden Christus, wird erschüttert, wird leicht zum Gedenken an das bewegt, was Christus ertragen hat, und weidet sich an der Süßigkeit dieser Andacht und wird gestärkt zu allem, was heilsam, ehrenvoll und fromm ist." 201 Dies ist jedoch nur die unterste Stufe der Liebe zu Christus. Sie wird überboten durch die beiden höheren Formen,
1.7 „ . . . dulciter, sapienter, fortiter. Dulce nempe dixerim, quod carnem induit, cautum, quod culpam cavit, forte, quod mortem sustinuit", Bernhard, 20, 11,3. 1.8 „Disce, Christiane, a Christo, quemdamodum diligas Christum.", Bernhard, 20, 111,4. m „Sit suavis et dulcis affectui tuo Dominus Iesus, contra male utique dulces vitae carnalis illecebras, et vincat dulcedo dulcedinem, quemadmodum clavum clavus expellit." Bernhard, 20, 111,4. 200 „Et nota amorem cordis quodammodo esse carnalem, quod magis ergo carnem Christi, et quae in carne Christus gessit vel iussit, cor humanum afficiat." Bernhard, 20, V,6. 201 „ . . . is quidem qui Christo passo compatitur, compungitur, et movetur facile ad memoriam horum quae pertulit, atque istius devotionis suavitate pascitur, et confortatur ad quaeque salubria, honesta, pia;", Bernhard, 20, VI,8.
Die Passionssalven
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in welchen weltliche Ehre nicht nur geflohen, sondern auch noch verachtet wird. Diese höhere Liebe ist nicht mehr wankelmütig wie jene fleischliche christliche Liebe, die ja umgekehrt noch von der Süßigkeit der Welt abgelenkt werden kann 2 0 2 . Auf der zweiten Stufe als vernünftige Liebe der Seele hält sie unbeirrt an den Glaubenswahrheiten fest, auf der dritten und höchsten ist sie Liebe aus der Kraft des Heiligen Geistes, amor spiritualis, welche sich auch vor Schmerz und Tod nicht beugt 20J . Nun ist es von besonderer Bedeutung, daß diese Stufen der Liebe des Christen zu Christus mit bestimmten Aspekten des Seins Christi selbst in Beziehung gebracht werden. Bernhard setzt hier seine Verkettung von Dreierstrukturen fort, bringt aber im Grunde ein Zweierschema hinein, nämlich die Entgegensetzung von Fleisch und Geist. Die erste Stufe der Liebe bezieht sich eben, wie dargelegt wurde, auf Christus, insofern er Fleisch geworden ist. Die beiden höheren Stufen werden zu einer Einheit zusammengefaßt und, bei der dritten Stufe noch stärker akzentuiert, auf Christus bezogen, insofern er Geist ist. Die Bibelstelle, deren sich Bernhard durch die ganze Predigt durchlaufend dazu bedient, ist eine in der Vulgata nicht gegebene Lesart von T h r 4,20: „Spiritus ante faciem nostram Christus Dominus." An anderer Stelle identifiziert Bernhard dieses Geist-Sein Christi, angeregt von I Kor 1,30, mit den Begriffen Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit usw. 204 Mit dem Aufstieg der Liebe zu Christus vollzieht diese also auch einen Aufstieg innerhalb Christi, von seinem Fleisch-Geworden-Sein zu seinem Geist-Sein. Dabei vergißt Bernhard allerdings nicht anzumerken, daß diese Aspekte des Seins Christi in ihm miteinander verbunden sind, so wie dies auch die Stufen der Liebe zu ihm sind, so daß auch die erste, „fleischliche" Liebe nicht ohne Gottes Geist ist 205 . Dennoch stellt dieser Aufstieg der Liebe eine Verinnerlichung der Liebe, ein Nach-Innen-Gehen des Liebenden in den Geliebten hinein dar, und dies ganz in Übereinstimmung mit dem, was Bernhard als den mystischen Charakter der H o henliedes bezeichnet. Dieses Lied ist nämlich „nicht ein Tönen des Mundes, sondern ein Jubel des Herzens, kein Klang der Lippen, sondern eine Bewegung der Freude, ein Zusammenklang der Willen, nicht der Stimmen. Man hört es nicht draußen, es klingt nämlich nicht in der Öffentlichkeit. Allein, die es singt, hört es, und der, dem es gesungen wird: Bräutigam und Braut." 2 0 6
202
Bernhard, 20, VI,8; III,4-V,6. Bernhard, 20, VI, 9 204 Bernhard, 20, VI,8. 205 Bernhard, 20, VI,8. 206 „Non est strepitus oris, sed iubilus cordis, non sonus labiorum, sed motus gaudiorum; voluntatum, non vocum consonantia. Non auditur foris, nec enim in publico personat: sola quae cantat audit, et cui cantitatur, id est sponsus et sponsa.", Bernhard, 1, VI, 11. 205
250
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Mit dieser Lehre von einem stufenweisen Aufstieg der Liebe des Christen zu Christus gibt Bernhard von Clairvaux zugleich gewissermaßen eine Lehre von religiösen Temperamenten oder Charakteren, und zwar als Lehre einer Entwicklung, einer Reifung eines Menschen in religiöser Hinsicht, von dem einen Charakter zum nächsten. Für den Belang dieser Untersuchung ist nun besonders bemerkenswert, daß mit dem ersten Charakter eine Konkretisierung dessen dargestellt wird, worin die Süßigkeit bestehen kann, die der Mensch im Singen eines geistlichen Liedes, in dem liebenden Umgang mit Gott empfindet. Bernhard konkretisiert sie als eine Süßigkeit, die - neben anderen Beispielen - gerade in der Betrachtung von Christi Leiden empfunden wird, und zwar als Süßigkeit des Mitleidens. Für die Einschätzung der Passionssalven - in der lateinischen Fassung und in ihrer Nachdichtung von Paul Gerhardt - ist nun die Frage gestellt, ob die Süßigkeit, welche in ihnen zum Ausdruck gegeben wird, gleicher Art ist wie die von Bernhard beschriebene und ob die Betrachtung des leidenden Christus in ihnen Teil eines gleichartigen Konzeptes des Aufstiegs der Seele ist wie bei dem Abt von Clairvaux. Diese doppelte Fragestellung gewinnt an Schärfe durch bestimmte Überlegungen, welche in der bisherigen Forschung in kritischer Hinsicht über die Passionsbetrachtung der Barockzeit gemacht wurden. Ingeborg Röbbelen sprach von einer menschlichen Jesusliebe, in welcher Jesus nur wie ein Mensch - versehen mit den höchsten Attributen, die einem Menschen zukommen können, vorgestellt und geliebt wird 207 . Elke Axmacher entwickelt ihre Kritik in ihrer Auffassung von einem Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert 2 0 8 . Ausgangspunkt dieses Wandels ist das lutherische Passionsverständnis. Für dieses ist wesentlich, daß zu der Beziehung des Christen zum leidenden Christus noch die eigene Beziehung hinzukommt, die Christus zu seinem Vater hat. Gemäß Jes 53,5 f. legt Gott Vater unsere Sünde und die Strafe, die wir durch unsere Sünde verdient haben, auf seinen Sohn, so daß wir von Sünde und Strafe befreit werden. Jesus nimmt um unseretwillen von seinem Vater dies an. Darum leidet er. Der Wandel dieser Auffassung von Christi Passion führt über Zwischenstufen dahin, daß diese Vater-Sohn-Beziehung de facto völlig ausfällt. Dies hat zum einen zur Folge, daß der Mensch seine Sünde nicht mehr aufgrund von Jesu satisfactio erkennt, sondern durch unmittelbare Selbsterforschung bzw. Selbstempfindung. Das meritum, die erlösende Kraft der Passion, kann dann ebenfalls nicht mehr aus der satisfactio stammen, sondern aus einer
207
RÖBBELEN, 2 5 0 f.
208
AXMACHER, AUS Liebe, 204-216. Ich nehme hier nicht dazu Stellung, ob ELKE AXMACHERs Kritik auf die Quellen zutrifft, auf die sie sich bezieht, sondern nehme ihre Darstellung als ein Gedankenmodell, mit dem die Quellen dieser Studie verglichen werden. Als implizite Auseinandersetzung
m i t ELKE AXMACHERS T h e s e s. STEIGER /
hinauf nach Jerusalem.
STEIGER, S e h e t ! W i r
gehen
251
Die Passionssalven
Göttlichkeit, die Jesus an sich hat. Er wird als ein Mensch vorgestellt, dem erlösende, mithin göttliche Kraft innewohnt. Er erlöst den Menschen durch sein Leiden, nicht aber durch ein Sünde- bzw. Strafe-Tragen. Dieses Leiden ist motiviert durch seine, Jesu, Liebe zu den Menschen, und auf diese Liebe können die Menschen wiederum mit Liebe antworten. Auf diese Weise ist alles, was mit Jesu Passion zusammenhängt, auf die Beziehung zwischen Jesus und dem Menschen, bzw. dessen eigene Beziehung zu sich selbst, reduziert. Diese Beziehung ist wesentlich eine affektive. Der vorherrschende Affekt ist die Liebe bzw. die mit ihr verbundene Freude, daneben noch der Schmerz - der Schmerz, den Jesus in seinem Leiden und der Schmerz, den der Mensch als seine Sündenerkenntnis empfindet. Alle Lehre wird von der Erfahrbarkeit dieser Affekte abhängig gemacht. Es tritt deutlich hervor, daß diese Passionsauffassung in der Tat auf das zutrifft, was Bernhard von Clairvaux als die erste Stufe der Jesus-Liebe darlegt 209 . Dabei ist aber zu bemerken, daß Bernhard ja nicht bei dieser affektiven, nicht-rationalen Liebe zu dem leidenden Gottmenschen Jesus stehenbleibt. Das, wozu sich der Mensch aus dieser Anfangsstufe erhebt, ist dann die Beziehung der zunehmend vergeistigten Seele zu Jesus als einem Geistwesen, allerdings jedoch nicht zu Gott Vater. Von der eigenen Beziehung zwischen Jesus und seinem Vater hat Bernhard zwar auch gesprochen, sogar in derselben 20. Predigt über das Hohelied 2 1 0 . Doch liegt dies außerhalb der Konsequenz und Dynamik der dargelegten Stufenfolge. Spitzen wir nun die aufgezeigte Problematik auf das Thema dieser Studie zu, wie der Mensch zum einen mit Gott, zum anderen mit dem Leid umgehen könne. Wir sind bereits oben einmal auf die Aporie in Gerhardts Dichtung gestoßen, daß eine Aufklärung mit Hilfe der Vernunft dem Menschen in der Situation zwischen Gott und dem Leid nicht weiterhilft 211 . Dies kann, recht betrachtet, auch nicht die gläubige, von Gottes Offenbarung belehrte Vernunft,
also die
fides
als
notitia
und
assensus,
sondern
nur die fides als fiducia. Der Glaube ist durch sein affektives Moment ein Glied einer Kette von Affekten, durch welche der Mensch aus der Bedrohung durch das Leid herausgezogen wird. Die Vernunft, die von Gottwohlgefälligkeit auf Leidlosigkeit schließt und umgekehrt, ist als solche untauglich, an dieser Kette teilzuhaben. Am anderen Ende dieser Kette steht Gott, der auf das Leid eines ihm weit unterlegenen und überdies schuldvollen Wesens mit Liebe und Mitleid reagiert. Er tut dies im Blick auf die Reue und das Vertrauen des Menschen. Die Frage ist nur, wie der Mensch ein Vertrauen zu einem Gott aufbringen soll, der ihm entweder 209
Worauf auch AXMACHER, AUS Liebe, 212, bei ANM. 10, mit einem Zitat aus ALBRECHT RJTSCHL, Geschichte des Pietismus, Bd. 1,54, hinweist. 210 Bernhard, 20, 11,3, spricht von dem Versöhnungsopfer, das Jesus dem Vater gegenüber erbringt. 211 S . o . S. 186 ff.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
als fern oder ihm feindlich erscheint. Das Bernhardsche Modell der affektiven Jesusliebe wäre ein Mittel, dies zu bewirken: G o t t als Mensch, der aus Liebe zu den Menschen leidet, entzündet Gegenliebe im Menschen. Auf diese Weise wäre mit affektiven Mitteln ein K o n t a k t zwischen G o t t und Mensch hergestellt. Bevor geprüft wird, wie sich bei Paul Gerhardt der Zusammenhang gestaltet, in welchen er dieses Element der affektiven Jesusbegegnung aufnimmt, soll dessen Darstellung noch vertieft werden. Paul Gerhardt stellt diese des Menschen Gemüt erregende Beziehung zu Jesus nämlich dar nach dem Muster der Liebesdichtung.
5.3. Die Passionssalven als
Liebesdichtung
Die Passionssalven sind Liebesdichtung. Die Betrachtung der Gliedmaßen des leidenden Jesus und die Worte, die ihm zugesprochen werden, die Weise, wie der Betrachtende sich zu ihm verhält und welche Taten er ihm gelobt, sind die eines liebenden Menschen, der auf die Liebe eines anderen antwortet oder um sie wirbt. Diese Liebe ist ergriffen von der Schönheit und Süßigkeit des Geliebten 2 1 2 , sie sucht seine Nähe, genießt sie, und die Worte, in denen sie sich äußert, werden darum zu Poesie. Liebe, Schönheit und Süßigkeit und poetische Sprache gehören zusammen 2 1 3 . 5.3.1. Hoheslied und Petrarkismus Als Liebesdichtung nehmen die Passionssalven Wendungen aus dem klassischen biblischen Liebeslied, dem Hohenlied, auf, und sie stellen in dem zeitlichen Kontext, in dem Gerhardts Nachdichtung sich befindet, ein Beispiel für geistlichen Petrarkismus dar, jener Übertragung von Liebeslyrik nach der Art Francesco Petrarcas in den Bereich geistlicher Poesie 2 1 4 . Es entspricht biblischem Sprachgebrauch, die Liebe zwischen G o t t und dem Menschen durch die Liebe zwischen Mann und Frau als Metapher darzustellen. Das Hohelied macht in seinem T e x t einen solchen metaphorischen Bezug freilich nicht deutlich. D o c h wenn die Bibel als Ganzes die Offenbarung des Gottes ist, welcher die Liebe ist (I J o h 4 , 1 6 ) , und wenn sie wiederholt die Liebe zwischen G o t t und Mensch mit der geschlechtlichen Liebe vergleicht, so ergibt sich aus diesem Zusammenhang folgerichtig die allegorische Auslegung des Hohenlieds, so wie sie immer wieder geübt 212 CS 18,2,5; 19,5,8; 2 1 , 3 , 1 ; 2 1 , 4 , 5 ; 2 2 , 1 , 2 ; 2 2 , 4 , 1 ; 2 3 , 2 , 3 ; 2 3 , 4 , 1 1 ; 23,6,1; 2 3 , 6 , 8 , 24,1,5; 24,5,6. 213 S . o . S. 21 Off. 214 WINDFUHR, 2 2 8 - 2 3 2 , sowie 3 3 3 - 3 3 5 . Es wurde oben, S. 189 ff., bei dem Thema der allesbezwingenden Macht des Affektes der Liebe bereits die Aufnahme der Topik der Liebesdichtung erwähnt.
Die Passionssalven
253
worden ist und schon die Aufnahme des Hohenliedes in den Kanon begründet hat. Die Predigten Bernhards von Clairvaux sind dafür ein Beispiel. Das Hohelied erweist sich dann gleichsam als die verborgene Mitte der Heiligen Schrift. D a ß in dem Text dieses Liedes selbst nichts auf die Auslegbarkeit gerade auf jene Liebe hinweist, daß keine Hintergründigkeit in ihm vorliegt, ist dabei selbst in gewisser "Weise ein Grund seiner Eignung zu dieser Auslegung. In der Tat ist der Schauplatz der Liebe, die im Hohenlied besungen wird, reine Diesseitigkeit, Gegenwärtigkeit, Vordergründigkeit 2 1 5 . Auch wenn die Liebenden in diesem Gedicht sich immer wieder verlieren, die Gegenwart des anderen entbehren und einander suchen, so macht dieses Suchen sich doch immer wieder an konkreten Orten fest, wo der Geliebte vermutet oder erwartet wird. Die Sehnsucht bleibt an ganz konkreten Gegenständen hängen, die an den gesuchten, nicht mehr anwesenden Geliebten erinnern, so wie dem Griff des Riegels, welchen der Geliebte berührt hat und nach der Myrrhe duftet, mit der er gesalbt war (Cant 5,5). Auch die Metaphern, mit welchen die Geliebten einander beschreiben, enthalten, so weitausschwingend sie auch sein mögen, stets ganz konkrete, anschauliche Dinge, sogar mit der Angabe des Ortsnamens (Cant 1,14). Und dies alles kann und soll auch gar nicht anders sein, denn die Liebe, die hier dargestellt wird, will nichts anderes als reine Diesseitigkeit, als die Gegenwart des Geliebten. So aber ist sie recht vergleichbar mit der Liebe zwischen Gott und dem Menschen. Denn diese will auch nichts anderes: Gott soll dem ihn liebenden Menschen reine Gegenwart werden und in sein Diesseits kommen. So weit der Bogen der allegorischen Auslegung des Hohenlieds ausschwingt, verbindet er doch in den Extremen Vergleichbares miteinander. Der Grund dieser Vergleichbarkeit ist also die allergrößte Nähe, welche die Liebenden zueinander suchen, obgleich sie doch voneinander stets unterschieden bleiben. Dies war auch wiederum bei Johann Hülsemann der Grund, die unio, die Seinsgemeinschaft zwischen Gott und dem Gläubigen, nach dem Modell der Vereinigung von Mann und Frau (Eph 5,30-32; I Kor 6,15-17) zu beschreiben 216 . Genau um die Darstellung, ja um die Praxis dieser Seinsgemeinschaft als Liebesgemeinschaft geht es Paul Gerhardt in seinen Passionssalven, und darum legt er Züge der geschlechtlichen Liebe in diese Darstellung hinein. Es ist klar, daß diese Darstellung dadurch hochmetaphorisch wird: nach neutestamentlichem Vorbild soll der Gläubige Jesus als Bräutigam, sich selbst aber als Braut verstehen. „Bräu-
215 Es ist auffallend, daß die Offenheit „nach oben", die Hintergründigkeit, die ERIC.H AUERBACH, Mimesis, 9 - 2 7 , so einleuchtend als Eigenschaft der alttestamentlichen erzählenden Texte und als Voraussetzung ihrer Deutbarkeit herausarbeitet, in der Darstellungsweise des Hohenlieds - trotz des fragmentarischen Charakters der einzelnen Stücke - nun gar nicht gegeben ist. 216
S . O . S. 1 6 3 .
254
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
tigam-Sein" bzw. „Braut-Sein" werden also zu Metaphern. Paul Gerhardt konnte offenbar von seinen Rezipienten einen hohen Grad von Bereitschaft erwarten, sich auf eine solche Metaphorik einzulassen, mit welcher die eigene jeweilige Geschlechtlichkeit transzendiert wird. So kann er in einem Weihnachtslied, in welchem das Einwiegen des Jesuskindes vorgespielt wird, Jesu Mutter ihren Sohn so anreden lassen: „Bräutgam, Sohn und selbst auch Vater, . . ," 217 . Alle diese Benennungen sind in Jesus vereint. Die Übertragung von Formen der weltlichen, die Liebe zwischen Mann und Frau darstellenden Liebesdichtung auf die Liebe zwischen Gott bzw. Christus und dem Christen, der christlichen Seele, im 17. Jahrhundert, „geistlicher Petrarkismus" genannt, geschah mit vollem Bewußtsein. Das Verhältnis beider Arten von Liebespoesie konnte dabei polemisch als Gegensatz dargestellt werden, wie etwa, mit dem Gegensatz von vanitas und Ewigkeit argumentierend, von Johann Scheffler: „O jhr Poeten wie seyd jhr solche Thoren, daß jhr eure Hertzen und Sinne euren Dorinden, Flavien, Purpurillen, und wie sie weiter heissen, ergebet; welche doch entweder nichtige Undinger, und Schatten in der Lufft, oder ja wahrhafftige Syrenen und Verführerinnen eurer Seelen seyn. Wendet hier eure Erfindungen und Federn an; hier hier in dem unvergleichlichen Angesichte JESu Christi, ist die allerfreundiichste Anmuttigkeit, die alleranmuttigste Liebligkeit, die allerlieblichste Huldseligkeit, und allerhuldseligste Schönheit. Hier blühen die unverwelkliche Rosen und Lilien, seine Wangen; hier wachsen die unverbleichliche Corallen, seine Lippen; hier scheinet die unverfinsterliche Sonn und Monde, seine Augen: hier ist der anbetens-würdige Thron deß Glantzes der Herrligkeit, seine Stirne: hier wehet der ewige West-Wind, sein huldseliger Athem, der die gefrorne Erde eures Hertzens kan auffthauen und erquicken: diese Schönheit liebet und beschreibet, und vertieffet euch gantz und gar in sie." 218
217
CS 9, 2,2, vgl. PETRICH, 216 f. Gerhardts lateinische Vorlage (bei Kemp, 30) enthält an dieser Stelle übrigens den entsprechenden Text. 218 Angelus Silesius, Heilige Seelenlust, Vorrede, Ausgabe hg. v. Ellinger, 4 f.; zit. bei WINDFUHR, 229 f. Zu Jesus als Bräutigam s. auch WOLFSKEHL, 107-120. Umgekehrt findet sich in der damaligen Dichtung auch die Möglichkeit einer ganz auf das Körperliche bezogenen geschlechtlichen Liebesdichtung in der Form einer religiösen Überhöhung oder vielmehr eines religiösen Überzugs, so Hoffmannswaldaus ,So soll der purpur deiner Uppen', in: Benjamin Neukirchs Anthologie, 449 f. Dazu UWE K. KETELSEN, „Die Liebe bindet Gold an Stahl und Garn zu weisser Seyde". Zu Hoffmannswaldaus erotischem Lied „So soll der purpur deiner Uppen". Die Frage, die hier im Grunde zu beantworten ist, ist die nach dem Ziel, auf welches menschliches Liebesverlangen letztendlich gerichtet ist. Klärende Überlegungen zu Sexualität und Erotik in der Jesusliebe der damaligen Lieder bringt auch ARNDAL, H a n s Adolph Brorson und die barocken und pietistischen Lieder in Deutschland.
D i e Passionssalven
255
5.3.2. Formen der Körperbeschreibung Ein Merkmal der petrarkistischen Liebesdichtung, welches sie mit dem Hohenlied gemein hat, ist dies, d a ß die Geliebte angeredet wird, indem die Teile ihres Körpers angeredet und damit zugleich beschrieben werden. Für deren Beschreibung werden in manchen Fällen wiederum Vergleiche oder Metaphern benutzt. Es kann also eine schlichtweg prädizierende Form von einer metaphorischen Form der Körperbeschreibung unterschieden werden. M a n kann dabei eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Passionssalven feststellen: auch hier wird der Geliebte, Jesus, angeredet, indem seine Glieder gegrüßt und beschrieben werden 2 1 9 . Doch sind es nun leidende Glieder. U n d Teile seines Körpers werden wiederum zu Elementen eines Vergleiches. Im folgenden soll nun untersucht werden, wie die Anwendung beider Formen der Körperbeschreibung, der einfach-prädizierenden und der metaphorischen, auf die Betrachtung des leidenden Jesus sich vollzieht. Es zeigt sich dabei, d a ß die Verwendung einer bestimmten sprachlichen Form verbunden wird mit einer jeweils ganz bestimmten Intention theologischer Aussage. Beginnen wir mit der ersten Form: D e r Liebende betrachtet Jesu Angesicht und beschreibt es im einzelnen, ganz wie es in Cant 4 , 1 - 7 und in der petrarkistischen Lyrik geschieht: das H a u p t , „schön gezieret / Mit höchster E h r und Zier", das „Augenlicht, / Dem sonst kein Licht nicht gleichet", die „Farbe deiner Wangen", „ D e r roten Lippen Pracht" (CS 24, 1,5 f.; 2,6 f.; 3,1 f.). Doch auf all dies wendet der Dichter das Vanitas-Motiv an: es ist alles im Leiden vergangen. Dies f ü r sich allein ist auch eine Möglichkeit weltlicher Liebesdichtung. So schreibt Hoffmannswaldau 2 2 0 : Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand D i r endlich mit der zeit umb deine brüste streichen / D e r liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Doch läuft es bei H o f f m a n n s w a l d a u auf eine Aufforderung an die Geliebte zum gemeinsamen carpe diem hinaus, so in dem Passionssalve an Jesu Angesicht auf eine möglichst eindringliche Darstellung der Fallhöhe, aus welcher der Sohn Gottes ins Leiden gestürzt ist. Andere Dichter jener Epoche vermochten dieses Stilmittel noch stärker anzuwenden, als es Paul G e r h a r d t tat, der hier selber schon über den Wortlaut seiner lateinischen Vorlage hinausging. Zum Vergleich mag es gestattet sein, Passagen aus 2 " Eine Meditation in der Weise, daß einzelne Teile des Körpers Jesu betrachtet werden, findet sich bereits in Bernhard von Clairvauxs dritter und vierter Hoheliedpredigt, hier auf den Kuß von Füßen, Händen und Mund Jesu. 220 Hoffmannswaldau, in: Benjamin Neukirchs Anthologie, 46 f. Dazu s. CHRISTIAN WAGENKNECHT, Memento mori und Carpe diem. Zu Hoffmannswaldaus Sonett „Vergänglichkeit der Schönheit". Vgl. dieses Motiv bei Gryphius, Uber die gebaine der ausgegrabenen Philosetten, GA 1,51 f., der dabei lediglich auf das ,Memento mori' abzielt.
256
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
einer Betrachtung des Gekreuzigten von Lohenstein hier zu zitieren, hinter welcher ebenfalls als Vorlage das lateinische Passionssalve an das H a u p t Jesu erkennbar ist 221 : Sein Haupt von feinstem Gold' ist eytricht und voll Beulen / Die Tauben-Augen sind mit Speichel zugekleibt . . . Die Lippen / die vor Myrrh- und Rosen theilten mitte / Sind braun und blau zerschwolln / zerkerbet und voll Fleck. Wird Leid Gegenstand eines Gedichts, eines Liebesgedichts, welches an sich auf die Schönheit des geliebten Wesens aus ist, dann wird Leid als Häßlichkeit artikuliert und das Leiden des menschgewordenen Gottes, gemäß Jes 52,14; 53,2, als sein Häßlichwerden. Fordert die Schönheit des Beschriebenen auch die Schönheit der Beschreibung heraus, so gilt dies umgekehrt auch f ü r die Häßlichkeit. Buchner hatte in seiner Poetik eine Aufeinanderfolge einsilbiger Worte verboten, zumal solcher mit gleichen Vokalen, wegen ihres harten und scharfen Klanges 2 2 2 . Gegen dieses Verbot verstößt G e r h a r d t offenbar bewußt, wenn er in ,Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld' folgende asyndetische Reihung formuliert: „Es nimmet an Schmach, H o h n und Spott, / Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und T o d " (CS 12, 1,8 f.). Auch hier gibt es Beispiele noch schärferer Ausnützung dieser Stilmöglichkeit, so in dem Stakkato der ersten Zeilen von Gryphius' Höllen-Sonett 2 2 3 : ACh! und Weh! Mord! Zetter! Jammer / Angst / Creuz! Marter! Würme! Plagen. Pech! Folter! Hencker! Flamm! Stanck! Geister! Kälte! Zagen! Obgleich G e r h a r d t in seinen Passionssalven und den verwandten Passionsliedern den höchsten Grad an Gemütsbewegung zu erregen trachtet, ist er, wie man sieht, mit der Wahl der poetischen Mittel dabei vergleichsweise sparsam. Zurück zu der schlichtweg prädizierenden Form der Körperbeschreibung: der Liebesdichtung entnommen, dient sie in den Passionssalven dem Ausdruck der Liebe zu Jesus und zugleich des Leidens, in das er sich begeben hat. Die Metaphern hingegen, welche die Liebeslyrik zum Preis des Körpers der Geliebten gebraucht, werden insbesondere dazu verwendet, die Heilsbedeutung von Jesu Leiden anschaulich zu machen 2 2 4 . 221
Es handelt sich um eine Paraphrase von Jes 52,14: Lohenstein, Geistliche Gedanken über Das LIII. Capitel des Propheten Esaias, VI (17 f.), in der Nachdruck-Ausgabe, hg. v. Spellerberg [89f.], zit. bei SZYROCKI, Die deutsche Literatur des Barock, 211, vgl. dort den ganzen Kontext, 209-212. 222 Buchner, Anleitung, 109-112, vgl. sein Verbot ekelerregender Ausdrücke, Anleitung, 29 f. 223 Gryphius, GA 1,91. 224 Die verschiedenen in der Barocklyrik gebräuchlichen Ausdrucksmittel f ü r die Liebesver-
Die Passionssalven
257
Auf einen dieser Fälle ist schon einmal eingegangen worden. Es handelt sich um die Süßigkeit von Jesu Mund: „Dein Mund hat mich gelabet / Mit Milch und süßer Kost" 225 . Im Hohenlied, 4,11, ist die Süßigkeit des geküßten Mundes der Geliebten gemeint. Diese Süßigkeit wird metaphorisch mit der von Milch und Honig identifiziert 226 . Wird die Hoheliedstelle zur Beschreibung von Jesu Mund angewandt, dann entsteht gleichsam ein Dreieck: Mund Jesu - Mund der Geliebten - Milch und Honig. In dem dritten Eckpunkt dieses Dreiecks geht es um Milch und Honig als etwas Süßem, als etwas, das von einem anderen Wesen empfunden und genossen werden kann und dadurch in ihm Lust und Freude bewirkt. Dieser dritte Punkt wird nun nicht nur Metapher für die Süßigkeit des Küssens, sondern zugleich für die Heilswirkung dessen, was aus Jesu Mund kommt, nämlich sein tröstendes Wort. Das Metaphern-Dreieck wird zum Viereck umgestaltet, und der vierte Eckpunkt steht in Verbindung mit dem ersten; er prädiziert etwas von diesem. Die im Hohenlied beschriebenen Körperteile der Geliebten und die dazu verwendeten Metaphern werden also zwischen zwei Glieder einer Aussage christlicher Lehre gesetzt, hier etwa der Aussage: „Aus Christi Mund kommen Worte des Trostes". Dadurch gewinnt der im Kontext des Hohenlieds nicht-metaphorische Ausdruck „die Lippen der Braut" einen metaphorischen Charakter, und der dort schon als Metapher gebrauchte Ausdruck „Milch und Honig" wird zur doppeldeutigen Metapher. Die nur im Glauben zugängliche Heilsbedeutung von Jesu Wort wird durch das dem Hohenlied entnommene Vergleichspaar metaphorisch ausgedrückt und so auf die Ebene einer Sinnfälligkeit gebracht, die dem Affekt höchst eindrücklich ist. Während dieses Beispiel sich auf Jesu Predigt in der Zeit vor seiner Passion bezieht, gibt es auch Anwendungen dieses Metaphern-Vierecks auf den als gegenwärtig vorgestellten leidenden Körper Christi. Das Küssen der Geliebten wird an einigen Stellen des Hohenlieds, über die genannte noch hinausgehend, verglichen mit dem Trinken von Wein: 5,1; 7,10; 8,2, vgl. 1,4 und 4,10. In dem Salve an Jesu Seitenwunde küßt der Anbetende diese: „Eröffne dich, du liebe Wund, / Und laß mein Herze trinken!" (CS 21, 3,5 f.) und „Mein Mund streckt sich mit aller Kraft, / Damit er dich berühre / Und ich den teuren Lebenssaft / In Mark und Beinen spüre." (CS 21, 4,1-4). Der Mund der Geliebten wird hier also mit Jesu Seitenwunde verglichen, der Wein mit dem Blut Christi, wobei damit Joh 6,53-56 und die Abendmahlsworte aufgenommen werden. Auf diese Weise wird die Heilskraft von Jesu Seitenwunde (Jes 53,5) zu einer metaphorischen Sinn-
einigung mit dem leidenden Christus, welche Teile von Jesu Körper nennen und dabei Stellen aus dem Hohenlied aufnehmen, hat LUCIA HASELBÖCK mit stupendem Fleiß, wenn auch gedanklich wenig verarbeitet, zusammengestellt: Studien, 3 9 2 - 5 0 8 . 225 CS 24, 5,5 f., s . o . S. 213. 226 Zu Ausdrücken der Süße als Metapher für das Küssen s. WLNDFUHR, 246 f.
258
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
fälligkeit gebracht 227 . Dabei gewinnt die Seitenwunde (bzw. das Blut) selbst noch zusätzlich einen metaphorischen, oder genauer: metonymischen Charakter. Denn sie steht - wie alle angeredeten Körperteile - für Jesu Person selbst, und es ist Jesu Person in ihrer Einheit von Gott und Mensch, welche die Erlösung der Menschheit wirkt. Und zwar geschieht dies durch die Verwundung von Jesu Leib gleichsam als eines Werkzeugs, und kraft der communicatio idiomatum wird die Erlösungskraft der Gottheit Jesu auch auf seinen menschlichen Leib übertragen 228 . Die Seitenwunde Jesu findet sich auch noch in einen anderen Metaphernzusammenhang gestellt, der durch Cant 2,14 gegeben ist. Der Liebende sucht die Geliebte und sieht sie nicht. So vergleicht er sie mit der Taube, die in einer Felshöhle verborgen ist. Die Gestalt der Felshöhle ermöglicht den Vergleich mit der Seitenwunde. Im Hohenlied will der Liebende, daß die Geliebte sich zeigt, daß die Taube die Felshöhle verläßt. Andererseits kann diese auch die Funktion eines Zufluchtsorts haben, in welchen die Geliebte sich zurückziehen soll (wobei Jer 48,28 hineinspielen mag), und dieser Aspekt wird zur Metapher dafür, daß Jesu Seitenwunde, d. h. Jesus selbst, dem Gläubigen conservatio gewährt vor Hölle, Tod und Teufel 229 : Verbirge mich und schleuß mich ein In deiner Seiten Höhle! Hier laß mich still und sicher sein, Hier wärme meine Seele, Wann mich der kalte Tod befällt, Und wann der höllsche Leue Nach mir und meinem Geiste stellt, So laß in deiner Treue Mich dann fein ruhig bleiben.
Ein weiteres Beispiel soteriologischen Metapherngebrauches ist die Benennung der Geliebten als einer Blume (Cant 2,1), welche, des Blutes Christi wegen, als rote Rose, zur Metapher für die blutenden Hände oder das blutende Herz Jesu - und damit für Jesus selbst - wird. Ihr angenehmer Anblick und D u f t stehen für das meritum, das Christus dem Gläubigen erworben hat 2 3 0 . 227
Vgl. OHLY, Süße Nägel der Passion, 421-423. Dies wird ausdrücklich von dem Blut Jesu ausgesagt, s.o. S. 164. 229 CS 21,5, bei Bernhard, Sermo 61, 1,3. Diese Deutung der Stelle Cant 2,14 ist übrigens nicht auf die als „mystisch" bezeichnete Literatur beschränkt. Sie findet sich auch in dem Kommentar der Kurfürstenbibel. Zu ihrer Verwendung bei Johann Gerhard s. STEIGER, Seelsorge, Dogmatik und Mystik bei Johann Gerhard, 337. 230 CS 20,1; 23, 4,1 f.; 23, 6,1-4. Zur Metaphorik der Rose s. WLNDFUHR, 240 f. - Ein soteriologisches Metaphernviereck findet sich auch in dem Topos von Jesus als dem purpurroten Blutwürmlein (bei Johann Heermann FT 1,333). Jesus wird mit dem Leidenden von Ps 22 identifiziert, dieser wiederum in V. 7 mit einem Wurm verglichen. Das Blut, das dieser 228
Die Passionssalven
5.4. Schmerz und Süßigkeit im Kontext
259
der Passionssalven
Liegt in den Formen des Körperlobes eine Gleichartigkeit von Hohemlied und petrarkistischer Liebeslyrik vor, so besteht ein Unterschied darin, d a ß in jenem das Sich-Entbehren der Geliebten sich, fast wie in einem Spiel, mit ihrem Einanderfinden abwechselt, während im Petrarkismus die Geliebte, sei es, weil sie ihr hartes H e r z verschließt, sei es aus anderen Gründen, unerreichbar bleibt. Sie steht in unerreichbarer Ferne. Diese Ferne, gemeinsam mit der liebenden Wertschätzung, die der Geliebten zuteil wird, verleiht ihr, ganz im Gegensatz zu der Diesseitigkeit des Hohenliedes, einen transzendenten, gleichsam religiösen Charakter. Dieser strahlt auf alles aus, was mit der Geliebten in Verbindung gebracht werden kann. So segnet der unglücklich liebende Petrarca Tag, M o n a t , Jahr, in welchem Laura seine Liebe entzündet hat und so auch „die erste, süße Wunde, / die Liebe schlug, als mich erfaßt ihr Branden; / und Pfeil und Bogen, die mich wehrlos fanden / bis tief ins H e r z , . . " 2 3 1 . D e r T o p o s von der süßen Wunde, welche durch den Pfeil Amors im Herzen geschlagen wird, ist antik 2 3 2 . Liebe erfüllt in ihrem Anheben mit der Vorstellung der Freuden der Vereinigung mit der Geliebten. D a r u m ist sie süß. Zugleich wird die Geliebte aber - noch - entbehrt. Dies erfüllt mit Schmerz. Den durch die Liebe bereiteten Schmerz beschreibt ebenfalls, wenn auch nicht in jenem Bild ausgedrückt, das Hohenlied: die Geliebte ist krank vor Liebe und bedarf der Labung durch des Geliebten Gegenwart (2,5; 5,8). Das H e r z des Liebenden ist, wie der Vulgata-Text sagt, verwundet durch den Liebe erregenden Blick seiner Braut (4,9). Allerdings findet sich nicht die Verdichtung des süßen und des schmerzvollen Charakters der Liebe zu einer Paradoxie; es bleibt bei dem Wechsel der Emp-
läßt, wenn er zertreten wird, steht für die Erlösungswirkung von Jesu Leiden. Vgl. dazu ZELL, 209-212, im Kontext einer Besprechung der Blut- und Wundenfrömmigkeit bei Heermann. Mir scheint, anstelle von Äußerungen des Abscheus über die Geschmacklosigkeit solcher metaphorischer Konstruktionen (bei ZELL, 209, zusammengestellt) sollte ein Bedenken ihres theologischen Gehaltes treten und eine Achtung, wenn nicht eine Empathie der frommen Gefühle, welche sie damals zu erwecken verstanden, wofür Feustkings, oben S. 230, bei Anm. 137 zitierte Äußerung Zeugnis ist. In diesem Sinne äußert sich auch KRAUSE, 298. 231 „e benedetto il primo dolce affanno / ch' i' ebbi ad esser con Amor congiunto, / e l'arco e le saette ond' i' fui punto, / e le piaghe che 'nfin al cor mi vanno.", Petrarca, Sonett ,Benedetto sia Ί giorno e Ί mese e l'anno', Str. 2, in der der Ausgabe der ,Rime' Nr. LXI, in der oben gegebenen Ubersetzung von Geiger Nr. 47. 232 So z.B. Apuleius im Märchen von Amor und Psyche, Metamorphoses IV, 31,1. Dieses Märchen vor allem, von Amor, der in seinem geheimen Brautgemach Psyche liebt, gibt eine Topik, welche zu der Darstellung der Liebe zwischen Jesus, der leibhaften Liebe Gottes, und der gläubigen Seele christlich umgedeutet wurde, zumal in der ,Heiligen Seelenlust' Schefflers, der ,Trutznachtigall' und dem ,Tugendbuch' Spees. Siehe dazu JACOBSEN, Die Metamorphosen der Liebe und Friedrich Spees ,Trutznachtigall'; WOLFSKEHL, 45; 86 f.; 113; 116-120; 137-139; HASELBÖCK, Studien, 455-465.
