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German Pages 205 [208] Year 2022
Glasgalaxien
Glasgalaxien Über Avantgarde
Herausgegeben von Jasmin Grande
Glasgalaxien. Über Avantgarde ist Teil des Bauhaus-Jubiläums in NRW. 100 jahre bauhaus im westen ist ein Projekt des NRW-Ministeriums für Kultur und Wissenschaft und der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe. Schirmherrin ist Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen
ISBN 978-3-11-075320-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075345-5 Library of Congress Control Number: 2022941303 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston d|u|p düsseldorf university press ist ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH Einbandabbildung: Anna Westphal: Scherbenbilder, 2021/22 © Anna Westphal Umschlaggestaltung: Katja Peters, Berlin Satz und Bildbearbeitung: Rüdiger Kern, Berlin Druck und Bindung: FINIDR, s.r.o. www.degruyter.com dup.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Glas als verbindendes Element Jasmin Grande — 7 Glasarchitektur als Denkraum von der Moderne bis zur Gegenwart Fabian Korner — 29 Gläser aus physikalischer Sicht Stefan U. Egelhaaf — 45 Scherbenbilder I, 2021/22 Anna Westphal — 55 Buntglas – Prisma – Spiegel Glas und Erkenntnis in der Literatur Eva Wiegmann — 73 Glas – Kunst? Glasmalerei als Beitrag der modernen Kunst Reinhard Köpf — 89 Paul Klee – Hinterglasmalerei Christina Kunze — 111 Glasgalaxien, 2021/22 Anna Westphal Weitere Farbtafeln — 115
Inhaltsverzeichnis
Transparenz im Treibhaus Glas-Metaphorik in Architektur, Literatur und Politik Benedikt Wintgens — 133 Glasgedichte – Kontinuitäten eines Motivs vor und nach 1945 Joey Wilms — 149 Von Fenstern, Spiegeln und globalen Utopien Joe Spicker — 163 Scherbenbilder II, 2021/22 Anna Westphal — 171 Glas – fantastisches Material der polnischen Unabhängigkeit Zu den philosophischen, soziologischen und künstlerischen Verknüpfungen der gläsernen Häuser in Stefan Żeromskis Vorfrühling Jeannine Harder — 189 Kurzbiographien — 203 Bildnachweise — 205
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Einleitung Glas als verbindendes Element
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Zur Titelmatrix
Der Begriff der Galaxie hat verschiedene Dimensionen. Entsprechend ihrer Primärbedeutung stellt eine Galaxie eine Ansammlung vorrangig von Sternen dar. Die Grundlage für diese Sammlung bildet eine sie anziehende Kraft, eine Gravitation. Alexander von Humboldt gab Galaxien den poetischen Namen „Welteninseln“, Welteninseln in einem Meer aus Licht und Dunkelheit, wobei die „Milchstraße“ das Zuhause unseres Planeten ist. Als Kumulus verdichtet eine Galaxie Punkte und setzt sie in ein Verhältnis zueinander. Neben der Astronomie ist uns der Begriff Galaxie vor allem aus der Science Fiction vertraut, einem Genre der Literatur und des Films, das mit einer Potenzierung von Naturwissenschaft und Erzählung spielt. Galaxie steht dann für den Transfer einer Handlung in den Weltraum, an einen Ort, der z. B. andere räumliche und zeitliche Möglichkeiten bietet, um Fragen der Gegenwart in veränderter Perspektive zu erzählen. Eine Galaxie kann dementsprechend als die Summe einer Vielzahl an interdependenten Teilen betrachtet werden, sie verbindet ‚Welten‘ miteinander – durch ein literarisches Narrativ, zwischen zwei Buchdeckeln, durch einen Anfang und ein Ende, durch eine Idee, oder durch die Anziehungskraft einer künstlerisch originären Ikonographie. Glas kann diese Bedeutungsebenen von Galaxie bespielen. Ein Wesensmerkmal seiner Materialität ist die Durchsichtigkeit, sprich visuelle Immaterialität. Diese gleichsam dialektische Verzahnung von prima vista diametral Gegensätzlichem befähigt Glas dazu, die beiden Konstitutenzien der kosmischen Galaxien – Masse und Energie – als prototypisches Pars pro Toto zu verkörpern. Ganz konkret betrachtet kann Glas aber auch in Gestalt einer teleskopisch konfigurierten Linse Einblicke in Galaxien vermitteln. Auf intelligibler Ebene wiederum bietet es sich als Substrat von Utopien an, z. B. im Werk von Paul Scheerbart:
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Das Licht will durch das ganze All / Und wird lebendig im Kristall.1
Das Glashaus von Bruno Taut lässt sich als Glasgalaxie bezeichnen. Als „Reklamepavillon der Glasindustrie“2 auf der Werkbundausstellung 1914 stellte es Möglichkeiten des Bauens mit Glas aus. Wie niemand sonst schöpfte Taut die originären Möglichkeiten der reinen Ausstellungsarchitektur aus, keiner anderen als der ephemeren Bestimmung dieser Gattung verpflichtet – obwohl sein Bau wie nur wenige sonst ganz aus authentischen Materialien, Glas und Eisenbeton, errichtet war.3
Man könnte meinen, dass Bruno Tauts Architektur im Tandem mit Paul Scheerbarts Texten die Titelmatrix dieses Bandes vorgegeben habe. 1 Der Vorhang geht auf. DIE GANZE BÜHNE NUR FARBENLICHT – STRAHLEND GELB sonst nichts kein Boden, keine Decke, keine Wände MUSIK ohne Schwellungen – nur ein Klingen im Raum – langes helles gelbstrahlendes KLINGEN… Von unten tauchen Formen auf und mit ihnen Figuren in der Musik – mit den Formen werden die musikalischen Figuren reicher schwellender brausender farbiger 2 Es taucht langsam von unten auf - - - 3 wächst, wölbt sich, Formen fügen sich frei aus dem Raum an – 4 es wächst weiter und weiter – lebendiges Geschiebe von Formen, bis – 5 es auf dem Boden aufsteht. Fuß eines ungeheuerlichen Bauwerks mit Portal. Das Portal schieb sich auseinander – der ganze Bau öffnet sich und – 6 entfaltet seine Hallen - - vielfarbiges Licht - - - Glocken – 7 schließt sich – dreht sich – ein Erschüttern durchbebt ihn – er neigt sich, droht zu stürzen - 8 zerbricht – aber im Spiel lösen sich die Formen – 9 trennen sich sinkend im Reigen voneinander – zersplittern – 10 werden zu Atomen und gehen im Weltall auf - - - - […] 14 der Kathedralstern kommt näher – dreht sich um sich selbst - - tanzt – 4
Mit dem 1919 erschienen Architekturschauspiel Der Weltbaumeister knüpft Bruno Taut an das Glasmotiv im Kölner Glashaus an und transzendiert es zwischen Bild und Text. Taut und Scheerbart, auch Walter Benjamin wäre hier zu nennen, reflektieren Glas im Kontext von Architektur und utopisch-gesellschaftlichen Dimensionen. Im gleichen Zeitraum deklariert Ernst Haeckel den Kristall aus biologischer Perspektive als Organismus,5 und Rudolf von
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Paul Scheerbart dichtete 16 Verse für das Glashaus von Bruno Taut, von denen sechs am Stützring der Kuppel angebracht wurden. Zitiert nach: Thiekötter, Angelika: Kristallisationen, Splitterungen: Bruno Tauts Glashaus. Eine Ausstellung des Werkbund-Archivs im Martin-Gropius-Bau Berlin, Basel et al.: Birkhäuser 1993, S. 167. Ebd., S. 11. Ebd. Taut, Bruno: Der Weltbaumeister, Hagen: Folkwang 1920. Haeckel, Ernst: Kristallseelen. Über das anorganische Leben, Leipzig: Kröner 1917.
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Einleitung
Laban (er)findet den „Tänzer im Kristall“6 als Sinnbild seines „universalen Raumgedankens“7 und als Grundlage seiner Choreosophie. Bereits 1914 war Paul Scheerbarts Buch Glasarchitektur8 erschienen, Scheerbart hatte den Band Bruno Taut gewidmet und dieser hatte daraus wiederum maßgebliche Impulse für das Glashaus übernommen. Die Titelmatrix von Scheerbarts Band – Glasarchitektur – legt nahe, dass es sich um ein architekturgeschichtliches oder auch -theoretisches Werk handelt. Es gibt keinen Untertitel, der eine andere Zuordnung empfehlen würde. Dies fällt auf, denn Scheerbart gab Texten gerne erweiterte Gattungsbezeichnungen: „Wunderfabelbuch“, „Arabischer Kulturroman“, „Eisenbahn-Roman mit 66 Intermezzos“, „Phantastischer Königsroman“. Der fehlende Untertitel steht offensichtlich für eine Offenheit zwischen den Gattungen, wie Charlotte Kurbjuhn an Wolfgang Pehnt9 anknüpfend hervorhebt: Angesichts stilistischer Parallelen und satirischer Untertöne gerade dort, wo praktisch-technische Realisierungspotentiale zur Debatte stehen, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern eine Trennung von Fiktion und ‚Sachbuch‘ hier angebracht ist, zumal die Glasarchitektur auch als ‚schwärmerische[r] Architekturroman‘ gelesen wird, der zugleich als ‚Testament‘ und ‚Arbeitskatalog‘ für Bruno Taut fungiert habe.10
Mit Paul Scheerbarts Glasarchitektur ist ein Text Teil der Architekturtheoriegeschichte, der nicht offenlegt, an wen er sein Wissen adressiert. Seitens seiner Rezipient*innen sorgte diese disziplinäre Entgrenzung offenbar nicht für Irritationen. So stellt der Architekt und Stadtplaner Ludwig Hilberseimer bereits 1929 in einem kurzen Überblick zur Geschichte der Glasarchitektur in der Zeitschrift des Werkbunds Die Form fest: „Wie denn Paul Scheerbart überhaupt einer der wenigen ist, der viele Möglichkeiten der neuen Architektur vorausgesehen hat.“11 Glas als Motor von Wissenstransfer zwischen den Sparten steht, so Hilberseimer, am Anfang des neuen Potentials von Glasarchitektur seit 1851: Der Kristallpalast in London ist bezeichnenderweise nicht das Werk eines Architekten, sondern eines Gärtners. Die Architekten waren um diese Zeit noch zu sehr durch ihre historisierende Einstellung gehemmt, um die architektonischen Möglichkeiten dieser neuen Materialverbindung zu erkennen und zu gestalten.12
Wenn in diesem Band die Befragung von Glas als Material und Denkbild zum Nachdenken über Avantgarde genutzt wird, so wird Avantgarde hier als progressive Bewegung
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Laban, Rudolf von: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Seifert 1920. Dörr, Evelyn: „Rudolf von Laban. Tänzerische Identität im Spannungsfeld von Kunst, Wissenschaft und Politik“, in: tanz, politik, identität, hrsg. v. Sabine Karoß, Leonore Welzin. Hamburg: Lit Verlag, 2001 (= Jahrbuch Tanzforschung, 11), S. 103–133, hier S. 110. Scheerbart, Paul: Glasarchitektur, Berlin: Verlag der Sturm 1914. Pehnt, Wolfgang: „Nachwort“, in: Glasarchitektur [1914], München: Rogner & Bernhard 1971. Kurbjuhn, Charlotte: „Hinter Glas: Imaginationen des modernen Hauses in utopischen Romanen Paul Scheerbarts und frühen Architekturentwürfen Bruno Tauts“, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, H. 1 (2020), S. 24–49, hier S. 24. Zu Taut und Scheerbart vgl. Ikelaar, Leo: Paul Scheerbart und Bruno Taut. Zur Geschichte einer Bekanntschaft, Paderborn: Igel Verlag Wissenschaft 1996. Hilberseimer, Ludwig: „Glasarchitektur“, in: Die Form (1929), S. 521–522, hier S. 521. Ebd., S. 521 f.
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verstanden, die künstlerisch die Möglichkeiten der Einflussnahme im Kontext der epochalen Verschiebungen der Moderne erprobt. Die Avantgarde der Glasgalaxien stellt eine Art Testverfahren künstlerischer Ideen, Techniken und Strategien dar. Glas und Kristall lassen sich als die Vehikel eines an Utopien orientierten Denkens des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnen. Der vorliegende Band nimmt dies zum Anlass, um über das als Forschungsgegenstand sowohl zur Produktion von Wissen anregende und die Sparten miteinander vernetzende Potential von Glas nachzudenken.
II Zum kulturwissenschaftlichen Themenspektrum von Glas Utopisch, sakral, transparent, kristallin etc. – Glas werden viele Eigenschaften zugeschrieben. Dabei endet das Denkbild nicht mit dem Material, sondern entfaltet weitere Dimensionen, wie z. B. Fenster, Schmuck, Brille. Die Forschung zu Glas und seinen Facetten als Symbol und Material in Architektur,13 Kunst, Literatur14 und Kulturgeschichte15 ist umfangreich, sie stellt einen eigenen Topos der Glasgalaxien dar. Als Grundlage für den vorliegenden Band dienten vor allem die wegweisenden Forschungsarbeiten zur Kunsttheorie und Motivgeschichte von Glas, Gläsern bzw. dem Kristallinen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre von Angelika Thiekötter16 und Regine Prange17 sowie die literaturwissenschaftlichen Beiträge u. a. von Manfred Schneider18 oder Roland Innerhofer19 oder auch die wissensgeschichtlichen Arbeiten z. B. von Ralph Köhnen.20 Anfangs Teil der Entwicklung 13
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Vgl. z. B. die kurze Geschichte der Glasarchitektur von Krawina, Josef: „Architektur und Glas. Technologie und Symbolik eines Materials in der Baugeschichte“, in: Werk, Bauen + Wohnen, H. 12 (1987), S. 24–29 oder den Überblick über Glas in der Architektur von Stacher, Susanne: Sublime Visionen. Architektur in den Alpen, Basel: Birkhäuser 2018, v. a. Kapitel 2 zu „Kristall, Kristallisation“, S. 55–81; Ruhl, Carsten: Vom Kristallinen zum Licht. Architekturvisionen zwischen Expressionismus und Neuem Bauen, in: Forschung Frankfurt 2 (2015), S. 97–100. Vgl. z. B. die Habilitation von Rudke, Tanja, die besonders das Verhältnis von Material und Symbol reflektiert: Herzstein und Wolkenkristall – Eine literarische Mineralogie. Ausprägungen eines Motivfeldes in Romantik, Moderne und Gegenwart, Heidelberg: Winter 2014. Vgl. z. B. Macfarlane, Alan/Martin, Gerry: Welt aus Glas. Kulturgeschichte einer Entdeckung. Übersetzt von Regina Schneider, München: Claassen 2004. Thiekötter: Kristallisationen, Splitterungen; vgl. auch Thiekötter, Angelika/Siepmann, Eckhard: Packeis und Pressglas: von der Kunstgewerbebewegung zum Deutschen Werkbund. Eine wissenschaftliche Illustrierte, Giessen: Anabas-Verlag 1987 (=Werkbund-Archiv, 16). Zur Bedeutung des Werkbundarchivs und seiner Leiterin für die Materielle Kulturgeschichte vgl. Schulze, Mario: Wie die Dinge sprechen lernten: Eine Geschichte des Museumsobjektes 1968–2000, Bielefeld: Transcript 2017, S. 263–334. Prange, Regine: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Zur Reflexion des Abstrakten in Kunst und Kunsttheorie der Moderne, Hildesheim et al.: Olms 1991 (=Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 63). Schneider, Manfred: Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche, Berlin: Matthes & Seitz 2013. Innerhofer, Roland: „Glas als Medium und Metapher. Funktionen eines Materials in der Literatur der Moderne“, in: Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung, hrsg. v. Knut Hickethier, Katja Schumann, Paderborn: Fink 2007, S. 155–167. Köhnen, Ralph: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, München u. a.: Fink 2009.
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Einleitung
der Materiellen Kulturwissenschaft stellen sie aktuell eine Art Nachbarnarrativ dar, das den Fokus auf die Poetizität bzw. Kunstsymbolik21 des Materials bzw. Zustands von Glas/Gläsern legt und seltener auf einzelne Glasobjekte.22 Manfred Schneider eröffnet seine Monographie über den Transparenztraum23 mit der Geschichte von Momos als Schiedsrichter in einem Streit zwischen Zeus, Prometheus und Athene über die Frage, wer kunstfertiger sei. Doch Momos, so referiert Schneider den antiken Mythos, läuft den Erwartungen, dass er einen Sieger ernennen würde, zuwider, indem er alle Entwürfe kritisiert: am Stier, dass er die Hörner nicht an der Brust trägt, um ihre Stoßkraft zu intensivieren; am Haus, dass es nicht über Räder verfüge, und somit auf einen Ort festgelegt ist und am Menschen, dass dieser kein Fenster habe, mittels dessen man verstehen könne, wie und warum er was täte. Schneider nimmt damit das fehlende Fenster zum Ausgangspunkt, um das kulturgeschichtliche Verhältnis zu Glas in den Kontext einer Suche nach Erkenntnis zu stellen – den Traum von der Transparenz zu erkunden. Regine Prange hat in ihrer Dissertation über Das Kristalline als Kunstsymbol24 die „kunstimmanente Funktion des Kristallinen in der Entwicklung zur Moderne“ untersucht. In der Befragung der rezeptions- und produktionsästhetischen Facetten des Kristallinen setzt sie in der Romantik an, zeigt die synchronen Verschränkungen, z. B. in der Meister-Eckhart-Rezeption bei Taut auf, und arbeitet über den geschichtspessimistischen Ansatz Arnold Gehlens bis in die Postmoderne an der Frage nach dem elementaren Potential des Kristallinen in der Kunst. In der Literaturwissenschaft stehen vergleichbare Fragen nach der Poetizität von Glas, nicht dem Kristallinen, im Fokus, so z. B. bei Roland Innerhofer in seinem Aufsatz „Glas als Medium und Metapher. Funktionen eines Materials in der Literatur der Moderne“,25 der aber über die Matrix Glas zu anderen Objektreferenzen und damit poetologischen Erkenntnissen kommt: „Glas gehört seit dem 19. Jahrhundert zu den alltäglichsten Materialien. Dennoch bleibt an ihm immer noch ein Rest von Transzendenz haften. Wie wird dieser Widerspruch in einem Material zum Element der Poetik? Wie wird Glas zum Material der Literatur?“26 Neben dem wissenstheoretischen Spektrum von Glas weist Innerhofer einen Bruch in der Glasmetaphorik nach dem Ersten Weltkrieg nach. Vor dem Ersten Weltkrieg ist „Glas noch vornehmlich Medium einer Ästhetisierung und Theatralisierung 21
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Der Begriff Kunstsymbol im Glasdiskurs wird von Regine Prange eingeführt, die ihn von Gottfried Semper übernimmt: Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, Zürich: Verlag von Meyer & Zeller 1856. Auch wenn das Handbuch Materielle Kultur nicht nur von Objekten, sondern eben auch von Materialien ausgeht, finden sich wenige Hinweise, die vorgestellten Positionen auf einen vom Material her gedachten und nicht vom einzelnen Objekt und dann erst zum Material gedachten Ansatz zu übertragen. Vgl. Samida, Stefanie/Eggert/Manfred K. H./Hahn, Hans Peter (Hrsg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart: J. B. Metzler 2014. Das von Martina Wagner gegründete und aktuell von Petra Lange-Berndt weitergeführte „Archiv zur Erforschung der Materialikonographie“ geht begrifflich weiter. Schneider, Transparenztraum. Prange, Das Kristalline als Kunstsymbol, S. 2. Innerhofer, Glas als Medium und Metapher, S. 155–167. Ebd., S. 155.
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der Welt“, während es im Anschluss Teil der ‚Entzauberung‘ ist, ein „Instrument, mit dem Gegenstände und Lebewesen aus ihren vertrauten, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgeschnitten, räumlich und zeitlich isoliert werden“. Dieser Bruch bleibt Glas und seiner Verwendung durch die Avantgarde inhärent: „In seiner Transparenz visualisiert es das Phantasma der Reinheit und der Wiederherstellung von Totalität, in seiner Zerbrechlichkeit die fragmentierenden, sinnauflösenden Kräfte der Moderne.“27 So sehr Scheerbarts und Tauts Glasutopien dessen produktives Potential betonen und als Vorschlag angelegt sind, den sowohl religiösen, ästhetischen und epistemologischen Bruch der Moderne zu kitten – „Die Ästhetik wird zum Refugium der Metaphysik“28 – Glas ist selbst Teil der Grenze, auf der es die Schichten seiner semantischen und alltagspraktischen „Überlagerungen“29 transportiert. Glas ist eine Art Kippfigur, die sich in den 1930er Jahren verändert, zerbricht, blind wird. Die Ambivalenz, die aktuellen Glas-Metaphern innewohnt, z. B. dem ‚Gläsernen Patienten‘ oder auch der ‚Gläsernen Wand‘ verweist darauf, dass die visuelle Immaterialität von einer materialen Grenze begleitet ist. Überlappungen zwischen der objektfokussierten Materiellen Kulturforschung30 und der ‚Glasforschung‘ seit Mitte der 1980er Jahre weist z. B. das von Annette Cremer in Gießen verantwortete Forschungsprojekt GLAS31 auf. Auch wenn das Projekt mit seinem Ausgangspunkt, der Erschließung einer Sammlung von Glasobjekten, „die zwischen 1600 und 1800 auf dem Gebiet der Grafen bzw. Fürsten von Schwarzburg in Thüringen hergestellt, gehandelt, gekauft und genutzt wurden“,32 sich als Beitrag aus der Materialen Kulturforschung versteht, legt die Befragung der Nutzung von Glas – auf/bewahren, durch/schauen, ver/ zieren, durchleuchten, forschen, erstaunen – Referenzen zu den kunst- und wissenstheoretischen sowie poetologischen Schwerpunkten der Forschung von u. a. Thiekötter, Prange oder Schneider nahe. Eine besondere Nähe zur Materialen Kulturforschung zeigt sich in der wissenstheoretischen Ausrichtung der Glasforschung und ihrer Objekte: „Die hermeneutische Voraussetzung, Objekte als Quellen zu betrachten und nutzen zu können, liegt in ihrer Qualität als Informationsspeicher.“33 Dabei unterstützt die Forderung nach Interdisziplinarität in der Materialen Kulturforschung wie im vorliegenden Band der Glasgalaxien die wissenstheoretische Herangehensweise – die Wissenspoetik des Materials schafft Vergleichbarkeit über die disziplinäre Herangehensweise hinaus.
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Ebd., S. 156. Ebd., S. 159. Ebd., S. 155. Vgl. Cremer, Annette C.: „Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland“, in: Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, hrsg. v. Annette Caroline Cremer, Martin Mulsow, Köln: Böhlau 2017 (=Ding, Materialität, Geschichte 2), S. 9–21. https://objekt-glas.de/de/projekt.html, zuletzt: 23.05.2022. Ebd. Vgl. Cremer, Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland, S. 14.
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Einleitung
1 Musterfabrik auf der Werkbundausstellung 1914, Architekt: Walter Gropius.
Auch Publikationen zum Werkstoff Glas gehen grundsätzlich über einen rein auf das Material ausgerichteten Zugriff hinaus und reflektieren z. B. den Begriff und seine Alltagsdimensionen.34
III Glas und Moderne Wenn auch Bruno Tauts Glashaus die „Hauptattraktion der Ausstellung“35 gewesen sein mag, müssen als Sensation der Glasarchitektur auf der Werkbundausstellung 1914 mindestens ein, eigentlich zwei36 weitere Gebäude genannt werden: die Musterfabrik von Walter Gropius (Abb. 1), deren Glaswirkung Carsten Krohn ausführt: Die kontinuierliche Glashaut umschloss die exponierten runden Treppenläufe membranartig mit ebenfalls gerundeten Scheiben. Während die repräsentative öffentliche Seite des Gebäudes mit monumentalem Eingangsportal und langem Erschließungsflur im Obergeschoss durch eine monolithische Fassade abgeschottet wurde, öffnete sich der Bau mit den privateren, extrem hohen Arbeitsräumen in einer maximalen Weise. Der Weg der Besucher von sehr dunklen und mit
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Vgl. Schaeffer, Helmut A./Langfeld, Roland: Werkstoff Glas: Alter Werkstoff mit großer Zukunft, Berlin: Springer Verlag 2014 (=Technik im Fokus), vgl. auch Brownell, Blaine: Transmaterial: a catalog of materials that redefine our physical environment, Princeton: Princeton Architectural Press 2006 (zu Glas insbesondere S. 145–168). Thiekötter, Kristallisationen, Splitterungen, S. 11. Als drittes Gebäude, das Glas als Baustoff zentral setzte, wäre die Futuristenkneipe zu nennen, vgl. Thiekötter, Angelika: „Futuristenkneipe. Sant’Elia und ‚Das zarte Haus in Glas und Farbe‘“, in: Thiekötter, Kristallisationen, Splitterungen, S. 23–26.
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Wand- und Deckenbildern sowie Figurenreliefs geschmückten Bereichen hin zu den lichtdurchfluteten „sachlichen“ Arbeitssälen war dramatisch inszeniert.37
Auch wenn Glas der elementare Baustoff für beide Gebäude ist, könnte die ästhetische Gestaltung von Musterfabrik und Glashaus nicht weiter auseinander klaffen. Hier die reduzierte, durch Größe und Klarheit monumental wirkende Musterfabrik, dort das dem schillernden Kristall, dessen Komplexität, Farbigkeit und Vieldeutigkeit folgende Glashaus. Einmal Symbol des Fortschritts, einmal „Refugium der Metaphysik“38. Beide Bauten stehen für den Perspektivwechsel der Moderne. Ralph Köhnen begründet diesen Bruch an Walter Benjamin anknüpfend mit einer Abgrenzungsbewegung gegenüber dem 19. Jahrhundert, die das Vertraute als Zitat wiederholt, um es umzudeuten: Das Neue ist im Alten, mit dem es revolutionär bricht, präfiguriert. Der Rausch, den die Architektur des 19. Jahrhunderts mit der Verschränkung von Innen und Außen bewirkt hat, weicht in der modernen Architektur einer Nüchternheit, die genau durch diese Verschränkung zustande kommt.39
Dieser Facettenreichtum in der Glasarchitektur ist nicht zufällig. Die „sich wandelnden, komplexen Überlagerungen“, in denen sich die „historische Semantik manifestiert“,40 sind Teil der Vernetzung der symbolischen und materiellen Eigenschaften von Glas. Isobel Armstrong hebt, ausgehend vom 19. Jahrhundert, den Dualismus hervor, der dem Material innewohnt: Glass is an antithetical material. It holds contrary states itself as barrier and medium. The riddles it proposes arise from the logic of its material and sensuous nature. ‘My prison is transparent’, Bentham said, claiming modernity for his panoptical Glass prison. But transparent consciousness, Hegel, his contemporary, said, equally claiming modernity, is suspect […].41
Die Künstlerin Ilana Salama Otar ist der Qualität von Glas, Transparenz zu meinen, zu verkörpern und nicht zu sein, 2013–2014 in ihren Encapsulism genannten Arbeiten nachgegangen. In mundgeblasenen Glasgefäßen archiviert und exponiert sie Materialien, Objekte. „The purpose of such a frame is to provide us with the space and time to catch our breath and to focus our concentration on the flux between the archeology and utopia of personal history and political experience.“42 Glas fungiert hier symbolisch und materiell als Membran, die Objekte weisen darauf hin, dass diese Membran sich selektiv zu dem Material auf beiden Seiten verhält. Im Rahmen des Symposiums zu den Arbeiten Ilana Salama Otar in der Psychoanalytischen Bibliothek in Berlin arbeitete der Berliner Psychoanalytiker Masaaki Sato die „innere Verwandtschaft [von Glas und Schrift] als Kulturprodukt“ 43 heraus: beide 37 38 9 3 40 41 42 43
Krohn, Carsten: Musterfabrik Werkbundausstellung: Köln, Deutschland 1913–14 (mit Adolf Meyer), zerstört, in: Walter Gropius: Bauten und Projekte, Berlin, Boston: Birkhäuser 2019, S. 40–43, hier S. 40. Innerhofer, Glas als Medium und Metapher, S. 159. Köhnen, Das optische Wissen, S. 52. Innerhofer, Glas als Medium und Metapher, S. 155. Armstrong, Isobel: Victorian glassworlds: glass culture and the imagination 1830–1880, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 11. https://ilanasalamaortar.org/W17/io49W17_docu.html, zuletzt: 23.05.2022. Masaaki Sato: Zum Gedächtnis in Glas und Schrift, pdf vom 23.02.2013, http://www.msato.de/texte/ Sato_Zum%20Gedaechtnis%20in%20Glas%20und%20Schrift.pdf, zuletzt 23.05.2022.
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Einleitung
abstrahieren zwischen einem konkreten Gegenstand und der Vorstellung davon. „Beide […] bewahren in sich das Gedächtnis der trennenden Kraft, die sich durch Erinnerung nicht bestätigen lässt.“44 Anders als Erinnern bezeichnet das Gedächtnis eine Trennlinie, deren davor und dahinter benennbar ist, während die Linie selbst unsichtbar bleibt. Glas formuliert ein Innen und Außen, ohne die Trennlinie zu offenbaren, jeder Aspekt dieses Transfers folgt anderen Abstraktionsbewegungen, die sich der Band zunutze macht, um zu fragen, wie sich über das Erkenntnismaterial Glas die Wissensbereiche verschieben. Dieser zunächst abstrakte Ansatz wird z. B. dort klarer, wo dem Kristallinen ein eigenes, kunst- und literaturtheoretisches Potential zugeordnet wird, wie z. B. im Kontext des Abstrakten: Der Verlust des Sujets wird aufgehoben durch die Verkleidung der ästhetischen Form zum ‚Sujet‘, ikonographische Bedeutungen wandeln sich zu Kunstsymbolen. Diese im Topos des Kristallinen vollzogene Umkehrung der Zeichenfunktion, die den Bruch zwischen ästhetischer Form und kodifizierten Inhalten aufzuheben trachtet, ist zudem Grundlage einer Kritik an der Ikonologie, deren Verwurzelung im Expressionismus und seinem Versuch zur Assimilation an die ältere gegenständige Kunst […].45
Unsere Kulturgeschichte bis in die Gegenwart wäre, so legt die Argumentation dieser Forschung nahe, ohne das Kristalline, ohne Glas eine andere, Denkbild und Material Glas sind so präsent, dass sie als konstitutiv verstanden werden können: Keine ästhetische Avantgarde ohne Glas.
IV Glasgalaxien im Rheinland Mit seiner materiellen, räumlichen Dimension wird Glas über die abstrakte Idee hinaus regional und wirft Fragen nach dem kultursoziologischen und kulturtopographischen Kontext dieser Ideen auf, wo und wie entstanden sie, in welchem Umfeld wurden sie entwickelt, warum hier und nicht dort? Grundlegend für Bruno Tauts Glasvisionen war der ‚Hagener Impuls‘. Im Folkwang Verlag in Hagen erschienen neben dem Weltbaumeister (1920) auch Tauts Zeichnungen und Texte zu Alpine Architektur (1919) und Die Auflösung der Städte (1920). Carl Ernst Osthaus war nicht nur an der Konzeption der Werkbundausstellung beteiligt, durchgängig stand er Bruno Taut mit Rat zur Seite.46 Der Mäzen, Sammler und Netzwerker Osthaus begleitete mit seinem Engagement für die Kunst, Architektur und Kultur des frühen 20. Jahrhunderts die Entstehung einer Moderne zwischen Rhein und Ruhr, die die Dichte an glasgalaktischen Werken zwischen Köln und Hagen nicht zufällig erscheinen lässt:
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Ebd. Prange, Das Kristalline als Kunstsymbol, S. 2. Vgl. zur Unterstützung von Bruno Taut durch Carl Ernst Osthaus vgl. Ikelaar, Geschichte einer Bekanntschaft, S. 53 f.
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In einer Unterhaltung mit Carl Ernst Osthaus, dem ausgezeichneten Gründer und Leiter des Folkwang-Museums in Hagen i. W., fragte ich einst, warum er sein Museum in Hagen errichtet habe. Er zögerte ein wenig mit der Antwort, wie um unter mehreren Motiven das Entscheidende auszusuchen, oder auch – er ist geistreich genug es zu tun – um das für mich passende auszusuchen, und sagte dann, eigentlich hätte er es getan, um die Berliner zu ärgern.47
Auch wenn sich Carl Ernst Osthaus in seiner Antwort auf den öffentlichen Brief des Berliner Kulturkritikers Karl Scheffler nicht mehr an die Situation erinnert,48 so veranschaulicht die Anekdote die Relevanz des Regionalen für die Moderne. Das Rheinland verfügt über eine eigene Dimension von Glasgalaxien, wie Reinhard Köpf in seinem Beitrag „Glas – Kunst? Glasmalerei als Beitrag der modernen Kunst“ in diesem Band zeigt, indem er Fragen der Kunstsoziologie, Produktionsästhetik und Stadtgestaltung miteinander vernetzt. Während sich an Köln eine intensive Rezeption und Forschung zur Glasarchitektur bindet, setzt Düsseldorf eigene Schwerpunkte im Bereich Glasmalerei und Glasproduktion, die an verschiedenen Orten in der Stadt wirksam werden und in die Region hinausstrahlen. So prägt das Kölner Glasgedächtnis die Werkbundausstellung, die mit Walter Gropius‘ Musterfabrik und Bruno Tauts Glashaus zwei Möglichkeiten von Glasarchitektur auf einem Gelände bündelte. Glasarchitektur wird nach dem Zweiten Weltkrieg in Bonn weitergeschrieben, z. B. im Kanzlerbungalow von Sepp Ruf. In der Düsseldorfer Kunstakademie richtete 1908/09 der als Professor für kirchliche Monumentalkunst neu berufene Josef Huber-Feldkirch Glas- und Mosaikwerkstätten ein.49 Das heutige Glasmuseum Hentrich in Düsseldorf besteht zum einen Teil aus der Sammlung an Glaskunstwerken des Namensgebers, Helmut Hentrich, zum anderen aus den Glasobjekten des Kunstgewerbemuseums, das in Düsseldorf von 1883–1927 bestand. Die hohe Präsenz an Glasindustrie liegt jedoch in der Gerresheimer Glas AG begründet, der „weltgrößte Hohlglashersteller […], [der] den europäischen Verband der Flaschenproduktion ins Leben rief, um die automatisierte Flaschenproduktion nach Europa zu holen, und mit den Gerrix-Einkochgläsern das Synonym des Wirtschaftswunders in jedem Haushalt wurde.“50 In Düsseldorf gab es sogar eine Dialektinsel im Umfeld der Glashütte, das Hötter Platt.51 Auch wenn die Glasproduktion 2005 eingestellt wurde, hat die Firma bis heute einen Sitz in Düsseldorf und ist
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Scheffler, Karl: „Das Rheinland und Berlin“, in: Feuer (1919/1920), S. 47–50, hier S. 47. Osthaus, Carl Ernst: „Offener Brief an Herrn Karl Scheffler in Berlin“, in: Das Feuer (1919/1920), S. 267–270. Vgl. zur Geschichte der Abteilung für christliche Kunst und der Relevanz für die Geschichtsschreibung der Kunstakademie: Grande, Jasmin: „Christliche Kunst und ihre Institutionen 1919. Modernen in Köln und Düsseldorf“, in: Ein neuer Blick auf Weimar im Westen. Chancen, Belastungen und Erinnerungen in Rheinland und Westfalen, hrsg. v. Sandra Franz, Guido Hitze, Stefanie van de Kerkhof, Sabine Mecking, Georg Mölich und Julia Paulus (erscheint 2022). Henkel, Peter: 150 Jahre Glashütte Gerresheim, hrsg. v. Förderkreis Industriepfad Düsseldorf-Gerresheim e. V., Düsseldorf: Droste 2014. Honnen, Peter/Forstreuter, Cornelia: Sprachinseln im Rheinland. Eine Dokumentation des Pfälzer Dialekts am unteren Niederrhein und des „Hötter Platt“ in Düsseldorf-Gerresheim, Köln: Rheinland-Verlag 1994 (= Rheinische Mundarten, Band 7).
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Einleitung
in allen Fragen der Glasproduktion und -reflexion ansprechbar.52 Glas spielt im Düsseldorfer Stadtgedächtnis eine besondere Rolle, da es Teil der Familiengeschichten und der Stadtraumerfahrung der Kindheit ist. Aktuell wird das ehemalige Gelände der Firma zum „Glasmacherviertel“ umgebaut. Seit 1970 ist Düsseldorf alle zwei Jahre Veranstaltungsort der Glasstec – der internationalen Messe für die Produktion und den Vertrieb von Glas. Es ist die größte internationale Messe für Glas.53 Seit 1936 besteht in Düsseldorf eine Glaser-Innung, Stadt und Region weisen eine hohe Dichte an glasverarbeitenden Betrieben auf und die Glasmalerei Derix hat ihren Sitz seit 1941in Düsseldorf, nach 1945 realisiert sie Entwürfe von Georg Meistermann, Jochen Poensgen und Hubert Spierling. 1949–1951 wurde in Düsseldorf das Haus der Glasindustrie nach dem Entwurf Bernhard Pfaus realisiert, der selbst Vorträge und Aufsätze zu Bauen mit Glas publizierte.54 Wie lässt sich aber nun, über die Aufzählung der Institutionen und über die Architektur hinaus das Denkbild Glas mit dem Material in seiner Produktion und als ein die Stadtgeschichte und -kultur mitgestaltende Größe verknüpfen? Denn dass Glas dort, wo es am Ort präsent ist, auch das Nachdenken über sein poetisches Potential befördert, liegt nahe. Diese Frage lässt sich mit Blick auf Düsseldorf bisher nur partiell beantworten, so gibt es einzelne repräsentative Glasorte in der Stadt, wie z. B. die großen Wandmosaike von Johan Thorn Prikker im Ehrenhof Tag und Nacht, die im Rahmen der GeSoLei entstanden.55 Es gibt jedoch Glasfenster im Werk Johan Thorn Prikkers, die präsenter in der kollektiven Erinnerung sind, wie z. B. das monumentale Glasfenster im Hagener Hauptbahnhof „Der Künstler als Lehrer von Handel und Gewerbe“ (1911) oder die Fenster für die Kapelle des Neusser Gesellenhauses aufgrund der Geschichte ihres Verbots durch den Erzbischof 1912.56 Auch in der regionalen Kunst- und Kunstakademiegeschichte ist Johan Thorn Prikker präsent, 1910 lud ihn Osthaus nach Hagen ein, von 1924–1926 lehrte er an der Düsseldorfer Kunstakademie, 1926 wurde er Leiter der Abteilung für Mosaik, Glasmalerei und Wandbildentwurf der Kölner Werkschulen.
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Über die Relevanz von Glas für die Stadt Düsseldorf, z. B. in Form markanter Glasorte in der Stadt, in dem sich die Wege in der Kindheit bewegten, hat Marion Stolzenwald, Senior Manager Corporate Communication, in verschiedenen Telefonaten 2019 berichtet. „Hier werden die Trends gesetzt, die die Glas-Zukunft bewegen.“ Vgl. https://www.glasstec.de/de/ Home/Home_2020/Das_ist_die_glasstec, zuletzt: 23.05.2022. Vgl. Jürgen Wiener: „Einführung in die Architekturgeschichte Düsseldorfs“, in: Roland Kanz, Jürgen Wiener (Hrsg.): Architekturführer Düsseldorf, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2001, S. XI–XXII. Vgl. zu Johan Thorn Prikker die Monographie von Heiser, Christiane: Kunst, Religion, Gesellschaft. Johan Thorn Prikker. Das Werk zwischen 1890 und 1912. Amsterdam: Freie Universität 2010. Vgl. Heiser, Christiane: „Mystische Schau, Kaleidoskop oder moderne Kunst? Die Glasfenster in der Kapelle der Kölner Sonderbundausstellung 1912 und die Durchsetzung einer religiösen Moderne im Rheinland“, in: Rheinisch! Europäisch! Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Georg Mölich, Essen: Klartext 2013, S. 215–233.
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Jasmin Grande
V Zur Genese des Bandes „Blaupause“57 Als 2019 das Bauhausjahr in NRW gefeiert wurde, löste die Beteiligung NRWs unter dem Titel #Bauhaus100imWesten Erstaunen aus. Weimar, Dessau und Berlin waren die Orte, an denen das Bauhaus bestand. „Das Bauhaus hat in Nordrhein-Westfalen nur wenige Spuren hinterlassen“, so Andreas Rossmann in der FAZ, „[t]rotzdem feiert man auch dort den hundertsten Geburtstag der Reformschule der Künste – mit Anbiederung und Geschichtsklitterungen.“58 2019 wurde die Frage nach der Perspektive auf das Bauhaus – Geschichte oder Gegenwart – im bundesweiten Bauhausjahr besonders hervorgehoben. Welche Lesart war angemessen zur Erinnerung an das Bauhaus: das historische Ereignis oder ein aktualisiertes Erkenntnismodell für gesellschaftlichen Wandel? Der Umgang mit dem Bauhaus als Impuls für die Gegenwart führte zu einer Vielzahl innovativer Projekte. Nordrhein-Westfalen hatte schon zur Zeit der jungen Bundesrepublik ein intensives Verhältnis zum Bauhaus,59 auch wenn die historischen Orte des Bauhaus‘ nach 1949 nicht in der BRD lagen. 2019 war NRW zumindest ein sehr präsenter Ort des Jubiläums: 485 Veranstaltungen fanden unter der Federführung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW und der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe statt. Im Vergleich dazu: 468 Veranstaltungen zum Bauhausjahr fanden in Thüringen, 395 in Sachsen-Anhalt und 373 in Berlin statt.60 Neben der Summe an Veranstaltungen zeigt die Graphik „Veranstaltungen der Bundesländer“ im Jubiläumsarchiv der Bauhauskooperation die Zahl der Veranstaltungen je 1 Mio Einwohner*innen. NRW liegt hier weit hinter Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin zurück. Eine Berechnung, die nicht nur versichert, dass das Bauhaus 2019 nicht nach NRW umgezogen ist, sondern die auf den Anspruch des Jubiläums verweist: alle sollten sich beteiligen können. Möglichst große Offenheit zeigte z. B. die Veranstaltungshomepage des Bauhausjubiläums, in deren Kalender kaum kuratorische Eingriffe bei der Anmeldung von Veranstaltungen erfolgten. „Wir sind das Jubiläum“ stand auf den Visitenkarten, die am 28.09.2018 anlässlich des zweiten Netzwerktreffens in Berlin für alle Kooperationspartner*innen angefertigt wurden. Glas spielte als Baumaterial in verschiedenen Projekten eine Rolle, so zeigten das UNESCO-Welterbe Fagus-Werke in Kooperation mit der Glasfabrik in Amberg die 57
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Schon im Anlauf auf das Bauhausjahr erschien 2017 der Roman „Blaupause“ von Theresia Enzensberger (München: Carl Hanser). Die Titelmatrix verweist einerseits auf den Inhalt, kann aber in der Intensität der Auseinandersetzung mit der Zeit vor 100 Jahren 2019 auch als Vorlage gelesen werden, mit der Erkenntnisse über die Gegenwart gewonnen werden können. Rossmann, Andreas: „Trittbrettbauherren bitten zur Party“, in: FAZ, 19.12.2018. Vgl. z. B. die Verweise auf das Bauhaus als Impulsgeber für Bauprojekte der „Bonner Republik“ in: Reuschenbach, Julia: Nur ein Provisorium? – Bonner Hauptstadtarchitektur seit 1949, in: https://www. bpb.de/themen/deutschlandarchiv/218089/nur-ein-provisorium-bonner-hauptstadtarchitektur-seit1949/#footnote-target-19, zuletzt: 23.05.2022. Vgl. die Graphik „Veranstaltungen in den Bundesländern“ unter: https://www.bauhauskooperation. de/kooperation/jubilaeumsarchiv/das-war-100-jahre-bauhaus/, zuletzt: 23.05.2022.
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Einleitung
Ausstellung „Der Arbeit Paläste bauen – Die erste und die letzte Fabrik von Walter Gropius“, das Stadtmuseum in Jena zeigte „Leuchten der Moderne. Beleuchtungsglas in der Bauhauszeit“ und in Chemnitz wurde ein internationaler Marianne Brandt Wettbewerb ausgerufen „Ich bin ganz von Glas“, der in einer Ausstellung der nominierten und prämierten Arbeiten aus Glas mündete. Auch Leipzig griff das Thema Glas auf „Lichtung Leipzig. Glasmalerei der Gegenwart von Leipziger Künstlern“. Alle, vor allem jedoch das Industriemuseum in Chemnitz knüpften an die Fragen an, ob „Künstler und Gestalter mit den Licht- und Transparenzvisionen der klassischen Moderne und der Bauhäuser heute noch etwas anfangen“ können: „Was bedeutet der einst so visionär aufgeladene Werkstoff“?61 Zum Projekt: Idee, Kontext und Stationen Auch an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entstand die Idee, Glas ins Zentrum eines Nachdenkens über die Begegnung der Jahre 1919 und 2019 zu setzen und in der Befragung des Stoffs / Materials / Symbols / Denkbilds die utopielastige Verdichtung des Jahrhundertspiegels im Bauhausjahr nach den Facetten ihrer Dauer über hundert Jahre hin in die Gegenwart zu entfalten. (Abb. 2 und 3, S. 118, 119) Anlass zu diesem Nachdenken bot das Projekt „Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein inter- und transdisziplinäres Bildungs- und Forschungsprojekt im Bauhausjahr 2019“, das gemeinsam von mir und Angela Weber, Essen, im Rahmen von #Bauhaus100imWesten angestoßen wurde. Die „Glasgalaxien“ setzten das Machen/faire aus dem Zitat Victor Hugos – „De quoi demain sera-t-il-fait“62 – in Form einer Arbeit zu „Glas“ und seinem semantischen Feld sowie zum Material in den Fokus. Intern gab sich das damalige Team der „Moderne im Rheinland“,63 zu dem Zeitpunkt noch An-Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, den Namen „Glassik“, auf das Spannungsfeld kanonischer und avantgardistischer Diskurse verweisend. Dabei ging es nicht vornehmlich um die Befragung und Fortführung der Glasrezeption durch die Architekt*innengeneration zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre schreibenden Freunde, sondern darum, das Verhältnis von Material und Symbol über 100 Jahre zu entfalten. Schließlich könnte nichts das Misslingen des Vorhabens der Gläsernen Kette deutlicher machen als der historische Transfer des Denkbildes Glas auf die Novemberprogrome 1938 als „Reichskristallnacht“.64 Im Projekt der Glasgalaxien 2019 interessierte insbesondere das
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Vgl. die Einträge im Jubiläumsarchiv, hier z. B. Chemnitz: https://www.bauhauskooperation.de/veranstaltungen/veranstaltungsdetails/1101/, zuletzt: 23.05.2022. Das Zitat ist Victor Hugos Gedicht „Napoleon II“ entnommen. Auch Jacques Derrida und Elisabeth Roudinesco verweisen auf dieses Zitat in ihrem 2001 publizierten „Dialog: De quoi demain sera-t-ilfait?“. Teil von Glassik und der Grund für den Erfolg der Unkonferenz waren: Niels Baumgarten, Maike Beier, Fabian Korner, Michael Reucher, Joe Spicker und ich. Vgl. zum Fehlen des Begriffs im offiziellen Sprachgebrauch bis auf ein Beispiel und zur Relevanz des Alltagssprachgebrauchs Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin, New York: Walter de Gruyter 2007, S. X f. Im Wikipedia-Artikel „Novemberprogrome 1938“ wird der Glasbruch als Grund für die Benennung angeführt, allerdings ohne Beleg, vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Novemberpogrome_1938, zuletzt: 23.05.2022.