260
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
findungen. Anders im Petrarkismus: So wie Liebe als überstarker Affekt die Herrschaft der Vernunft über die Seele vertreibt - „Die Schwindsucht der Vernunfft / so man die Liebe nennet" 2 3 3 so führt sie auch in Situationen hinein, welche die Vernunft mit den ihr eigenen Mitteln nicht mehr erfassen kann. Sie sind nur noch in Paradoxien oder mit Oxymora zu beschreiben 234 . Eine dieser Paradoxien ist diese, daß süße Liebe Schmerz bringt, oder daß umgekehrt dieser Schmerz süß ist. Dieser, wenn man so will, irrationale, oder besser transrationale und paradoxale Charakter der Liebe wird in den petrarkistischen Gedichten immer wieder herausgearbeitet, und er schwingt auch in den Passionssalven Paul Gerhardts mit. Wir sind hier wieder zu dem Punkt gelangt, daß an Stelle des Versuchs, das Problem des Leids vernünftig zu klären, eine Weise des Umgangs mit ihm tritt, welche vom Affekt bestimmt ist. Dies führt zu Formulierungen, in welchen Schmerz und Süßigkeit aufeinandertreffen. Das Verhältnis dieser beiden Affekte in den Passionssalven soll nun geklärt werden. Um die jeweilige Bedeutung dieser Begriffe bzw. der ihnen entsprechenden Empfindungen erfassen zu können, soll erst einmal grob der Aufbau umrissen werden, welcher den sieben Passionssalven gemeinsam ist: Die Salven beginnen mit einem Gruß, mit einer Zuwendung an Jesus. In dieser Anrede wird zumeist (bis auf CS 18) die Hoheit Jesu benannt. Mit diesem Ausdruck der Unterwerfung ist derjenige der Liebe verbunden. Es handelt sich um eine herzliche Zuneigung, die den Betrachter Jesus grüßen läßt. O f t wird dieser Gruß verbunden mit einem anderen Element, der Beschreibung von Jesu Elend und Leid. Diese wird verschärft durch die Benennung der Hoheit Jesu: es ist der „König aller Frommen", der „König aller Welt", der da leidet 235 . Die Beschreibung von Jesu Leid wird gegeben mit dem Ausdruck von Erschrecken, Klage und Mitleid. Dieses Mitleid ist mit der Liebe verbunden, die sich im Begrüßen Jesu ausdrückt. Der zweite Schritt in der Entfaltung der Passionssalven führt von der Klage über das Leid zu der Frage nach seiner Ursache. Jedesmal bekennt der Sprechende, daß er es ist, der Jesus dieses Leid zugefügt hat. Und
233 Hoffmannswaldau, Die erleuchtete Maria Magdalena, p. 5, Deutsche Übersetzungen und Gedichte, Ges. Werke 1/1, 605. 234 Ein Beispiel dafür gibt das Petrarca nachgedichtete Sonett des Opitz ,Ist Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet', Ges. Werke II/2, 703, s. dazu ULRICH MACHE, Die Unbegreiflichkeit der Liebe. Zu der für Petrarca und den Petrarkismus typischen Antinomie zwischen Liebe und Vernunft s. HANS PYRITZ, 137 f., zu dem schmerzlichsüßen Charakter der Liebe in der Liebesklage seit Sappho s. das., 124 ff. 235 CS 19, 1,2; 23, 1,1. Die Beschreibung von Jesu Leiden durchzieht alle Passionssalven von der ersten Strophe angefangen, ausgenommen diejenige an die Brust Jesu. Dort wird nur ziemlich verdeckt von seinem Leiden gesprochen, 22, 3,1 f.: „Mach, Herr, durch deines Herzens Quell / Mein Herz von Unflat rein und hell!". Und auch hier wird nicht vom Leid als Leid gesprochen. Es findet sich keine Klage oder dergleichen.
D i e Passionssalven
261
meistens wird dann auch gesagt, daß er Jesus auf die Weise Leid zugefügt hat, daß Jesus an seiner Stelle das büßt, was er selbst verschuldet hat. Die Satisfaktionslehre wird also klar angesprochen, allerdings wird nirgendwo Gott Vater erwähnt 236 . Auf das Schuldbekenntnis folgt als dritter Schritt ein Ausdruck der Dankbarkeit, der mit Liebe verbunden ist. Der Betrachtende dankt Jesus für seine Stellvertretung, für das Verdienst, das er ihm erworben hat. Das Bewußtsein, daß Jesus dies für ihn getan hat, erweckt in ihm Liebe. Es gehört zu den eigentümlichen Unscharfen dieser Gedichte, daß oft nicht klar erkennbar ist, wo es sich um mitleidvolle Sympathie mit einem leidenden Wesen handelt - dessen Leid dadurch besonders groß ist, daß es einst sehr glücklich war - und wo es die Liebe ist, die in dem bis dahin lieblosen Sünder dadurch entsteht, daß er es erkennt und annimmt, daß Gottes Sohn aus Liebe zu ihm für ihn gestorben ist. Ziemlich klar ist die Entwicklung von der mitleidsvollen Liebe zu der Liebe aus Dankbarkeit in , Ο Haupt voll Blut und Wunden', so daß auch die Einschätzung naheliegt, daß jene erste, mit Mitleid verbundene Liebe schon diejenige Liebe ist, die aus der Dankbarkeit stammt. Ein Beispiel für verschwommenere Konturen ist die erste Strophe des Salve an die Füße Jesu (CS 18,1): Sei mir tausendmal gegrüßet, D e r mich je und je geliebt, Jesu, der du selbst gebüßet D a s , w o m i t ich dich betrübt. Ach wie ist mir d o c h so wohl, Wenn ich knien und liegen soll An dem Kreuze, da du stirbest U n d um meine Seele wirbest.
Hier ist der Übergang von der im Gruße bezeugten Zuneigung zu dem ab V. 5 bekundeten Willen, sich zu dem am Kreuz hängenden Geliebten zu halten, nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in dem V. 2-4 formulierten Gedanken der satisfactio der unausgesprochene Gedanke impliziert ist, daß dieses stellvertretende Leiden für den Sprecher das Geschenk eines Verdienstes darstellt, das seine Dankbarkeit und damit die Liebe hervorruft, die ihn unter dem Kreuz Platz nehmen läßt. Damit sind wir aber schon beim vierten Schritt angelangt. Der Beter sucht die Gemeinschaft Jesu, er bittet Jesus, Gemeinschaft mit ihm zu haben. Dieses Motiv der Seinsgemeinschaft wird auf verschiedenfache Weise variiert und dadurch in seinen Aspekten beleuchtet. Diese Variationen nehmen einen großen Teil des Raumes in den Passionssalven ein. Ein 234 In Rists Nachdichtung wird, in dem Salve an Jesu Seite, FT II, 216,11,4 auch „Deß höchsten Grim" genannt, vor welchem der Gläubige, beim Gang durch die Seitenwunde in Jesu Herz angelangt, sicher ist.
262
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Aspekt ist die Trennung von der Sünde, in welcher der Mensch bis dahin verharrt hat, ein zweiter die Bitte, fortlaufend ganz von ihr gereinigt zu werden, also iustificatio237 und sanctificatio bzw. Mortificatio carnis. An das Thema der Seinsgemeinschaft schließen sich gleichsam als Ausblick weitere Themen an: die Bitte, in dieser Gemeinschaft bleiben zu können, die Bitte um conservatio (wie in C S 21,5) und in manchen Salven eine Ars moriendi: die Bitte, daß in der Stunde des leiblichen Todes die Gemeinschaft mit Jesus erhalten bleibe, so daß der Bittende in die Herrlichkeit Gottes gelangen kann 2 3 8 . Mit diesem Ausblick auf die glorificatio enden, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, alle Salven. Man sieht, daß das Skelett, welches unter der szenen- und metaphernreichen Vielfalt der Passionssalven verborgen liegt, nichts anderes ist als jene Kette von Begriffen von der redemptio bis zur glorificatio, welche in dieser Studie als O r d o salutis bezeichnet worden ist. Auf der Grundlage dieser inneren gedanklichen Ordnung soll nun gesehen werden, wo in welchem Zusammenhang von Schmerz einerseits und Süßigkeit, Genuß oder Liebe andererseits die Rede ist. Es lassen sich dabei fünf Gruppen unterscheiden. a) Im ersten Schritt der beschriebenen Entwicklung ist von dem Leid Jesu die Rede, mit welchem der Betrachter mitleidet. Dieses Mitleid ist mit Liebe zu ihm verbunden. Allerdings fällt auf, daß nirgend von einer Süße der Mitleids die Rede ist, welches genossen wird. J a , man kann sogar sagen, daß die Liebe - oder besser: die herzliche Sympathie - die sich hier bekundet, nicht aus dem Mitleid mit Jesus entspringt, sondern aus der Dankbarkeit für sein Opfer. Allerdings ist dies nicht überall ganz klar. In dem dritten Schritt erwächst aus der Dankbarkeit eine Liebe zu Jesus, die, im vierten Schritt, zur Seinsgemeinschaft mit ihm führt. Diese ist nun eine Gemeinschaft mit einem Leidenden. Und sie entsteht aufgrund des
237 In CS 24, 4,5-8 hat Paul Gerhardt die thematische Beziehung auf die Lehre von der Rechtfertigung dadurch herausgearbeitet, daß er zwei zentrale Begriffe dieser Lehre verwendet hat, nämlich „Zorn" und „Gnade", welche sich in der lateinischen Vorlage nicht finden. Siehe TRAUGOTT KOCH, 10; SAUER-GEPPERT, Sprache, 218. Insofern kann der These nicht ganz zugestimmt werden, daß Paul Gerhardts Nachdichtung gar keine reformatorischen Elemente einbringe und in der katholischen Tradition verbleibe. Wenn Gerhardt in seiner Bearbeitung zurückhaltend war, dann deswegen, weil - in dem Kontext, in welchen er seine Nachdichtung stellen konnte - seine Vorlage keinen Widerspruch zur reformatorischen Lehre darstellte. Die referierte These bei MARLIES LEHNERTZ, 772, und LUCIA HASELBÖCK, О Haupt voll Blut und Wunden, 107; dies., Studien, 249-252. Umgekehrt ist auch die Einschätzung PETRICHs, 212-214, welche Gerhardts Nachdichtung von der Vorlage eher fortzurücken sucht, nicht zu bestätigen. 238
C S 21, 4 , 7 - 9 ; 23, 4 , 1 0 - 1 2 ; 24, 8 , 5 - 1 0 , 8 . In d e r letztgenannten P a s s a g e hat G e r h a r d t
auch eine Strophe aus einem Lied Valerius Herbergers eingearbeitet, FT I, 125,3, s. SAUERGEPPERT, S p r a c h e ,
2 2 1 , A n m . 2 5 6 ; TRAUGOTT K O C H ,
11, A n m . 16. Z u m T h e m a
der
Ars
moriendi s. PIPER, Ars moriendi und Kirchenlied; LEHNERTZ, 770, bei Anm. 28; AXMACHER,
Aus Liebe, 68.
Die Passionssalven
263
Leidens Jesu. Hier finden sich in den verschiedenen Variationen die anderen Gruppen: b) Zunächst ist hier die Liebe zu nennen, die auch und gerade an Jesu Wunden, an seinem Leiden Wohlgefallen findet und sie ausdrücklich genießt: „Ich umfange, herz und küsse / Der gekränkten Wunden Zahl . . . " (CS 18, 2,1 f.). Der Beter bittet: „ . . . laß . . . mit dem Blut, / Das mir zugut / Vergossen, mich erquicken." (CS 20, 2,5-10). „Ich herz und küsse . . . deine Händ und sage Ruhm / Und Dank für ihren Schmerzen;" (CS 20, 5,1-4). Hierhin gehören auch die schon besprochenen Metaphernkonstruktionen mit den Händen oder dem Herz Jesu als Rose oder mit der Seitenwunde Jesu als geküßtem Mund. Diese letztgenannte Stelle wird so fortgeführt: „Ach wie süße bist du doch, / Herr Jesu, meinem Herzen!" (CS 21, 4,5 f.). In dem Salve an Jesu Herz heißt es: „Mein Herze, wie dir wohl bewußt, / Hat seine größt und höchste Lust / An dir und deinem Leiden." (CS 23, 1,4-6). Um dieselbe Sache geht es mit zurückhaltenderen, dem heutigen Leser weniger mißverständlichen Worten: „Es dient zu meinen Freuden / Und kommt mir herzlich wohl, / Wenn ich in deinem Leiden, / Mein Heil, mich finden soll." (CS 24, 7,1-4). Die Süßigkeit, die der Liebende an Jesu Leiden findet, ist die Süßigkeit der Seligkeit, die Jesus durch sein Leid ihm erworben hat. Sie wird also vom Ziel aufs Mittel übertragen. Darauf soll später noch eingegangen werden. c) Diese Übertragung vom Ziel aufs Mittel findet sich auch in dem schon erörterten Motiv, daß das eigene Leiden des Menschen ihm versüßt wird 239 . Die Passage vom Kuß der Seitenwunde wird als Ars moriendi so weitergeführt: „Wer dich recht liebt, dem wird das Joch / Der bittern Todesschmerzen / Gleich als wie lauter Zucker." (CS 21, 4,7-9). d) Ein Aspekt der Seinsgemeinschaft ist die Trennung und Reinigung von der Sünde. Diese kann, nach neutestamentlichem Vorbild, als Kreuzigung des alten Ich, als mortificatio der Sünde ausgedrückt werden (CS 20, 4,3-10): Gib, daß mein Herz nur immerhin Nach deinem Kreuze stehe, Ja daß ich mich Selbst williglich Mit dir ans Kreuze binde! Und mehr und mehr Töt und zerstör In mir des Fleisches Sünde.
Hier ist Leid der Schmerz der Ablösung von einem falschen Leben; indem dieser Schmerz erlitten wird, verähnlicht sich der Gläubige Christus. In dem Salve an die Seitenwunde heißt es nach der Bitte, aus ihr trinken zu dürfen: 239
S.o. S. 160f.
264
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
„Ists möglich, laß mich gar zu Grund / In dir gehn und versinken, / So werd ich mich recht laben." (CS 21, 3,7-9). Der Christus Liebende will in dem metaphorischen Blutstrom untergehen. Dies ist Tod und höchste Wonne zugleich. An dieser Stelle kommen mehrere Motive zusammen. Das Untergehen ist die Mortificatio, die bejaht wird und um ihres Ziels willen auch Freude bereitet. Denn es tritt dabei die positive Kehrseite der Abtötung immer stärker hervor, die Vereinigung mit Christus. Diese Vereinigung mit ihm löscht nicht nur das sündige Ich aus, sondern sprengt auch die Grenzen allen kreatürlichen Seins, ein Motiv, das immer wieder dort auftaucht, wo der Gläubige darum bittet, Jesus in sich aufnehmen zu können 240 . Man kann das hier Beschriebene als unio mystica in der Form einer mors mystical·41 bezeichnen, doch sollte man hier wie bei Gal 2,19 f. beachten, daß dieser Tod des alten Ichs mit einem Neuwerden des Ichs verbunden ist, das durchaus von Jesus als seinem Gegenüber unterschieden ist. e) Die Abtötung der Sünde wird bejaht, wird zum Gegenstand der Freude, weil sie Christus entgegenführt. So kann der Weg zu Christus auch so beschrieben werden, daß er das Leid stillt, das die Sünde erzeugt, wobei mit diesem Leid in erster Linie die Schmerzen des Gewissens gemeint sind. Schmerz als das, was bestimmt ist, Vergangenheit zu werden, und erbetene, künftige Freude werden also hier nicht, wie im Fall d), als etwas - noch - Zusammenlaufendes vorgestellt, sondern als zweierlei, das voneinander abgesetzt wird. So heißt es 242 : Heile mich, о Heil der Seelen, Wo ich krank und traurig bin; Nimm die Schmerzen, die mich quälen Und den ganzen Schaden hin, Den mir Adams Fall gebracht Und ich selbsten mir gemacht. Wird, о Arzt, dein Blut mich netzen, Wird sich all mein Jammer setzen.
Wird hier mehr in der Metaphorik einer ärztlichen Behandlung gesprochen, so wird an der folgenden Stelle stärker an die Stillung des Liebeskummers angespielt: „Vor großer Lieb und heiiger Lust, / Damit du mich erfüllet, / So wird mein Leid gestillet . . . " (CS 19, 4,1-3). In dem Salve an die Seitenwunde kommen schließlich die Metaphern vom Stillen des Liebeskummers durch den Kuß und vom Löschen des Durstes durch das Trinken des Weins zusammen: „Du flößest mir das Leben ein / Und stillst des Dursts Verlangen: / Eröffne dich, du liebe Wund, . . . " (CS 21, 3,3-5).
240
CS 1, 1,5-8; Siehe MOHR, das Liebesgedicht, 242 CS 18,3, vgl. 241
1,7; 6, 5,5-7; 12, 7,1-4. Art. Mors mystica; WOLFSKEHL, 9 f.; 88; 137-139; WlNDFUHR, 231 f., f ü r sowie ERNST KOCH, „Wann ich einmal soll scheiden . . . " . 2, 1,8 ff.
D i e Passionssalven
265
f) Das Motiv vorn Stillen des Liebesleids kann weiter entfaltet werden. Denn Liebesleid entsteht erst da, wo überhaupt Liebe, Verlangen nach dem Geliebten da ist. Nicht in der Metapher gesprochen heißt dies: Befreiung von der Sündenschuld wird erst dann erfahren, wenn Sündenbewußtsein und Erlösungssehnsucht vorhanden sind. In dem Salve an das Herz Jesu bittet der Beter in der teilweise schon zitierten Strophe CS 23,3 darum, daß sein kaltes hartes Herz - wie das einer widerspenstigen Geliebten - von den Flammen der Liebe Jesu erhitzt werde 243 . Dies kann in einer anderen Variation so formuliert werden (CS 23, 6,5-10): D e i n H e r z , Herr Jesu, ist verwundt, Ach tritt zu mir in meinen Bund U n d gib mir deinen Orden! Verwundt auch mich, о süßes Heil, U n d triff mein H e r z mit deinem Pfeil, Wie du verwundet worden.
In der „Doublette" dazu, CS 60, 5,6-9, heißt es - wobei das AkkusativObjekt dem Subjekt vorausgestellt ist: „Ach, laß mich deine Wunden / Alle Stunden / Mit Lieb im Herzensgrund / Auch ritzen und verwunden." 244 Auf der Ebene, auf welcher das Verhältnis zweier Verliebter dargestellt wird, handelt es sich darum, zu erbitten, daß Gegenliebe in einem erweckt werde. Dies wird metaphorisch mit dem Topos von dem Pfeil und den Wunden dargestellt. Die Ebene des Liebesgesprächs wird nun in dem Passionssalve zum Ort einer Metaphorik für die Bitte um Seinsgemeinschaft mit Jesus. Dabei steht die Liebesverwundung Jesu zum einen für das Leid der Passion, die Jesus um seiner Liebe zu uns willen erleidet, die also Folge seiner Liebe, oder, nach dem Ziel betrachtet, Mittel ihrer Erfüllung ist. Zum anderen ist durchaus das Brennen der Liebe selbst gemeint, die Jesus für die Sünder empfindet 245 . Auf der Seite des Sprechers steht die Liebesverwundung für seine Sehnsucht nach Erlösung und Seinsgemeinschaft mit Jesus. Indem er anfängt, sie zu begehren, wird er sich schmerzlich bewußt, daß er sie bis dahin hat entbehren müssen. So ist in dieser Verwundung zugleich auch der Schmerz über die eigene Sünde bzw. der Schmerz der mortificatio mit eingeschlossen. Die Ebene des Liebesgesprächs wird, für sich genommen, in dieser Strophe nicht über einen Punkt hinausgeführt, der im Petrarkismus auch vorhanden 243
Vgl. oben S. 245. In der Vorlage Johann Arndts für dieses Gedicht heißt es: „Ach mein Liebhaber du bist vmb meiner Liebe willen verwundet, verwunde meine Seele mit deiner Liebe.", bei Kemp, 35. Es handelt sich also nicht darum, daß die Wunden Jesu von dem Beter noch vertieft werden, sondern darum, daß er selber verwundet wird. Siehe dazu auch KRAUSE, 298, bei Anm. 37. 245 Diese Metaphorik wurde in der lateinischen Sprache anhand der Doppelbedeutung von „passio" ausgebildet: Dies kann „Leiden" heißen oder „Leidenschaft", s. AUERBACH, Gloria passionis. 244
266
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
ist: beide Liebende stehen einander in unerfüllbarer Liebe gegenüber, die sie mit Süßigkeit und Schmerz zugleich erfüllt - allerdings dürfte es schon aus dem Rahmen fallen, d a ß die bis dahin widerspenstige Geliebte darum bittet, von der gleichen unerfüllbaren, schmerzenden Liebe erfüllt zu werden wie ihr Liebhaber. Diese Spannung, in der Schmerz und Süßigkeit einander umgreifen, wird aber in der folgenden, der abschließenden Strophe aufgelöst, in welcher Gestilltwerden des Liebesleids und höchste Bewegung der Freude ineinander verschmelzen 2 4 6 : Nimm mein Herz, о mein höchstes Gut, Und leg es hin, wo dein Herz ruht, Da ists wohl aufgehoben. Da gehts mit dir gleich als zum Tanz, Da lobt es deines Hauses Glanz Und kanns doch nicht gnug loben. Hier setzt sichs, hier gefällts ihm wohl, Hier freut sichs, daß es bleiben soll. Erfüll, Herr, meinen Willen! Und weil mein Herz dein Herze liebt, So laß auch, wie dein Recht es gibt, Dein Herz mein Herze stillen.
5.5. Zusammenfassende Betrachtungen zu den
Passionssalven
Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen Konstellationen, in welchen Süßigkeit und Leid aufeinandertreffen, können die Fragestellungen der vorangegangenen Abschnitte über die Mystik und die Liebesdichtung aufgenommen und in einer abschließenden Beurteilung der Passionssalven zusammengeführt werden. Beginnen wir mit der mystischen Konzeption Bernhards, so zeigt sich, d a ß - und zwar schon in der lateinischen Fassung der Passionssalven die Sympathie, welche der Anblick Gottes in menschlicher Gestalt erweckt, das Mitleid, das er einflößt, höchstens ein einleitendes M o m e n t darstellt und d a ß es dann keineswegs in eine fortschreitende Vergeistigung der Christusbeziehung weitergeführt wird. Im weiteren Verlauf der Passionssalven, ja bis in den Ausblick auf die Ewigkeit hinein, verweilt die Betrachtung bei Jesu Körper. Die mit Mitleid verbundene Liebe kann sogar selbst zurückgeführt werden auf die Dankbarkeit, die der Betrachtende f ü r Jesu O p f e r hat und die schon in den nächsten Schritten der Salven formuliert wird. Das heißt aber, d a ß alle in der sinnlich vorgestellten Betrachtung Jesu sich einstellenden Affekte auf einen Gedankenkomplex zurückgeführt werden müssen, welcher durch die drei Aspekte von Jesu 246
CS 23,7, vgl. oben S. 178 f.
Die Passionssalven
267
Opfer - satisfactio, meritum, monitum - und die Begriffsfolge des Ordo salutis bestimmt ist. Ohne diesen Gedankenkomplex wären sie nicht verständlich, und auch die affektgeladenen metaphorischen Konstruktionen, welche aus der Topik der Liebesdichtung aufgebaut sind, würden in sich zusammenfallen. Die in den Passionssalven angesprochenen Affekte sind also abhängig davon, daß der in ihnen sprechende Mensch glaubt. Daß er glaubt, daß Jesus Christus das fleischgewordene Wort Gottes ist, das für seine Sünden gelitten hat, daß das Festhalten an Jesus ihn von der Sünde reinigt, ihn heiligt, vor Anfechtungen bewahrt und in die Herrlichkeit Gottes hineinführt. Dieser Glaube wird nicht durch Affekte erregt, sondern ist vielmehr deren Voraussetzung. Der Mensch ist dieses Glaubens auch nicht einmal mächtig. Dies beweisen das Bekenntnis der eigenen Sünde der Herzenskälte, CS 23,3 - und das Bekenntnis des Unvermögens, Jesus in den Grenzen des eigenen kreatürlichen Seins zu fassen 247 . Jedoch wird dieser nur im Glauben erfaßbare Gedankenkomplex nicht selbst formuliert. An seine Stelle treten sinnfällige, affekterregende Metaphern, in denen die ganze Erfahrungsbreite von Welterfahrung, vor allem von weltlicher Liebeserfahrung, mitschwingt. Man kann sagen, daß alles, was in den diesen Gedankenkomplex erörternden Loci gesagt werden kann, auf eine affektive, sinnfällige metaphorische Ebene transponiert wird. Unauflösbare Voraussetzung der Frömmigkeitshaltung der Passionssalven ist also der Glaube, welcher Gottes Liebe und Erbarmen glaubt, obgleich er das Gegenteil davon erfährt: So scheint Gott, wenn der Mensch leidet, ihm fern zu sein, und in der Situation, in welcher der Mensch sich als sündig erkennt, erfährt er Gott als einen zürnenden Gott 248 . Glaube erweist sich hier nicht nur als ein Erkennen, das erkennt, wo die Vernunft, nach menschlicher Regel schließend, das Gegenteil erkennen würde. Er ist auch, als Vertrauen, ein Affekt, der sich dort hingibt, wo nichts, weltlich gesehen, diesen Affekt hervorzurufen scheint. Glaube ist also eine Durchbrechung sowohl einer verstandesmäßigen wie auch einer affektiven Verbindungskette zwischen Gott und Mensch. Oder man könnte auch sagen: Glaube ist das, was zwischen Gott und dem Menschen Verbindung schafft, wo sie durch die Sünde und durch das Leid voneinander getrennt sind und weder Vernunft noch Gefühl diese Trennung wirklich aufheben können. In den Passionssalven tritt also nicht eine durch die Kraft menschlicher Gemütsbewegung getragene Beziehung zwischen dem Frommen und Gott - oder besser Jesus - an die Stelle einer Beziehung, die mit dem Verstand zu erfassen ist 249 . Beide Versuche, das Problem, das einer Gottesbeziehung durch das Faktum des Leids - und, noch verschärfend, durch das Faktum
247 248 249
Vgl. TRAUGOTT KOCH, 7 f.; KRAUSE, 2 9 3 - 2 9 5 . Siehe oben S. 1 2 6 f f . ; 1 6 8 . Siehe die Fragestellung oben S. 2 5 0 f f . sowie S. 1 8 9 f f .
268
Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
der Sünde - gestellt ist, zu überwinden, sind nicht ausreichend. Was hier allein ausreicht, ist der Glaube. Glaube in diesem Sinne ist also die notwendige Bedingung der in den Passionssalven praktizierten Andachtshaltung, k o m m t aber gleichwohl selbst gar nicht in ihnen zur Darstellung. Die Situation der Salven ist nicht die eigentümliche Situation des Glaubens. Denn die Situation des Menschen wird nicht so dargestellt, d a ß der Gegenstand des Glaubens unter dem Gegensatz seiner selbst verborgen ist, sondern beide Teile des Gegensatzes finden sich zumeist in einem Ineinander. Dies wird besonders erkennbar an den unter b, с und d im vorigen Abschnitt aufgeführten Konstellationen der Verbindung von Schmerz und Süßigkeit. Die nur im Glauben annehmbare Heilsamkeit von Jesu Leiden wird hier nämlich unmittelbar verkostet und darum „süß" genannt. Zur Verdeutlichung dieses Sprachgebrauchs soll darauf hingewiesen werden, d a ß es in der Geschichte der geistlichen Dichtung durchaus möglich war, den Ausdruck „süß" auf die Passion Jesu zu beziehen, ohne d a ß dies mit einem - metaphorischen - Schmecken dieser Süßigkeit verbunden ist. Zu denken ist hier vor allem an die Stelle in dem Kreuzeshymnus des Venantius Fortunatus (gest. nach 599): „dulce lignum, dulce clavo dulce pondus sustines" 250 . Süß sind also hier nicht nur der am Kreuz hängende Jesus, auch nicht bloß das angeredete Kreuzesholz selbst, sondern auch die Jesu Leib verwundenden Nägel. Sie werden süß genannt „durch ihr instrumentales Mitwirken am heilsgeschichtlichen Gnadenwerk" 2 5 1 . Die Süße wird also, wie in den genannten Beispielen der Passionssalven, vom Ziel aufs Mittel übertragen. Sie wird aber, und das ist der bezeichnende U n terschied, nicht ausgekostet. Dies liegt überhaupt gar nicht in dem Duktus dieses Hymnus. Es handelt sich in ihm um eine Prädizierung aufgrund einer heilsgeschichtlichen Schau 2 5 2 . In den Passionssalven hingegen wird die Süße gegenwärtig empfunden. U n d zwar handelt es sich hier um die Süße der Jesus schmerzenden Wunden bzw. des eigenen Leidens. In gewisser Hinsicht sind also die Gegensätze, welche die Situation des Glaubens sub contraria specie bestimmen, aufgehoben. In anderer Hinsicht sind sie durchaus noch vorhanden, und zwar auch in der Weise, d a ß sie emp-
250 V e n a n t i u s F o r t u n a t u s , H y m n u s ,In H o n o r e sanctae crucis', Inc.: „ P a n g e , lingua", Str. 8,3, in: O p e r a poetica, C a r m i n u m Liber II,ii, (28,22-24); sowie in: Analecta H y m n i c a Medii Aevi, Bd. 59,71, N r . 60, und in: H y m n i latini antiquissimi L X X V , Psalmi III, hg. v. W a i t h e r Bulst, Heidelberg 1956, 128, N r . X I , 2 . Eine Ü b e r t r a g u n g im 1 7 . J a h r h u n d e r t liegt übrigens von Andreas Gryphius vor: , C r u x fidelis', G A 111,71 f. 251 OHLY, Süße Nägel d e r Passion, 415. 252 Vgl. OHLY, Süße Nägel, 409-432, insbes. 4 1 3 - 4 1 5 ; 502-509; 536-545, und zur Kennzeichnung verschiedener Epochen des Passionsliedes - bei Venantius Fortunatus das altkirchliche heilsgeschichtliche, in den Passionssalven das mystisch-subjektive, dessen Stil in der Zeit H e e r m a n n s wieder aufgenommen wurde, WEISMANN, Z u r Geschichte des evangelischen Passionsliedes, insbes. 5 - 9 ; 9 - 1 1 ; 6 3 - 6 9 .
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funden werden. Dem in den Salven Sprechenden ist zugleich mit dem Empfinden der Süßigkeit von Jesu Leiden durchaus bewußt, daß dieses Leiden schmerzt. Gleicherweise schmerzt ihn noch sein eigenes Leiden, d. h. seine Sündhaftigkeit. Das eine wird deutlich durch den Ausdruck des Mitleids in der Anrede Jesu, das andere durch die Bitte, daß Jesus das eigene Leiden stillen möge. Diese eigentümliche Verdichtung zweier Affekte, der süßen Freude und des bitteren Schmerzes, in einem Paradoxon oder Oxymoron, wird erhellt, wenn man sich der Überlegung zuwendet, welche Situation es überhaupt ist, in der Jesus und sein Betrachter einander gegenüberstehen. Die im Neuen Testament beschriebene Situation der Kreuzigung Jesu ist es nicht, bzw. sie ist es nur in einem bestimmten Aspekt. Denn es fehlt dort der Gläubige, der sich in der Weise, wie die Passionssalven es darstellen, an Jesus wendet, ihn umarmt, küßt usw. Der Gläubige der Passionssalven steht vielmehr außerhalb dieses historischen Geschehens. Er ist eine Gestalt, mit der jeder Gläubige in der Geschichte der Kirche sich identifizieren können soll. Von der Auffassungsweise, mit welcher sich dieses Ich der Passionssalven Jesus zuwendet, muß Entsprechendes gesagt werden. Es handelt sich in den Passionssalven nicht oder nur aspektweise darum, daß dieser Gläubige in der späteren Geschichte sich den historischen Zugang der Kreuzigung Jesu vergegenwärtigt, wie dies in den auch von Paul Gerhardt verfaßten „Historienliedern" mit der Nacherzählung der Passionsgeschichte der Fall ist. Denn der Gläubige kommt ja in eben dieser Vergegenwärtigung selbst vor. Einen Hinweis auf die Beantwortung der Frage nach Situation und Auffassungsweise der Passionssalven gibt ein ganz anderes Lied Paul Gerhardts, ,Die Zeit ist nunmehr nah' (CS 120) 253 . In diesem Lied stellt er sich, angeregt durch bestimmte Zeichen, welche die nahe Wiederkehr Christi anzukündigen schienen, voll freudiger Erwartung den wiederkommenden Jesus vor (Str. 6 f.): Was für ein schönes Licht Wird mir dein Angesicht, Das ich in jenem Leben Werd erstmals sehen, geben! Wie wird mir deine Güte Entzücken mein Gemüte! Dein Augen, deinen Mund, Den Leib, der noch verwundt, Da wir so fest auf trauen, 231 In der P.p.m. 1653 erstmals erschienen, in der Rubrik ,Von Auferstehung der Todten', in der Ebelingschen Ausgabe unter dem Titel ,Von Jüngsten Tage'. Vgl. unten S. 287 ff.
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Das werd ich alles schauen, Auch innig herzlich grüßen Die Mal an Händ und Füßen. Die Ähnlichkeit in der Anrede Jesu mit den Passionssalven, gerade mit der letzten, liegt auf der Hand. Es handelt sich beidemal um eine Begegnung mit dem lebendigen, gegenwärtigen Jesus. Es geht in diesem Lied gar nicht und auch in den Salven letztlich nicht um eine Vergegenwärtigung der vergangenen historischen Situation von Jesu Sterben. Zwar enthalten die Passionssalven auch Mimesis, auch Darstellung dieser damaligen Situation. Ja, sie sind die genaueste, anschaulichste, detaillierteste Mimesis im gesamten Werk Paul Gerhardts. Und sie sind dies in der Darstellung eines leidenden Körpers. Doch dient diese Mimesis letztlich nur dem Zweck, den Gegenstand vorzustellen, auf welchen sich die Andacht des Betrachters richten will 254 . Und Andacht richtet sich nicht auf ein vergangenes Etwas, sondern auf den gegenwärtigen lebendigen Gott. Genauer: die historische Situation kann nur so in der Andacht enthalten sein, daß sie in der Ewigkeit des lebendigen, jeweils gegenwärtigen Gottes mit eingeschlossen ist. Auch der auferstandene Jesus, mit dem eine Welt kommt, in welcher es kein Leiden mehr gibt (CS 120,13), trägt noch die Wunden seiner Kreuzigung an seinem Leibe (Str. 7), wie dies auch in den neutestamentlichen Berichten von dem Auferstandenen gesagt wird. Die in jenem eschatologischen Lied vorgestellte Situation ist diejenige, in welcher der Gläubige Jesus so schaut, wie er ihn bisher nur geglaubt hat. Ein Unterschied zwischen dieser hier imaginierten Situation und derjenigen der Salven besteht nun darin, daß die Wundmale des Auferstandenen ihn in jenem Lied nicht mehr schmerzen und auch der ihn Begrüßende kein Leid mehr, sondern nur noch jauchzende Freude empfindet. In den Passionssalven befindet sich die Situation hingegen im Übergang. Zwar verhält es sich so, daß Jesus leidet, sein Anblick Mitleid erweckt und doch sind seine Wunden zugleich Gegenstand der Freude. Denn im Prozeß der Andacht vereinigt sich der Gläubige mit dem gegenwärtigen, und das heißt: ewigen Christus. Er berührt im Modus der Andacht das Telos allen geschichtlichen Geschehens. In diesem Telos wird alles gut. Das Leid wird in Freude verwandelt. Alle Glieder des geschichtlichen Verlaufs erweisen sich als Mittel, die zu diesem Ziel hinführen, münden ein in die ewige Gleichzeitigkeit des Telos' der Herrlichkeit und erhalten dessen Eigenschaften. Das entscheidende Mittel Gottes, durch welches die Weltgeschichte überhaupt diesen Verlauf nimmt, ist aber das Leiden und Sterben Jesu Christi. Durch Jesu Wunden werden die Sündenwunden der Menschheit geheilt. Durch sein Leiden wird das Leiden der Gläubigen aufgehoben werden. Der „Ort" in der Geschichte und zugleich in der 254
S.o. S. 201 ff.
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Ewigkeit, an dem dies stattfindet, ist der verwundete Leib Jesu Christi. So wi Jesu Leiden etwas, das, in der Ewigkeit, gut ist, und dessen Gut-Sein von dem Andächtigen, der sich in die Ewigkeit hineinstreckt, als gegenwärtig erfahren, als süß genossen wird. Das Umschlagen, die eschatologische Verwandlung von Leid in Freude, wird in den Passionssalven genau an der zentralen Stelle zum Ausdruck gebracht, nämlich an den Wunden Jesu. Sie sind sub specie aeternitatis nichts Mitleiderweckendes mehr, und sie zu küssen, erfüllt keineswegs mit Ekel, sondern tatsächlich und ganz berechtigt mit höchster Lust. D e r Gläubige nimmt den Standpunkt der heilsgeschichtlichen Ubersicht sub specie aeternitatis ein, von dem aus in dem altkirchlichen Kreuzeshymnus von der Süße der Passion gesprochen wird. U n d zwar tut er dies, im Unterschied zu diesem Hymnus, in der Auffassungsweise der affektiven Andacht, so d a ß er diese Süße selbst empfindet. Desgleichen ist es so, d a ß der Andächtige zwar noch seine Schmerzen empfindet - konzentriert in den Schmerzen seiner Sündenerkenntnis, des Sterbens seines alten Ich - und zugleich schon erfährt, d a ß diese Schmerzen von Jesus gestillt werden. Die affektive Bewegung der Passionssalven verharrt also - noch - in einem Ubergang, in einer Spannung: Sie geht aus von dem Glauben, der das Verborgene glaubt, und nimmt schon die Schau der Vollendung hinweg. So spannt sie sich aus zwischen dem Todesleiden Jesu auf Golgatha und der Herrlichkeit Jesu in der Ewigkeit, zwischen dem Sündersein des Andächtigen und seiner endgültigen Verherrlichung, zwischen der Situation des sub contraria specie und der Situation von dessen eschatologischer Auflösung. Mit seiner Nachdichtung der Passionssalven nimmt Paul G e r h a r d t eine bestimmte Position in Frömmigkeit in der nachreformatorischen Epoche ein. Elke Axmacher hat in ihrer Studie über Martin Moller (gest. 1606) Möglichkeiten jener Frömmigkeit entworfen 2 5 5 . Für die damalige Frömmigkeit war die Frage, welche Stellung sie hinsichtlich der praxis pietatis einnehmen solle angesichts des Anspruchs der reformatorischen Rechtfertigungslehre, d a ß durch das im Glauben angenommene Zusprechen eines von außen kommenden Wortes aufgrund eines einmaligen in der Geschichte geschehenen Ereignisses - des Todes Jesu auf Golgatha - der Mensch vor Gott gerecht sei. Die Menschen der Generationen nach der Reformation waren in zunehmenden M a ß e damit konfrontiert, d a ß ihr Leben nicht das vollkommene M a ß an Heiligung gewann, welches dieser zugesprochenen Gerechtigkeit entsprochen hätte. Wollte man mit dem christlichen Leben Ernst machen, boten sich dann zwei Möglichkeiten an. Erstens: man verwirft im G r u n d e die reformatorische Rechtfertigungslehre als ein Hindernis f ü r dieses Ernstmachen und konzentriert sich ganz auf die Heiligung des
255
AXMACHER, P r a x i s E v a n g e l i o r u m ,
306-318.
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Lebens, das heißt aber: auf die Innerlichkeit, denn allein von innen, vom Herzen her, kann Gott das Leben eines Menschen verändern. Das Außere hingegen muß abgelegt werden. Außeres ist auch der Schauplatz der biblischen Heilsgeschichte und das Wort, welches diese verkündigt bzw. das Sakrament. Sie können nur als eine Chiffre, ein Gleichnis des eigentlichen, innerlichen Heilsgeschehens dienen 256 . Der andere Typus von Frömmigkeit hingegen läßt die von außen her zugesprochene Gerechtigkeit Christi gelten und setzt unter ihrem Schutz und mit ihrer Kraft alles daran, den Menschen von innen her umzugestalten. Sie strebt dabei mit aller Hingabe den Zustand an, in welchem der Zwiespalt zwischen der bisher nur imputierten Gerechtigkeit Christi und der noch unheiligen Innerlichkeit des Menschen überwunden ist, das heißt, dem Zustand, in dem auch die Verborgenheit eines liebenden und allmächtigen Gottes für den leidenden Menschen aufgehoben ist. Dies ist der Zustand der Verherrlichung des Gläubigen. Paul Gerhardt erweist sich, wie Martin Moller, als ein Verfechter jenes zweiten Typus von Frömmigkeit, welcher das Erbe der Reformation bewahrt. Auch seine Nachdichtungen der Passionssalven sind ein Beispiel dafür. Stellen sie doch gerade dieses innerliche Hinstreben nach jenem eschatologischen Zustand dar, ohne daß die bleibende Voraussetzung des Glaubens ganz hinter sich gelassen, die Verhaftung mit dem heilsgeschichtlichen Geschehen aufgelöst oder das Noch-Sünder-Sein des Andächtigen in der Ekstase der unio vergessen würde. Nur in dem Modus einer Zukunftsschau wie in dem Lied vom Jüngsten Tage kann die Herrlichkeit ohne diese Spannung zur Darstellung gelangen. So ist das Verständnis der Passionssalven Paul Gerhardts nur zu gewinnen, wenn man sie in dem Zusammenhang der lehrhaften und affektbezogenen Intentionen betrachtet, welche in dem Ganzen seines Liederwerks enthalten sind. Es geht in den Salven um die Darstellung und um den Vollzug der Seinsgemeinschaft zwischen den Gläubigen und Gott von der Seite des Gläubigen her. Daß ihre Begründung von der Seite Gottes durch seine Taten in der Heilsgeschichte und durch seinen Ruf mit dem Wort bereits erfolgt ist, bleibt die Voraussetzung des innerlichen Geschehens der Passionssalven. In diesen Kontext eingeflochten hat auch die Verwendung von Elementen der Mystik und der weltlichen Liebesdichtung ihren Sinn. Diese Verwendung ist keineswegs bloß äußerlicher Gebrauch eines Ausdrucksmittels und auch nicht eine eher äußerlich vorgestellte Synthese mit der reformatorischen bzw. orthodox-lutherischen Lehre 257 . Paul Gerhardt teilt das Anlie256 Vgl. KARL HEIM, 139; 108, und meinen Aufsatz Existentielle Theologie in der vorreformatorischen Epoche', 99. 257 Das erste ist die These VAN ANDELS, Paul Gerhardt, ein Mystiker zur Zeit des Barock, 173-179, das zweite die GERHARD RÖDDINGS, Paul Gerhardt, in: Deutsche Dichter, 189-193; Nachwort zu: Paul Gerhardt, Geistliche Lieder, 147-153.
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gen der Mystik, das christliche Leben von innen, durch Verinnerlichung umzugestalten. U n d er stimmt mit der bernhardinischen Form von Mystik überein, d a ß diese Verinnerlichung bei der Begegnung mit dem fleischgewordenen Sohn Gottes einsetzen muß. G e r h a r d t geht - und zwar durchaus gemeinsam mit der lateinischen Vorlage - über dieses mystische Konzept hinaus, insofern er diese Verinnerlichung in ihrem Voranschreiten nicht von dem Fleischgeworden-Sein Jesu löst, sondern noch stärker an es heranführt: an das Genießen von Jesu Wunden, nicht aus fleischlichem Mitleid, sondern in einer Vorwegnahme der Seligkeit. Indem die Passionssalven die Topik der geschlechtlichen Liebesdichtung aufnehmen, greifen sie den affektiven Gehalt intensivster weltlicher Erfahrung auf und führen ihn dorthin, wo alles menschliche Liebesverlangen seine letztliche Erfüllung findet: in die liebende Vereinigung mit Gott. Auf diese Weise wird das H e r z , die Innerlichkeit des Menschen, in stärkster Weise in Anspruch genommen. U n t e r der bleibenden Voraussetzung des Glaubens wird das, was dem Verstand nur in einer Folge von Differenzierungen und Paradoxien „erfaßbar" ist, in seiner affektiven Wertigkeit zusammengeballt und dadurch die Innerlichkeit des Menschen aufgeschlossen. W o der weltbezogenen E r f a h r u n g G o t t fernbleiben muß, wird dadurch, d a ß Welterfahrung zur Metapher wird, G o t t dem ihn suchenden Menschen ganz gegenwärtig, gleichsam sinnenfällig und diesseitig. Diese Erschließung der Innerlichkeit des Menschen, seine Umwendung und U m gestaltung von innen her, macht den Prozeß der vom Glauben ausgehenden Andacht aus; sie ist „Übung der Gottseligkeit". So sind Wesen und Aufgabe der Passionssalven nur aus dem Zusammenhang mit den anderen Liedern Paul Gerhardts zu ersehen und in dem konkreten Zusammenwirken von docere, movere und delectare, wobei keines auf das andere sich zurückführen läßt. Die Passionssalven nehmen eine zentrale Stellung in diesem Liedercorpus ein, aber gerade das heißt nicht, daß sie alles zu Sprache bringen, was in diesem Corpus enthalten ist, sondern d a ß sie der Ergänzung durch dessen andere Teile bedürfen. Dies zeigt sich auch in dem Bezug zu G o t t Vater. Weder die Beziehung des Gläubigen zu G o t t Vater noch die Jesu zu seinem Vater kommen in den Salven zum Ausdruck. Das heißt aber nicht, d a ß sie eine Religion vertreten, in welcher diese Beziehung nicht vorhanden ist, sondern d a ß sie in ihnen verborgen liegen, genauso wie die Beziehung zu Christus manchen Lebensliedern verborgen zugrundeliegt 2 5 8 . In einem anderen Passionslied, ,Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld', hat G e r h a r d t versucht, die Beziehung zwischen G o t t Vater und Sohn anschaulich zu machen durch die Wiedergabe eines Gespräches zwischen beiden in direkter Rede (CS 12, 2,5-3,4), bevor er sich in einem ähnlichen Liebesgespräch ergeht wie in den Salven.
258
S.o. S. 121 ff.
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Die Lieder Paul Gerhardts als Poesie
Und in dem Lied, welches eben diese Beziehung innerhalb Gottes zum Thema hat, seinem einzigen Trinitatislied, hat Paul Gerhardt, wohl ganz bewußt, auf irgendeine Anschaulichkeit verzichtet. Er wiederholt, wie in einem altkirchlichen Hymnus, die altkirchlichen Formeln der Trinität „Ein Wesen, drei Personen" usw. 259 und lädt dazu ein, sich diesem Gott zuzuwenden. Die Dreieinigkeit dieses Gottes ist nur durch Offenbarung bekannt. Sie ist, „Was alle Weisheit in der Welt / Bei uns hier kann kaum lallen." (CS 32, 1,1 f.). Wer sich aber von diesem Gott einladen läßt, der wird das, was sich hier mit menschlichen Mitteln nur in Lehrformeln komprimierter Anschaulichkeit aussagen oder eben „lallen" läßt, schließlich singen. Dies ist die Zukunft des Seligen in der Ewigkeit 260 .
259
CS 32, 1,8-2,1; 8,7-9; Str. 3. CS 32,8. Vgl. oben S. 142 f. Dies sei bemerkt auch zu der Kritik PETRICHs, 231 f., der die dogmatisch undichterische Sprache dieses Liedes bemängelt. Er stellt es den trinitarisch gegliederten Liedstrophen CS 99,2-4 gegenüber, die jedoch ihren anschaulicheren, „poetischeren" Charakter dadurch gewinnen, daß sie sich ganz auf die opera trinitatis ad extra konzentrieren und von der inneren Trinität absehen. - Die Hinweise auf die Verknüpfungen der Passionssalven mit den Aussagen theologischer Lehre, mit dem ausdrücklichen Gott-Vater-Bezug und der äußeren und inneren Struktur der Trinität, stellen auch eine Antwort auf die Kritik PETRICHs an den Passionssalven dar, welche letztlich auf deren überschärft isolierter Betrachtung beruht; s. PETRICH, 251 f., welcher sich dabei von ALBRECHT RlTSCHL leiten läßt: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, 65 f.; Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3. Aufl., Bd. 3, 536, vgl. OTTO RlTSCHL, Albrecht Ritsehl und das Lied „ O H a u p t voll Blut und Wunden". 1№
TEIL
G
Die Lieder Paul Gerhardts innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit In den vorangegangenen drei Hauptteilen wurde betrachtet, welche Gestalt das Problem, das dem Glauben an Gott durch das Leiden gestellt wird, annimmt, je nachdem unter welchem Gesichtspunkt der drei Aufgaben man es betrachtet, die Dichtung hat: der Lehre, der Bewegung des Gemüts und des Erfreuens durch sprachliche Schönheit. Dies alles sind Aspekte innerhalb der Dichtung selbst; sie befinden sich gleichsam in ihrem Binnenraum. In jedem dieser Aspekte ist Dichtung jedoch auf die Wirklichkeit bezogen: auf die Wirklichkeit allen Geschehens in der Welt, insbesondere auf das vom Menschen darin bewirkte und erfahrene Geschehen, also die Geschichte, auf die Wirklichkeit eines allmächtigen und gütigen Gottes, der alles lenkt, was in der Welt geschieht, und auf die Wirklichkeit des Leidens. Die Lehre von der Providenz Gottes wird gerade auch von der Wirklichkeit des Leids provoziert, wie Hutter zu Beginn seines Locus de Providentia selbst erklärt 1 . Diese Lehre ist nun nichts anderes als eine Analyse der Wirklichkeit, in der Gottes Wirken, das Wirken des Bösen und das Leid ineinandergreifen. Entsprechend ist es mit dem Gemüt des Menschen: Es wird durch das Leid mit Schmerz erfüllt und sucht die von Gott kommende Tröstung. Die poetische Gestaltung des Gedichtes ist ein Analogon der Süßigkeit und Schönheit, die Gott durch sein Trostwort mitteilt und sich in dem Lobgesang des Menschen widerspiegelt. In diese Richtung betrachtet ist die Dichtung etwas von der geschichtlichen Wirklichkeit Geformtes: sie ist deren Auffassung durch den menschlichen Verstand, der Ausdruck dessen, was die Geschichte im Gemüt des Menschen hervorruft. Der Vollzug dieser Auffassung wird zum Vollzug einer Deutung, wenn es darum geht zu erkennen, mit welcher Absicht Gott in einem Ereignis mitwirkt, das für den Menschen leidvoll ist. In der anderen Richtung betrachtet ist das Gedicht selbst ein wirkender Faktor im Ganzen des Geschehens. Dies ist es schon durch die Weise, in welcher es nun die Wirklichkeit auffaßt und deutet und so die entsprechenden Gemütsbewegungen disponiert. Dadurch hat das Gedicht die Macht, die Wirklichkeit zu formen, angefangen mit seinem Adressaten, 1
Hutter, Loci, 218a; vgl. 253b, s.o. S. 48.
276
Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
den es unterrichtet, in seinen Gefühlen bewegt und dazu bringt, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten - sei es tätig zu werden oder sich zurückzuhalten. Wenn es sich um ein geistliches Gedicht handelt, hat das Gedicht noch einmal eine andere Wirksamkeit. Mit Andacht gesprochen oder gesungen ist es nämlich ein Bittgebet, das G o t t zu erhören bereit ist. Auf die Bitte des gläubigen Menschen hin ist er willens und imstande, den Lauf der Geschichte umzulenken. Schließlich kann dieses Bittgebet so aufgefaßt werden, d a ß in ihm bestimmte Menschen angesprochen werden, sich G o t t als Werkzeug f ü r sein Eingreifen in die Geschichte zur Verfügung zu stellen. Ja, es kann sein, d a ß der Bittende selbst sich dabei anspricht. D a s geistliche Lied enthält dann, seiner pragmatischen Funktion nach, auch eine Aufforderung an Menschen, eine Selbstermutigung zu eigenem Handeln. Auf die Wechselwirkung zwischen der Geschichte und der Dichtung Paul Gerhardts soll nun näher eingegangen werden: wie wird Geschichte in den Liedern Paul Gerhardts gedeutet, und in welcher Weise nimmt das Dichten und Singen solcher Lieder an dem Tätigsein, an dem Wirken des Menschen in der damaligen Geschichte teil? Zum Abschluß soll der Dichtung Gerhardts noch ein anderer Entwurf gegenübergestellt werden, der sich von dem Gerhardts gerade in der Stelle unterscheidet, die eben dieses Aktiv-Werden des Menschen in der Geschichte einnimmt. Es ist dies das ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges' des Martin Opitz.
1. Die Deutung der Geschichte in den Liedern Paul Gerhardts2 Die Lieder Paul Gerhardts verhalten sich zu der Geschichte der Zeit, in welcher sie entstanden sind, ähnlich wie ihre Vorbilder, die Psalmen, zu der Geschichte Israels. So sind manche Psalmen in ihrer Überschrift auf Ereignisse im Leben Davids bezogen, die in den Samuelbüchern berichtet sind, etwa Ps 51 auf die Bathseba-Affaire, II Sam 11 f. Doch wird man in solchen Psalmen wenig Aufschluß finden können über die Ereignisse, die in den biblischen Geschichtsberichten genau dargestellt werden, und zwar nicht zuletzt aus dem Grunde, weil die ganze Situation, in welcher sich das Ich des Psalms befindet, völlig aus der Perspektive gesehen wird, in der es sieht, wenn es vor G o t t steht. Diese Perspektive bewirkt eine optische Verkürzung, in welcher das Nacheinander verschiedener Ereignisse zusammenschmilzt auf das, was in der Beziehung zwischen G o t t und dem Menschen wesentlich ist. D e r Psalm, das geistliche Lied, ist ein Vollzug dieses Stehens vor Gott, und in diesem Vollzug tritt nicht die Abfolge der Ereignisse hervor, sondern ihre Deutung. 2 Vgl. dazu auch PATRICE VEIT, Musik und Frömmigkeit im Zeichen des Dreißigjährigen Krieges.
Die Deutung der Geschichte
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Wir haben anhand der Analyse von Gerhardts Nachdichtung des 73. Psalms gesehen, daß die Deutung, welche der leidvollen Wirklichkeit gegeben wird, ganz auf das Selbst des Angefochtenen ausgerichtet wird 3 . Dieses Lied hat gerade die Deutungsfrage zu Thema: Ist das Leid, das einen Menschen trifft, ein Zeichen dafür, daß Gott ihn verworfen habe oder nicht? Diese Frage kann nur der Betroffene selbst beantworten, indem er sich vergewissert, daß er von Gott erwählt ist: indem er selbst auf den Gekreuzigten schaut und außerdem an sich selbst feststellt, daß Gottes Erwählungsentschluß schon angefangen hat, wirksam zu sein. Wer sich in der Seinsgemeinschaft mit Gott geborgen weiß oder bußfertig in sie zurückkehrt, kann sich gewiß sein, daß sein Leiden kein Zeichen der Verwerfung ist, sondern ein Mittel, das Gott zu dem Besten derer anwendet, die er erwählt hat. Für den Christen ist damit aber Geschichte ein deutbarer, ein auf einen Sinn hin angelegter Zusammenhang. Die Zeit, in welcher sich die Geschichte erstreckt, kann für den Christen zu einer Qual werden, weil sie unter sich als ihrem Gegensatz die Ewigkeit verbirgt, in welcher vor Gott das Leid immer schon aufgehoben ist 4 . Zugleich aber weiß er, daß alles, was geschieht, von Gott nicht nur mitbewirkt, sondern auch geordnet ist. Alles besteht in einem auf das Eschaton als Telos hingeordneten Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Das Telos ist die Ehre Gottes und das Heil der Erwählten 5 . Der Sinn eines Geschehnisses ist die Art seiner Hinordnung auf dieses Telos, und die Deutung eines Ereignisses ist die Erkenntnis dieses Sinnes, durch welche die Zeit für die Ewigkeit transparent gemacht wird. Ist die Geschichte deutbar, dann heißt das: es gibt bestimmte OrdnungsSchemata, nach denen die in der Geschichte stattfindenden Ereignisse eingeordnet und somit gedeutet werden können. Für die Geschichtsschreibung im lutherischen Deutschland hatte Melanchthon in seiner Bearbeitung der Chronik Carions die Prinzipien der Geschichtsdeutung aufgestellt 6 . Allerdings wurde bereits seit der Wende zum 17. Jahrhundert Kritik geäußert an dieser Methode christlicher Geschichtswissenschaft. In der Folge von Jean Bodins ,Methodus ad facilem historiarum cognitionem' von 1566 suchte man aufzuzeigen, daß die Fakten nicht in die überlieferten Deutungsschemata hineinpassen. Als Konsequenz davon mußte nach anderen Prinzipien gesucht werden, aus welchen sich ein Zusammenhang der Fakten ergibt 7 . Diese Kritik der christlichen Geschichtsdeutung weist auf ihre
3
Siehe o b e n , insbes. S. 103. S . o . S. 133. 5 Hutter, C o m p . V I I , 2 (26, 29). 6 C h r o n i c a Carionis g a n t z new Latine geschrieben / von d e m Ehrwirdigen Herrn Philippo M e l a n c h t h o n e ; s. insbes. die V o r r e d e , A i i r - D i i i v . 7 VOSSKAMP, Zeit- und G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g im 17.Jahrhundert bei Gryphius und Lo4
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Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
grundsätzliche Problematik hin: ihr Ziel ist es letztlich, Aussagen über die Stellung des gläubigen Menschen vor Gott zu machen. Das Material aber, das sie gebraucht, um zu diesem Ziel zu gelangen, die Fakten der Geschichte, kann sich als zu undurchlässig erweisen, als daß dieses Ziel hindurchscheinen könnte. Zwischen den Fakten, so wie sie für den allgemeinen menschlichen Verstand beobachtbar sind, und der Deutung besteht eine Spannung. In der Gattung des geistlichen Liedes kann das Angelegtsein christlicher Geschichtsdeutung auf den Menschen coram Deo viel deutlicher hervortreten als in derjenigen der Geschichtsschreibung. So sollen nun die geistlichen Lieder Paul Gerhardts betrachtet werden: Wie nimmt er die Deutungsschemata christlicher Geschichtsschreibung auf, welche Rolle spielt bei seiner Geschichtsdeutung die spezifische Topik der Gedichttypen, die er verwendet, schließlich: wie kann er Aussagen über Fakten der Geschichte machen und sie mit Aussagen verbinden, die, strenggenommen, nur der einzelne jeweilige Christ in seinem Rückbezug auf seine Gemeinschaft mit Gott machen kann? Der Umgang Paul Gerhardts mit den Schemata christlicher Geschichtsschreibung kann als deren äußerste Komprimation aufgefaßt werden, ganz entsprechend der perspektivischen Verkürzung seiner Geschichtssicht. Ein grundlegendes Prinzip war beispielsweise die von Augustin geprägte Unterscheidung zwischen der civitas Dei und der civitas terrene?. Im Unterschied zu dieser existiert jene allerdings nicht in der Zeitlichkeit; nur die Bürger des Gottesstaates befinden sich hier, gleichsam also als Gäste oder Pilger. Diese Unterscheidung ist auch für Gerhardt wesentlich. Die civitas Dei wird häufig durch den einzelnen Angefochtenen, das Ich des jeweiligen Liedes repräsentiert, der ein Gast auf Erden ist (CS 128), die civitas terrena wird von seinen Feinden verkörpert. Gerhardt unterläßt es jedoch, bis auf die wenigen Ausnahmen seiner Historienlieder, die Geschichte der Bürger beider civitates darzustellen. Dies war hingegen Aufgabe der Geschichtsschreibung, welche dabei die Geschichte in Perioden gliederte, beispielsweise nach der aus Dan 2,31-45; 7 begründeten Lehre von den vier Monarchien, die aufeinander folgen 9 . Das geistliche Motiv einer solchen Gliederung war, Gottes Ordnung in der Folge der geschichtlichen Fakten aufzuweisen und Anhaltspunkte zu geben für das Nahen des Ziels, auf welches diese Ordnung hin angelegt ist. Der Skopus in diesen Prophetien des Danielbuches ist 2,44, bzw. 7,14 und 7,27. Die Verbindung von Fakten und eschatologischer Erwartung
henstein, 10-34. Er verweist dabei auf die grundlegenden Untersuchungen von ADALBERT KLEMPT u n d WERNER GOEZ. V g l . a u c h LANDMANN; WETZEL, i n s b e s . 5 1 0 - 5 1 2 , d e r z w a r e i n e n
späteren Zeitraum bearbeitet, aber die grundsätzlichen Fragen aufwirft, sowie NEDDERMEYER, 32-100, und 8
SEIFERT.
VOSSKAMP,
11-13.
' VOSSKAMP,
17-19.
Die Deutung der Geschichte
279
findet sich auch in einigen Liedern Gerhardts (vor allem CS 120), worauf noch später eingegangen werden wird. Zu einer Gliederung der Geschichte kommt es bei Gerhardt aufgrund der perspektivischen Verkürzung seiner Betrachtungsweise jedoch nicht. In seinen Liedern sind in der Regel Gestalten der Vergangenheit nicht Vertreter einer Epoche, die eine bestimmte Stelle im Gesamtablauf der Geschichte einnimmt, sondern lediglich Exempel für den Menschen vor Gott: sie unterliegen der gleichen Gesetzmäßigkeit der Gesamtgeschichte, welche auch für das gegenwärtige Ich oder Wir des Liedes gilt. So ist Cato in dem Widmungsgedicht für Michael Schirmer ein Exempel für den Menschen, der sich in einer Notlage nicht streng an Gottes Wort hält und sich nicht Gott anvertraut (CS 57,2). Ahitophel ist ein Beispiel für einen Menschen, der Gott nicht um Hilfe bei seiner Beschlußfassung bittet (CS 64,8). Umgekehrt sind die Christen der Vergangenheit, die Väter Israels eingeschlossen, Beweise dafür, daß das Leid zur condicio christiana gehört, daß der Christ ein Gast auf Erden ist und daß Gott den Seinen gerade da, wo ihre Not am größten war, schon geholfen hat 10 . Geschichtsbetrachtung hat in den Liedern Paul Gerhardts den Zweck, Exempel zu zeigen, anhand derer der Christ in seiner jeweiligen gegenwärtigen Lage lernen kann, wie er sich vor Gott verhalten soll. Sie dienen ihm zu Trost, Ermahnung und Warnung 1 1 . D i e condicio
christiana
b z w . d i e condicio
humana
ist die gleiche d u r c h
den Wechsel der Zeiten hindurch; der beständige Wechsel ist gerade eines ihrer Merkmale. Es ist darum verfehlt, wenn man, wie so häufig üblich, eine bestimmte Einschätzung des menschlichen Lebens - gerade das Vanitas-Motiv und den angeblich in ihm enthaltenen „Pessimismus" - zurückführt auf den Einfluß der leidvollen Zeitereignisse, welche die Dichter des Barock über sich ergehen lassen mußten. Vielmehr stand die Lehre, die Auffassung der Wirklichkeit, die sie vertraten, schon fest, bevor diese Ereignisse stattfanden. Sie wurde von früheren Generationen den Dichtern und Theologen dieser Zeit überliefert mit dem Anspruch, für jede Zeit gültig zu sein, und von ihnen übernommen. D a ß sie in ihrer Epoche ein so hohes Maß an Leid und Unbeständigkeit erfuhren, war ihnen eine Bestätigung und gleichsam eine Illustration dieser Geschichtsauffassung 12 . Wie also Gerhardt sich auf seine Gegenwart bezieht, kann nicht nur als Einwirkung der Ereignisse dieser Gegenwart auf ihn beurteilt werden, sondern hängt auch von den überlieferten, feststehenden Schemata von 10
Etwa CS 128,4-6. Siehe oben S. 131, bei Anm. 125; S. 182 f. VOSSKAMP, 34-47, vgl. die Bestimmung der Aufgabe des Historikers bei Buchner, Anleitung, 15 f.; hier oben S. 196. n Die referierte These wird beispielsweise vertreten von IRMGARD WEITHASE, Die Darstellung von Krieg und Frieden in der deutschen Barockdichtung, 37-42, die in ihrem Werk eine Übersicht über die Darstellung des Dreißigjährigen Krieges in der zeitgenössischen deutschen Dichtung und eine Textauswahl bringt, ähnlich auch von ANER, Das Luthervolk, 47 ff., und VAN ANDEL, 173. Zur Deutung des Vanitas-Motives s.o. S. 104, Anm. 60. 11
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Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
Geschichtsauffassung ab und darüber hinaus - handelt es sich doch um ein dichterisches Werk, von den Topoi der jeweiligen Dichtung, die ihm als Medium dient. Dies nicht zu berücksichtigen, kann zu Fehlschlüssen führen bei Versuchen, aus Gerhardts Gedichten eine Stellungnahme zu Ereignissen seiner Zeitgeschichte oder seines Lebenslaufes herauszulesen 13 . So muß beachtet werden, daß es von der Art des Gedichtes abhängt, welche Teile der Wirklichkeit es auswählt, von der es spricht. Die Topik der jeweiligen Art eines Gedichtes bestimmt die Darstellung und Deutung der Wirklichkeit mit, welche in ihm vollzogen wird. Beispielsweise hat Gerhardt auf die Hochzeit seines späteren Schwagers Joachim Fromm im Jahre 1643 geschrieben: „Ein Röslein, wenns im Lenzen lacht / Und in den Farben pranget, / Wird oft vom Regen matt gemacht, / D a ß es sein Köpflein hanget, / Doch wenn die Sonne leucht herfür, / Siehts wieder auf und bleibt die Zier / Und Fürstin aller Blumen" (CS 44,10). Es wurde die Vermutung geäußert, dies sei eine Flucht aus dem harten Kriegsgeschehen in familiäre Idyllik 14 . Doch abgesehen davon, daß das Kurfürstentum Brandenburg sich schon seit 1641 des Friedens erfreuen durfte 1 5 , - es handelt sich hier um ein Hochzeitsgedicht und um nichts anderes; seine Topik steht damit fest. Leid wird hier lediglich als das Leid aufgefaßt, welches das gemeinsame Leben der Eheleute beeinträchtigen kann. Dieses wird keineswegs als gering eingeschätzt; das Niedersinken und Sich-wieder-Aufrichten der Rose dient als sprachliches Emblem, und dessen Bedeutungsgehalt wiegt weit schwerer als Erscheinungen im Bereich der Pflanzenwelt als solche es tun 16 .
13 D a ß bestimmte Ereignisse in Gerhardts persönlichem Leben (Konflikte mit Amtskollegen und Kurfürsten, T o d von Kindern und Ehefrau) ihn zum Dichten bestimmter Lieder bewegt hätten, wie in der legendenhaften populären Paul-Gerhardt-Literatur immer wieder behauptet wird, läßt sich nirgendwo verifizieren. 14 FRIEDRICH DE BOOR, Theologie, Frömmigkeit und Zeitgeschichte im Leben und Werk Paul Gerhardts, 35. 15
16
PETRICH, 62.
Man kann bei dieser Gelegenheit den Gebrauch des Motivs der Rose in verschiedenen Genera von Dichtung erhellend miteinander vergleichen. In dem Passionssalve CS 20,1 (vgl. CS 23,4,2; 23,6,1 ff.) stehen die - blühenden! - Rosen für die Wundmale Christi. Deren Heilswirkung wird auf diese Weise ausgedrückt. In Gryphius' Märtyrer-Tragödie ,Catharina von Georgien' (1,297-352) diskutieren Catharina und ihre Vertraute Salome das Verblühen der Rose, welches f ü r die Eitelkeit der Welt steht. Während Salome von dem Wiederaufblühen der Rose spricht - also eine innerweltliche H o f f n u n g hegt, erzählt Catharina von ihrem Traum, in welchem sich ihre Krone in einen Kranz von Rosendornen - eine Dornenkrone - verwandelt. Erst nachdem sie gestorben, sieht sie sich in einer neuen, viel größeren H e r r lichkeit wieder. Das Christusförmigwerden des Märtyrers und seine Verherrlichung nach dem Martyrium sind auf diese Weise versinnbildlicht, vgl. HAAS, Nachwort zu Gryphius, Catharina von Georgien, 146 f., sowie SCHINGS, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. 255, Anm. 2. In seinem „Scherzspiel" ,Die geliebte Dornrose' hat Gryphius wiederum einen ganz anderen Gebrauch von dem Motiv gemacht.
D i e Deutung der Geschichte
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Auch in den Lebens- und in den Kreuz-Liedern wird nur sehr allgemein und mit Metaphern - Topoi des Ungewitters usw. - vom Leid gesprochen. Wie die Psalmen sind sie zugleich persönlich und überindividuell. Sie sind persönlich, denn sie sind Ausdruck eines verinnerlichten Gottesverhältnisses. Sie sind überindividuell, denn es wird so stark von bestimmten geschichtlich individuellen Umständen abstrahiert, daß sie sich ohne weiteres auf andere Personen übertragen lassen. Ihre Wirkungsgeschichte bis auf den heutigen Tag ist dafür Zeugnis. Unter den wenigen Liedern Paul Gerhardts, die eine ausdrückliche Bezugnahme zu bestimmten Ereignissen oder Zuständen der Zeit bringen 17 , sind nur vier, bei denen dieser Bezug zum Thema des ganzen Liedes wird. An diesen Liedern kann nun betrachtet werden, wie Paul Gerhardt eine Deutung geschichtlicher Fakten mit der Beurteilung des Standes des Menschen vor Gott verbindet. Bei den Liedern handelt es sich um: -
,Wie ist s o groß und schwer die Last', CS 97, in der ,Praxis pietatis melica' von 1653, erschienen in der Rubrik , U m b den lieben Frieden', bei Ebeling unter dem Titel ,Schutz G o t t e s in bißherigen Gefährlichen Kriegeszeiten', - , G o t t l o b ! nun ist erschollen' (CS 98), 1653 in der Rubrik , D a n c k s a g u n g für den lieben Frieden', - ,Herr, was hast du im Sinn' (CS 93), ersterschienen bei Ebeling unter dem Titel: ,Bey Erscheinung eines Cometen', nämlich wahrscheinlich des Kometen von 1664. Bei Feustking unter den Creutz- und Trost-Liedern, - D a s Lied , D i e Zeit ist nunmehr nah' (CS 120), welches 1653 unter ,Von Auferstehung der Todten' veröffentlicht wurde, verweist Str. 1,3 ff. auf die Wunder, welche laut Lk 2 1 , 2 5 - 2 8 die Wiederkehr Jesu anzeigen, worunter sich auch der K o m e t von 1652 befunden haben m a g 1 8 .
Die ersten beiden Lieder gehörten also zu Rubriken, die in dem damaligen Gesangbuch eigens eingerichtet waren, um zu bestimmten Zeitereignissen - Krieg und Friedensschluß - Stellung beziehen zu können. Der Bittgesang um den Frieden führt bereits in der ersten Strophe das Leiden des Krieges auf Gott zurück, der dadurch die Sünde des Volkes straft. Insofern handelt es sich um nichts anderes als um ein spezielles Kreuz-Buß-Lied. Es erhält jedoch dadurch eine besondere historische Konkretion, daß Paul Gerhardt die Zustände in der Region - wohl der Mark Brandenburg - berücksichtigt, für welche er sein Lied schrieb. Verglichen mit anderen Fällen, sagt er, 17 Für die Lieder der P.p.m. 1653 s. PETRICH, 100 f. Er nennt außer CS 97; 98 und 120 noch das Neujahrslied CS 10 (Str. 3 und 10), CS 71 (Str. 5-7), CS 29 (Str. 7-9; 12) und CS 101 (Str. 6). - Das Lied ,Wer unterm Schirm des Höchsten sitzt', CS 90, nach Ps 91, ist wegen Ps 91,6 in der P.p.m. 1653 in die Rubrik ,In Pestzeiten' eingeordnet - wie es damals bei Nachdichtungen dieses Psalms üblich war, doch nimmt das Thema der Pest, ähnlich wie in dem Psalm, keinen großen Raum in dem Lied ein (Str. 3,5-7) und erhält auch keinen konkreten Bezug zu den Pestepidemien, die damals, vor allem in Folge des Krieges, das Land verheerten. 18
PETRICH, 2 7 9 m i t A n m . 3 7 8 .