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Jasmin Grande
Nacht der Wissenschaft am 13.09.2019 im HdU
Die Moderne im Rheinland präsentiert: Glas! Die Moderne ist eine Zeit der Beschleunigung – egal wo, egal wann sie verortet wird, ist das Gefühl der Schnelllebigkeit ihr konstitutiv. Auch in Zeiten der Post(post)moderne stehen wir staunend daneben, während technische und kulturelle Innovationen, digitale Kommunikation und Politik sich täglich überschlagen. Vor diesem Hintergrund ist das 100jährige Bauhausjubiläum, das 2019 bundesweit (weltweit) gefeiert wird, ein Grund, die letzten 100 Jahre kultureller, künstlerischer, politischer und gesellschaftlicher Entwicklung zu reflektieren und auf unsere Gegenwart produktiv anzuwenden. Doch was ist der Ankerpunkt, der die Moderne reflektierbar und mit der Gegenwart vereinbar macht? Wanted: ein Denkbild, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander versöhnt! Eine helfende Hand reichen die Künstlerinnen des Jahres 1919: Ein Blick zurück: vor 100 Jahren formiert sich um den Architekten Bruno Taut die „Gläserne Kette“ – auch Walter Gropius ist dabei. Ihre Kette war eine Diskursgemeinschaft mit utopischer Geisteshaltung in einer Zeit der ideellen, gestalterischen und politischen Machtkämpfe. Am Denkbild Glas machten die Avantgarden die Möglichkeit fest, maßgeblich Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Taut hatte bereits zur Werkbundausstellung 1914 in Köln ein Glashaus entworfen, das er mit Sprüchen seines Schriftsteller- und Künstlerfreundes Paul Scheerbart versah: „Ohne einen Glaspalast, ist das Leben eine Last.“ Das Rheinland war also bereits 1914 Realisations- und Probeort des bis dato avanciertesten Zugriffs auf das Material der Avantgarde. Glas fungiert hierbei als Transmitter für künstlerische Gestaltung, als abstrahierendes Element, als Motor im Projekt des Universalunterrichts zwischen Kunst und Gesellschaft. Ein Material ist als Denkbild nicht nur metaphorisch aufgeladen, sondern auch im Alltag des Menschen fest verankert. Glas beispielsweise ist dasjenige Material, das Digitalität erfahrbar macht. Die Oberflächen unserer smarten und mobilen Geräte sind aus Glas, per „touch“ öffnet es Fenster in digitale Welten – schon seit 1985, als Microsofts „Windows“ das Fensterglas als Moment räumlichen und gedanklichen Transfers ins Digitale überführt. Bis heute werden Tabs als „Fenster“ begriffen. Doch Glas begegnet in vielen weiteren Spielarten. In der Architektur etwa gilt es als Material, das Transparenz und freien Gedankenfluss, in modernen Bürodesigns sogar Egalität, vermittelt. Die Crystal Cathedral in Kalifornien vom Architekten Philip Johnson, eine „Megachurch“, die bis zu 4.000 Menschen fasst, geht auf den Entwurf des Bauhausleiters Ludwig Mies van der Rohe zum „Turmhaus an der Friedrichstraße“ zurück. Was passiert also mit Glas in der religiösen Architektur? Und was ist mit den anderen „Glasräumen“: auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf besitzt das Oeconomicum eine beeindruckende Glasaußenwand – ist Glas damit ein Symbol für Bildung(segalität)? Doch auch die großen Finanzschauplätze der Welt beeindrucken durch Glasbauten, als ikonisch für experimentelle Glasarchitektur gilt die City of London. Die Bandbreite des Glases in der Architektur macht deutlich, dass das Glas, genau wie sein physischer Zustand, in seiner Bedeutung fließend ist – und der Kampf um die Deutungshoheit an vielen Fronten geführt wird: steht Glas nun für Transparenz in der Gesellschaft? Oder für die Grenzenlosigkeit der kapitalistischen Finanzzentren? Der symbolischen Kraft des Glases wohl bewusst, krönt es heute den zentralen Schauplatz der deutschen Demokratie: die Kuppel des Deutschen Bundestages ist gläsern – und befindet sich in ironischer Verwandtschaft zu Tauts Glashaus, das, mit einer gläsernen Kuppel dekoriert, schon 1914 ein Raum für utopisches Denken war.
Denkübung: Wo begegnet Glas im Alltag?
Denkanstöße: Handydisplay → Digitalität; Architektur → Schein-Transparenz; Wasserflaschen → Glas als Faktor in der Klimafrage; Brillenglas → Perspektivierung der Wirklichkeit
Wie und wo begegnet Glas in der Kunst?
Denkanstöße: Glasschmuck; Glaskunstwerke (von der Plastik bis zur Glasmalerei); Kirchenfenster; Literatur („Lesabéndio“ von Scheerbart; „Der Sandmann“ von ETA Hoffmann; Ringelnatz, Joachim: „An einen Glasmaler“)
Welche Glas-Sprichwörter und -wörter kennen Sie? Was sagen sie aus?
Denkanstöße: Glashaus; gläserner Schuh (Aschenputtel); gläserne Decke; Glasfaserkabel; glasig; glasklar; der gläserne Bürger/Mensch Idee: hieraus könnte man vielleicht auf einem Flipchart eine Mindmap erstellen
Welche Materialität besitzt Glas eigentlich?
Denkanstöße: Fließend (weich) oder starr (fest)? Flach, wellig, kantig …? Farbig, farblos, durchsichtig?
2 Maike Beier: Erläuterung zur Projekt „Glasgalaxien“ anlässlich der Präsentation auf der Nacht der Wissenschaft in Düsseldorf 2019.
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Einleitung
Verhältnis von Material, Symbol und Gegenwart, wie es aktuell im Digitalen kumuliert. Als Grundlage dienten u. a. der von Thomas Schleper in das Bauhausjahr in NRW eingebrachte Ansatz65 sowie der Blick auf die Geschichte der Digitalisierung als „Kollektivarchitektur“ vergleichbar zum Bauhüttengedanken des Bauhaus‘ von Martin Burckhardt.66 Im Rahmen einer „Unkonferenz“, einem offenen Veranstaltungsformat im NRW-Forum in Düsseldorf im April 2019, gingen die Teilnehmer*innen dem Denken in Glas in workshops, Vorträgen und Gesprächen nach. Der Ansatz war transdisziplinär, Stefan Egelhaaf eröffnete mit einer Einführung in die Eigenschaften von Gläsern aus physikalischer Perspektive, die Kölner Kunsthistorikerin Christiane Heiser vermittelte Kenntnisse der Glasmalerei und führte durch den Thorn-Prikker-Saal im benachbarten Kunstpalast und im Rahmen der „Bauhaus-Academy“ fanden workshops und Performances zur Glas und Klang (Sascha Reckert), Transparenz (Lucy Kazda) und Licht (RaumZeitPiraten) statt. Emil Schult führte durch die Krypta der Robert-Schumann-Hochschule, ein verdichteter Ort seiner Glasmalerei in Düsseldorf, Eva Wiegmann machte auf die Erkenntnisdimensionen von Glas in der Literatur aufmerksam und die Landesschüler*innenvertretung vernetzte zwischen den Wissensorten Schule und Universität. Eine Abschlussdiskussion brachte Perspektiven der historischen Glasproduktion (Ulrike Laufer), Glas als Material der Landschaftskonstruktion (Christof Baier) und der Kunst (Reinhard Köpf) zusammen. Mit der Unkonferenz schloss der vom Bauhausjahr geprägte Teil des Projektes ab, die grundsätzlichen Fragen nach der Erforschung eines disziplinen- und Wissensbereiche übergreifenden Materials begleiteten uns weiter. Insofern erforscht das Projekt der Glasgalaxien nicht einen historischen Kontext, sondern auch dessen Relevanz und Fragestellung für die Gegenwart. Die vorliegende Publikation stellt einen Beitrag hierzu dar. Zugleich bildet sie den Diskurs anhand verschiedener Wissensbereiche ab, die sowohl einzeln als auch im Gesamt Facetten der Glasgalaxien sind. Die Kunstwerke von Anna Westphal verbinden die einzelnen Positionen miteinander und visualisieren das Miteinander von Material und Symbol Glas. Aus der Unkonferenz entstand eine Seminarkooperation, die das Nachdenken über Gläser als weiche Materie und als kulturgeschichtliches sowie wissenstheoretisches Denkbild in zwei Seminaren aufeinander bezog. In den Sommersemestern 2020 und 2021 boten Stefan Egelhaaf, Fabian Korner und ich ein Seminar zu „Glasgalaxien – Ein Seminar der transdisziplinären Wissenschaftskommunikation“ an. Während der Pandemie arbeiteten Studierende der Kunstgeschichte, Physik, Literatur- und Geschichtswissenschaft zu vorgegebenen Themenstellungen, wie Material und Produktion, Altern und Gedächtnis, (Un)Ordnung, Optik, Gleichgewicht, etc. die sie selbständig mit Beispielen füllten.
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Schleper, Thomas: „Mutmaßungen über die Frage, ob sich die Welt noch einmal neu denken lässt“, in: die welt neu denken. Beitträge aus dem Eröffnungssymposium ‚100 jahre bauhaus im westen‘, hrsg. v. Joachim Henneke, Dagmar Kift, Thomas Schleper, Münster: Aschendorf Verlag 2019, S. 13–26. Burckhardt, Martin: Eine kleine Geschichte der Digitalisierung, in: Merkur 71 (2017), S. 47–61.
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Jasmin Grande
Dekorativ, utopisch ebenso wie dystopisch, kristallin, amorph, spiegelnd, splitternd, sakral, transzendent – Glas wird eine Vielfalt an Eigenschaften und Facetten zugedacht. Die Unkonferenz „Glas-Galaxien“ nimmt sich das markante Material vor, das die Akteure der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts über die Postmoderne bis zur Gegenwart in besonderer Weise reizte! In Diskussionen, Reflexionen, künstlerischen und literarischen Interventionen, Materialproben und workshops laden wir zum Austausch über Glas und die damit verbundenen Denkbilder ein. Die Veranstaltung richtet sich an alle Altersgruppen. Tag I: Donnerstag, 25.4.2019 11.00 – 11.15 Uhr
Grußwort und feierliche Eröffnung
11.15 – 11.45 Uhr Einübung ins gläserne Denken und Vorstellung des Programms: Niels Baumgarten, Maike Beier B.A., Dr. Jasmin Grande, Fabian Korner, Michael Reucher, Joe Spicker B.A. („Moderne im Rheinland“) Modern, Moderner, Glas 11.45 – 12.30 Uhr
Prof. Dr. Stefan Egelhaaf: Glasbindungen, Glas aus physikalischer Perspektive / Was ist Glas für ein Material?
12.30 – 13.15 Uhr Mittagspause 13.15 – 14.10 Uhr
Dr. Christiane Heiser: Farblicht: materiell oder spirituell? Überlegungen zur Glasmalerei des frühen 20. Jahrhunderts mit anschließendem Spaziergang in den Thorn-Prikker-Saal im benachbarten Kunstpalast
14:30 – 15.00 Uhr
Sascha Reckert: Glas als Musikinstrument, Einführung in die Geschichte und Verwendungsweise des Materials
15.00 – 17.30 Uhr
Aktionsphase „Bauhaus-Academy“: Entwurf und Verwirklichung einer Glasperformance Lucie Kazda: Transparenz RaumZeitPiraten: Sound Image Object Space Time
17:30 –18:00 Uhr
Glasdiskurs: Handwerk und Digitalität
19:00 – 20:30 Uhr
Prof. Dr. Martin Burckhardt: Glas, Bauhaus und Digitalisierung: Digitalisierung als Kommunikationsprozess seit der Bauhütte im Mittelalter Ort: Haus der Universität
Tag II: Freitag, 26.4.2019 11.00 – 12.15 Uhr
Emil Schult: Führung durch die „Krypta“ Ort: Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf
3 Programm der Unkonferenz „Glasgalaxien“ im NRW-Forum am 25. und 26.04.2022.
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Einleitung
Glastrophobie und Glastrophilie 12.30 – 13.00 Uhr
Dr. Eva Wiegmann: Prisma. Glas in der Literatur
13.00 – 14.00 Uhr
Mittagspause
14.00 – 15.00 Uhr
Campus reloaded und Landesschüler*innenvertretung: Schule, Campus, Bildung am Netz / Schule und Hochschule neu vernetzen, aber wie?
15.00 – 15.45 Uhr
open space / Studierendenprojekte: Vorstellung von WikiBeiträgen des #bauhaussubversiv
15.45 – 18.15 Uhr
Aktionsphase: „Bauhaus-Academy“ Mosaike: Fühlen und Gestalten mit Glas RaumZeitPiraten: Sound Image Object Space Time
18.15 – 18.45 Uhr
Glasmusik und Performance, Tanz
18.50 – 19.50 Uhr
sakral, utopisch, gläsern. Diskussionsrunde mit Jun.-Prof. Dr. Christof Baier, Dr. Jasmin Grande, Reinhard Köpf, Dr. Ulrike Laufer, Prof. Dr. Thomas Schleper, Maike Beier B.A.
19.50 – 20.30 Uhr
Fertigstellung der Projekte, Begehung
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Jasmin Grande
Eindruck von dem Engagement und der Kreativität der interdisziplinären Wissensvernetzung geben die folgenden Zitate sowie S. 120:
Aus dem Essay „Richter des fertigen Werkes. Die optische Farbentstehung im Glas“ von Antonella Cici, Johannes Hofer und Anna Hülkenberg: Besonders in der Malerei bzw. der barocken Stilllebenmalerei wurde mit den Lichtverhältnissen und Lichtreflexionen experimentiert. Der Unterschied zur optischen Physik ist, dass die Kunst nicht immer mit den korrekten standardisierten Anordnungen bzw. geometrischen Grundformen arbeitet, sondern die Auswirkungen von Licht auf irregulär geformte Alltagsgegenstände in meist komplexen Inszenierungen darstellt. Die pauschale Erwähnung von Spiegelungen und Brechungen ist dafür nicht ausreichend, vielmehr müssen die Einzelphänomene, die in den Bildern häufig komplex verschränkt auftreten, wieder entflochten und zunächst einzeln identifiziert werden. Selbst die Ansicht einer Seifenblase ist mitunter so komplex ausgeführt worden, dass die Mehrfachspiegelungen und die Doppelansichten infolge von Brechungen selbst dann nur schwer zu durchschauen sind, wenn man die einschlägigen optischen Gesetzmäßigkeiten beherrscht.
Aus dem Essay „Altern und Gedächtnis“ von Melinda Jaspert, Seyma Bayrak, Margareta Bartelmeß: Auch in der Physik stößt man auf die Existenz eines Gedächtnisses. In diesem Teilbereich assoziiert man das Gedächtnis mit einem Speichermedium, welches analog zum Kurz- und Langzeitgedächtnis des Menschen Informationen speichern und abrufen kann. Zur Herstellung überschreibbarer Speichermedien werden phasen-verändernde Materialien gerne verwendet, da sie für diesen Zweck vielversprechend scheinen. Allerdings besitzen nur sehr wenige Materialien die Kombination der benötigten Eigenschaften eines optischen Speichers, weswegen der Fokus auf Glas als Material gelegt wird.
Aus dem Essay zu „Material und Produktion von Glas“ von Christina Kunze, Johannes Strobel und Marius te Poel: Dass Glas ein besonderes Material mit besonderen Eigenschaften ist, macht sich in allen Stadien seines Lebenszyklus bemerkbar: Um Glas überhaupt herstellen zu können, muss schnelles Abkühlen der energetisch eigentlich günstigeren Kristallbildung zuvorkommen, sodass die Moleküle ungeordnet in den festen Zustand übergehen. Eine der zentralsten Eigenschaften von Gläsern war wohl lange Zeit ihre Durchsichtigkeit, die es ermöglichte, in Form von Fenstern einen Raum zu schließen und ihn trotzdem offen für Licht zu halten.
Aus dem Essay „Wie die Glasflaschen nach Düsseldorf kamen“ von Anna Buchmayer, Robby Hesse und Tobias Löffler: Ferdinand Heye gründete im Jahr 1864 in Gerresheim eine Glashütte unter dem Namen „Ferd. Heye, Glas-Fabrik, Gerresheim bei Düsseldorf“. Durch die Bremer Glashandels- und Glasproduktionsfirma seines Vaters war Heye mit der Produktion von Glasbehältnissen vertraut. In Gerresheim wurden Glasfaschen in handwerklicher Technik durch ausgebildete Glasmacher mundgeblasen. Der Bedarf an Glasmachern wurde erst durch Arbeiter aus dem Raum Lippe und
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Einleitung
Niedersachsen gedeckt. Bald jedoch war Heye gezwungen, in allen Teilen Europas nach handwerklich qualifiziertem Personal zu suchen. Die Firma versuchte die Lebensbedingungen der Arbeiter vor Ort durch eigene Werkswohnungen, Schulen, aber auch Versicherungen zu verbessern und diese so an sich zu binden.
Aus dem Essay „Optik, Durchsicht, Farbigkeit“ von Michael Prusvic, Lea Greger, Sebastian Rode, Sandra Held: Nicht nur Künstler wie Taut hat die vielseitige Natur des Glases fasziniert. Bereits in der Frühzeit machten sich Menschen diesen Feststoff für Fenster und Werkzeuge zunutze und entdeckten bald, dass es möglich war, Gläser durch den Zusatz von Metall-Oxiden bei der Herstellung einzufärben. Erklären lässt sich dieser Effekt folgendermaßen: Die äußeren Elektronen der Metall-Partikel können einfallendes Licht absorbieren und später wieder emittieren. Die Wellenlänge des emittierten Lichts bestimmt, als welche Farbe der Mensch das Glas wahrnimmt. Die Struktur des Glases und die Rayleigh-Streuung des einfallenden Lichts spielen ebenfalls eine Rolle.
VI Zu den Beiträgen im Band Die inhaltliche Struktur des Bandes bildet eine Klammer: Glas als utopisches Material, das in Architektur, Philosophie und Literatur zu innovativen Ideen führt, steht im Zentrum der Beiträge sowohl von Fabian Korner als auch von Jeannine Harder. Die „Scherbenbilder I und II“ von Anna Westphal bilden eine zweite Klammer, die aus der Motiventwicklung – Scherbenscan, -figur und -reflexion – immer wieder zur Frage der Zusammensetzung zurückkehrt. Fabian Korner geht in seinem Beitrag zu „Glasarchitektur als Denkraum von der Moderne bis zur Gegenwart“ dem jeweiligen gegenwartsgestaltenden, intelligiblen Potential von Glas nach und vollzieht die enge ideengeschichtliche Verflechtung von Glas und Avantgarde im 20. Jahrhundert nach. Stefan Egelhaafs Beitrag zeigt die Differenz der disziplinären Glasbegriffe auf, die in der Physik schon dadurch auffällt, dass nicht von „Glas“, sondern von „Gläsern“ gesprochen wird, da es sich nicht um ein einzelnes Material handelt, sondern um Eigenschaften, die die Gruppe der „Gläser“ auszeichnet. Sein Beitrag knüpft nicht an den aktuellen Forschungsdiskurs an, sondern zeigt das Grundlagenwissen zu Gläsern im Fach. Der Beitrag schafft damit nicht nur eine Vergleichsebene zur kulturwissenschaftlichen Glasforschung, sondern auch zur Wissenskommunikation in den Disziplinen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei nicht die Wissenschaftsgeschichte und die Begegnung der Disziplinen darin, wie z. B. mit Ernst Machs interdisziplinärem Forschungsansatz, sondern die Methode als Grundlage des Forschens. Eva Wiegmann geht der Gestaltung von Glas und seinen erkenntnistheoretischen Dimension in der Literatur nach. Ihr Fokus liegt auf der Optik von Glas und der überschneidenden Dynamik zwischen wissenschaftlicher Funktionalisierung, Farbenlehre und literarischer Gestaltung in der Kontinuität zum Motiv des Ichzerfalls in der Moderne.
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Jasmin Grande
Reinhard Köpf geht mit der Frage „Glas – Kunst?“ der Präsenz von Glaskunst und dessen Erforschung in der Kunstgeschichte nach. Indem er Glaskunst produktionsästhetisch reflektiert und die Relevanz von spezifischen Orten und Netzwerken im Rheinland aufzeigt, weist er auch auf die Forschungsdesiderate zum Thema in der Kunstgeschichte hin. Erst aus der Region, aus der Dynamik vor Ort lassen sich aktuelle Fragen der Glaskunst entwickeln. Paul Klee ist als Glaskünstler und Theoretiker der Glaskunst vertraut, Christina Kunze geht in ihrem kurzen Beitrag den Grundzügen von Klees Ansatz nach. Die „Bonner Republik“ steht für einen sowohl abgeschlossenen als auch regional an das Rheinland gebundenen Zeitraum, Benedikt Wintgens hat erst 2019 mit seiner Monografie über Wolfgang Koeppens Roman Das Treibhaus das Bild der Bonner Republik in den 1950ern herausgearbeitet und die regionale Spezifik aufgezeigt.67 Glasarchitektur als Symbol für Transparenz und Demokratie spielen in der Politik und im Aufbau der Bundesrepublik nach 1945 eine große Rolle, wie er in seinem Beitrag „Transparenz im Treibhaus. Glas-Metaphorik in Achitektur, Literatur und Politik“ aufzeigt. Wie arbeitet eine Literatur mit dem Glasmotiv, die keinen avantgardistischen Literaturbegriff verfolgt, sondern zwischen Rückzug, Nostalgie und Epigonentum zu verorten ist? Der Statik von Glas in der fast vergessenen literarischen Adaption bei Georg von der Vring, Peter Gan und Erich Jansen geht Joey Wilms nach. Die Frage, wie die digitale Zukunft aussieht, liegt dem Anime-Film Ghost in the Shell zugrunde, mit dem sich Joe Spicker in seinem kurzen Beitrag auseinandersetzt und die Perspektive für weitere mediale und regionale Fragen an die Rezeption von Glas öffnet. Jeannine Harders Auseinandersetzung mit Glas im Kontext der polnischen Unabhängigkeit macht das Netzwerk der auf Glas fixierten Avantgarden in Europa sichtbar und rekonstruiert die Idee einer utopischen Glasarchitektur als Teil des Gedächtnisses der polnischen Unabhängigkeit. „Scherbenbilder“ von Anna Westphal Transmedial, transdisziplinär und abstrakt – das sind die Denkmodelle der Beiträge, die, so war von Anfang an klar, auch eines bildlichen Transfers bedürfen. Die Kölner Künstlerin hat mit den „Scherbenbildern“ die Ambivalenz des Glasbildes herausgearbeitet. Mit den Scherben hat sich Anna Westphal auf den „Bruch (mit dem Alten) als zentrales Merkmal der Avantgarde“ fokussiert, dabei können die Scherben neue Formen bilden, wie z. B. Menschen, Kuppeln, Pfeile, ohne dass dies vorgegeben ist. Anna Westphal gibt an, dass in der ersten Auseinandersetzung mit dem Material die Diversität der Einzelteile, die Schönheit der Bruchergebnisse den Ausgangspunkt bildeten, der vom konkreten Material zu symbolischen Ebenen einlädt. Anna Westphal über das Projekt der Scherbenbilder: Alles in allem kann ich mir die Glasbilder also als ein „visuell-poetisches“ Pausenmoment des Bandes vorstellen, dessen Texte meines Wissens umso dichter und theoretisch / wissenschaftlich 67
Wintgens, Benedikt: Treibhaus Bonn: Die politische Geschichte eines Romans, Düsseldorf: Droste 2019.
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Einleitung sind. Mit den Illustrationen und dem reduzierten, künstlerischen Ansatz soll in Teilen das übersetzt werden, was die Avantgardisten um Scheerbart, Taut etc. damals durch ihre Glas-Utopien zeigen wollten: Was alles machbar ist mit Glas, die Auflösung alter Raumvorstellungen hin zum ‚Fließenden und künstlerisch Leichten‘, sowie die mystische und fantastische Verschönerung/ Erhebung der Welt zu etwas Kosmischem, der ‚wirklichen Heimat des Menschen‘. Konkret bedeutet das hier: Zahlreiche gleich große Scheiben wurden mit einem Hammerschlag zerbrochen. Mal wurde genau dieses Ergebnis gescannt oder fotografiert, mal wurden die Scherben einer Scheibe chaotisch zufällig zusammengeworfen, mal zu assoziativen Formen arrangiert. Das (bei aller Form- und Farbenvielfalt der Scherben) Abstrakte und Minimalistische dieses Ansatzes entspricht nach meinem Empfinden auch einer eigentümlichen „Entmenschlichung“ bei den Visionen dieser Avantgarde, da das Prinzip der ‚Auflösung‘ des Menschlichen im Entlegenen, Erhabenen und im ‚fern Kosmischen‘ dem Menschen noch übergeordnet zu stehen scheint. Es handelt sich um einen abstrakten und den Menschen relativierenden Blick: Auch die menschlichen Emotionen, die mit der Glasarchitektur verbunden sind, dienen eigentlich nur dem Ziel, eine sakrale Ebene zu erreichen, und der Bau ist das „Gefäß für das Göttliche“ (Taut) – nicht das Heim des Menschen.
Danke 1. Dem Team der Unkonferenz: Niels Baumgarten, Maike Beier, Fabian Korner, Michael Reucher, Joe Spicker 2. Stefan Egelhaaf und Fabian Korner für die Kooperation in der Lehre 3. Gertrude Cepl-Kaufmann für Input und Austausch zu Glasgalaxien 4. Thomas Schleper, der mit dem Rahmen für #bauhaus100imwesten den Anlass zur Unkonferenz gegeben hat 5. Dem NRW-Forum, Alain Bieber, als Ort der Unkonferenz Ermöglicht wurde das Projekt und der Band durch die Förderung des Landschaftsverbands Rheinland.
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Fabian Korner
Glasarchitektur als Denkraum von der Moderne bis zur Gegenwart
„Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen.“
I
Der Glaspalast: Kultur und Raum
Glas als Baumaterial ist inzwischen nicht mehr wegzudenken aus den Stadtpanoramen unserer Zeit. Ein sichtbares Beispiel mögen hier die Dutzend Meter hohen Hochhäuser der Frankfurter Skyline sein. Aber auch Düsseldorf, Ausgangsort meiner Überlegungen, ist gesäumt von Glasarchitektur. Sei es das Stadttor oder auch der Brunnen am Landtagsgebäude. Nicht zuletzt das gerade entstehende Glasmacherviertel steht für eine spezifische Düsseldorfer Glasgeschichte. Im Botanischen Garten der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf finden sich die Archetypen der Glasarchitektur: Treibhäuser, hier u. a. in der besonderen Form eines Kuppelgewächshauses bestehend aus dreieckigen Glasplatten, gehalten von einem Rundstabfachwerk aus Stahl. Schon der Botanischer Garten von Dahlem in Berlin inspirierte die Glastheoretiker*innen des frühen 20. Jahrhunderts. Prominent darunter Bruno Taut und sein Schriftstellerkollege Paul Scheerbart.1 Tauts Glashaus, welches auf der Kölner Werkbundausstellung 1914 zu sehen war,2 nutzte verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Glas, er war nicht nur eine Präsentation der glasproduzierenden Betriebe, sondern zeigte das Potential des Materials: In allen Farben leuchtend, geschmückt mit Zitaten Scheerbarts wie „Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last“. Dass es sich dabei nicht um belanglose
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Paul Scheerbart (1863–1915) erlebte den unglaublichen Glas-Boom der Moderne nicht mehr. Von Haus aus Science Fiction-Autor, war Glas eines der bestimmenden Materialien in seinen Erzählungen und Zukunftsentwürfen. Das Museum der Dinge hat Tauts Glashaus aufwändig rekonstruiert und informiert über Geschichte und Ästhetik: https://www.museumderdinge.de/ausstellungen/wanderausstellungen/wanderausstellung-das-glashaus-von-bruno-taut, zuletzt: 01.10.2021.
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Reime handelte, weist Angelika Thiekötter nach,3 schrieb doch Scheerbart zudem ein umfangreiches Manifest der Glasarchitektur. Laut Scheerbart ist Glas der Stoff, dessen Materialität die Herausbildung einer neuen Kulturform möglich macht: Wir leben zumeist in geschlossenen Räumen. Diese bilden das Milieu, aus dem unsre Kultur herauswächst. Unsre Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unsrer Architektur. Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln. Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen. Das aber können wir nur durch Einführung der Glasarchitektur, die das Sonnenlicht und das Licht des Mondes und der Sterne nicht nur durch ein paar Fenster in die Räume lässt – sondern gleich durch möglichst viele Wände, die ganz aus Glas sind – aus farbigen Gläsern. Das neue Milieu, das wir uns dadurch schaffen, muß uns eine neue Kultur bringen.4
Dieses Programm bleibt im Folgenden nicht abstrakt. So stellt Scheerbart dar, wie sich durch Glaswände die innenarchitektonischen Prinzipien verschieben.5 Darauf folgen Passagen über die Materialeigenschaften von Holz, Stahl etc., die Scheerbart ins Verhältnis zu den Möglichkeiten von Glas setzt.6 Scheerbart vollzieht auf der Ebene des Textes die plastische Gestaltung eines Möglichkeitsraums nach, der sich qualitativ anders zum bisher Vorgefunden behaupten soll. An ihn schließt sein Freund Bruno Taut mit konkreten Bauten an. Das Finden, Benennen und Ausprobieren neuer Möglichkeitsräume stellt auch ein Kennzeichen der Moderne dar. Im Folgenden möchte ich Scheerbarts Motiv – ein Raum, der gleichzeitig Ausgangspunkt für eine neue Kultur sein soll – folgen. „Kultur“ kann hier als Begriff nur abstrakt verhandelt werden, da hundert Jahre Kulturgeschichte wohl eine ganze Glasbibliothek füllen würden. Da die Epochenbegriffe Moderne und Postmoderne an der Fassung von Raum-Zeit beteiligt sind und Geschichtsbegriffe transportieren, beziehe ich mich auf diese.7 Enden will ich mit den Betrachtungen Frederic Jamesons, der sich über einen Glaspalast ganz anderer Art Gedanken machte, um die Frage zu stellen, wie Raum die jeweils aktuelle Wahrnehmung mitformt. Ich will also im Folgenden zeigen, dass Scheerbarts Versuch vom Raum aus Veränderungen in Kultur und Wahrnehmung zu denken, auch gegenwärtig noch Wirkung entfaltet. Beginnen möchte ich mit der Moderne.
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Thiekötter, Angelika: Kristallisationen, Splitterungen: Bruno Tauts Glashaus. Eine Ausstellung des Werkbund-Archivs im Martin-Gropius-Bau Berlin, Basel et al.: Birkhäuser 1993. Scheerbart, Paul: Glasarchitektur, Berlin: Verlag der Sturm 1914, S. 11. Vgl. ebd., S. 12, S. 14–15. Vgl. ebd., S. 40, S. 53. Ich bediene mich hier bewusst dieses Begriffs von Ernst Bloch, der in seinem Verständnis von Raum immer die Historizität dieses Raumes mitdenkt. „Raum-Zeit“ wird dabei zu einer metaphysischen Kategorie, die auf die Gestaltungsfähigkeit von Raum und damit Veränderungsfähigkeit von Umwelt, in Zeit, verweist: „Hat er [Der Mensch] sich erfasst und das Seine ohne Entfremdung und Entäußerung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Vgl. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 1628.
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Glasarchitektur als Denkraum von der Moderne bis zur Gegenwart
II Die Moderne und ihre verlorenen Versprechungen Glas ist seit seiner industriellen Erschließung gegenwärtig geblieben und stellt, vermittelt durch die Glasfasertechnologie, unser Fenster in die digitale Welt dar. Der Widerspruch zwischen den Möglichkeiten der digitalen Infrastruktur und den Problemen von Überwachungstechnologien, illustriert dabei nur die Ambivalenz, die uns im Folgenden immer begleiten wird. Beginnen wir aber mit dem Zeitalter der technischen Erschließbarkeit von Glas: dem späten 19. Jahrhundert und dem frühen 20. Jahrhundert. Die antizipierten Versprechungen der Zukunft finden sich programmatisch vorgezeichnet, wenn Karl Marx, einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts, in einem Manuskript eine zukünftige Gesellschaft als eine beschreibt, in der Berufe nicht aus Notwendigkeit ausgeübt werden, sondern Vorlieben das Handeln bestimmen: Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.8
Der technologische Fortschritt des 19. Jahrhunderts bringt Versprechungen hervor. Die Annahme, dass zugleich die Zeit einer neuen Kultur angebrochen sei, ist die Vorannahme unter der Paul Scheerbart schreibt. Er ist damit nicht allein, auch das berühmte Bauhausmanifest beschwört in expressionistischer Weise den neuen Menschen und seine Baumeister. Gleichwohl ist Marx‘ Wunsch Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht in Erfüllung gegangen und auch das Bauhaus muss sich den Vorwurf der Geschlechterungleichbehandlung gefallen lassen.9 Das Versprechen von Emanzipation und Kulturentwicklung hat seine dunklen Seiten: So beschwört Marinetti in seinem futuristischen Manifest den Fortschritt zusammen mit Forderungen, die von der Gleichstellung aller Menschen, egal welchen Geschlechts, weit entfernt sind. Der deutsche Faschismus gilt als Ausgangspunkt einer existentiellen Enttäuschung der modernen Zivilisation. Adorno fragt demgemäß, wie nach Ausschwitz Dichtung noch möglich sein könne10 und auch andere Intellektuelle wie Ernst Bloch oder Herbert 8 9 10
Marx, Karl: Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Ost-Berlin: Dietz Verlag 1969, S. 33. Bauer, Corinna Isabel: Bauhaus- und Tessenow-Schülerinnen. Genderaspekte im Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne, Dissertation Universität Kassel 2003. Der Ausspruch Adornos: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ kann als paradigmatisch für den Literaturdiskurs der Nachkriegszeit gelten. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedermann, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 30. Siehe hierzu auch Kiedaisch, Petra (Hg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam 1995.
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Marcuse müssen im Rahmen der 1968er Debatten darauf hinweisen, dass der technische Fortschritt ebensoviel Möglichkeiten wie auch Zerstörung bedeutet.11 Eine neue Kultur zu denken, scheint schwieriger als je zu vor. III. Ungleichzeitigkeit als Verständniskategorie Der Begriff des Fortschritts impliziert, so scheint es zunächst, eine Chronologie, vielleicht sogar Teleologie. Trotz der Skepsis gegenüber dieser Form einer „großen Erzählung“12, will ich an ihr festhalten. Wir kommen nicht umhin, Unterschiede zwischen Moderne, Postmoderne und Jetztzeit zu benennen, ohne dabei eine Differenzierung mit normativem Charakter zu vollziehen. Dazu ist es zunächst notwendig, Fortschritt und Geschichte als zwei verschiedene Prinzipien zu begreifen, wie Ernst Bloch festgehalten hat: Der Fortschrittsbegriff duldet keine Kulturkreise, worin die Zeit reaktionär auf den Raum genagelt ist, aber er braucht statt der Einlinigkeit ein breites, elastisches, völlig dynamisches Multiversum, einen währenden und oft verschlungenen Kontrapunkt der historischen Stimmen.13
Zum einen lässt sich hier bemerken, wie eng Zeit und ihre räumliche Realisation zusammenfallen. Zum anderen kann hier Fortschritt nicht als streng deduzierbare Teleologie verstanden werden, vielmehr lebt der Begriff durch seine multiple Realisierbarkeit (Ungleichzeitigkeit). Fortschritt ist eine Form von Entwicklung durch und in der Zeit, die ihren Namen dadurch erhält, dass sie, in Bezug auf das menschliche Wahrnehmen und die menschlichen Bedürfnisse, bewertet wird.14 Da es der wahrnehmende Mensch ist, den Bloch in den Mittelpunkt rückt, unterscheidet er folgerichtig zwischen subjektiv gefühlter Zeit und objektiv vergehender Zeit.15 In Anlehnung an die Überlegungen Riemanns zu einer Raummetrik, die nicht streng euklidisch ist, sondern elastisch, will Bloch aber beide Zeitformen verbunden wissen. In diesem Sinne setzt Bloch einer simplen Teleologie des linear-progressiven Fortschritts Überlegungen zur Ungleichzeitigkeit entgegen, die objektiv vergehende Zeit mit subjektiv nicht vergehender Zeit verbindet: Hitler zum entsetzlichsten Beispiel war keineswegs die Negation, die der Sozialismus zu seinem Sieg brauchte. Es gibt auch in diesem Betracht durchaus keinen sicheren Zeit-Reihenindex des Fortschritts, wonach eben das Spätere in der Geschichte allemal oder auch nur im großen ganzen ein progressives Plus gegenüber dem Vorangegangenen bezeichnete. Erscheint das als Binsenweisheit, so ist sie Hegel jedenfalls nicht als solche erschienen; denn der Peloponnesische Krieg nach dem Zeitalter des Perildes, der Dreißigjährige Krieg nach der Renaissance machte seinem sonst überall dem Fortschritt dienen sollenden Negationsbegriff ernste Schwierigkeiten. Und der Stachel dieser scheinbaren Binsenweisheit konnte sogar so übertrieben stechen, daß Rousseau, und zwar gerade um des bürgerlich-demokratischen Fortschritts willen, die gesamte 11 12 13 14 15
Marcuse, Herbert: Das Ende der Utopie. Berlin: P. von Maikowski 1967. Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen – Ein Bericht. Übers. von Marianne Kubaczek, Wolfgang Pircher, Otto Pfersmann und Jean-Pierre Dubost. Hg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 1986. Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 146. Dietschy, Beat/Zeilinger, Doris/Zimmermann, Rainer (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin/Boston 2012, S. 137. Vgl. E. Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, S. 129 f.
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bisherige Geschichte, seit der eingetretenen ‚Ungleichheit unter den Menschen‘, als Verschlechterung hinstellte. Das sogar unter Aufhebung des ganzen bisherigen zivilisierten Nacheinander als einer schlechten Zeitstrecke, verglichen mit der glücklichen Urzeit, Naturzeit.16
Was wir in diesem Zitat illustriert finden, ist der geschichtsphilosophische Hinweis darauf, dass eben ständig Ungleichzeitigkeiten stattfinden, diese sozusagen zum Kern einer Geschichtsphilosophie gehören müssen. Eine Geschichtsphilosophie, die, wie oben bereits beschrieben wurde, daher aber nicht Geschichte kreisförmig begreift, sondern elastisch. Bloch benötigt diese Denkfigur, um sich der Frage zu nähern, wie neueste Technologien gleichzeitig mit bereits vergangenen Ideen und Erzählungen auftreten. Um eben eine solche Ungleichzeitigkeit formulieren zu können, bedient er sich der Begriffe Basis und Überbau aus der marxistischen Philosophietradition. Am Beispiel der Entwicklung der Beleuchtungstechnik führt er aus, inwiefern zwischen technischer Möglichkeit der Beleuchtung und ihrem ästhetischen Vermögen eine Differenz entsteht. Diese Differenz soll zeigen, dass wir es zunächst nicht mit absoluter Notwendigkeit, also mit einem notwendigen Verhältnis zwischen ökonomischer und kultureller Sphäre zu tun haben und damit auch nicht mit einer strengen Teleologie. Insbesondere am Charakter des Kunstwerks etabliert Bloch das Moment der Ungleichzeitigkeit: So eng auch der materielle Zusammenhang zwischen der bestimmenden Basis und dem durch sie bestimmten, auf sie wieder zurückwirkenden Überbau ist: der Fortschritt in beiden geschieht offenbar nicht notwendig in gleicher Art, in gleichem Tempo und vor allem mit gleichem Rang. Wobei noch ein höchst Entscheidendes hinzukommt, das gerade den verschiedenen Rang betrifft, auch den der Fortschrittskategorie überall so wesentlichen Zielpunkt. Denn ein Kunstwerk, sobald es ein nicht nur bedeutendes, sondern ein fort und fort bedeutendes, also weiter-deutendes ist, liegt im Zielpunkt, dem es als progredierendes zugeordnet ist, oft weit über die sonstige sogenannte ‚Totalität‘ einer Gesellschaft hinaus. Sonst wäre es ausgeschlossen, daß es die Abgelebtheit eines vergangenen Unterbaus und auch partialen (politischen) Überbaus nicht teilt. Sonst gäbe es überhaupt kein weiter wirkendes Kulturerbe; […]. Solch große Überschüsse aus Gewesenem sind derart unvergangen, zum Unterschied von weiten Teilen ihres Unterbaus und auch manchen Überbaus. Ja, sie sind selber in einem spezifischen, noch lange nicht eingeholten Fortschreiten begriffen, mit immer neu sich erschließenden Seiten ihres Gehalts. Grund genug liegt also auch hier vor, von ungleichmäßiger Entwicklung zu sprechen, das heißt von fortlaufender beim Werther, aber von ganz in ihrer Zeit lokalisierbarer beim Preußischen Landrecht 1794 oder auch der Laune der Verliebten.17
Wir wollen diesen Begriff der unabgegoltenen Potenz – die Ungleichzeitigkeit – für den oben gefundenen Begriff der Ambivalenz innerhalb der Moderne weiter gebrauchen. Blochs emphatischer Fortschrittsgedanke korreliert nicht nur mit räumlichen Konstellationen, sondern auch mit politischen Programmen. Im Folgenden gilt zu zeigen, dass eine solche implizite Normativität nicht zufällig bei Bloch und Scheerbarts vorliegt, sondern Definitionsmerkmal der Moderne selbst ist.
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Ebd., S. 119. Es kann und sollte an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass Bloch den Begriff der Ungleichzeitigkeit zunächst im Rahmen seiner Faschismusanalyse in den 1930er Jahren in seinem Buch „Erbe dieser Zeit“ erarbeitete. Vgl. E. Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, S. 122 f.
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IV Moderne als Haltung Woher stammt Scheerbarts fordernde Haltung? Der Zeithistoriker Christoph Dipper unterscheidet zwischen drei Verständnisweisen von Moderne: Stilrichtung, normatives Konzept und Epochenbegriff.18 Der historiografische Epochenbegriff ‚Moderne‘ steht dabei quer zu einer Periodisierung, wie sie Antike, Mittelalter und Neuzeit bilden. Dabei wird die Selbstreflexivität als notwendiges Definitionsmerkmal verwendet: „Die Moderne ist eine Epoche, die sich von allen vorangehenden dadurch unterscheidet, dass sie von den Mitlebenden sogleich als solche erkannt und benannt worden ist.“19 Ein solches Selbstverständnis korreliert, so Dipper, mit sogenannten Basisprozessen. Solche sind u. a. Industrialisierung, Klassenbildung oder Bildungsexpansion, auf die bewusst und planerisch Einfluss genommen werden soll. Sich verändernde Basisprozesse stellen dann bekannte Ordnungsmuster, wie dasjenige der Kirche im 18. Jahrhundert, infrage und eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten. So formuliert sich erst auf der Grundlage der industriellen Revolution das neue Ordnungsmuster ‚Moderne‘, welches sowohl eine Selbstbeschreibung als auch Form der Selbstermächtigung und damit Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten bedeutet. Während Dipper sich mit normativen Bestimmungen zurückhält, weil dies der Stand des*r Historikers*in nicht erlaube, enthält sein Hinweis auf Selbstreflexivität genau diese Normativität, der er sich entziehen will.20 Mit Michel Foucault kann diese Selbstreflexivität als normatives Moment aufgefasst werden, das dann Haltung oder philosophisches Ethos ist.21 Dipper begreift, an Foucault anschließend, die Aufklärung als Ausgangsbewegung der Moderne. Während Dipper dies historiografisch tut, betrachtet Foucault die Wirkungsgeschichte von Kants Was ist Aufklärung, um den Selbstanspruch der Moderne herzuleiten. Dies verdeutlicht er, indem er die Gemeinsamkeiten zwischen Kants Sapere aude und Baudelaires Verständnis eines modernen Stils herausarbeitet. Die Selbstreflexion greift dabei über sich selbst hinaus, positioniert das Subjekt zu seiner jeweiligen Gegenwart und begegnet dieser mit einer Vorstellung eines noch nicht abgeschlossenen Zukunftshorizonts. Ich beanspruche nicht, mit diesen wenigen Zügen das komplexe geschichtliche Ereignis, das die Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts war, oder die Haltung der Modernität in den unterschiedlichen Formen, die sie im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte annehmen konnte, zusammenzufassen. Ich wollte zum einen die Verwurzelung einer Art philosophischen Fragens, das zugleich die Beziehung zur Gegenwart, die geschichtliche Seinsweise und die Konstitution seiner selbst als autonomes Subjekt problematisiert, in der Aufklärung hervorheben; ich wollte zum anderen deutlich machen, dass der Faden, der uns auf diese Weise mit der Aufklärung verbinden kann,
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Vgl. Dipper, Christoph: „Moderne, Version 2.0“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, https://docupedia.de/ zg/Dipper_moderne_v2_de_2018, zuletzt: 15.07.2021. Ebd., S. 9. Vgl. ebd. S. 10–19. Vgl. Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung“, in: Defert, Daniel/Ewald, François (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits. Bd. IV 1980–1988. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.
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nicht die Treue zu den Elementen einer Lehre, sondern vielmehr die permanente Reaktivierung einer Haltung ist, das heißt eines philosophischen Ethos, das man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte.22
Die Grundlagen dieser „kritischen Ontologie des Selbst“ charakterisiert Foucault nun positiv wie negativ. Negativ sei, dass die Aufklärung versuche, einen zu erpressen: man wäre entweder für oder gegen sie. Diese dualistische Einengung lehnt er ab. Ebenfalls negativ sei der gegenseitige Bezug von Humanismus und Aufklärung, die er als gegensätzlich charakterisiert. Während die Aufklärung „ein Ereignis oder eine Gesamtheit von Ereignissen und komplexen Geschichtsprozessen ist, die in einem bestimmten Moment der Entwicklung der europäischen Gesellschaften entstanden sind“, sei der Humanismus „ein Thema, oder eine Reihe von Themen. Er ist ein Thema oder eher eine Gesamtheit von Themen, die mehrfach im Laufe der Zeit in den europäischen Gesellschaften wieder hervorgetreten sind.“ 23 Von diesen Betrachtungen wechselt Foucault zu den positiven Elementen des von ihm beschriebenen philosophischen Ethos. Die erste und vermutlich zentrale Aufforderung liegt darin, sich an den Grenzen des Möglichen und Denkbaren abzuarbeiten: „Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.“24 Dieser Grenzgang ist kein Selbstzweck, für Foucault ist er zentral, verstanden als Bewegung in die Freiheit: Und diese Kritik wird in dem Sinne genealogisch sein, als sie nicht aus der Form dessen, was wir sind, ableiten wird, was uns zu tun oder zu erkennen unmöglich ist; sie wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken. Sie sucht nicht die am Ende zur Wissenschaft gewordene Metaphysik möglich zu machen; sie sucht die endlose Arbeit der Freiheit so weit und so umfassend wie möglich wieder in Gang zu bringen.25
Auf diese Denkbewegung folgt die Aufforderung des Experimentierens: Ich werde folglich das der kritischen Ontologie unserer selbst eigene philosophische Ethos als eine historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind, charakterisieren.26
Dieser kurze Exkurs diente der Darlegung dessen, dass die in der Aufklärung so häufig festgestellte Selbstbezogenheit ein normatives Element zur Freiheit hin besitzt. Trotz dieses Versprechens zur Freiheit hin gilt es die Probleme eines solchen Freiheitsbegriffs nicht aus den Augen zu verlieren. Orientierung bietet Foucaults emphatischer, aber auch misstrauischer Blick auf die Freiheit:
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M. Foucault: Was ist Aufklärung, S. 698 f. Ebd., S. 700. Ebd., S. 702. Ebd., S. 702 f. Ebd., S. 703 f.
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Wenn man nun in Betracht zieht, dass sich die zentrale subjekttheoretische Einsicht der späten Schriften auf die Bedeutung des Ethos, der Haltungen und praktischen Einstellungen bezieht, ist deutlich, was Foucault für die Gegenwart vorschlägt: philosophisch-historische Selbstkonstitution. Die kritische Arbeit an der Geschichte unserer Grenzen […] ist selbst schon aktive Selbstformung und Selbstveränderung.27
V Postmoderne: Zeit voller Differenzen Nähern wir uns nun weiter unserer Jetztzeit und nehmen das große Wort Postmoderne in den Mund. Philosophisch, kulturell und wissenschaftlich entstehen nun mehrere Ungleichzeitigkeiten. Während die Naturwissenschaften die gesellschaftliche Produktivität auf ein noch nie gekanntes Niveau bringen, setzt sich, auch im Zuge der Revolten um 1968, eine subjektivistische und sprachorientierte Wende in den Geistes- und Kulturwissenschaften durch. Die Entgrenzung künstlerischer Tätigkeiten (u.a. die Situationisten) während der gleichzeitigen Etablierung der Kulturindustrie lässt das heute gängige Urteil des everything goes einer postmodernen Ästhetik und Theorie entstehen. Dabei muss aber strickt zwischen einer postmodernen Kunst, der Theorie dieser Kunst und den dieser Zeit zugeordneten Theoretiker*innen differenziert werden. Den Autor*innen und Topoi muss dabei eine Ungleichzeitigkeit zugestanden werden. So ist beispielsweise für Foucault, der als Begründer der zeitgenössischen Diskurstheorie gilt, auch eben das Nichtdiskursive, das mit den Diskursen in Zusammenhang steht, von Relevanz.28 Trotz Lyotards Postulat von Erzählungen, hinter denen Kategorien wie materielle Not zurücktreten, analysiert er in der „Gelegenheitsarbeit“ in Das postmoderne Wissen durchaus treffend die Ökonomisierungstendenzen innerhalb einer informationsorientierten Gesellschaft.29 Terry Eagleton charakterisiert diese Ungleichzeitigkeiten in seiner Analyse und hebt insbesondere hervor, dass wir es mit einer Vermengung von Erkenntnistheorie und Politik zu tun haben, die eine bestimmte Eigenlogik befördert, die dazu führt, dass Themen wie die ökonomischen Ungleichheiten in den Hintergrund gedrängt werden.30 Laut Eagleton trug insbesondere die These vom Ende der Geschichte (Fukuyama) zu einer Zuspitzung bei, da diese das von Lyotard schon vorher
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Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Frankfurt a.M., Campus Verlag, 2007, S. 285. Vgl. Prinz, Sophia: Die Praxis des Sehens, Bielefeld: Transcript, 2014, S. 112 ff. Markus Baum beschreibt, dass Lyotards Analyse in Hinsicht auf die Herausbildung digitaler Infrastruktur durchaus zu treffend ist, auch wenn, wie Baum sagt, der Franzose seine Zeitdiagnose selber nicht zuspitzt, was ihr einiges an Schärfe nimmt: „Digitale Technologien, so Lyotard, erzeugen eine spezifische Erkenntnis der sozialen Realität, insofern alles Wissen über diese in einer Maschinensprache formuliert ist und zu einer Informationsquantität degeneriert – das bedingt die Transformation des Wissens in Datenform. Was jedoch nicht in diese Form übersetzt werden kann, bleibt außen vor. Lyotard führt diese Datafizierung des Wissens darauf zurück, dass Wissen so effizienter kommuniziert und konsumiert, letztendlich als Ware gehandelt werden kann“ Vgl. Baum, Markus: Das defizitäre Wissen der Digitalisierung, in: Grengaengerin.eu, https://grenzgaengerin.eu/das-defizitaere-wissender-digitalisierung/, 01.09.2021. Eagleton, Terry: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S. 14.
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beschworene Ende der großen Erzählungen in negativer Weise bestärkt habe.31 Im Anschluss daran benennt Eagleton die Kritik an einem humanistisch orientierten Universalismus als Ausgangspunkt eines Denkens, das sich zunehmend auf Differenzen fokussiert.32 Diese theoretische Eigenart, die Eagleton der Postmoderne zuschreibt, sei in Bezug auf ihre Erfahrungen verständlich: Dies ist, wie ich gezeigt habe, die wertvollste Errungenschaft dieser Bewegung; und man kann realistischerweise nicht erwarten, daß diejenigen, die in diesem mühsamen Kampf um Anerkennung involviert sind, sich nun für neuartige Vorstellungen von Universalität begeistern, vor allem dann, wenn diese Ideen von Gruppen stammen, die immer schon ihre Feinde waren.“33
Das praktische und theoretische Aufbegehren gegen die Aufklärung, wie sie von Kant und dem deutschen Idealismus vertreten wurde, wurzelt in uneingelösten Versprechen, wie die Ausrufung eines bürgerlichen Staates, in dem Männer, Frauen, People of Colour und viele mehr lange Zeit eben nicht gleich waren. Statt also auf die allgemeine Gleichheit zu verweisen (Universalität), wird Andersartigkeit (Differenz) zur zentralen Kategorie. Eagleton sieht in der Bewegung hin zu Differenz anstelle von Universalität nicht etwas Problematisches, sondern erkennt an, dass politisch notwendiges und praktisch benötigtes widerständiges Potential in solchen Denkkategorien liegt. Er betont aber, dass auch dieses Entdecken einer eigenen Subjektivität immer nur dann als Differenz verstanden werden kann, wenn sie im Verhältnis zu einem Gegenüber geschieht. Insofern haben wir es wieder mit einem Universalismus zu tun. Dieser soll aber keiner sein, der Unterschiede negiert: „Die Neudefinition der Beziehungen zwischen Differenz und Universalität ist somit mehr als eine theoretische Übung; sie könnte durchaus ein Indikator für eine lohnenswerte politische Zukunft sein.“34 Wir können also an diesem kurzen Aufriss sehen, dass Ambivalenz und Spannungshaftigkeit Kategorien sind, die einige prominente Ansätze des postmodernen Theoretisierens durchziehen. Ohne auf konkrete politische oder theoretische Auseinandersetzungen eingegangen zu sein, zeigt sich eine solche Ambivalenz aber als theoretisch passfähig zum vorher formulierten Begriff der Ungleichzeitigkeit. Ohne die, zugebenermaßen wichtigen, Differenzen zeigt sich damit die Postmoderne verwandt zur Moderne, indem auch ihr eine eigenständige Widersprüchlichkeit innewohnt. Der Verweis auf die Moderne mag hier weniger der Glaube an Wahrheit zu sein, als vielmehr die Reflexion der eigenen Unfreiheit. Die Postmoderne, im Verweis auf die Moderne, ist so verstanden nur der Ausdruck der Selbstreflexion auch eine Selbstveränderung folgen zu lassen. Nachdem die Kategorie der Zeit und damit auch die der Kultur ein wenig abgeklopft wurden, möchte ich nun zurückkehren zum Raum. Ich komme, vermittels durch einen weiteren Text, zurück zu einem konkreten Beispiel der Glasarchitektur.
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Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 65. Ebd., S. 162. Ebd., S. 159.
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VI Die Kartografie des postmodernen (Glas)Raums „Dramatische Veränderungen in der ästhetischen Produktion werden am deutlichsten im Bereich der Architektur sichtbar, wo die neuen theoretischen Probleme sehr markant artikuliert und zur zentralen Fragestellung erhoben wurden.“35 Was Eagleton in eher allgemeiner und essayistischer Form zur Postmoderne ausführt, findet sich in kondensierter Form in Frederic Jamesons Überlegungen zur Glasarchitektur in der Postmoderne. Ähnlich wie Eagleton begreift Jameson die Postmoderne nicht als eine spezifische Theorieschule, sondern als Kulturform der Nachkriegszeit, die damit zwar die Art einer historischen Epoche annimmt, die aber ohne Historisierung auskommt, sofern man sie als spezifische kulturelle Dominante begreift: Eben deshalb scheint es mir wichtig, Postmoderne nicht als Stilrichtung, sondern als kulturelle Dominante zu begreifen: eine Konzeption, die es ermöglicht, die Präsenz und die Koexistenz eines Spektrums ganz verschiedener, jedoch einer bestimmten Dominanz untergeordneter Elemente zu erfassen.36
Die Kulturform der Postmoderne ist, trotz ihrer Heterogenität, durch drei Merkmale gekennzeichnet: 1. Ein neuer Umgang mit Oberflächen und daher auch ein anderes Verständnis von Bildern und Räumlichkeiten. 2. Eine Grundstimmung der Emotionalität, die Jameson mit dem Gefühl des Erhabenen vergleicht. 3. Neue technologische Möglichkeiten, wie die gegenwärtige Form des technologischen Fortschritts, sowie seiner soziohistorischen Situiertheit.37 Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf den ersten und dritten Punkt beschränken, da dies durch das Glas am plastischsten zu veranschaulichen ist. Ich möchte dabei Jameson folgen, der die Glasarchitektur als Signum eines Verständnisses von Postmoderne analogisiert, das uns mit einer gewissen Überforderung konfrontiert. Nachdem Jameson die oben genannten Momente der Postmoderne erläutert hat, kommt er zurück auf die Architektur, im Besonderen auf das Bonaventure Hotel in Los Angeles. Dieser „Hyperraum“38 soll ihm anschließend als Beispiel dafür dienen, das die technologische Entwicklung die Wahrnehmungsfähigkeit überholt hat. Schauen wir uns also die Ungleichzeitigkeit an, die Jameson zu topologisieren versucht. Jameson beginnt seine Beschreibung bezeichnenderweise in Abgrenzung zu modernistischen bzw. utopistischen Architekturentwürfen und konzentriert sich zunächst darauf, inwiefern das Gebäude eine eigene Totalität repräsentiert:
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Jameson, Frederic: „Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, in: Huyssen, Andreas/ Scherpe, Klaus R. (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 45. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 50 ff. Wie Jameson mehrfach betont, ist die Grundlage seiner Gesellschaftsanalyse, die sich mehr auf der Ebene der Kultur abspielt, das Buch von Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972. Ebd., S. 83.
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Glasarchitektur als Denkraum von der Moderne bis zur Gegenwart
Das Bonaventure und einige andere postmoderne Gebäude wie das Beaubourg in Paris oder das Eaton Center in Toronto sind darauf angelegt, als totaler Raum zu gelten, als eine in sich vollständige Welt, eine Art Miniaturstadt. Man könnte meinen, daß mit dieser neuen totalen Raumvorstellung eine neue kollektive Praktik korrespondiert, eine neue Art, in der Individuen sich bewegen und sich versammeln, etwa wie die Praxis einer neuen und historisch originären Hyper-Menschenmenge. In diesem Sinne sollte die Mini-City des Bonaventure eigentlich überhaupt keine Eingänge haben, denn der Zugangsweg ist immer die Nahtstelle, die das Gebäude mit der übrigen Stadt verbindet. Das Bonaventure will nicht Bestandteil der Stadt sein, sondern ihr Äquivalent, ihr Substitut, ihr ‚Ansta(d)tt’.39
Hervorgehoben wird dies dann durch die Glasfassade des benannten Hotels, womit das Material wieder zur Geltung kommt: Das Glashaus des Bonaventure: eine merkwürdige und gleichsam ortlose Absetzbewegung von der Umgebung. Die Umwelt ist eigentlich auch nicht die Außenwelt; denn wenn man versucht, auf die Außenwände des Hotels zu sehen, sieht man durch den Spiegeleffekt nicht das Hotel selbst, sondern Bildreflexe von all dem, was es umgibt, und die sind verformt und entstellt.40
Diese spezifische Form von Nicht-Oberflächlichkeit, auf die Jameson in Zusammenhang mit der Postmoderne immer zurückkommt, wird nicht nur durch die Außenhülle dieses Baus illustriert, sondern setzt sich im sechsstöckigen Atrium fort, dem eine Gewächshausdecke aufgesetzt ist. Ein solch großer Raum, so der amerikanische Kulturtheoretiker, lasse sich kaum noch erfassen, seine überdimensionale Leere lasse das Subjekt in diesem Hyperraum verschwinden, was vor allem durch ständige Betriebsamkeit erzeugt werde. Weiterhin trägt die architektonische Konfiguration zu einer noch stärkeren Verwirrung bei: An den Hauptbau sind vier exakt zueinander symmetrische Türme errichtet, die die Orientierung fast unmöglich machen.41 Ausgehend von ebenjener Desorientierung, die am architektonischem Raum par excellence erfahren werden kann und die uns, zumindest am Material Glas betrachtet, in ein verwirrendes Oberflächen-Raum-Verhältnis stürzt, entwickelt Jameson seine Theorie des postmodernen Raumverständnisses: Meine Hauptthese ist, daß es mit dieser neuesten Verwandlung von Räumlichkeit, daß es dem postmodernen Hyperraum gelungen ist, die Fähigkeit des individuellen menschlichen Körpers zu überschreiten, sich selbst zu lokalisieren, seine unmittelbare Umgebung durch die Wahrnehmung zu strukturieren und kognitiv seine Position in einer vermeßbaren äußeren Welt durch Wahrnehmung und Erkenntnis zu bestimmen. Und so meine ich, daß die beunruhigende Diskrepanz zwischen dem Körper und seiner hergestellten Umwelt (das vergleichbare Moment der Irritation in der Moderne verhält sich hierzu wie die Geschwindigkeit eines Raumschiffes zu der des Automobils) selbst als Symbol und Analogon für ein noch größeres Dilemma stehen kann: die Unfähigkeit unseres Bewußtseins (zur Zeit jedenfalls), das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind.42
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F. Jameson: Postmoderne, S. 86. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 88.
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Jameson beschreibt eine konkrete Raumerfahrung, die metaphorisch Weltbegreifen veranschaulichen soll. Von dieser Überlegung aus kann er die Sphäre künstlerischer Betätigung – Architektur gehört dazu – als kulturellen Raum begreifen. Ein Raum, der ganz buchstäblich, bspw. im Sinne gegenkultureller Zentren, in „kritischer Distanz“ zu den Räumen der herrschenden Klasse und dem Kapital stand. Diese Distanz bricht, so Jameson, im Postmodernismus zusammen.43 Während die Sphäre der Kultur zunächst einen Angriffspunkt gegen den Kapitalismus darstellte, haben wir nun eine fundamentale Verschiebung erfahren: Nun war aber festzustellen – und darauf kommt es an –, daß im neuen ‚Raum‘ der Postmoderne die Distanz ganz allgemein (und die ‚kritische Distanz‘ im Besonderen) abgeschafft worden ist. Wir sind ab sofort in diese aufgefüllten, diffusen Räumlichkeiten so weit eingetaucht, daß unsere nunmehr postmodernen Körper der räumlichen Koordinaten beraubt sind: praktisch und auch theoretisch unfähig, Distanz herzustellen.44
Über einen ganz anderen Weg sind wir nun zurück zu Scheerbarts Forderung gelangt. Während Letztgenannter mit seiner Glasarchitektur gleichfalls den neuen Raum und damit die neue Kultur konstituieren wollte, mahnt Jameson an, dass dieser neue Raum, und damit eine neue Kultur, bereits im Entstehen begriffen ist. Ein dreiviertel Jahrhundert nach Scheerbart stellt Jameson also fest, dass die Glasarchitektur Wahrnehmungsformen radikal umformte. Der neu entstandene (Glas)Raum mit seiner alles diffus durchdringenden Kulturform, ist dabei wohl nicht die Scheerbatsche Utopie. Die, durch Architektur produzierten Raumerfahrungen und die dadurch geschaffene Kultur begreift Jameson aus der Genese von Raumvorstellungen. So erläutert er, dass jede neue gesellschaftliche und technologische Entwicklung neue Formen der Raumerfahrung produziert hat. Diese Entwicklungstendenz zwingt uns– und so haben wir es an den Formen der Architektur gesehen – eine gegenwärtige Raumästhetik zu entwickeln. Jameson schlägt hierfür eine Ästhetik der Kartografie vor: Eines steht fest: Wir können nicht zu einer ästhetischen Praxis zurückkehren, die auf historischen Verhältnissen und Problemstellungen basiert, die nicht mehr die unsrigen sind. Ein unserer Situation angemessenes Modell der politischen Kultur muß nach dem Konzept, das ich hier zu entwickeln versuche, die Frage des Raums zur wichtigsten Problemstellung machen. Die Ästhetik dieser neuen (und nur hypothetisch zu fassenden) Kultur möchte ich daher vorläufig als die eines Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis (cognitive mapping) definieren.45
Als Grundlage einer solchen Kartografie zieht Jameson das Modell des Stadtraums heran. Aber auch hier bleibt er nicht bei der Analogie stehen, sondern stellt die Frage nach der begrifflichen Schwierigkeit, die sich auch schon in dem Problem von Orientierung in einem Stadtgebiet ergeben kann:
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Vgl. ebd., S. 94. Ebd. Ebd., S. 88.
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Hier nun ergibt sich die Notwendigkeit, eine Kartographie, die auf unser Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen zielt, weiter zu fassen, und zwar als Koordination von Fakten und Daten der Lebenswelt (die empirische Position des Subjekts) einerseits und von abstrakten Begriffen der geographischen Totalität andererseits.46
Jameson führt die Geschichte der Kartografie bis zur Gegenwart an, in der gerade die Darstellung des gekrümmten Raumes an Bedeutung gewinnt, und mahnt, dass es sich bei aller scheinbaren Korrektheit im Erfahrbaren um eine ungenaue Repräsentationsmatrix handelt. Dieses Verständnis des Kartografierens als die Vermessung unseres eigenen (gesellschaftlichen) Raumes führt uns, so Jameson, genau in diese Unschärferelationen. So erlebt sich das Subjekt in der Orientierungslosigkeit des eigentlich bekannten Raumes. Diese Orientierungslosigkeit übersetzt sich handfest in politische Kategorien, in dem Sinne, dass vor allem die Produktion des eigenen Standorts hinter der Tatsache, dass man überhaupt irgendwo ist, zurücktritt: Aber das Problem auf diese Weise neu zu formulieren heißt gleichzeitig, sich den neuartigen und größeren Schwierigkeiten der Landkarte zu stellen, die sich in dem von mir hier diskutierten globalen Raum der Postmoderne bzw. des multinationalen Kapitals ergeben. Daß es hier nicht nur um rein theoretische, sondern unmittelbar praktisch-politische Fragen geht, zeigt die in unserer ersten, westlichen Welt weit verbreitete Vorstellung, daß man seiner existentiellen Erfahrung nach tatsächlich in einer postindustriellen Gesellschaft lebt, aus der die traditionellen Produktionsformen angeblich verschwunden sind und in der es keine gesellschaftlichen Klassen im herkömmlichen Sinn mehr gibt – ein Bewußtsein, das unmittelbaren Einfluß auf die politische Praxis hat.47
In dieser zeitdiagnostischen Feststellung finden wir etwas von der Bloch‘schen Unterscheidung von Geschichte und Fortschritt wieder. Zum einen der geschichtsphilosophische Hinweis: Das Bewusstsein der heutigen Zeit ist, trotz all der technischen Möglichkeiten für ein angenehmeres und besseres Leben für alle, auf dem Weg, all das Elend zu ertragen, anstatt es zu überwinden. Des Weiteren der Hinweis, dass ein technischer Fortschritt stattfindet, dieser Fortschritt aber eben nicht zwangsläufig eine Verbesserung im Sinne eines ethischmoralischen ist. Kehren wir aber noch einmal zu Jameson zurück und fragen jetzt, wie dieser gerade benannte Standort des Subjektes nun über ihn hinaus, und das hieße als Karte, nicht nur für den Einzelnen, sondern eben als intersubjektive Orientierungsmöglichkeit genutzt werden kann? Jameson verweist hier auf eben jene Ambivalenz, die wir bei Eagleton schon kennengelernt haben, als radikale Position der Differenz oder des Subjektes.48 Jamesons Versuch der Auflösung besteht nun darin, dass er auf die Unterschiede zwischen Ideologie und Wissenschaft hinweist:
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Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Auch wenn bisher unterbestimmt, spielt das Subjekt oder auch die Subjektivierung eine maßgebliche Rolle in den Werken der hier angesprochenen Theoretikern, Michelle Foucault ist nur das prominenteste Beispiel.
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Diese Theorie bestreitet nicht, daß wir die Welt und ihre Totalität auf abstrakte oder wissenschaftliche Weise erkennen können – gerade marxistische Wissenschaft bietet einen solchen Weg der abstrakten Erkenntnis und Begriffsbildung an, zum Beispiel in dem Sinn, in dem Mandelst großes Buch über den Spätkapitalismus ein reichhaltiges und elaboriertes Wissen über dieses globale Weltsystem präsentiert. Es geht also keineswegs darum, daß dieses Wissen etwa nicht erkennbar und erreichbar wäre, sondern darum, daß es nicht repräsentierbar ist.49
Das Problem des Raumes und der Räumlichkeit ist zuletzt also auch ein Problem des Wissens über den jeweiligen Standort und sein Verhältnis im Netz der Umgebung. Im Bonaventure Hotel brachte man hierfür Wegmarkierungen an – eine wohl nur provisorische Lösung. Aber auch wenn Jameson hier in einer unaufgelösten Frage verharrt, schwebt ihm sicherlich nicht ein verspiegelter Reflex vor, sondern eher wieder die Reflexion der Verzerrung, die man auch im Glasmantel von Jamesons Beispielobjekt beobachten könnte. So endet er auch: Dabei sollte ein Durchbruch möglich sein zu heute noch nicht vorstellbaren neuen Formen der Repräsentation dieses Raums, mit denen wir wieder beginnen können, unseren Standort als individuelle und kollektive Subjekte zu bestimmen. Nur so wäre eine neue Handlungs- und Kampfesfähigkeit zu gewinnen, die zur Zeit in der herrschenden räumlichen wie gesellschaftlichen Konfusion neutralisiert worden ist. Wenn es so etwas wie eine politische Erscheinungsform der Postmoderne geben sollte, so wäre diese dazu aufgerufen, eine globale Kartographie unserer Wahrnehmung und Erkenntnis zu entwerfen und diese in den genau zu ermessenden gesellschaftlichen Raum zu projizieren.50
VII Schluss: Durchsicht, Übersicht, Einsicht Jameson lässt uns mit einer Frage zurück, die Scheerbart emphatisch beantworten konnte. Für Scheerbart stand fest, dass mit einer neuen Architektur auch ein neuer Raum mitgedacht und mitkonstruiert werden muss. Jameson wiederum weist darauf hin, dass für die Postmoderne eine neue Architektur geschaffen wurde, allerdings ohne dass ein Bewusstsein für eine neue Kultur ausgeprägt gewesen wäre. In der aktuellen Zeit sind mannigfaltige Glaspaläste bereits entstanden und die vorhin kurz erwähnte Verglasfaserisierung (Digitalisierung) stellt sicherlich eine Glastopologie mit ihrer eigenen Logik dar, deren Kartografie bereits im Entstehen begriffen ist. In diesem Sinne können sich im politischen und theoretischen Raum ebenso neue Entwicklungen verorten lassen. So versuchen die Politikwissenschaftler Nick Srnicek und Alexander Williams mit ihrem Buch Die Zukunft erfinden die zumindest theoretische Ambivalenz, die Eagleton aufgeworfen hat, im Sinne eines universalistischen Partikularismus produktiv zu wenden. 51 49
50 51
F. Jameson: Postmoderne, S. 99. Slavoj Žižek versucht dieses Problem dahingehend aufzulösen, dass es in unserer Welt nur noch Ideologien gibt. Der „postideologische“ Zustand wäre demnach der ideologischste überhaupt. Vgl. Žižek, Slavoj: Auf verlorenem Posten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. F. Jameson: Postmoderne, S. 100. Srnicek, Nick/Williams, Alexander: Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit, Berlin: Edition Tiamat, 2016, S. 85–100.
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Die neusten Bemühungen um den Begriff der Avantgarde oder zur Reaktivierung der Moderne,52 scheinen ein untrügliches Kennzeichen dafür zu sein, dass die Ungleichzeitigkeit unserer Gegenwart, die nicht die Moderne ist, aber dennoch Potentiale eben jener enthält, wieder herauszukehren ist: […] daß die moderne Kunst zwar ein gegenüber der traditionellen Kunst Anderes, aber doch auch ein mit der traditionellen Kunst Identisches ist, nur eben daß alles, was an Problemen und Schwierigkeiten subkutan war, was durch die geschlossene Oberfläche der Kommunikation vorher verdeckt worden ist, nun eigentlich und wesentlich hervortritt.53
Gerade im Zeichen der Digitalisierung gilt es, die neuesten Konfigurationen des Glasdenkens zusammenzuführen. Scheerbarts Hinweis, dass es sich um eine geophilosophische Übung handelt, zeigt enorme Aktualität.54 Die Moderne bleibt so, in transformierter Hinsicht, ein Begleiter. Nicht zuletzt indem Reflexion und Veränderung immer stärker Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werden.55 Und so kann der konsequente Schluss wohl nur darin bestehen, ähnlich wie es das Duo Scheerbart/Taut tat, sowohl nach dem Material des neuen Milieus zu suchen als auch nach seiner sprachlichen und metaphorischen Beschaffenheit zu fragen. Solch gefundene Räume gilt es dann nicht nur aufzuzeigen, sondern ganz real an ihrem Bau mitzuwirken.
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Seit einigen Jahren, ausgehend von der Architektur, findet sich der Begriff der Neomoderne in der Literatur. Einzelne kritische Besprechungen für die zeitgenössische Kunst liegen bereits vor, bspw. von Geers, David: “Neo-Modern”, in The MIT Press, vol. 139, October 2012, S. 9–14. Da der Begriff sich aber zunehmend über diese Disziplinen hinaus verbreitet, wäre eine umfassende Sichtung seiner Verwendungsweisen und Wirkungen wohl angeraten, vgl. Homscheid, Thomas: Interkontextualität. Ein Beitrag zur Literaturtheorie der Neomoderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 369. Adorno, Theodor W.: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen Bd. 3: Ästhetik 1958/1959, hrsg. v. Eberhard Ortland, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017, S. 138. Stefan Günzel zeigt in seiner 2015 erschienen Studie über Friedrich Nietzsche den Zusammenhang zwischen Metaphern des Raumes und der Geografie und philosophischen Fragestellungen. Sein Ansatz, der zunächst auf Nietzsche fokussiert, könnte fruchtbar sein für eine allgemeine Philosophie, die einen begrifflichen Gehalt von Raum-Metaphern herausstellen kann, vgl. Günzel, Stephan: Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin/Boston: Akademie Verlag, 2015. So war und ist es Forderung der Fridays for Future, aber auch der Black Lives Matter-Bewegung gewesen, nicht nur zu verstehen, sondern durch das Verstehen auch Veränderungen zu bewirken.
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Stefan U. Egelhaaf
Gläser aus physikalischer Sicht
Die statistische Physik beschäftigt sich mit Systemen, die aus vielen Objekten oder Teilchen bestehen, und versucht, die Eigenschaften des gesamten Systems mit dem Verhalten der einzelnen Teilchen in Verbindung zu bringen. Dabei stehen kollektive, emergente Phänomene im Vordergrund, die auf dem Zusammenspiel vieler Teilchen beruhen.1 Eine klassische Fragestellung betrifft das Auftreten verschiedener Aggregatzustände sowie Übergänge zwischen diesen Aggregatzuständen. Beispielsweise erstarrt eine Flüssigkeit zu einem kristallinen Festkörper, wenn die Temperatur unter die Erstarrungstemperatur sinkt. Wenn die Temperatur sehr schnell erniedrigt wird, kann sich jedoch stattdessen ein Glas bilden. Das bekannteste Glas ist Fensterglas. Es gibt jedoch eine Vielzahl verschiedener Gläser, die aus atomaren, anorganischen, organischen, polymeren oder kolloidalen Glasbildnern bestehen können. Dieses Kapitel präsentiert die Sicht der Physik auf den Glaszustand und die physikalischen Eigenschaften von Gläsern. Dies erfordert zunächst eine Beschreibung der Aggregatzustände. Abhängig von den Bedingungen, insbesondere Temperatur, Volumen, Druck und Stoffmenge, kann Materie in verschiedenen Aggregatzuständen auftreten. Die klassischen Aggregatzustände sind Festkörper, Flüssigkeit und Gas.2 Ein vertrautes Beispiel ist Wasser, das als Eis, (flüssiges) Wasser und Wasserdampf vorliegen kann. Es fällt nicht schwer, diese drei Aggregatzustände zu unterscheiden. Eis behält seine Form und Größe unter einer gewöhnlichen Krafteinwirkung bei. Hingegen lässt sich flüssiges Wasser sehr leicht verformen. Dies erfolgt bereits unter der Einwirkung seiner eigenen Gewichtskraft, es fließt und passt sich der Form des Gefäßes an. Obwohl Wasser unter Einwirkung einer kleinen Kraft seine Form verändert, ändert sich die Größe seines Volumens normalerweise nicht merklich. Darin unterscheidet sich flüssiges Wasser von Wasserdampf, der versucht das gesamte zur Verfügung stehende Volumen einzunehmen. Diese Zuordnung zu einem Aggregatzustand 1 2
Andersen, P. W.: „More is Different“, in: Science 177 (1972), S. 393–396. Scobel, Wolfgang/Lindström, Gunnar/Langkau, Rudolf: Physik kompakt 1, Berlin: Springer 22002. Dorfmüller, Thomas/Hering, Wilhelm T./Stierstadt, Klaus: Bergmann • Schaefer: Lehrbuch der Experimentalphysik, Band 1: Mechanik, Relativität, Wärme, Berlin: Walter de Gruyter 111998. Tabor, David: Gases, Liquids and Solids and Other States of Matter, Cambridge: Cambridge University Press 31991.
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Stefan U. Egelhaaf
beruht auf den sehr unterschiedlichen mechanischen Eigenschaften, nämlich der für eine Verformung oder eine Kompression benötigten Kraft. Nicht nur Wasser tritt in verschiedenen Aggregatzuständen auf, sie treten auch bei anderen Materialien auf, die von atomaren und molekularen bis zu kolloidalen Materialien reichen. Um die zugrunde liegende Physik zu veranschaulichen, nutzen wir im Folgenden neben Wasser auch kolloidale Systeme als Beispiel. Kolloide sind nano- bis mikrometergroße Partikel, die in einer Flüssigkeit suspendiert sind.3 Kolloidale Partikel mit verschiedenen Größen, Formen und Partikel-Partikel Wechselwirkungen können hergestellt werden. In der Flüssigkeit führen die Partikel aufgrund der thermischen Energie eine zufällige Bewegung aus, die sogenannte Brownsche Bewegung. Größere kolloidale Partikel sind mit einem optischen Mikroskop sehr einfach beobachtbar, da ihre Größe in etwa der Wellenlänge des Lichts entspricht. Außerdem sind die Bewegungen viel langsamer als die Bewegungen der sehr viel kleineren Atome und Moleküle. So können nicht nur die Partikelpositionen bestimmt, sondern auch die Partikelbewegungen verfolgt und die Partikeltrajektorien erhalten werden. Dies erlaubt die Beobachtung und quantitative Charakterisierung von kolloidalen Systemen auf allen relevanten Längenskalen vom Verhalten des Gesamtsystems bis hinunter zu den einzelnen Partikeln. Dies ist insbesondere deshalb interessant, weil Kolloide dieselben Aggregatzustände wie atomare und molekulare Systeme zeigen.4 Kolloidale Systeme werden deshalb häufig und sehr erfolgreich als variantenreiche, kontrollierbare und einfach beobachtbare Modellsysteme benutzt. Die verschiedenen Aggregatzustände unterscheiden sich nicht nur in der beschriebenen Form- und Größenänderungen durch eine Krafteinwirkung, den rheologischen Eigenschaften, sondern auch im Verhalten der einzelnen Teilchen.5 Dies betrifft sowohl die Anordnung als auch die Bewegung der Teilchen, die letztendlich für das beobachtete rheologische Verhalten des Gesamtsystems verantwortlich sind. Andererseits werden die Anordnung und Bewegung der Teilchen durch die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen bestimmt. Haben die Teilchen einen kleinen Abstand, stoßen sie sich typischerweise ab, während sie sich in einem größeren Abstand eher anziehen und in ganz großer Entfernung keinen merklichen Einfluss aufeinander ausüben, wobei die Details der Wechselwirkung von den spezifischen Teilchen abhängen.6 Die Stärke der Wechselwirkung im Vergleich zur thermischen Energie bestimmt die Anordnung und Bewegung der Teilchen.7 In einem Festkörper wie Eis sind die Teilchen (hier Wassermoleküle) in einem Kristallgitter angeordnet und zeigen deshalb eine regelmäßige Ordnung (Abb. 1a). Die Teilchen bewegen sich nur in der Nähe ihres Gitterplatzes, wohingegen größere Verschiebungen 3 4 5 6 7
Pusey, Peter N.: „Colloidal Suspensions“, in: J. P. Hansen/D. Levesque/J. Zinn-Justin (Hg.), Liquids, Freezing and Glass Transition, Elsevier 1991, S. 763–942. Poon, Wilson: „Colloids as Big Atoms“, in: Science 304 (2004), S. 830–831. Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Ebd.
46
Gläser aus physikalischer Sicht
(b) Flüssigkeit
(c) Gas
Volumenänderung
mech. Eigenschaften
Formänderung
Teilchentrajektorien
Teilchenanordnung
(a) Festkörper
1 Schematische Darstellung der Teilchenanordnung, Teilchentrajektorien und mechanischen Eigenschaften, was Form- und Volumenänderungen einschließt, (a) eines Festkörpers, (b) einer Flüssigkeit und (c) eines Gases. Ursprüngliche Volumina sind durch unterbrochene Linien repräsentiert und durch Kräfte (Pfeile) verformte bzw. komprimierte Volumina durch durchgezogene Linien.
und insbesondere Platzwechsel kaum auftreten.8 Deshalb werden selbst für kleine Deformationen oder Volumenänderungen große Kräfte benötigt. Wegen der Anisotropie des Kristallgitters die Größe der benötigten Kraft von der Richtung ab bzw. ist die Deformation 8
Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Giancoli, Douglas C.: Physik, München: Pearson 42019.
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richtungsabhängig. Sobald die Kraft nicht mehr angewendet wird, kehrt ein Festkörper in seine ursprüngliche Form zurück, sofern die Kraft nicht zu groß war; der Festkörper ist elastisch. Hingegen ist die Verformung irreversibel, sofern die Kraft über einem Schwellenwert lag; der Festkörper reagiert dann plastisch. Im Gegensatz dazu sind in flüssigem Wasser, wie auch in anderen Flüssigkeiten, die Teilchen im Wesentlichen ungeordnet. Sie zeigen nur bei kurzen Abständen eine Ordnung, die kurzlebig und richtungsunabhängig ist (Abb. 1b).9 Durch den Einfluss der thermischen Energie sind die Teilchen nicht an bestimmte Positionen gebunden. Dennoch ist die Bewegung eines Teilchens durch die Nachbarteilchen eingeschränkt, die einen „Käfig“ um das Teilchen bilden. Bevor das Teilchen an ein Nachbarteilchen, seinen Käfig, stößt, legt es nur einen kurzen Weg zurück. Dieser ohne Stoß zurückgelegte Weg, die freie Weglänge, ist in einer Flüssigkeit deutlich kleiner als die Teilchengröße und wird mit abnehmender Temperatur oder ansteigender Teilchenkonzentration zunehmend kürzer. Das Teilchen ist dadurch immer länger gefangen, bevor es den Käfig verlassen kann. Über größere Entfernungen führt es eine zufällige Bewegung aus, die sich über das gesamte Volumen der Flüssigkeit erstreckt. Die Teilchen bewegen sich aneinander vorbei ohne ihre Entfernung deutlich zu verändern, wodurch sich die Dichte der Flüssigkeit von dem entsprechenden Festkörper nur wenig unterscheidet.10 Durch die Beweglichkeit der einzelnen Teilchen kann sich die Form der gesamten Flüssigkeit leicht verändern. Eine Krafteinwirkung führt dazu, dass die Flüssigkeit fließt. Nach der Krafteinwirkung kehrt die Flüssigkeit nicht mehr in die ursprüngliche Form zurück. Da die eigene Gewichtskraft ausreicht, um die Flüssigkeit zu deformieren, passt sich die Flüssigkeit der Form des Gefäßes an. Im Gegensatz zur Form ist die Größe des Flüssigkeitsvolumens praktisch unveränderlich. Außerdem wird durch die Anziehungskräfte zwischen den Teilchen und die daraus resultierende Oberflächenspannung eine kleine Oberfläche bevorzugt, dies führt zu einem möglichst kompakten Volumen. In einem Gas dominiert die thermische Energie deutlich, so dass sich die Teilchen voneinander lösen und frei bewegen können.11 Die Teilchen sind deshalb ungeordnet und bewegen sich zufällig (Abb. 1c). Sie legen einen langen Weg zurück, bis sie mit anderen Teilchen zusammenstoßen, so dass die freie Weglänge deutlich größer als die Teilchengröße ist. Durch die geringe oder fehlende Anziehungskraft zwischen den einzelnen Teilchen nutzt das Gas nach Möglichkeit den ganzen ihm zur Verfügung stehenden Raum, dies räumt den Teilchen die maximal mögliche Bewegungsfreiheit ein und äußert sich in der sehr geringen Dichte von Gasen. Dies hat auch zur Folge, dass selbst eine sehr geringe Krafteinwirkung nicht nur die Form, sondern auch die Größe des Volumens verändert. Welchen Aggregatzustand ein Material einnimmt, hängt von der Balance zwischen thermischer Energie und Wechselwirkungsenergie ab, wobei die Stärke der Wechselwirkung 9 10 11
Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2).
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Druck p
Gläser aus physikalischer Sicht
kritischer Punkt
Festkörper
Flüssigkeit
Gas
p* ’ pFF ’ pFG Tripelpunkt * T’ TFF
* TFG
Temperatur T
2 Schematisches Phasendiagramm in der Druck-Temperatur-Darstellung mit Schmelz- bzw. Erstarrungskurve (durchgezogene Linie), Siedepunktsbzw. Kondensationskurve (unterbrochene Linie) und Sublimations- bzw. Resublimationskurve (gepunktete Linie). Die horizontale graue, unterbrochene Linie repräsentiert eine Temperaturänderung bei konstantem Druck p* und die entsprechenden Übergangstemperaturen T * und T * FF FG und die vertikale graue, gepunktete Linie repräsentiert eine Druckänderung bei konstanter Temperatur T‘ und die entsprechenden Übergangsdrücke p ‘ and p ‘. Das Phasendiagramm FF FG ist nicht maßstabsgetreu.
vom Teilchenabstand abhängt. Diese Balance wird durch verschiedene Parameter, insbesondere durch die Temperatur, den Druck, das Volumen und die Stoffmenge, beeinflusst. Für jede Kombination der entsprechenden Werte gibt es einen energetisch günstigsten, thermodynamisch stabilen Zustand, in dem ein oder mehrere Aggregatzustände vorliegen.12 Dies wird in Phasendiagrammen dargestellt,13 wobei jedes Material sein eigenes, spezifisches Phasenverhalten zeigt. Ein Phasendiagramm in der Druck-Temperatur-Ebene ist in Abb. 2 schematisch dargestellt. (Die Darstellung repräsentiert ein typisches Phasendiagramm, gegenüber dem das Phasendiagramm von Wasser charakteristische Besonderheiten aufweist.) Das Phasendiagramm zeigt, für welche Kombinationen von Druck und Temperatur bei sonst konstanten Parametern welche Aggregatzustände auftreten. Beispielsweise erfolgt bei einem konstanten Druck p* und ansteigender Temperatur (horizontale graue, unterbrochene Linie von links nach rechts) bei der Schmelztemperatur TFF* ein Übergang von einem Festkörper zu einer Flüssigkeit und bei der Siedetemperatur TFG* ein Übergang von einer Flüssigkeit zu einem Gas. Die gleiche Sequenz von Aggregatzuständen kann durch Druckerniedrigung bei konstanter Temperatur T‘ durchlaufen werden (vertikale graue, gepunktete Linie von oben nach unten). Alle Paare aus Schmelztemperatur und -druck (TFF, pFF) bilden die Schmelz- bzw. Erstarrungskurve (durchgezogene Linie) und alle Paare aus Siedetemperatur und -druck (TFG, pFG) bilden die Siedepunkts- bzw. Kondensationskurve (unterbrochene Linie), die im kritischen Punkt endet. Entsprechend erfolgt der Übergang zwischen einem Festkörper zu einem Gas entlang der Sublimations- bzw. Resublimationskurve (gepunktete Linie). Für diese Paare koexistieren die beiden benachbarten Aggregatzustände und beim gemeinsamen Punkt aller drei Kurven, dem Tripelpunkt, liegen alle drei 12 13
Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2).
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Aggregatzustände vor. Bei einer Temperatur TFF und dem entsprechenden Druck pFF, d. h. entlang der Schmelzkurve, liegen entsprechend zwei Aggregatzustände vor, in einem Bereich des Systems ein Festkörper und in einem anderen Bereich eine Flüssigkeit. Beispielsweise koexistieren bei 0°C und Atmosphärendruck Eis und Wasser. Analog koexistieren eine Flüssigkeit und ein Gas entlang der Siedepunktskurve, wobei sich die Konzentration der Flüssigkeit und die Konzentration des Gases immer weiter angleichen, bis diese beim kritischen Punkt gleich sind und der Unterschied zwischen einer Flüssigkeit und einem Gas verschwindet. Durch die Änderung eines oder mehrerer Parameter kann somit gezielt eine Änderung des Aggregatzustands herbeigeführt werden.14 Beispielsweise kann Wasser in Eis überführt werden, indem die Temperatur unter die Erstarrungstemperatur erniedrigt wird. Der Übergang ist mit einer sprunghaften Änderung der Materialeigenschaften verbunden. Insbesondere ändert sich die Anordnung der Wassermoleküle qualitativ. Die Wassermoleküle sind in der Flüssigkeit ungeordnet und im Festkörper geordnet. Damit der Übergang von einer Flüssigkeit zu einem Festkörper tatsächlich erfolgt, müssen sich die Teilchen zu den Gitterplätzen bewegen, d. h. die in der Flüssigkeit ungeordneten Teilchen müssen sich während des Übergangs in ein regelmäßiges Kristallgitter anordnen.15 Damit ändert sich die Symmetrie der Anordnung im Gegensatz zum Übergang von einer ungeordneten Flüssigkeit zu einem ungeordneten Gas. Dadurch ist der Übergang von einer Flüssigkeit zu einem Festkörper komplexer. Er kann nur erfolgen, wenn die Beweglichkeit der Teilchen hoch genug ist, um in der zur Verfügung stehenden Zeit eine entsprechende Distanz zurückzulegen. Wenn die Beweglichkeit in der Nähe des Übergangs zu sehr eingeschränkt ist, die zurückzulegende Distanz zu groß ist und die Änderung der Parameter, beispielweise die Temperaturerniedrigung, zu schnell erfolgt, können die Teilchen die Gitterplätze möglicherweise nicht erreichen. Dann kann sich kein geordneter Festkörper bilden, obwohl dies der energetisch günstigste, thermodynamisch stabile Gleichgewichtszustand ist. Stattdessen verharrt das Material in einem Nichtgleichgewichtszustand, einem Glas.16 Aufgrund der mangelnden Bewegungsfreiheit bleiben die Teilchen in einem Glas ungeordnet und die Teilchenanordnung ähnelt der Anordnung in einer Flüssigkeit (Abb. 3).17
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17
Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Scobel/Linström/Langkau 2002 (wie Anm. 2). Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Debenedetti, Pablo G./Stillinger, Frank H.: „Supercooled Liquids and the Glass Transition“, in: Nature 410 (2001), S. 259–267. Ediger, M. D./Harrowell, P.: „Perspective: Supercooled Liquids and Glasses“, in: J. Chem. Phys. 137 (2012), Artikelnummer 080901. Cavagna, Andrea: „Supercooled Liquids for Pedestrians“, in: Phys. Rep. 476 (2009) S. 51–124. Hunter, Gary L./Weeks, Eric R.: „The Physics of the Colloidal Glass Transition“, in: Rep. Prog. Phys. 75 (2012), Artikelnummer 066501. Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Tabor 1991 (wie Anm. 2). Debenedetti/Stillinger 2001 (wie Anm. 16), S. 259–267. Ediger/Harrowell 2012 (wie Anm. 16). Cavagna 2009 (wie Anm. 16), S. 51– 124. Hunter/Weeks 2012 (wie Anm. 16).
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Gläser aus physikalischer Sicht
(a) Festkörper
(b) Flüssigkeit
(c) Glas
10 µm 3 (a) Kolloidaler Kristall, (b) kolloidale Flüssigkeit und (c) kolloidales Glas. Die Abbildungen zeigen Ausschnitte, die mit einem konfokalen Mikroskop aufgenommen wurden. Sie repräsentieren einen Schnitt durch die jeweilige Probe und veranschaulichen außerdem, welche Auflösung üblicherweise verwendet wird.