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sind diese Zustände noch gut: schon mehrmals ist Kriegsnot von dem Land abgewendet worden. Woanders sind viele „Brüder", Glaubensgenossen, geplagt und vertrieben worden. Bei uns aber besteht noch staatliche Ordnung, und die wahre christliche Lehre kann verkündigt werden (CS 97,9): Bei uns ist ja noch Polizei, Auch leisten wir noch ohne Scheu Dem Herren seinen Dienst; Man lehrt und hört ja fort und fort Alltäglich bei uns Gottes Wort.
Paul Gerhardt nennt damit das für ihn Wichtigste hervorgehoben am Schluß: Es ist ihm am wichtigsten, daß auf Erden solche Zustände herrschen, daß der Mensch das eschatologische Heil erlangen kann. Würde dies verhindert, dann wäre das, seiner Auffassung von Geschichte gemäß, das Schlimmste, was geschehen könnte. Er urteilt also nach demselben Maßstab wie Andreas Gryphius, der am Schluß seines berühmten Sonetts ,Thränen des Vatterlandes / Anno 1636' nach einer Aufzählung verschiedener Greuel schreibt 19 : Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod / Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth / Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.
Daß dies nebst anderem in dem Gesichtskreis, auf den Paul Gerhardt schaut, nicht der Fall ist, stellt für sich genommen schon einen Trostgrund dar, nämlich den philosophischen Trost der collatio eventuum. In Gerhardts Lied gehören diese Umstände, die das erlittene Leid als nicht ganz so groß erscheinen lassen, zu einem Beweisgang, mit dem Gottes Güte bewiesen werden soll (bis Str. 10). Dieser Beweisgang ist von der Art, daß von einem Teilbereich auf das Ganze geschlossen wird, ein Beweis also, der strenggenommen nur eine schon vorhandene Gewißheit bekräftigen kann 20 . Gottes Güte wird dann in der Weise in Anspruch genommen, daß er um Erbarmen angefleht wird. Zu dem Flehen um Erbarmen gehört ein Ausdruck des eigenen Elends, in welchem die Einschränkungen, die in Str. 3-10 gemacht wurden, gar keine Rolle mehr spielen (Str. 14-17). Ja, Gerhardt durchbricht sogar die Auffassung von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang, aufgrund dessen er zu Beginn des Liedes ein Schuldbekenntnis gebracht hatte. Denn er spricht, Str. 15, - unberührt von der Erbsündenlehre - auch von der Unschuld der Kinder, die unter dem Krieg leiden müssen, um Gott zum Erbarmen zu bewegen. Ging es in dem vorherigen " Gryphius, im ersten Buch der Sonette von 1643, GA 1,48. In der früheren Fassung, ,Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes' in den Lissaer Sonetten von 1637, GA 1,19, wird dabei in dem Schlußterzett auf das Schicksal Straßburgs Bezug genommen. 20 Siehe oben S. 118 ff.
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Teil des Liedes darum, die Christen zum Gebet zu Gott zu motivieren, so suchen diese nun mit ihrem Gebet, indem sie darstellen, wie groß die N o t ist, Gott zum erbarmenden Eingreifen zu motivieren. Gerhardt greift also auf Besonderheiten der damaligen Zeitlage zurück oder auch nicht, je nachdem, ob dies für den jeweiligen Argumentationsschritt seines Gedichtes nötig ist. So hat sowohl die Einordnung des Liedes in der Rubrik ,Umb den lieben Frieden' in der , Praxis pietatis melica' ihre Berechtigung als auch die Titelgebung Ebelings, ,Schutz Gottes, in bißherigen Gefährlichen Kriegeszeiten' 2 1 . In der letzten Strophe schließlich wendet Gerhardt ein Deutungsschema an, wonach aus dem Tiefststand der Dinge, der scheinbaren völligen Abwesenheit Gottes, auf sein baldiges Eingreifen geschlossen werden kann ( C S 97,18): N u n , du wirsts tun, d a s glauben wir, Obgleich noch wenig scheinen f ü r D i e Mittel in der Welt. Wenn alle Mittel stille stehn, D a n n pflegt dein H e l f e n anzugehn.
Dieses Prinzip hat Gerhardt auch an anderer Stelle ( C S 94,9) formulieren können, ohne ausgesprochenen Bezug zu einer bestimmten Zeitsituation. In diesem Zusammenhang stellt seine Nennung aber auch eine Zeitdiagnose dar, wie die Dinge in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges standen. Paul Gerhardt steht mit dieser Zeitdiagnose nicht alleine. D e r Straßburger Theologe Johann G e o r g Dorsch urteilte in seiner Friedenspredigt von 1650 genauso: Die verschiedenen menschlichen Versuche, den Brand des Krieges zu löschen, hätten diesen Brand nur größer gemacht 2 2 . Diese Diagnose scheint, unter Abstraktion von ihrem geschichtstheologischen Zusammenhang, sich noch der Zustimmung eines Historikers des 20.Jahrhunderts erfreuen zu können 2 3 . Den Friedensschluß von 1648 führt Paul Gerhardt in seinem Danklied ,Gottlob! nun ist erschollen' ( C S 98) wie die meisten lutherischen Theologen auf den gnädigen Willen Gottes zurück 2 4 . Allerdings verbindet er ihn mit einer bestimmten Zeitdiagnose in der Weise, daß eines der wich21 Diese eigentümliche Gedankenführung des Liedes wird völlig verkannt in der krassen Mißdeutung KEMPERS, Deutsche Lyrik, Bd. 2, 233-235. 22 Dorsch, Friedenspredigt, 252 f. 23 GOLO MANN, 228, dazu: „Man könnte es nicht wahrer ausdrücken." - Der Name wird an dieser Stelle irrtümlich „Dorch" geschrieben, sein Träger im Register zum Pfarrer von Peterstal gemacht. u Vgl. THOMAS KAUFMANN, Dreißigjähriger Krieg und westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, 113-138, sowie BRAUN, Krieg und Frieden im geistlichen Lied; HANHEIDE, Musikalische Kriegsklagen; ders. Kompositionen zum Westfälischen Frieden.
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tigsten Deutungsschemata außer Kraft gesetzt wird, dessen er sich sonst bedient, nämlich das des Tun-Ergehen-Zusammenhanges. Die Zeitdiagnose ist die, daß in Deutschland weithin keine Buße getan wurde: „Wer ist, der Buße tut?" (CS 98, 2,8). Gewöhnlich deutet Gerhardt Leid als Folge der Sünde, hätte also bei anhaltender Unbußfertigkeit erwarten müssen, daß auch das Kriegsleid anhielte. Dies war aber nicht der Fall. Der gewohnte Tun-Ergehen-Zusammenhang ist dadurch an dieser Stelle aufgelöst. Da für Gerhardt aber feststeht, daß der Friedensschluß nicht ein bloß menschliches Unterfangen, sondern Gottes Gabe ist, entwickelt er für diese Situation eine andere Deutung. Er erklärt, Gott habe sich nun gewendet „Und väterlich bedacht, / Vom Grimm und scharfen Dringen / Zu deinem Heil zu ruhn, / Ob er dich möchte zwingen / Mit Lieb und Gutestun." (CS 98, 5,8-12). Andere führten den Westfälischen Frieden auf die Bittgebete zurück, welche die Gläubigen zu Gott gesandt hatten 2 5 . Dies hätte Gerhardt wohl nicht ausgeschlossen, hatte er doch selber einen solchen Bittgesang verfaßt. Indessen ist es ihm wichtiger gewesen, deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß die große Buße in Deutschland noch nicht stattgefunden hat 2 6 . Dies führt ihn auch dazu, das Wesen des politischen Friedens auf eine dialektische Weise einzuschätzen. Zunächst spricht er den in Münster und Osnabrück ausgehandelten Frieden so an (CS 98, 3,16): Sei tausendmal willkommen, Du teure werte Friedensgab! Jetzt sehn wir, was für Frommen Dein Bei-uns-wohnen in sich hab; In dir hat Gott versenket All unser Glück und Heil.
Der politische Frieden ist nicht lediglich etwas, was von Gott gewollt wäre - dies gilt ja nach der Providenzlehre von allem, was geschieht - , er ist auch nicht bloß etwas, was nach Gottes Gebot geschieht, sondern er ist eng mit Gott selbst verbunden. Das Heil, das eschatologische Gut, ist in diesem Frieden verborgen. Indem der Frieden in Deutschland Einzug hält, wird Gottes Heil in diesem Land gegenwärtig, damit aber Gott selbst. Paul
25
Rist, FT II, 227,11,1 f.; Dorsch, 256 f.; Gryphius, Sonett ,Auf den Anfang des 1650sten Jahres', GA 1,104. 26 STRÄTER, Meditation, 21, vgl. 28, im Kontext 9-33, weist darauf hin, d a ß das praktische Anliegen von Theologen dieser Zeit immer wieder eben dies war, zu Buße und echter Frömmigkeit zu mahnen. In der Regel wurden der Krieg und andere calamitates als Argumente für diesen Bußruf in Anspruch genommen, allerdings mit geringem Erfolg. Paul Gerhardt erweist sich hier als ein Prediger, der genau in dieser Linie steht und nun, angesichts des Friedens, diesen als Aufruf Gottes zur Buße deutet. Als die „Krise" in den Augen dieser Theologen erscheint damit nicht der Krieg u. dgl., sondern die Abwesenheit tieferer Frömmigkeit.
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Gerhardt versteht also in seinem Friedenslied den politischen Frieden als eine gleichsam sakramentale Gabe 2 7 . Eine ähnliche Betrachtungsweise ist im Alten Testament zu finden, etwa im 85. Psalm (V. 11-14), der auch entsprechend von Gerhardt nachgedichtet worden ist (CS 71,8 f.). Das Land, welches diese Gabe erhält, ist dadurch in die Pflicht genommen. Wer gegen diesen Frieden handelt, der wendet sich gegen Gott und bedroht sein eigenes Heil (Str. 3,7 ff.). Was das besagt, fährt Gerhardt in der 4. Strophe fort, kann man im Blick auf die Zerstörungen und Verluste des Krieges sehen. Er spricht hier von den Trümmern, den verwüsteten Landschaften und den gefallenen Helden; an diesen innerweltlichen Schäden wird also schon sichtbar, was Unheil bedeutet. Dem sakramentalen Charakter des irdischen Friedens steht also der Unheilscharakter des irdischen Unfriedens gegenüber. Dieser so aufgefaßte Frieden ist aber ein besonderes Angebot Gottes. Indem Gott den Menschen - den Deutschen - einprägt, wie kostbar er ist, will er sie dazu anhalten, nach seinem Willen zu leben und Buße zu tun. Tun das die Deutschen nicht, dann wird Gott sein Angebot wieder zurückziehen und diesen Frieden zunichte machen (CS 98, 6,1-8): Ach, laß dich doch erwecken, Wach auf, wach auf, du harte Welt, Eh als das harte Schrecken Dich schnell und plötzlich überfällt! Wer aber Christum liebet, Sei unerschrocknes Muts, Der Friede, den er gibet, Bedeutet alles Guts.
Paul Gerhardt spricht nun so von dem Frieden, den Gott gibt, daß er nicht mehr zusammenfällt mit dem irdischen Frieden. Wenn der irdische, politische Frieden weicht, dann bleibt inmitten des weltlichen Unfriedens nur noch der Friede Christi, der mit dem Heil selbst identisch ist. Was dieser Friede eigentlich ist, hebt sich dann um so deutlicher von seinem Gegenteil ab, dem Unheil, das auf Erden besteht. Paul Gerhardt faßt also das Wesen des weltlichen, politischen Friedens in seinem Verhältnis zum geistlichen Frieden dialektisch auf: das eine Mal in einem Ineinander, das andere Mal in einem Auseinanderfallen. Das übergeordnete Ziel, das er mit dieser Dialektik verfolgt, ist dies, die Menschen zur Buße zu ermähnen. Je nach der Situation des Menschen in seinem Sein vor Gott kann Gerhardt Begebenheiten der politischen Geschichte so auffassen, daß sie mit Gott und seinen Gaben eine gleichsam sakramentale Einheit bilden oder daß es zur Diastase kommt. Ein ähnlicher Umgang mit der Geschichte, der 27 Zu einer solchen Friedensvorstellung in der damaligen Dichtung s. VOSSKAMP, 70, Anm. 9.
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zwischen diesen beiden Polen beweglich bleibt, war schon in der Weise zu erkennen gewesen, wie in der protestantischen Publizistik das Kommen, der Sieg und der Tod Gustav Adolfs kommentiert wurde: zuerst wurde der Schwedenkönig in die größte Nähe zu Christus gerückt; nachdem er gefallen war, fand man Genügen daran, daß Gott lebt und weiter den Seinen hilft 28 . Mit der letzten, neues Unheil ankündigenden Wendung in seinem Friedensdanklied hat Paul Gerhardt einen Verweis auf die Zukunft gegeben. Dies ist charakteristisch für seine Geschichtssicht. Sie ist nicht nur Deutung der Gegenwart und der Vergangenheit, sondern auch Ankündigung der Zukunft. Für den Fall, daß die Verstocktheit des Volkes bliebe, sagt Gerhardt ein erneutes Strafhandeln Gottes voraus, denn er läßt nur für gewisse Ausnahmen von seiner gewohnten Handlungsweise ab. Doch weil Gott die Umkehr seines Volkes will, gibt er ihm Zeichen, mit denen er sein künftiges Handeln andeutet. Wer diese Zeichen erkennt, kann noch Buße tun und andere zur Buße veranlassen, bevor die Zeit der Strafe begonnen hat. Diese Überlegungen stehen hinter dem „Kometenlied" ,Herr, was hast du im Sinn' (CS 93). Gerhardt bezieht sich hier ausdrücklich auf die Erscheinung eines Kometen, wahrscheinlich dessen von 1664, und verweist zurück auf die Erfahrungen der Vergangenheit: nach dem Kometen kam Unheil über das Land. Er meint dabei wohl besonders den Kometen von 1618, der als Vorbote des Dreißigjährigen Krieges gedeutet wurde 29 . Eine solche Deutung von Himmelszeichen wurde offenbar damals nicht zur Astrologie gerechnet, die von einem orthodoxen Theologen wie Hutter streng von der Astronomie unterschieden und verworfen wurde 30 . Mit „Astrologia" ist dabei die Berechnung des Schicksals einer Person aufgrund der Sternenkonstellation zur Zeit seiner Geburt gemeint. Die Kometen jedoch galten als besondere Zeichen, die Gott schickt. Diese Auffassung vertrat Johann Arndt. Er erklärt: „was . . . die Cometen für grosse Veränderungen auff Erden mit sich bringen: nicht allein an einzeln hohen Personen, wegen ihres tödtlichen Abgangs; sondern auch an Veränderung der Reiche und Herrschafften / auch andern großen Land Straffen / daher aus Erfahrung gesaget wird: Es ist kein Comet am Himmel erschienen / 28 Siehe dazu den Aufsatz von HELMUT ZSCHOCH, Größe und Grenzen des ,Löwen von Mitternacht', insbes. 49 f. Allerdings handelt es sich bei der Geschichtssicht, die Gott und bestimmte geschichtliche Erscheinungen oder Gestalten in eine weitere Distanz rückt, nicht um eine „profane Einschätzung des Politischen" oder um eine gegenseitige Emanzipation von Religion und Politik im späteren Sinne, wie ZSCHOCH, 50, meint, sondern um den einen Pol dieser Dialektik. Siehe des weiteren SILVIA SERENA TSCHOPP, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges, insbes. 277-301, sowie KAUFMANN, Dreißigjähriger Krieg, 56-65. H So etwa von Martin Opitz, Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges 1,225 ff. (Ges.
W e r k e 1 , 1 9 8 ) , v g l . PETRICH, 3 4 1 , A n m . 2 7 8 z u 2 7 9 . 50
Hutter, Loci, 204-209; 213-217, vgl. LEHMANN, Kometenflugschriften, 694.
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daß nicht was böses darauff erfolget wäre. Und sind derselben Exempel alle Historien voll.", wobei er Caesar nennt 31 . Auf dieser Grundlage deutet auch Paul Gerhardt die gegebene Kometenerscheinung. Er geht dabei vor wie bei einem Emblem und setzt die verschiedenen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des Kometen in eine Analogie zu Umständen, die mit dem Strafgericht Gottes verknüpft sind: Seine Helligkeit steht für die Deutlichkeit, mit welcher dieses Gericht angekündigt wird, seine Geschwindigkeit für die Schnelligkeit, mit der es kommt, die Breite und Länge seines Schweifes für den Umfang der Strafen. Nach dieser Ausdeutung unternimmt es Gerhardt, Gott um ein Aussetzen seiner Strafe zu bitten. Voran bittet er für „unsern Herrn, / Den schönen edlen Stern" (CS 93, 10,1 f.), also für seinen Landesfürsten Friedrich Wilhelm, dessen T o d aufgrund der Kometenerscheinung zu befürchten war. Die Geschichtsvoraussagen Paul Gerhardts sind also auch nicht so zu verstehen, daß hier ein bestimmtes Schema unwandelbar zur Geltung käme, etwa hier: ,Auf das Auftreten eines Kometen folgen unfehlbar die angekündigten Strafen'. Gerhardt bringt hier im Grunde den Gedanken Melanchthons zur Anwendung, daß der Ursache-Wirkung-Zusammenhang kein unabänderliches stoisches Fatum bildet, sondern von Gott aufgrund der Gebete des Menschen abgeändert werden kann 3 2 . Die Gültigkeit eines Schemas zur Deutung der Geschichte ist also immer noch abhängig davon, welche Einstellung die Menschen zu Gott einnehmen. Das andere genannte Lied, ,Die Zeit ist nunmehr nah' (CS 120), von 1653, spricht nicht explizit von einem Kometen, hat aber wohl, neben anderen Zeichen, die Erscheinung von 1652 zum Anlaß. Gerhardt deutet sie jedoch ganz anders als zwölf Jahre später. Er spricht nicht von einer innerweltlichen Katastrophe, sondern von der Katastrophe, dem Ende der Welt schlechthin. In der Tat konnte damals ein Komet auch in dieser Weise gedeutet werden 33 . Gerhardt nimmt dies aber in diesem Lied überhaupt nicht als Grund, Buße zu tun, er beschreibt keineswegs die Zerstörung der Welt, sondern er konzentriert sich ganz auf die Begegnung mit dem wiederkehrenden Christus und sieht in ihm auch kaum den Richter, sondern den Retter, der für den Gläubigen eine neue Welt ohne Leid bringt 34 . Mit diesem Lied reihte sich Paul Gerhardt in die Gruppe derjenigen Christen 31
Arndt, Wahres Christentum, Buch II, 58,4 (Ausgabe 1708, 11,495), vgl. von der Ankündigung von Landstrafen durch Zeichen: IV/1,4,22 (Ausgabe v. 1708, 617 f.). Sein Urteil über die Astrologie ist übrigens auch milder als das Hutters. Zu dieser Deutung der Kometen, wie sie vor allem in einer großen Zahl von Flugschriften ausgebreitet wurde, s. LEHMANN, Kometenflugschriften, insbes. 684-692. 32 S. o. S. 50. 33 LEHMANN, Kometenflugschriften, 693. 34 In dem Adventslied CS 1,9 f. begrüßt Gerhardt den zweiten Advent auch als Kommen des Kämpfers und Richters. Vgl. zu der Thematik: DIETRICH KORN, Das Thema des jüngsten Tages in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, zu Gerhardt dort, 26 f.
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des 17. Jahrhunderts ein, welche aus bestimmten Anzeichen die nahe Wiederkehr Christi glaubten ablesen zu können. Diese Naherwartung war nicht nur unter Chiliasten verbreitet, sondern auch unter orthodoxen Lutheranern wie Gerhardt oder wie Johann Matthäus Meyfart (gest. 1642). In seinem 1632 veröffentlichten Buch über das Jüngste Gericht geht Meyfart systematisch nach Mt 24 die Zeichen durch, welche ihn auf die Nähe des Jüngsten Gerichts schließen lassen. Er zählt dazu auch Kometenerscheinungen 35 . Die Erwartung der Wiederkehr Jesu Christi ist ein wesentliches Moment der Geschichtsauffassung Paul Gerhardts. Weil er Geschichte so auffaßt, daß sie auf ein Ende als auf ihr Ziel zuläuft - und von da her auch das Leidproblem angehen kann - , muß er auch ganz konkret mit ihrem Ende rechnen, welches mit dem zweiten Kommen Jesu zusammenfällt. Bemerkenswert an diesem eschatologischen Lied Gerhardts ist, daß er im Fortlauf dieses Liedes selbst in Distanz tritt zu der Naherwartung, welche das Lied überhaupt erst ausgelöst hat. H a t er noch in Str. 1 sich auf die Wunderzeichen berufen, welche Jesus ankündigen, und ergeht er sich daraufhin in der Imagination des Kommens Jesu, so ruft er sich in Str. 14 selber zu: Halt ein, mein schwacher Sinn, Halt ein! Wo denkst du hin? Willst du, was grundlos, gründen? Was unbegreiflich, finden? Hier muß der Witz sich neigen Und alle Redner schweigen.
Gerhardt erkennt, daß es mehr das Drängen seines eigenen Herzens war, das ihn Jesus so nahe glauben ließ. So schließt er das Lied mit dem Vorsatz, stets für Christi Kommen bereit zu sein. Offenbar stellt die Gedankenentwicklung dieses Liedes selber dar, wie Gerhardt und Christen, die ähnlich dachten wie er, damit umgingen, daß das Ende der Welt ausblieb trotz der N o t und trotz der anderen Anzeichen, die man fand. Auf diese Weise konnte dieses Lied auch über die Situation hinaus, welche es hervorrief, 35
Meyfart, Das Jüngste Gericht, 7. Aufl. Nürnberg 1662: über die Vorzeichen: Buch I, cap. 6-18 (81-267), über die Kometen in 1,13 (207 f.), referiert bei HALLIER, 54-56, und TRUNZ, Johann Matthäus Meyfart, 133-135; s. auch LEHMANN, Die Deutung der Endzeitzeichen in Johann Matthäus Meyfarts Jüngstem Gericht'; zu den Kometen dort, 19, zu der Naherwartung im 17.Jahrhundert dort, 24, vgl. ders., Das Zeitalter des Absolutismus, 123-135. Es zeigt sich dabei, d a ß die Gruppe derer, welche auf die „Krise" des ^ . J a h r h u n derts reagierten, indem sie „Trost und Erbauung" gaben (LEHMANN Absolutismus, 114-123, zu Gerhardt dort 121 f.) sich durchaus mit derjenigen überschnitt, wenn nicht deckte, welche nach einer eschatologischen H o f f n u n g suchte. - Zu den damaligen Endzeitberechnungen und zum Endzeitbewußtsein bei Gryphius s. VOSSKAMP, 90-100. Ein Beispiel von Naherwartung aufgrund bestimmter Zeichen bei Gryphius ist das LXII. der Sonn- und Feiertagssonette ,Auff den Sontag des letztes Greuels / oder X X V . nach der H . Dreyeinigkeit', GA I, 211 (der Perikopentext ist ebenfalls M t 24).
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Verwendung finden. Seine Thematik blieb gültig und bleibt es, bis zu dem T a g „Da unser Schreck auf Erden / Soll Fried und Freude werden." (CS 120, 18,5 f.). Überblickt man nun die Fälle, in denen Paul G e r h a r d t in seinen geistlichen Liedern ganz bestimmte, konkrete Ereignisse seiner Zeit deutete, dann ergibt sich eine eigentümliche Flexibilität seines Umgangs mit Schemata der Geschichtsdeutung. In dem Bittlied f ü r den Frieden wird das gegenwärtige Leid auf die Schuld der in diesem Lied angesprochenen Menschen zurückgeführt, aber dann, wo es darum geht, G o t t zu erweichen, wird auch von dem unschuldigen Leiden der kleinen Kinder gesprochen. In dem Danklied f ü r den Frieden wird diesem Frieden eine Aufgabe zugeschrieben, welche sonst das Leid hat, nämlich die, den Menschen zur Buße anzutreiben. Im selben Lied wird aber angekündigt, d a ß diese Aufgabe wieder vom Leid übernommen werden kann. In dem Kometen-Bußlied werden bestimmte Ereignisse f ü r die Z u k u n f t angekündigt, aber dann und zwar aufgrund der Erwartung eben dieser drohenden Ereignisse G o t t darum gebeten, diese Ereignisse zu verhindern. In dem Naherwartungslied stellt er sich zuerst aufgrund gewisser Zeichen auf die Wiederkehr Christi ein, dann aber, weil diese ausgeblieben ist, darauf, noch länger warten zu müssen. Gleichwohl ist dieser Umgang mit den Deutungsschemata nicht inkonsequent oder willkürlich. Die Aufgabe der Schemata ist es, die Art der Verknüpfung zu bestimmen, die zwischen den Ereignissen der Geschichte dieser Welt, in welcher G o t t alles in allem wirkt, auf der einen Seite und der Beziehung zwischen G o t t und Mensch auf der anderen Seite besteht. Diese Beziehung stellt eine Art Binnenraum innerhalb der äußeren Weltgeschichte dar. Die Ereignisse der Geschichte vermögen zwar auf diesen Binnenraum einzuwirken, aber nicht ihn eindeutig zu bestimmen. Ein leidvolles Ereignis beispielsweise wird zwar einen Einfluß auf den Menschen haben, den es trifft, doch bestimmt es nicht, ob er daraufhin Buße zu tun sucht oder nicht. Bei allen Deutungen der Geschichte geht es G e r h a r d t nun darum, seine Adressaten zu einem gewissen Verhalten gegenüber G o t t zu bewegen - sei es Buße, Bitte, D a n k oder Geduld. Ändert der Mensch nun seine Einstellung gegenüber G o t t - oder auch Gott seine gegenüber dem Menschen - , dann ist das Deutungsschema zu wechseln. T u t der Mensch Buße, hat er nicht mehr die angekündigte Strafe zu befürchten. Gebraucht G o t t den politischen Frieden als Mittel, zur Buße aufzufordern, dann ist es dem Menschen geboten, ihn als solches zu begreifen und sich nicht zu trügerischer Sicherheit verleiten zu lassen. Das Kriterium f ü r den richtigen Gebrauch der Deutungsschemata ist grundlegend die Erkenntnis, die der jeweilige Christ von seiner eigenen Beziehung zu G o t t hat. Allerdings spricht Paul Gerhardt gerade in den hier analysierten Liedern nicht nur wie das Ich eines Psalms von sich selber, sondern auch von anderen. Er spricht von und zu den Christen in seinem Umkreis, seinem
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Fürstentum, seinem Land. D a er nicht lediglich aufgrund bestimmter Anzeichen Vermutungen geäußert hat, sondern apodiktisch behauptete, d a ß etwa die Christen in Deutschland noch immer nicht Buße getan haben, hat er dies im Grunde nur mit dem Vollmachtsanspruch eines Propheten tun können. D o c h richtet sich diese prophetische Rede letztlich wieder an das Gewissen des jeweiligen Christen, der aufgerufen ist, sich selbst zu erkennen und sich dementsprechend zu verhalten. Christliche Geschichtsdeutung, wie sie am Beispiel Paul Gerhardts prägnant wird, verzichtet nicht darauf, zwischen dem mit natürlichen Mitteln zu beobachtenden Lauf der Geschichte und den Absichten Gottes einen Zusammenhang aufzuweisen. Dennoch legt sie sich damit nicht in jedem Fall ein f ü r allemal auf eine bestimmte Deutung fest, respektiert also in gewisser Weise eine U n deutbarkeit der Geschichte, weil sie nämlich jede Deutung der Geschichte abhängig macht von der freien, d. h. nicht von Faktoren der Welt bestimmbaren Entwicklung der gegenseitigen Beziehung zwischen G o t t und dem Gläubigen.
2. Geistliche Dichtung und Aktivität
in der Geschichte
Es wurde bereits erwähnt, d a ß späteren Betrachtern die Lieder Paul Gerhardts den Eindruck erwecken, d a ß sie zu einer Passivität, zu einem Quietismus hinführten 3 6 . Klassisch ausgedrückt ist die so aufgefaßte H a l tung in solchen Versen wie „Gib dich zufrieden und sei stille" (CS 94, 1,1). Man hat versucht, diese Haltung als Eigentümlickkeit seines Charakters zu verstehen, und dazu auch Hypothesen über seinen Lebenslauf in Anspruch genommen. So versuchte man etwa seinen sehr späten Amtsantritt mit 44 Jahren zu deuten oder das fast völlige Versiegen seiner dichterischen Produktion nach der Amtsenthebung und dem T o d seiner Frau. D o c h sollte man bedenken, d a ß die als „Quietismus" interpretierte H a l t u n g in seinen Liedern sich aus einem Zusammenhang von Lehre, Lebensanweisungen und -zusprüchen ergibt, welcher von Paul G e r h a r d t nicht erst geschaffen, sondern vorgefunden und in seine Bildung aufgenommen wurde. Dieser Zusammenhang ist also überindividuell und unabhängig vom Charakter einzelner Personen. M a n müßte umgekehrt fragen, ob nicht dieser Komplex den Charakter und die Lebensgestaltung der einzelnen Menschen geformt habe. Die Quellen, die über das Leben Paul Gerhardts Auskunft geben, sind jedoch so spärlich, d a ß sie m. E. in den meisten Fällen ein Urteil über seine Person nicht zulassen. U n d wenn sich Charakter und Lebensgang einer bestimmten Person rekonstruieren ließe, die durch eine bestimmte Bildung geformt wurde, müßte man sie verglei36
S.o. S. 113.
Geistliche Dichtung und Aktivität in der Geschichte
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chen mit anderen Personen, welche aus der gleichen Schule hervorgegangen sind. Statt dies zu tun, will ich mich hier jedoch darauf konzentrieren, die Lebenshaltung näher zu betrachten, die aus den Liedern Paul Gerhardts spricht 37 . Ich habe schon in früheren Teilen dieser Studie versucht zu zeigen, daß die Stille, der Frieden, zu dem sich die Seele begibt - „Gib dich zu-frieden" - , nicht als etwas Absolutes vorgestellt wird, das in jeder Beziehung gilt. Vielmehr handelt es sich um Qualitäten, die die Beziehung prägen sollen, welche die Seele zu Gott hat 38 . Dabei befindet sich diese Stille in einem dialektischen Verhältnis zu der höchsten Bewegung der Freude, die Gerhardt mit Singen, Lachen und Springen verbindet 39 . Das Stille-Sein vor Gott ist zugleich höchste Betätigung des Menschen, es ist praxis, und zwar die praxis pietatis, zu welcher Gerhardt mit seinen geistlichen Liedern beitragen wollte 40 . Gerade in dem Lied ,Gib dich zufrieden' hebt Gerhardt hervor, daß der von allen Seiten bedrängte, zum Schweigen verurteilte Christ vor Gott Kühnheit zeigen kann und darf. Ihm kann er nämlich „kühnlich" sagen, was ihn bedrückt (CS 94, 5,4). Nun könnte man freilich meinen, hier, in der Beziehung der einzelnen Seele zu Gott, sei der einzige Ort, wo der Mensch Kühnheit zeigen könne und eine, allerdings in paradoxer Weise mit Ruhe verbundene Art von Tätigkeit. Ansonsten würde der Mensch, insbesondere der Christ, nur als ein Wesen betrachtet, das in der Welt Unruhe hat und leiden müsse; dies sei d i e condicio
humana
seu christiana.
D e m ist j e d o c h z u w i d e r s p r e c h e n :
es gibt auch Lieder Gerhardts, in denen es um das eigene Planen und äußere Tätig-Sein des Menschen geht 41 . Allerdings geschieht dies dort nur unter dem Blickwinkel, daß der Mensch schon bei seiner Planung, seiner 37
Ein Beispiel für diese biographischen H y p o t h e s e n ist der sonst so nüchterne Artikel über
P a u l G e r h a r d t v o n WALDTRAUT-INGEBORG SAUER-GEPPERT. FRIEDRICH DE BOOR ist,
34-46,
insbes. 40 ff., auf diese T h e s e n z u m Z u s a m m e n h a n g von Gerhardts Charakter, Lebenslauf und d e m „Quietismus" in seinen Liedern e i n g e g a n g e n und hat sie, m. E. n o c h z u vorsichtig, zurückgewiesen. D E BOOR hebt vor allem Gerhardts H a r t n ä c k i g k e i t im K o n f l i k t mit d e m Kurfürsten hervor, die in der T a t über das M a ß des Widerstands hinausging, welchen der Berliner Magistrat zeigte. D o c h war der Widerstandsgeist Gerhardts für Lutheraner außerhalb des Machtbereichs der Reformierten etwas durchaus der N o r m Entsprechendes, allerdings Beispielhaftes. So wird sein W i d e r s t a n d in d e m G u t a c h t e n der G r e i f s w a l d e r Fakultät billigend erwähnt (bei BuNNERS, Paul Gerhardt, 361), und Feustking spricht von d e m H e l denmut, der G e r i n g s c h ä t z u n g dieses „geringen Berlinischen Leidens" und der Bereitschaft z u m Martyrium, die G e r h a r d t damals g e z e i g t habe, Vorbericht, )()(4v. - Schließlich m u ß beim Studium der Briefe Paul Gerhardts als Q u e l l e n beachtet w e r d e n , wie ein damaliger Untertan in d e m ehrerbietigen Briefstil, w e l c h e r damals g e g e n ü b e r H ö h e r g e s t e l l t e n obligat war, seine M e i n u n g z u m Ausdruck bringen konnte. 38
S.o. S. o. den', und 40 S.o. 41 S.o. 39
S. 136. S. 178 f. D i e s wird von DE BOOR, 4 0 - 4 6 , im Vergleich von C S 9 4 , , G i b dich zufrieC S 82, ,Ist G o t t für mich', andeutungsweise, aber nicht g a n z klar herausgearbeitet. S. 154 ff. S. 113 ff.
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Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
Beschlußfassung, Gott um Hilfe bitten soll, damit sie sich als erfolgreich erweist. Paul G e r h a r d t bleibt also auch in diesen Liedern streng bei dem Anliegen, welches er als Liederdichter verfolgen wollte, nämlich zur Ü b u n g in der Gottseligkeit anzuhalten. Diese besteht aber in der Konzentration auf die Innerlichkeit des Menschen, das heißt, auf das Selbstverhältnis der Seele, in welchem sie zugleich ihres Vor-Gott-Seins gewahr wird. Damit ist überhaupt nicht ausgeschlossen, d a ß der Mensch zugleich ein Wesen ist, welches nach außen hin tätig werden kann. N u r ist dies innerhalb eines Programms der Verinnerlichung, wie es G e r h a r d t oder auch Martin Moller und Johann Arndt vertraten, nicht ein eigenes Thema. D a ß der Mensch nach außen hin handeln kann und auch soll, wurde hingegen von den Vertretern der lehrhaften Theologie wie Leonhard H u t t e r eigens betont 4 2 . Für ihn bestehen praxis und usus der Lehre de Providentia Dei vor allem darin, und er hebt dies, Melanchthon folgend, gerne gegen die Position der „Stoiker" hervor. Damit meint H u t t e r außerdem noch ein Argument gegen die Calvinisten gefunden zu haben, welche er als die Stoiker seiner Zeit ansah, obgleich sie aus ihrer Providenz- und Prädestinationslehre ebenfalls eine keineswegs fatalistische Konsequenz zogen. Sieht man auf H u t t e r , so ist klar, d a ß die lutherische gelehrte Theologie des 17. Jahrhunderts keineswegs auf eine Praxis der Passivität hinauslief. D e r Mensch kann und soll handeln, und das heißt insbesondere: sich auch gegen Leid wehren. Natürlich soll er dies alles nur tun, indem er innerhalb der Ordnungen bleibt, die von G o t t vorgegeben sind. Dies wird von H u t t e r betont, wo es um diese Bedingungen geht, unter welchen ein Bündnis der lutherischen Staaten mit den calvinistischen erlaubt ist, oder um die Flucht vor Pest oder Verfolgung. Es wäre auch n a m h a f t zu machen, wo es um die Rechte und Pflichten eines Untertanen gegenüber dem Landesfürsten geht. Diese Rechte hat Paul G e r h a r d t in seinem Widerstand gegen die Religionspolitik des großen Kurfürsten bis auf das Äußerste dessen in Anspruch genommen, was damals f ü r einen Lutheraner erlaubt war. M a n muß sich bewußt machen, d a ß die damalige Zeit nicht schlechthin inaktiv und bereit war, Leiden hinzunehmen. M a n war durchaus entschlossen, zu handeln und Leid abzuwehren. Was diese Entschlossenheit anbetrifft, ist der Unterschied zu späteren Zeiten kein absoluter, sondern er besteht darin, daß der U m f a n g dessen, wo der Mensch handeln darf und soll auf politischem wie auf medizinischem oder wirtschaftlichem Gebiet - , später erweitert wurde. Die Änderung, welche sich vollzog, war also eine in der Auffassung der Ordnungen, die f ü r den Menschen gelten und innerhalb deren ihm Spielraum und Verantwortung zugewiesen wurde. In der T a t hatten die Calvinisten zu dieser Zeit bereits eine andere Auffassung von der politischen Ordnung, die dem „Untertanen" gegenüber dem M o n -
42
S. o. S. 48 f.; 69 ff.
Geistliche Dichtung und Aktivität in der Geschichte
293
archen hierin viel mehr beimaß 43 . Die Hinrichtung Karls I. von England (1649) war für den Calvinisten Cromwell eine Pflicht; für den deutschen Lutheraner Andreas Gryphius hingegen die Ermordung einer von Gott eingesetzten Majestät. Sie ließ ihn schärfstens protestieren und den Stuart-König als christusähnlichen Märtyrer verklären. Ob in der Ethik der alltäglichen Lebensgestaltung und des Wirtschaftens ein solcher Unterschied zwischen Lutheranern und Calvinisten bestand, wie Max Weber ihn darstellte, kann hier nicht zureichend erörtert werden 44 . Doch soll darauf hingewiesen werden, daß es sich mit einem der von Weber veranschlagten Faktoren anders verhält als er meint. Denn Weber zufolge bringt der rechtfertigende Glaube nach lutherischer Lehre den Menschen in eine unio mit Gott, welche wesentlich als etwas Gefühlsmäßiges aufgefaßt wird und worin der Mensch passiv ist. Zwar räumt Weber ein, daß auch die Lutheraner eine Wirksamkeit des Glaubens in äußeren Werken lehrten, doch sei diese Verknüpfung von Glauben und Werken unsicher eben aufgrund des bloß gefühlsmäßigen, passiven Charakters des Glaubens. Die Reformierten hingegen, so Weber, kannten gar keine unio mystica, und so habe die Vergewisserung über die Erwählung durch die Werke als Früchte des Glaubens ein viel größeres Gewicht gewonnen 4 5 . Dieser letzten Aussage ist entgegenzuhalten, daß die reformierte Theologie des 17. Jahrhunderts durchaus eine unio des Gläubigen mit Christus lehrte, welche von den Gläubigen genossen wird 46 . Bei den Lutheranern wurde umgekehrt die unio nicht nur als etwas durch die Gefühle oder den Willen Geschaffenes, sondern als unio totius substantiae verstanden 47 . Darüber hinaus, und auch in Blick auf die besondere Aufgabenstellung dieser Studie, ist es wichtig zu sehen, daß die Konzentration der Frömmigkeit bei bestimmten Lutheranern auf die Vertiefung der Seinsgemeinschaft mit Christus keineswegs, jedenfalls keineswegs prinzipiell, ein äußeres Tätigwerden des Christen ausschloß oder beschränkte. Das PraxisAnliegen Hutters in seinen Loci theoretici und das Anliegen der Lieder der Praxis pietatis melica schließen sich nicht aus, sondern sie implizieren einander. Das ist nun auch wesentlich für die Beurteilung des Umgangs mit dem Leid in diesen Liedern. Voraussetzung für die Aussagen etwa der 43 Doch auch hier ist WERNER ELERTS These zu berücksichtigen, die Anerkennung der Ständeordnung durch Luther sei keineswegs „fatalistische Ergebenheit in die gesellschaftliche Situation, in die hinein wir geboren sind.", Morphologie des Luthertums, Bd. 2, 51. 44 MAX WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 118-143; die Charakterisierung des „Geistes des Kapitalismus" als einer bestimmten Mentalität, die in der alltäglichen Lebensgestaltung und in der Wirtschaftsführung sich zeigt: 39-66. Ähnlich wie
WEBER u r t e i l t ü b r i g e n s VIERING, 5 1 5 - 5 3 3 . 45 44
MAX WEBER, 1 2 9 - 1 3 2 ; 2 1 9 - 2 2 1 ( A n m . 105 z u 142). W i l l i a m A m e s ( A m e s i u s ) , bei HIRSCH, § 6 3 7 ( 3 9 0 ) ; L e y d e c k e r , b e i HIRSCH 5 6 7 7 ( 4 1 5 ) ,
auch Calvin, Institutio 111,11,10. 47 S.o. S. 163.