Nur bei kurzen Abständen ist eine Ordnung erkennbar, während die Teilchen bei größeren Abständen ungeordnet sind. Im Gegensatz zu einer Flüssigkeit sind die Teilchenbewegungen aber enorm eingeschränkt. Die Teilchen können sich zwar im Käfig, den ihre Nachbarteilchen bilden, bewegen, können diesen aber aufgrund der Behinderung durch die Nachbarteilchen nur äußerst selten oder überhaupt nicht verlassen. Abbildung 4 zeigt schematisch ein Teilchen (weiß), das den Käfig aus Nachbarteilchen (grau) nicht verlassen kann. Entsprechend sind auch die Nachbarteilchen im Käfig aus deren Nachbarteilchen gefangen und so weiter. Bewegungen über größere Entfernungen sind dadurch deutlich erschwert oder unmöglich. Damit hängt die Beweglichkeit von der betrachteten Entfernung oder dem betrachteten Zeitintervall ab. Die Bewegungen sind annähernd unbeeinflusst über kurze Entfernungen oder innerhalb kleiner Zeitintervalle, aber stark eingeschränkt über größere Entfernungen oder lange Zeitintervalle. Da die Bewegung eines Teilchens eine Bewegung eines Nachbarteilchens ermöglichen kann, entstehen kurzzeitig Gebiete, in denen sich Teilchen während einer gewissen Zeit mehr bewegen als in anderen Gebieten. Dies führt zu einer räumlichen Heterogenität im Ausmaß der Bewegungen.18 Die Teilchenbewegungen resultieren aus der gegenseitigen Beeinflussung der Teilchen untereinander und zeigen damit die Bedeutung von kollektiven, emergenten Effekten19 für die Existenz von Gläsern. Die unterschiedliche Teilchenanordnung in einem geordneten Festkörper einerseits und einem ungeordneten Glas andererseits zeigen sich in deren Wechselwirkung mit 18 19
Ediger, M. D.: „Spatially Heterogeneous Dynamics in Supercooled Liquids“, in: Annu. Rev. Phys. Chem. 51 (2000), S. 99–128. Andersen 1972 (wie Anm. 1), S. 393–396.
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4 Schematische Darstellung eines kolloidalen Glases. Ein Teilchen (weiß markiert) ist im „Käfig“ aus Nachbarteilchen (grau markiert) gefangen.
Strahlung. Dies ist bei kolloidalen Systemen besonders einfach zu beobachten, da die Größe von Kolloiden vergleichbar mit der Wellenlänge von sichtbarem Licht ist und deshalb sichtbares Licht als Strahlung benutzt werden kann. Wird eine kolloidale Probe, deren Teilchen regelmäßig angeordnet sind, mit weißem Licht bestrahlt, zeigen sich schillernde Farbflecken (Abb. 5a), die durch die konstruktive Interferenz der Wellenlänge bzw. Farbe hervorgerufen werden, die die Bragg-Bedingung erfüllt.20 Dieser Effekt ist auch für das Farbspiel von Opalen verantwortlich. Im Gegensatz dazu erscheint eine ungeordnete Probe, sowohl eine kolloidale Flüssigkeit als auch ein kolloidales Glas, milchig trüb (Abb. 5b). Dies ist ein mit dem bloßen Auge beobachtbarer Hinweis darauf, dass die Teilchen in einem Glas ungeordnet sind, wie in einer Flüssigkeit.21 Die eingeschränkte Beweglichkeit zeigt sich in der geringen Form- und Größenänderung, die selbst eine große Kraft hervorruft.22 Darin ähnelt ein Glas einem Festkörper, obwohl sich die Teilchenanordnungen qualitativ unterscheiden. Außerdem hängen die Änderungen davon ab, wie schnell oder langsam die Deformation oder Kompression erfolgt, dies spiegelt die Abhängigkeit der Beweglichkeit von der betrachteten Entfernung und dem betrachteten Zeitintervall wider. Entsprechend behält ein Glas seine Form über sehr lange Zeit bei und fließt unter dem Einfluss der eigenen Gewichtskraft nicht merklich, im Gegensatz zu einer ebenfalls ungeordneten Flüssigkeit (Abb. 5c,d). Dieses mechanische Verhalten ist ein „fühlbarer“ Hinweis darauf, dass Form- und Größenänderungen eine große Kraft benötigen und entsprechend die Teilchenbewegung in einem Glas deutlich eingeschränkt ist, ähnlich wie in einem Festkörper. Da das Material den Gleichgewichtszustand, ein kristalliner Festkörper, während oder kurz nach der Änderung der Parameter nicht erreichen kann und sich in einem 20 21 22
Hecht, Eugene: Optik, Berlin: de Gruyter 72018. Pusey, Peter N./van Megen, William: „Phase Behaviour of Concentrated Suspensions of Nearly Hard Colloidal Spheres“, in Nature 320 (1986), S. 340–342. Debenedetti/Stillinger 2001 (wie Anm. 16), S. 259–267. Ediger/Harrowell 2012 (wie Anm. 16). Wondraczek, Lothar/Bouchbinder, Eran/Ehrlicher, Allen/ Mauro, John C./Sajzew, Roman/Smedskjaer, Morten M: „Advancing the Mechanical Performance of Glasses: Perspectives and Challenges“, in: Adv. Mater. 34 (2022) Artikelnummer 2109029.
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Gläser aus physikalischer Sicht
optische Eigenschaften
(a) geordnet
(b) ungeordnet
mechanische Eigenschaften
(c) Flüssigkeit
(d) Glas
5 Veranschaulichung der optischen Eigenschaften von kolloidalen Proben mit (a) geordneter Teilchenanordnung (kolloidaler Kristall, der an die Erscheinung von Opalen erinnert) und (b) ungeordneter Teilchenanordnung (selbe Probe bevor sich ein Kristall gebildet hat) sowie Veranschaulichung der mechanischen Eigenschaften (c) einer kolloidalen Flüssigkeit und (d) eines kolloidalen Glases. Am Boden in (a) und (b) ist Ionenaustauscher sichtbar, der für eine niedrige Ionenkonzentration sorgt, aber hier sonst nicht relevant ist.
Nichtgleichgewichtszustand, einem Glas, befindet, versucht es weiterhin den Gleichgewichtszustand zu erreichen.23 Dadurch verändert sich das Material ständig, wenn auch nur extrem langsam und meist unmerklich. Trotz dieses andauernden Prozesses, der als Altern bezeichnet wird, wird der kristalline Festkörper typischerweise auch während sehr langer Zeiten nicht erreicht. Für ein vorgegebenes Material und bestimmte Werte der Parameter Temperatur, Druck, Volumen usw. ist der energetisch günstigste, thermodynamisch stabile Gleichgewichtszustand und damit der vorliegende Aggregatzustand oder die vorliegenden Aggregatzustände eindeutig vorgegeben (Abb. 2). Außerdem verändert sich ein einmal ausgebildeter Gleichgewichtszustand ohne äußere Einwirkung nicht mehr. Da es sich bei einem Glas jedoch um einen Nichtgleichgewichtszustand handelt, gibt es unendlich viele mögliche Zustände. In einem spezifischen dieser Zustände ist das Glas gefangen und kann den Gleichgewichtszustand nicht erreichen.24 Deshalb ist die theoretische Beschreibung von Gläsern eine große Herausforderung. Außerdem gibt es daher für dieselben momentanen Werte der Parameter nicht nur einen, sondern mehrere mögliche Nichtgleichgewichtszustände. Dadurch hängen die Eigenschaften eines Glases nicht nur von den momentanen Werten der Parameter ab, sondern auch von deren früheren Werten und damit der Vorgeschichte. Da die Vorgeschichte eines Glases durch die Herstellung bestimmt wird, kommt ihr eine große Bedeutung zu. Es kann einerseits schwierig sein, einen vorgegebenen Nichtgleichgewichtszustand zu reproduzieren und damit zuverlässig herzustellen, aber andererseits 23 24
Cavagna 2009 (wie Anm. 16) S. 51–124. Hunter/Weeks 2012 (wie Anm. 16). Debenedetti/Stillinger 2001 (wie Anm. 16), S. 259–267.
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ergeben sich neue Möglichkeiten, da mit derselben chemischen Zusammensetzung und für dieselben physikalischen Parameter verschiedene Gläser mit verschiedenen Eigenschaften hergestellt werden können.25 Das erweitert das verfügbare Spektrum an Materialien und eröffnet zahlreiche neue technologische Perspektiven. Für technologische Anwendungen sind die vielfältigen und in einem weiten Bereich variierbaren Eigenschaften von Gläsern von großem Interesse. Dazu trägt auch bei, dass Gläser aus sehr unterschiedlichen Stoffen bestehen können. Weitverbreitet sind anorganische Gläser, die beispielsweise Fensterglas und auf amorphem Silizium basierende Solarzellen einschließen.26 Außerdem bilden einige organische Moleküle, sowohl kleine organische Moleküle als auch langkettige Polymere, ebenfalls Gläser und werden beispielsweise für pharmazeutische Darreichungsformen, elektronische Bauteile oder als Acrylglas verwendet.27 Metallische Gläser zeichnen sich durch ihre im Vergleich zu kristallinen Metallen größere Härte und Festigkeit sowie eine geringere Verformung und eine besonders glatte Oberfläche aus.28 Durch die geringe, elastische Verformung wird die aufgenommene Energie beim Zurückfedern wieder abgegeben, was beispielsweise in Golfschlägern ausgenutzt wird. Neben diesen verschiedenen, künstlich hergestellten Gläsern entstehen natürliche Gläser durch Vulkanismus oder Meteoriteneinschläge.29 Auch Wasser kann ein Glas bilden. Dies wird in der Kryoelektronenmikroskopie ausgenutzt um beispielsweise die Struktur von Biomolekülen zu bestimmen. Dies ist von großer wissenschaftlicher Bedeutung und wurde 2017 mit dem Nobelpreis in Chemie bedacht.30 Die Physik der Gläser ist ein Forschungsgebiet, das noch zahlreiche ungeklärte Fragen bereithält und aktuell enorme internationale Beachtung findet, was sich beispielsweise in der Verleihung des Nobelpreises in Physik 2021 an Giorgio Parisi, der zentrale Beiträge zu diesem Thema geliefert hat, zeigt.31 Ein tieferes Verständnis von Gläsern erlaubt außerdem die Entwicklung von neuen Materialien, die die vielseitigen und einzigartigen Eigenschaften von Gläsern ausnutzen. Dieses vielfältige Potential spiegelt sich darin wider, dass die UNVollversammlung zugestimmt hat, das Jahr 2022 zum Internationalen Jahr des Glases zu erklären.32 Ich danke Jürgen Horbach für zahllose, inspirierende Diskussionen über Gläser und sehr wertvolle Hinweise zu diesem Kapitel sowie Patrick Laermann, Marc Fehr und Andreas Pamvouxoglou für die Proben und deren Aufnahmen (Abb. 3, 5). 25 26 27
Dorfmüller/Hering/Stierstadt 1998 (wie Anm. 2). Wondraczek u. a. 2022 (wie Anm. 22). Lebel, Olivier/Soldera, Armand: „Molecular Glasses: Emerging Materials for the Next Generation“, in: T. van de Ven/A. Soldera (Hg.), Advanced Materials, Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 239–260. 28 Schroers, J.: „Bulk Metallic Glasses“, in: Physics Today (2013), S. 32–37. 29 McCloy, John S.: „Frontiers in Natural and Un-natural glasses: An Interdisciplinary Dialogue and Review“, in J. Non-Cryst. Solids X 4 (2019), Artikelnummer 100035. 30 Siehe https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/2017/summary, zuletzt: 14.04.2022. 31 Siehe https://www.nobelprize.org/prizes/physics/2021/parisi/facts, zuletzt: 14.04.2022. 32 Siehe http://www.iyog2022.org, zuletzt: 14.04.2022.
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Scherbenbilder I, 2021/22 Anna Westphal
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Buntglas – Prisma – Spiegel Glas und Erkenntnis in der Literatur
Das lyrische Ich in Gerhard Hauptmanns Gedicht Glas fragt: Glas, Glas Was ist das? Es ist und ist nicht, Es ist Licht und kein Licht, Es ist Luft und nicht Luft, Es ist duftloser Duft. Und doch ist es hart, Ungesehen harte Gegenwart Dem gefangenen Vogel, der es nicht sieht Und den es in die Weite zieht. […] Glas, Glas, was ist das? Es glänzt wie Wasser und ist nicht nass. […] Eine Form aus Luft, eine Form aus Nichts, Ein leeres, leuchtendes Kind des Lichts. Wo bist du Glas? Ich sehe dich nicht, Nur den Strahl, der sich in dir bricht. Du bist vielleicht nur ein Gleichnis vom Geist, Ein Spiegel von Bildern und Strahlen gespeist.1
Glas ist anwesende Abwesenheit. Es macht Dinge sichtbar, ohne selbst sichtbar zu sein.2 Dadurch wird es zu einem unendlich vielsagenden „Zauberspiegel“.3 Als gleichsam zwischen 1 2
3
Hauptmann, Gerhart: „Glas“, in: Ders., Ährenlese. Kleinere Dichtungen, Berlin: S. Fischer 1939, S. 49–51. Vgl. Binotto, Johannes: „glanz/glance/glas. Von der Unsichtbarkeit des Spiegels/ On the Invisibility of Mirrors / De l’invisibilité du miroir“, in: Fondation de l‘Abbatiale de Bellelay (Hg.), Haus am Gern: Aire de Bellelay, Biel: Edition Haus am Gern 2015, S. 5–17. Pauser, Wolfgang: Kristall als Motiv der Literatur, https://www.academia.edu/16563453/Kristall_als_ Motiv_der_Literatur, zuletzt: 30.04.2022.
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Sein und Nicht-Sein stehendes Medium ist Glas ein beliebtes Motiv in der Literatur. Selbst ein beinahe leeres Zeichen, kann es zum Träger überaus vielschichtiger Bedeutungen werden. In der Literatur hat Glas insofern keine klar bestimmbare Funktion. Die Bedeutung, die Glas und gläsernen Dingen in der Literatur zukommt, lässt sich nicht auf eine singuläre festschreiben. Vielmehr kann man ein dem Wesen des Materials entsprechendes schillerndes Bedeutungsspektrum ausmachen. Dabei variiert die Bedeutung des Glases je nach Beschaffenheit desselben, nach seiner Form und Farbe, aber auch nach seiner Funktion und den Herstellungstechniken.
I
Mystisch-wunderbares Buntglas und Ästhetik der Glasbläserkunst
Das herausstechende Merkmal des Glases ist sicher seine Transparenz, die Lichtdurchlässigkeit. Diese Eigenschaft führte insbesondere im Mittelalter zu einer transzendentalen Bedeutungsaufladung des Glases. Die lichtdurchfluteten und damit scheinbar von innen leuchtenden sakralen Bildgestaltungen auf Bleiglasfenstern der Kathedralen sind im Hochmittelalter gleichsam Medien transzendentaler Erfahrung. Insbesondere die Christus- und die Mariengestalt werden in diesem Sinne als von innen heraus leuchtende und die Finsternis vertreibende Figurationen erlebbar. In dem um 1150 entstanden Arnsteiner Marienlied wird das Wesen der durch die Geburt Jesu unbefleckt bleibenden Muttergottes unmittelbar mit der lichtdurchlässigen Beschaffenheit von Glas verglichen: Der merke daz glas, daz dir is gelig:daz sunnen leit schinet durg mittlen daz glas, iz is alinc unde luter sint, als iz e des was. Durg daz alinge glas geit iz in das hus, daz vinesternisse verdrivet iz dar uz. Du bist daz alinge glas, da der drug quam Daz liet, daz vineternisse der werlde benam. Der merk auf’s Glas, das ist Dir gleich. Das Sonnenlicht scheint mitten durch’s Glas. Es ist blinkend und lauter denn wie eh es war. Durch das Blinkende Glas geht es ein ins Haus, die Finsternis vertreibt es daraus. Du bist das blinkende Glas. Daraus kam das Licht, das Finsternis der Welt benahm.4
Diese mythisch-mystische Bedeutungsaufladung von Glas spiegelt sich im Anschluss daran in unterschiedlichen Gestaltungen noch bis ins 20. Jahrhundert, vor allem in märchenhaften und phantastischen Texten. Dabei wird das ursprünglich Sakrale zum Wunderbaren und – seit E. T. A. Hoffmann – auch zum Unheimlichen. 4
o. V.: „Das Arnsteiner Marienlied“, in: Werner Schröder (Hg.), Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts, Tübingen: Max Niemeyer 1972, S. 171–183, hier S. 173. Vgl. hierzu auch: Stackmann, Karl: Frauenlob, Heinrich von Mügeln und ihre Nachfolger, Göttingen: Wallstein 2002, S. 14 f.
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Insbesondere das mundgeblasene Glas erscheint in diversen Märchen und märchenhaften Texten als ein auf wunderbare Weise beseeltes und lebendiges Material. „In jedem Glas ist“, wie Daphne du Maurier schreibt, „ein Hauch einer Glasmacherseele.“5 Diese Semantisierung zeigt sich beispielsweise in Gerhart Hauptmanns Glashüttenmärchen in vier Akten Und Pippa tanzt! (1906), in dem die märchenhaft anmutende Tochter eines italienischen Glasbläsers, die selbst wie kostbares Muranoglas wirkt, mit dem Zerbrechen eines gläsernen Gondelschiffchens ihre Seele aushaucht. Hauptmanns magische Glasbläserfigur kann dabei als eine Allegorie des Schriftstellers verstanden werden, der seinen kunstvoll gestalteten Figuren im Akt des Schreibens ebenso Leben einhaucht, wie der Glasmacher seinen ‚beseelenden‘ Atem in die erhitzte Glasmasse bläst. Die transzendentale Semantisierung des Glases in mittelalterlichen Kontexten zeigt sich hier verschoben in den Bereich des Ästhetischen: An die Stelle des göttlichen Odems tritt die lebendige Schöpferkraft des Künstlers. Nicht als kaltes herzloses, sondern als warmes beseeltes Wesen erscheint auch das Glasmännchen in Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz (1827). Es ist nicht – wie etwa die mit industrieller Glasherstellung in Verbindung zu bringende Glasfrau in Manfred Kybers Märchen Der Meisterkelch (1928) – mit Kälte, Härte und Leblosigkeit assoziiert. Hauffs Glasmännlein ist vielmehr ein gütiges Wesen, das dem jungen Köhler Peter dazu verhilft, sein warmes Herz wieder zu gewinnen, das er bei einem Waldgeist aus Geldgier gegen ein kaltes aus Stein eingetauscht hatte. Die konträre Konnotation mit Kälte in Kybers Text steht in Zusammenhang mit den veränderten Herstellungstechniken der ‚seelenlosen‘ Massenproduktion von Glaswaren in der technischen Moderne. Meisterhaft geschliffene gläserne Kelche repräsentieren hier das „Kunstwerk“, dessen Charakter sich nach Walter Benjamin im „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“6 grundlegend wandelt. Was Benjamin als Verlust der „Aura“7 beschreibt, ist bei Kyber ein Verlust der Seele, der Lebendigkeit und des ‚Zaubers‘ eines wirklichen Kunstwerks. Die emsigen Zwerge der herzlosen Glasfrau produzieren in kurzer Zeit mühelos eine große Menge an Kelchen, die beim Verkauf auch viel Geld einbringen. Es sind, wie die Elfen und Tiere des Waldes anmerken, durchaus „hübsch geschliffene Gläser, aber Kelche der Kunst sind es nicht. […] Kalte Kristalle“ seien es, „aber keine Kelche des Lebens“.8 Der Glasschleifer dieses kulturkritischen Märchens, der sich zu dieser Art der Glasproduktion verführen lässt, ist nurmehr ein Händler, aber kein Meister – kein Künstler, sondern ein Fabrikant. Ein Meister wird er schließlich dennoch: Nach Jahren stiller Einkehr, in denen er den Verführungen des schnellen Geldes und Ruhmes entsagt hat, erschafft er schließlich den Meisterkelch: […] auf einmal ergriff den Glasschleifer die Sehnsucht, doch noch ein wirkliches Meisterwerk zu schaffen. Da mischte er die Glasmasse sehr sorgsam und blies einen Kelch daraus, der anders 5 6 7 8
du Maurier, Daphne, zit. n. v. Dreising, Hanna: Das Glas in der Literatur, Alfter: VDG 1993, S. 47. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010. Ebd., S. 16. Kyber, Manfred: „Der Meisterkelch“, in: Ders., Das Manfred-Kyber-Buch. Tiergeschichten und Märchen, 26. Aufl., Berlin: Rowohlt 2008, S. 294–303, hier S. 298.
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gestaltet war als alle Kelche, die er bisher gesehen. Es war in einer jener dunkeln und einsamen Stunden, die so viele über ihn gekommen waren seit jenem Augenblick, als er den Glaspalast der gläsernen Frau verlassen hatte. Und er nahm den Kelch und schliff ihn in vielen anderen einsamen und dunklen Stunden, und nur die Sterne standen über ihm. Es schien ihm aber, als habe der Kelch einen seltsamen Schimmer von durchlichtetem Blut, als wäre ein heller Rubin in das Glas gegossen worden. Das war das Herzblut dessen, der ihn geschaffen hatte.9
So scheint hier wahre Kunst auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit möglich, aber sie erfordert, der Moral des Märchens zufolge, eine bewusste Abkehr des Künstlers von den Versprechen des schnellen Geldes und Erfolgs sowie innere Einkehr und den geduldigen Fleiß eines Handwerkers.
II Optische Instrumente: Glas und Wissenschaft Aber nicht erst die industriellen Produktionsmöglichkeiten führen zu veränderten Konnotationen. Ein signifikanter Bedeutungswandel von Glas in der Literatur setzt vielmehr schon im Anschluss an die bahnbrechende wissenschaftliche Funktionalisierung von Glas in Form von Teleskopen und Mikroskopen im 17. Jahrhundert ein. Dementsprechend rückt auch in der Literatur Glas nun vermehrt als wissenschaftliches Erkenntnisinstrument und Symbol wissenschaftlichen Fortschritts in den Fokus. Dabei steht jedoch, wie Nicola Gess gezeigt hat, das zu Entdeckende zunächst durchaus nicht im Gegensatz zum Wunderbaren. Mikroskop und Fernrohr eröffnen den Zugang zu bisher unbekannten Welten, machen Unsichtbares sichtbar. Dieses Neue, das es hier zu entdecken gab, steht etwa in Johann Jakob Breitigers Critischer Dichtkunst (1740) in direktem Zusammenhang mit dem Wunderbaren. Dabei schließen sich hier Wunderbares und empirisch beweisbare ‚Wahrheit‘ in keiner Weise aus, vielmehr sieht Breitinger gerade in der Verbindung von Wahrem und Wunderbarem den Dreh- und Angelpunkt der Dichtkunst. „Auf der Suche nach einem Modell für diese Kombination greift Breitinger zur Optik und versteht Teleskop und Mikroskop als Instrumente, die auf dem Feld der Wissenschaften die gewünschte Verbindung von Wahrheit und Wunderbarem in Gestalt der sichtbar gemachten neuen Welten ermöglichen“.10 Optische Instrumente werden in der Critischen Dichtkunst zum Äquivalent der Dichtung als „eine[m] Medium, das das Altbekannte zum Wunderbaren verfremdet und zugleich den Anspruch hat, in dieser Verfremdung das eigentlich Wahre sichtbar zu machen, also eigentlich nicht Verfremdung, sondern säkulare Offenbarung zu sein“.11 In Bezug auf die literarische Semantisierung von Glas lässt sich also eine Verschiebung vom „metaphysisch Wunderbaren“ des Mittealters zu einem „neuen,
9 10
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Ebd., S. 301 f. Gess, Nicola: „Die Optik des Wunderbaren. Prisma, Fernrohr und Spiegel als Metaphern poetologischer Selbstreflexion“, in: Beate Ochsner/Robert Stock (Hg.), senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens, Bielefeld: Transkript 2016, S. 19–44, hier S. 21. Ebd.
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1 Newtons Spiegelteleskop (1668).
naturwissenschaftlichen Wunderbaren“ ablesen.12 Naturwissenschaftliche Erkenntnis führt zunächst nicht zu einer ‚Entzauberung der Welt‘, vielmehr steigt etwa bei Bernard Le Bovier de Fontenelle „der Grad des Wunderbaren mit dem wissenschaftlichen Fortschritt gerade umgekehrt an“.13 Dabei zeigt sich das neue, säkularisierte Wunderbare als etwas, das auf optische Instrumente wie Fernrohr und Mikroskop angewiesenen ist, über die sich erst der Zugang zu unbekannten Welten und neuen Horizonten des Wissens öffnet. Dieses Angewiesen-Sein der Erkenntnisfähigkeit auf gläserne Prothesen, die einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit in ein anderes Licht rücken, bleibt allerdings nicht ohne Folgen für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Denn: die sinnliche Wahrnehmung des Augenscheins wird infolgedessen zu etwas, das trügen kann. Das, was man sieht, hängt nun stark davon ab, welchen Schliff das Glas hat, durch das man gerade schaut. In diesem Sinne schreibt Georg Christoph Lichtenberg in Amintors Morgen-Andacht (1791): „der Mensch“ habe „zwar nicht die Macht […] die Welt zu modeln wie er wolle, aber dafür die Macht Brillen zu schleifen, wodurch er sie schier erscheinen manchen könne wie wir wollen“.14 12 13 14
Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 23. Lichtenberg, Georg Christoph: „Amintors Morgen-Andacht“, in: Ders., Werke in einem Band, hrgs, v. Wolfgang Promies, München/Wien: Hanser 1974 [Sonderausgabe Harenberg 1982], S. 251–254, hier S. 254; vgl. hierzu auch Böhme, Hartmut: „Die Metaphysik der Erscheinungen – Teleskop und Mikro-
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2 Mikroskop von Robert Hooke (1635–1703), Zeichnung von Antoni van Leeuwenhoek 1 Newtons Spiegelteleskop (1668).
Die mikroskopischen und makroskopischen Dimensionen des Sehens lassen die unmittelbar wahrgenommen Welt nur noch zu einer unvollkommenen Facette der Wirklichkeit werden, der je nach Schliff des Glases weitere hinzugefügt werden können. Dabei wurde zunächst mit „wachsender Vergrößerung und zunehmender Krümmung der Linsen […] jedoch auch die Abweichungen von einer fehlerfreien Abbildung des jeweiligen Objekts verstärkt. Die gravierendsten Abbildungsfehler, die sogenannte chromatische und die sphärische Aberration, d. h. die Farbzerstreuung und die Abweichung der durch den Rand der Linse gehenden Lichtstrahlen vom Hauptbrennpunkt, konnten“, nach Ulrich Stadler, „erst im Laufe des 19. Jahrhunderts behoben bzw. gemildert werden. Außerdem war die Qualität des Glases, das für Teleskope und Mikroskope, aber auch für Lornetten, Monokel und Brillen verwendet wurde, im Vergleich zu der heutiger Gläser miserabel.“15 Der Gebrauch optischer Instrumente führte insofern in zweifacher Weise zu einer Verzerrung der Wahrnehmung, einmal durch beabsichtigte Vergrößerung oder Verkleinerung und einmal durch unbeabsichtigte und nicht kalkulierbare Abweichungen. Hinzu kommt ein Moment der Kontingenz, denn der Ausschnitt der
15
skop bei Goethe, Leeuwenhoek und Hooke“, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazrdzig (Hg.), Kunstkammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York: De Gruyter 2003, S. 359–396, hier S. 369. Stadler, Ulrich: „Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmans Erzählungen“, in: E. T. A. Hoffman Jahrbuch 1 (1992), S. 91– 105, hier S. 95.
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Wirklichkeit, der durch das Perspektiv betrachtet wird, kann kaum genau gewählt werden. Was man konkret zu sehen bekommt, unterliegt also immer einer gewissen Zufälligkeit. Neben der Verschiebung und Verzerrung der Wahrnehmung durch Vergrößerung und Verkleinerung, spielt für den wissenschaftlichen Fortschritt auch die Zerlegung des augenscheinlich Erkennbaren in seine Bestandteile eine Rolle, wie sie mittels prismatischer Gläser erzeugt werden kann. Bedeutendstes Beispiel ist hier sicher Isaac Newton (vgl. S. 121), der zu Beginn des 18. Jahrhunderts weißes Licht durch ein gläsernes Prisma schickte und „aus den Beobachtungen der Lichtbrechung, in der sich die Farben des Regenbogens zeigten, seine Spektralfarbenlehre entwickelte.“16 Auch Goethe nutzte in Bezug auf seine Farbenlehre unterschiedliche prismatische Gläser. Dabei reflektierte er durchaus den Umstand, dass „die verschiedene Dicke des Glases“ einen wesentlichen Einfluss auf die zustande kommende „Farberscheinung“ hat.17 Die Beschaffenheit des Glases trüge zwar nicht zur „Entstehung der verschiedenen Farben“ bei, beeinflusse aber deutlich das „Wachstum“ und die „Verminderung der Erscheinung“.18 Auch erscheine das Phänomen der Lichtbrechung je „nach Entfernung vom Prisma anders, so daß weder von einer steigenden Folge der Farben noch von einem durchaus gleichen Maß derselben die Rede sein“19 könne. Der mit dieser Relativierung der unvermittelten Wahrnehmung aufkeimende Zweifel an dem, was die eigenen Augen sehen, bedingt eine gewisse Entfremdung von Ich und Welt, die in der Folge zu einem gewichtigen Thema der Literatur wird. In diesem Sinne lässt schon Goethe den Protagonisten in Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/29) sagen: Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefall mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern[.]20
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o. V.: „Was Farben bedeuten und wie sie wirken“, in: Living at Home, https://www.livingathome.de/ wohnen-selbermachen/welt-der-farben/13367-rtkl-was-farben-bedeuten-und-wie-sie-wirken, zuletzt: 13.04.2022. v. Goethe, Johann Wolfgang: „Geschichte der Farbenlehre“, in: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 14: Naturwissenschaftliche Schriften II, 11. Aufl., München: C. H. Beck 2005, S. 7–269, hier: S 147. Ebd. v. Goethe, Johann Wolfgang: „Zur Farbenlehre“, in: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, 14. Aufl., München: C. H. Beck 2005, S. 314–536, hier: S. 403. v. Goethe, Johann Wolfgang: „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden“, in: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 8: Romane und Novellen III, 15. Aufl., München: C. H. Beck 2002, S. 7–486, hier: S. 120 f. Vgl. hierzu auch H. Böhme: Die Metaphysik der Erscheinungen – Teleskop und Mikroskop bei Goethe, Leeuwenhoek und Hooke, in: H. Schramm/L. Schwarte/J. Lazrdzig: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne, S. 365.
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Da Brillen im 18. Jahrhundert und bis in die 1920er Jahre vornehmlich von fliegenden Händlern verkauft wurden, die neben „Augengläsern, Fernrohren und Wettergläsern […] auch Salben, Tinkturen und Augenwasser anboten“, spielt hier auch das „Betrugsmoment eine gravierende Rolle“.21 Das Grimm‘sche Wörterbuch vermerkt, dass der Ausdruck ‚jemandem eine Brille verkaufen‘, so viel hieße wie „ihn betriegen“.22 Besonders ausgeprägt zeigt sich eine bis in den Wahnsinn gehende Infragestellung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit durch optische Instrumente im Werk E. T. A. Hoffmanns. So wird etwa für den Protagonisten der Erzählung Der Sandmann (1816) die Begegnung mit einem mit optischen Geräten handelnden Hausierer zum ‚tödlichen Unglück‘. In Nathanaels einleitendem Brief an seinen Freund Lothar heißt es dementsprechend: Ach, wie vermochte ich denn Euch zu schreiben, in der zerrissenen Stimmung des Geistes, die mir bisher alle Gedanken verstörte! – Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten! […] – Kurz und gut, das Entsetzliche, was mir geschah, dessen tödlichen Eindruck zu vermeiden ich mich vergebens bemühte, besteht in nichts anderem, als daß vor einigen Tagen, nämlich am 30. Oktober mittags um 12 Uhr, ein Wetterglashändler in meine Stube trat und mir seine Ware anbot.23
In dieser Erzählung – wie auch in der Das öde Haus (1817) – ist der Verschiebung der Wahrnehmung durch den Gebrauch von Vergrößerungsgläsern der Blick durch ein Fenster vorgeschaltet. In beiden Erzählungen sehen die Protagonisten durch das Fensterglas einen Ausschnitt der Wirklichkeit und blicken in Der Sandmann auf die Automatenpuppe Olympia, in Das öde Haus auf einen Teilausschnitt eines Bildnisses, auf dem nur der Arm einer Frau zu sehen ist. Wie Claudia Lieb gezeigt hat, kommt hier durch die spiegelnde Oberfläche des Fensterglases eine Überlagerung des hinter der Scheibe Erkennbaren mit den sich in dem Glas spiegelnden Sehnsüchten der Protagonisten zustande. „Das erotische Blickarrangement läßt“ hier „Fenster zu narzißtischen ‚Projektionsflächen‘ werden, auf denen die Helden ihre intimsten Wünsche erfüllt sehen“.24 Diese „Spiegelmetaphorik des Fensters“ in der sich ein subjektives erotisches Begehren gleichsam über das betrachtete Objekt stülpt, findet sich auch in anderen romantischen Texten – etwa in Ludwig Tiecks Liebenszauber (1812) oder Achim von Arnims Die Majorats-Herren (1820).25 Bei E. T. A. Hoffmann wird dieses Motiv aber ins Unheimliche überführt, wenn sich über den daran anschließenden Gebrauch optischer Instrumente vor den Augen der Betrachter tote Materie in ein lebendiges Sehnsuchtsobjekt verwandelt. Im Blick durchs Perspektiv verzerrt sich die Wahrnehmung
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U. Stadler: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen, S. 99. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 2. Bd., Leipzig: Hirzel 1860, Sp. 383. Vgl. auch U. Stadler: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen, S. 91–105, hier S. 99. Hoffmann, E. T. A.: „Der Sandmann“, in: Ders., Sämtliche Werke in sieben Bänden, hrsg. v. Hartmut Steinecke, Bd. 3: Nachstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambrilla. Werke 1816–1820, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2009, S. 11–49, hier S. 11. Lieb, Claudia: „Und hinter tausend Gläsern keine Welt. Raum, Körper und Schrift in E. T. A. Hoffmanns ‚Das öde Haus‘“, in: E. T. A. Hoffman Jahrbuch 10 (2002), S. 58–75, hier S. 59. Vgl. ebd.
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derart, dass sie radikal vom objektiv Wirklichen abweicht, wodurch Nathanael schließlich verrückt wird.
III Das fragile gläserne Subjekt der Moderne: Ich-Zerfall und Prisma-Syndrom Neben der kurz skizzierten poetischen Übersetzung optischer Refraktionsphänomene, lässt sich bei E. T. A. Hoffmann eine literaturgeschichtlich folgenreiche Umkehr der Blickrichtung ausmachen: der Blick durch optische Instrumente, Prismen und Kristalle führt hier nicht mehr nur zu einer Zerlegung des Wahrnehmbaren in „Wirklichkeitsdimensionen“,26 sondern steigert sich in der Fragmentierung der Wahrnehmung zum Ich-Zerfall. Glas avanciert damit zu einem Motiv der Selbstreflexion, in dem sich die geistige Situation der Zeit spiegelt. In diesem Sinne wird im Kontext der Spätromantik in Hoffmanns Der goldene Topf (1814) die Überfülle analytischen Wissens, der die individuelle Erfahrungswelt des Ichs nicht mehr gewachsen ist, als „Unfall der Moderne“27 inszeniert, dessen katastrophale Folgen in einer Glasmetapher gefasst werden. Der Student Anselmus stößt versehentlich den Korb einer alten Apfelhändlerin um, der bis zum Rand mit den metaphorischen ‚Früchten der Erkenntnis‘ gefüllt ist.28 Umringt von verärgerten Markweibern, begleicht Anselmus den Schaden, so gut er kann, ergreift dann aber ganz plötzlich panikartig die Flucht. Das alte Apfelweib ruft ihm daraufhin mit gellender Stimme die folgende Prophezeiung hinterher: „Ja renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!“ – […] Der Student Anselmus […] fühlte sich, unerachtet er des Weibes sonderbare Worte durchaus nicht verstand, von einem unwillkürlichen Grausen ergriffen, und er beflügelte noch mehr seine Schritte, um sich den auf ihn gerichteten Blicken der neugierigen Menge zu entziehen.29
Hier zeigt sich deutlich das Moment der Blickumkehr:30 Der wissbegierige Student ist hier nicht mehr derjenige, der analytisch forschend auf die Dinge blickt. Er ist derjenige der 26
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Sommerfeld, Beate: „,Es ist für Augenblicke, als würde die Schale der Erde unter einem zu Kristall…‘ – ‚Plötzlichkeit‘ als Konturierung des Augenblicks in Hugo von Hofmannsthals Aufzeichnungen und Tagebüchern“, in: Germanistisches Jahrbuch Polen: Convivium (2009), S. 147–173, hier S. 165. Vgl. Lieb, Claudia: Crash. Der Unfall der Moderne, Bielefeld: Aisthesis 2009. Die Bezeichnung ‚Baum der Erkenntnis von Gut und Böse‘ findet bereits Erwähnung in Gen 2,9 im Vorgriff auf das Versprechen, das die Schlange Adam und Eva macht: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5 EU). Hoffmann, E. T. A.: „Der Goldene Topf“, in: Ders., Sämtliche Werke in sieben Bänden, hrsg. v. Hartmut Steinecke, Bd. 2.1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006, S. 229–321, hier S. 229 f. Zur „Erfahrung der ‚Blickumkehr‘“ als „Topos der Moderne“ vgl. u. a. Dommaschk, Niklas: Ähnlichkeit und ästhetische Erfahrung. Eine Konstellation der Moderne: Kant, Benjamin, Valéry und Adorno, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 101 f.; Didi-Huberman, George: Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, München: Wilhelm Fink 1999; Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 78–83.
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angeblickt wird. Dabei wird er nicht nur selbst zum Objekt der Neugierde, sondern unterliegt in der Folge auch einer Fragmentierung der Wahrnehmung. 31 Die Dinge erscheinen ihm im Folgenden in unterschiedlichen, nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Facetten. Der prophezeite ‚Fall ins Kristall‘, der sich auf der phantastischen Erzählebene in einer temporären Gefangenschaft in einer Kristallflasche realisiert, kann auf metaphorischer Ebene auch als eine Prophezeiung für die geistige Situation des Ichs in der Moderne in der Folge analytischer Selbstobjektivierung gelesen werden. Einem in Bezug auf seine Erkenntnisfähigkeit auf optische Prothesen angewiesenen Menschen droht nicht nur der Verlust der Freiheit im Sinne unvermittelter Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit, sondern auch der – mit dem Kristall-Motiv verknüpfte – Ich-Verlust. Das Ich zerfällt unter der Selbstobjektivierung in Facetten, deren Reintegration in ein einheitliches Spiegelbild in Hoffmanns Erzählung nicht mehr umstandslos gelingt. In Vorwegnahme der Nietzscheanischen „Erlösung im Schein“32 ist in Hoffmanns märchenhafter Erzählung die Einheit von Ich und Welt sowie die Einheit des Ichs nach dem ‚Sündenfall‘ in das analytisch fragmentierende Kristall nurmehr ästhetisch erfahrbar. „Seligkeit“ verspricht nur noch das „Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret“33 – so die abschließenden Worte im Goldenen Topf. Den Fall ins Kristall als Erlebnis des Ich-Zerfalls beschreibt Hoffmann auch in einer früheren Tagebuchaufzeichnung von 1809. Dort heißt es: „Ich denke mir mein Ich durch ein Vervielfältigungsglas – alle Gestalten, die sich um mich herumbewegen, sind Ichs, und ich ärgere mich über ihr Tun und Lassen.“34 Dieses Motiv der Spätromantik setzt sich in der Moderne fort. Die Auswirkungen des ‚Falls ins Kristall‘ führen, mit dem Existenzphilosophen Paul Häberlin gesprochen, beim modernen Menschen zu einem chronischen ‚Prisma-Syndrom‘. Dies sei die Folge dessen, dass der objektivierende Geist auch die Seele objektiviert habe35 – also eben jener analytischen Blickumkehr, die schon bei Hoffmann das Ich dem Selbst unheimlich werden lässt.
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Vgl. Müller, Maik M.: „Phantasmagorien und bewaffnete Blicke. Zur Funktion optischer Apparate in E. T. A. Hoffmans Meister Floh“, in: E. T. A. Hoffman Jahrbuch 11 (2003), S. 104–121, hier S. 104. Nietzsche, Friedrich: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: De Gruyter 1999, S. 9–156, hier S. 44. E.T.A. Hoffmann: Der Goldene Topf, S. 321. Hoffmann, E. T. A.: „Tagebucheintrag vom 6. November 1809“, in: Ders.: Tagebücher, hrsg. v. Friedrich Schnapp, München: Winkler 1971, S. 107. Peter Kamm führt dazu aus: „Die innere Schranke, welche die Seele zur Auseinandersetzung nötigt, ist in Wahrheit ihre eigene Objektivität. Diese erscheint der subjektiv orientierten Seele jedoch nicht als solche, sondern in perspektivischer Sicht, nämlich als Ich-Fremdes, das mit der äußeren Schranke verschmilzt und in dieser Verbindung zur überlegenen, unfaßbaren und darum unheimlichen GegenMacht wird. Eben dadurch besitzt sie den Charakter des Dämonischen, wenn man darunter – einem griechischen Sprachgebrauch folgend – eine vom Menschen selbst Besitz ergreifende, in ihm sich manifestierende und doch außermenschliche Existenz versteht“ (Kamm, Peter: Paul Häberlin. Leben und Werk, Bd. 2: Die Meisterzeit (1922–1960), Zürich: Schwabe 1981, S. 284).
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Im Anschluss an die wahrnehmungstheoretische Auflösung des Ichs bei Ernst Mach (Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 1886) verwendet auch Hugo von Hofmannsthal das Prisma-Motiv. In seinen Aufzeichnungen fungiert es als Symbol der prekären Selbstwahrnehmung des ‚zersplitterten‘, gleichsam in Spektralfarben zerlegten Ichs der Moderne. Er schreibt: Wir erscheinen uns selbst als strahlenbrechende Prismen, den anderen als Sammellinsen (unser Selbst ist für uns Medium, durch welches wir die Farbe der Dinge zu erkennen glauben, für die andern etwas Einförmiges, Selbstfärbiges: Individualität; wir schließen aus dem Eindruck auf die Außenwelt, die andern aus dem Eindruck, den wir empfangen, auf unsere aufnehmende Substanz).36
„Der Zugang zu den Dingen der Außenwelt über die Bündelung [d]er Wahrnehmungen in einer Ich-Instanz“ scheint Hofmannsthal „illusorisch. […] So wie es“ in der Folge des analytisch zerlegenden Blicks „in der Außenwelt nur noch disparate Dinge gibt,“ so bestehe auch „das Innere“ nur noch „aus zusammenhangslosen Empfindungen.“37 Die Facetten des psychischen Ichs werden allein vom physischen Ich wie von einem ‚Kristall‘-Körper zusammengehalten.38 Aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive auf seine materialistische Objekthaftigkeit reduziert, bildet er dabei zugleich den symbolischen Ausgangspunkt der Brechung des psychischen Ichs. In Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895) wird der Zerfall der Wahrnehmung in unvermittelt nebeneinanderstehende Perspektiven u. a. durch unverbundene Glashäuser symbolisiert, wobei nicht einmal das Betreten und Verlassen derselben vom Protagonisten selbst bestimmt werden können. Im durch das Glas gehenden Blick spiegelt sich hier kein einheitliches Ich, sondern ein ganz und gar fremdes, das nicht nur ein kindliches Alter, sondern sogar ein anders Geschlecht hat. Allein eine „unangenehme Empfindung des Grauens im Nacken und ein […] leise[s] Zusammenschnüren in der Kehle und tiefer in der Brust“39 deuten darauf hin, dass das Wesen in der Scheibe die Spiegelung einer Facette des Ichs ist. Zerlegt wie durch ein lichtbrechendes Prisma stoßen sich hier zudem die einzelnen Aspekte
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v. Hofmannsthal, Hugo: „Aufzeichnungen aus dem Nachlass 1891“, in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze III. 1925–1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889–1929, hrsg. v. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a. M.: Fischer 1980, S. 318– 341, hier S. 329. B. Sommerfeld: „Es ist für Augenblicke, als würde die Schale der Erde unter einem zu Kristall …“, S. 159. Vgl. hierzu auch v. Hofmannsthal, Hugo: „Buch der Freunde“, in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze III. 1925–1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889– 1929, hrsg. v. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a. M.: Fischer 1980, S. 233–299, hier S. 285: „Der Hauptunterschied zwischen den Menschen im Leben und den erdichteten Figuren ist dieser, daß die Dichter es sich alle Mühe kosten lassen, den Figuren Zusammenhang und innere Einheit zu geben, während die Lebenden in der Inkohärenz bis ans Äußerste gehen dürfen, da ja die Physis sie zusammenhält.“ V. Hofmannsthal, Hugo: „Das Märchen der 672 Nacht“, in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 7: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, hrsg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a. M.: Fischer 82009, S. 45–66, hier S. 56.
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3 Das 1882 eröffnete Palmenhaus im Schönbrunner Schlosspark, Fotographie von Christian Philipp (März 2015).
nahezu physikalisch ab40 und verdeutlichen damit eindringlich die Tragik des modernen Subjektzerfalls. Die Auflösung der Ichstruktur bedingt zudem, dass es hier auch „keine objektive und konsistente äußere Wirklichkeit gibt, sondern daß sich die Wirklichkeit nur scheinbar objektiv in dem ‚Augenblick‘ darstellt, in dem sie wahrgenommen wird.“41 Bei Hofmannsthal erweitert sich damit das Hoffmann’sche Motiv der Blickumkehr42 um eine zusätzliche Dimension: Das Ich zerfällt in der analytischen Objektivierung in unverbundene Einzelaspekte und wenn dieses in der Selbstwahrnehmung zersplitterte Ich seinen Blick wieder nach außen wendet, wird ihm die äußere Realität nun ganz und gar unverständlich und radikal unheimlich. Dabei zeigen sich Innenleben und Außenwelt nur durch eine hauchdünne Scheibe separiert, in deren Spiegelung sich die Wahrnehmungswelten kaum trennbar überlagern. Die Außenwelt scheint hierdurch irreal verzerrt und zugleich wird sich das Ich in dieser Überlagerung so „grauenhaft […]“43 fremd, dass es gar keinen Zugang mehr zu seinem Selbst findet. Das analytisch sichtbar, ja gläsern gemachte Ich bietet dem Selbst kein 40
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„Das Kind ging ihm entgegen, und ohne ein Wort zu reden stemmte es sich gegen seine Knie und suchte ihn mit seinen schwachen kleinen Händen ich hinauszudrängen. […] Aber seine Angst mindert sich in der Nähe.“ (Ebd.) Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 56. Zur Bedeutung des Blickregimes bei Hofmannsthal vgl. auch ebd., S. 59. H. v. Hofmannsthal: Das Märchen der 672 Nacht, S. 62.