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Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
Lieder Paul Gerhardts zu diesem Thema ist der Umstand, daß, mag der Mensch auch alles tun, was er kann, darf und soll, um Leid zu verhindern, doch ein Rest an Leid bleibt, den er nicht aufheben kann. Das Thema, dem sich diese Lieder widmen, lautet: Wie soll der Mensch, definiert durch seinen Stand vor Gott, mit diesem unvermeidbaren Leid umgehen? Die Antwort lautet, daß er es ergeben hinnehmen, ja fröhlich bejahen soll. Ich habe versucht zu zeigen, daß diese Aufforderung nur auf dem Hintergrund der Lehre von der directio mali im Locus de Providentia richtig zu verstehen ist 48 . Was eigentlich hingenommen und willkommen geheißen wird, ist im leidvollen Widerfahrnis seine Zweckbestimmung. Gott läßt für diejenigen, die im Glauben mit ihm verbunden sind, das Leid als Mittel zum Guten wirken. Dies gilt in der Beziehung auf das letztliche Ziel des Menschenlebens, die eschatologische Herrlichkeit, aber dadurch schon in der Beziehung auf die Gemeinschaft mit Christus, die jetzt bereits besteht. Das Leid wird so aufgefaßt, daß es diese Gemeinschaft vertieft: im Leiden wird der Christ dem leidenden Christus ähnlicher - und in der H o f f n u n g bestärkt, dem Auferstandenen verähnlicht zu werden. Die Stelle, wo die auf Glück und Wohlergehen ausgehende Lebensplanung des Menschen unweigerlich an eine Grenze gerät - die Stelle des Leidens wird also umfunktioniert: das Leiden erhält einen Sinn, erweist sich als „nützlich", denn es dient der Übung der Gottseligkeit, der Vertiefung der Seinsgemeinschaft mit Christus. D a ß dieser Umgang mit dem Leid coram Deo keineswegs ausschließt, daß der Mensch sich coram hominibus gegen das Leid wendet und sich mit allen zur Verfügung stehenden erlaubten Mitteln wehrt, geht schon daraus hervor, daß Paul Gerhardt in Liedern, in welchen das Leid den Christen dazu führt, vor Gott seine Schuld zu bekennen und es fröhlich anzunehmen, er andererseits Gott um Hilfe gegen die Feinde bitten kann 4 9 . Paul Gerhardt hat in einem seiner erhalten gebliebenen Leichensermone diesen Sachverhalt ausführlicher dargelegt. Er unterscheidet scharf zwischen dem Stand des Menschen vor Gott, vor dem er schuldig geworden ist und von 48
S.o. S. 137 f. S.o. S. 131, bei Anm. 125. Dieser Sachverhalt wird völlig verkannt von WOLFRAM MAUSER, der meint, die Auffassung von einer „Interdependenz" von Leid und Heil - das Leid dient zum Heil - habe dazu geführt, daß Leid gerechtfertigt und für wünschenswert gehalten wurde und man sich gar nicht mehr um die Beseitigung des Leids gekümmert habe. Insbesondere habe diese Auffassung dem absolutistischen Staat dazu gedient, seinen Untertanen Leiden und Lasten aufzuerlegen: MAUSER, Dichtung, Religion und Gesellschaft im ^ . J a h r hundert, 163-167; ders., Andreas Gryphius - Philosoph und Poet unter dem Kreuz. RollenTopik und Untertanen-Rolle in der Vanitas-Dichtung, 216-220; vgl. ders., Andreas Gryphius' Einsamkeit, 242 f. Gerade Paul Gerhardt in seinem Konflikt mit dem Großen Kurfürsten und Andreas Gryphius als Vertreter der Glogauer Landstände gegenüber Habsburg (s. gerade MAUSER, Dichtung, 11 f. !) sind Beispiele d a f ü r , daß die hier zu beurteilende Frömmigkeitshaltung Menschen damals den Mut zum Kampf gegen Ansprüche des absolutistischen Fürsten und die Kraft gab, die Leiden anzunehmen, die damit unweigerlich verbunden waren. 49
Geistliche Dichtung und Aktivität in der Geschichte
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dem er zu Recht mit Leid gezüchtigt wird, und seinem Stand vor den Menschen, die ihm dieses Leid antun und vor welchen er im Recht ist. Weil er vor ihnen im Recht ist, kann er auch von Gott erwarten, wenn er vor ihm Buße getan hat, daß er ihm sein Recht vor diesen Menschen durchsetzt, seine Sache und Rache führt. Solche Demut vor Gott ist das für Christen Angemessene „so wohl in ihrem Privat- und Hauskreuze, als auch in dem allgemeinen Landes- und Stadtunglück" 50 . Daß nun Gott die Sache des zu Unrecht von Menschen angegriffenen Christen oder des christlichen Volkes in seine Hände nimmt - Gerhardt legt all dies am Volk Israel dar - ist erstens so zu verstehen, daß Gott die Bittgebete seines in Not geratenen Volkes erhört. Für Gerhardt - wie für Hutter - war das Bittgebet in gewisser Weise - aber so, daß der Ursachenbegriff vermieden wurde - ein Mittel, mit welchem der Gläubige in den Geschichtsverlauf eingreifen konnte, nämlich in der Weise, daß Gott seine Bitte erhört und eingreift. Der im Gebet erbetene „Trost" besteht gerade in diesem Handeln Gottes. Gerhardt hat dies pointiert in seinem Widmungsgedicht an Heintzelmann zum Ausdruck gebracht, wo er von David sagt: „Und so oft er also sang, / Kam der Feind' ihr Untergang." 51 Zweitens eingeschlossen von dieser ersten, umfassenden Bestimmung - kann dieses Eingreifen Gottes so verstanden werden, daß der Mensch nicht nur so daran beteiligt ist, daß er es erbittet, sondern daß es sich vollzieht, indem Gott durch Menschen handelt, die sich seiner gubernatio unterstellt haben. Der Mensch, der um Gottes Hilfe bittet, von der allein alles abhängt, und der Mensch, durch den Gott handelt, können dabei identisch sein. Die Bitte an Gott, die Unterwerfung unter Gott und eigenes Handeln, durch welches sich der Mensch Hilfe verschafft, sind dann miteinander verbunden. Dies geht bei Hutter aus seinen Ausführungen klar hervor 52 , bei Paul Gerhardt besonders aus dem Kontext seiner Lieder innerhalb der Praxis pietatis melica, und zwar in der Rubrik ,Umb den lieben Frieden'. So sollen hier auch Lieder anderer Autoren herangezogen werden, die deutlicher von einer solchen „Selbsthilfe" des Christen im Leid sprechen. Ich denke nicht, daß der Umstand, daß Gerhardt selber hier nicht konkret wird, zu dem Schluß führen darf, daß er anders gedacht hätte. Vielmehr ist, wie gezeigt worden, diese Möglichkeit bei ihm impliziert, und es ist zu bedenken, daß er mit der Publikation seiner Lieder in einem Sammelwerk auch die Aussagen anderer Dichter mittrug 53 . 50 Leichensermon Nikolaus Wernicke 1656, zit. Stelle CS, 430, der Kontext 428-431. Gerhardt legt hier den Text Mi 7,7-9 aus, den er auch in seinem Lied CS 77 paraphrasiert hat. 51 Bei BUNNERS, Paul Gerhardt, Nr. 5, 1,5 f. (364). 52 S. o. S. 7 0 . 53 PH. BACHMANN, Der dreißigjährige Krieg und das Kirchenlied, 416-420 (vgl. ANER, Das Luthervolk, 38-47), stellt fest, daß insgesamt nur eine Minderheit der vielen geistlichen Lieder, die während des Dreißigjährigen Krieges entstanden sind, sich auf diesen beziehen.
296
Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
Ausgegangen werden soll von Gerhardts eigenem Beitrag zu den Bittgesängen um den Frieden, dem bereits besprochenen Lied ,Wie ist so groß und schwer die Last', CS 97. In der letzten Strophe erklärt er, daß die Mittel in der Welt noch wenig den Anschein bieten, Hilfe zu bringen, aber daß, wo alle Mittel in der Welt stille stehen, Gottes Hilfe einsetzt 54 . Fragt man, wie denn konkret die Hilfe Gottes aussehen würde, dann kann die Antwort nur lauten, daß Gott sich bestimmter Mittel in der Welt bedient, die jetzt, zu dem Zeitpunkt, in welchem das Bittgebet gesprochen wird, noch nicht erkennen lassen, daß sie diesem Zweck dienen werden. Gerhardt mag damals, als er das Lied verfaßte, daran gedacht haben, daß die sich hinschleppenden Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück doch noch zu einem erfolgreichen Ende kommen. Er könnte aber auch ein jähes, überraschendes Eingreifen eines menschlichen Führers für möglich gehalten haben, der den Krieg beendet und dessen sich Gott bedient. Das Kommen Gustav Adolfs 1630 ist in einer ähnlichen Weise aufgefaßt worden 5 5 . Andere Lieder dieser Rubrik sind in unterschiedlichem Maße konkreter. Jacob Ebert bittet, ähnlich wie Gerhardt, lediglich darum, daß Gott „Krieg vnd all schedlichs wesen" davontreibe 56 . In dem Lied ,ACh Gott, dein arme Christenheit' wird, nachdem vor Gott die Schuld bekannt ist, Jesus gebeten: „Treib von uns solche fremde gäst / Den papst und alle andre feind / Die deinem wort zu wider seynd" 57 . Von Johann Heermann sind drei Lieder enthalten. Eines, ,REtt, О H E r r JEsu, rett dein Ehr', enthält nur eine allgemeine Bitte gegen die Feinde 58 . In ,TRewer Wechter Israel' wird das Eingreifen Jesu wie das Kämpfen eines menschlichen Soldaten geschildert 59 :
Als Gründe d a f ü r nennt er: es habe sich damals um Söldner-, nicht um Volksheere gehandelt, es sei nie das ganze Deutschland Schauplatz des Krieges gewesen, und vor allem die Traditionsbindung der damaligen geistlichen Lieder. BACHMANN weist, 426, auch auf die Eigentümlichkeiten literarischer Genera hin: Johann Rist drückt in seinen Dramen Vaterlandsliebe aus, in seinen geistlichen Liedern nicht. Dies ist m. E. die zutreffende Erklärung: es ging im geistlichen Lied um praxis pietatis, nicht so sehr um Zeitdiagnostik, Propaganda und Agitation. 54 S.o. S. 283. 55
56
S i e h e ZSCHOCH, 2 7 - 4 2 .
Jacob Ebert, Dv friedenfürst, H E r r Jesu Christ, P.p.m. 1653, Nr. 3 9 1 / W V, 628,6,7, erstveröffentlicht 1601. Falls nicht anders angegeben, erfolgt die Wiedergabe des Wortlauts dieser Lieder nach W bzw. FT. 57 P.p.m. 1653, Nr. 390,4. Hier anonym, wird das Lied in F T II, 36,4 Heinrich Meyfart (gest. 1635) zugeschrieben. Er war der Bruder des berühmteren Johann Matthäus. TRUNZ in seiner Biographie über Johann Matthäus Meyfart, 363, Anm. 59, zufolge könnte das Lied auch von diesem sein. Der Wortlaut geht in der bei F T abgedruckten Fassung der Erstveröffentlichung von 1627 auf die Türken, in der Ausgabe in Crügers Gesangbuch von 1640 bereits auf den Papst. 58 Heermann, P.p.m. 1653, Nr. 394/ FT I, 352. Wie die beiden anderen Lieder in der ,Devota musica cordis' 1630 zum ersten Male veröffentlicht. 59 Heermann, P.p.m. 1653, Nr. 392/ FT I, 351,11, vgl. Str. 9 u. 11. In der P.p.m. ist nach dem vierten Vers noch eingeschoben: „Auf die hälse tritt du ihnn".
G e i s t l i c h e D i c h t u n g u n d A k t i v i t ä t in d e r G e s c h i c h t e
G ü r t e dein Schwerdt an die
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Seit
A l s ein H e l d v n d für sie streit Vnd zerschmettre deine S o viel jhr auff E r d e n
Feind, seynd.
L e g sie dir z u m S c h e m e l
hin
V n d brich jhren stolzen
Sinn.
Mit dieser von Ps 110 inspirierten kraß realistischen Darstellung ist Heermann schon sehr nahe an die Auffassung herangerückt, daß es menschliche Soldaten - nämlich diejenigen, die auf der lutherischen Seite kämpfen sind, in deren Kämpfen Jesus sein Eingreifen vollzieht. Wir haben hier wieder das Motiv von der gleichsam sakramentalen Gegenwart Gottes in bestimmten menschlichen Personen oder geschichtlichen Ereignissen wie in Gerhardts Friedenslied. In seinem dritten Lied, , H E R R , vnser Gott, laß nicht zu schänden werden', vertritt Heermann diese Auffassung ganz klar, und zwar sind diejenigen, die es singen, selbst diejenigen, mit und in denen Gott kämpft. Nachdem er die Zuversicht und den Wunsch ausgedrückt hat, daß die Feinde durch Gottes Wort zu Freunden werden 60 wendet er sich der Alternative des Kampfes zu und sagt: „Mit dir wir wollen thaten thun vnd kempffen, / Die Feinde dempffen." 6 1 Gottes Eingreifen vollzieht sich durch den Einsatz menschlicher Waffen und zugleich von innen, indem die Kampfmoral der Feinde gebrochen wird. So heißt es in der Ergänzung eines Unbekannten zu Michael Altenburgs , Königlichen Schwanengesang, So Ihre Majest. vor dem Lützenschen Treffen inniglichen zu G O t t gesungen': „Er wird den feinden nehmn den muth / D a ß sie sterben in jhrem blut," 62 . Die Bitte, daß Gott helfen und wirksam sein möge, indem der Gläubige selbst von seinen Kräften Gebrauch macht und als Soldat kämpft, ist bei Bartholomäus Ringwald die Bitte, daß wir „mit deinem Geist behafft / vollbringen gute Ritterschafft". Damit wird der Topos vom ,miles christianus' in seiner militärischen Auslegung aufgenommen 6 3 .
60 In der T a t wurde nicht immer das Eingreifen G o t t e s als ein Eingreifen im militärischen K a m p f verstanden. In d e m a n o n y m e n Lied , A C h G O t t , thu dich erbarmen', 1648 erstveröffentlicht, in besagter Rubrik P.p.m. 1653, Nr. 3 9 8 / F T 11,138, wird konkret darum gebeten, d a ß Kriegsheere, w e l c h e die Bevölkerung drangsalieren, nicht m e h r das eigene G e b i e t durchz i e h e n , sondern das von G o t t e s - also auch den eigenen - Feinden. 61 H e e r m a n n , P.p.m. 1653, N r . 3 9 3 / F T I, 3 5 0 , 4 , 3 f., nach Ps 6 0 , 1 4 . 62 Altenburg, , V E r z a g e nicht, du H ä u f f l e i n klein', P.p.m. 1653, N r . 3 9 7 , F T 11,56; als Erstveröffentlichung dieser E r g ä n z u n g wird dort ( 6 0 ) d a s G e s a n g b u c h von Jeremias W e b e r genannt, Leipzig 1638, Str. 4 , 4 f. In der P.p.m. f i n d e t sich übrigens nicht die B e z u g n a h m e auf Gustav A d o l f . 63 R i n g w a l d , , H E r r J e s u Christ, du h ö c h s t e s gut', von 1581, P.p.m. 1653, N r . 3 9 6 / W IV, 1 3 9 5 , 4 , 5 f. Zum T o p o s v o m ,miles christianus' in seiner A n w e n d u n g auf Gustav A d o l f s. ANDREAS WANG, D e r ,miles christianus', 1 7 7 - 1 9 4 ; SILVIA SERENA TSCHOPP, 1 8 3 - 1 9 1 .
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M a n kann also sehen, wie die Ergebung in Gottes Willen, auch wenn er Leid schickt, verbunden werden konnte mit der Bitte um sein Eingreifen in den Geschichtsverlauf, und d a ß diese Bitte in der Weise konkretisiert werden konnte, d a ß darum gebeten wurde, zu helfen, wenn und indem der Christ - der Bittsteller selber - sich selbst hilft. Die Bitte an G o t t ist dann unausgesprochen verbunden mit dem Aufruf an sich selbst, selber nach außen hin tätig zu werden. Die Unterwerfung unter Gottes Willen geht in eins mit einer Selbstermutigung. Das geistliche Lied befindet sich an dieser Stelle im offenen Ubergang zu den historisch-politischen Volksliedern des Dreißigjährigen Krieges, welche o f t politische, militärische Konkretisierungen bekannter geistlicher Lieder sind, wie etwa ,Ein vöste Burg Schwedisch' 64 . Solche Lieder wiederum sind eng verwandt mit der großen Zahl von Flugblättern und -Schriften aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in welchen auf der Grundlage einer heilsgeschichtlichen Deutung der Ereignisse versucht wurde, auf Denken und H a n d e l n der Leser einzuwirken 6 5 . Es ist der lutherischen Geistlichkeit der Zeit dieses Krieges in einer späteren Epoche vorgeworfen worden, sie habe nur zur Zerknirschung über die Sünde und zur Passivität aufgerufen: „Besser wäre Wut als sklavisches Erdulden gewesen . . . D a s W o r t der Ermannung galt es dem Volke zu predigen: Wißt zu sterben, aber schlagt in Gottes Namen die teuflischen M ö r d e r und Quäler vorher tot! Dagegen Geklag, Geheul zu Gott, Gewinsel in allen Ecken!" 6 6 Die hier vorgetragenen Überlegungen und Darlegungen sollten zeigen, d a ß f ü r die damaligen lutherischen Dichter geistlicher Lieder, wie Paul G e r h a r d t einer war, Buße und Unterwerfung unter Gottes Willen durchaus vereinbar war mit eigener Aktivität in der Geschichte, um Leid zu verhindern und sich dagegen zu wehren, und zwar auch mit Anwendung militärischer Gewalt 6 7 . Allerdings wurde diese eigene Aktivität nicht als Selbsthilfe in einem absoluten Sinne verstanden - als wäre kein G o t t vorhanden - , sondern als etwas, worin G o t t selbst wirkt, was dem "
In d e r S a m m l u n g s o l c h e r L i e d e r d e s FREIHERRN VON DITFURTH, h g . v. BARTSCH, N r . 8 3 .
Vgl. auch die Sammlungen von WELLER und OPEL / COHN. Forschungsliteratur zu diesen L i e d e r n a n g e g e b e n b e i SILVIA SERENA TSCHOPP, 9 , A n m . 3 1 . V g l . a u c h NEHLSEN, L i e d p u b l i -
zistik 65 Solche Flugblätter und -Schriften untersucht in ihrem Anteil an der pro- und antischwed i s c h e n P r o p a g a n d a i m D e u t s c h l a n d d e r J a h r e 1 6 2 8 - 1 6 3 5 v o n SILVIA SERENA TSCHOPP. Z u
ihrer Aufgabenstellung s. dort, 5-12. 66
67
CARL LEMCKE, 1 4 2 f., z i t . b e i PETRICH, 2 6 4 , d e r K o n t e x t d o r t
263-265.
WERNER ELERT hat also durchaus eine Seite des Sachverhalts richtig getroffen, wenn er gegen die These argumentiert, die Deutung des Krieges als göttliches Strafgericht und die Mahnung, das Gebet für den Frieden seien Beweise für die , Leidseligkeit' des Luthertums. ELERT erinnert nämlich daran, daß diese beiden Gedanken nur für die Menschen Geltung hatten, die unter dem Krieg leiden, nicht aber für die Verantwortlichen, s. Morphologie des Luthertums, Bd. 2, 368 f. Es zeigt sich überdies, daß es durchaus Bindeglieder gab zwischen dem Erleiden und der tätigen Verantwortung im Krieg.
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auf diese Weise tätigen Menschen dadurch bewußt wird, indem er zuvor Buße tut, sich Gott unterstellt und von ihm im Bittgebet alles erwartet. D a s Stille-Sein in Gott konnte durchaus mit äußerer kämpferischer Aktivität verbunden sein; es konnte dem Soldaten die innere Ruhe geben, die er gerade mitten im Sturm braucht. Zu einem Ausbruch von Wut und Rachsucht wäre freilich dann kein Platz mehr gewesen. Wie man daraufhin zu einer drastischen Darstellung des Kampfgeschehens kommen konnte, welche doch wohl dazu bestimmt war, die eigene Kampflust aufzureizen - „ D a ß sie sterben in jhrem blut" - wirft freilich Fragen auf: Auf der einen Seite das Anliegen, den Soldaten zu einem ,miles christianus' zu formen, der nicht im Bewußtsein kämpft, seine eigene Rache auszuführen - die er ja Gott abgetreten hat - , sondern einfach Gottes gerechten Willen auszuführen. Auf der anderen Seite steht der Soldat als ein Wesen, das von seiner eigenen Rachsucht und Kampfeswut mitgerissen wird. Die Wirklichkeit könnte so gewesen sein und jenes Anliegen der „Verchristlichung" des Krieges faktisch nur dazu gedient haben, diese Wirklichkeit zu bemänteln und zu legitimieren. Diese Frage ist nicht einfach zu entscheiden. Jedenfalls wird deutlich, wie eine Strategie der Leidverhinderung, welche mit einer Sinngebung des Leids verbunden ist, dazu führen kann, selber Leid zuzufügen 6 8 . Somit ist klar, daß man keine monokausale Verbindung herstellen kann von einer bestimmten oder auch allgemein gültigen Weise lutherischer Frömmigkeitspflege, für die Paul Gerhardt durchaus beispielhaft sein dürfte, zu einer - angeblichen - Passivität des Luthertums in der Politik, im Kriege und noch auf anderen Gebieten. Für die Beurteilung der Politik der lutherischen Staaten Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg ist beispielsweise noch zu überlegen, welche besonderen Faktoren für Kursachsen zu veranschlagen sind, ebenso die Implikationen der ausgesprochenen Reichs- und Kaisertreue der deutschen Lutheraner 6 9 . Was den Charakter des Luthertums als solchen angeht, so müßte der Anteil ermessen werden, den lutherische Theologie und Frömmigkeit an der schwedischen Politik des 17. Jahrhunderts hatten. Was brachte dieses kleine Volk am Rande Europas dazu, eine solche politische und militärische Energie zu entwickeln? Die Haltung des Menschen gegenüber Gott angesichts des Leids, die sich bei Paul Gerhardt findet, hat ihr Schwergewicht in der Gottesbeziehung, schließt aber nach außen tretende Aktivität des Menschen, auch Widerstand gegen das Leiden, nicht aus. Allerdings ist sie nicht die einzige 68 Zu Leidverhinderung, Sinngebung des Leids, Zufügen von Leid als Möglichkeiten des menschlichen U m g a n g s mit Leid s. SPARN, Art. Leiden, insbes. 688 f. " GOLO MANN, 184, schreibt von dem Unverständnis Gustav A d o l f s dafür. VAN INGEN, D e r dreißigjährige K r i e g in der Literatur, 255 f., gibt Hinweise für die Kaiserverherrlichung deutscher lutherischer Dichter.
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Position gewesen, zu welcher Dichter lutherischer Konfession im Dreißigjährigen Krieg fanden. Es soll hier zum Abschluß dieser Arbeit noch ein anderer Entwurf dargestellt werden. In dem Kontrast zu diesem kann das Profil der Dichtung Paul Gerhardts an Schärfe gewinnen. Bei diesem kontrastierenden Entwurf handelt es sich um eine Dichtung des jungen Martin Opitz - eines der bedeutendsten seines Werkes die er unter dem Eindruck der ersten Phase dieses Krieges verfaßte, um das ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges'. Dieses Werk, von enzyklopädischer Weite, zielt letztlich darauf ab, den deutschen Protestanten, die sich gerade damals durch den Krieg in große Bedrängnis versetzt sahen, „Trost" zu spenden. Bei diesem Unterfangen entwickelt Opitz einen weitläufigen Zusammenhang von theologischen und philosophischen Lehraussagen, einer bestimmten Auffassung von Poetik und Rhetorik, von Zuspruch und Handlungsaufforderung. Dabei erweist sich, wie gezeigt werden soll, die Aufforderung zum politischen und militärischen Handeln, zum Widerstand, als derjenige Teil dieses Zusammenhanges, der ihn als Ganzes organisiert. Opitzens Trost ist gerade darauf angelegt, die Widerstandskraft zu stärken, ja, der Trost besteht letztlich zentral im Widerstand selbst.
3. Martin Opitz', Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges'70 und Paul Gerhardt Es geht hier nicht um eine umfassende Übersicht über Opitzens Werk unter der Fragestellung nach Gott und dem Leid, wie ich sie für Paul Gerhardt unternommen habe. Das Schrifttum des Martin Opitz ist bei weitem vielfältiger als das Paul Gerhardts, der sich fast ausschließlich auf die Dichtung geistlicher Lieder eines bestimmten Gepräges „zur Übung der Gottseligkeit" konzentriert hat. Opitz war beispielsweise imstande, außer diesem Trostgedicht sowohl einen ,Lobgesang Jesu Christi' als auch einen ,Lobgesang Bacchi' zu verfassen 71 . In dem Trostgedicht verwarf er in einer Folge von Vanitas-Darlegungen auch die „Wollust", andererseits 70 Der Text ist zugänglich in der Ausgabe Opitz, Ges. Werke 1,187-266, sowie in der Nachdruckausgabe Opitz, Geistliche Poemata 1638, 334-408. Die ersten beiden Bücher sind abgedruckt bei Opitz, Gedichte, hg. v.Jan-Dirk Müller, 32-72. Das Trostgedicht wird zitiert nach der Ausgabe Ges. Werke, unter Angabe des Buches in römischen Ziffern und der in jedem Buch jeweils durchlaufenden Verszählung, gegebenenfalls mit Angabe der Seitenzahl in Klammern. - Es ist nicht ganz klar, ob der Titel dieses Werkes von Opitz einen Singular oder einen Plural meint. Er wird auch in den Uberschriften der einzelnen Bücher verschieden wiedergegeben. Die Stelle in der ,Poeterey', Ges. Werke I I / l , 360,23 f., scheint auf einen Plural hinzuweisen. Der Herausgeber Schulz-Behrend, Ges. Werke 1,189, verwendet jedoch den Singular, was auch hier getan werden soll. 71 Ges. Werke 1,267-390; 11/1,11-42, beide übrigens nach dem Niederländer Daniel Heinsius.
Opitz' ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges'
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verfaßte er Liebesdichtung, in welcher das Bewußtsein von der Vergänglichkeit weiblicher Schönheit gerade zu ihrem Genuß antreibt 72 . Auch das Trostgedicht selbst bietet auf dem ersten Blick einen sehr uneinheitlichen Charakter. Der Opitz-Herausgeber Jan-Dirk Müller nennt dies eine „scheinbare Unstimmigkeit", welche sich aber auflöse, wenn man bedenke, daß Opitz in einem Werk verschiedene Themen behandelt, nämlich das eine Mal den Schrecken des Krieges, das andere Mal seine theologische Rechtfertigung. Allerdings fragt es sich, was dann das Ganze dieses Werkes ausmacht, - etwa, wie Müller meint, nur das umfassende Thema Krieg, dessen verschiedene Aspekte dargestellt werden? 73 Es führt jedoch weiter, wenn erwogen wird, daß Opitzens Gedicht nicht bloß einen Lehrvortrag darstellt, sozusagen im genus didascalium verbleibend, sondern eine Rede mit allen Aufgaben, die ihr damals zugemessen wurden. So zeigt es sich, daß es das zentrale Ziel dieses Gedichtes ist, den Leser zum Handeln zu bewegen. Dies aufzuweisen soll nun der Werdegang kurz umrissen werden, den Martin Opitz bis zu der Zeit genommen hatte, als er das Trostgedicht verfaßte, und die Situation skizziert werden, in der er sich damals befand und aus der heraus er mit seinem Trostgedicht wirken wollte 74 . Martin Opitz wurde 1597, also zehn Jahre vor Paul Gerhardt, in Bunzlau in Schlesien geboren. Seine Lebenszeit war viel kürzer bemessen; er starb 1639, noch während des Krieges also, in Danzig an der Pest, zu einer Zeit, zu welcher Gerhardt noch gar keine Gedichte veröffentlicht hatte, in einem Lebensalter, in dem Gerhardt gerade erst damit angefangen hatte, seine Lieder zu publizieren. Die schlesischen Fürstentümer hatten damals, ähnlich wie Kurbrandenburg, eine überwiegend lutherische Bevölkerung, aus welcher auch Opitz stammte, und reformierte Landesherren. Ein bedeutsamer Unterschied lag allerdings darin, daß die schlesischen Fürsten selbst wiederum dem katholischen Haus Habsburg unterstellt waren. Es ist naheliegend, daß dies einen einigenden Faktor für die beiden protestantischen Konfessionen in Schlesien darstellte. Opitz besuchte die
72
Vgl. Trostgedicht I, 3 0 1 - 3 0 8 , mit ,Ach Liebste / laß vns eilen', Ges. Werke I I / 2 , 666 f. JAN-DIRK MÜLLER, Nachwort, 212 f. WOLLGAST, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1 5 5 0 - 1 6 5 0 , 8 0 6 - 8 2 6 , führt, bisherige Forschungsliteratur referierend, eine ganze Reihe heterogener Elemente auf, die Opitzens Werk durchziehen, vor allem christliche und stoische. 74 D i e Darstellung der Biographie Opitz' hält sich vor allem an KLAUS GARBER, Martin Opitz, hier 117-119. Weiterführende bibliographische Angaben zur Biographie von Opitz bringt GARBER in dem umfangreichen Anmerkungsteil seines Artikels. Vgl. die Zeittafel in der Nachdruck-Ausgabe ,Weltliche Poemata 1644' hg. v. Erich Trunz, Bd. 1, 1 Γ-22". In dem Ansatz, das Trostgedicht aus der lebensgeschichtlichen und politischen Situation heraus zu interpretieren, in welcher sich Opitz damals befand, folge ich, mit ihm die bisherigen Interpretationen hinter mir lassend, GARBER, 1 4 5 - 1 6 3 , und führe diesen Ansatz entsprechend der hier gegebenen Fragestellung aus. 73
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Gymnasien in Breslau und Beuthen und die brandenburgische Universität Frankfurt an der Oder, die Hochschule der Reformierten im Osten des deutschen Reiches. Seine Lehrer neigten entweder zum Calvinismus oder zu einem Synkretismus, welcher den Unterschied der beiden protestantischen Richtungen zurückstellte, oder sie waren selbst bekennende Calvinisten. 1619 kam Opitz nach Heidelberg, der damaligen H a u p t s t a d t der Kurpfalz, dem politischen und kulturellen Zentrum des Calvinismus in Deutschland. Nach der Niederlage des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz als König von Böhmen gegen die Truppen der Liga weicht Opitz 1620 in die Niederlande aus und geht nach Leiden. Das geistige Leben dort ist u. a. geprägt von dem Neostoizismus des Justus Lipsius (gest. 1606) und von Opitz' Zeitgenossen H u g o Grotius, J o h a n n G e r h a r d Vossius, dem Verfasser der weitverbreiteten Schulrhetorik, und dem Dichter Daniel Heinsius 7 5 . Von dort aus ging Opitz nach Dänemark, wo er auf einem abgelegenen Landgut zwischen Ende 1620 und Frühjahr 1621 das ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges' schrieb. Aufgrund seiner politischen Brisanz veröffentlichte Opitz das Werk erst 1633. D e r Prinz Ulrich von Holstein, welchem er es widmete, ein Sohn des dänischen Königs, fiel am Tage nach der Widmung einem von katholischer Seite geplanten Attentat zu Opfer 7 6 . Später, 1638, hat Opitz das Trostgedicht noch einmal publiziert, und zwar als letztes Stück in seinen ,Geistlichen Poemata'. Abgesehen von diesem Jugendwerk hat er dann noch in anderen größeren Gedichten zum Thema des Krieges geschrieben, nämlich in dem ,Lob des Krieges Gottes Martis' von 1628 und im ,Veswius' von 16 3 3 77 . Sein weiterer Weg führte Opitz, der auch in diplomatischen Diensten tätig wurde, u. a. nach Siebenbürgen, nach Paris und nach Polen, wo er schließlich starb. D e r Bildungsgang des Martin Opitz ist also deutlich vielfältiger als der des Theologen Paul Gerhardt, der eine zwar sehr gediegene Bildung aufnahm, aber dabei ganz im Bereich des streng lutherischen Kurfürstentums Sachsen verblieb und später, in Brandenburg, in den Einflußbereich des Calvinismus gekommen, diesen schroff abwies. Der
75 GARBER, 119-126. Literatur zu Lipsius - insbes. die Forschungen OESTREICHS - angegeben dort, Anm. 38 (175), zu Vossius Anm. 40 (176), zu Heinsius Anm. 42 (176); zu diesem
und O p i t z ' Verhältnis zu ihm außerdem noch BECKHERRN, MUTH, WEEVERS, POTT und
BECKER-CANTARINO, Daniel Heinsius' De contemptu mortis und Opitz' Trostgedichte. 76 SCHULZ-BEHREND im Vorwort zu seiner Edition des Trostgedichts in: Opitz, Ges. Werke 1,189; GARBER, 146. Den Einwänden FECHNERS dagegen, Martin Opitz' Trostgedichte in der Nachfolge von Petrarcas De remediis utriusque fortunae?, 158-162, entbehrt es genauso an Stringenz wie der im Titel formulierten Hypothese seines Aufsatzes. 77 Opitz, Lob des Krieges Gottes Martis, Ges. Werke IV/1, 129-180 / Weltliche Poemata 1644, hg.v. Erich Trunz, 129-188; Veswius, das., 31-84; bibliographische Angaben dazu in dieser Ausgabe 27*; 29*. Zu diesen Gedichten Opitz': VAN INGEN, Der dreißigjährige Krieg in der Literatur, 246 f.; BECKER-CANTARINO, Vesuvius. Poema Germanicum: Opitz und der Dreißigjährige Krieg.