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Obdach mehr. Es bleibt ‚ausgesperrt‘: „In seiner Angst ging er sehr schnell auf die Tür des Glashauses zu, um hineinzugehen; die Tür war zu, von außen verriegelt“.44
IV Das postmoderne Ich im Spiegel Während das prismatisch zerbrochene Ich in der Literatur der Wiener Moderne ein unrettbar verlorenes45 ist, erhebt Ludwig Klages im Kontext seiner Lebensphilosophie des Eros cosmogonos das „starke[ ] mattweiße[ ] Milchglas“ zum Gegenbild einer analytischen IchDestruktion durch einen hell ausleuchtenden „Blendspiegel“.46 Eine weniger esoterisch bestimmte Integrativkraft entfaltet Jahrzehnte später die Spiegelsemantik in der Prägung durch den Psychoanalytiker Jaques Lacan, der das Spiegelbild zum „Bildner der Ichfunktion“47 erklärt. Im selbstobjektivierenden Spiegelbild konstituiert sich bei Lacan das Ich als „ein Anderer“, denn der Spiegel zeige nicht nur ein Abbild des realen Selbst, sondern zugleich auch eine idealisierte Ich-Imagination, der sich das Selbst anzunähern suche.48 Diese in der Selbstbespiegelung sichtbar werdende Idealvorstellung vom Ich ist dabei allerdings weniger als eine visuelle denn als eine narrative Konstruktion gedacht. Das gespiegelte Selbst wird bei Lacan „entscheidend als Geschichte projiziert“.49 Dieser narrative Aspekt und die Verknüpfung von Repräsentations- und Imaginationsfunktion im Spiegel hat unzweifelhaft ein vielfach realisiertes poetisches Potential: Der Blick in diesen hochsymbolischen Spiegel öffnet in der Postmoderne individuelle sowie ästhetische Möglichkeitsräume. Während sich bei Hoffmann und Hofmannstahl im kristallklaren Glas die integrative Kraft eines Spiegelbildes nicht entfalten kann, zeigen sich in der Erzählung Die Verabredung (2014) von Albert C. Eibel, sozusagen in einer Fusion der Klages‘schen und Lacan‘schen Motivkomplexe, die scharfen Konturen der Ich-Splitter in der schemenhaft bleibenden Reflektion auf einer milchig-matten Spiegeloberfläche bis zur Unkenntlichkeit des Ichs verwischt:
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Ebd., S. 56. Vgl. Ernst Mach: „Das Ich ist unrettbar. […] Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon, während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einem Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr hohen Wert legen.“ (Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen. Mit einer Einleitung hrsg. v. Gereon Wolters [= Ernst Mach-Studienausgabe, Bd. 1], Berlin: Xenomoi 2008, S. 30 f.). Klages, Ludwig: „Über Sexus und Eros“, in: Ders., Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen, Stuttgart: Alfred Kröner 61956, S. 124–134, hier S. 133 f. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: Ders., Schriften I, hrsg. v. Norbert Haas. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 61–70. Vgl. Lacan, Jacques: L’agressivité en psychanalyse (1948), in: Ders., Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 101– 124. J. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, S. 67.
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Lange hatte sie in ruhiger Haltung, ein wenig verträumt und verloren, einen lebensgroßen, in Silber gefassten Spiegel betrachtet. Nach dem [sic] er das Mädchen eine Weile aus einiger Entfernung betrachtet hatte […], war er hinzugetreten und hatte sie wie beiläufig gefragt, was sie denn so an dem Spiegel fasziniere, dass sie schon minutenlang wie gebannt in sein milchig-blindes Glas schaue. Gar nicht erstaunt, hatte sie ihm mit einem schwer zu deutenden Lächeln, […] erklärt, dass sie das unbestimmte Gefühl habe, sich in dem alten Spiegel viel besser zu erkennen als in einem gewöhnlichen, gerade vielleicht weil sie sich in ihm nicht wirklich sehen könne.50
Im Medium des Glases, d. h. konkret in der Verschiebung von der prismatisch zerlegten zur spiegelbildlichen Ich-Konstruktion zeigt sich der signifikante Wandel der Parameter des Identitätsdiskurs vom prekären Ich der Moderne zur spielerischen Selbstimagination der Postmoderne. Dabei ist die ‚Vervielfältigung‘ oder schillernde Vielschichtigkeit des Ichs durchaus nicht aufgehoben, aber das Konzept des Spiegelbildes ermöglicht die Integration heterogener Erfahrungsgehalte und Empfindungen in ein kohärentes Selbstbild, das in der metallisch hinterlegten Scheibe sichtbar wird. Der Spiegel liefert zumindest für den Augenblick ein konstantes und – anders als die Fotografie – zugleich ein bewegliches Bild. Damit wird er zu einem zentralen Instrument der Selbstvergewisserung in einer von kontinuierlichen Transformations- und Grenzauflösungsprozessen bestimmten Welt. Zugleich ist er ein „perfektes Medium“, da er im Akt der Betrachtung selbst vollständig hinter das gezeigte Bild zurücktritt und selbst „unsichtbar“51 wird. Dabei kann das gezeigte Bild sich nicht nur bewegen, sondern je nach situativem Kontext auch variieren, aber es wird verlässlich etwas sichtbar und die Reflektion verleiht dem im Rahmen des Spiegels Gezeigten durch diese Sichtbarkeit Relevanz. „Einen Spiegel nur für sich und ohne Abbild kann man sich denn auch kaum vorstellen. Leere Spiegel gibt es nicht,“52 wie Johannes Binotto schreibt. Aus einer aisthetischen Perspektive vergleicht er den Spiegel mit einem „[aufgeschlagenen] Buch“,53 dessen inhaltliche Bedeutung ebenso davon abhänge, wer hineinblickt. Das gezeigte ‚Bild‘ variiere auch hier je nach Kontext und individueller Rezeptionshaltung und könne gänzlich andere Bedeutungsdimensionen annehmen. Die Spiegelsymbolik ist zugleich ein Zeichen postmoderner Subjektfixierung, die das Ich zum zentralen Bezugspunkt der Weltwahrnehmung erhebt: Man sieht „nur immer sich selbst als anderen und andere.“54 Der Spiegel wird damit zum Dreh- und Angelpunkt eines auf Selbsthermeneutik basierenden Weltverständnisses. Im Kontext der hochgradig selbstreferentiellen postmodernen Literatur erlaubt der gläserne Spiegel vor allem einen spielerischen Umgang mit narrativen Identitätskonstruktionen. Exemplarisch angeführt sei an dieser Stelle Julia Rabinowichs Roman Spaltkopf (2008), in dem die von multiplen Identitätskrisen geschüttelte Protagonistin Mischka in ihrer Angst vor
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Eibel, Albert C.: Die Verabredung. In: Zeitgeist- Literatur, 3. Feb. 2014, http://www.zeitgeist-literatur. com/category/erzaehlungen, zuletzt: 12.04.2022. J. Binotto: glanz/glance/glas, S. 5. Ebd. Ebd., S. 7. Ebd.
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einem vollständigen Ich-Verlust eine regelrechte „Spiegelsucht“55 entwickelt. Sie blickt im Vorbeigehen in jede spiegelnde Glasfläche und führt immer einen Taschenspiegel mit sich, in dem sie sich permanent ihrer Selbst vergewissern muss. Hinter dieser Spiegelsucht verbirgt sich die Sehnsucht nach dem wahren Ich, einer konstanten Ich-Identität, die den Kern des Selbst repräsentiert und unabhängig von allen äußeren Zuschreibungen existiert. Dieses Begehren ist hier verknüpft mit dem phantastischen Motivkomplex aus Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln (Through the Looking-Glass, and What Alice Found There, 1871), mit dem Wunsch, dem weißen Kaninchen folgend, „durch den großen Spiegel“ der „Kindheit“ 56 zu gehen und dahinter das eigentliche, ursprüngliche Selbst zu finden. Es ist die Sehnsucht, in einer von undurchsichtigen hyperkomplexen Dynamiken bestimmten Welt die eigene Ohnmacht durch den Blick in den Spiegel zu bannen und wieder handlungsmächtig zu werden57 – eine Sehnsucht, die auch jenseits des literarischen Mediums in den vielen idealisierten Selbstbespiegelungen im Rahmen des virtuellen Glasfasermediums sichtbar wird. Statt durch den Spiegel zu gehen und sich in einer „imaginären Nebenwelt“58 zu verlieren, für die der Spiegel bei Carroll ebenso wie in vielen spätromantischen und Texten der klassischen Moderne steht, eröffnet die Semantisierung des gläsernen Spiegelbildes am Schluss des Romans Spaltkopf eine ‚gesunde‘ Alternative: Den Kopf an das „spiegelnde[ ] Fensterglas“ gelehnt, öffnet sich hier der Blick nicht in eine andere, sondern auf die dahinter liegende reale Welt mit ihren Möglichkeiten. Dabei transzendiert der Blick die vielschichtig sich „überlager[nden]“ und dynamisch sich verändernden Spiegelungen des Selbst. Die prismatische Spaltung des Ichs59 durch den analytisch-selbstobjektivierenden ‚Spaltkopf‘ wird hier letztlich überführt in ein spielerisch vielschichtiges „Wabern“60 von Aspekten, die sich nicht – wie bei Hofmannsthal – radikal abstoßen, sondern dynamisch zusammenwirken und erst im Konzert ein individuelles61 wie ästhetisches Potential entfalten können, das sich nun nicht mehr im rein Selbstreferenziellen erschöpft.
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Rabinowich, Julia: Spaltkopf. Roman, 2. Aufl., Wien: Edition Exil 2009, S. 167. Ebd. Eine detaillierte Analyse des Romans im Hinblick auf die migrationsbedingte Identitätskrise findet sich in: Wiegmann, Eva: „,Ich ist ein Anderer.‘ Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten, in: Hermann Gätje/Sikander Singh (Hg.), Identitätskonzepte in der Literatur (= Passagen. Literaturen im europäischen Kontext, Bd. 6), Tübingen: A. Francke 2021, S. 305–318. J. Binotto: glanz/glance/glas, S. 6. „Rund um mich zersplittert ist meine Welt, und nun sitze ich da, um die Spiegelstückchen zusammenzufügen, und scheitere unentwegt aufs Neue. Das letzte Teilchen steckt in meinem Auge.“ (J. Rabinowich: Spaltkopf, S. 49). Ebd., S. 185. Das „vom blendenden Stroboskoplicht in Scherben zer[brochene]“ Ich wird „immer wieder“ neu und anders zusammengesetzt. Zit. n. ebd., S. 185.
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V Fazit Zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit oszillierend, mit dem Medialen und Imaginären konnotiert, entfaltet der Werkstoff Glas eine literarische Produktivität wie wohl kaum ein anderer. In den unterschiedlichen Gestaltungs- und Gebrauchsarten formt er sich zu „imaginären Dingen“, im Sinne von Hans Rainer Sepp. Die gläsernen Gebilde weisen dabei eine je eigene „Komplexität“ auf, in der „sich ein Zusammenhang von Sinn konzentriert,“ der darüberhinausgehend „auf andere Sinnbestände, […] verweist,“ die „außerhalb“62 der primären Kontexte liegen, die ebenso transzendiert werden wie die Glasscheibe beim Blick auf das dahinter Liegende. Der komplexe Sinnzusammenhang bestimmt sich durch die jeweilige Herstellungsweise, Materialbeschaffenheit und Gebrauchsfunktion der gläsernen Dinge in ihren jeweiligen kulturhistorischen Kontexten, die sich in literarischen Semantisierungen spiegeln und ästhetisch reflektiert werden: Im Mystischen und Märchenhaften des mundgeblasenen Buntglases, im naturwissenschaftlich Wunderbaren optischer Instrumente, im analytisch Fragmentierenden des Prismas sowie im identitätsbildenden Spiegel zeigt die literarische Semantisierung von Glas und gläsernen Objekten viele Facetten. Dabei spiegelt sich in den jeweils dominant hervortretenden Bearbeitungs-, Material- und Nutzungsformen des Glases und den verschiedenen Bedeutungszuschreibungen europäische Kulturgeschichte – von den mystisch-metaphysisch konnotierten Bleiglasfenstern des Mittelalters, über die optischen Instrumente als Fenster in eine Welt des naturwissenschaftlich Wunderbaren bis hin zu Prisma und Spiegel als Symbole des fragmentierten Ichs der Moderne und der Selbsterkenntnis in der Postmoderne. So facettenreich die Semantisierungen von Glas auch sein mögen, ihnen allen mehr oder weniger gemeinsam ist doch die von der Sicht durch ein Glas oder auf eine gläserne Fläche bestimmte bzw. veränderte Wahrnehmungsfähigkeit. Worauf sich das epistemologische Begehren dabei richtet, ist jedoch im diachronen Schnitt durchaus verschieden: Der Blick wandert von transzendenten über objektive zu subjektiven Erkenntnisgegenständen. Dabei spiegelt sich in der Verschiebung dieser Blickrichtung unzweifelhaft der Entwicklungsverlauf der europäischen Wissens- und Geistesgeschichte. In den literarischen Ästhetisierungen des Glases erweist sich diese dabei beständig als rückgebunden an die Materialität der Dinge. Literatur-, Wissens-, Kultur- und Materialgeschichte verschmelzen in den Semantisierungen zu dichten Symbolkomplexen so wie Quarzsand, Soda, Kalk und Pottasche bei der Herstellung von Glas.
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Sepp, Hans Rainer: Philosophie der imaginären Dinge, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 17.
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Glas – Kunst? Glasmalerei als Beitrag der modernen Kunst
Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2022 zum internationalen Jahr des Glases erklärt.1 Unter dem Motto „Celebrating the past, present and future of glass for a sustainable, equitable and better tomorrow“ hatte die UN zu einer Konferenz geladen, die sich dem Werkstoff Glas aus unterschiedlichen Perspektiven näherte.2 Wissenschaftler*innen, Glastechniker*innen und Vertreter*innen der Glasindustrie beleuchteten nahezu jede Facette des Werkstoffes, angefangen bei seinem jahrtausendealten Herstellungsverfahren, seiner hermeneutischen Bedeutung, die man dem Werkstoff durch die Jahrhunderte entgegenbrachte, bis hin zu den neuesten technischen Innovationen auf dem Gebiet der Werkstoffentwicklung im Bereich der Physik, der Medizin oder der Biotechnologie. 3 Ganz der Transparenz des Werkstoffes verpflichtet, wurden alle Vorträge live im Internet gestreamt. Allerdings sucht man bis auf wenige Anmerkungen zu Hohl- und Studioglas sowie zur Produktion von Glasskulpturen, Vorträge, die sich mit der Verwendung von Glas als künstlerischer Ausdrucksform beschäftigen, vergeblich. Unter den vielen Stunden Vortragsmaterial findet sich nur etwa eine Minute, in der Glas als Werkstoff für die Kunst thematisiert wird: als Element, das als eines der vermeintlich unspektakulärsten bezeichnet werden kann, das wir mit dem Material Glas verbinden: das Fenster. In einem kurzen Beitrag präsentiert die Enkelin von Marc Chagall, Bella Meyer, das 1964 von ihrem Großvater für das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York gestaltete ‚Peace Window‘ (in Erinnerung an den bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen, zweiten UN-Generalsekretär Dag
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Vgl. https://www.iyog2022.org/, zuletzt: 17.02.2022. Die Konferenz, die vom 10. bis 11. Februar 2022 stattfand, bildet den Auftakt für zahlreiche Veranstaltungen in diesem Jahr. Vgl. https://iyog2022oc.org/. Auf der Website der UN sind alle Beiträge abrufbar: https://media.un.org/en/ search/?q=glass, zuletzt:17.02.2022. Zum Programm im Einzelnen, siehe unter https://secureservercdn.net/160.153.137.99/m96.6f6. myft pupload.com/wp-content/uploads/2022/02/Schedule_OC_final04-02-2022-website.pdf, zuletzt: 17.02.2022.
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Reinhard Köpf
Hammarskjöld auch als ‚Hammarskjöld Memorial‘ bekannt) und berichtet von den künstlerischen Überlegungen, die mit dem Schaffensprozess einhergingen.4 Einer derartigen Marginalisierung des Themas Absicht zu unterstellen, geht freilich zu weit. Doch sie wirft ein bezeichnendes Licht auf eine künstlerische Gattung, die aus vielerlei Gründen selbst im Kanon des Spezialistentums der Kunstgeschichte noch immer ein Schattendasein fristet. Glasmalerei, verstanden als monumentale, künstlerische Gestaltung von Fenstern, in durchaus ganz unterschiedlichen Techniken, ist immer an einen Träger, die Architektur, gebunden. Auf dem konventionellen Kunstmarkt hatte sie damit wenig bis keinen Platz.5 Sie war und ist seit ihren Anfängen im Mittelalter zusammen mit der Architektur die sowohl in ihren Dimensionen als auch in ihrer Bedeutung monumentalste Kunstform. Dies erschwerte ihr den Zugang zu den allermeisten musealen Sammlungen,6 und die Glasmalerei, egal ob im Kontext eines Sakral- oder Profanraums, setzt ein gewisses Maß an technischem Verständnis voraus, dem sich die kunsthistorische Forschung, jedenfalls Vertreter*innen ihrer klassischen Methoden, die sich etwa auf Stil und Inhalt konzentrierten, wenn überhaupt, nur zögerlich geöffnet hat. Gleichwohl gibt es einen breiten Konsens, dass die Glasmalerei, zumal die moderne, oft „ihrer Zeit voraus“7 war. Dies betrifft Fragen der künstlerischen Avantgarde, beispielsweise ihrer Positionierung zu Komposition und Farbe oder zu Ornament und Figur, genauso wie die Anwendung technischer Innovationen in Bezug auf das Trägermedium und seiner Verarbeitung, das entweder rein handwerklich oder teilweise maschinell geschehen kann. Im Folgenden nimmt sich dieser Beitrag vor, das Potential der Glasmalerei als künstlerisches Medium der Moderne zu verdeutlichen. Im Mittelpunkt stehen dabei Beispiele aus und der näheren Umgebung von Düsseldorf, einem, wie sich gezeigt hat, der wichtigen 4
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Vgl. https://media.un.org/en/asset/k1a/k1a01zhap3, zuletzt: 17.02.2022. Von Beginn an gab es auch kritische Stimmen zu diesem Werk, die die Missachtung des ihn umgebenden Raums betrafen (im Grunde kann dies aber genauso positiv umgedeutet werden, wie die Fenster desselben Künstlers in St. Stephan in Mainz zeigen). Zur Kritik vgl. Sowers, Robert: The Language of Stained Glass, Forest Grove (Oregon): Timber Press 1981, S. 109 f. Interessanter für den Kunstmarkt sind bisher eher die Vorstufen der Fenster, nämlich die Entwürfe und Kartons der Künstler, die zwischen autonomem Kunstwerk und Werkstattskizze changieren. Der kunsthistorische Wert solcher Kartons steht dabei immer noch in Frage. Vgl. dazu Köpf, Reinhard: „Kartons in der modernen Glasmalerei. Anmerkungen zu Hans Kaisers Washingtoner Fensterentwürfen“, in: Demary, Lena (Hg.), Hans Kaiser. Wirklichkeiten. Die Sammlung im Gustav-Lübcke-Museum (= Katalog zur Ausstellung im Gustav-Lübcke-Museum Hamm 2022), Köln: Wienand-Verlag 2022, S. 102–111. Eine Ausnahme bildet das Deutsche Glasmalerei-Museum Linnich. Es ist das einzige seiner Art in Deutschland, das sich der Flachglasmalerei der Moderne widmet. Andere Ausstellungen, die ein größeres Publikum außerhalb des Linnicher Museums ansprachen, waren Glasmalerei der Moderne. Faszination Farbe im Gegenlicht in Karlsruhe 2011 oder die international vielbeachtete Schau Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland im Centre International du Vitrail in Chartres 2012. Husmeier-Schirlitz, Uta (Hg.): Ihrer Zeit voraus: Heinrich Campendonk, Heinrich Nauen, Johann Thorn Prikker (=Katalog zur Ausstellung im Clemens-Sels-Museum Neuss 2018/19). Dresden: Sandstein Verlag 2018. Der Beitrag, den die Glasmalerei für die moderne Kunst insgesamt geleistet hat, ist bisher nicht systematisch erforscht. Das betrifft unter anderem auch den Anteil von Frauen auf dem Gebiet der modernen Glasmalerei, denen der Autor derzeit eine größere Studie widmet.
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Zentren der modernen Glasmalerei.8 Neben technischen Aspekten, die für das Verständnis von moderner Glasmalerei unerlässlich sind, sollen aber vor allem ausgewählte Werke die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Gattung vor Augen führen. Wenn hier hauptsächlich die Anfänge der modernen Glasmalerei im frühen 20. Jahrhundert genauer in den Blick genommen werden, so deshalb, weil in dieser Zeit das Fundament für die folgenden Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt wurde. Das Denkbild Glas veränderte sich, wie die Herausgeberin dieses Bandes kürzlich gezeigt hat.9 Und es wirft bis heute genauso viele Fragen wie wissenschaftliche Desiderate auf, die in diesem Rahmen zu weiterführenden Überlegungen Anlass bieten wollen: Wie steht es um die Kontextualisierung der Werke im zeitgenössischen Kunstdiskurs? Welchen Beitrag leistet die moderne Glasmalerei dazu? Was können wir für den Erhalt dieser allein schon aufgrund seiner Materialeigenschaft gefährdeten Gattung tun? In den letzten Jahren vermochten einige spektakuläre Arbeiten, wie Markus Lüpertz‘ Fenster für St. Andreas in Köln seit 2005 und natürlich Gerhard Richters Fenster für das Südquerhaus des Kölner Doms von 2007 und seine drei kürzlich für die Abteikirche im saarländischen Tholey fertiggestellten Chorfenster von 2019, Aufmerksamkeit zu generieren. Auch wenn die Stärke dieser Beispiele nicht im Bereich der Technik und Anwendung der Glasmalerei liegt, sind sie dennoch besonders relevant aufgrund ihrer Wirkung auf eine breite Öffentlichkeit, der diese Gattung trotz ihrer jahrhundertealten Tradition erstmals als künstlerische Leistung der Moderne intensiver ins Bewusstsein gerufen wurde.10 Dass Lüpertz und Richter dabei in einer über einhundertjährigen Tradition stehen, die vor allem in ihrer Wahlheimat, dem Rheinland, einen ihrer Ursprünge hat, ist allerdings, verstärkt durch die mediale Selbstinszenierung der Künstler, den wenigsten bekannt.11 Feuilletons, 8 9 10
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Vgl. Köpf, Reinhard/Wiener, Jürgen (Hg.): Moderne Glasmalerei Düsseldorf. Glasfenster und ihre Künstler, Mönchengladbach: Kühlen-Verlag 2021. Vgl. Grande, Jasmin: „Glas – Transparenztraum und epistemologischer Wissensspeicher, mit Ausblick in die Düsseldorfer Glasgeschichte“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 39–45. Spektakulär verlief zuletzt der Rechtsstreit um den Einbau der von Altbundeskanzler Gerhard Schröder gestifteten Fenster von Markus Lüpertz für die Marktkirche in Hannover. Siehe u. a. Steppat, Timo: „Fünf Schmeißfliegen für die Ewigkeit“, in: FAZ, 14.07.2021. Die Liste der bekannten Namen ließe sich allein für Deutschland noch erweitern (Jörg Immendorff, Georg Baselitz, Neo Rauch, Tony Cragg usw.). Vgl. Brülls, Holger: „Wozu ‚Künstlerfenster‘? Über das prekäre Verhältnis von Malerei und Glasmalerei in der Gegenwart“, in: Das Münster 2 (2007), S. 186–200; Ders.: „Künstlerfenster als Impulsgeber für die Glasmalerei der Gegenwart. Erfahrungen aus der Moderne“, in: Derix, Wilhelm (Hg.), Lüpertz – Richter – Schreiter. Große Glasmalereiprojekte 2007 in Köln und Mainz, Taunusstein: Derix Glasstudios GmbH & Co. KG 2008, S. 12–55 und zuletzt Ders.: „Ins Blaue. Versuch einer Situationsbeschreibung der Glasmalerei in der Kunst- und Architekturszene der Gegenwart“, in: Brülls, Holger, Glanz-Lichter. Gegenwartskunst Glasmalerei (= Begleitbuch zur Ausstellung Glanzlichter. Meisterwerke Zeitgenössischer Glasmalerei im Naumburger Dom vom 1. Juni bis zum 2. November 2014), hg. v. Vereinigte Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Petersberg: Michael Imhof-Verlag 2014, S. 16–34. Besonders kritisch zu dieser Entwicklung, siehe Wiener, Jürgen: „Glasmalerei an Düsseldorfer Kunstschulen. Netzwerke der Akademisierung“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 24–38, bes. S. 24 f. Es scheint, als hätte diese besondere Form der Medialisierung wenigstens die kunsthistorische Forschung aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst, mehren sich doch seit etwa 2007 Publikationen
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Denkmalpflege und Auftraggeber*innen wie etwa die Amtskirchen springen geflissentlich bei, als wäre „nun Kunst geworden, was zuvor besseres Kunsthandwerk war“12, und suggerieren letztlich, dass es sich bei den Arbeiten der älteren Spezialist*innen auf diesem Gebiet nicht um ‚Künstler‘-Fenster handle, mithin einer Zerstörung dieser Werke mehr oder weniger bedenkenlos zugearbeitet werden kann. Es verwundert daher nicht, dass Städte wie Düsseldorf, Mönchengladbach, Dinslaken, Essen und andere Orte im besten Falle aus Unkenntnis, im schlimmsten Falle aus Ignoranz fleißig und ohne größere Anteilnahme der Bevölkerung (oder wenigstens ihrer Möglichkeit dazu) an der Zerstörung herausragender Kunstwerke mitwirken, die, wären sie einer eingehenden (kunsthistorischen) Analyse unterzogen worden, ihren Denkmalwert zu erkennen gegeben hätten und ihr Schutz also nachdrücklich einzufordern gewesen wäre.13 Allein schon die vor einem Jahrzehnt von Horst Schwebel vorgeschlagenen, bewusst allgemein gehaltenen Kriterien „Materialbezug“, „Korrespondenz zur Architektur“, „Individualstil des Künstlers“ und die vom „Auftraggeber geforderten Inhalte“ hätten vielfach Gründe für das Innehalten der Abrissbirnen sein können.14 In vielen Fällen kamen sie zu spät.
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Blitzlichter. Anfänge und Voraussetzungen der modernen Glasmalerei
Für viele steht die Wiege der modernen Glasmalerei im Rheinland und der aus den Niederlanden stammende Johan Thorn Prikker (1868–1932) gilt sicher zu Recht als einer ihrer Geburtshelfer.15 Mit den Chor- und Querhausfenstern für die Dreikönigenkirche in Neuss ab
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zum Thema, die diese Sichtweise einzuordnen und zu korrigieren versuchen. Besonders zu erwähnen sind an dieser Stelle die drei Bände: Nestler, Iris (Hg.): Meisterwerke der Glasmalerei des 20. Jahrhunderts im Rheinland (Bd. 1) bzw. Meisterwerke der Glasmalerei des 20. Jahrhunderts in den Rheinlanden (Bd. 2 & 3), Mönchengladbach: Kühlen-Verlag 2015–2020 und der Versuch einer themenspezifischen Annäherung von Hoffmann-Goswin, Ulrike: Sakrale Glasmalerei der 1960er bis 1980er Jahre in Deutschland. Bildthemen, Gestaltung und Funktion, Regensburg: Schnell & Steiner 2019. Vgl. R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 24. Siehe S. 108 in diesem Beitrag. Vgl. Schwebel, Horst: „Mit Licht und Farbe malen und gestalten“, in: Ders. (Hg.), Glasmalerei für das 21. Jahrhundert. Malen mit Glas und Licht. Ein Ausblick. 100 Jahre Glasmalerei Otto Peters 1912– 2012, Paderborn: Glasmalerei Peters 2012, S. 18–30, hier S. 19–21. Auf den Bereich der sakralen Werke verweisen die Beiträge in Stiftung Forschungsstelle Glasmalerei des 20. Jh. e. V. (Hg.): Das Ende der selbstverschuldeten Unwissenheit. Zur kompletten Erfassung der Glasmalerei in Nordrhein-Westfalen, Luxemburg und Limburg/NL, Lindenberg im Allgäu: Josef Fink 2016. Dass die Fenster häufig mit Geldern der öffentlichen Hand finanziert wurden, ist dabei noch gar nicht thematisiert. Eine differenziertere Betrachtung hätte an anderer Stelle freilich auch Regionen der Entwicklung von moderner Glasmalerei zu berücksichtigen, etwa Berlin oder Süddeutschland mit den Zentren München und Stuttgart. Vgl. Beeh-Lustenberger, Suzanne: „Dem Licht Farbe geben, 150 Jahre Franz Mayer’sche Hofkunstanstalt 1847–1997“, in: Das Münster (51/1998), S. 35–54; Vgl. zu Thorn Prikker aus einer Fülle an Literatur: Wierschowski, Myriam (Hg.): Mit der Sonne selbst malen… Johan Thorn Prikker und der Aufbruch der Moderne in der Glasmalerei (= Katalog der Ausstellung im Deutschen Glasmalerei Museum Linnich vom 19. Mai bis 23. September 2007), Linnich: Deutsches Glasmalerei-Museum 2008; Oder auch: Heiser, Christiane (Hg.): Johan Thorn Prikker. Mit allen Regeln der Kunst.
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1910, die zu den Inkunabeln der modernen Glasmalerei schlechthin geworden sind, gelingt Thorn Prikker nicht nur die radikale Abkehr von historistischen Vorbildern, wie sie sich bis dato zuhauf in den unzähligen neoromanischen und vor allem in den neogotischen Kirchen des Rheinlands befunden haben, sondern er entzieht sich auch allmählich, z. B. in seinen Arbeiten für die Kapelle des Gesellenhauses in Neuss 1911 (S. 122), den bis kurz vorher dominierenden Elementen des Jugendstils. Schließlich findet er zu einer eigenen Bildsprache, die sich über den Expressionismus und Kubismus zu einer völligen Abkehr ikonographischer Inhalte und damit zur rein konstruktivistischen Abstraktion, wie beim Treppenhausfenster im Museum Kunstpalast in Düsseldorf (ursprünglich von 1926, nach Kriegszerstörung allerdings heute eine Zweitanfertigung von 1983/84 nach den erhaltenen Kartons von Thorn Prikker durch die Firma Hein Derix aus Kevelaer), durchringt. Exemplarisch für die moderne Glasmalerei lassen sich über die Person Thorn Prikkers noch andere Aspekte in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, die verschiedene Desiderate offenlegen: 1. Welcher Voraussetzungen bedarf es für die Anfertigung moderner Glasmalerei? 2. Wer sind die Akteure in einem wie in kaum einer anderen Gattung arbeitsteilig organisierten Werkprozess? 3. Welche Positionen vertritt die (kunsthistorische) Forschung bei diesen Fragestellungen?
II Material und Technik Was den Künstler Thorn Prikker vor vielen anderen seiner Zeit auf dem Gebiet der Glasmalerei auszeichnet, ist sein Verständnis für eine seit längerer Zeit in Vergessenheit geratene Technik der musivischen Verwendung des Glasmaterials. Das Mantra vom Malen mit, statt Malen auf Glas ist zum Synonym geworden für das, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne Glasmalerei von derjenigen des 16. bis zum Ende 19. Jahrhunderts fundamental unterscheidet.16 Glas wird hierbei nicht als bloße Leinwand zum Träger der Farbe degradiert, indem man es mit Schmelzfarben bemalt, sondern das Glas selbst wird zum transluziden Malgrund erhoben, der nur partiell zur Modellierung des transmittierten Lichts, wo nötig, mit Schwarzlotbemalung versehen wird. Der ‚Nachteil‘, den die Künstler*innen hierfür in Kauf nahmen, ist im Vergleich zur erzielten Wirkung, dem brillanten Leuchten und Glühen der Farben (S. 123), gering: Um zwei unterschiedliche Farbgläser, die immer nur getrennt in Masse gefärbt werden können, nebeneinander zu setzen, bedurfte es wie schon zu Zeiten der riesigen gotischen Kathedralfenster (wieder) der Bleiruten, die sowohl als konstruktives wie auch später vor allem als ästhetisches Element unser Bild von einer
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Vom Jugendstil zur Abstraktion (= Katalog der Ausstellung im Museum Kunstpalast Düsseldorf vom 26. März bis 7. August 2011), Rotterdam: Museum Boijmans van Beuningen 2010; Zuletzt vor allem die Neusser Beispiele betreffend: Husmeier-Schirlitz, Ihrer Zeit voraus. In einem Brief an seinen Schüler und Freund spricht Thorn Prikker 1921 eindringlich davon, dass die Glasscheiben die Farben selbst liefern und aus ihnen auch die Komposition und die Zeichnung erwachsen müssten. Vgl. Schulz, Maria-Katharina: Glasmalerei der klassischen Moderne in Deutschland (= Europäische Hochschulschriften Kunstgeschichte, Bd. 78), Frankfurt a. M.: Peter Lang 1987, S. 212.
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‚klassischen‘ Bleiverglasung seit dem Mittelalter prägen.17 Auf der anderen Seite bedurfte es daher in der Regel einer Fachwerkstatt, die gleichsam in Übersetzungs- und häufig auch in Interpretationsleistung die künstlerischen Ideen – in einem ersten Schritt als kleinere Entwurfsskizze, in einem nächsten in Form eines Kartons im Maßstab 1:1 des Fensters – transformierte. Nicht allein die Dimensionen eines Fensters hätten wohl die Atelierräume der meisten Künstler gesprengt, auch der Zuschnitt von Glasscherben, ihre Zusammensetzung beim Verbleien und schließlich der Einbau eines Fensters hätten die (handwerklichen) Fähigkeiten der meisten Fenstergestalter sicher überstiegen.18 Dass sich im Rheinland die 17
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Von der Schmelze bis zur Herstellung einzelner Scherben für ein Fenster sind mehrere Arbeitsschritte nötig, die sich, zumal bei mundgeblasenen Gläsern, seit dem Mittelalter im Wesentlichen nicht verändert haben. Der Glasbläser entnimmt dem Ofen einen heißen Glasbatzen und bläst diesen mit der Glasmacherpfeife zu einem Kölbel auf. Diese Kugel wird anschließend durch Schleudern gestreckt, bis ein länglicher Zylinder entsteht, dessen Boden und Hals schließlich abgesprengt werden. Anschließend schneidet man den Zylinder der Länge nach auf. Im Streckofen wird er bis zum Erweichungspunkt der Glasmasse noch einmal auf Temperatur gebracht und mit Hilfe eines Holzstabes zu einer flachen Platte ausgebreitet. Die entstandene Glastafel kann nach ihrer Abkühlung entsprechend ihres Verwendungszwecks zugeschnitten und weiterverwendet werden. Schwarzlot ist die bis heute verwendete, klassische Grundfarbe der Glasmalerei, deren Herstellung und Verwendung bereits in einem Traktat des 12. Jahrhunderts beschrieben wird. Hierbei handelt es sich um ein pulverisiertes Gemisch aus Eisenhammerschlag (verbranntes Kupfer) und Glasfluss (leicht schmelzendes Blei- oder Boraxglas). Es wird mithilfe eines Malmittels per Pinsel auf die Glasoberfläche aufgetragen. Bei einer Vermischung mit Wasser lässt sich die Farbe großflächiger und lasierender auftragen und kann mithilfe breiter Dachshaarpinsel vertrieben und anschließend durch Wischen oder Modellieren weiter bearbeitet werden. Man spricht in diesem Fall von Überzugfarbe. Um Schwarzlot dauerhaft auf der Scheibe haltbar zu machen, muss es bei ca. 630 Grad Celsius mit der Oberfläche des Trägerglases verschmolzen werden. Ab dem 16. Jahrhundert kommen „echte“ Emaillefarben auf, die bis ins 19. Jahrhundert sehr häufig verwendet wurden. Sie bestehen aus pulverisiertem Glas, Blei und Farbkörpern (Metalloxiden). Vgl. zu den technischen Aspekten Strobl, Sebastian: „Die Techniken der Glasmalerei“, in: BeehLustenberger, Suzanne/Calleen, Justinus Maria/Heyden, Thomas (Hg.), Lichtblicke. Glasmalerei des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ostfildern: Hatje 1997, S. 144–168. Vorher Frodl-Kraft, Eva: Die Glasmalerei. Entwicklung, Technik, Eigenart, Wien/München: Schroll 21979, bes. S. 58 f. und zuletzt Köpf, Reinhard: „Glas als Werkstoff für die Kunst. Die technischen Voraussetzungen der modernen Glasmalerei“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 13–23, hier S. 20. Ausnahmen bestätigen die Regel. Mit seinem Wechsel an die Düsseldorfer Kunstakademie 1923 stand Johan Thorn Prikker, genau wie bei seiner letzten Station an den Kölner Werkkunstschulen von 1926– 1932, eine eigene Werkstatt mit Schmelzofen zur Verfügung. Er empfand die Zusammenarbeit mit einer Firma als schwierig: „Das Elend ist, dass wir gezwungen sind uns mit einer Glasmalereifirma in Verbindung zu setzen. Es tut einem wirklich leid, wenn man sieht, was aus einem Karton […] durch die Glasmaler gemacht wird.“ Hier zitiert nach M.-K. Schulz: Glasmalerei der klassischen Moderne in Deutschland, S. 212 f. Ganz anders Georg Meistermann, der sein Verhältnis zu seinem bevorzugten Glasmaler Hans Bernhard Gossel als musikalische Beziehung umschreibt: „Wäre ich Beethoven, dann wärst Du Yehudi Menuhin“. Vgl. Wilhelmus, Liane: „Wenn ich Beethoven wäre, dann wärst Du Yehudi Menuhin. Zur Zusammenarbeit von Georg Meistermann und den Glaswerkstätten“, in: Bushart, Magdalena/Haug, Henrike (Hg.), Geteilte Arbeit. Praktiken künstlerischer Kooperation (= Interdependenzen 5), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2020, S. 149–166. Allgemeiner zur Zusammenarbeit von Künstler und Werkstatt, vgl. Jung, Christine: „Im Zusammenwirken von Kunst und Handwerk. Fünf Künstler und ihre Werkstätten“, in: Dresch, Jutta (Hg.), Glasmalerei der Moderne. Faszination Farbe im Gegenlicht, Karlsruhe: Info-Verlag 2011, S. 119–130.
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führenden Werkstätten ihrer Zeit, nicht nur in Deutschland, befunden haben, die es auch zum Teil bis heute geblieben sind, war der entscheidende Standortvorteil dieser Region.19 Alle diese Beobachtungen wären aber ohne die ‚Wiederentdeckung‘ des Antikglases etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch den englischen Rechtsanwalt und Glasmalereiliebhaber Charles Winston (1814–1864) nicht möglich gewesen.20 Diese sich von einer materialästhetischen Seite annähernde These ist in der Forschungsliteratur bisher nicht diskutiert worden, obwohl gerade dieses Material weit über ein Jahrhundert lang das Erscheinungsbild der modernen Glasmalerei bestimmte und es bis heute Anwendung im Bereich der Kunstverglasung findet. Zu wenig ist außerdem über die Beziehungen zwischen England und dem Kontinent bekannt, dies betrifft z. B. Fragen nach dem Wissens- oder gar Materialtransfer von Glas und der Verwendung des neuen, freilich alten Materials auf künstlerischem Gebiet.21 Winston, dessen Interesse der Erhaltung und vor allem der Restaurierung mittelalterlicher Glasfenster galt, dürfte auch als Wegbereiter eines Denkbildes, darin vergleichbar mit Viollet-le-Duc (1814–1879) in Frankreich, nicht zu unterschätzen sein, das in den mittelalterlichen Kathedralen als gläserne Schreine eine wesentliche Referenzgröße, ein Idealbild für die moderne Glasmalerei schlechthin sah, angefangen bei dem verlockenden Vergleich zwischen der Sainte-Chapelle in Paris von 1248 (S. 123) und Otto Bartnings (1883–1959) Stahlkirche auf der PRESSA-Ausstellung in Köln (Abb. 1) von 1928 und ihren monumentalen, von Elisabeth Coester (1900–1941) gestalteten Fensterflächen.22 19
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Noch immer wissen wir zu wenig über die Werkstätten als Wissensspeicher der modernen Glasmalerei. Dies betrifft vor allem die Firmenarchive, in denen sich mit den von den Künstler*innen gestalteten Kartons nicht nur Originale von einigem Wert befinden, sondern auch Unterlagen, die uns Auskunft über die sozioökonomische Seite und den durchaus auch prekären künstlerischen Bedingungen der Glasmaler*innen liefern könnten. Einen instruktiven, durchaus persönlich gefärbten Einblick in die Geschichte einer Glasmalereifirma bietet: Derix, Elisabeth (Hg.): Kunstzeiten. Glasmalerei und Mosaik, Mönchengladbach: Kühlen-Verlag 2016. Vgl. Sewter, Charles: „The Place of Charles Winston in the Victorian Revival of Stained Glass“, in: Journal of the British Archaeological Association 24 (1961), S. 80–91; Cheshire, Jim: „Charles Winston and the Development of Conservative Restoration“, in: Journal of William Morris Studies 20 (2013), S. 83–102; Brown, Sarah: „Medieval Stained Glass and the Victorian Restorer“, in: Atkins, Gareth/ Allen, Jasmine/Nichols, Kate (Hg.), Reframing Stained Glass in Nineteenth-Century Britain. Culture, Aesthetics, Contexts (= 19 Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth Century 2020, 30), S. 1–25 [online publiziert unter: https://doi.org/10.16995/ntn.3013, zuletzt: 17.02.2022]. Überhaupt haben wir bisher kaum einen verlässlichen Überblick über die Glasmalerei des Historismus, von einer internationalen Perspektive ganz zu schweigen. Vgl. zuletzt Nestler, Iris: „Glasmalerei des Historismus im Rheinland. Die Situation nach Weltkriegen und Bildersturm der Nachkriegszeit“, in: Baier, Christoph/Czirr, Sarah/Lang, Astrid u. a. (Hg.), Absolutely Free? Invention und Gelegenheit in der Kunst, Bielefeld: Transcript 2019, S. 473–493. Ein erster wichtiger internationaler Ansatz ist zu sehen in Allen, Jasmine: Windows for the World. Nineteenth-Century Stained Glass and the International Exhibitions 1851–1900, Manchester: Manchester University Press 2018. Die Kirche ist nach ihrem Transfer von Köln nach Essen im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Zusammen mit der ebenfalls im Krieg zerstörten Verglasung von St. Nicolai in Dortmund sind damit zwei wichtige Hauptwerke der modernen Glasmalerei, noch dazu von einer Glasmalerin, verlorenen gegangen. Zu Coester vgl. Reetz, Martina: Elisabeth Coester – Eine evangelische Glasmalerin des Expressionismus, Phil. Diss. Trier 1994, Roermond/Niederlande: Jansen-Winkeln 1995. Zu den genannten Werken bes. S. 86–102.
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1 Otto Bartning, Pressa-Kirche (Stahlkirche) auf der Internationalen Presseausstellung Köln (1928), Innenansicht mit Blick nach Osten.
Und noch eine andere gedankliche Verbindung drängt sich auf: so lässt sich der Einfluss der Arts and Crafts-Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur auf die Kunstgewerbebewegung auf dem Kontinent, sondern insbesondere auf die moderne Glasmalerei nachweisen. Auch diese emanzipierte sich im Gefolge der Arts and Crafts-Bewegung zunehmend vom Historismus als einer industrialisierten Form der Kunst. Die Gründung des Deutschen Werkbundes 1907 sowie des Bauhaus 1919 bilden Äquivalente zur britischen Bewegung.23 Welchen Einfluss aber die moderne Glasmalerei Deutschlands über den Jugendstil hinaus Künstlern wie Edward Burne-Jones (1833–1898) oder William Morris (1834–1896) zu verdanken hat, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, muss erst noch untersucht werden.
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Zur Arts and Crafts-Bewegung und moderner Glasmalerei vgl. Cormack, Peter: Arts & Crafts Stained Glass, New Haven/London: Yale University Press 2015. Ähnlich wie John Ruskin (1819–1900) in England versuchte man eine Positionierung der modernen Kunst und der Werkbundideen mittels theoretischer Schriften zu erreichen. Vor allem Zeitschriften, wie die Dekorative Kunst (ab 1897), übernahmen federführend diese Aufgabe. Zeitgleich lässt sich eine zunehmende mediale Präsenz der Glasmalerei feststellen, obgleich der Druck in schwarz-weiß der Wirkung der Fenster nie gerecht werden konnte.
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Von besonderer Bedeutung für die moderne Glasmalerei war die Erfindung des Betonglases in den 1930er Jahren in Frankreich.24 Dass es sich bei der Betonverglasung nicht nur um eine Spielart der Glasgestaltung handelte, mag der große Erfolg, der ihr nach dem Zweiten Weltkrieg beschieden war, verdeutlichen, auch wenn sie hierzulande nur eine kurze Blütephase zwischen den 1950er und 1970er Jahren erlebte. Die Betonverglasung erweitert das Spektrum der traditionellen Bleiverglasung um ein entscheidendes Moment: das Fenster kann nun selbst konstruktives Element und statisch einsetzbares Glied der Architektur werden, ohne auf eine Durchlichtung zu verzichten; Betonverglasungen sind gleichsam durchleuchtete Mosaike (S. 124). Für Betonglasfenster werden gegossene Glastafeln mit einer Dicke von meistens 2,5 bis 4 cm verwendet. Einem Entwurf entsprechend, der, genau wie bei den Bleiverglasungen auch den Betonglasfenstern vorausgeht, können diese Glasplatten, die man auch als Dickoder Dallgläser (international gebräuchlich ist der Begriff ‚dalle de verre‘) bezeichnet, in Form geschnitten, gesägt oder geschlagen werden. Sie werden an den für sie bestimmten Platz innerhalb eines Betonfeldes (Betonkassette) gelegt, je nach Größe gegebenenfalls mit einer Eisenarmierung bewehrt und die Zwischenräume abschließend mit Beton ausgefüllt.
III Netzwerke Deutlich wurde, dass die Glasmalerei eine besonders arbeitsteilige Kunstform darstellt. Künstler*innen und Werkstätten sind aber nur zwei Teile eines Netzwerkes, das um eine Vielzahl an Akteuren erweitert werden kann. Nicht unerheblich sind, wie Jürgen Wiener gezeigt hat, die Orte der Ausbildung, die die Künstler*innen durchlaufen haben.25 Engere Bindungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen sorgten für die Herausbildung einzelner Schulen.26 Manchmal lag der Schatten eines Vorbildes wie Blei auf einzelnen Künstler*innen, die sich dem nicht entziehen konnten. Bei anderen entfesselte die radikale Abkehr von einem Vorbild nicht nur die eigene Kreativität, sondern führte auch die Glasmalerei zu neuen Lösungen.27 24
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Grundlegend zur Betonverglasung vgl. Loire, Natalie: Le vitrail en Dalles de Verre en France des Origins à 1940, 2 Bde., Phil. Diss. Université de Paris 1993. Für den deutschsprachigen Raum siehe Schupp, Marlies: „Das Betonglasfenster“, in: Das Münster (19/1966), S. 137–140 und Wagner, Sandra: „Strahlende Farben gebannt in Beton. Die Betonglastechnik der 50er Jahre“, in: Striffler, Helmut (Red.), Die 50er Jahre – Halbzeit der Moderne (= Kunst und Kirche 4), Darmstadt: Das Beispiel 1998, S. 229–235. Vgl. J. Wiener: Glasmalerei in Düsseldorfer Kunstschulen. Vgl. Tölke, Dirk: „Die Glasmalerei der klassischen Moderne im Rheinland und ihre Schulen“, in: I. Nestler: Meisterwerke der Glasmalerei Bd. 1, S. 22–47. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Hubert Spierling (1925–2018), der an der Werkkunstschule in Krefeld unter anderem bei Gustav Fünders (1903–1973) studierte hatte, orientierte sich anfangs noch am Figurenstil seiner Lehrer, ehe sich die Farbe in seinem Werk mehr und mehr zu verselbständigen begann und er in seinem Spätwerk praktisch auf figürliche Darstellungen ganz verzichtete. Am radikalsten mit den Traditionen der klassischen Moderne brach Spierlings Zeitgenosse Johannes Schreiter (*1930), der bei Vincenz Pieper (1903–1983) in Münster studierte. Schreiter wandte sich sowohl gegen überlieferte ikonographische Vorstellungen wie auch gegen eine in gefälliger Farbigkeit verhar-
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Auftraggeber*innen und Architekt*innen bilden darüber hinaus weitere Gruppen, die ganz wesentlich Einfluss auf die Glasmalerei, auf ihre Gestaltung und auf ihre Themen, zumal bei Neubauten, nehmen. Diese Netzwerke waren und sind bis heute fester Bestandteil der modernen Glasmalerei, ohne dass dies in der Forschung bisher ausführliche Betrachtung gefunden hätte. Auch Konservator*innen und Denkmalpfleger*innen drängen heute in dieses Netzwerk, gerade wenn es um den Umgang mit schadhaften, restaurierungsbedürftigen Objekten oder gar um den Ersatz alter Fenster in historischen Bauwerken durch neue geht. Sie alle profitieren von den zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegten Grundlagen, an denen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt waren: Mäzene wie etwa der Begründer der Folkwang-Bewegung Karl Ernst Osthaus (1874–1921), Fachleute wie Gottfried Heinersdorff (1883–1941) aus Berlin mit seinen Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner/Gottfried Heinersdorff und Architekten wie Henry van der Velde (1863–1957), Bruno Taut (1880–1938), Richard Riemerschmid (1868–1957) oder Peter Behrens (1868– 1940) sowie die Künstler der Zeit von Johan Thorn Prikker bis Otto Freundlich (1878–1943), Cesar Klein (1876–1954) bis Max Pechstein (1881–1955). Mit der Trennung von Entwurf und Ausführung, wie sie von Heinersdorff konsequent propagiert und gefordert wurde, war es Künstler*innen, die bisher nicht mit dem Material Glas zu tun hatten, überhaupt möglich geworden, auf diesem Gebiet tätig zu werden.28 Sie sind im Grunde die Vorläufer jener „neuen Glasmaler“ als die Richter, Hockney usw. heute schon (fälschlicherweise) bezeichnet werden. Selbst die Kirchen als Auftraggeber zogen Gewinn aus diesen Konfigurationen. Moderne Geistliche mit dem nötigen Mut, der Amtskirche, namentlich ihren bischöflichen Vorgesetzten, die Stirn zu bieten, konnten im Laufe der Zeit auch nicht oder anders konfessionell geprägte Künstler*innen für Aufträge gewinnen.29 Die Pfarrer Josef Geller in Neuss (1877–1958), der dem Deutschen Werkbund nahestand, oder Augustinus Winkelmann (1881–1954) im Kloster Marienthal (Kreis Wesel), der mit dem Auftrag zur Neugestaltung zwischen 1925 und 1927 der Klosterkirche zahlreichen jungen Künstler*innen die Gelegenheit bot, ein Gesamtkunstwerk zu gestalten, zu dessen frühesten Arbeiten die Fenster
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rende Abstraktion. Er setzte auf die Konfrontation seiner Fenster, die häufig in der Zusammenballung kleinteiliger Formen eher an geologische Schichtungen als Ergebnisse gewaltiger eruptiver Prozesse denken lassen, mit der sie umgebenden Architektur. Zur Bedeutung von Heinersdorff als eine der überragenden Figuren für die moderne Glasmalerei siehe Richter, Annemarie: Gottfried Heinersdorff (1883–1941). Ein Reformer der deutschen Glasbildkunst, 3 Bde., Phil. Diss. Berlin 1983 (Mikrofiche). Wenn hier vor allem von der Kirche als Auftraggeber für moderne Glasmalerei die Rede ist, bedeutet dies keineswegs, dass es im profanen Bereich keine moderne Glasmalerei gegeben hätte. Im Gegenteil: Max Pechstein entwarf Fenster für das internationale Arbeitsamt der Stadt Genf, Adolf Hölzel (1853–1934) für die Keksfabrik Bahlsen in Hannover und Josef Albers bekanntlich für das Grassimuseum in Leipzig. Der Grund für die Dominanz der sakralen Glasmalerei liegt in unserem Kenntnisstand, der hier nach wie vor einen deutlichen Vorsprung aufweist im Verhältnis zu dem, was wir über den Einsatz von Glasmalerei in profanen Bauwerken, Schulen, Universitäten, Rathäuser usw. wissen.
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von Anton Wendling (1891–1965) und Heinrich Dieckmann (1890–1963) zählten, beide übrigens Thorn Prikker-Schüler, sind hier zu nennen. Geller und Winkelmann stehen freilich stellvertretend für eine ganze Reihe an entschlossenen Vorkämpfer*innen für den Einsatz von moderner Kunst in ihren Sakralräumen. Als die Moderne in den 1920er und 1930er Jahren begann ‚klassisch‘ zu werden, hatten kirchliche Reformbewegungen wie die Art Sacré in Frankreich oder die Liturgische Bewegung um Romano Guardini (1885–1968) in Deutschland Aufgabenfelder erschlossen, die für die Glasmalerei nahezu paradiesische Zustände versprachen.30 In den prosperierenden Regionen von Rhein und Ruhr gab es vor und auch wieder nach dem Ersten Weltkrieg Glaube und Geld im Überfluss. Die Zeit des Neuen Bauens lieferte Aufträge, die die Künstler*innen mit immer neuen Gestaltungsideen bereicherten. Erst der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Aufbruchsstimmung jäh.
IV Forschung Die kunsthistorische Forschung hat sich nicht allein von den Qualitäten der Werke Thorn Prikkers leiten lassen. Auch August Hoff (1892–1971), Vertrauter, Freund und als gelernter Kunsthistoriker später erster Biograph Thorn Prikkers, hat als wirkmächtiges Sprachrohr – die heute geläufige Bezeichnung als Multiplikator trifft es wohl am besten – maßgeblich nicht zur späteren Heroisierung seines Freundes, sondern auch zur Positionierung der modernen Glasmalerei im zeitgenössischen Kunstbetrieb auf theoretischer Ebene beigetragen.31 Mit seinem kurzen Beitrag „Kultische Glasmalerei“ hat er die Richtung der Debatten entscheidend beeinflusst.32 Gleichzeitig mit der modernen Glasmalerei setzte ein Boom an theoretischen Abhandlungen ein, die dem Medium seine Legitimation im Kreis der anderen Gattungen, ja der modernen Kunst insgesamt sichern sollten. Schriften aus unterschiedlichen Lagern bestimmten den breitgefächerten Diskurs. Angefangen bei den zahlreichen Selbsteinschätzungen der Künstler*innen, über Schriften der Auftraggeber, unter denen Amtsträger der Kirche überproportional vertreten sind, wie etwa die bereits erwähnten Geistlichen Geller und Winkelmann, zu denen noch der evangelische Pfarrer Paul Girkon (1889–1967) als Experte für christliche Kunst und späterer Leiter des Amtes für Kirchenbau
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Vgl. Wiener, Jürgen/Körner, Hans (Hg.): L’Art Sacré. Die Kunstzeitschrift der französischen Dominikaner und das Engagement für eine moderne christliche Kunst, Essen: Klartext 2019. Vgl. Hoff, August: Jan Thorn Prikker (= Monographien zur rheinisch-westfälischen Kunst der Gegenwart 12), Recklinghausen: Bongers 1958. Zuvor schon Ders.: Die religiöse Kunst Johann Thorn Prikker‘s [sic!], Düsseldorf: Bagel 1924. Hoff wurde 1924 erster Direktor des Kunstmuseums Duisburg (Lehmbruck-Museum) und war Mitte der 1920er Jahre der wichtigste Kurator moderner Sakralkunst. Außerdem fungierte er als künstlerischer Berater der Firma von Gottfried Heinersdorff. Vgl. hierzu Heiser, Christiane: „Netzwerke einer christlichen modernen Kunst. Johan Thorn Prikker und Heinrich Campendonk an der Düsseldorfer Kunstakademie“, in: Reuter, Guido/Wiener, Jürgen (Hg.), Die Düsseldorfer Kunstakademie 1919–1933, Berlin: De Gruyter 2022 (im Druck). Vgl. Hoff, August: „Kultische Glasmalerei“, in: Horn, Curt (Hg.), Kultus und Kunst. Beiträge zur Klärung des evangelischen Kultusproblems, Berlin: Furche Kunstverlag 1925, S. 85–90.
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und kirchliche Kunst der Evangelischen Kirche von Westfalen zu rechnen ist,33 bis hin zu intellektuellen Kreisen aus Literatur, Architekturtheorie und Kunstwissenschaft sowie der Umkreis des Schriftstellers Paul Scheerbart (1863–1915) und der ‚Gläsernen Kette‘, die sicher zu den bekanntesten Vertreter*innen dieser Diskurse zählen. Verglichen mit der Fülle an Beiträgen aus den oben genannten Kreisen nimmt sich der Blick auf die handwerkliche Seite der Glasmalerei, ihr Material und ihre Techniken, eher gering aus. Einzig Gottfried Heinersdorff unternahm den Versuch, seine Erneuerungsbestrebungen auf diesem Sektor theoretisch zu untermauern, sicher auch um als Unternehmer später wirtschaftlich davon zu profitieren.34 Ihm war damit ein dauerhafter Erfolg gelungen. Rangen die Künstler*innen um die angemessenen Ausdrucksformen, die sie einmal eher von expressionistischen Tendenzen in Richtung Symbolismus, ein anderes Mal eher in Richtung Neue Sachlichkeit driften ließ, so befeuerten die Theoretiker*innen die Vorstellung von der Glasmalerei als Mittlerin zwischen der materiellen, von Menschenhand gestalteten Umwelt und dem Transzendentalen, als dessen Boten man das Licht verstand, das sich als göttliches Signal in unendlichen Farbnuancen dem*r Betrachter*in durch die Fenster offenbarte.35 Auch wenn es sich dabei um einen vielbemühten Topos handeln mag, der die künstlerische Schaffenskraft absichtsvoll in die Nähe des creator mundi rückt, so ist es doch bemerkenswert, dass sich selbst in der einschlägigen Forschungsliteratur kein Hinweis auf die naturwissenschaftlichen Beobachtungen des Phänomens Licht zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihren Einfluss auf den Werkstoff Glas findet. Allein Albert Einsteins (1879–1855) Wunderjahr 1905 musste auf die Zeitgenossen wie ein Donnerschlag wirken. In diesem Jahr veröffentlichte er vier Aufsätze, die nicht nur unser Verständnis von Licht veränderten, sondern die moderne Physik in ihren Grundfesten radikal erschütterten.36 Die Erkenntnis, Licht als absolute, nicht relativierbare physikalische Größe anzusehen, hatte in ihrer letzten Konsequenz die Wirkmacht, jegliche göttliche Einlassung vernachlässigen zu dürfen. Vielleicht (oder gerade deswegen) ist hierin der Grund dafür zu suchen, dass man der Rezeption von Glas, mit seiner kristallinen Struktur, seiner Transparenz und seiner
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Noch Girkons Beitrag bleibt der Hoff’schen metaphysischen Sichtweise verpflichtet. Vgl. Girkon, Paul: Die Glasmalerei als kultische Kunst, Berlin: Furche Kunstverlag 1927. Sein Buch zählt heute zu den grundlegenden Schriften zur Technik der Glasmalerei. Vgl. Heinersdorff, Gottfried: Die Glasmalerei, ihre Technik und ihre Geschichte. Mit einer Einleitung und einem Anhang über moderne Glasmalerei von Karl Scheffler, Berlin: Cassirer 1914. Vgl. P. Girkon: Die Glasmalerei als kultische Kunst und M.-K. Schulz: Glasmalerei der klassischen Moderne in Deutschland, S. 104–106. Von Juni bis November 1905 erscheinen in der renommierten Zeitschrift „Annalen der Physik“ die Beiträge zur Deutung des Photoeffekts, in denen Einstein darlegt, dass elektromagnetische Wellen wie Licht auch als Strom winziger Partikel – sogenannten Photonen – beschrieben werden können. Dieser Dualismus zwischen Welle und Teilchen bildet die Grundlage der Quantentheorie. Mit der Erklärung der Brown‘schen Bewegung wird später der wissenschaftliche Nachweis von Molekülen und schließlich von Atomen gelingen. Der Artikel Zur Elektrodynamik bewegter Körper begründet die Spezielle Relativitätstheorie, die das Verständnis der Begriffe Raum und Zeit revolutioniert. Ein Nachtrag zur Speziellen Relativitätstheorie leitet schließlich den Zusammenhang von Masse und Energie ab. Alle Beiträge unter https://guides.loc.gov/einstein-annus-mirabilis/1905-papers, zuletzt: 17.02.2022.
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2 Bruno Taut, Glashaus (Ausstellungspavillon der Glasindustrie) auf der Werkbundausstellung in Köln (1914).
Zerbrechlichkeit, einem metaphysischen Aspekt und seinen potenziellen, durchaus nur vorstellbaren, utopischen Gestaltungsmöglichkeiten nie recht entsagen wollte. Freilich: Auf dem Gebiet der sakralen Glasmalerei mag diese These Gültigkeit beanspruchen (zumal für christlich geprägte Künstler*innen), auf dem der profanen Glasgestaltung lässt sie sich sicher relativieren. Für den architekturbezogenen Einsatz als Fenster im öffentlichen oder privaten Raum war häufig weniger die künstlerische Veredelung Voraussetzung, sondern die Verlässlichkeit, durch technische Verbesserungen und Innovationen
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3 Bau der Kuppel für das 100-Zoll-Teleskop des Mount Wilson Observatory in Kalifornien (1915).
eine dienstbare Gestaltung der Architektur zu erreichen.37 Ohne die Möglichkeit der Produktion größerer Glasscheiben, etwa mit Hilfe des Fourcault-Verfahrens an der Wende zum 37
Von Otto Freundlich wissen wir, dass er 1924 für ein Fenster im Auftrag eines Sammlers mit der Staffelung von unterschiedlich farbigen Gläsern hintereinander, zum Teil in zwei bis drei Schichten, experimentierte. Das Fenster ist heute verschollen und nur durch eine Fotografie bekannt. Vgl. M.-K. Schulz: Glasmalerei der klassischen Moderne in Deutschland, S. 168 f. Die insgesamt 43 Fenster der Schweizer Künstlerin Romi Fischer (*1950) in der Evangelischen Kirche Duisburg-Mittelmeiderich, die von der Glasmalerei Hein Derix in Kevelaer 2016 ausgeführt wurden, geben heute einen Eindruck von der Ästhetik dieser Technik in monumentalem Maßstab.
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20. Jahrhundert, wären Architekturen wie beispielsweise Walter Gropius‘ (1883–1969) Fagus-Werk im niedersächsischen Alfeld gar nicht denkbar gewesen.38 Ob und inwiefern also naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit letztlich platonischen und neoplatonischen Vorstellungen, wie Schulz sie bei Künstlern der frühen modernen Glasmalerei ausgemacht haben wollte39, kompatibel sind und sich künstlerische Ideen und Gestaltungskonzepte auch mit naturwissenschaftlichen Entdeckungen verbinden lassen, bleibt zu erforschen. Reizvoll ist jedenfalls ein Vergleich zwischen Bruno Tauts Glaspalast (Abb. 2) auf der Leistungsschau der Glasindustrie, die Teil der Kölner Werkbundausstellung von 1914 war, und dem Bau des Mount Wilson-Observatoriums in Kalifornien (Abb. 3) ab 1904, das während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Standort der beiden größten Teleskope der Welt – übrigens mit Spiegeln der berühmten, bereits 1665 von Ludwig den XIV. gegründeten Glasfirma Saint-Gobain – gewesen ist, mit deren Hilfe uns unter anderem Edwin Hubble (1889–1953) unseren Platz im Universum gezeigt hat.40 Der Kölner Bau erinnert an ein Observatorium, der andere an einen facettierten Kristall. Beide Male lenkt Glas den Blick, einmal auf eine erhoffte, elysische Zukunft, einmal in die fernste Vergangenheit unseres Daseins. Eine solche Dichotomie als Potential auch bei der Glasmalerei oder – neutral formuliert – der Glasgestaltung wahrzunehmen, wäre an anderer Stelle zu ergründen.
V Schlaglichter. Moderne Glasmalerei nach dem Zweiten Weltkrieg in Düsseldorf Ein ungeahntes Ausmaß an Zerstörung brach nicht erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs über Deutschland herein. Ganze Städte versanken noch in den letzten Kriegstagen in Schutt und Asche. Auch für die Glasmalerei brach 1945 die ‚Stunde null‘ an. Wie tote Augen traten in den Gebäuden dort die Öffnungen zutage, wo man nicht mehr schnell genug für den Ausbau von Fenstern sorgen konnte. Am ehesten brachte man noch die mittelalterlichen Bestände in Sicherheit, aber schon bei den Fenstern des 19. Jahrhunderts geriet die Sache
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Mundgeblasene Antikgläser erreichen produktionsbedingt nur eine Tafelgröße von etwa 90 × 60 cm. Beim Fourcault-Verfahren wird das Glas direkt aus der Glasschmelze gezogen. Diese quillt über eine in die Glasschmelze eingelassene, rechteckige Ziehdüse und wird unmittelbar danach von Fangeisen seitlich gefasst und senkrecht in die Höhe gezogen. Walzenpaare befördern die erstarrende Glasmasse durch einen etwa 8 Meter hohen vertikalen Kühlofen. Die Schmelze kühlt beim Hochziehen ab. Durch die Erdanziehung bedingt, entsteht eine horizontale Wellenbewegung, die, teilweise gewollt, später in der Fensterscheibe noch sichtbar ist. Um diesen Effekt später zu minimieren, wurden diese Gläser vor allem mit horizontal verlaufender Wellenrichtung eingesetzt. Sie sind das Erkennungsmerkmal historischer (nicht immer künstlerisch gestalteter) Fenstergläser. Das Verfahren beschrieben bei Knapp, Oscar: Architektur und Bauglas in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin: Verlag für Bauwesen 21962, bes. S. 34–39. Vgl. M.-K. Schulz: Glasmalerei der klassischen Moderne in Deutschland, S. 138–140. Vgl. https://www.mtwilson.edu/, zuletzt: 17.02.2022.
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ins Stocken, und auch Werke der frühen modernen Glasmalerei wurden im Bombenhagel stark dezimiert.41 Den gewaltigen materiellen Verlusten folgten alsbald Taten. Zwar entwickelte sich der Wiederaufbau zunächst zögerlich, doch mit den Wirtschaftswunderjahren folgte ein Bauboom, dem die Glasmalerei zwischen den 1950er und 1970er Jahren ihre erneute Blütephase verdankt.42 Düsseldorf und seine nähere Umgebung zeigen gleichermaßen für die Glasmalerei wie für die Architektur dieser Zeit einen Querschnitt dieser Entwicklung. Künstler*innen, die während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialist*innen mit Berufsverboten belegt wurden, fanden zurück. Die Wiedereröffnung der alten Ausbildungsstätten ab 1945, allen voran der Düsseldorfer Kunstakademie und der Werkschulen des Rhein- und Ruhrgebiets, an denen der nationalsozialistische Spuk auch nicht spurlos vorüber gegangen war, ermöglichte wieder einen intellektuellen Zugang zu den anstehenden künstlerischen Aufgaben. Eine neue Künstler*innengeneration, die ihre Ausbildung wiederum durch die ersten Schüler Thorn Prikkers erhielt oder fortsetzte, unter ihnen sind Heinrich Campendonk (1889–1957), Heinrich Dieckmann (1890–1963) oder Anton Wendling (1891–1965), der von Rudolf Schwarz (1897–1961) an die Werkschule nach Aachen berufen wurde, hervorzuheben, konnte sich entscheiden, an ältere Traditionen anzuknüpfen oder mit diesen zu brechen.43 Obgleich die drei Genannten, hinzukämen als Lehrer und 41
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Der Eindruck der gewaltigen Zerstörungen führte 1952 auf Betreiben des Schweizer Kunsthistorikers Hans Hahnloser (1899–1974) zur Gründung des Corpus Vitrearum Medii Aevi (CVMA). Das Projekt, an dem inzwischen 20 Länder beteiligt sind, hat sich zum Ziel gesetzt, alle erhaltenen oder überlieferten mittelalterlichen Glasmalereien zu erforschen, zu publizieren und einer breiten Wissenschaft zugänglich zu machen. Obgleich es sich um eine der erfolgreichsten Inventarisierungskampagnen in der Kunstgeschichte handelt, geht das CVMA weit über eine bloße Inventarisation hinaus, indem der historische Kontext, der Kontext der Architektur, die Stifter oder die ikonographischen Programme Berücksichtigung finden. Das CVMA hat Standards gesetzt, die für die Glasmalereien des 19. Jahrhunderts und für diejenigen der Moderne noch anzugehen sind. Zu den beiden in Deutschland tätigen Arbeitsstellen in Freiburg und Potsdam siehe deren hervorragende Website unter https://corpusvitrearum.de/, 17.02.2022. In den Kriegsjahren entstanden freilich kaum Fenster. In Düsseldorf kennen wir nur wenige Beispiele, etwa von Peter Hecker (1884–1971) für die Marienkapelle von St. Cäcilia in Düsseldorf-Benrath von 1942 oder die Fenster von Hans Hansen (1889–1966) für die Sakristei des gleichen Baus von 1945. Die vielleicht bedeutsamsten finden sich von Wilhelm Schmitz-Steinkrüger (1909–1994) in St. Antonius in Düsseldorf-Hassels. Die acht Langhausfenster, die 1944 fertiggestellt wurden, aber erst nach dem Krieg eingebaut wurden, sind als Schrift-Symbol-Fenster gestaltet und zeigen deutliche Anklänge an den Stil Thorn Prikkers, dessen Schüler Schmitz-Steinkrüger von 1926 bis 1932 an den Kölner Werkschulen studierte. Die allgemeine Materialknappheit sorgte auch für Mangelware an Gläsern. Woher die Werkstätten die ersten Scheiben bezogen, ob aus Frankreich oder den Beneluxländern (jedenfalls für Westdeutschland), welche Lieferketten dafür aufgebaut werden mussten, ist bisher gänzlich unerforscht. Die Bedeutung Campendonks, Wendlings und Dieckmanns konnte durch Ausstellungen – u. a. im Deutschen Glasmalerei Museum Linnich – und zahlreiche Monographien verdeutlicht werden. Vgl. (in Auswahl): Engels, Mathias T.: Campendonk als Glasmaler. Mit einem Werkverzeichnis, Krefeld: Scherpe 1966; Schunck, Astrid (Hg.): Heinrich Campendonk. Die zweite Lebenshälfte eines Blauen Reiters (= Katalog der Ausstellung im Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau vom 5. August bis 16. November 2001), Bedburg-Hau: Stiftung Museum Schloß Moyland, Sammlung van der Grinten, Joseph-Beuys-Archiv 2001; Wierschowski, Myriam (Hg.): Kristalline Welten. Die Glasgemälde Heinrich
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selbst als Glasmaler tätige Künstler wie Gustav Fünders (1903–1973) an den Werkschulen in Krefeld und Wilhelm Teuwen (1908–1967) in Köln44 – übrigens ebenfalls ein Schüler Campendonks – an der Ausbildung einer ganzen Reihe an Stars der modernen Glasmalerei, von denen einige später – wie Hubert Spierling oder Ludwig Schaffrath (1924–2011) – zu den ‚magnificent seven‘ der deutschen Glasmalerei zählten, mehr oder weniger unmittelbar beteiligt waren, gab es freilich auch Künstler*innen, die sich mit Glasmalerei befassten, ohne diese studiert zu haben. Zweifelsohne kamen sie aber über ihre Verbindungen zur Akademie oder zum Umkreis der Werkschulen mit entsprechenden Protagonist*innen auch über die Gattungsgrenzen hinweg mit Architekt*innen, Textilgestalter*innen und Graphiker*innen, die oft dem Medium Glas nahestanden, in Kontakt. Unter ihnen tritt mit Georg Meistermann (1911–1990) die vielleicht wichtigste Figur der modernen Glasmalerei in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hervor. 45 Der Durchbruch gelang ihm, der bis Mitte der 1960er Jahre übrigens die meisten seiner Fenster in der Glasmalereiwerkstatt Derix in Düsseldorf-Kaiserswerth fertigen ließ, mit dem spektakulären Treppenhausfenster von 1952 für das WDR-Gebäude in Köln, das am Beginn einer informellen Glasmalerei zu sehen ist, die ihre Wurzeln zwar in Frankreich hat, die jedoch die wichtigsten Impulse nach dem Krieg bis Ende der 1950er Jahre aus Deutschland erhalten sollte.46 Meistermann steht stellvertretend in seiner überragenden Bedeutung für die moderne bis zeitgenössische Glasmalerei als Gallionsfigur, für die Möglichkeit, kategoriale Unterschiede der Fenstergestaltung, ob figürlich, abstrakt, symbolisch und ornamental zu durchkreuzen, zusammenzudenken oder schließlich gänzlich zu überwinden. Die Fenster, die Meistermann für das Langhaus der Kirche St. Bonifatius in Düsseldorf-Bilk 1978/79
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Campendonks (= Katalog der Ausstellung im Deutschen Glasmalerei Museum Linnich vom 5. April bis 28. September 2014), Linnich: Deutsches Glasmalerei-Museum 2014 und jüngst U. HusmeierSchirlitz: Ihrer Zeit voraus. Zu Wendling siehe: Schreyer, Lothar: Anton Wendling (= Monographien zur rheinisch-westfälischen Kunst der Gegenwart 24), Recklinghausen: Bongers 1962; Wierschowski, Myriam (Hg.): Anton Wendling. Facettenreiche Formenstrenge (= Katalog der Ausstellung im Deutschen Glasmalerei Museum Linnich vom 9. September 2009 bis 21. Februar 2010), Linnich: Deutsches Glasmalerei Museum 2009. Zu Dieckmann vgl. Joggerst, Monika: Heinrich Dieckmann. Leben und Werk 1890–1963, Goch: Boss 2011. Alle drei arbeiteten übrigens im Kloster Marienthal (Kreis Wesel) zusammen. Vgl. Nestler, Iris: „Spätexpressionistische Tendenzen der Glasmalerei in Deutschland“, in: I. Nestler: Meisterwerke der Glasmalerei Bd. 2, S. 56–83, hier S. 60–65. Zu Fünders siehe Tölke, Dirk: „Bildende Kraft einer moderaten Moderne. Gustav Fünders und die Abteilung für Glasmalerei, Mosaik und Paramentik an der Krefelder Werkkunstschule“, in: Albrecht, Hans Joachim (Hg.), Glasmaler & Lichtgestalter nach 1945. Krefeld und der Niederrhein, Krefeld: Kunst und Krefeld e. V. 2010, S. 30–71. Zu Teuwen siehe Vogeler, Andreas: Wilhelm Teuwen 1908–1967. Leben und Werk niederrheinischer Künstler 3, Mönchengladbach: Kühlen-Verlag 1997 und D. Tölke: Die Glasmalerei der klassischen Moderne im Rheinland und ihre Schulen, in: I. Nestler: Meisterwerke der Glasmalerei Bd. 1, S. 32–40. Umfassend zum Werk Meistermanns vgl. Wilhelmus, Liane: Georg Meistermann. Das glasmalerische Werk (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 110), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014. Vgl. Evers, Karen: „Die Art Sacré-Bewegung in Frankreich. Zur Etablierung avantgardistischer Glasmalereien im sakralen Kontext“, in: J. Dresch: Glasmalerei der Moderne, S. 75–85 und J. Wiener/H. Körner: L’Art Sacré.
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gestaltete, ziehen mit den fast zeitgleich entstandenen Fenstern für St. Gereon in Köln von 1979 bis 1986 die Summe aus diesen Möglichkeiten.47 War schon die Rede von den vielfältigen Netzwerken der modernen Glasmalerei, so bietet das Beispiel der Kirche St. Paulus in Düsseldorf-Düsseltal ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit unterschiedlicher Gewerke. Nach schweren Kriegsschäden plante Hans Schwippert (1899–1973), ab 1946 Professor (zugleich in Aachen und Düsseldorf) und ab 1954 Direktor der Kunstakademie sowie Vorsitzender des Deutschen Werkbunds, den Wiederaufbau (1951–54). Schwippert, der 1927 genau wie Anton Wendling Mitarbeiter von Rudolf Schwarz an der Aachener Werkschule war, sollte zu einem der führenden Architekt*innen im Nachkriegswestdeutschland aufsteigen. Er empfahl dem Kunstinteressierten Pfarrer Otto Gatzen (1900–1970) für die zwischen 1953 und 1959 ausgeführten fast 60 figürlich gestalteten Langhausfenster neben Wendling mit Wilhelm Rupprecht (1889–1963), der als Leiter der Textilklasse aber auch in Glas arbeitete, einen weiteren Aachener Weggefährten. Die von der ältesten Glasmalereiwerkstatt Deutschlands, Dr. Heinrich Oidtmann in Linnich, ausgeführten Fenster zählen zusammen mit den Fenstern der Westfassade von Heinrich Campendonk von 1956/57 neben dem Aachener Domchor heute zum größten, ambitioniertesten und besten Glasmalereiensemble der frühen Nachkriegszeit.48 In Farbwahl und Figurenauffassung stehen Wendlings (S. 124) und Rupprechts (S. 125) Fenster dem Mittelalter nahe. Sie lassen sich im Sinne eines übergreifenden Werkstattgedankens, hinter dem sich alle Beteiligten versammeln, als Ergebnis eines Bauhüttenprinzips verstehen, wie es innerhalb des Deutschen Werkbundes und nur einige Jahre später am Bauhaus vorgelebt wurde und wie er an den Werkschulen noch längere Zeit fortbestehen sollte. Dass Maria Katzgrau (1912–1998), Schülerin von Anton Wendling und sicher eine der bedeutendsten Glasmaler*innen nach dem Zweiten Weltkrieg, bei diesem Projekt fehlte, darf nicht als Zurücksetzung missverstanden werden.49 Sie war durchaus mit anderen Aufträgen ausgelastet, konnte sie doch bereits in den 1930er Jahren als eine der ersten Frauen selbständig im Beruf des Glasmalers Fuß fassen. Ihre beiden für die Kirche der Armen Brüder des heiligen Franziskus in Rath (1969) und für das St. Anna-Stift in der Altstadt (1973) – 2021 abgerissen – gefertigten Aufträge für Düsseldorf zeig(t)en bereits ihren formal klaren, streng geometrischen Formenkanon, der, ehemals bei St. Anna um den Einsatz von Glasbrocken erweitert, ab den 1960er Jahren charakteristisch für ihre Arbeiten wird. Zu dieser Zeit erreichen sie auch Anfragen, für die Kirchen von Hafnarfjörður auf Island (1966) und von Kulusuk in Grönland (1973) Fenster zu gestalten.
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Vgl. zu allen Düsseldorfer Beispielen den Katalogeintrag von Köpf, Reinhard: „Georg Meistermann“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 221–229, bes. zu St. Bonifatius S. 224–227. Vgl. den Katalogeintrag von Köpf, Reinhard: „Wilhelm Rupprecht“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 269–272. Vgl. Wierschowski, Myriam (Hg.): Maria Katzgrau (= Katalog der Ausstellung im Deutschen Glasmalerei Museum Linnich vom 18. Oktober 2008 bis 1. März 2009), Linnich: Deutsches Glasmalerei Museum 2008. Zu den Düsseldorfer Beispielen siehe den Katalogeintrag von Krewani, Luca: „Maria Katzgrau“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 221–229, S. 162–170, bes. S. 165–168.
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Eine solche internationale Verflechtung, so exotisch die involvierten Länder auch bisweilen sein mögen, ist kein Einzelfall. Den Weltruf, den die moderne Glasmalerei aus Deutschland heute genießt, verdankt sie neben den Werken nicht zuletzt der internationalen Lehrtätigkeit der sogenannten ‚magnificent seven‘, von denen schon die Rede war: Georg Meistermann, Ludwig Schaffrath, Hubert Spierling, Wilhelm Buschulte (1923–2013), Joachim Klos (1931–2007), Johannes Schreiter (* 1930) und Jochem Poensgen (* 1931). 50 Als Lehrer verbreiteten sie ihre Ideen auf fast allen Kontinenten. Diese Generation hatte das ‚Glück‘, ein schier unendliches Aufgabenfeld vorzufinden, das in der Gestaltung von Fenstern für zerstörte, stark beschädigte oder für Neubauten ein reiches Betätigungsfeld offerierte. Bis auf Schreiter lebten beziehungsweise leben sechs in Nordrhein-Westfalen, und bis auf Schreiter sind alle mit bedeutenden Werken in und um Düsseldorf vertreten. Wie allen architekturbezogen arbeitenden Glaskünstler*innen blieb es auch ihnen nicht erspart, sich früher oder später zu den elementaren Fragen der Glasmalerei zu positionieren: Gibt man dem Licht oder der Farbe den Vorzug? Wie verhält man sich gegenüber dem konfliktbehafteten Thema Ornament, ohne zu bloßem Schmuck abzufallen und ohne sich der Loos’schen Damnatio auszuliefern, der bekanntlich im Ornament ein Vergehen an Form und Funktion gesehen hat? Ist der Abstraktion nun das Vorrecht gegenüber der Figur einzuräumen, und wenn man will, wie erfüllt sich das Bedürfnis nach Bedeutung und Aussage, wenn nicht durch Zeichen, Chiffren oder Symbole? Manche, vor allem die ‚jüngere‘ Generation der Nachkriegsgeborenen, wagten dabei auch immer wieder den Spagat zwischen raumgreifender Flächenkunst und raumgreifenden, im Sinne von taktil erfahrbaren, ja skulpturalen Eigenschaften, die man durch den Einsatz von Glasbrocken, Prismen oder anderen dreidimensionalen Glasobjekten erzielte.51 Ohnehin entwickelten sich die technischen Möglichkeiten weiter. Dies ging mit Materialinnovationen einher, wie z. B. mit neuen Klebetechniken, die Gerhard Hoehme (1920–1989) oder die Düsseldorferin Hella Santarossa (* 1945) in Glascollagen erfolgreich umsetzten. Andere Künstler*innen spielten 50
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Die Bezeichnung geht vermutlich auf Amber Hiscott zurück, die die Gruppe im Zuge der Ausstellung Glass Masters. Contemporary Stained Glass from Western Germany im walisischen Swansea (1980) ‚magnificent seven‘ nannte. Vgl. Hiscott, Amber: „Glass Masters. Contemporary Stained Glass from West Germany“, in: The Leadline 6 (1/1980), S. 10–12. Jeder Einzelne wurde mitunter umfangreich gewürdigt, weshalb hier eine Auswahl an Literatur genügt. Zu Buschulte vgl. Nestler, Iris (Hg.): Wilhelm Buschulte – Farbe. Geist. Zeitgeist? (Retrospektive im Deutschen Glasmalerei Museum Linnich vom 25. September 2004 bis 16. Januar 2005), Linnich: Deutsches Glasmalerei Museum 2004; JansenWinkeln, Annette: Künstler zwischen den Zeiten: Wilhelm Buschulte, Eitorf: Wissenschaftsverlag für Glasmalerei 2006 und das online einsehbare Werkverzeichnis: http://buschulte.com/werksverzeichnis/, 17.02.2022. Zu Klos siehe Willemsen, Eva-Maria/Hagemann, Waltraud: Joachim Klos (1931–2007). Grafiker und Glasgestalter, Mönchengladbach: Kühlen-Verlag 2017. Zuletzt zu Schreiter siehe: Johannes Schreiter – Kaleidoskop. Werke aus sieben Jahrzehnten (= Sonderheft der Zeitschrift Das Münster zum 90. Geburtstag des Künstlers 2020), Regensburg: Schnell & Steiner 2020. Zu Poensgen siehe: Brülls, Holger (Hg.): Jochem Poensgen. Architektur des Lichts. Werke-Entwürfe-Texte 1956–2012, Regensburg: Schnell & Steiner 2013. Wilhelm Teuwen experimentierte bereits früh mit diesen plastischen Phänomenen. Beispiele hierfür finden sich auch in Mater Dolorosa in Düsseldorf-Flehe von 1966 oder St. Mariä Himmelfahrt in Düsseldorf-Flingern.
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mit Druckverfahren auf Glas, wie z. B. Joachim Klos, der in den 1960er Jahren zu den Ersten gehörte. Poensgen nutzte Druckverfahren noch für seine Schifffenster in St. Peter in Düsseldorf-Unterbilk von 2001 bis 2012. Weitere experimentierten mit thermischen Verformungsmöglichkeiten von mal mehr mal weniger großen Scheiben, wie der an der Akademie der bildenden Künste in München lehrende Thierry Boissel (* 1962) an den Fenstern der Städtischen Eichendorff-Schule in Meerbusch-Osterath (S. 126). Wilhelm Buschulte, einer, wenn nicht der am meisten beschäftigte Glasmaler nach dem Zweiten Weltkrieg, steht dazu noch wie kaum ein anderer für stilpluralistische Tendenzen in der modernen Glasmalerei. Seine anikonischen Fenster, die sich einer Bezeichnung als Ornamentfenster entziehen, indem sie als einzigen Bezugspunkt am ehesten mittelalterliche Grisaillefenster gelten lassen, stehen zu seinen mitunter informellen Farbwelten, etwa derjenigen in St. Apollinaris in Düsseldorf-Oberbilk von 1964 (S. 127), in schärfstem Gegensatz. Den Höhepunkt seiner vom reinen Glasmaterial bestimmten Fenster stellen die drei großen Apsisfenster in St. Antonius in Düsseldorf-Friedrichstadt von 1970 dar. Auf dem Raster von Quadraten werden Vierkantgläser, Glaswürfel, kleine und in Form geschlagene Dallglasplatten und andere kleine Glaskuben so zusammengesetzt, dass sie ihres Gewichtes wegen einen Stahlrahmen benötigten. Jede Standortänderung des Betrachters vor den Fenstern lässt andere Licht-, Schatten- und Spiegelphänomene zu und provoziert eine regelrechte, optische Auslieferung ihrer Betrachter*in.52 Mit dem Ende der 1970er Jahre ebbte der Bauboom nicht nur auf dem kirchlichen Sektor ab. Längst waren die Materialexperimente wie die Betonglasfenster in Deutschland ab der Mitte der 1950er bis in die 1970er Jahre ins Stottern geraten, erkannte man doch allmählich, dass die Kombinationen unterschiedlicher Materialien längerfristig zu Problemen führen würde. Sie stellen heute, dort wo sie noch existieren, tatsächlich die schwierigsten Sanierungsfälle dar. Hauptwerke dieser Gattung sind bereits unter dem Sanierungsdruck, freilich vielfach durch Sanierungsstau hervorgerufen, verschwunden. Dazu gehören das monumentalste Werk von Poensgen in Dinslaken (Christuskirche, 2007 abgerissen) genauso, wie etwa die Arbeit von Sigrid Kopfermann (1923–2011) für die Evangelische Hoffnungskirche in Düsseldorf-Garath, die 2018 weichen musste. Das Fenster lagert zwar heute in Mönchengladbach. Ob es je wieder Verwendung findet, ist unklar. Kaum mehr Hoffnung besteht schließlich für ein Hauptwerk des Künstlers Joachim Klos, das nicht nur im Oeuvre des Künstlers eine Ausnahme darstellt, der, was seine Arbeiten in Beton angeht, schon früher unter Zerstörungen gelitten hat, sondern zu einem der besten Werke der modernen Glasmalerei in Düsseldorf überhaupt zu zählen ist. Die Tage der beiden riesigen Betonglaswände der Heilig-Geist Kirche in Düsseldorf-Urdenbach um 1964 (S. 128), die sich allein schon aufgrund ihrer technischen Ausführung einer sprachlichen Konkretisierung entziehen – handelt es sich um Architektur oder Fenster, sind sie eher illuminierte Skulpturen oder
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Vgl. den Katalogeintrag von Wiener, Jürgen: „Wilhelm Buschulte“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 68–75, hier bes. S. 70–75.
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Glas – Kunst?
lichtschimmernde Mosaikwände? – sind gezählt.53 Die 2020 entwidmete Kirche wartet nur noch auf den Bagger. Wo manche Aufgabengebiete einbrachen und gar wegfielen, eroberte sich die Glasmalerei auf anderen Gebieten neues Terrain. Gab es im öffentlichen Bereich schon früher, selbst zu Beginn der modernen Glasmalerei am Anfang des 20. Jahrhunderts, Aufträge zur künstlerischen Gestaltung von Fenstern, ist dieser Bereich heute zu einem der wichtigsten Betätigungsfelder der Glasmalerei geworden. Gebäude der öffentlichen Verwaltung, Schulen oder Flughäfen sind so zum Spielfeld für Arbeiten geworden, die sich auch durch den Einsatz von Floatglas mit Schmelzfarbenmalerei, neue, riesige Dimensionen erschlossen haben.54 Mit dem Fenster für die Münstertherme in Düsseldorf-Pempelfort aus dem Jahr 2000 von Anja Quaschinski (* 1961) besitzt auch Düsseldorf ein solch wichtiges Beispiel. Die mehrschichtige Staffelung der einzelnen Scheiben aus verschieden intensiven Blau- und Grüntönen, die in mehreren Feldern zu einem raumüberspannenden Fenster arrangiert sind, lässt sich – zumal durch einzelne rotfarbige Flächen akzentuiert – als Blick auf den Meeresgrund mit Fischen deuten, der eine wunderbare Korrespondenz mit seinem Anbringungsort, einem Schwimmbad, herstellt.55
VI Der Blick zurück nach vorne. Ein Resümee Kehren wir nach einem Parforceritt durch ein gutes Jahrhundert der Geschichte der modernen Glasmalerei in und um Düsseldorf für eine kurze Schlussbetrachtung zu den eingangs dieses Beitrags gestellten Fragen zurück: Wie steht es um die Kontextualisierung der Werke im zeitgenössischen Kunstdiskurs? Welchen Beitrag leistete die moderne Glasmalerei dazu? Was können wir für den Erhalt dieser allein schon wegen seiner fragilen Materialeigenschaft gefährdeten Gattung tun?
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Die Reliefs sind in ihrer Art einzigartig. Die jeweiligen Elemente bestehen aus etlichen, dreidimensionalen Ebenen, durch die ca. 10 cm lange Glasstifte in den Farben Weiß, Blau und Gelb getrieben wurden, die auf der Innenseite variierend lang aus der Betonwand hervortreten. Das Licht wird so nicht reflektiert, sondern wie durch kleine Kanäle nach innen geleitet. Eine zweite, selbständige Ebene bildet neben dem Glas das auf beiden Seiten gestaltete Relief der Betonkassetten, dessen Oberfläche eine kraterartige Struktur aufweist. Vgl. Köpf, Reinhard: “,The Heart of Glass‘. Modern Stained-Glass Windows in Germany. The potential and limits of art-historical research”, in: Vidimus 32 (2020). Online publiziert unter https://www.vidimus.org/issues/issue-132/features/the-heart-of-glass, zuletzt: 17.02.2022. Die Werkauswahl auf der Internetseite der Glasmalereiwerkstatt Derix in Taunusstein vermittelt einen beeindruckenden Überblick über die Tätigkeitsfelder. Vgl. https://www.derix.com/projekte-referenzen, zuletzt: 17.02.2022. Zur Münstertherme siehe den Katalogeintrag von Krewani, Luca: „Anja Quaschinski“, in: R. Köpf/J. Wiener: Moderne Glasmalerei Düsseldorf, S. 261 f. Zur Arbeit der Künstlerin in Glas siehe Brülls, Holger (Hg.): L’ art contemporain du Vitrail en Allemagne. Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland, Chartres: Centre International du Vitrail 2012, S. 68–73 und ihre Homepage http://www.anjaquaschinski. de/index.html, zuletzt: 17.02.2022.
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Reinhard Köpf
Damals wie heute erfreut sich die moderne Glasmalerei an einem breiten öffentlichen Interesse. Sie ist auf der Höhe der Zeit. Technische Neuerungen saugt man begierig auf und verwebt sie mit den allgemeinen künstlerischen Ansprüchen von Materialgerechtigkeit und Stilwandel, weg von den alten, historistischen Formen zu einer neuen Ausdruckskraft. Die gängigen Ismen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden allesamt auch von der Glasmalerei bedient. Ihr stand sogar mit den vielen Ausstellungsmöglichkeiten der zahllosen Künstler*innengruppen ein noch größerer Rahmen zur Verfügung, sich im zeitgenössischen Kunstdiskurs zu positionieren, als in späteren Zeiten.56 Denn damals wie heute waren es Künstler*innen, die mitunter auch international schon zu den bekanntesten zählten. Die kunsthistorische Forschung hat die Fährte längst aufgenommen. Zu wenig aber hat sie bisher verdeutlicht, dass es die moderne Glasmalerei war, mit der die meisten Menschen erstmals und am längsten in Kontakt mit moderner Kunst kamen.57 Ich habe dagegen versucht zu zeigen, dass die Beschäftigung mit den Anfängen der modernen Glasmalerei keineswegs auf ausgetretenen Pfaden verläuft, wenn man den Werkstoff Glas mit in den Fokus rückt. Die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen oder die Befragung der Archive von Glasmalereiwerkstätten, die gerade in Nordrhein-Westfalen mit zu den führenden auf der Welt zählen, bieten genug Stoff für den weiteren wissenschaftlichen Diskurs. Im Hinblick auf die Gefährdung des Bestandes, die hier immer wieder anklang, ist dieser auch dringend geboten. Allein die Kenntnis der Denkmäler, die weitere Erschließung des vorhandenen Materials und dessen Überführung in und Aufbereitung für ein breites öffentliches Interesse – immerhin eine der wichtigsten gesetzlichen Bedingungen des Denkmalschutzes – ist Voraussetzung für deren Erhalt. Ihnen muss künftig die meiste Aufmerksamkeit gelten, möchten wir diese künstlerische Gattung von zuweilen überragender Bedeutung nicht sukzessive verschwinden sehen.
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Moderne Glasmalerei war anfangs auch Ausstellungskunst. Vgl. M.-K. Schulz: Glasmalerei der klassischen Moderne in Deutschland, S. 22–24. Welche Vorarbeit die moderne Glasmalerei daher für die Kunstmarktkunst leistete, ist noch genauer zu hinterfragen. Glasmalerei war und ist eine der demokratischsten Kunstformen. Bis heute sind es private Geldgeber, Vereine, Bruderschaften oder Gelder der öffentlichen Hand, die für die finanziellen Anstrengungen einer Fenstergestaltung aufkommen. Allein in NRW sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Glasfenster entstanden, deren Umsatz (Entwurf, Ausführung, Montage, Pflege) nach heutiger Währung viele Milliarden Euro betragen haben dürfte. Sie waren und sind ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor, der bei Missachtung und Vernichtung des Bestandes die allenthalben geforderte Nachhaltigkeit völlig konterkarieren würde.