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Horizont Opitz' ist viel weiter, von europäischem Format, besonders auch durch die Kultur der calvinistischen Länder geprägt, wobei jedoch nicht so sehr an die reformierte Theologie im Sinne der Dordrechter Synode zu denken ist als an den dort gepflegten Humanismus, in welchem der Neostoizismus eine Rolle spielte und politische Konzeptionen, welche Staat und Nation von der Bindung an eine bestimmte konfessionelle Richtung zu lösen suchten. Opitz schreibt sein Trostgedicht im Winter 1620/21 nach der völligen Niederlage Friedrichs V. von der Pfalz im Böhmischen Krieg gegen die Streitkräfte des Kaisers, der katholischen Liga und Spaniens, die auch die Pfalz eroberten. Er schreibt für diejenigen, die mit Friedrich sympathisierten und seine Niederlage als ihre Niederlage erlebten. Er will also diesem Personenkreis - den er oft mit Deutschland selbst, aber auch mit „der Kirche" identifiziert - zum Trost schreiben 78 : . . . Ich bin Begierde voll Zu schreiben wie man sich im Creutz' auch frewen sol / Seyn Meister seiner selbst. . . .
Diesen Vorsatz führt er dann in seinem Gedicht aus Alexandrinern, in vier Bücher abgeteilt, aus. Die zitierte Stelle bringt im ersten Teil eine Aussage, die auch Paul Gerhardt oder ein anderer geistlicher Liederdichter dieser Zeit hätte schreiben können: man solle sich im Kreuz freuen, in ihrem zweiten Teil jedoch eine Maxime, die Gerhardt absolut nicht vertreten hätte. Hier aber stößt sie unmittelbar an eine Formulierung, in welcher es um die Schule der Demut vor Gott geht. Diese Maxime stimmt in ihrem Wortlaut auffallend überein mit den letzten beiden Versen in Paul Flemings Sonett ,An sich' 79 : Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan.
Es handelt sich bei Fleming um eine klassische Formulierung einer Maxime, die typisch für den Neostoizismus des 17. Jahrhunderts ist, der insbesondere auf das Buch ,De constantia* des Flamen Justus Lipsius zurückzuführen ist. Lipsius schrieb dieses Werk 1599 als Reflex seiner Flucht vor der katholisch-spanischen Unterdrückung in die nördlichen Niederlande 8 0 . Opitzens Trostgedicht ist durchzogen von einem solchen Miteinander n Opitz, 1,27 f.; das ganze Exordium mit dem Plan des Gedichtes 1,1-48. Deutschland als unter diesem Krieg leidtragend genannt etwa 1,1. 51. 61 usw., die Kirche Gottes in der Inhaltsangabe zu Buch I, 10 (191). 74 Fleming, Teütsche Poemata, 576 (Der Sonnetten Anderes Buch Nr. 25). 80 Justus Lipsius, De constantia, hg. v. Leonard Forster. Zum Neostoizismus bei Fleming s. WILHELM KÜHLMANN, Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings „An sich", 162 f.
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spezifisch christlicher und neostoischer Gedanken, die, innerhalb des Kontextes, welchem sie entnommen sind, einander durchaus widersprechen. So verbindet Opitz in seinem Trostgedicht eine Reihe von Motiven, die sich auch bei Gerhardt finden könnten, mit anderen, die bei dem lutherischen Pastor gar nicht oder höchstens unbetont begegnen und überhaupt begegnen könnten. Der Gegensätze innerhalb des Trostgedichts sind dabei noch mehr, wie etwa in der oben schon erwähnten Einschätzung des Krieges. Was Opitz erlaubte, solche Gegensätze in ein Gedicht zu bringen, ist die rhetorische Methode eines „Argumentationssystems", nach welchem es gestattet ist, alle Argumente aufzugreifen, die einem bestimmten Ziel dienen, von welchem der H ö r e r der Rede überzeugt, zu dessen Bewirken er veranlaßt werden soll. Es genügt dabei, daß diese Argumente darin übereinstimmen, für diesen einen Zweck tauglich zu sein; es ist nicht nötig, daß sie unmittelbar untereinander einander nicht widersprechen. Paul Gerhardt hat selbst ein eher zurückhaltendes Beispiel dafür gegeben in seinem Bittgesang für den Frieden. Dort nennt er zuerst den erlittenen Schaden vergleichsweise gering, um Gottes Güte und damit seine Bereitschaft, das Gebet zu erhören, zu beweisen, dann aber, wenn das Bittgebet gesprochen wird, spricht er so von dem Leid, als ob es gar nicht schlimmer sein könnte. Zu Beginn bekennt Gerhardt die eigene Schuld als Ursache des Kriegsübels - weil Buße Voraussetzung des Bittgebetes ist - , dann, im Bittgebet, erwähnt er aber auch die Unschuld der kleinen Kinder 81 . Das Ziel seines Gedichtes, auf welches blickend Opitz seine Topoi auswählt, läßt er erkennen, wo er zu Beginn des zweiten Buches grundsätzlich von der Bestimmung der Dichtkunst redet. Der Trost, den er nun geben will, nachdem er im ersten Buch von Wesen, Wirk- und Zweckursache dieses Krieges gesprochen hat, ist eine Aufgabe der Poesie 82 : Poeten sollen mir Bericht von Weißheit geben / Vnd sagen wie ich doch in diesem armen Leben Die bösen Lüste fliehn / Das Creutze tragen sol /
Allerdings muß dabei die Gestalt einer falschen Poesie zurückgewiesen werden, welche diesem Zweck nicht dienlich ist. Was der Makel dieser falschen Poesie ist, wird deutlich an den vier von ihm gegebenen Beispielen aus der antiken Dichtung, wo von Personen gesprochen wird, welche von ihrem Auftrag, mannhaft zu kämpfen, abgelenkt worden sind oder gar den Mut oder die Fähigkeit dazu verloren haben. Resümierend heißt es dann 8 3 :
81 CS 97, vgl. oben S. 282. Zum „Argumentationssystem" grundlegend DYCK, Ticht-Kunst, 113 ff. 82 O p i t z , 11,15-15, d e r hier besprochene Kontext 11,1-40. 83 O p i t z , 11,29 f.
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О w e g mit solcher Kunst / w e g / w e g mit solchen Sachen / So die Gemüther nur verzagt vnd weibisch machen /
Aufgabe der wahren Dichtkunst - und das heißt konkret: dieses Gedichts - ist es also, das Gemüt dessen, der sie aufnimmt, so zu formen, daß es zum Kampf, zum kriegerischen Einsatz bereit ist. Wie bereits erwähnt, war Opitz imstande, das Trostgedicht unter seine geistlichen Gedichte einzuordnen, allerdings als letztes Stück. Es liegt auf der H a n d , daß Gerhardt eine solche konkrete Zielsetzung nicht als die wesentliche Zweckbestimmung geistlicher Poesie akzeptiert hätte. Die Leser und H ö r e r seines Gedichts zum Kampf gegen das Bündnis aus Kaiser, Liga und Spanien zu ermutigen ist aber in der Tat das konkrete Ziel des Opitzschen Gedichts. Dies zeigt auch ein Uberblick über die vier Bücher, aus denen es zusammengesetzt ist. Im ersten Buch lenkt er den Gedankengang zuletzt darauf, worin die Zweckursache des Leidens besteht, welches der Krieg gebracht hat. Darauf zeigt er in vielfacher Weise, daß Leid seinen Nutzen hat, dann führt er aus, daß man im Leid lernt, sein Vertrauen allein auf Gott zu setzen, von dem alles abhängt. Dies wird ganz zum Schluß so exemplifiziert, daß Gott derjenige ist, durch dessen Hilfe die Schlacht gewonnen wird 84 : Laß k o m m e n Pharaon mit seinen Reutereyen / Laß alle Teuffei aus / laß Pfeil vnd Kugel schneyen; W a n n Raht vnd T h a t erligt / wann alles ist gethan / Kömpt G O t t d o c h in das Spiel / vnd nimbt sich vnser an. Er nimbt sich vnser an / Er wird sein Volck erhören / Wird schlagen die s o vns / vnd jhn in vns versehren /
Das zweite Buch widmet sich dem Thema der „Tugend". Die Tugend ist diejenige Haltung des Menschen, welche die Poesie ihn lehren soll und in welcher er Trost findet. Opitz verwendet also den Begriff als Zentralbegriff, der ganz am Rande von Gerhardts Schrifttum, in dem ebenfalls in Alexanderinern verfaßten Lied ,Du liebe Unschuld du, wie schlecht wirst du geacht't', (CS 76) eine vergleichbare Rolle spielt 85 . Ähnlich wie in diesem Lied handelt es sich bei Opitz nicht um eine bestimmte unter den Tugenden, sondern um die Tugend. Sie ist etwas Allgemeines, ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung von Tugend als Tauglichkeit und Vorzüglichkeit 86 , und ihr Wesen wird auch kaum unmittelbar bestimmt. Opitz beschreibt, was sie ist, indem er ihren Vorzug aufweist und indem umgekehrt die Verhaltensweisen, die er empfiehlt, als Ausdruck „der Tugend" aufzufassen sind. Opitz rät, den Lauf der Dinge als von Gott bestimmte necessitas anzunehmen, und er charakterisiert den Vorzug der Tugend 84 85 86
Opitz, 1,561-566. S. o. S. 220 f. Deutsches Wörterbuch, Art. Tugend, Bd.XI/I/2 (1952), 1560-1633.
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dadurch, daß sie das einzige ist, das nicht dem Wandel der Dinge, der vanitas, unterworfen ist. Er entwickelt diese Umschreibung des Wesens der Tugend in der Weise, daß er zuerst den Lauf der Dinge auf Gottes Vorsehung zurückführt; ihretwegen ist er hinzunehmen (11,41 ff.). Dann wird dieser Lauf der Dinge als beständiger Wandel beschrieben, in dem die Tugend den einzigen Halt bietet (11,101 ff.). Man sieht, daß hier ein Widerspruch besteht: auf der einen Seite die kunstvolle, schöne Ordnung der Dinge, auf die sich Opitz beruft, um seinen Beweis von Gottes Existenz bzw. der Existenz eines vorsehenden Gottes aus der Natur durchzuführen; auf der anderen Seite die Nichtigkeit eben dieser Dinge. Dieser Widerspruch stellt jedoch für Opitz hier kein Problem dar; seine Aufgabe ist zu sagen, worin Tugend besteht. Die Standfestigkeit der Tugend zeigt sich nun gerade im Krieg. Eine Eigenschaft der Tugend ist die Freiheitsliebe, und von der Freiheit sagt Opitz 87 : Die Faust gehört darzu: GOtt steht demselben bey Der erstlich jhn ersucht / vnd wehrt sich dann auch frey.
Der Kampf spornt die Tugend nur noch mehr an (11,378 ff.); es handelt sich bei ihr also keineswegs um eine passive Bereitschaft, Leiden bloß hinzunehmen. Als positives Beispiel nennt Opitz hier Ulysses: dessen unverzagter Geist war „erzeugt zu Kriegen / Zu Ehren angewehnt / der kan nichts als nur siegen" (11,433). Im dritten Buch will Opitz die Tugend weiter charakterisieren. Er tut dies dadurch, daß er das nennt, wofür sie kämpft und was ihr in ihrem Kampf ein gutes Gewissen schafft, nämlich den Frieden (11,1-88). Hier lobt er den Nutzen des Friedens, wo er doch im ersten Buch, um den Nutzen des Leidens aufzuzeigen, im Gegenzug die Schäden eines satten Friedens genannt hat (1,307 ff.). Opitz hebt nun die positiven Seiten, den Wert des Friedens hervor, um zu zeigen, für welche gute Sache letztlich gekämpft werden soll. Denn (11,90-92): Wil vnsrer Nachbar gar von keinem Frieden wissen / Wird vns das harte Joch vnd Dienstbarkeit zu schwer / So sucht man billich dann das Schwerdt vnd Faustrecht her.
Als Beispiele aus der jüngsten Geschichte nennt Opitz die Hugenottenkriege und den Aufstand der Niederlande. In beiden Fällen war der Griff zur Waffe für die Protestanten gerechtfertigt und hat sich auch gelohnt 88 . Opitz bringt hier Übertragungen aus Gedichten des Daniel Heinsius, die Kämpfe der Niederländer in ihrem Freiheitskampf besingen, und fordert 87
Opitz, 11,371 f. Dies galt auch, zu dem damaligen Zeitpunkt, für die Hugenotten: III, 149 ff.; vgl. die gleiche Einschätzung von HEINRICH LUTZ, Der politische und religiöse Aufbruch Europas im 16. Jahrhundert, 107. 88
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Deutschland auf, diesem Beispiel zu folgen (11,109-364). Die Niederlande sind das Modell für Deutschland, Heinsius, den er dort kennengelernt hatte, das Vorbild als Dichter für Opitz. In diesen Zusammenhang flicht Opitz nun wieder Ausführungen über die Aufgabe der Poesie ein. Zu dem Lohn des gerechten Krieges gehört nämlich auch der irdische Nachruhm, welcher die immortalitas nominis verschafft, und dieser ist nur in dem Werk eines Poeten zu erlangen (11,365-508). Das Buch schließt mit der Verpflichtung, anderen in Not Geratenen mit der Waffe zu helfen (11,509 ff.). Im vierten Buch nennt Opitz fünf Trostgründe im Leid. Der letzte, den er am meisten hervorhebt, ist der Tod. Der Tod öffnet dem Gerechten den Weg zu Gott. Gott aber ist für uns - noch - unerkennbar. Dies nimmt Opitz zum Argument, an dieser Stelle, wo bei Gerhardt fast jedes Gedicht endet - die Herrlichkeit der Seligen bei Gott - , wieder umzukehren, um von Gottes in der Schrift erkennbarem Tun zu schreiben. Und dieses ist seine entscheidende Hilfe im Kampf. Von dort aus kommt Opitz dazu, ein Bündnis all derer zu propagieren, die „vnsers Glaubens sind", sprich: aller protestantischen Fürsten. Dies diene dazu 8 9 , . . . daß von vns allesampt Recht werde fortgeplantzt der Christen wahres Ampt / D a ß keiner vnter vns sey künfftig außzuschliessen Vor denen die jhr Blut gantz Ritterlich vergiessen Vor dich vnd vor das Recht / vnd die sich durch das Schwerdt Wie Teutschen angehört / biß auff den Tod gewehrt.
Mit einer doxologischen Formel, in welcher er Gott in dieser Sache für seinen Beistand bittet, schließt Opitz das Buch und damit sein ganzes Trostgedicht ab. In dieser Ubersicht dürfte schon umrißweise deutlich geworden sein, wie Opitz seinen oftmals verschlungenen Gedankengang immer wieder dahin führt, daß Menschen und insbesondere auch Fürsten sich zum Kampf für einen Frieden bereit finden, der die Freiheit des christlichen Glaubens (hier denkt Opitz an die protestantischen Konfessionen) und die Freiheit Deutschlands gewährleistet. Opitz bietet zu diesem Zweck eine Fülle von Topoi verschiedenster Herkunft auf, die ihm als Argumente dienen. Dadurch entsteht die Beschreibung einer Lebenshaltung des Menschen, die ihr Zentrum darin hat, wie er sich im Leid, und zwar im konkreten Leid dieses Krieges, verhält. Es muß stets berücksichtigt bleiben, aus welcher Absicht Opitz in diesem einen Gedicht diese Lebenseinstellung entwickelt; in anderen Gedichten und in anderen Lagen seines Lebens und der deutschen Geschichte hat er durchaus andere Lebenshaltungen vertreten. Und doch ist die Haltung, die Opitz hier entwirft, sowohl in sich geschlossen - wenn man auf ihre praktische Zuspitzung blickt - als auch von einem *> Opitz, IV,554. 559-564.
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weiten gedanklichen Horizont umgeben. Insofern ist sie durchaus vergleichbar mit der Lebenshaltung, die wir durch ein Ineinandergreifen von lehrhafter Theologie, Homiletik, Rhetorik und Poetik bei Paul Gerhardt rekonstruieren konnten. In dieser Lebenshaltung bildeten der Glaube an Gott, die Auffassung des Leids und der Umgang mit ihm einen für das Ganze eigentümlichen Zusammenhang. Um die Lebenshaltung in Opitzens Trostgedicht mit derjenigen Paul Gerhardts zu vergleichen, will ich mich nur auf drei ausgewählte Punkte konzentrieren. Es sind dies die Einebnung eines spezifischen Profils des Christlichen in Opitzens Argumentation, die stärkere Betonung der honesta! und der distanziertere Umgang mit den Affekten. Martin Opitz vollzieht in seinem Trostgedicht eine Einebung des eigentümlich Christlichen zunächst schon dadurch, daß er sowohl spezifisch christliche Gedanken und Beispiele als auch solche heidnischer, philosophischer, zivilreligiöser Herkunft gleicherweise als Argumente benutzt, die dargestellte kämpferische Haltung zu propagieren. "Wohl spricht Opitz gelegentlich von dem Vorrang der Christen 9 0 , doch sind auch die nichtchristlichen Argumente an sich bereits für den Zweck des Gedichts ausreichend, ja oft noch mehr geeignet. Christliches und Nichtchristliches hat also in diesem Kontext prinzipiell den gleichen argumentativen Wert. Daraus ergibt sich eine Nivellierung, für die bereits die Absichtserklärung zu Beginn seines Gedichts charakteristisch ist, wo Opitz sowohl die Freude im Kreuz wie auch die Selbstbeherrschung nennt (1,27-29) und mit beidem ihre Tauglichkeit für den kriegerischen Einsatz meint. Desgleichen legt Opitz die Nützlichkeit des Leidens mit folgenden Worten dar (1,321-233): Es ist der Kirchen Art / ja auch die Art der Heyden; Durch Arbeit / Zwang vnd drang / durch leiden vnd durch meiden Steigt jedermann empor . . .
Opitz belegt diese These an einer Reihe von Beispielen aus der antiken heidnischen Geschichte, vor allem der Roms, wobei klar wird, daß das Leiden, das Opitz meint, das Leiden ist, das der Soldat in Kauf nimmt, wenn er kämpft. Am Ende dieser Darlegungen fragt Opitz selbst, einen Einwand vorwegnehmend (1,393-395): . . . Was wil man aber sagen Von Sachen welche sich mit Heyden zugetragen? Ob billich wol ein Christ jhm diese gantze Welt Vnd aller Völcker Heer für seinen Spiegel helt.
Als Antwort darauf spricht Opitz von David und seiner in Ps 51 ausgedrückten Reue über sein Vergehen in der Bathseba-Affäre unter Gottes Züchtigung (1,399 f.): 90
Opitz, 1,393-395; 11,89 f.; IV,346 ff.
Opitz' ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges'
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Wie wird er zum Gebet' und Andacht angeregt / Als GOtt jhn wegen Mordt vnd schnöder vnzucht schlägt? Man muß sich vergegenwärtigen, daß es Opitz hier in erster Linie aber nicht um Gebet und Andacht geht - wenn er sie auch natürlich nicht ausschließt und in einem anderen Gedicht zum praktischen Ziel aller Aussagen hätte machen können. Hier, in diesem Zusammenhang, geht es zuerst allgemein um den Nutzen des Leidens, dann und letztlich aber konkret um den Nutzen des Leidens, welches ein Soldat auf sich nimmt. Diesem Ziel steht das Beispiel Roms viel näher als das Beispiel Davids. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Nennung des Topos zu sehen, daß Leid zur condicio des Christen bzw. der Kirche gehört (1,293-304; 5 1 3 - 5 1 6 ) oder ein Stück, in dem Jesus als Vorbild der Christen im Leiden dargestellt wird, das sich eng an das Passionssalve an Jesu Antlitz anlehnt (1,478-512). Hierhin gehört übrigens auch die berühmte Stelle, in welcher Opitz religiöse Toleranz einfordert (1,453 f. 464-469): Kein Würgen / keine Schlacht / kein Martern und kein Pressen Zwingt vns der Frömmigkeit vnd GOttes zu vergessen . . . Gewalt macht keinen fromm / macht keinen Christen nicht. Es ist ja nichts so frey / nichts also vngedrungen Als wol der Gottesdienst: so bald er wird erzwungen / So ist er nur ein Schein / ein holer falscher Thon. Gut von sich selber thun das heist Religion / Das ist GOtt angenehm, Laßt Ketzer Ketzer bleiben / Gewiß geht es hier um Toleranz, aber doch in einer ganz bestimmten Weise. Opitz will den Feinden - das heißt: den katholischen Kräften - zu verstehen geben, daß ihre Versuche von Zwangsbekehrungen zwecklos sind. Sie sind aber darum zwecklos, weil diejenigen, denen diese Versuche gelten, sich mit allen Kräften, innerlich genauso wie äußerlich, dagegen wehren. Gerade dazu will Opitz aber die Seinen auch auffordern. Er war sich, genauso wie später Gryphius und Gerhardt, der Möglichkeit bewußt, daß Versuche von Zwangsbekehrungen erfolgreich sein können 91 , wie es denn auch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges erwiesen hat. Was Opitz mit diesen Ausführungen will, ist, daß die militärisch Besiegten noch ihre letzten Kräfte aufbieten und sich nicht auch noch im Herzen bezwingen lassen. Zugleich wird deutlich, wie minimal Opitz hier das Wesen christlichen Glaubens bestimmt. Er bringt in dem Gedicht zwar noch konkretere Aussagen, aber nirgendwo etwas, das kontroverstheologisch irgendwie von Belang wäre. Bei Paul Gerhardt hingegen finden sich einige Lieder, in 91
S.o. S. 282.
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denen, in der Abwehr der hohen Anfechtung, deutlich gesagt wird, d a ß allein der Glaube an Christi Verdienst helfen kann, darüber hinaus sogar gelegentlich konfessionsapologetische Stellen, was im Kirchenlied sonst unüblich ist 92 . Solches zu tun ist in seinem Trostgedicht Opitz' Anliegen nun gar nicht. Er will einen möglichst weiten Konsensus von Menschen, die sich dem Anspruch der katholischen Kräfte verweigern 9 3 . W e r eine Generation nach Opitz genau in dieser T e n d e n z eine Religionspolitik betrieb, die bestrebt war, die durch das Bemühen um möglichst große Reinheit des Glaubens als Lehre auseinandergetretenen protestantischen Konfessionen wieder anzunähern, war par excellence der Kurfürst von Brandenburg, Friedrich Wilhelm. Sein Vorbild war bezeichnenderweise Holland, wo er aufgewachsen war, die H e i m a t seiner Gemahlin Louise Henriette 9 4 . Paul Gerhardts Widerstand gegen diese Politik ist auch eine Auseinandersetzung mit der von Opitz in seinem Trostgedicht aufgrund politischer Umstände progagierten Umdeutung des Christentums zu einer Zivilreligion. Die Einebnung des Christlichen zeigt sich auch an Opitz' Umgang mit sprachlichen Emblemen. So sagt er 95 : . . . Je mehr man Saffran reibet / Je stärcker schmeckt er auch: Je mehr man Tugend treibet / Je höher schlägt sie aus: Die Widerwertigkeit Sol wie ein Fechtplan seyn . . . Vergleichen wir dies mit Paul Gerhardts emblematischen Versen von der Aloe, die bitteres Weh, aber dann doch Gesundheit bringt, und von dem Feld, das ohne Regenwetter keine Früchte bringen würde 9 6 . Es geht bei beiden Dichtern um dieselbe allgemeine Struktur: Leiden bringt Nutzen. D a f ü r , daß dieser Nutzen in der Gemeinschaft mit Christus besteht, gibt es bei G e r h a r d t kaum einen Hinweis - ausgenommen die Nennung der Aloe, welche auf Christi Passion hindeutet. M a n muß den Kontext des Liedes innerhalb des geistlichen Gesangbuches hinzunehmen, f ü r das es 92 Gegen die reformierten Unterscheidungslehren vom Abendmahl und von der Gnadenwahl: CS 34, 3 f.; 6 - 8 (s. AXMACHER, Paul Gerhardt, 89 ff.); CS 25,10; 12. 93 Möglicherweise ist diese „simplistisch reduzierte Form" des Christentums auch gerade auf die Kampfsituation zurückzuführen, in welcher sich die Christenheit - nun in zwei einander bekriegende Lager aufgespalten - befand. Ein religiöser Gegensatz ist zwar das, worauf man sich beruft, wenn man in Kampf gegeneinander gerät, doch geht es dann nicht mehr um den konkreten Inhalt dieses Gegensatzes, sondern um die Situation des Gegenübers an sich, vgl. dies mit den Bemerkungen AUERBACHS zum Rolandslied, Mimesis, 110; 99 f. 94
95
GOLO MANN, 218;
224.
Opitz, 1,421-424, ähnliches in den Vergleichen 1,313 ff. und 11,366 f. In den Emblemata, hg. v. Henkel u. Schöne, findet sich zwar kein Emblem aufgeführt, welches genau dieses Bild vom Safran bringt, jedoch andere, die den gleichen Sinngehalt aussagen wollen: Je mehr der Safran niedergetreten wird, desto mehr blüht und wächst er - die Tugend wird durch das Leid gestärkt, Emblemata, 335. 96 S.o. S. 121 ff.
Opitz' ,Trostgedichte in Widerwärtigkeit deß Krieges'
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geschrieben wurde, um zu einer konkreten Deutung dieses Emblems zu gelangen. Gerhardt hätte auch vom Safran sprechen können. D a ß bei Opitz dieses sehr ähnliche Emblem einem anderen Zweck dient, macht sich innerhalb des engeren Zusammenhanges nur durch die Wahl des Ausdrucks „Fechtplan" bemerkbar und geht klar erst aus der Gesamtanlage und Situation des Werkes hervor. Opitzens Einstellung zu christlichen Lehraussagen wird auch erkennbar dadurch, welche Stelle er ihnen in seinem Gedankengang gibt. Auf eine dieser Stellen ist bereits hingewiesen worden: Opitz spricht von der Schau Gottes, nach christlicher Lehre das Endziel, auf welches das Dasein des Gläubigen hin ausgerichtet ist - und lenkt dann um auf Gottes Hilfe im Krieg, die er an alttestamentlichen Beispielen darlegt. Ahnlich, aber noch schärfer ausgeprägt ist eine andere Stelle (111,361-363): Der Nutz ist offenbar: Die Freyheit zu erwerben / Für GOttes Wort zu stehn / vnd ob man müste sterben / Zu kriegen solches Lob das nimmer vntergeht /
Im Anschluß daran holt Opitz gar nicht zu einer Rede vom himmlischen Lohn aus, sondern spricht gleich von dem irdischen Nachruhm kriegerischer Taten. Gestalten der heidnischen Antike, die er hier als Exempel nennt, haben ihn sich verschafft und dadurch - mit Hilfe der Poesie - die Grenzen von Raum und Zeit durchbrochen, denen sonst der Mensch unterworfen ist: „auff daß sie jmmer leben." (111,382). Man sieht, wie Opitz hier den christlichen Trostgrund des finis bonus calamitatum in den philosophischen der immortalitas notninis umformt, unangefochten von der Geringschätzung, die Melanchthon und Hutter diesen philosophischen Tröstungen haben zukommen lassen 97 . Eine ähnliche Umformung vollzieht Opitz mit dem Trostgrund der bona voluntas Dei. Er beweist im zweiten Buch allein aus der Natur die Güte von Gottes Willen in seiner Vorsehung, wobei er am Schluß noch bemerkt, die Christen wüßten noch mehr davon. Dieser Überschuß über das Wissen der Heiden wird aber kaum entfaltet; es ist dies in diesem Kontext auch nicht nötig. So ist die Unterwerfung unter Gottes Weltlenkung nichts anderes als die Anerkennung der necessitas im Weltlauf 98 . Es liegt dann auch ganz nahe, davon zu sprechen, daß in dieser Anerkennung die Tugend ihre Würde zeigt: dignitas virtutis. Und in der Tat ist die Tugend, nicht der christliche Glaube, der Begriff, mit dem Opitz zentral die Haltung des Menschen kennzeichnet, die er in seinem Trostgedicht angesichts des Leidens empfiehlt. Die dem Gottesbeweis folgende Reihe von Vanitas-Betrachtungen hat nicht, wie bei Paul Gerhardt, den Zweck, eine Kontrastfolie zu bieten für die ewige Herrlichkeit Gottes, sondern für die Bestän97 S.o. S. 64 ff.; in Hutters Compendium X X I V , 4 - 9 (114 f.). * Opitz, 11,41-92.
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digkeit der Tugend. Diese ist der Fixpunkt, nach dem der Mensch sich orientieren soll. So wie Opitz das spezifische Profil christlicher Motive zugunsten einer Zivilreligion einebnet, die vor allem durch bestimmte innerweltliche, praktische Zielsetzungen charakterisiert ist", so geht er auch mit stoischen Motiven um. In der Tat hat Opitz für die Bestimmung dieses Tugendbegriffs sich stoischer Motive bedient - ob sie von Justus Lipsius stammen oder direkt von Seneca und anderen antiken Philosophen, kann hier dahingestellt bleiben 100 . Das „Seyn Meister seiner selbst" (1,28) wird ganz im stoischen Sinne ausgelegt. Der Weise weiß, . . . daß im Gemüth' / in Sinnen vnd Verstände Der rechte Mensch besteh' / vnd daß nur einem Bande Der Leib zu gleichen sey das vns zusammen helt Biß vnser Stündlein kömpt / vnd reißt vns von der Welt. Vnd darumb schätzt er auch des armen Leibes Güter Vor keine Güter nicht; . . , 101
Der Weise weiß also, „was sein eigen ist" (11,468) und kann darum ungerührt auf das verzichten, was außerhalb seiner selbst liegt. Diese Unabhängigkeit von allem Äußeren kann bei Opitz auch die Gestalt annehmen, daß der Weise sich durch die „Göttliche Philosophie" (IV, 109), durch die Wissenschaft, über die Welt erhebt. Mit dem, was ihm zu eigen ist, was seiner sicheren Kontrolle unterliegt, nämlich seinem Verstand, erkennt er alles, was ist. Diese Weltkenntnis stellt seine Art und Weise der Weltbeherrschung dar. Opitz bekennt, daß dieses Bewußtsein ihn selbst besonders getröstet hat 102 . Doch auch hier ist zu beobachten, daß er den " Das Verhältnis christlicher und stoischer bzw. humanistischer Elemente bei Opitz wurde bereits von HANKAMER, 69, und BÖCKMANN, 398 f. (beide referiert bei CUNNINGHAM, 60 f.), so beurteilt, d a ß sie, für Opitzens Standort, sich in keinem Widerspruch zueinander befinden, und zwar dergestalt, d a ß die nicht-christlichen Elemente dadurch zu einer Unabhängigkeit, ja einem Übergewicht gegenüber den christlichen kommen. 1C0 Die Erörterung dieser Fragen in der früheren Forschung (STÖSSEL usw.) wird breit referiert und weitergeführt von CUNNINGHAM, 52-107; vgl. auch FECHNER, Martin Opitz' Trostgedichte. - Auch bei Gryphius kommen gerade in der Konkretisierung der Tugendhaltung der constantia stoische und christliche Elemente zusammen: die constantia zeigt sich, indem man an der göttlichen Providenz auch im Leiden festhält und sich bewährt, s. SCHINGS, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 227 f. Doch ist die christliche Prägung des Motivs bei Gryphius stärker als die stoische. Dies zeigt sich u. a. bei der Verschärfung dieses Providenzglaubens zu einem Glauben an Gott sub contraria specie, s. SCHINGS, 233 f., und an der Bejahung der Affekthaftigkeit: auch der heilige Märtyrer empfindet Angst; durch diese Angst erhebt er sich zur Freude, zur gloria passionis: SCHINGS, 254-277. 101
Opitz, 11,397-402. Opitz, IV,121 ff. Diese Ausführungen, IV,61-140, stellen den vierten der fünf Trostgründe dar, die Opitz im vierten Buch nennt. STALDER, Formen des barocken Stoizismus, 102
Opitz' ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges'
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Gedanken schließlich auf die Bahn lenkt, die zum militärischen Widerstand hinführt: Der Weise setzt sich auch, seiner Unabhängigkeit gewiß, dem Widerstand widriger Dinge aus. Er ist . . . gewohnet nicht zu wancken / Gewohnet durch zu gehn mit fewrigen Gedancken / Zu stehn als eine Wand .. ,103
Dabei nimmt er auch in Kauf, seine Heimat zu verlieren (11,539-564). Opitz tröstet hier mit dem Gedanken des Weltbürgertums - die Welt ist die eigentliche Heimat, nicht das jeweilige Vaterland. Bezeichnenderweise nennt er übrigens hier nicht das himmlische Vaterland, die civitas Dei. Andererseits ist er imstande, gerade das konkrete Vaterland als das zu sehen, was seine Bürger erzeugt hat und für das man sein Leben im Kampf hingeben soll (111,233 ff.). Es wird nun deutlich, welche argumentative Funktion die stoischen Aussagen von der Selbstbeschränkung und -beherrschung dadurch bekommen: Wer für sein Vaterland kämpft, muß damit rechnen, alles zu verlieren, auch seine Existenz im Vaterlande selbst. Die angeführten stoischen Tröstungen dienen dazu, daß der Kämpfer befähigt wird, diese Entbehrungen auszuhalten. Doch sollen diese Entbehrungen nur eine Zwischenphase sein. Was Opitz erhofft, ist eine Existenz in einem Vaterland, in dem Friede und religiöse wie politische Freiheit herrschen. Das leuchtende Beispiel dafür, daß Krieg nur eine Zwischenphase darstellt, ein Mittel, durch dessen Einsatz ein solch glücklicher irdischer Zustand erreicht werden kann, sind für Opitz die Niederlande 104 . An einigen Stellen wird deutlich, wie Opitz diese argumentative Wendung vollzieht, mit der er auch stoische Topoi als Argumente für die praktische Zielsetzung seines Gedichtes einsetzt. So steht die charakteristisch stoische Wendung Der Leib ist vnterthan / der Geist ist nicht zu zwingen / Geht ledig / frey vnd loß .. .(111,225 f.) 30; 32; 3 3 - 5 6 , insbes. 3 5 - 3 9 und 5 4 - 5 6 , hat sie zum Anlaß g e n o m m e n , O p i t z e n s Ausformung der Stoa als „Übersicht" zu charakterisieren. Gleichwohl ist zu sehen, in welchem Kontext auch diese Äußerungen stehen. 105 O p i t z 11,385-387. D u r c h diese W e n d u n g wird auch deutlich, d a ß die T u g e n d der constantia nicht als bloße Indifferenz gegenüber dem Weltgeschehen, gar als Resignation aufzufassen sei. Ahnlich verhält es sich mit der constantia bei Gryphius, s. SCHINGS, D i e patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 2 3 6 - 2 4 7 , insbes. 242 f., vgl. damit auch die Verbindung von Zu-Frieden-Sein vor G o t t und Tatbereitschaft bei Gerhardt. N u r k o m m t es bei Gryphius und Gerhardt nicht zu dieser militärischen Konkretisierung. 101 Insbes. 111,305-308 vom Aufblühen Leidens als Universitätsstadt nach der überstandenen Belagerung durch die Spanier. N a c h der plausiblen Vermutung GARBERS, 163, stellt O p i t z mit seiner konkret realistischen Darstellung des himmlischen Friedens, I V , 4 0 9 ff., im G r u n d e seine politische Zielvorstellung, seine U t o p i e dar. Man halte hier das ,Himmelslied' Paul Gerhardts (CS 134) dagegen.
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unmittelbar nach dem Aufruf, sich mit der Faust „wie Christen" zu wehren (111,219), und kurz vor der eben schon erwähnten Anfeuerung, fürs Vaterland sein Leben zu geben. Das zweite Buch schließt mit einer ganzen Kette von Fällen, die beweisen, was der Feind alles nehmen kann, wenn man gegen ihn kämpft. Jedesmal wird darauf bekräftigt, daß er damit nicht alles, letztlich nicht das einzig Wertvolle, nämlich die Tugend, hat nehmen können. Stoische Fähigkeit zum Verzicht und zur Selbstbeherrschung dient hier soldatischer Tapferkeit (11,589-616). Zu dem, was der Feind nehmen kann, zählt allerdings auch das Leben (11,602). Opitz muß, der Absicht seines Trostgedichtes gemäß, auch die Bereitschaft wecken, im Krieg zu sterben. Möglicherweise führt ihn dies dazu, stärker mit der Uberzeugungskategorie des honestum zu arbeiten als Paul Gerhardt 1 0 5 . Einen Hinweis für das größere Gewicht des honestum im Kriegsfall bringt Johann Matthäus Meyfart in seiner deutschen Rhetorik von 1634 106 . Meyfart sucht zu deren Beginn seine Leser, vor allem die Hochgestellten unter ihnen, von der Nützlichkeit der „Wohlredenheit" zu überzeugen. Sie erweist ihren Nutzen auch und besonders in der Kriegskunst. Vor den Beispielen aus der heidnischen Antike bringt nun der lutherische Theologe Meyfart auffallenderweise eines aus der jüngsten Gegenwart: eine Rede, die der reformierte niederländische Feldherr Prinz Moritz von Oranien (gest. 1625) vor einer entscheidenden Schlacht gegen die Spanier seinen Truppen gehalten hat. Nach dem Gebet - das also auch hier, in der Praxis, die Vorrangstellung hat - fordert Moritz zur gerechten Rache der Schandtaten auf, welche die Spanier an den Volksgenossen seiner Soldaten begangen haben, und appelliert an ihre Ehrliebe: sie sollen zeigen, daß sie sich nicht nur mit ihrem Mund ihrer Freudigkeit und Tapferkeit gerühmt haben. Jeder solle mit Gottes starker Hilfe seine „Tugend" dartun. Nächst dem Allerhöchsten sei keine andere H o f f n u n g als in starken Waffen. Entweder sie würden glücklich streiten und siegen oder ritterlich streiten und sterben. Meyfart referiert diese Rede, der ein glänzender Sieg folgte, als ein für ihn und seine Leser schlagendes Beispiel rhetorischer Kunst. Offenbar ist gerade die in der Kampfsituation hervorbrechende Ungewißheit, ob der Ausgang wirklich erfolgreich sein werde, ob man zuversichtlich sein könne, der Grund dafür, nicht so sehr mit der Überzeugungskategorie des utile, des Nützlichen zu arbeiten, welche darauf angelegt ist, Zuversicht zu erwecken. Vielmehr muß, gleichgültig, wie die Schlacht ausgeht, der Wille zu kämpfen durch etwas angetrieben werden, was noch unter der eigenen Kontrolle ist. „Ritterlich" zu kämpfen, dazu ist der Soldat noch immer in
105 106
S.o. S. 180f. Meyfart, Teutsche Rhetorica, 11-13.