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Christina Kunze
Paul Klee – Hinterglasmalerei
Der besondere Kniff der traditionellen Technik der Hinterglasmalerei liegt in der umgekehrten Schichtenfolge der Farben. Während in der normalen Malerei die Farben wie gewohnt aufgetragen werden, werden sie bei der Malerei hinter Glas in der eigentlich rückläufigen Reihenfolge aufgetragen. Es wird vom Vordergrund in den Hintergrund gemalt. Der*ie Künstler*in beginnt mit den Konturen und Feinheiten des Werkes, fährt dann mit den Schattierungen fort und bestimmt zum Schluss den Hintergrund. Der Hintergrund muss nicht zwingend gemalt werden, er kann auch durch eine farbige Unterlage, wie Karton abgeschlossen werden. Die Betrachter*innen blicken also auf ein Werk, welches hinter dem Darstellungsmedium liegt, im Gegensatz zu einer Arbeit der Staffelmalerei, wo das Bildwerk auf der äußeren Oberfläche des Bildträgers zu sehen ist. Klee hat von 1905 bis 1917 die Technik der Hinterglasmalerei benutzt, bereits 1902 hatte er angefangen, sich damit zu beschäftigen. Seine Hinterglasbilder stehen in einer Kontinuität zu seinen radierten Blättern der Inventionen, denn in Variation der grafischen Technik der Radierung fand Klee über das „unreine“ grafische Verfahren des Cliché-verre zur Hinterglasmalerei. Das Cliché-verre, oder auch Glasklischeedruck oder Diaphanradierung, ist ein Hybrid aus Photographie und Malerei. Es handelt sich um eine graphische Technik, die besonders beliebt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Dabei wird die handwerkliche Radiertechnik mit photographischer Vervielfältigung vermischt.1 Paul Klees Technik der Hinterglasmalerei unterscheidet sich von der traditionellen Art und Weise des Vorgehens bei der Hinterglasmalerei. Der wesentliche Unterschied zur traditionellen Glasmalerei liegt darin, dass Klee seine Malmedien oft wechselt und diese auch eher unkonventionell im Kreis der Hinterglasmalerei waren. Beispielsweise benutzte Klee stark verwässerte Farben.2 Er hat das Glas ähnlich behandelt wie eine Leinwand, um Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihm sonst nicht gegeben gewesen wären.
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Wedekind, Gregor: „Im Leichten Stil – Paul Klees Hinterglasmalerei“, in: Zentrum Paul Klee (Hg.), Die Hinterglasbilder von Paul Klee, Köln: Wienand 2015, S. 13. Bigler, Julia: „Paul Klees Malerei Hinter Glas“, in: Zentrum Paul Klee (Hg.), Die Hinterglasbilder von Paul Klee, Köln: Wienand 2015, S. 26.
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Christina Kunze
Klee hat sich generell seine eigene Technik erarbeitet, so hat er beispielsweise die gesamte Glasplatte schwarz bemalt und dann auf ein weißes Blatt gelegt, um daraufhin seine Motive in die schwarze Tusche auf dem Glas zu ritzen. Er setzt das Weiß in dem Schwarz mit Licht und Dunkelheit und gleichzeitig mit dem Ursprung der Schöpfungsgeschichte gleich: „Es werde Licht“. 3 Diese Praxis, das Ritzen der Linien aus der schwarzen Farbe, war seine zentrale Gestaltungstechnik, die sich in allen Punkten von der herkömmlichen Technik der Hinterglasmalerei absetzt. In einem Brief an seine Frau Lily beschreibt er 1906 die raffinierte Hinterglas-Technik, in welcher er schrittweise sein Arbeitsverhalten erläutert: In die Schicht Temperaweiß, die er auf die Scheibe aufträgt, kratzt er das Bild hinein und fixiert dieses.4 Diese Technik ist nicht die einzige der Klee sich bedient hat, er hat seine Arbeitsweise stetig weiterentwickelt mit dem Ziel, die Wirkung und die Haltbarkeit der Hinterglasbilder möglichst zu optimieren. So hat er auch festgestellt, dass sich schwarze Farbe sehr gut für Hinterglasmalerei eignet, da die Farbe gut haftet. Durch das Einritzen der Motive in die schwarze Farbe wurde es möglich, seine Werke durch ein Druckverfahren zu vervielfältigen. Klee hat das Glasbild als Positiv verstanden, wobei das Cliché-verre eigentlich als Negativ angesehen wurde. Wenn Klee ein Cliché-verre für Reproduktionen angefertigt hat, diente es zu Dokumentationszwecken im internen Gebrauch oder als Heliogravüre. Eine Heliogravüre ist eine fotografische Belichtung einer präparierten Kupferplatte, die ihrerseits als negative Druckplatte für einen positiven Druck auf Papier dient. Das Original der radierten Glasplatte ist für Klee also der positive Ausgangs- und Endpunkt, er spricht hier auch von Antifotografie.5 Dass Klee für seine Hinterglasbilder eine Reproduktionstechnik als Ausgangspunkt wählte, ist im Kontext seiner mühevollen Suche nach einer Ausdrucksmöglichkeit zu sehen, die seinem zeichnerischen Vermögen entgegengekommen und doch mehr als eine bloße Zeichnung sein sollte. Er machte außerdem ein Zugeständnis an den psychologischen und den sozialen Druck, dem er als aufstrebender, junger Künstler ausgesetzt war, da er sich selbst und seiner Umwelt beweisen musste, dass er fähig war, mit der Kunst Einnahmen generieren zu können. Klee dachte an eine Ausstellung und an Illustrationen. So wollte er z. B. seine Hinterglasbilder für ein Kinderbuch verwenden, verwarf den Gedanken aber Ende 1905 wieder.6 Tatsächlich erhielt Klee zunächst Absagen, erst 1908 wurden die ersten Bilder für eine Ausstellung angenommen. Drei Bilder wurden von der Münchener Secession angenommen. Ende des Jahres wurden sechs seiner Bilder in der „Schwarz-Weiß Ausstellung“ der Berliner Secession gezeigt. Danach zeigte Klee noch in zwei weiteren Ausstellungen Hinterglasbilder: 1910 beteiligt er sich an einer „Kollectivausstellung“ in der Schweiz 3 4 5 6
Klee, Paul: Tagebücher 1898–1918. Textkritische Neuedition, bearbeitet von Wolfgang Kersten, Stuttgart: Hatje 1988. Vgl. Klee, Felix (Hg.): „Brief an Lily Strumpf“, März 1906, in: Paul Klee – Briefe an die Familie, Bd. 1: 1893–1906, Köln: DuMont 1979, S. 600. Wedekind, Paul Klees Hinterglasmalerei, S. 15. Ebd., S. 16–17.
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Paul Klee – Hinterglasmalerei
mit 56 Werken, davon waren allerdings nur zwei Hinterglasbilder. 1920 zeigte er drei seiner Hinterglasbilder in München, in der ersten umfangreichen Einzelausstellung seines CEuvres, die sein Galerist Hans Glotz veranstaltete.7 Alle anderen Hinterglasarbeiten wurden zu Klees Lebzeiten nicht gezeigt. Geld verdiente er trotzdem noch damit, als Menschen aus seinem Umfeld ihn beauftragten, Portraits auf Glas anzufertigen. Den Großteil seiner Hinterglasbilder, mehr als 40 Stück, behielt er allerdings bis zu seinem Tod in seinem Privatbesitz. Klee verwendete alte Zeichnungen wieder auf Glas, da er der Ansicht war, dass das Glas ihm Vereinfachungen erlaube, die es ihm ermöglichten, selbst misslungene Werke zu famosen Bildern werden zu lassen. In der Wiederverwertung alter Zeichnungen, die Klee als Vorlagen für die Hinterglasbilder dienten, kam die traditionelle Praxis der Hinterglasmalerei zum Tragen, die fast immer auf grafischen Vorlagen beruhte und es ebenfalls verstand, aus Zeichnungen Bilder werden zu lassen. In dieser Tradition spielt die Farbe eine zentrale Rolle, genau wie bei Klees Arbeiten. Gerade zu Beginn seiner Glasarbeiten 1905 und 1906 nutze er viel Farbe und stärkte damit das Bildmäßige an seinen Werken und stellte das Reproduktive noch weiter in den Hintergrund, zusätzlich rahmte er die Hinterglasmalereien und betonte damit, dass es sich um Gemälde, nicht um kunstgewerbliche Arbeiten handelte. Klee hat das Glas nicht materialikonographisch genutzt, sondern sein Zugriff war der der technischen Auseinandersetzung. Die Neuartigkeit in der Materialität verband er mit einem Neuanfang im Ich seiner Malerei. Sie erlaubte ihm Vereinfachung und Reduktion sowohl im künstlerischen als auch im technischen Sinne und ermöglichte ihm ästhetische Innovationen. Seinen Werken wurde oftmals unterstellt, dass sie wie Kinderbilder wirken, dabei enthalten die Werke ein kulturkritisches Programm. Er nutzte Glas als ästhetisch sublimes Medium der modernen Kunst für seine satirischen Werke. Klee wollte keine Kopien seines Werkes zeigen, er wollte das Glas selbst zeigen, das Originalwerk, Bilder sah er als Artefakte von dinglicher Präsenz.8 In der Entwicklung seiner Glasbilder lassen sich deutliche Veränderungen wahrnehmen. 1905 und 1906 hat er sich vor allem auf satirische Werke konzentriert, die auf seine Inventionen zurückgegriffen haben. Ab 1907 hat er viele Landschaftsbilder beziehungsweise die Wiedergabe von Eindrücken der Natur gemalt und ab 1908 entstanden sogenannte Schwarzaquarelle, bei denen er stark verdünnte schwarze Aquarellfarbe nutzte und in vielen verschiedenen Nuancen auftrug, um eine Reichweite von weiß bis schwarz zu ermöglichen. Klee hat so die Bildsuggestivität gesteigert, da das Licht durch die tonale Bewegung erfahrbar gemacht wird. Generell diente die tonal aufgefasste Farbe zur Darstellung flächiger und räumlicher Dimensionen. Mit dem Schwarzaquarell „ruhende Schafherde“ 1908, bezog sich Klee auch erstmals auf die tatsächliche motivische Tradition des Cliché-verre. 7 8
Ebd., S. 18. Ebd., S. 16.
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Christina Kunze
Klee hat sich viel mit dem hell-dunkel Kontrast beschäftig und die Idee von weißen Linien auf schwarz hatte für ihn etwas von freigesetzter Energie. Er hat die Hintergründe zum Schluss weiß bemalt, um die Leuchtkraft der Farbe zu verstärken und das Gefühl von Energie stärker hervorzuheben. Klee hatte sich zunehmend auf schwarze Werke konzentriert, da er gemerkt hatte, dass das Schwarz besser auf den Glasplatten gehalten hat. Insgesamt sind 21 Werke in diesem Stil entstanden. Klee hat in seinem CEuvre-Katalog insgesamt 59 Werke aufgelistet mit der technischen Beschreibung „auf Glas“ oder „hinter Glas“ entstanden.9 Paul Klee hat in seiner Hinterglasperiode eine stetig voranlaufende Entwicklung durchlebt und seine Techniken zur Produktion seiner Hinterglaswerke zahllos variiert. Eine der größten Besonderheiten ist, dass Klee das Glas wie Papier behandelt hat und sich selbst somit komplett neue Möglichkeiten der Handhabung des Materials ermöglichte, wie beispielsweise das Ritzverfahren oder die Nutzung von Aquarellfarbe und Tusche. Abschließend lässt sich sagen, dass aus kunsttechnologischer Sicht Klees Werke aufgrund ihrer Technik, Materialauswahl und Kompositionen eine Sonderstellung innerhalb der Gattung der Hinterglasmalerei innehaben.
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Bigler, Paul Klees Malerei Hinter Glas, S. 25.
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Glasgalaxien, 2021/22 Anna Westphal
Weitere Farbtafeln
Anna Westphal: Glasgalaxien, 2021/22
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Glasgalaxien. Plakat der Unkonferenz 2019 im NRW-Forum, Gestaltung: Claudia Lo Gatto.
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Workshop mit dem Overhead auf der Unkonferenz 2019 im NRW-Forum, fotografiert von Niels Baumgarten.
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Glasgalaxien – Ein Seminar der transdisziplinären Wissenschaftskommunikation
Sommersemester 2020 Dozent*innen: Prof. Dr. Stefan Egelhaaf, Dr. Jasmin Grande, Fabian Korner
Poster der Projektgruppe 3: Nicolas Stumpe Melissa Ix Kirsten Heusgen
Ordnung und Unordnung
Doris Salcedo: Ohne Titel. 2003 Biennale Instanbul http://www.universes-inuniverse.de/car/istanbul/2003/public/ d-tour-02-4.htm
Ai Weiwei: Stools.Foto: Kay Nietfeld
Ordnungsprinzipien in der Kunst
Was ist Un-/Ordnung in der Physik
Ordnung:
• Gegenstandsbereiche (z.B. bildende / freie und angewandte Kunst (Skulptur/Plastik, Malerei, Graphik, Neue Medien Photographie und audiovisuellen Medien; Architektur, Innenarchitektur, Modedesign, Grafikdesign, Industrieform und design, Kunstgewerbe)
• • •
Periodische Anordnung von Strukturen Erkennbare räumliche Symmetrien Bsp. Gitterstruktur von Kristallen
• •
Zufällige Anordnung von Strukturen Zusammensetzung folgt keinem Muster (kann nicht nach Ordnungsparametern klassifiziert werden) Bsp. Fluide oder Gase
• Komposition, Proportionen, Goldener Schnitt (s.u.) • Technik und Material (z.B. Holz, Stein, Bronze, Eisen, Ton, Öl auf Leinwand, Zeichnung, Aquarelle, Acryl, Collagen, Textil,
Unordnung:
•
Glas (Flachglas (Bleiverglasung, Kupferfolientechnik), Fusing, Glasmalerei, Skulptur, u.a.))
• Epochen und Stilrichtungen: (z.B.: Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Klassizismus, Romantik, Historismus, Realismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus und Fauvismus, Kubismus, Futurismus, Surrealismus, Postmoderne, u.s.w.)
Abb. 1 Anordnung von Partikeln verschiedener Größe
• Gattungen (in der Malerei): Historienmalerei, Genre, Porträt, Landschaftsmalerei • KünstlerInnen-Gruppen /-Bewegungen
(Eric R. Weeks: Introduction to the Colloidal Glas Transition, DOI: 10.1021/acsmacrolett.6b00826)
Un-/Ordnung in Glas
(Un-)Ordnung durch Glas in der Kunst
Im Alltag begegnen uns Gläser meist in erstarrter Form, zum Beispiel Fensterscheiben oder Trinkgläser. Diese bestehen üblicherweise zum Großteil aus Siliciumdioxid (SiO4). Hierbei bildet SiO4 eine Tetraeder-Struktur aus, welche in Abbildung 2 zu sehen ist. Diese Tetraeder-Struktur entsteht aufgrund der chemischen Eigenschaften von Silicium und Sauerstoff (Elektronegativität, Besetzungszustände der Elektronen etc.). Die SiO4 Moleküle gehen nun untereinander kovalente Bindungen ein und bilden somit das Grundgerüst von industriellen Gläsern. Im Gegensatz zur tetraedischen, berechenbaren Anordnung ist die Zusammensetzung mehrerer Tetraeder in Gläsern ungeordnet. Hauptgrund für diese „Unordnung“ ist die Verunreinigung der Gesamtstruktur mit verschiedenen Alkalien. In Gläsern kann dadurch also keine kristalline Ordnung entstehen. Wenn keine Verunreinigungen in der Struktur existieren, so bildet sich ein SiO2 Quarz, dessen Aufbau einer Kristallstruktur entspricht. Ein solcher Quarz könnte somit als „geordnet“ beschrieben werden. Betrachtet man die Glasstruktur im größeren Rahmen so erkennt man, dass ein vergleichbares Muster wie bereits in Abbildung 1 dargestellt, entsteht. Abhängig von der Anzahl und Art der Verunreinigungen entfernt sich die Glasstruktur immer weiter von einer kristallinen Struktur. Dies ist schematisch in Abbildung 3 dargestellt. Bestimmte Verunreinigungen werden vor Allem in der industriellen Herstellung gezielt eingesetzt, um Beispielsweise die Farbe des Glases und dessen Eigenschaften entsprechend des jeweiligen Einsatzgebietes zu beeinflussen.
Abb. 2 SiO4-Struktur
(http://hp-gertraud-schmid.de/informationen/wpcontent/uploads/2014/12/06-2012_Silicea-Der-Heilpraktiker.pdf)
Glas im sakralen Raum: Ordnung entsteht durch die Komposition, Farbe und inhaltliche Konkludenz Symmetrie: Die Bildelemente sind meist achsensymmetrisch angeordnet und liegen sich somit an einer Achse - die waagerecht, senkrecht oder schräg verlaufen kann -, spiegelbildlich gegenüber. Die südliche Fensterrosette der Notre Dame de Paris zeigt eine radiale, axiale Symmetrie; Farben: vor allem Primärfarben Blau, Rot und Geld, auch wenig Grün, Weiß und Abstufungen. Der christliche Inhalt verkörpert eine ‚göttliche‘ Ordnung in Zahlen, worunter zwölf die Zahl der Vollkommenheit, des Kosmos und Christus darstellt. Jesus ist im Zentrum dargestellt, von vier Evangelisten, den zwölf Aposteln und vierundzwanzig Märtyrern oder Bekennern umgeben. Struktur: Eine Bildfläche ist mit einer Folge gleicher oder ähnlicher Bildelemente gefüllt, wobei eine strenge Wirkung erreicht wird. Die Richter-Fenster im Kölner Dom sind abstrakt und streng geometrisch gegliedert, die farbige Verteilung erfolgte ‚zufällig‘, wodurch eine dynamische Rasterung entsteht. Raster gilt als Sonderform der Struktur und ist eine normierte Flächengliederung, bei der Punkte und Linien streng geometrisch gereiht oder rhythmisch auf der Fläche angeordnet sind. Durch die Vielzahl der Bildelemente entsteht eine dynamische Wirkung.
Abb. 3 Glas-Struktur
(https://de.wikipedia.org/wiki/Glas)
Temperaturabhängigkeit von Gläsern Allgemein entstehen Gläser, wenn eine Flüssigkeit über ihren Schmelzpunkt hinaus abkühlt ohne dass sich dabei Kristallisationsansätze bilden (supercooled liquid). Glas kann also als eine aufgrund ihrer Temperatur erstarrte Flüssigkeit angesehen werden. Gläser besitzen eine Glasübergangstemperatur TG, welche den klassischen erstarrten Glaszustand wie wir ihn kennen vom weichen Übergangszustand trennt. Zusätzlich besitzen Gläser auch eine Schmelztemperatur TM, in der der Stoff wieder als Fluid vorliegt. Der Übergang in den Fließbereich ist dabei kontinuierlich und nicht wie bei einem Kristall abrupt. Abb. 4 Verhalten von Glas in Bezug auf die Temperatur (Ludovic Berthier and Mark D. Ediger: Facets of Glass Physics)
Für die Dichte und somit für die atomare Anordnung eines Glases spielt die Abkühlungszeit eine große Rolle. Kühlt man das Fluid in kürzester Zeit ab, werden zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Kristallisationsansätze gebildet, das daraus entstandene Glas besitzt jedoch eine recht geringe Dichte und ist somit weniger kompakt und instabiler (Abb. 4 Graph 1). Gibt man dem Fluid jedoch gerade genug Zeit zum Abkühlen ohne dass sich Kristallisationsansätze bilden können, so entsteht ein wesentlich dichteres Glas (Abb. 4 Graph 2). Ein solches Glas wäre also atomar „kompakter“ aufgebaut. Hält man ein Glas über eine lange Zeit (mehrere Jahre) hinweg unterhalb der Glasübergangstemperatur TG so nähert sich die Dichte dieses Glases immer mehr der Dichte eines unterkühlten Fluids an (Abb. 4 Graph 3).
Fensterrosette Notre Dame de Paris um 1250 httpsdeacademic.com/dic.nsf/dewiki/435543://
Durch das Medium Glas wird die Sichtbarmachung beziehungsDom-Fenster von Gerhard Richter 2007 weise eine Materialisierung des Lichts im (sakralen) Raum Kölner https://www.fotocommunity.de/photo/fenster-von-gerhard-richter-im-koel-burkhard-bartel/40368260 realisiert. Dieses läßt sich in besonderer Weise in der Sagrada Família von Antoni GaudÍ erfahren. Glas mit seinen Qualitätsmerkmalen - Transparenz, Transluzenz, Farbigkeit und einer gewissen Festigkeit - gestaltet und füllt den umbauten Innenraum. Kontraste: Durch gegensätzliche Formen von Bildelementen wird Spannung erzeugt. Anwendung finden Form-an-sich-Kontrast, Quantitätskontrast, Qualitätskontrast und Richtungskontrast. Dynamik: Ein Eindruck von Bewegtheit und Unruhe wird durch sich verdichtende und anschwellende Formen und Linien, die betont diagonal oder geschwungen im Format verlaufen, bzw. kontrastreich und asymmetrisch angeordnet sind, vermittelt. Antoni GaudÍ – Barcelona - Sagrada Família https://readersdigest.de/de/artikel/item/foto-ok-quiz-die-tollsten-sakralbauten-der-welt?category_id=479 Sichtbarkeit der Kristallinität und der amorphen Struktur des Glases als Folge der Zersplitterung: Das lokale Zersplittern wird hier von Simon Berger als künstlerisches Mittel eingesetzt. Ein zersplittertes Glas gilt in der Regel als zerstört – liegt dann sofort eine (physikalisch und ästhetisch) Unordnung vor? Das Gegenteil ist hier der Fall. Ein traditionelles Unordnungsprinzip – zersprungenes Glas – wird durch den Künstler umgekehrt und so zu einem neuen Ordnungsprinzip. Literatur:
Cowen, Painton(1979): Die Rosenfenster der gotischenKathdralen. Herder: Freiburg i.B. Museum Kunstpalast (Hg.) (2008): Zerbrechliche Schönheit. Glas im Blick der kunst. HatjeCantzVerlag: Düsseldorf Narcissus Quagliata (2017): The Resurrection Window: Vision, Creation, Mission.
Simon Berger Basel Artstübli Gallery 2019 https://www.demilked.com/smashed-glass-sculptures-simon-berger/
Der inhaltliche Zusammenhang und die innere Ordnung ergeben sich erst in Verbindung mit der Umgebung. Das kleinste Element ist ein einzelnes Glasfragment, nur in Verbindung mit den anderen Glasfragmenten ergibt sich ein Bild. Dadurch entsteht eine innere Verbindung mit der Umgebung. Wie viele Teilchen sind notwendig, um die Ordnung zu erkennen und den Inhalt zu verstehen? Im Kleinen herrscht eine Unordnung, erst mit Blick auf das Ganze ist die Ordnung erkennbar. Das Geordnetsein hängt von der Umgebung ab.
I---- ≈ 1 * 10-10 m ------I
https://www.ingenieurkurse.de/chemietechnikanorganische-chemie/aggregatzustaende/der-festezustand/der-kristalline-zustand/sonderfall-glas.html
https://www.forschung-undwissen.de/nachrichten/physik/neues-aluminiumoxidglas-ist-haerter-als-stahl-und-trotzdem-flexibel-13373565
I---- ≈ 1 * 10-9 m ----I
I---- ≈ 1 * 10-8 m ---------I
Narcissus Quagliata - Church of the Resurrection in Leawood, Kansa 2017
I---------- 8 * 10-2m ----------I
I-------- 3 * 10-1 m ------------I
I------------- 1 * 100 m --------------I
I------------------------------------ 3,05 * 101 m ---------------------------------I
Poster der Gruppe „Ordnung und Unordnung“ im Seminar „Glasgalaxien“ von Nicolas Stumpe, Melissa Ix, Kirsten Heusgen.
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Newtons optisches Experiment mit dem Prisma (1676).
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Johann Thorn Prikker, Kapelle des Gesellenhauses in Neuss (1911), Mittelfenster der Apsis mit Kreuz.
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Echtantikglas mit charakteristischer Bläselung, Detailaufnahme einer Scherbe.
Paris, Sainte Chapelle (1248), Innenansicht der Oberkirche mit Blick nach Osten.
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Walther Benner, Bunkerkirche in Düsseldorf-Heerdt, Detailansicht einer Betonglaswand (1957).
Anton Wendling, St. Paulus in Düsseldorf-Düsseltal, Rundfenster im Mittelschiff mit dem hl. Apollinaris (1954–59).
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Wilhelm Rupprecht, St. Paulus in Düsseldorf-Düsseltal, Rundfenster im rechten Seitenschiff mit Schöpfungsgeschichte (um 1955).
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Thierry Boissel, Eichendorffschule Meerbusch-Osterath, Fensterbahn im Erdgeschoß aus Struktur- und Sicherheitsglas mit Schmelzfarben (2004).
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Wilhelm Buschulte, St. Apollinaris in Düsseldorf-Oberbilk, zweibahniges Maßwerkfenster mit abstrakter Komposition im Nebenchor (um 1964).
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Joachim Klos, Heilig Geist-Kirche in Düsseldorf- Urdenbach, Außenansicht (Detail) des rechten Betonglasfensters der Chorwand (1965).
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Joachim Klos, Heilig Geist-Kirche in Düsseldorf- Urdenbach, Innenansicht (Detail) des rechten Betonglasfensters der Chorwand mit Glasstiften (1965).
Oshii, Mamuro: Ghost in the Shell, 1995.
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Anna Westphal: Glasgalaxien, 2021/22.
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Anna Westphal: Glasgalaxien, 2021/22.
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Benedikt Wintgens
Transparenz im Treibhaus Glas-Metaphorik in Architektur, Literatur und Politik
Glas ist in der Architektur fest verankert – in Fenstern, Fassaden und zum Zweck der metaphorischen Sinnstiftung. Ohne Glas kann man sich insbesondere die deutsche Parlamentsarchitektur kaum noch vorstellen, zumindest nicht seit dem Zweiten Weltkrieg. In den 1990er Jahren etwa wurde in Berlin dem alten Reichstagsgebäude so viel Glas hinzugefügt, wie das angesichts der historischen Bausubstanz nur möglich war. Und während sich die neue, begehbare Kuppel schnell zu einem Anziehungspunkt der Hauptstadt entwickelt hat, symbolisiert das Glas die bundesrepublikanische Aneignung des von der Geschichte gezeichneten Gebäudes aus der Zeit vor 1945.1 Die Deutschen und ihre Liebe zum Glas: Die amerikanische Architektin und Historikerin Deborah Ascher Barnstone hielt diese Beziehung für eine Art Sonderweg, und sie nannte die Bundesrepublik daher einen „transparent state“.2 Nüchtern betrachtet ist Glas in der Tat bloß ein Material von vielen, in Form gebrachte und gefrorene Flüssigkeit. Man kann Trinkgefäße daraus herstellen oder mit Brillen die menschliche Sehkraft verbessern. Die Eigenschaft, die Glas für den Fensterbau so attraktiv
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Jarosinski, Eric: „Building on a Metaphor: Democracy, Transparency, and the Berlin Reichstag“, in: Carol Anne Costabile-Heming/Rachel J. Halverson/Kristie A. Foell (Hg.), Berlin – the Symphony Continues. Orchestrating Architectural, Social, and Artistic Changes in Germany’s New Capital, Berlin: De Gruyter 2004, S. 59–76. – Eine ähnliche Aneignung war das „Wrapped Reichstag“-Projekt der Künstler*innen Christo und Jeanne-Claude, wohlgemerkt durchs Verhüllen, das im Sommer 1995 als öffentliches Fest begangen wurde. Vgl. Meiering, Dominik M.: Verhüllen und Offenbaren. Der Verhüllte Reichstag von Christo und Jeanne-Claude in der Tradition der Kirche, Regensburg: Schnell und Steiner 2006, S. 164– 169. Barnstone, Deborah Ascher: The Transparent State. Architecture and politics in postwar Germany, London/New York: Routledge 2005, insbesondere S. XI–XV. – Wenn hier von Deutschland oder den Deutschen die Rede ist, dann soll die ostdeutsche Geschichte zwischen 1949 bis 1989/90 nicht unterschlagen werden. Allerdings ist der Beitrag der DDR zur Transparenzarchitektur und Parlamentsgeschichte relativ gering, es handelt sich primär um ein west- und dann gesamtdeutsches Phänomen. Vgl. Geppert, Dominik: „Nation mit ‚Bundesdorf‘. Bonn und Berlin als Hauptstadt“, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Gedachte Stadt – gebaute Stadt. Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945–1990, Köln/Wien/Weimar: Böhlau 2015, S. 141–154, hier S. 153.
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Benedikt Wintgens
macht, ist seine Licht- und Sichtdurchlässigkeit. Als Bauelement wird Glas geschätzt, weil es Räume hell macht und offen wirken lässt – und zugleich Schutz und Geborgenheit bietet, wie man sie nur aus geschlossenen Räumen kennt. Glas ist deshalb doch nie nur irgendein Material, sondern sowohl robust als auch zerbrechlich, also ziemlich widersprüchlich. „Es ist da und es ist nicht da“, schrieb 1929 der Architekt Arthur Korn, ein Vertreter des Neuen Bauens, in einem Fotobildband: „Es schließt und öffnet und nicht nur in einer, sondern in vielen Richtungen.“3 Mit dieser für die Glas-Architektur typischen Ambivalenz von Licht, Sehen und Begrenzung beginnt, jenseits der Physik, eine Faszinationsgeschichte der Transparenz. Fast immer scheint Glas von einem märchenhaften Zauber umgeben, wird es mit Sinn und Rhetorik aufgeladen. Die Kulturgeschichte der Glaseffekte reicht von den Fenstern gotischer Kathedralen über die Spiegelsäle des Barock und Rokoko bis zur Reichstagskuppel zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In diesem Aufsatz wird die Grundlegung der politisch-architektonischen Glas-Metaphorik im Bonner Bundestag des Jahres 1949 verortet, als der Architekt Hans Schwippert im Verein mit der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Architektur der klassischen Moderne, Stichwort: Bauhaus, auf den Bau von Parlamenten übertragen hat. Im Kontrast dazu erscheint der 1953 erschienene Treibhaus-Roman des Schriftstellers Wolfgang Koeppen als zeitgenössische literarische Dystopie ebendieses Bonner Parlamentarismus.4 Koeppens Verweis aufs Treibhaus bot dabei insofern ein stimmiges Bild, als sich die Transparenzarchitektur seit dem 19. Jahrhundert historisch tatsächlich aus dem Bau von Gewächshäusern entwickelt hat.5 Kulturgeschichtlich zeigt sich in der Brechung zweier BildSysteme jedoch auch, dass die negative Treibhaus-Metaphorik in der literarischen Tradition ganz andere Zuschreibungen verwendet als die positiv konnotierte Transparenzarchitektur.6 Während Architekten von Licht und Klarheit schwärmen, leiden Schriftsteller an der Künstlichkeit der Treibhaus-Atmosphäre und beklagen die menschliche Sprachlosigkeit.
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Korn, Arthur: Glas im Bau und als Gebrauchsgegenstand, Berlin: Ernst Pollak 1929, S. 5. Ausführlich dazu Wintgens, Benedikt: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans. Düsseldorf: Droste 2019 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 178). Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 ff., Band 5: Das Passagenwerk (2 Teilbände); Schild, Erich: Zwischen Glaspalast und Palais des Illusions. Form und Konstruktion im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/Wien: Birkhäuser 1967; Kohlmeier, Georg/von Sartory, Barna: Das Glashaus. Ein Bautypus des 19. Jahrhunderts, München: Prestel 1981. Schneider, Manfred: Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche, Berlin: Matthes & Seitz 2013.
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Transparenz im Treibhaus
I
Demokratisch bauen? Glas und Transparenz in der deutschen Parlamentsarchitektur
Als Metapher der politischen Ikonographie steht Glas für Transparenz, und Transparenz meint hier, dass die Prozesse und Strukturen des politischen Betriebs eben auch durchschaubar seien oder wenigstens sein sollten, so wie die Fenster und Fassaden außen. In der Architektur wird also eine optische Eigenschaft von Klarglas sinnstiftend auf die politisch-staatliche Ebene projiziert, die sich dadurch ihrerseits einen Zugewinn an Legitimität erhofft. Die Transparenzidee der deutschen Parlamentsarchitektur beruht daher erstens auf der metaphorischen Übertragung von visueller Durchsichtigkeit auf die Demokratie an sich. Darüber hinaus ist sie zweitens von der Annahme überzeugt, dass man die Architektur eines demokratischen Staates klar und kategorisch vom Bauen in einer Diktatur, namentlich im Nationalsozialismus, unterscheiden könne. Für Architekt*innen und öffentliche Auftraggeber*innen gilt demnach: Wer mit Glas (und Stahl) hell, leicht und modern baut, ist auf der sicheren Seite. Was demgegenüber mit Steinen oder Säulen massiv und monumental daherkommt, wie etwa die stalinistische Architektur in der DDR, steht in der Tradition einer dunklen Vergangenheit und macht sich des Totalitarismus verdächtig. Glas, so die Idee, verheißt Transparenz, Glas zeigt Demokratie. Oder aus der historischen Perspektive der Jahre nach 1945 formuliert: Glas öffnet neue Perspektiven und führt zur Demokratie. Die Transparenzidee der deutschen Parlamentsarchitektur materialisierte sich nicht erst in der gläsernen Kuppel und den Nebengebäuden des Reichstags im Regierungsviertel der Berliner Republik.7 Vielmehr zieht sich die Transparenz-Metapher wie ein, pardon, roter Faden durch die westdeutsche Parlaments- und Staatsarchitektur seit dem Zweiten Weltkrieg. Mehrere Landtage schmücken sich mit reichlich Glas, etwa die Landtage von Baden-Württemberg (gebaut 1961), Bremen (1965/66), Nordrhein-Westfalen (1988), Sachsen (1993) und Schleswig-Holstein (2003).8 Hinzu kommen das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (1969) oder das Anfang der 1990er Jahre gebaute Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.9 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind zudem die Stätten der Olympischen Spiele von München 1972, vor allem das transparente Zeltdach des Architekten Frei Otto, auch wenn es, strenggenommen, nur aus Plexiglas gefertigt wurde.10 Das Münchner 7 8
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Ziegler, Merle: Glas in der Berliner Staatsarchitektur. Ein politisches Material, unveröffentlichte Magisterarbeit am Kunstgeschichtlichen Seminar, HU Berlin 2003. Jaeger, Falk: „Gehäuse des Föderalismus. Neubauten deutscher Landtage nach 1949“, in: Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock (Hg.), Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart: Hatje 1992, S. 76–99. Hertfelder, Thomas: „Eine Meistererzählung der Demokratie? Die großen Ausstellungshäuser des Bundes“, in: ders./Ulrich Lappenküper/Jürgen Lillteicher (Hg.), Erinnern an Demokratie in Deutschland. Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, S. 139–178. Nerdinger, Winfried (Hg.): Frei Otto. Das Gesamtwerk. Leicht bauen, natürlich gestalten, Basel/München: Birkhäuser 2005.
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1 Der Bonner Plenarsaal von Günter Behnisch, aufgenommen im Jahr 1997.
Olympiagelände – leicht, modern und offen wirkend – war als baulicher Gegenentwurf zu den von den Nazis monumentalisierten Spielen 1936 in Berlin gedacht. In diesem Sinne schwärmte Bundespräsident Joachim Gauck noch im Sommer 2015, bei einer von ihm ausgerichteten Matinée vor 140 Gästen aus Architektur und Kunst: Gute Architektur könne, „wie beim Münchener Olympiadach von Frei Otto, das ideale Selbstgefühl eines ganzen Landes zum Ausdruck bringen“ – eben das Selbstbild, transparent, offen und demokratisch zu sein. Und weiter: „So wie dieses Dach würden wir unseren Staat, unser Land gerne sehen: souverän und schwungvoll, behütend und transparent, sicher gegründet und voller Leichtigkeit.“11 Der Höhepunkt der deutschen Glasarchitektur, sowohl quantitativ als auch symbolpolitisch, war der 1992, kurz nach der Wiedervereinigung fertiggestellte Neubau des Deutschen Bundestags in Bonn (Abb. 1).12 Sein Architekt, Günter Behnisch, hatte nicht nur das Münchner Olympiastadion mitgebaut, er war über die Jahrzehnte auch der vermutlich wichtigste 11
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Bundespräsident Joachim Gauck bei der Matinée zu Ehren der Architektur am 3. Juli 2015 in Schloss Bellevue, www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/07/150703Matinee-Architekten.html, zuletzt: 07.04.2022. Wefing, Heinrich: Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, Berlin: Duncker & Humblot 1995.
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programmatische Vertreter der Transparenz-Metaphorik. Ein Parlamentsgebäude, so erklärte Behnisch schon in den 1970er Jahren, als er seine Bonner Planungen begann, solle nicht schwer und monumental aussehen. Es müsse vielmehr „eben offen sein, es muß schon von außen ‚offen‘ wirken, nicht den Eindruck erwecken, als wenn dahinter böse Mächte walten könnten“.13 Den Bundestag entwarf er deshalb als Haus fast ganz aus Glas, pavillonartig in die Rheinlandschaft eingepasst, kubisch gebaut, mit gläsernen Wänden und gläsernem Dach. In einer kongenialen Erklärung der Transparenz-Metapher sagte die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth zur Eröffnung des Plenarsaals, dieser Neubau bringe „ein bestimmtes Demokratieverständnis zum Ausdruck: Offenheit und Transparenz durch Glas“.14 In einer bis heute in der Literatur breit rezipierten Festschrift fügte sie hinzu: „Transparenz und Zugänglichkeit des Plenarsaals verdeutlichen demokratische Grundwerte der Freiheit und Offenheit, Vielfalt und Toleranz“.15
II Hans Schwippert und die Transparenzarchitektur der Bonner Republik Der Ursprung dieser Transparenz-Tradition in der deutschen Parlamentsarchitektur liegt im Plenarsaal des Deutschen Bundestags, den Hans Schwippert 1949 in Bonn gebaut hat.16 Auf ungezählten Fotografien und Fernsehbildern ist dieser Ort im kollektiven Gedächtnis der Bonner Republik überliefert worden, mit Politiker*innen wie Adenauer, Brandt, Strauß, Genscher und Kohl (Abb. 2)17 Architektonisch wurde der Plenarsaal zudem, wie die erwähnten Landtage und Behnischs Neubau18 zeigen, stilbildend für die deutsche Parlamentsarchitek 13
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Klotz, Heinrich: Architektur in der Bundesrepublik. Gespräche mit Günter Behnisch, Wolfgang Döring, Helmut Hentrich, Hans Kammerer, Frei Otto und Oswald M. Ungers, Frankfurt/Berlin: Ullstein 1977, S. 20. Deutscher Bundestag (Hg.): Der neue Plenarsaal. Eine Dokumentation. Festakt zur Einweihung des neuen Plenarsaals, Bonn 1992, S. 6. Süssmuth, Rita: „Vorwort“, in: Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock (Hg.), Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart: Hatje 1992, S. 7. Der Band bietet das offiziöse Bekenntnis zur Transparenz-Tradition der Bonner Republik. Zur Biographie: Werhahn, Charlotte M. E.: Hans Schwippert (1899–1973). Architekt, Pädagoge und Vertreter der Werkbundidee in der Zeit des deutschen Wiederaufbaus, Diss. TU München 1987; BusleiWuppermann, Agatha: Hans Schwippert (1899–1973). Von der Werkkunst zum Design, München: Herbert Utz 2007– Zum Gebäude: Buslei-Wuppermann, Agatha/Zeising, Andreas: Das Bundeshaus von Hans Schwippert in Bonn. Architektonische Moderne und demokratischer Geist, Düsseldorf: Grupello 2009; Breuer, Gerda: Hans Schwippert – Bonner Bundeshaus 1949, mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel mit Konrad Adenauer, Tübingen/Berlin: Wasmuth 2009. – Als Katalog: Breuer, Gerda/ Mingels, Pia/Oestereich, Christopher: Hans Schwippert (1899–1973). Moderation des Wiederaufbaus, Berlin: Jovis 2010. Wintgens, Benedikt: „Neues Parlament, neue Bilder? Die Fotografin Erna Wagner-Hehmke und ihr Blick auf den Bundestag“, in: Andreas Biefang/Marij Leenders (Hg.), Das ideale Parlament. Erich Salomon als Fotograf in Berlin und Den Haag 1928–1940, Düsseldorf: Droste 2014, S. 293–314. Gegen den Protest von Denkmalschützern wurde der Plenarsaal 1987 abgerissen; wegen chronischen Platzmangels und der Alterung des 1949 in nur wenigen Monaten errichteten Gebäudes hatte man sich für einen Neubau an derselben Stelle entschieden. Behnisch stellte den Neubau explizit in die
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2 Der Plenarsaal bei der ersten Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 – fotografiert von Erna Wagner-Hehmke.
tur – als gläsernes Symbol der Demokratie, mit einer Formensprache der Transparenz und Helligkeit. Architekturgeschichtlich war Schwipperts Parlamentsgebäude zudem der „Vorreiter eines entschiedenen Modernismus“19, wie er Ende der 1940er, Anfang der 1950er im sogenannten Wiederaufbau zwar nicht flächendeckend, aber doch immer wieder
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Tradition seines Vorgängers und deutete ihn als Vollendung von Schwipperts Ideen, insbesondere die kreisrunde Sitzordnung. Breuer, Gerda (Hg.): Architekturfotografie der Nachkriegsmoderne, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2012, S. 18.
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verwirklicht wurde, etwa bei den Hamburger Grindelhochhäusern oder dem Berliner Hansaviertel.20 Hans Schwippert entwarf den Bonner Plenarsaal als Glashaus, weil das politische Geschehen vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden sollte. „Ich habe gewünscht, daß das deutsche Land der parlamentarischen Arbeit zuschaut“, forderte der Architekt: „Ich wollte ein Haus der Offenheit, eine Architektur der Begegnung und des Gesprächs.“21 Es ging ihm um Helligkeit und Transparenz im praktischen Sinn, aber mindestens ebenso sehr um die Symbolik, um die Repräsentation von Aufklärung und Öffentlichkeit durch Glas. „Die Politik ist eine dunkle Sache“, soll Schwippert einmal gesagt haben, „schauen wir zu, daß wir etwas Licht hineinbringen.“22 Deshalb bekam der Plenarsaal zwei Fensterfassaden, vom Fußboden bis zur Decke und auf der ganzen Länge von zwanzig Metern. Der Bundestag sei „durch seine zwei ganzseitigen Glaswände“, wie die Architektin Wera Meyer-Waldeck erläuterte, „so mit der rheinischen Landschaft verbunden, daß alle verstaubten und veralteten parlamentarischen Gepflogenheiten gebannt sein müßten. Nichts von Geheimniskrämerei, von falschem Pathos und geborgtem Prunk. Licht, Sonne und die heitere rheinische Landschaft dringen in den Saal.“23 Dass der Bundestag in Bonn ein Bruch mit der bisher üblichen Parlamentsarchitektur war, bemerkte auch die Architectural Review. In einer Titelgeschichte kontrastierte die Architekturzeitschrift das Bonner Gebäude mit den Houses of Parliament in London, dessen neogotische Denkmalhaftigkeit wiederhergestellt wurde, nachdem eine deutsche Bombe im ‚Blitz‘ den Unterhaussaal zerstört hatte.24 Offen, transparent und modern: Dieses Bildprogramm sollte, wie später bei den Münchner Olympiabauten, nicht zuletzt ein Gegenentwurf zur NS-Architektur und zum sowjetischen Monumentalstil sein. In den 1950er Jahren galt Glasarchitektur als international beziehungsweise westlich. Entsprechend formulierte der Kunstkritiker Wend Fischer: „Die Glasarchitektur unserer Zeit ist so weltweit international, wie die Gotik abendländisch international gewesen ist.“25 In diesem Sinne wurde Schwipperts Bundeshaus vielfach gelobt als „ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Staatsbauten in einer Demokratie gestaltet werden können“. Regelrecht enthusiastisch schrieb 1952 Bruno Werner, ein früherer Kunstkritiker, nun Kulturattaché der Bundesrepublik in Washington: „Frei von eklektizistischer Pracht und kalter Repräsentation ist hier [in Bonn] ein nobler, sachlicher Rahmen für die
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Wagner-Kyora, Georg (Hg.): Wiederaufbau europäischer Städte. Rekonstruktionen, die Moderne und die lokale Identitätspolitik seit 1945, Stuttgart: Steiner 2014. Schwippert, Hans: „Das Bonner Bundeshaus“, in: Neue Bauwelt. Zeitschrift für das gesamte Bauwesen, 6./16 (1951), S. 65–72, hier S. 65 und 70. Überliefert ist der Ausspruch von Schwipperts Mitarbeiterin, der Bauhaus-Schülerin Meyer-Waldeck, Wera: „Das Bundesparlament in Bonn“, in: Architektur und Wohnform, 59/5 (1950/51), S. 99–110, hier S. 99. Ebd., S. 102. Architectural Review, 108/654 (1950). Fischer, Wend: „Glas als Bauelement“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Mai 1953.
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parlamentarische Arbeit entstanden.“26 Transparenz und Helligkeit galten als architektonischer Ausdruck eines politisch-moralischen Neuanfangs: „Statt feierlicher Abgeschlossenheit“, heißt es bei Werner weiter, „zeigt dieses Haus lichte, zur Außenwelt geöffnete Räume“. Mit Schwipperts Bundestag (der kein vollständiger Neubau war, sondern die Erweiterung einer preußischen Pädagogischen Akademie aus der späten Weimarer Republik, die Anfang der 1930er Jahre mit weiß verputzten Fassaden und Flachdächern im schönsten Bauhaus-Stil am Rheinufer gebaut worden war)27 hatte die Bundesrepublik „das erste moderne Parlamentsgebäude der Welt“, wie Konrad Rühl sagte, Ministerialdirektor im nordrhein-westfälischen Wiederaufbauministerium und ein Mitstreiter Schwipperts beim Bundeshaus-Bau.28 Modernes Parlamentsgebäude, das meinte hier: Der Bundestag war das erste im Stil der klassischen Moderne gebaute Parlamentsgebäude der Welt. Der Neuanfang in Bonn war damit architekturhistorisch explizit auch ein Bekenntnis, Schwipperts Bundestag war „ein Gehäuse aus dem Geist eines besseren Deutschland“29. Einiges aus dem Bundestag erinnerte ans Bauhaus: die helle, weiß-graue Farbgestaltung; die Leuchtstoffröhren; die Gardinen; die Freischwingerstühle im Restaurant; die fehlende Zentralansicht von außen – und vor allem der Plenarsaal mit den Glaswänden, genauso wie beim Werkstattkubus in Dessau. Mit dem Bezug aufs Neue Bauen rehabilitierte die Bonner Republik programmatisch eine Architekturschule, die von den Nazis ins Exil getrieben worden war. Mit dem Bezug auf Architekten wie Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, einen Freund Schwipperts, re-importierte man zudem den International Style aus den Vereinigten Staaten.30 Die Bauentscheidung symbolisierte Vergangenheitsbewältigung, Wiedergutmachung und Westbindung in einem, sie war eine Modernisierung mit Weltgeltung, und zwar unter ausdrücklichem Bezug auf antitotalitäre, deutsche Traditionen. Ein weiterer Architekturkritiker mit Affinität zum Neuen Bauen, Hans Eckstein, lobte im Frühjahr 1950 „die schlichte, klare, unsensationelle, würdige architektonische Lösung“, die Schwippert für Bonn gefunden habe. Einerseits sei der Plenarsaal technisch up to date, mit Stahlrohrbinderkonstruktion, Schwemmsteinen und einer hängenden Akustikdecke. Auch 26 27
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Werner, Bruno E.: Neues Bauen in Deutschland, München: Bruckmann 1952, S. 10 f. Knopp, Gisbert: „Das Bundeshaus in Bonn. Von der Pädagogischen Akademie zum Parlamentsgebäude der Bundesrepublik Deutschland“, in: Bonner Geschichtsblätter, 35. Jg. (1984), S. 251–276; Schumacher, Angela: „Das Gebäude der Pädagogischen Akademie Bonn. Versuch einer Würdigung seiner Architektur“, in: ebd., S. 277–284; Berger, Julia Anne: Die Pädagogische Akademie. Eine Bauaufgabe der Weimarer Republik, Diss. Uni Bonn 1998. Rühl, Konrad: „Für Schwippert“, in: Teo Otto/Karl Wimmenauer (Hg.), Hans Schwippert zum 65. Lebensjahr 1964 von Freunden, Düsseldorf: Schwann 1964, S. 15. – Wortgleich auch: Flagge, Ingeborg/ Stock, Wolfgang Jean: „Vorwort der Herausgeber“, in: Dies. (Hg.), Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart: Hatje 1992, S. 8. Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900, Ludwigsburg/München: DVA 2005, S. 304. Betts, Paul: „Das Bauhaus als Waffe im Kalten Krieg. Ein amerikanisch-deutsches Joint Venture“, in: Philipp Oswalt (Hg.), Bauhaus-Streit 1919–2009. Kontroversen und Kontrahenten, Ostfildern: Hatje 2009, S. 196–213.