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der Lage, wenn er will, - mag er siegen oder fallen. Und dieser Vorsatz, ritterlich zu kämpfen, wird, wie es scheint, weniger durch die Zuversicht erweckt, einst im ewigen Leben dafür belohnt zu werden - in der drängenden Gegenwart des Kampfes ist dieser Lohn wohl doch zu weit entfernt - als durch das Ehrgefühl. Man darf sich vor keinem als Feigling sehen lassen. Obgleich Opitz bemüht ist, den Nutzen des Leidens auszuweisen, damit man in ihm standhält, zielt er viel stärker als Gerhardt darauf, auch das Ehrgefühl seiner Leser zu erregen. Er erwartet von ihnen, daß sie sich geziemlich verhalten - entsprechend ihrer Identität als Christ, als Deutscher und als Mann. D a s geziemende Verhalten in der gegebenen Situation ist aber der militärische Kampf. D a ß es sich dabei um einen „gerechten Krieg", ein bellum iustum handeln muß, welcher der Verteidigung von Religion, Freiheit, Vaterland, Familie und Besitz dient, ist die unverzichtbare Bedingung von Opitz' Appell an das Ehrgefühl. D a s Argument des honestum kann nur dann eingesetzt werden, wenn die Rechtmäßigkeit des Krieges erwiesen ist 1 0 7 . So sagt Opitz, wenn die Freiheit bedroht sei, dann heiße es „Viel lieber mit der Faust wie Christen sich gewehrt / " (111,219). Dies ist eine Vorstellung vom Christ-Sein, die sich bei Paul Gerhardt nicht finden könnte. Gerhardt zufolge gehört es zur Ehre eines Christen, im Leid nicht den Mut zu verlieren ( C S 83, 7,14), und er geht davon aus, daß der Christ auch im Leid gegen das Leid tätig werden kann, aber er setzt darin nicht die Ehre des Christen. Opitz sieht offenbar im kriegerischen Einsatz eine hervorstechende Eigenschaft des wahren Christen, und er appelliert auch an ein solches christliches Ehrgefühl, wenn es darum geht, daß Christen einander im Kampf beistehen und sich verbünden (IV,230 ff.; 553 ff.). Der unverwelkliche Siegeskranz, dessen Ruhm die Christen lockt, ist der im Krieg gewonnene (IV,346 ff.). Doch nicht nur das Christ-Sein hat seine Ehre und verlangt den militärischen Einsatz. Ebenso verhält es sich auch mit der Zugehörigkeit zu einem Vaterland, und das heißt hier: zur deutschen Nation. Es wurde bereits erwähnt, daß Opitz dem Vaterland eine Bedeutung zuschreibt, die dem des Schöpfers und Erhalters vergleichbar ist. Opitzens deutsches Nationalbewußtsein ist dabei keineswegs so geartet, daß es sich von Grund auf gegen andere Nationen richtet. Vielmehr setzt er den Deutschen die Freiheits- und Vaterlandsliebe der Niederländer als Vorbild und sagt dann: Ach / Deutschland / folge nach! Laß doch nicht weiter kommen Die so durch falschen Wahn so viel schon eingenommen / Zu Schmach der Nation; Erlöse deinen Rhein / D e r jetzund Waffen trägt / vor seinen guten Wein. G O t t / die Religion / die Freyheit / Kind vnd Weiber /
107
Siehe auch die oben, S. 306, zit. Stelle 11,90.92.
316
D i e Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
S o l d i e s e s m i n d e r seyn als v n s r e s c h n ö d e
Leiber
D i e gleich so wol vergehn? . . .10S
Man sieht, wie hier theologische und patriotische Argumentation ineinandergehen. Die „alte Deutsche Trew", die auch Paul Gerhardt in einem Gelegenheitsgedicht erwähnt, ist das Maß, nach dem Deutsche sich zu verhalten haben 109 . Dabei haben Tugenden wie Redlichkeit und Treue, die als „deutsch" bezeichnet werden, nichts an sich, was sie in eigentümlicher Weise mit dieser Nation verbinden würde. Opitz würde auch nicht abstreiten, daß bei anderen Völkern diese Charaktereigenschaften verwirklicht werden könnten, - bei den Niederländern ist dies ja gerade der Fall. Das Beiwort „deutsch" meint also hier wohl, daß diese Tugenden im Dienst für die Nation, welcher man zugehört - und das heißt hier: der deutschen - eingesetzt werden und den Charakter dieser Nation prägen. Opitz spricht von der alten deutschen Treue in Zusammenhang mit der Wirkursache des Krieges: der Abfall von ihr ist ein Teil der Abfalls in die Sünde, welche an diesem Krieg schuld ist. In den früheren, den „alten" Zeiten waren, dem paradiesischen Urständ vergleichbar, die für Deutschlands Wohlergehen nötigen Tugenden noch intakt. Die Umkehr aus der gegenwärtigen Dekadenz, die Buße, vollzieht sich nun gerade durch den mutigen, tapferen Kampf: L a ß t jetzt / laßt jetzt d o c h sehn den rechten D e u t s c h e n M u t h V n d schlagt mit Frewden drein: D e r Feinde rothes Steht besser vber Kleid vnd Reuterrock Als köstlich P o s a m e n t
/
Blut
gemahlet
...no
Schließlich ist das, was der deutschen Ehre entspricht, das, was auch jedem Manne geziemt. Im Kampf soll gezeigt werden, „Daß wir von Deutscher Art und Alle-Männer seyn." 111 Wenn dieser Kampf um der Ehre als Christ, 108 O p i t z , 111,353-359. D e r nationale Feind waren in dem gegebenen Fall für O p i t z die Spanier, welche die E r b l a n d e Friedrichs V. von der P f a l z am Rhein erobert hatten. Sie nennt er, eine abfällige niederländische Bezeichnung benutzend, die „scheußlichen M a r a n e n " , 1,249, vgl. 111,258, und ,Ein G e b e t / d a ß G o t t die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treiben', Teutsche P o e m a t a von 1624, N r . 146 / G e s . Werke I I / l , 216 f. Zu dem Patriotismus in der d a m a l i g e n deutschen Literatur s. WELS, D i e patriotischen Strömungen in der deutschen Literatur des Dreissigjährigen K r i e g e s , nebst A n h a n g : D a s tyrtäische Lied bei O p i t z und Weckherlin in ihrem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, vgl. VOLKER MEID, Ein politischer Deutscher. Zu Weckherlins Sonett „An d a s T e u t s c h l a n d " . 1Ю O p i t z , 1,201; G e r h a r d t , C S 132, 4,1 f., s . o . S . 2 2 1 . 110 O p i t z , I V , 2 3 5 - 2 3 8 , vgl. I V , 1 6 9 f.; 185 ff.; 563 f. 111 O p i t z , 111,556, vgl. I V , 2 4 3 ; 111,250; 11,364 usw. O p i t z will diese Art von T u g e n d dabei keineswegs bloß auf den M a n n eingeschränkt wissen. S o spricht er auch von Frauen, die in Kindesnöten sich „vbermännlich" verhalten, und von Inderinnen, die sich d a r u m streiten, den T o d der Witwenverbrennung sterben zu dürfen (sie!): 11,489-496. D e m seiner Eigenart geziemenden Verhalten des Menschen entspricht das naturgemäße Verhalten der T i e r e , die ebenfalls Leidensbereitschaft und Wehrhaftigkeit zeigen: 11,497-506; 11,79 f.; I V , 1 6 1 - 1 6 8 .
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als Deutscher und als Mann willen zum Tode führt, dann ist dies, so Opitz, der ehrenvollste Tod überhaupt 1 1 2 . Die eigentümliche Akzentsetzung auf das im Krieg zu beweisende honestum bringt bei Martin Opitz auch eine andere Art der Affektenbehandlung mit sich als bei Paul Gerhardt. Wohl beginnt er sein Trostgedicht mit der Versicherung, er wolle, entgegen üblicher Gepflogenheit, in seiner Darstellung keineswegs das Übel verkleinern, um das es hier geht 113 . Und wie er dann einsetzt, sagt er von sich: „Mein H a a r das steigt empor / mein Hertze zittert mir / " (1,59). Was dann berichtet wird, die Verheerungen des Böhmisch-Pfälzischen Krieges wie auch die Greuel der Bartholomäusnacht und die Not der Niederländer in ihrem Freiheitskampf, ist durchaus plastisch geschildert. Doch ist zu bedenken, daß Opitz hier nichts anderes tut, als den Weg zu gehen, den Vossius für die Affektenbehandlung in der consolatio vorgeschrieben hat 114 . Die Tröstung ist ein Vorgang zwischen zwei Menschen. Der Tröster gibt zuerst vor, genauso an dem jeweiligen Übel zu leiden wie der zu Tröstende selbst. Das tut er aber nur, um ein Beispiel zu geben für eine innere Entwicklung zum völligen Gleichmut hin. Zwar hat ein bestimmter Affekt dabei eine treibende Kraft, nämlich der des Ehr- bzw. Schamgefühls. Doch das Ziel, wohin dieser Affekt treibt, ist eine Freiheit von Affekten: man will sich vor keinem, ganz besonders nicht vor sich selber, sehen lassen als einer, der von Gefühlen abhängig ist. Dies wird bei Opitz besonders deutlich, wenn er im II. Buch die „Tugend" dadurch charakterisiert, daß sie imstande ist, im Widerstand auf alles zu verzichten, woran das Herz des Menschen gewöhnlich hängt. Der stoische Rückzug auf das eigene Selbst, auf das, was man wirklich sein Eigen nennen, das, was tatsächlich immer unter der eigenen Kontrolle bleiben kann, führt dazu, daß der Weise sich auch von den Affekten trennt, die ihn innerlich an das binden würden, was äußerlich ist und ihm genommen werden kann. Der launischen Göttin Fortuna ruft Opitz zu: „Daß aber er" - Ulysses, der hier als Exempel dient - „für dir die Knie auch solle beugen / Viel weynen / kläglich thun / sich wie ein Weib erzeigen . . . Sein Hertze lasse gehn / das stehet nicht bey dir." 115 Bekümmert sein wegen dem, was einem genommen wird,
ш Opitz, 111,233-250; IV,241 ff., insbes. 275 f., ab 341 ff. wird dabei auch die christliche Jenseitshoffnung in Anspruch genommen. D i e Linie, auf die Opitz dies alles bringt, ist die von dem spartanischen Dichter Tyrtaios vorgegebene. Dieser hatte mit „dem Gedanken, daß der T o d fürs Vaterland alle andern Verdienste, Ehren und Tugenden übertreffe . . . ein unausrottbares Thema" angeschlagen, so CURT HOHOFF, Lyrik des Abendlands, 746; zum Tyrtäismus Opitzens s. den Anhang der Arbeit von WELS, Die patriotischen Strömungen. 113 Opitz, I, Inhaltsangabe, 2 - 8 ; 1,53 ff. 114 Vossius, Rh. c. 11,24, § 11 ff. (200 f.), s . o . S. 185 f., sowie S. 181, Anm. 47. 115 Dieser Distanz zu den eigenen Gefühlen entspricht auch Opitz' Stil. Obgleich er mit dem heroischen Gegenstand seines Gedichts und dem adäquaten Versmaß des Alexandriners sich auf der höchsten Stilebene bewegt (Poeterey, Ges. Werke I I / 1 , 382; 394), fehlt die für
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Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
„das heisset also lieben Wie einer den ein Weib erquicket vnd ergetzt Der alle seine Lust auff die Berührung setzt." 116
Es liegt klar zutage, wie groß der Kontrast zu den Liedern Gerhardts ist, wo der Mensch nun wirklich sein Herz gehen läßt, weint, seufzt, klagt, wo er, vor allem in den Passionssalven, in nicht bloß phantasierter, sondern wirklicher, „mystischer" Weise Jesus berührt, so wie eine liebende Frau ihren liebenden Mann berührt. Dieser Kontrast hat seinen Grund in einem noch tiefer greifenden Gegensatz. Denn im Zentrum von Opitzens Trostgedicht stehen Menschen, die von dem Weltlauf, personifiziert in der Göttin Fortuna, hin- und hergeworfen werden. Der eine Mensch sucht den anderen zu trösten mit dem, was er zu geben hat, und das heißt: den Rat geben, sich in Gleichmut zu üben und so freier seine Kräfte zum aktiven Widerstand gegen das Übel einzusetzen. Bei Gerhardt hingegen ist alles um ein Zentrum gruppiert, das in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen besteht. Vor diesem Gott, dem Vater Jesu Christi, vor Jesus selbst, allerdings nicht vor der Göttin Fortuna, kann und soll der Mensch seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Er kann seinen Schmerz in der Klage vor Gott bringen und er kann sich seiner Liebe zu Jesus Christus hingeben, in der Erwartung und in dem anhebenden und steigenden Genuß von Jesu Süßigkeit. Tröstung ist bei Gerhardt ein Geschehen zwischen Gott und dem gläubigen Menschen. Sie erhält ihr Wesen letztlich dadurch, daß Gott allmächtig und liebend ist. Weil er liebend ist, läßt er sich durch die ungehemmte Klage der Seinen rühren. Weil er allmächtig ist, kann er, er allein, Abhilfe des Übels schaffen - eine eigene äußere Aktivität des Menschen mag ihm dabei höchstens als Werkzeug dienen. Mit diesen Überlegungen wird aber nun das Grundsätzliche des Unterschiedes erreicht, der zwischen Martin Opitz' ,Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges' von 1621 und den Liedern besteht, die Paul Gerhardt seit 1647 in dem geistlichen Gesangbuch ,Praxis pietatis melica' veröffentlicht hat. Das zentrale Thema beider Dichter ist, wie der Mensch sich gegen das Übel, unter welchem er leidet, stellen kann. Bei beiden spitzt sich die Bedrohung so zu, daß von einer Krise gesprochen werden kann. Das Hauptübel, mit dem Gerhardt kämpft, ist die Sünde des Menschen, seine Fehlstellung vor Gott, die dem Teufel als Vorwand dienen kann, dem diese Ebene eigentümliche starke Bewegung der Affekte - gerade wenn man Opitz mit anderen, in einem engeren Sinne „barocken" Dichtern wie etwa Gryphius vergleicht. Auch das von Paul Gerhardt so sehr geliebte Variationsprinzip wird wenig in Anspruch genommen, also auf eines der wichtigsten Mittel verzichtet, mit Poesie Wohlgefallen zu erregen; s. JAN-DIRCK MÜLLER, 2 1 1 ; CONRADY, 1 2 7 f f . ; 1 9 5 - 2 2 1 ; SZYROCKI, D i e d e u t s c h e L i t e r a t u r d e s
Barock, 10 ff. 116 Die zitierten Stellen: Opitz, 11,441-444; 556-568, vgl. die ganze Passage 11,325-616.
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Menschen mit der Anklage und dem verdammenden Richterspruch G o t t e s zu drohen 1 1 7 . Die K r i s e des Menschen ist die hohe Anfechtung. Von einer anderen Seite her betrachtet ist diese Krise die Verleitung zum Selbstmord angesichts der scheinbaren Sinnlosigkeit dieser Welt. D e r eigentliche Kern der Krise ist von dieser Seite her nicht sichtbar, doch geht es auch in diesem Fall um dasselbe, um einen Anschlag des Teufels, der, ist er erfolgreich, tatsächlich zur V e r d a m m u n g durch G o t t führt. D a s Übel, um das es sich in dieser Krise handelt, ist strenggenommen nicht das Leiden, sondern d a s schuldhaft Böse, auch wenn es G e r h a r d t gelegentlich, bezogen auf die Selbsterkenntnis des gläubigen Sünders, als „ S c h m e r z " bezeichnet 1 1 8 . D i e andere Art des Übels, das Leid, auch das des Dreißigjährigen Krieges, ist im Vergleich d a z u nur eine G e f ä h r d u n g zweiten Ranges, eine „leibliche" Anfechtung, eine innerweltliche calamitas. Anders stehen die D i n g e in Opitzens Trostgedicht. Auch dort wird der Selbstmord des C a t o Uticensis als negatives Exempel gebracht. D o c h liegt das daran, daß er ein schlechtes Beispiel für einen Soldaten abgibt 1 1 9 : Ein K r i e g s m a n n d a r f f nicht f o r t / es sey dann zugegeben D u r c h seinen Capitäin; Wir sollen aus dem Leben / E s gehe wie es wil / auch eher nicht entfliehn Biß vns des Lebens H e r r erlaubet fortzuziehn.
D i e Krise, die in diesem Gedicht H a u p t t h e m a ist, ist das Leid, und zwar d a s des Krieges, d a s durch die erste P h a s e des Dreißigjährigen Krieges gebrachte Leid. E s ist klar, daß schon durch die andere Identität des T h e m a s sich bei O p i t z ein anderer gedanklicher Zusammenhang entwickelt als bei Gerhardt. D o c h macht das nicht allein den Unterschied aus; die ausdrücklich auf das Kriegsleid bezogenen Stellen bei Paul G e r h a r d t , vor allem sein Bittgesang ( C S 97), machen dies deutlich. O p i t z flicht in seinen G e d a n k e n z u s a m m e n h a n g auch G e d a n k e n neostoischer und zivilreligiöser H e r k u n f t ein. D a d u r c h wird aber auch das Verhältnis zu G o t t anders bestimmt, d a s , auch bei ihm, der Mensch im Leide hat. Welche Position ergibt sich daraus? Zunächst kann gesagt werden, d a ß sich Martin O p i t z in seinem T r o s t gedicht um einen Konsensus bemüht. E r will Menschen verschiedener K o n fession, verschiedener G o t t e s a u f f a s s u n g zu einem Widerstandsbündnis gegen die Aggression der katholischen Mächte in Deutschland, bzw. gegen Spanien sammeln und ermutigen. D e r Reichtum seines Gedichtes an Argumenten ist so groß, daß auch ein Lutheraner von der strengen Einstellung G e r h a r d t s bestimmte Argumente hätte akzeptieren und in den f ü r ihn ш Siehe hier vor allem noch einmal das programmatische Gedicht ,Weltskribenten und Poeten' (CS 57), vgl. oben S. 216 ff., sowie S. 167 f. 118 S. o. S. 264, bei e). 119 Opitz, 11,525-528, der Kontext zu Cato ab 11,514.
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Die Lieder innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit
gültigen Zusammenhang hätte stellen können. Das Gleiche hätte auch einem Anhänger einer anderen religiösen oder philosophischen Position möglich sein können. Wo Opitz selber eigentlich stand, ist undurchsichtig; übrigens findet man ihn wenige Jahre nach Abfassung des Trostgedichts in Diensten des militant katholischen Burggrafen Carl Hannibal von D o h na. Doch läßt sich auch eine Position denken, die genau mit den Linien des Trostgedichts übereinstimmt, die seine Gedankenvielfalt umschließen und auf sein Ziel hin konzentrieren. Diese Position ist die einer Zivilreligion, die unter einer besonderen Belastung durch das Leid, durch den Krieg, aktiviert wird. Ihr Gehalt als Religion ist ganz minimal; er läßt sich mit Opitzens Worten bestimmen als „Gut von sich selber thun das heist Religion" (1,468). Das „Gute", das letztlich von Gott verbürgt, gefordert, unterstützt und belohnt wird, ist konkret zu bestimmen in den Anforderungen dessen, was „ehrenhaft" ist: in den Forderungen der Moral, des Rechts, was die eigene Person, die Familie, das Vaterland bzw. die Nation betrifft. Das Leid des Dreißigjährigen Krieges ist keineswegs der einzige Faktor, durch welchen diese „Religion", diese Auffassung von Gott, der Welt und seiner selbst, entstanden ist. D a f ü r sind die anders ausgerichteten Dichtungen Paul Gerhardts oder der anderen in der , Praxis pietatis melica' vertretenen Dichter ein Gegenbeispiel. Die gedanklichen Elemente dieser Zivilreligion lagen bereits vor, als der Krieg ausbrach; Opitz wird sie vor allem in seiner Heidelberger Zeit aufgenommen haben. Doch war der Krieg ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung des Trostgedichts; in tiefgreifender Auseinandersetzung mit konkret diesem Krieg hat Martin Opitz diese Auffassung entwickelt. Als ein Faktor, der selbst Menschen prägt und sie in bestimmter Weise mit den Ereignissen der Geschichte umgehen, diese Ereignisse selber auch bestimmen läßt, ist in Deutschland diese Art von Religion oder Lebenshaltung durch den Dreißigjährigen Krieg erst aufgerufen worden.
TEIL Η
Schlußbetrachtungen
Werfen wir nun am Schluß noch ein paar Blicke zurück auf das durchschrittene Massiv und überlegen uns, auf welche Weise die Betrachtung von einem Gegenstand der Forschung zum anderen übergewechselt und wie beschaffen der Zusammenhang ist, der sich dadurch ergeben hat. Ausgangspunkt war die alte und nach den geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wieder gestellte Frage, wie denn das Leid dieser Welt und die Existenz eines Wesens, das Gott genannt wird, miteinander vereinbar seien, wenn diesem Gott die Eigenschaften Allmacht und Allgüte sowie (die Reflexion über solche Vereinbarkeit selbst reflektierend) eine in den Geschehnissen dieser Welt gegebene Verständlichkeit zugeschrieben werden sollen. Der Rekurs auf den lutherischen deutschen Dichter geistlicher Lieder, Paul Gerhardt, welcher die erste Hälfte seines Lebens im Dreißigjährigen Krieg zugebracht hatte, machte aufs erste deutlich, daß es dazu nicht genügt, Begriffe wie Gottes Allmacht, seine Güte oder das Leid (als gedachtes, also als Begriff genommenes) als solche, also bloß als Begriff, als Idee zu durchdenken. Es muß mit in den Blick genommen werden, welchen Gebrauch Menschen jeweils von diesen Begriffen machen. In dieser konkreten Fragestellung heißt das: Wie geht ein Mensch - zumal ein von Leid geplagter Mensch - mit diesen Begriffen um, was fängt er mit ihnen an? Begriffe werden damit als von Menschen gedachte aufgefaßt, als Inhalte ihres Bewußtseins, die zu Momenten ihres Verhaltens werden: Wie verhält sich ein Mensch, wenn er sich Gott als allmächtig und gütig denkt, zu Gott? Damit ist bereits die Umkehrung verbunden: wie denkt sich ein Mensch Gottes Allmacht und Güte, wenn dieser Gott einer ist, zu dem er sich in einer bestimmten Weise verhält? Betrachtet man Begriffe nicht mehr abstrakt, sondern in diesem Sinne als Bewußtseinsinhalte, dann wird deutlich: diese drei oder vier Begriffe auf ihre logische Vereinbarkeit zu prüfen ist nur eine Möglichkeit des Umgangs mit diesen Bewußtseinsinhalten. In den Liedern Paul Gerhardts beispielsweise geht ein Mensch mit diesen von ihm gedachten Eigenschaften Gottes hingegen so um, daß sie Inhalte seines Vertrauens, seiner Hoffnung, seines Bittgebetes, seines Lobpreises werden. Der Gott, den er sich als allmächtig und gütig denkt, ist der Gott, auf den er vertraut
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Schlußbetrachtungen
und hofft. Er betet zu diesem Gott, eben weil er ihn sich so denkt. Er denkt sich Gott so, er benennt ihn so, indem er konkret Gott als allmächtig und gütig preist. Und auch das Verständnisproblem, das Problem der Vereinbarkeit von Gottes Allmacht und Güte mit der Existenz des Leids - oder gar der Sünde - erhält, so genommen, einen anderen Charakter. Es wird ein Moment in einer Situation des Menschen, die von Luther eindringlich durchdacht worden ist und auch für Gerhardts Lieder eine Schlüsselbedeutung hat, die von mir die Sub-contraria-specie-S'itunüon genannt wurde. Gott, und zwar Gott in seiner Güte und Liebe, ist verborgen unter dem Leid des Menschen - oder, mehr noch, verborgen unter der Verdammungswürdigkeit der menschlichen Sünde. Die logische Unauflöslichkeit des Trilemmas führt dann aber nicht in eine resignatio in absurdum, sondern zu einem Verhalten gegenüber Gott, das Glauben genannt wird: einem Vertrauen auf einen liebenden und allmächtigen Gott, das über den Gegensatz dessen, was der Möglichkeit eines solchen Vertrauens zu widersprechen scheint, hinweg vertraut. Glaube wird damit auch konkretisiert als Annahme von Gottes mit seiner Allmacht verbundener Liebe in der Gestalt, in welcher diese Liebe Gottes selbst definitiv und konkret wird: der Person Jesu Christi. Das Verhalten des gläubigen Menschen zu Gott besteht darin, daß er in die Gemeinschaft mit Gottes Sohn - und dadurch mit Gott selbst - aufgenommen wird und diese Gemeinschaft lebt. Wurde von Gottes Eigenschaften als Inhalt menschlichen Lobpreises gesprochen, wurde Gottes Wesen als Liebe konkretisiert, dann hat sich damit schon gezeigt, daß diese Begriffe, als Bewußtseinsinhalte genommen, auch mit Gefühlen des Menschen verbunden sind. Leid ist eben nicht nur das, als was man es begrifflich fassen könnte - etwa als Beraubung dessen, was zu der Lebensverwirklichung des Menschen gehört sondern es ist ganz konkret Schmerz. Als Bedrohung der Zukunft des Menschen erzeugt es Furcht, kann es in Verzweiflung führen. Es wird dann auch deutlich, daß die Allmacht eines Gottes etwas Ambivalentes ist. Wird sie verbunden mit dem Leid, das ein Mensch erfährt, oder mit der Verdammungswürdigkeit der Sünde - deren Wesen nun gerade die gänzliche Störung des Verhaltens des Menschen zu Gott ist, - dann ist Gottes Allmacht, ausschließlich so betrachtet, das Siegel der Verzweiflung, die der Mensch angesichts seines Leids, mehr noch: angesichts der Erkenntnis seiner Verdammungswürdigkeit erfährt. Es tritt dann noch schärfer hervor, worin die Aufgabe des Glaubens liegt: nicht nur, nicht so sehr darin, sich über einen logischen Widerspruch hinwegzusetzen, als eben zu vertrauen, daß Gott in seinem Wesen, jenseits der verspürten Erfahrung, Liebe ist. Gottes Allmacht, geglaubt als verbunden mit seiner Güte, konkreter noch: seiner Liebe, wird dann zum Grund menschlicher Freude und H o f f n u n g und vermittelt das Ge-
Schlußbetrachtungen
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fühl der Sicherheit 1 oder Bewahrung. Gott erweist sich dann als der Grund menschlichen Vertrauens auf ihn. Gefühle sind jedoch nicht nur etwas mit Gedanken Verwobenes, sie stellen, mehr noch als Gedanken, zudem eine Disposition zum Handeln des Menschen, aber auch Gottes dar. Indem Gott dem Menschen seine Gefühle zeigt, ihm auf vielfältige Weise zeigt, daß er ihn liebt, spricht er bei dem Menschen den Affekt des Vertrauens an und veranlaßt den Menschen, ihn im Bittgebet darum anzugehen, seine Allmacht und seine Güte zu erweisen. Der Mensch kann nun Gott dazu bringen, gegen das Leid vorzugehen, indem er ihm in der Klage seinen Schmerz kundgibt und dadurch Gottes Erbarmen aufstachelt. Der Mensch als ein Wesen, das H o f f n u n g und Vertrauen schöpfen kann, Gott als ein Wesen, das des Mit-Leids fähig ist, sind dadurch, jeweils auf ihre Weise, zum Handeln disponiert. Uberblickt man nun den Zusammenhang Begriff - Gefühl Handlung, so erkennt man auch, daß Gottes Allmacht offenbar so gedacht werden muß, daß sie vereinbar ist mit Gottes Fähigkeit, zu empfinden und affizierbar zu sein durch das, was der Mensch ihm von seinen Empfindungen mitteilt. Wohl geht dieser Affizierbarkeit Gottes sein freier Entschluß voraus, von Menschen auf diese Weise ansprechbar zu sein, aber dieser Entschluß führt nun eben dazu, daß Gott durch ein Handeln des Menschen dazu gebracht werden kann, selber zu handeln. Ein Moment dieses Zusammenhangs Begriff - Gefühl - Handeln muß nun noch eigens expliziert werden. Dieser Zusammenhang besteht dadurch, daß gesprochen wird. Begriffe werden nicht nur gedacht, vielmehr wird von ihnen, teils direkt, teils paraphrasierend - etwa, indem von Gottes Taten erzählt wird - geredet. Gefühle werden ausgesprochen - und dadurch erst anderen mitgeteilt, dadurch erst wirksam, den anderen zum Handeln zu bewegen. Die Rede - Gottes zu dem Menschen, des Menschen zu Gott, zu sich selbst, zu anderen Menschen - ist das Medium des ganzen beschriebenen Zusammenhanges. Dabei werden auch die Strukturen dieses Mediums bedeutsam, d. h. die sprachliche Form. Sie wirkt durch ihre Schönheit auf das Gefühl ein, indem sie erfreut. Soll der Begriff von Gottes Allmacht Inhalt menschlichen Lobpreises sein, dann verlangt dies unweigerlich nach einer poetischen Schönheit dieses Lobpreises, ja, nach der musikalischen Schönheit seiner Vertonung. Die Heilswirksamkeit von Jesu Leiden und Sterben wird durch die beschriebene Konstruktion eines Metaphernvierecks 2 so zum Ausdruck gebracht, daß sie für den Menschen gleichsam sinnlich erfahrbar wird.
1 Vgl. die Formulierungen in den Titeln v. L u c i E N FEBVRE, Zur Geschichte eines Gefühls: Das Bedürfnis nach Sicherheit, u. JEAN DELUMEAU, Rassurer et proteger. Le sentiment de securte dans l'Occident d'autrefois. 2 S. o. S. 256 ff.
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Schlußbetrachtungen
Schreiten wir nun den gezeigten Zusammenhang von der anderen Seite her ab. Handlungen bewirken Ereignisse. Ereignisse wiederum wirken nun wieder auf die Gefühle von Menschen ein, auf die Art, wie sie von Gedanken Gebrauch machen und auf ihre eigenen Handlungsdispositionen. Dies bewirken die - leidvollen oder glücklichen - Ereignisse der Geschichte aber nicht unmittelbar, sondern dadurch, daß der Mensch ihnen eine Deutung gibt. Von der Deutung hängt es ab, ob ein leidbringendes Ereignis als Strafe des allmächtigen Gottes aufgefaßt wird oder als „Züchtigung", d. h. als eine für den betroffenen Menschen letztlich produktive Maßnahme Gottes, die von seiner Liebe motiviert ist, oder gar als ein Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus, der Christusverähnlichung, ein Zeichen, das für andere leuchten soll: als Martyrium. Es liegt auf der H a n d , daß, je nach Deutung, der vom Leid geschlagene Mensch andere Empfindungen haben wird und auch anders handelnd - oder nicht handelnd - darauf reagieren wird. Schließlich muß noch auf das geblickt werden, was einen Menschen dazu bringt, auf eine bestimmte Weise mit Ideen umzugehen und auf andere Weise nicht. So wird in den Liedern Paul Gerhardts die Erfahrung des Leids gar nicht als Einwand in einem logischen Trilemma gegen Gott als allmächtiges und gütiges Wesen angeführt. Dabei beruft er sich durchaus auf Erfahrungen, also auf bruchstückhafte Erkenntnisse, um zu beweisen, wie es um das Ganze aller Geschehnisse und Erfahrungen bestellt ist, aber nur, wenn es sich um Erfahrungen des Guten handelt. Sie bestätigen, daß auch das Ganze gut und das Leid, überhaupt das Übel, in diesem Gesamtzusammenhang für den gläubigen Menschen gar nicht schädlich ist. Dieser Umgang Paul Gerhardts mit bestimmten Argumenten ist dadurch gesteuert, daß er durch Gottes Offenbarung in Jesus Christus weiß, daß der Gesamtzusammenhang für den mit Christus Vereinigten ein guter ist. Bei Martin Opitz ist es nun gleichfalls so, daß das Trilemma aus Leid, Gottes Allmacht und Güte gar keine Rolle spielt. Aus der Teilerfahrung des Guten wird bewiesen, daß der Lauf der Dinge von einem allmächtigen und gütigen Gott bestimmt und darum hinzunehmen ist. D a s Argument des Leids, der Hinfälligkeit aller Dinge, wird erst dort gebracht, wo gezeigt werden soll, daß allein die „Tugend", die Widerstandskraft des Menschen in der allgemeinen Hinfälligkeit standhält. Bei Opitz liegt der Grund, in dieser Weise mit den gegebenen drei Begriffen - Leid, Allmacht, Güte Gottes - umzugehen, darin, daß er einen Begriffszusammenhang, einen Lehrkomplex aufbauen möchte. Dieser Ideenkomplex soll der Kampfbereitschaft bestimmter Gruppen, nämlich der anti-katholischen und antispanischen Kreise, in der damaligen politischen Situation Deutschlands dienen. Eine bestimmte Handlungsdisposition verlangt auch nach einer bestimmten lehrmäßigen, begrifflichen Unterlegung, die wiederum bestimmte Gefühle dieser Menschen ansprechen und ihre Bereitschaft, in einer bestimmten Weise zu handeln, bestärken soll. Diese Steuerung durch
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Schlußbetrachtungen
eine Handlungsdisposition mag gerade das Kennzeichen einer „Zivilrelig i o n " o d e r „-Ideologie" ausmachen 3 . Bei Rene Descartes hingegen wird die von G e r h a r d t und O p i t z unterlassene Frage - analog auf der E b e n e der Gewißheit des M e n s c h e n gestellt 4 . E r beantwortet sie nun ausgehend von der Idee eines nicht nur allmächtigen, sondern auch vollkommen gütigen Wesens, das eben nicht täuschen kann und will. In ähnlicher Weise geht auch Leibniz vor, wenn er seine Beurteilung des Leids und des schuldhaft Bösen - d a ß sie wesentliche Elemente der besten aller möglichen Welten seien - aus der Idee eines vollkommen gütigen und allmächtigen Wesens folgert 5 . Bei all diesen D i c h t e r n und D e n k e r n liegen also jeweils verschiedene Grundeinstellungen vor, die sich als Dispositionen sowohl auf ihren U m gang mit Ideen und Begriffen als auch auf ihren U m g a n g mit Gefühlen wie auch auf die von ihnen angestrebten Handlungen auswirken: bei Paul G e r h a r d t der G l a u b e an Jesus Christus, in dem sich G o t t offenbart und worauf er denn alles - mag es in einem noch so weit gespannten Zusammenhang sein - bezieht, bei O p i t z der politische Wille zu einer bestimmten Ordnung der deutschen N a t i o n , bei den Philosophen D e s c a r t e s und Leibniz der Wille, alles an einer in einer bestimmten Weise gedachten Idee G o t t e s aufzuhängen. M a n kann solche Dispositionen mit dem Begriff der , M e n t a l i t ä t ' identifizieren, wenn man unter den verschiedenen M ö g l i c h k e i t e n , diesen B e g r i f f zu definieren, nicht abhebt auf solche, die auf das durchschnittliche, kollektive durch Statistiken e r f a ß b a r e Bewußtsein zielen, sondern auf den Einfall Ulrich Raulffs zurückgreift, d a ß „das , M e n t a l e ' " vielleicht „selbst nur eine moderne M e t a p h e r für jene primäre Stellung zur W e l t " sei, „die im christlichen V o k a b u l a r , G l a u b e n ' h i e ß . " 6 Mentalität ist dann aufzufassen als eine „geistig-seelische D i s p o s i t i o n " , eine „geistig-seelische H a l t u n g " 7 . Geschichtsschreibung der Mentalitäten muß, diese Dispositionen zu erfassen, ausgehen von ihren Verwirklichungen 8 , wie ich sie hier untersucht
3
S . o . S. 3 1 9 f.
4
S . o . S. 1 1 9 f . bei A n m . 9 4 .
5
S . o . S. 121 bei A n m . 9 7 .
6
ULRICH RAULFF, V o r w o r t M e n t a l i t ä t e n - G e s c h i c h t e ,
7
RAULFF, V o r w o r t , 10, bei A n m . 12, als Z i t a t von THEODOR GEIGER, D i e s o z i a l e S c h i c h -
tung des d e u t s c h e n V o l k e s , S t u t t g a r t
14.
1932 (Soziologische Gegenwart
1), 77 f. M i t
diesen
B e g r i f f e n ist b e r e i t s d e r des G e f ü h l s n a h e g e l e g t , und in d e r T a t h a t LUCIEN FEBVRE, e i n e r d e r B e g r ü n d e r d e r M e n t a l i t ä t s g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , d e m H i s t o r i k e r die A u f g a b e z u g e w i e s e n , d a s a f f e k t i v e L e b e n v e r g a n g e n e r Z e i t e n zu r e k o n s t r u i e r e n : s. FEBVRE, L a Sensibilite e t I ' H i s t o i r e . C o m m e n t R e c o n s t i t u e r la V i e A f f e c t i v e d ' A u t r e f o i s ? , ü b e r s . : S e n s i b i l i t ä t und G e s c h i c h t e ; d e r s . , Z u r G e s c h i c h t e eines G e f ü h l s : D a s B e d ü r f n i s n a c h S i c h e r h e i t s o w i e die d a r a u f a u f b a u e n d e n A r b e i t e n von JEAN DELUMEAU. 8
W e s h a l b RAULFF, V o r w o r t ,
10 f., d a n n von e i n e r „ h i s t o r i s c h e [ n ] P h ä n o m e n o l o g i e
jeweils M e n s c h e n M ö g l i c h e n " spricht.
des
326
Schlußbetrachtungen
habe als einem bestimmten Umgang mit Ideen, Gefühlen und Handlungsanweisungen 9 . In diesem Sinne befaßt sich diese Studie mit der , Mentalität' einer gebildeten Einzelperson von allerdings weiter Wirkung und hat Relevanz für die Mentalitätsgeschichtsschreibung. Sie mag aber auch, ist der Begriff der „Mentalität" auch noch so sehr in Abgrenzung von dem der „Idee" geprägt worden 1 0 , als Ideengeschichtsschreibung verstanden werden - wird diese mit Isaiah Berlin so begriffen, daß sie sich nicht abstrakt mit Ideen befaßt, wenn auch sie es nicht für nötig hält, zu deren Verständnis ihren historischen Kontext möglichst konkret zu rekonstruieren 11 . Desgleichen mag man auch an Max Webers Unternehmen denken, eine Kette von Faktoren ausfindig zu machen, die, angefangen von einem bestimmten Theologoumenon, zu einer Disposition von Menschen führt, in einer bestimmten Weise zu handeln und ihr Leben - ihr privates, das der Wirtschaft, des Staates usw. - zu gestalten. Wollte man auch noch den Aspekt der musikalischen Gestaltung eingehender würdigen, wäre an eine Fortsetzung des von Walter Blankenburg Angefangenen zu denken. Nähme man in die Verknüpfung von Ideen, Gefühlen, Handlungsdispositionen, sprachlichem und musikalischem Ausdruck noch denjenigen der bildenden Kunst hinzu, dann würde man zu der von Aby Warburg begründeten Forschungstradition kommen 12 . So kommt diese Studie, indem sie eine genuin theologische Fragestellung konsequent verfolgt, dazu, Fragestellungen und Ergebnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen aufzugreifen und in den Dienst einer theologischen Klärung zu stellen. Die interdisziplinäre Anlage dieser Studie entspricht dem Zusammenwirken von theoretischer und praktischer, „erbau-
9 In der Tat stellt diese gesamte Studie nichts anderes dar als eine Ausführung und Weiterführung des in meinem Aufsatz ,Zum Verhältnis von Mentalitäts- und Theologiegeschichtsschreibung' vorgestellten Methodenkonzepts. Habe ich dort, anknüpfend an meine Dissertation über ,Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter', untersucht, welcher Umgang mit der Lehre von den vielen Berufenen und den wenigen Erwählten, mit der Lehre von der menschlichen Vorbereitung als causa dispositiva des Gnadenempfangs und der Lehre von der Heilsungewißheit gepflogen wurde, und welche Auswirkung dieser Umgang auf die Gefühle der Betreffenden haben mochte, so habe ich dies hier ausgehend von den drei Begriffen Leid, Allmacht und Güte Gottes getan. 10
11
RAULFF, V o r w o r t ,
10.
ISAIAH BERLIN, „One cannot talk about ideas in complete abstraction, unhistorically; but neither can one talk solely in terms of concrete historical milieux, as if ideas made no sense outside their frameworks.", Conversations with Isaiah Berlin, hg. v. Ramin Jahanbegloo, 28, vgl. den Kontext 23-28; es sei dabei auch an den Entwurf der Ideengeschichtsschreibung ARTHUR O. LOVEJOYS erinnert: The Great Chain of Being. Α Study of the History of an Idea. 12 Zu Warburg s. DIETER WUTTKE, Aby M. Warburgs Methode als Anregung und bleibende Aufgabe; CARLO GlNZBURG, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition; vgl. auch HAUSENSTEIN, Vom Genie des Barock, und HuiZlNGA, Herbst des Mittelalters.
Schlußbetrachtungen
327
lieber" Theologie, Rhetorik, Homiletik, Poetik und Musiktheorie, welche gemeinsam in der Schöpfung des geistlichen Liedes des 17.Jahrhunderts zur Anwendung kamen. In diesem liegt nun wiederum ein Beitrag zur Kultur des 17. Jahrhunderts vor, die man sich gewöhnt hat mit dem Epochenbegriff des „Barock" zu bezeichnen. Die Dichtung Paul Gerhardts konturiert bestimmte Seiten dieses Epochenbegriffs: sie steht für den Ordo, nicht für das Exzentrische im Barock; sie vertritt als Exempel mittleren Stils weder das nur Schlichte oder gar derb Volkstümliche des niederen noch das Hochgesteigerte, mitunter gewählt Dunkle des hohen Stils 13 . Will man den weitgespannten Zusammenhang der Dichtung Gerhardts von seinem religiösen Aspekt her betrachten, dann ist er zweifelsohne dem Begriff der „Frömmigkeit" zuzuordnen. Gelehrte verschiedener Disziplinen haben es in den letzten zwei Jahrzehnten unternommen, diesen Bereich ihrer Forschung zu eröffnen, indem sie den Begriff der Frömmigkeit und die Methode ihrer Erforschung erörterten. Ein Ausgangspunkt war dabei der Aufsatz des Allgemeinhistorikers Hansgeorg Molitor, Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem 14 . Berndt Hamm hat in Auseinandersetzung mit Molitor den Begriff der „Frömmigkeitstheologie" geprägt, in welchem bereits eine verbindende Betrachtung von Frömmigkeit und Theologie angelegt ist, die sich in einer gewissen Entsprechung zu dem oben genannten Ineinandergreifen von Mentalität und Idee befindet 15 . Die sprachliche Gestalt von Frömmigkeit wurde als Zugang gewählt in einer Reihe von Beiträgen, überwiegend von Germanisten, die von Dieter Breuer herausgegeben wurden 16 . Schließlich machte sich eine Gruppe von Theologen um Bernd Jaspert die Erforschung von Frömmigkeit zum Programm 17 . S. o. S. 88 f.; 232 f. Unter den Allgemeinhistorikern hebe ich den Forscherkreis um HANS-CHRISTOPH RUBLACK hervor, s. auch die Beiträge zu der Festschrift für Rublack: ,Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit'. 15 BERNDT HAMM, Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. 16 ,Frömmigkeit in der frühen Neuzeit', hg. v. Dieter Breuer. Hervorzuheben sind besonders die grundsätzliche Überlegungen vor allem zu Beginn der Aufsätze von BREUER und WALLMANN. Welche Aufgabe mit dem literaturwissenschaftlichen Ansatz gestellt ist, wird deutlich an der Formulierung WALLMANNS, 70, die „der Reformation so fremde, an der religiösen Erotik des Hohenlieds orientierte Bildersprache Bernhards . . . " sei in die lutherische Frömmigkeit des späten 16. und des 17.Jahrhunderts eingedrungen. Zu zeigen, warum dies geschehen konnte, ohne daß die theologischen Grundlagen der Reformation verlassen wurden - und damit auch zu zeigen, daß so fremd diese Sprache der Reformation doch nicht ist - gehörte zu den Aufgaben dieser Studie. 17 JASPERT, Frömmigkeit und Geschichte; Frömmigkeit und Kirchengeschichte, und DREHSEN, Theologische Frömmigkeitsforschung. Ein Forschungsabriß bei JASPERT, Frömmigkeit und Kirchengeschichte, 36-49; sein eigener Methodenentwurf: das., 97-114. Zu dogmatischer Klarheit gelangt JASPERT mit der definitionshaften Formulierung, bei Frömmigkeit gehe es um „ein Geschehen, in dem Rechtfertigung und Heiligung konkret erlebbar werden als Gottes gnädiges Handeln am Menschen", Frömmigkeit und Geschichte, in: ders., Theologie und u
14
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Schlußbetrachtungen
Ein Unterschied zwischen all diesen Ansätzen und dem von mir gewählten mag darin bestehen, daß ich nun gerade nicht mit einem solchen allgemeinen Begriff wie „Frömmigkeit" anfing - wie er zu definieren und welche Methode für ihn zu gebrauchen sei. Vielmehr ging ich in einer ähnlichen Weise vor, wie Erich Auerbach sie für seine Studien dargelegt hat 1 8 : ich ging von einem konkreten Einzelproblem aus, das, durch ganz bestimmte Texte hindurch genau verfolgt und bearbeitet, durchsichtig wird für ein größeres Ganzes. Das Einzelproblem, genauer: die Art, wie dieses Einzelproblem gestellt und wie es formuliert wird, der Kontext, in dem es sich befindet usw., erweist sich dann als charakteristisch für das Ganze: für eine bestimmte, zu einer Zeit bestehende Frömmigkeit, für einen bestimmten Geist einer Zeit. Das Einzelproblem, von dem ich ausging, bestand in dem Anstoß, den das Leid einem an einen Gott glaubenden Menschen darstellte. Das tiefere Eindringen in dieses Problem war es, was mich zu dem Ausgreifen auf andere Forschungsdisziplinen und in die Themenkreise bisheriger Forschungen hineinführte. Die Absicht, die ich dabei letztlich verfolgte, war lediglich diejenige, Christen und ihrer Welt am Ende des 20. Jahrhunderts durch einen Rückgriff auf eine frühere Zeit, auf einen noch immer nicht vergessenen christlichen Liederdichter, eine Horizonterweiterung zu verschaffen, die angesichts heute wie früher und bis auf weiteres drängender Fragen und Nöte ihnen dienlich sein könnte. Theologie als „Funktion der Kirche", Kirchengeschichtsschreibung als eine - vielleicht sogar „unentbehrliche" - „Hilfswissenschaft" der Theologie, mag hier ein unnützer Knecht sein, dessen Tätigkeit doch Früchte bringt, dank Gottes Gnade.
Geschichte, Bd. 1, 129. Eben dieser Weg der Aneignung und Zueignung des Heils und ihrer Folgen wurde hier bei Paul Gerhardt untersucht. 18 AUERBACH, Einleitung: Über Absicht und Methode, 1 9 - 2 2 , und im Kontext: 9 - 2 2 , vgl. Mimesis, 509 f.
Literaturverzeichnis Sammelausgaben von Quellenwerken werden unter dem Namen des Herausgebers aufgeführt. Die Abkürzungen halten sich an die der TRE. Bei Angaben der Originaldrucke folgt in der Regel die Angabe der Bibliothek und der dortigen Signatur. Es werden dabei noch folgende Abkürzungen benutzt: SB: Staatsbibliothek Nationalbibl.: Nationalbibliothek HAB: H e r z o g August Bibliothek - mit С wird ein umgedrehtes С in der Originaltypographie wiedergegeben
1. Quellen [Johann Scheffler], Heilige Seelenlust oder Hirtenlieder der in ihren Jesum verliebten Psyche. 1657. (1668), hg. v. Georg Ellinger, Halle 1901 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII.Jahrhunderts 177181). - Sämtliche poetische Werke, hg. u. eingeh v. Hans Ludwig Held, 3 Bde., München 1949-1952. APULEIUS, Apulee, Les Metamorphoses. Texte etabli par D.S. Robertson et trad, par P.Vallette, 3 Bde., Paris 1940-1945. ARISTOTELES, Aristotelis Metaphysica, recognivit brevique adnotatione critica instruxit W. Jaeger, Oxford 1957 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). - Aristotelis De arte poetica über, recognivit adnotatione critica instruxit Rudolfus Cassel, Oxford 1965 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). - Aristotelis Ars Rhetorica, recognivit brevique adnotatione critica instruxit William David Ross, Oxford 1959 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). A R N D T , J O H A N N , Des Geistreichen Theologi Herrn. Joh. Arndts Paradis=Gärtlein / Voll Christlicher Tugenden / Wie solche durch Geistreiche Gebete in die Seele zupflantzen . . . Sondershausen / gedruckt bey Ludwig Heinrich Schönermarcken / Fürstl. Schwartzb. Hof = Buchdrucker. Im Jahr 1708. Erlangen, UB: Thl. XX,234, Beibd.l. - Herrn Joh. Arnds / Weiland General=Superintend, des Fürstentums Lüneburg. Vier Bücher Vom wahren Christenthumb / Heilsamer Busse / hertzlicher Reu und Leid über die Sünde / und wahren Glauben / auch heiligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen: Versehen mit vielen Schrifft=Allegaten / neuen Numern der Paragraphen / und nützlichen Registern. Sondershausen / druckts Ludwig Heinrich Schönermarck / Fürstl. Schwartzb. Hof = Buchdrucker. 1708. Erlangen, UB: Thl. XX,234. - Des Hoch=Erleuchteten Johann Arndens Geistreicher Schriften und Werke I. ANGELUS SILESIUS
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Literaturverzeichnis
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samt einem kurtzen / doch Nöthigen Vorbericht bey dieser ersten und gantz neuen Verbesserten und vermehrten Auflage / Ausgefertiget durch Joh. Heinrich Feustking / D. Hoch-Fürstl. Consistorial-Rath / Hof-Predigern und Beicht-Vater / auch Superintendenten des Fürstenthums Anhalt-Zerbst / Zu finden bei Carl Anthon Davidis. Druckts Samuel Tietze / 1707. [benutzt wurde die 3. Aufl. dieser Ausgabe, erschienen unter dem Titel:] - Pauli Gerhardi Geistreiche Hauß- und Kirchenlieder Nach des seel. Autoris eigenhändigen revidirten Exemplar Mit Fleiß übersehen Auch samt einem kurtzen doch Nöthigen Vorbericht Ausgefertiget von Joh. Heinrich Feustking / D. . . . Wittenberg Bey Gottfried Zimmermann 1723. Erlangen, UB: K.B. 2146. - Dichtungen und Schriften, hg. u. textkritisch durchg. v. Eberhardt v. CranachSichart, München 1957. [zit.: CS] - Geistliche Lieder, hg. v. Gerhard Rödding, Stuttgart 1991. - Die Meditationen ,Lectiones in Natalitys Christi', ,Vota precesque novi anni', ,Precatio matutina', ,Precatio vespertina', bei: H E R M A N N PRIEBE, Eine bisher unbekannte Handschrift von Paul Gerhardt, in: JBrKG 25 (1930), 145-155. - Drei Gelegenheitsgedichte Paul Gerhardts, die in keiner Gerhardt-Ausgabe alter oder neuer Zeit Aufnahme gefunden haben, bei: CHRISTIAN BUNNERS, Paul Gerhardt, 3 6 1 - 3 6 4 : 1. Zur Hochzeit von Johann Michael Zieritz und Elisabeth Dorothea Schultz 1644, ,Also treten wir nun an', 2. Auf den T o d des Brandenburgischen Vizekanzlers Andreas Kohl 1655, ,Wo findet sich doch das bei klugen Weltgemütern', 3. Auf des H[errn] M. Johannis Heintzelmanni, meines hochgeliebten Herrn Collegen, Deutschen Psalter [zwischen 1 6 5 8 und 1 6 6 0 ] , ,David sang in seiner Sprachen'. GRIMMELSHAUSEN, H A N S JAKOB CHRISTOFFEL, Der abenteuerliche Simplicissimus. Vollständige Ausgabe. Nach den Erstdrucken des , Simplicissimus Teutsch' und der ,Continuatio' von 1669. Mit einem Nachwort von Alfred Kelletat und den 22 Abbildungen der ersten Gesamtausgabe von 1683/84, 3.Aufl., München 1992. GRYPHIUS, ANDREAS, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. v. Marian Szyrocki u. H u g h Powell, Bd. 1 ff., Tübingen 1963 ff. (Neudrucke Deutscher Literaturwerke, N F 9 ff.), [zit.: GA] - Gedichte. Eine Auswahl. Text nach der Ausgabe letzter H a n d von 1663, hg. v. Adalbert Eischenbroich, Stuttgart 1968. Gutachten für Johann Georg Ebeling über die Lieder Paul Gerhardts, erstellt von der Theologischen Fakultät Greifswald ( 1 6 6 9 ) , in: CHRISTIAN BUNNERS, Paul Gerhardt, 360 f. Harmonisches Chor- vnd Figural Gesang-Buch Augspurgischer Confession: Worinnen die Psalmen und Geistliche Lieder / vornehmliche Herrn D. Martini Lutheri / und anderer Gottseligen Lehrer begriffen . . . G O T T / Dem Schöpffer aller Creaturen zu Ehren: wie auch Seiner Christlichen Kirch- und Schulen / zu Nutzen: Itzo zum Ersten Mahl Für studierende Jugend / und alle Liebhaber der löblichen Musik / auß bewehrten Authoribus colligirt und zusammengetragen / von M. Laurentio Erhardi . . . [gedr. u. verlegt bei] Matthaeus Kempffer Franckfurt am Mayn 1659. München, SB: Liturg.336. Compendium Theologiae, Nunc paßim auctum Sc Methodi Quaestionibus tractatum a Iacobo Heerbrando Doctore & Professore Theologiae in
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JONAS,
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Quellen
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Geist-, Lehr- und Trostreiche Lieder/ auf allerley Zeit- Freud- und Leid-Fälle der gantzen Christenheit gerichtet/ und mit Voransetzung der Autorum N a m e n / auch theils vortreflich/ schönen Melodien/ Noten und Kupffern gezieret/ zu finden. Derne beygefüget ein Christliches Gebet-Büchlein/ in welchem MorgenAbend- Büß- Beicht- Communion- Räiß- Wetter- Krancken/ und Sterb-Gebet kürtzlich enthalten. Alles zu GOttes E h r / dann auch zu Beförderung frommer Christen H a u ß - und Kirchen-Andachten/ aus vieler geistreicher Lehrer und berühmter Leute Schriften mit besonderem Fleiß zusammen getragen. Mit einer Vorrede Herrn Johann Sauberts/ der H. Schrift Doctoris, Prof. Primär, und Predigers in Altdorf, N ü r n b e r g / In Verlegung Christoph Gerhards und Sebastian Göbels 1677. München, SB: Liturg.1372 t. Ode auf Johann Georg Ebelings Gesamtausgabe der Lieder Gerhardts, verfaßt im Namen des Kollegiums des Berliners Gymnasiums (1666), in: - Pauli Gerhardi Geistreiche Andachten, hg. v. Conrad Feuerlein,)()(IV r -)()(Г\Л. - CHRISTIAN BUNNERS, Paul Gerhardt, 352 f. O P E L , JULIUS O T T O / C O H N , ADOLF (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg. Eine Sammlung von historischen Gedichten und Prosadarstellungen, Halle 1862. O P I T Z , M A R T I N , Geistliche Poemata 1638, hg. v. Erich Trunz, Tübingen 1966 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 1). - Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Behrend, Bd. 1 ff., Stuttgart 1968 ff. (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart), [zit.: Ges. Werke] - Weltliche Poemata 1644, 2 Bde., unter Mitwirkung v. Christine Eisner hg. v. Erich Trunz, Tübingen 1967 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 2). - Gedichte. Eine Auswahl, hg. v.Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1970, bibliographisch ergänzte Ausgabe 1995. OVIDIUS N A S O , PUBLIUS, Amores, Epistulae, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris, [Werke], ex Rudolphi Merkeiii recognitione edidit R.Ehwald, Bd. 1, Leipzig 1916. PETRARCA, FRANCESCO, Le Familiari, Edizione Critica per cura di Vittorio Rossi, 4 Bde., Firenze 1933-1942 (Edizione Nazionale delle Opere di Francesco Petrarca 10-13). - Rime, Trionfi e Poesie Latine, hg. v. Ferdinando Neri u. a., Milano/ Napoli 1951 (La Letteratura Italiana. Storia e Testi). - Das lyrische Werk: Der Canzoniere. Die Triumphe. Nugellae, dt. v. Benno Geiger, Darmstadt u.a. 1958. PFEIFFER, AUGUST, A N T I M E L A N C H O L I C U S , oder Melancholey=Vertreiber/ Welcher denen Candidatis Ministerii und angehenden Predigern P R O M P T U A R I U M C O N S O L A T I O N U M eine Vorraths=Kammer allerhand Trostes in allen leiblichen und geistlichen Anliegen/ daraus der Usus Paracleticus in ihren Predigten zunehmen; allen rechtschaffenen Christen aber A N T I D O T U M TENTATTON U M ein bewährtes Mittel wider alle Anfechtung/ an die Hand giebt, Leipzig 1684. Wolfenbüttel, HAB: Th 2044. PLATON, Piatonis Opera, recognivit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet, 5 Bde., Oxford 1900-1907 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). PLUTARCH, Plutarchi Vitae parallelae, recognoverunt Cl. Lindskog et K. Ziegler, Vol.II, Fasc.l, iterum recensuit Konrat Ziegler, editionem correctiorem cum
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(welche von dem weltberühmten Musico / und dieser Zeit Hochfürstlichen Brunschwigischen Kapell Meister zu Wolfenbüttel / Herrn Martino Colero, mit sehr anmutigen und beweglichen Sangweisen sind außgezieret) bey diesen trübseeligen und recht jämmerlichen Zeiten / allen des gekreutzigten JEsu getreusten Liebhabern / zu sonderbahren Gefallen auch hertzlichem Trost und Erquickung aufgesetzet und wohlmeinentlich herfür gegeben von Johann Rist. Hamburg / In Verlegung Johann Naumans / Buchh. Im Jahr 1664. München, SB: Liturg. 1374x. - Neue Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle / Worinn befindlich Unterschiedliche Lehr- und Trostreiche Lieder / in mancherlei Kreutz / Trübsahl und Wiederwärtigkeit hochnützlich zu gebrauchen / Welche grösseren Theils / auf bekante / und in den Evangelischen Kirchen gebräuchliche / alle mit einander aber / auf gantz neue / von dem fürtreflichen und weitberühmten Musico / Herrn Michael Jakobi / bei der hochlöblichen Stadt Lüneburg wolbesteltem Cantore / so lieb- als künstlich gesetzete Melodien / können gespielet und gesungen werden / Dem allerhöhesten Gott zu sonderbahren Ehren / seiner angefochtenen Kirchen zur kräftigen Erbauung / den auch sehr vielen hochbetrübten Hertzen / in dieser jämmerlichen und gahr elenden Zeit / zum hertzlichn Trost und Erquikkung / wolmeinentlich aufgerichtet und angeordnet von Johann Rist . . . Lüneburg / Gedrukt und verlegt durch die Sternen, Anno M. DC. LIX. [1659]. München, SB: Liturg. 1379 h, Beibd.l. SCALIGER, JULIUS CAESAR, Ivlii Caesaris Scaligeri, viri clarissimi, Poetices libri Septem . . . ad Sylvium Filium. Apud Antonium Vincentinum [Lyon] M.D.LXI. [Nachdruck davon:] - Poetices libri Septem. Faksilime-Neudruck der Ausgabe Leipzig von Lyon 1561 mit einer Einleitung v.August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. - Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst [lat.-dt.], Buch 3, Kap. 1-94, Buch 4, hg., übers., eingel. u. erl. v. Luc Deitz, Stuttgart 1994. SCHARF, J O H A N N , Metaphysica exemplaris, H o c est, Prima Philosophia. Exemplis illustrioribus declarata in gratiam juventutis perspicue proposita & pro captu incipientium formata. Editio Secunda Correctior & Auctior M. Johannis Scharfii Log. & Metaph. Profess, publ. Wittebergae, Sumptibus Viduae & Haered. Zachariae Schüreri Senioris. Anno 1628. Erlangen, UB: Phs.IV,34. SCHEFFLER, J O H A N N [s. Angelus Silesius] SCHIRMER, M I C H A E L , Trawerzeichen, / Johann Georgen Spengler. / Dem Vater zum Trost / Und / Dem lieben und seligen Kindlein / Zum Gedächtnüs / gesetzet / Vom / Μ. Michael Schirmer, Lipsien: / P.L.C. / et / B.Ae. Candidato. / Gedruckt zu Berlin / 1649. den 6ten Wintermonats. / Bey / Christoff Runge. [Angabe bei BACHMANN, Schirmer, 197, Nr. 15, daselbst abgedruckt: 164-167] SCHOONHOVIUS [ S C H O O N H O V E N ] , FLORENTIUS, Emblemata / FLORENTII S C H O O N H O V I I I.C. Goudani, / Partim Moralia / partim etiam Civilia. / Cum latiori eorundem ejusdem / Auctoris interpretatione. / Accedunt et alia quaedam / Poematia in alijs Poematum suorum libris non / contenta. / - / G O U D A E , / A p u d Andream Burier. / M.D.C.XVIII. Wolfenbüttel, HAB: 171 Quodl. 4°, Nachdruck Hildesheim 1975. SEXTUS EMPIRICUS, Outlines of Pyrrhonism. With an English translation by R.G. Bury, Cambridge, Mass. 1961 (Loeb Classical Library). SPENGLER, LAZARUS, Schriften, Bd. 1, hg. u. bearb. v. Berndt Hamm u. Wolfgang Huber, Gütersloh 1995 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 61).
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Personenregister Altenburg, Michael 297 Angelus Silesius / Scheffler, Johann 241, 254, 259 Apuleius 259 Aristoteles 29, 42, 47, 59, 67, 171, 172, 177, 191, 196, 199, 202, 231, 237 Arndt, Johann 21, 25, 27, 109, 110, 115, 122, 130-133, 144, 146, 147, 155, 156, 160, 187, 191, 212, 225, 226, 229, 244, 245, 265, 286, 287, 292 Arnulf von Löwen 21, 241 Auerbach, Erich 123, 253, 265, 328 Augustinus 218, 219, 230, 232, 278 Axmacher, Elke 14, 15, 21, 24, 30, 48, 49, 59, 87, 91, 111, 114, 150, 155-157, 171, 200, 206, 223, 225, 246, 250, 251, 262, 271, 310 Basilius von Caesarea 237 Baur, Jörg 23, 54, 163 Berlin, Isaiah 326 Bernhard von Clairvaux 21, 23, 150, 240, 241, 243-253, 255, 258, 266, 273 Blankenburg, Walter 20, 224, 235, 241 Bodin, Jean 277 Buchner, August 17, 26, 27, 194-210, 218, 231, 256 Bunners, Christian 14, 15, 18-20, 22, 90, 98, 102, 104, 113, 139, 140, 148, 154-156, 158, 170, 194, 207, 208, 214, 219, 224, 227, 228, 230, 235-240 Calov, Abraham 24, 27, 36, 53, 59, 88, 163, 165, 244 Calvin, Johannes 80 Cato Uticensis 217-219, 279, 319 Chemnitz, Martin 24, 29
Chyträus, Nathan 21 Cicero, Marcus Tullius 31, 64, 171, 172, 181, 191, 196, 232 Crenius, Thomas 228 Crüger, Johann 19, 154, 155, 224, 235, 236, 238, 239 Dannhauer, Johann 54, 59 Descartes, Rene 119-121, 325 Ebeling, Johann Georg 18-20, 90, 94, 97, 112, 114, 130, 132, 146, 147, 149, 160, 170, 190, 220, 224, 226, 228, 230, 235-241, 269, 281, 283 Ebert, Jacob 296 Epikur/Epikureer 31-34, 47, 49, 59, 71, 100, 133, 152 Erasmus von Rotterdam 75, 76, 79, 80 Feuerlein, Conrad 142, 170, 224, 226 Feustking, Johann Heinrich 20, 22, 25, 88, 92, 93, 124, 138-140, 145-147, 157, 170, 201, 209, 214, 229, 230, 232, 259, 281, 291 Fleming, Paul 303 Franck, Johann 21, 107, 124 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 17, 18, 287, 310 Gerhard, Johann 16, 21, 24, 25, 27-30, 32-37, 40, 43, 49, 54, 55, 59, 62, 152, 164, 258 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel 231 Gryphius, Andreas 12, 22, 83, 99, 104, 130, 146, 149, 157, 174, 195, 201, 202, 221, 222, 230, 232, 233, 236-238, 241, 255, 256, 268, 277, 280, 282, 284, 288, 293, 294, 309, 312, 313, 318
364
Personenregister
Gustav II. Adolf / Gustav Adolf 17, 286, 296, 297, 299 Hamm, Berndt 155, 156, 327 Hausenstein, Wilhelm 88, 89 Heerbrand, Johannes 24, 29, 59 Heermann, Johann 21, 107, 124, 130, 146, 154, 258, 268, 296, 297 Heinsius, Daniel 300, 302, 307 Hermann Joseph von Steinfeld 241 Heyden, Sebald 21, 149, 208, 222 Hoffmannswaldau, Christian Hofmann von 254, 255, 260 Hollatz, David/Hollaz 53, 59 Horaz / Quintius Horatius Flaccus 195, 198, 218 Hülsemann, Johann 16, 22-27, 83-90, 94, 98, 118, 151, 163, 165, 175, 181, 182, 184, 185, 191, 207, 212, 226, 244, 253 Hunnius, Aegidius 24, 62 Hutter, Leonhard 16, 22-25, 27-83, 86, 88, 100, 102, 105, 107, 109, 113, 114, 118, 120, 123, 133, 134, 139, 140, 154, 156-161, 163, 164, 166, 168, 183, 204, 218, 226, 233, 239, 242, 244, 275, 277, 286, 287, 292, 293, 295, 311 Jonas, Hans 11, 12, 31, 32, 75 Kaufmann, Thomas 16, 23, 26, 283, 286 Krause, Gerhard 15, 123, 124, 149, 168, 203, 242, 259, 265, 267 Krummacher, Hans-Henrik 14, 15, 22, 83, 87, 149, 171, 194, 221, 222, 230, 232, 236-238, 241 Lactantius, Lucius Caelius Firmianus / Laktanz 31 Lehmann, Hartmut 286-288 Leibniz, Gottfried Wilhelm 31, 76, 121, 325 Lipsius, Justus 302, 303, 312 Lohenstein, Daniel Casper von 241, 256 Luther, Martin 12, 16, 20, 21, 23, 27, 28, 54, 57, 60, 62, 67, 68,
70-82, 91, 92, 98, 100, 108, 122, 130, 135, 146, 147, 157, 164, 165, 168, 184, 221, 224, 242, 247, 293 Mahlmann, Theodor 166 Mann, Golo 283, 299, 310 Martini, Jakob 16, 24, 25, 27, 35, 36, 38, 39, 41, 42, 43 Meisner, Balthasar 22-24, 31, 37, 50, 67 Melanchthon, Philipp 27-29, 31, 34, 36, 42, 48-51, 58, 59-60, 62, 64-66, 71, 74, 82, 84, 86, 100, 101, 114, 117, 118, 120, 121, 123, 129, 157, 166, 218, 236-238, 277, 287, 292, 311 Meyfart, Johann Matthäus 23, 26, 84, 138, 288, 296, 314 Moller, Martin 21, 25, 124, 155, 156, 271, 272, 292 Neumeister, Erdmann 201, 229, 232 Ohly, Friedrich 212, 213, 241, 244, 246, 258, 268 Opitz, Martin 194, 197, 199, 201, 202, 208, 209, 215, 218, 220, 231, 260, 276, 286, 300-320 Petrarca, Francesco 252, 259, 260 Plato 212, 214, 217-219, 237 Prasch, Johann Ludwig 214 Quenstedt, Johann Andreas 27, 36, 53, 59, 156 Rango, Conrad Tiburtius 226, 228, 229, 239 Reinitzer, Heimo 18, 22, 87, 146 Rinckart, Martin 207 Ringwald, Bartholomäus 21, 107, 124, 297 Rist, Johann 20, 21, 146, 202, 221, 224, 241, 261, 284, 296 Ritsehl, Albrecht 113, 124, 162, 251, 274 Röbbelen, Ingeborg 87, 90, 93, 121, 151, 161, 164-168, 250 Röber, Paul 16, 21, 25, 139, 208, 209
Personenregister Runge, Christoph 164, 236-238 Scaliger, Julius Caesar 27, 197, 201, 205 Scharf, Johannes 16, 17, 27, 37, 38, 39, 41-43 Schirmer, Michael 216-219, 223, 279 Sparn, Walter 11, 31, 46, 67, 75, 163, 299 Spee, Friedrich von 202, 259 Steiger, Johann Anselm 84, 88, 89, 122, 130, 164, 219, 227, 258 Szyrocki, Marian 27, 195, 201, 203, 232, 256
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Thomas von Aquin 76 Treuner, Johann Philipp 209, 230, 240 Trunz, Erich 23, 89, 122, 215, 218, 240, 288, 296, 301, 302 Venantius Fortunatus 268 Vossius, Gerhard Johannes 26, 27, 171-192, 196, 197, 206, 302, 317 Weber, Max 100, 293 Zeller, Winfried 18, 89, 116, 124, 160, 235
Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommision zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Martin Brecht, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schräder
40 Horst Weigelt Geschichte des Pietismus in Bayern Anfänge - Entwicklung - Bedeutung 2001. VIII, 447 Seiten mit 24 Abbildungen, geb. ISBN 3-525-55824-4 39 Stephan Goldschmidt Johann Konrad Dippel ( 1 6 7 3 - 1 7 3 4 ) Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung 2001. 333 Seiten mit 1 Abbildung, geb. ISBN 3-525-55823-6 38 Eckhard Düker Der Erbauungsschriftsteller Stephan Praetorius (um 1 5 3 6 - 1 6 0 3 ) als Förderer nachreformatorischer Frömmigkeit 2001. Ca. 352 Seiten, geb. ISBN 3-525-55822-8 37 Wolfgang Schöllkopf Johann Reinhard Hedinger (1664-1704) Württembergischer Pietist und kirchlicher Praktiker zwischen Spener und den Separatisten 1999. 232 Seiten mit 1 Abbildung, geb. ISBN 3-525-55821-X 36 Johannes Demandt Johannes Daniel Falk Sein Weg von Danzig über Halle nach Weimar (1768-1799) 1999. 397 Seiten mit 2 Abbildungen, geb. ISBN 3-525-55820-1
35 Willi Temme Krise der Leiblichkeit Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700 1998. 486 Seiten, geb. ISBN 3-525-55819-8 34 Hans-Martin Kirn Deutsche Spätaufklärung und Pietismus Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlichbürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748-1822) 1998. 616 Seiten, geb. ISBN 3-525-55818-X 33 Martin Hirzel Lebensgeschichte als Verkündigung Johann Heinrich Jung-Stilling - Ami Bost Johann Arnold Kanne 1998. 241 Seiten, geb. ISBN 3-525-55817-1 32 Gerhard Schwinge Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung Eine literatur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1795-1816 und ihres Umfelds 1994. 372 Seiten mit einem Frontispiz, geb. ISBN 3-525-55816-3
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Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bei Subskription des Handbuchs erhalten Sie Ermäßigung.
Band I Konkordanz zum Evangelischen Gesangbuch Mit Verzeichnis der Strophenanfänge, Kanons, mehrstimmigen Sätze und Wochenlieder. Erarbeitet und herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland von Ernst Lippold und Günter Vogelsang. 2. Auflage 1997. 572 Seiten, Leinen. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 0 3 1 6 - 4 . Kart. Sonderausgabe. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 0 3 1 7 - 2 Alle wichtigen Stichwörter aus dem Liederteil (Nr. 1-535) des Evangelischen Gesangbuchs sind vollständig u n d übersichtlich aufgelistet. Stichworte mit zahlreichen Belegstellen sind nach Bedeut u n g s - u n d Verwendungsmöglichkeiten des Wortes gegliedert. „Die Konkordanz zum Evangelischen Gesangbuch wird z u m unerläßlichen Arbeitsmaterial des Pfarrers zählen, u n d wird auch die wissenschaftliche H y m n o logie weiterbringen." Frankfurter Allgemeine Zeitung
Band II Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs
Band III
Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Im Auftrag der EKD in Gemeinschaft mit HansChristian Drömann, Christian Finke, Johannes Heinrich, Helmut Komemann, Martin Rößler und Joachim Stalmann herausgegeben von Gerhard Hahn und Jürgen Henkys. Die Liederkunde zum evangelischen Gesangbuch erscheint in etwa 10 bis 15 Heften mit jeweils mehreren Liedinterpretationen. Fachleute aus dem In- u n d Ausland schreiben in dieser Liederkunde in verständlicher Form über Text u n d Melodie. Sie geben A u s k u n f t über die biblischen Bezüge eines Liedes, seinen EntstehungsHintergrund oder die Veränderungen, die ein Text im Laufe der Zeit erfahren hat, u n d geben Hinweise zu A u f b a u u n d Ausf ü h r u n g einer Melodie. Dem interessierten Sänger erschließt sich dadurch auch ein geläufiges Lied noch einmal in ganz anderer Weise. Der F a c h m a n n findet eine fundierte Interpretation u n d erhält durch die vorangestellten Literaturangaben sowie durch Kurzinformationen zu Text u n d Melodie die Gelegenheit zu eigener Weiterarbeit.
Herausgegeben von Wolfgang Herbst. 1999. 364 Seiten, Leinen. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 0 3 1 8 - 0 Leben u n d Werk v o n Personen, die an den Liedern des Evangelischen Gesangbuchs beteiligt waren (Komponisten, Bearbeiter, Dichter, Übersetzer), werden vorgestellt, außerdem die Entstehung wichtiger Gesangbücher in der Geschichte. Ein biografisches Nachschlagewerk f ü r Literaturwissenschaftler u n d Historiker sowie zur Vorbereitung von Liedpredigten u n d Gemeindeveranstaltungen.
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