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sei er mit „einer Vollklima- und Belüftungsanlage und allen sonstigen für einen modernen Sitzungssaal erforderlichen technischen Einrichtungen ausgestattet“. Andererseits verfolge der Bundestag ein ästhetisches Programm, Schwippert sei „eine der vollkommensten Raumschöpfungen der modernen Architektur“ gelungen: In seiner Lichtheit und dem Geöffnetsein zum Freiraum durch die beiden großen Glaswände löst er ein Geist und Körper befreiendes Gefühl aus. Der Verzicht auf pathetische Monumentalität und schwülstige Rhetorik wird wohl auch von den meisten Parlamentariern wohltuend empfunden.31
Bei all diesen Zitaten fällt auf, dass sich Schwipperts Fans in einer Begeisterung äußerten, die nicht so recht zu den Idealen von Einfachheit und pragmatischer Nüchternheit passte. Auch Schwippert selber geriet ins Schwärmen, wenn er sich in einem Text, also in literarischer Form, mit Glas befasst. Für die Zeitschrift Architektur und Wohnform schrieb Schwippert 1952/53 eine Art Manifest mit der programmatischen Überschrift „Glück und Glas“.32 Sein Aufsatz ist eine Apotheose des Glases, dennoch leitete Schwippert ihn mit der Feststellung ein, dass sowohl das Glück als auch das Glas zerbrechlich seien: „Daß das Leben dauerhaft sei und gesichert, die Zeiten auch dieser Täuschungen sind vorüber“, so Schwippert in expressionistisch anmutender Parataxe: „Leben, Glück und Glas: Zerbrechlichkeiten!“ Vergeblich hätten die Menschen versucht, sich gegen die Vergänglichkeit zu wehren und stattdessen für die Ewigkeit zu bauen. Schwippert nennt „Höhlen, Burgen, Bunker“ als Beispiele – allesamt gekennzeichnet durch dicke Wände, „verschlossen und undurchsichtig, um Dauer zu ertäuschen und das Vorübergehende zu verdecken“. Doch seien alle diese Versuche gescheitert, so Schwippert: „Wo ist, betrogener Spießer, die Unvergänglichkeit deines Grabsteins aus Granit, den die Bombe traf?“ Die bauliche Alternative zum Bunker seien – Glas und Transparenz. Das Glück erst gar nicht suchen, weil es bricht? […] Leben nicht wollen, weil es im Tode Heimat hat? Schönheit nicht anschaun, weil sie stirbt? Glas nicht wollen, weil es Scherben gibt? […] Der Schutz der dicken Wand wurde uns gleichgültig. […] Nicht weil dies alles zurückkehren wird zu euren Verliesen und Dunkelheiten, sondern weil aus dem tapferen Ja zum Vorbeigehen, zum Zarten, zum Vergehen, zum „auf dem Wege sein“, zur Zerbrechlichkeit, zur Offenheit, zur Durchsichtigkeit, zur Wahrheit eine andere, eine neue Stärke erwächst, die zäher und lebensfähiger ist als die Masse eurer Mauern, schöner als die Lüge eurer Dekors, fröhlicher als der tierische Ernst eurer Sicherungen, dauernder als der sentimentale Materialismus eurer Schießschartenhäuser.33
Diese expressive Glas-Rhetorik erinnert an den ‚Transparenztraum‘, wie ihn der Architekt Bruno Taut schon vor und nach dem Ersten Weltkrieg formuliert hatte, in einem Experiment zwischen Literatur und Architektur – auf das Schwippert zitierend Bezug nahm. Licht, Transparenz, Verklärung, lautet in beiden Fällen die Klimax, mitsamt dem Kontrast von Helligkeit
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Eckstein, Hans: „Das Bundeshaus in Bonn am Rhein“, in: Die Kunst und das schöne Heim, 48. Jg. (1950), S. 220–224. Schwippert, Hans: „Glück und Glas“, in: Architektur und Wohnform, 61/1 (1952/53), S. 3. Ebd. [Hvh. B.W.].
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und Dunkel, der schon ein Gestaltungsprinzip der gotischen Kathedralen war.34 Bei Schwippert und seinen Zeitgenossen kommt jedoch die Erfahrung der großen Zerstörung hinzu, der moralischen ebenso wie der materiellen, wie sie der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatten.35 Schwippert hatte vor 1945 als freier Architekt sowie als Universitätsdozent mit staatlichen Stellen und NS-Parteiorganisationen zusammengearbeitet, Architektur, Ideologie und Kriegswirtschaft waren im ‚Dritten Reich‘ kaum voneinander zu trennen, allerdings galt Schwippert – nicht nur gemäß den nachsichtigen Kriterien der Nachkriegszeit – als unbelastet. Anstelle dunkler Bunker (= Krieg), Steine und Säulen (= Nationalsozialismus) und dem alten Historismus (= Kaiserreich) versuchten er und seine Kolleg*innen nun einen Neubeginn mit Glas. Diese Variante des Transparenztraums formuliert ein Bedürfnis nach Licht, Aufklärung und Demokratie, in Schwipperts Worten: „die Sehnsucht nach dem leichten Gehäuse, nach der Helle, nach der Offenheit“.36 Als „Dogma der Reinheit und Klarheit“37 spiegelten Glas und Transparenz aber auch den eher unterbewussten Wunsch nach Reinigung, wie er etwa in den weiß getünchten Wänden zum Ausdruck kam. Oder vielleicht auch einen Wunsch nach Oberflächlichkeit. Denn Glas ist vor allem – eine Projektionsfläche. Überhaupt entpuppt sich die Transparenzmetapher, wenn man sie auf die politischen Funktionen des Parlamentarismus bezieht, als einseitige Übersteigerung des Visuellen. Das ist auch insofern bemerkenswert, als es im Parlament gar nicht zuerst aufs Zuschauen ankommt, sondern – Stichwort Parla-ment – aufs Hören, Miteinandersprechen und auf die politische Mitsprache. Mit derlei akustischen Funktionen kann Glas nicht dienen.
III Dystopie der Bonner Republik: Wolfgang Koeppens Treibhaus-Roman (1953) als Satire der Transparenz-Metapher „Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus“, heißt es an zentraler Stelle in einem Roman, den der Schriftsteller Wolfgang Koeppen im Jahr 1953 geschrieben hat und der in dem als Glashaus gestalteten Bonner Bundestag spielt. Erzählt wird im Treibhaus das fiktive Schicksal eines todunglücklichen Bundestagsabgeordneten. Felix Keetenheuve, so sein 34
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Haag Bletter, Rosemarie: „The Interpretation of the Glass Dream. Expressionist Architecture and the History of the Crystal Metaphor“, in: Journal of the Society of Architectural Historians, 40/1 (1981), S. 20–43; Musielski, Ralph: Bau-Gespräche. Architekturvisionen von Paul Scheerbarth, Bruno Taut und der „Gläsernen Kette“, Berlin: Reimer 2003; Schneider: Transparenztraum, S. 191–207. – Gemeinsamkeiten der Glas-Metaphorik bei Bruno Taut und der Gotik betonte schon Günter Bandmann: „Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials“, in: Städel-Jahrbuch – Neue Folge, 2. Jg. (1969), S. 75–100, hier S. 81–85. Welzbacher, Christian: Monumente der Macht. Eine politische Architekturgeschichte Deutschlands 1920–1960, Berlin: Parthas 2016. Schwippert, Hans (Hg.): Mensch und Technik. Erzeugnis – Form – Gebrauch (Darmstädter Gespräch 1951), Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1952, S. 86. Frank, Hartmut: „Trümmer. Traditionelle und moderne Architekturen im Nachkriegsdeutschland“, in: Bernhard Schulz (Hg.), Grauzonen/Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945–1955, Berlin/Wien: Medusa 1983, S. 42–83, S. 75.
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Name, steckt fest in der Opposition; das haben die Wähler so entschieden. Aber auch das Leben scheint diesen Platz für Keetenheuve reserviert zu haben. Zunächst versucht er noch, sich zu wehren: gegen die Wiederaufbau- und Wiederbewaffnungs-Politik der Bundesregierung – und gegen seine eigene Vereinzelung. Auch seine Umwelt und seine Mitmenschen klagt er an, in ihrer Gegenwart fühlt er sich verloren, an den Rand gedrängt. Nicht zuletzt stemmt er sich gegen sein privates Unglück nach dem Tod seiner Frau (die ihrerseits unglücklich war, weil Keetenheuve sich zu sehr um die Politik gekümmert hat). Sein Aufbäumen ist schließlich kraft- und machtlos: vergebens. Am Ende des Buchs stürzt sich der Abgeordnete in den Rhein. Am Anfang aber nähert sich Keetenheuve dem Bundestag in Bonn, wo eine entscheidende Abstimmung stattfindet, mit dem Zug: Keetenheuve atmete die milde Luft, und schon spürte er, wie sehr sie ihn traurig stimmte. […] Ein Treibhausklima gedieh im Kessel zwischen den Bergen; die Luft staute sich über dem Strom und seinen Ufern […], Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus, Keetenheuve sah seltsame Floren, gierige, fleischfressende Pflanzen, Riesenphallen, Schornsteinen gleich voll schweren Rauches, blaugrün, rotgelb, giftig, aber es war eine Üppigkeit ohne Mark und Jugend, es war alles morsch, es war alles alt […].38
Das Motiv vom Treibhaus steht bei Koeppen sowohl für Deutschland im Allgemeinen als auch für Bonn im Konkreten, dem Prinzip der politischen Repräsentation entsprechend jedoch insbesondere fürs Parlament. Daher intensiviert sich die titelgebende Treibhaus-Metaphorik, je näher Keetenheuve dem Bundestag kommt: Es tropfte und blitzte, und Regenschleier legten sich wie Nebel über die Häupter der Bäume, aber der Donner grollte kraftlos und matt, als wenn das Gewitter schon müde oder noch fern wäre. Es roch intensiv nach Feuchtigkeit, Erde und Blüten, dabei wurde es immer wärmer, man schwitzte, das Hemd klebte am Leib, und wieder hatte Keetenheuve die Vorstellung, sich in einem großen Treibhaus zu befinden.39
Von Schwipperts Glashaus zu Koeppens Treibhaus – metaphorisch war das nur ein kleiner Schritt. Zumal im Treibhaus-Roman ein Topos literarisch verdichtet wurde, der in verschiedenen zeitgenössischen Diskursen der frühen 1950er Jahre immer wieder formuliert worden war. Schon im Herbst 1949, anlässlich der ersten Sitzungen des Bundestags, beschrieben Illustrierte wie Stern und Revue das Parlamentsgebäude als „Glashaus“.40 Als bald darauf die Baukosten öffentlich in die Kritik gerieten, war – etwas negativer schon – die Rede vom „Glaspalast, in welchem das Parlament tagt“ und dessen „Luxus in auffallendem Kontrast zur Not in Deutschland und seinen Ruinen steht“.41 Im Übrigen polemisierte auch eine konservative, Schwippert-oppositionelle Bauzeitschrift gegen die neumodische Glas-Architektur am Beispiel Bonns: „Daß die Abgeordneten im Bundeshaus schwitzen und die Röcke 38 39 40 41
Koeppen, Wolfgang: Werke, hg. von Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt/Berlin: Suhrkamp 2006 ff., Band 5: Das Treibhaus, S. 39 [Hvh. B.W.]. Ebd., S. 52. „Bonner Bundespremiere“, in: Stern, 25. September 1949, S. 6 f.; „Noch zehn Sekunden – nach Jahren der Katastrophe“, in: Revue, 25. September 1949, S. 5 f. Böttcher, Karl Wilhelm: „Ein Vorteil der Zerstörung“, in: Frankfurter Hefte, 4/10 (1949), S. 881.
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ausziehen müssen, ist vielleicht manchen politischen Verhandlungen förderlich, nicht aber förderlich dem Wohlwollen der Abgeordneten dem Stande der Architekten gegenüber.“42 Zeitungen wie der Rheinische Merkur beklagten mit Blick auf den Bundestag die Stilund Würdelosigkeit dieser „lemurenhaft aus der Erde gewühlten, in gemordeten Nächten hochgetriebenen Betonglaskästen“, und in der Zeit verspottete Marion Dönhoff „das Glashaus der rheinischen Gartenstadt“.43 Sogar Bundestagsabgeordnete, beispielsweise der FDP/DVP-Politiker Karl Georg Pfleiderer, sahen sich „von den gläsernen Seitenwänden […] zu einem Vergleich mit Aquarien“ inspiriert; seine Parteifreundin Marie-Elisabeth Lüders, nach der heute einer der Berliner Transparenzbauten benannt ist, klagte in einer Plenardebatte, das Gebäude ähnele einem „Aquarium“ oder dem „Wartesaal eines Zentralbahnhofs“, weil es außen verglast und innen belebt sei, „vielleicht auch in einer Kreuzung von beidem“.44 Auch die FAZ berichtete über Parlamentssitzungen „im Bonner Treibhaus“.45 Schließlich überschrieb die Boulevard-Illustrierte Wochenend, die als erste über den KinseyReport berichtet hatte, eine etwas verschwitzte Reportage über die Stadt „mit dem größten Frauenüberschuß Westdeutschlands“ mit der Zeile: „Treibhaus Bonn“.46 Alles in allem: Bezüge aufs Glas waren ein fester Bestandteil der Bonn-Publizistik der 1950er Jahre. Aus der Glasarchitektur entstand unter dem Eindruck des Stadtklimas die Treibhaus-Metapher, wie sie in kondensierter Form, Koeppens Roman über den fiktiven Abgeordneten durchzieht, der neben der Politik Baudelaire zu übersetzen versucht: Keetenheuve war in seinem Arbeitsraum dem Himmel näher, aber nicht der Klarheit; neue Wolken, neue Gewitter zogen herauf, und der Horizont hüllte sich in bläuliche und in giftig gelbe Schleier. Keetenheuve hatte, um sich zu konzentrieren, das Neonlicht eingeschaltet und saß, wo Tagesschimmer und künstlicher Schein sich brachen, im Zwielicht. […] Bleich wie ein Verdammter saß Keetenheuve im Bundeshaus, bleiche Blitze geisterten vor dem Fenster und über dem Rhein, Wolken geladen mit Elektrizität, beladen mit dem Auspuff der Essen des Industriegebiets, dampfende trächtige Schleier, gasig, giftig, schwefelfarben, die unheimliche ungezähmte Natur zog sturmbereit über Dach und Wände des Treibhauses und pfiff Verachtung und Hohn dem Mimosengewächs, dem trauernden Mann, dem Baudelaireübersetzer und Abgeordneten im Neonbad hinter dem Glas des Fensters.47
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Pfister, Rudolf: „Wenn die Glaser Architektur machen“, in: Baumeister. Zeitschrift für Baukultur und Bautechnik, 47/8 (1950), S. 529. Wenger, Paul Wilhelm: „Staat ohne Stil“, in: Rheinischer Merkur, 16. Juli 1954; Marion Dönhoff: „Jetzt oder nie“, in: Die Zeit, 18. Oktober 1956. Pfleiderer, Karl Georg: „Ein weiter Weg zur Rednertribüne“, in: Christ und Welt, 30. April 1952; MarieElisabeth Lüders, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestags Stenographische Berichte, 2. WP, 86. Sitzung vom 15. Juni 1955, Bonn 1955, S. 4735. – Zum Thema Aquarium vgl. den Beitrag von Christina Wessely in diesem Band. Henkels, Walter: „Die Herrschaft des Herrn Celsius“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. August 1952. „Treibhaus Bonn“, in: Wochenend, 10. August 1950. Koeppen, Wolfgang: Werke, hg. von Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt/Berlin: Suhrkamp 2006 ff., Band 5: Das Treibhaus, S. 72–74 [Hvh. B.W.].
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Das Treibhaus-Motiv dient im Roman erstens als Metapher für eine vielbeklagte Lebensferne des parlamentarischen Systems, das als künstlich empfunden und als hermetisch beschrieben wird (wie hinter Glas wuchert das politische Biotop…), als ein Begriff der Parlamentskritik also. Einer Parlamentskritik, die in der frühen Bundesrepublik so verbreitet war, dass Bundestagspräsident Hermann Ehlers sie bei jeder Gelegenheit öffentlich zu widerlegen bemüht war, etwa mit den Worten, der Bundestag sei „kein isoliertes Etwas“, sondern bestimmt „von seinem Verflochtensein mit der gesamtpolitischen Situation“.48 Zweitens liest man das Treibhaus – seit 1953 – als ein breites Panorama, als literarisches Sittengemälde der frühen Bundesrepublik. Die sei ebenso unnatürlich, überzüchtet und, kaum entstanden, schon wieder dem Verfall geweiht. Dem Transparenztraum der Glasarchitektur entgegnete Koeppen die literarische Dystopie des Bonner Parlamentarismus. Und mit dieser Interpretation stellte er die Treibhaus-Metapher in eine spezifische Tradition der europäischen Kulturgeschichte.
IV Künstlich, schwül, Grenze der Kommunikation: Glaseffekte in der literarischen Tradition Stärker als das bei anderen Glas-Metaphern der Fall ist, werden Gewächshäuser widersprüchlich wahrgenommen. Während sie im Garten das Überwintern von Zitruspflanzen und anderen Exoten ermöglichten, während sie Naturwissenschaftler*innen das Beobachten erleichterten, während sie schließlich Architekt*innen von Licht und Transparenz schwärmen ließen, riefen sie bei Schriftsteller*innen und anderen Künstlern eher Unbehagen und Misstrauen hervor. Anstelle von Licht und Klarheit betonten sie die Künstlichkeit einer vom Menschen manipulierten Lebensform. Sie formulierten Ängste vor Krankheit, Verfall und Entartung. Ein erster negativer Treibhaus-Topos ist dabei der Aspekt der Widernatürlichkeit. Schon im 18. Jahrhundert benutzten Pädagog*innen Orangerien und Gewächshäuser als Metaphern, und zwar ausschließlich mit negativer Konnotation: Treibhäuser dienten ihnen als polemische Widerlegung einer unnatürlichen Erziehung.49 Hinter dieser Begriffs-Übertragung von der Botanik auf die Pädagogik (wie auch bei: Pflanzen ziehen, Kinder erziehen, durch Kultur veredeln) stand die Vorstellung, dass die normalen Wachstumsprozesse im Treibhaus künstlich forciert würden und daher zu schnell abliefen. Daraus folgte die Annahme, dass Treibhausgewächse – Pflanzen genauso wie Kinder – stärker gefährdet und weniger wert seien als Freilandgeschöpfe, frühreif eben. Demgegenüber wurde die 48
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So beispielsweise am 29. Juni 1952 bei einer Rede in Bremen, in der Ehlers die ersten drei Jahre im Bundestag resümierte; gedruckt in: Erdmann, Karl Dietrich/Wenzel, Rüdiger (Hg.), Hermann Ehlers. Präsident des Deutschen Bundestages. Ausgewählte Reden, Aufsätze und Briefe 1950–1954, Boppard: Boldt 1991, S. 151. Heinze, Kristin: „Das ‚Treibhaus‘ als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontext der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Pädagogik als Wissenschaft“, in: Michael Eggers/Matthias Rothe (Hg.), Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte, Bielefeld: transcript 2009, S. 107–131.
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naturgemäße kindliche Entwicklung propagiert, womit man schon bei Jean-Jacques Rousseau und seinem Roman Émile ou De l’éducation angekommen ist. Auch Rousseau lehnte, obwohl er sonst das Ideal der seelischen Transparenz verklärte, Gewächshäuser ab.50 Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Theodor W. Adorno in seinen „Reflexionen aus einem beschädigten Leben“, dass das Verhältnis zwischen der „Treibhauspflanze“ und ihrer Außenwelt „leicht die Farbe des neurotisch Spielerischen“ annehme: „Die Fühlung mit dem Nicht-Ich […] wird dem Frühreifen zur Not.“51 Wer in einem künstlichen Habitat unnatürlich schnell heranwachse, so Adorno, wer rein narzisstisch auf sich selbst bezogen bleibe, komme mit der Umwelt draußen nicht klar – und zwar gleich ob Pflanze oder Mensch. Auch der wohl berühmteste Satz der Minima Moralia – „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“52 – klingt dabei an. Und passenderweise stand Adornos Aphorismus über die „Treibhauspflanze“ neben einem Baudelaire-Zitat aus den Fleurs du mal. Der zweie Aspekt der Treibhaus-Metaphorik ist, so wie beim „Treibhaus Bonn“, das Empfinden der Schwüle und der damit assoziierten erotischen Spannung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts – und parallel zur ersten Hoch-Phase der Glasarchitektur53 – wurden Gewächshäuser und Wintergärten in Kunst, Musik und Literatur ein, wenn nicht der Ort sinnlicher Ausschweifung. Ob in dem von Richard Wagner vertonten Wesendonck-Lied Im Treibhaus, ob in Flauberts L’Éducation sentimentale, wo Frédéric Madame Dambreuse im Wintergarten besucht, ob in Émile Zolas La Curée oder À rebours von Joris-Karl Huysmans – als literarischer Topos repräsentieren gläserne Gewächshäuser ein künstliches Paradies, einen höchst ambivalenten Bereich zwischen bürgerlicher Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Romantik, Lust und den Abgründen bourgeoiser Moralvorstellungen.54 Kein Wunder, dass Wintergärten und Treibhäuser in der europäischen Literatur ein wichtiges Symbol insbesondere im Zeichensystem der Décadence wurden.55 Und natürlich gehören Baudelaires Fleurs du mal in diesen Kontext, zumal Baudelaire ein erklärter Lieblingsdichter 50
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Soëtard, Michel: Jean-Jacques Rousseau. Leben und Werk, München: Beck 2012, S. 99; Starobinski, Jean: Jean Jacques Rousseau : la transparence et l’obstacle (1957), dt.: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, übersetzt von Ulrich Raulff, München/Wien: Fischer 1988, S. 123–133. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften, Bd. 4), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 [1951], S. 181. Ebd., S. 43. Koppelkamm, Stefan: Künstliche Paradiese. Gewächshäuser und Wintergärten des 19. Jahrhunderts, Berlin: Ernst & Sohn 1988. Sennett, Richard: The Fall of Public Man (1977), dt.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, übersetzt von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main: Fischer 1983. Bauer, Roger: „Das Treibhaus oder der Garten des Bösen: Ursprung und Wandlung eines Motivs der Dekadenzliteratur“, in: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und Literatur, 79/12 (1979); (ders.): Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2001; Eilert, Heide: „Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman L’Adultera“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 22. Jg. (1978), S. 494–517; Stierle, Karlheinz: „Imaginäre Räume. Eisenarchitektur in der Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Helmut Pfeiffer/Hans Robert Jauß/Françoise Gaillard, Art social und art industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus, München: Wilhelm Fink 1987, S. 281–308.
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des verkrachten Politiker-Intellektuellen Keetenheuve ist. Théophile Gautier, dem Baudelaire seinen Gedicht-Zyklus gewidmet hatte, erklärte seinerseits in seinem Nachruf auf Baudelaire das Titelmotiv der Fleurs du mal: „Diese giftigen Pflanzen mit ihren bizarren Blättern, schwarzgrün und metallisch fahl, wie mit Kupfervitriol übergossen, sind von düsterer und unglaublicher Schönheit.“56 Ein wichtiger Vertreter der literarischen „Transparenzangst“57 war im Übrigen Fjodor M. Dostojewskij, aus dessen Œuvre sich drei Schriften als Paratext für das Treibhaus identifizieren lassen, nicht zuletzt Verbrechen und Strafe. Im Glas-Kontext relevant sind von Dostojewskij darüber hinaus die Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, ein Reisefeuilleton, in dem der russische Schriftsteller 1863 die Eindrücke einer Europatour reflektierte und den kapitalistischen Moloch London einer beißenden Kritik unterzog. Insbesondere den Crystal Palace – ein als Messehalle genutztes gigantisches Treibhaus, das der englische Gartenbaumeister Joseph Paxton zur Weltausstellung 1851 in den Hyde Park gepflanzt hatte (und von dem Schwippert später schwärmte)58 –, empfand Dostojewskij als Symbol der Industrialisierung und des Materialismus, als Inbegriff all dessen, was ihm an London missfiel. Hinzu kommen zweitens die Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, der fiktive Monolog eines menschenscheuen Einzelgängers voller Welthass und Selbstekel, eine Suada gegen den Optimismus und eine Satire auf die utopische Literatur, insbesondere von Nikolaj Tschernyschewskij. In dessen Roman Was tun? wird der Traum einer besseren Zukunft entworfen, in der die Menschen gemeinsam verglaste Biotope bewohnen und sogar in Russland Orangen und Zitronen gedeihen.59 Ein dritter Glaseffekt in der literarischen Metaphorik ist das Motiv der menschlichen Isolation. Schon in der frühneuzeitlichen Epik galt Glas als Zeichen der Melancholie: Menschen, die an der Melancholia litten, fürchteten, dass ihre Körper aus Glas seien und zerspringen könnten, wenn sie jemand berührte. Was bedeutete, dass der Umgang mit anderen gefährlich war fürs fragile Selbst. Im literarischen Diskurs stehen Fenster und der Fensterblick daher für die negativen Folgen der Transparenz: für Vereinzelung, fürs Schweigen, für grüblerische Passivität und den „Abbruch aller lebendigen Kommunikation mit der Außenwelt“, wie der Literaturwissenschaftler Heinz Brüggemann feststellte: „Der Blick in andere Fenster als Blick auf die Anderen ist eine Wahrnehmungsform des vereinzelten
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Zitiert nach Bauer, „Treibhaus“, S. 8. Schneider: Transparenztraum, S. 190. Hobhouse, Hermione: The Crystal Palace and the Great Exhibition: Art, Science, and Productive Industry. A History of the Royal Commission for the Exhibition of 1851, London/New York: Bloomsbury 2002; Colquhoun, Kate: A Thing in Disguise. The Visionary Life of Joseph Paxton, London: Harpercollins 2003; Freigang, Christian: Die Moderne: 1800 bis heute. Baukunst – Technik – Gesellschaft, Darmstadt: WBG 2013. Lange, Wolfgang: „Kristallpalast oder Kellerloch? Zur Modernität Dostojewskijs“, in: Merkur – deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 40/443 (1986), S. 14–29; Schneider: Transparenztraum, S. 180–190; Chapman, Roger: „Fyodor Dostoyewsky, Eastern Orthodoxy, and the Crystal Palace“, in: Anne R. Richards/Iraj Omidvar (Hg.), Historical Engagements with Occidential Cultures, Religions, Powers, London/New York: Palgrave/Macmillan 2014, S. 35–55.
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Subjekts der großen Städte“.60 In dieser Motivtradition der Literatur bleiben Fenster, selbst wenn sie völlig transparent und unverhüllt sind, eine Grenze, wohingegen die Transparenzarchitektur die Abschaffung der Wand mittels Glas intendierte. Auch in vielen Romanen Koeppens kehrt das Motiv der gläsernen Mauer wieder, zuerst in seinem Debüt Eine unglückliche Liebe von 1934, das von einem jungen Mann und einer jungen Frau erzählt, die nicht zueinander finden. Um zu beschreiben, was zwischen den beiden steht und ihre Liebe verhindert, gibt es hier das Bild einer gläsernen Wand, das sich zur Metapher scheiternder Kommunikation und menschlicher Isolation wird.61 Der Schluss des Romans lautet: Sie lachten beide, und sie wußten, daß nichts sich geändert hatte, und daß die Wand aus dünnstem Glas, durchsichtig wie die Luft und vielleicht noch schärfer die Erscheinung des anderen wiedergebend, zwischen ihnen bestehen blieb. Es war dies eine Grenze, die sie nun respektierten […]. Es hatte sich nichts geändert.62
In den politischen und kulturellen Widersprüchen der frühen Bundesrepublik, die bestimmt war von Wiederaufbau, Kaltem Krieg und Nachkriegszeit, reagierte der Treibhaus-Roman auf den Neubeginn sowohl des Parlamentarismus als auch der Transparenzarchitektur mit einer anti-utopischen Satire. Dabei stand Koeppens Roman genauso in einer ästhetischen Traditionslinie der Glas-Interpretation, wie es umgekehrt der Architekt Hans Schwippert mit der positiven Sinnstiftung getan hatte. Im Clash der Metaphern zeigt sich, wie widersprüchlich die Kulturgeschichte vom Glas ist. Es öffnet und verschließt zugleich.
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Brüggemann, Heinz: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt: Fischer 1989, S. 10 [Hvh. B.W.]. Koch, Manfred: Wolfgang Koeppen. Literatur zwischen Nonkonformismus und Resignation, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer 1973, S. 27–32. Koeppen, Wolfgang: Werke, hg. von Hans-Ulrich Treichel/Jörg Döring, Frankfurt/Berlin: Suhrkamp 2006 ff., Band 1: Eine unglückliche Liebe, S. 166.
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Glasgedichte – Kontinuitäten eines Motivs vor und nach 1945
In der (literarischen) Überlieferung umgibt Glas seit jeher eine Aura des Geheimnisvollen; vom Glasberg alter Volksmärchen, über Wilhelm Hauffs Kunstmärchen Das kalte Herz, in welchem das Glasmännlein, ein zauberkundiger Geist, ganz in Glas gewandet erscheint, über Gerhart Hauptmanns Und Pippa tanzt!, darin eine elfenhafte kristallgläserne Kindfrau die Bewohner*innen eines schlesischen Bergdorfes betört, bis hin zur Gegenwartsliteratur.1 Innerhofer weist auf die vielfältigen Eigenschaften des Glases und seiner Faszination hin: Die historische Semantik dieses Materials manifestiert sich in sich wandelnden, komplexen Überlagerungen. Dem Glas kommt dabei ein besonderer Status zu: Denn in seiner Transparenz ist es paradoxerweise ein Material, mit dem das Immaterielle evoziert, das Materielle überwunden wird.2
Während der Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Forschung im 19. Jahrhundert liegt,3 wird die vorliegende Untersuchung zeigen, dass sich die klassischen poetischen Topoi von Glas bis in die Lyrik der Nachkriegszeit erhielten und Weiterentwicklung erfuhren. Den drei Dichtern Georg von der Vring (1889–1968), Peter Gan (1894–1974)4 und Erich Jansen (1897–1968) ist gemein, dass sich ihr Werk kaum den literarischen Strömungen ihrer Zeit zuordnen lässt.5 Peter Gans abseitige Position im deutschen Literaturbetrieb 1
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3 4 5
Vgl. z. B. Bagus, Clara Maria: Der Duft des Lebens, Berlin: ullstein 2018; Dorweiler, Ralf H.: Das Geheimnis des Glasbläsers, Köln: Bastei Lübbe 2018; Durst-Benning, Petra: Die Glasbläserin, Berlin: ullstein 2003; Rosenberger, Pia: Die Himmelsmalerin, Frankfurt am Main: Fischer 2012. Innerhofer, Roland: „Glas als Medium und Metapher – Funktionen eines Materials in der Literatur der Moderne“, in: Knut Hickethier, Katja Schumann (Hg.), Die schönen und die nützlichen Künste: Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung ; [Harro Segeberg zum 65. Geburtstag], München: Wilhelm Fink 2007, S. 155–163, hier S. 155. Vgl. exemplarisch: Kicaj, Jehona: E. T. A Hoffmann und das Glasmotiv, Stuttgart: Wehrhahn 2020. Bürgerlich Richard Moering; in Lexika bisweilen unter diesem Namen geführt. In ihrer poetologischen Individualität, die auch diesseits der Zäsur 1945 die Unverbrüchlichkeit der Tradition forciert (von der Vring, Gan) oder zwischen Glanzbildromantik und Surrealismus changierende Stimmungsbilder französischer Prägung entwirft (Jansen), treten die drei Dichter als eigenwillige Vertreter der Synthetischen Moderne auf, deren poetologische Bezugspunkte ungeachtet des Zeitgeschehens Bestand hatten.
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wird in der Jurybegründung seiner Auszeichnung mit dem Alexander-Zinn-Preis 1967 deutlich: Sie erfolgte in „Anerkennung seines mutwillig neben der Zeit schwebenden lyrischen Werks, das philosophisch-heiteres Denken und sprachliche Formkraft kunstvoll gebildet haben, und in Würdigung seiner unbeirrbar verwirklichten literarischen Individualität […].“6 Er war mit seinen Episteln und Preisliedern ein überzeugter Unzeitgemäßer, der freimütig bekundete: „Es wird dich, lieber Leser, nicht verwundern, daß ich von Anfang an nichts anderes zu spielen willens war, als nur die zweite Geige.“7 Die Literaturkritik hat wiederholt auf die Virtuosität der Ganschen Verse hingewiesen: Sie ließen „die Sprache beben und tönen wie eine Glasharmonika“8 und glichen „einem Zauberglas“9, einem „chinesischen Tuschblatt“10. Man benennt die „Schwerelosigkeit“11, den „variierten Klang der Vokale und Alliterationen“12. Und doch: schon 1977 musste Karl Korn feststellen, dass Peter Gan beinahe gänzlich in Vergessenheit geraten sei.13 Erich Jansen, welcher – von einem 1937 erschienenen Band mit Prosaskizzen abgesehen – erst ab 1950 an die literarische Öffentlichkeit trat, steht mit seiner eigentümlich zwischen Surrealismus, Phantastik und Edelkitsch changierenden Poesie ebenfalls seitab der literarischen Strömungen seiner Zeit und bemerkt: „Der Leser hat keine Beziehung zu meiner, ihm fremden Bilderwelt.“14 Einzig Georg von der Vring wurde zeitweilig Kanonisierung zuteil. Obgleich er sich zeitlebens abseits des Literaturbetriebes hielt,15 galt er als einer der „maßgeblichen Naturlyriker der 1930er bis 1950er Jahre“16 und war mit seinen Versen in den Schulbüchern vertreten;17 doch kennzeichnet sein Werk auch eine eigentümliche Zeitferne, die bisweilen als dezidiert unzeitgemäß gewertet wurde. Ein Verlag lehnte eines seiner Manuskripte mit der Begründung ab, es sei ersichtlich, „wie weit sich die Entwicklung des Zeitbewusstseins von dem 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
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Zit. nach: Kayser, Werner: Peter Gan, Hamburg: Christians 1972, S. 35. Zit. nach: Kemp, Friedhelm: „Nachwort“, in: Peter Gan: Gesammelte Werke in drei Bänden (hgg. v. Friedhelm Kemp), Göttingen: Wallstein 1997, Band I, S. 475–482, hier S. 475. Maier, Hans: „Lieder aus Glas“, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Frankfurt am Main: Insel 1998, S. 120–122, hier S. 120. Krolow, Karl: „Sanduhr und Zauberglas“, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Frankfurt am Main: Insel 1991, S. 158–160, hier S. 160. Korn, Karl: „Wie ein chinesisches Tuschblatt“, in: Marcel-Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Frankfurt am Main: Insel 1977, S. 144–146, hier S. 145. Kühlmann, Wilhelm: „Resultate der Einsamkeit“, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Frankfurt am Main: Insel 1996, S. 144–146, hier S. 145. Ebd. Vgl. Korn 1977, S. 144. Zit. nach: Johannimloh, Norbert: „Erich Jansen 70 Jahre“. In: Westfalenspiegel 16/10 (1967), S. 22 f., hier S. 22. Vgl. Aden, Jens: Die Lyrik Georg von der Vrings: Themen, Formen, Tradition, frühe Rezeption: eine Monographie über das lyrische Werk des Schriftstellers und Malers (= Europäische Hochschulschriften; 1398; Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur), Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang 1993, S. 73. Zimmermann, Harro: „Georg von der Vring“, in: Wilhelm Kühlmann (Hg.), Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Band 12, Berlin/Boston: De Gruyter 2011, S. 35 f., hier S. 35. Vgl. Aden 1993, S. 9.
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inneren Standort entfernt hat, den Ihre Dichtung einnimmt.“18 Vrings Stil ist volksliedhaft; seine Naturlyrik erscheint eskapistisch.19 Rigoros bekennt er sich zu einem konservativen Lyrikbegriff: „Und nochmals und ein für allemal: Neue Gedichte müssen, um gut zu sein, den großen Gedichten aller Zeiten ähneln.“20 Die drei Dichter eint ihr poetologisches Selbstverständnis. Georg von der Vring, Erich Jansen und Peter Gan sind Melodiker, dem sprachlichen Wohlklang, der poetischen Sinnlichkeit verpflichtet: Aber das eigentlich Poetische und Musikalische der Lyrik haben uns wohl ausschließlich die Franzosen gezeigt. Im Allgemeinen haben die deutschen Lyriker wenig Musik […]. Die Musik (die Poesie) kommt ja nicht aus dem Gedanklichen, sondern aus Tiefen, die wir nicht begreifen können. Händel, Caspar David Friedrich und Novalis sind bedeutender als Plato, der Denker, weil sie durch ihre Kunstschöpfungen die Substanz der Seele fühlbar machten.21
Diese Ausführungen Jansens korrespondieren mit Georg von der Vrings Urteil: „Natürlich sind Hölderlin und Schiller bedeutend, aber Matthias Claudius ist reiner. Er ist der reinste [sic!]. […] Über diesen Klang geht nichts hinaus.“22 Peter Gan huldigt seinerseits dem schöne[n] Gedicht […] in welchem das ‚beseelte Wort‘ ganz Musik geworden und ganz Gedanke geblieben ist. Ein Schritt weiter, und wir überschreiten die absolute Grenze der Sprache und betreten […] das Schattenland der ‚poésie pure‘, […] wo der unbesonnene Vers sich […] vergisst, um es dem sinnentbundenen, nur noch singenden Zauberspruch magisch gleichzutun […].23
Und weiter: Der erste Schritt […] den Geist eines Gedichtes zu verstehen, wird daher stets […] das Aufnehmen seines Leibes durch den Leib, näher: seiner Melodie durch das Ohr sein. Rhythmus und Reim sind die notwendigen und dienenden Wegbereiter der Worte.24
Ihre poetologische Kongruenz, ihr rigoroses Eintreten für das Musikalische in der Dichtung, bildet, neben der Motivgleichheit der drei herangezogenen Gedichte, die Basis für den folgenden Vergleich. 18 19
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24
Begerow, Hans: „Ein Schriftsteller fällt aus seiner Zeit“, in: Jeversches Wochenblatt, 16.01.2018, S. 14. Vgl. Emmerich, Wolfgang: „Deutsche Lyrik auf getrennten Wegen. Ein deutsch-deutscher Vergleich gefolgt von zwölf Thesen zum Problem der Kanonisierung“, in: Ingrid Sonntag (Hg.), An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945–1991, Berlin: CH. Links 2016, S. 212–233, hier S. 215.; Emmerich, Wolfgang: „Kein Gespräch über Bäume. Naturlyrik unterm Faschismus und im Exil“, in: Reinhold Grimm, Jost Herrmann (Hg.), Natur und Natürlichkeit: Stationen des Grünen in der deutschen Literatur, Königsstein (Taunus): Athenaeum 1981, S. 77–117, hier S. 92.; Hu, Chunchun: Vom absoluten Gedicht zur Aporie der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 91. Vring, Georg von der: Marginalien über Lyrik. Unveröffentlichtes Manuskript. Zitiert nach: Dachs, Karl: Georg von der Vring 1889–1968, München: St. Otto 1971, S. 54. Zit. nach: Houben, Marc: „‚Die Substanz der Seele fühlbar machen‘“. Zum poetologischen Selbstverständnis Erich Jansens‘, in: Ernst-Meister-Jb. 2 (1992/1993), S. 99–109, hier S. 102 f. Kursivierung im Original. Zit. nach: Meckel, Christoph: „Georg von der Vring“, in: Georg von der Vring: Die Gedichte (hg. v. Christoph Meckel), Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt 21996, S. 503–511, hier S. 506 Gan, Peter: „Gedichte und Kommentare. Eine Causerie [Rede, geh. vor der Bayerischen Akademie für Dichtung und Wissenschaft am 18.02.1960]“, in: Ders., Gesammelte Werke in drei Bänden (hg. v. Friedhelm Kemp), Göttingen: Wallstein 1997, Bd. III, S. 370–385, hier S. 372. Ebd., S. 376.
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II Symbol der Vereinsamung – Rubinglas bei Georg von der Vring „Auf mich wirken diese Worte wie die düster-schweren und doch prunkvoll in tiefdunklem Glanze strahlenden Rubingläser von Rilkes böhmischer Heimat.“25 Auf ein altes Rubinglas (1954) Wer hat aus dir getrunken Den Abendwein Und ist in Schlaf gesunken Und war allein? Und träumte, weil er wäre So sehr allein, Mit mir ein Glas zu leeren Vom roten Wein? In seiner schönen Röte, Rubinenrein, Erglüht das Glas als böte Es noch den Wein.26
Der schwermütige Habitus dieser, für von der Vring typischen, da aus vierzeiligen Strophen im Kreuzreim bestehenden,27 Verse ist seinem gesamten lyrischen Schaffen zu eigen.28 Das Rubinglas gerät im vorliegenden Dinggedicht zum Sinnbild der Vereinsamung. Die Wortwahl ist schlicht, das jambische Metrum eingängig, der „Sanglichkeit“29 wegen. Auf die Farbgestaltung legt Vring besonderen Wert; insbesondere Rot nimmt eine bedeutungsvolle Position ein.30 In vorliegendem Gedicht korrespondiert die Farbe des „Abendwein[es]“, mit der des Glases, welche wiederum mit der Röte des Rubins einhergeht. Es herrscht eine schwermütige, versonnene Atmosphäre, in der das lyrische Ich sich einem Gedankenspiel hingibt: es überträgt die eigene Melancholie auf einen imaginierten Weintrinker. Dieser träumt wiederum vom lyrischen Ich, das wiederum einem Traum im Tagtraum entstammt. Es projiziert, in seinem Wunsche nach Gesellschaft und Geselligkeit, die eigene Einsamkeit auf den Erträumten, welcher „so sehr allein“ ist, dass er seinerseits vom lyrischen Ich träumt, sich gleich ihm Gesellschaft wünscht. In seinem Traumbild die eigene Einsamkeit reflektierend, ist das lyrische Ich bestrebt, diese in der Imagination zu überwinden. Das
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Walzel, Oskar: Leben, Erleben und Dichten. Ein Versuch, Leipzig: H. Haessel 1912, S. 64. Vring, Georg von der: „Auf ein altes Rubinglas“, in: Ders.: Die Gedichte (hgg. v. Christoph Meckel), Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt, 2. Aufl. 1996, S. 154. Zuerst in: Vring, Georg von der: Kleiner Faden Blau. Gedichte, Hamburg: Claassen 1954, S. 35. Vgl. Aden 1993, S. 60 f. Vgl. ebd., S. 34–37. Ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 67 f.
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Rubinglas, apostrophiertes Du, fungiert als Trigger des Tagtraums, in seiner an Blut gemahnenden Röte die Symbolik der Vergänglichkeit wie auch der Vereinsamung immanierend. Der Dichter übernimmt die romantische Gefäßsymbolik, welche Cornelia Oellig wie folgt erläutert: Im Gegensatz zu den göttlichen Kreis- und Kugelformen der Natur kann das Gefäß allerdings, da irdischer Natur und menschlich hergestellt, nicht vollkommen sein, sondern befindet sich auf der Suche, auf dem Weg zur Vervollkommnung; eine passende Allegorie der romantischen Sehnsucht. In seiner Unvollkommenheit besitzt das Gefäß z. B. eine Öffnung, die zwar verschlossen und verborgen sein kann, durch die aber ein Hinein-und Hinausgehen bzw. ein Übergang, ein Austausch möglich ist. Dieses erlaubt neben dem Füllen und Leeren eines potentiellen Inhaltes eine Vermischung und Durchdringung der ansonsten getrennten Sphären, was ein passendes Bild für den Prozess der romantischen Selbsterkenntnis darstellt, wie das Hinabtauchen ins tiefe Innere, das Erforschen des Unbewussten, den ständigen Sphärenwechsel zwischen Traum und Wirklichkeit […].31
Ebendieser Sphärenwechsel eignet dem vorliegenden Gedicht. Die Evokation des Unvollkommenen korrespondiert mit der Melancholie des lyrischen Ichs, das sich Gesellschaft erträumt und sich „auf d[ie] Suche, auf de[n] Weg zur Vervollkommnung“ begibt, vordringend „ins tiefe Innere, das Erforschen des Unbewussten“ und solchermaßen die Sphäre des Traums um eine weitere Ebene ergänzt. In der mit dem Wein verknüpften Geselligkeit,32 spiegelt sich der Wunsch nach selbiger. Die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches offenbart sich dem lyrischen Ich in der Unvollkommenheit des Gefäßes und führt ihm, indem der Symbolgehalt des Glases (die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis)33 mit der romantischen Gefäßsymbolik verknüpft wird, zugleich die chimärenhafte und vergängliche Natur des Traumbildes vor Augen. Zugleich wird eine Brücke zum Symbolgehalt von Tod und Vergänglichkeit geschlagen,34 da das Rubinglas wie auch der Wein in seiner Röte an Blut gemahnt. Diese Charakteristika von Glas, Traum und Wein kulminieren im Empfinden von Vereinsamung und Weltschmerz. Die vielfältige Semantik des Glases wird durch die Symbolgehalte der herangezogenen Komponenten, denen die Röte des Blutes eigen ist, zu einem suggestiven Gesamtbild verwoben, das die Transzendenz des Traumes und des Glases umfasst und somit den Symbolcharakter desselben, vermittels Ergänzung, zur wehmütigen Metapher des Weltschmerzes ausweitet. Schließlich erfolgt die Rückbesinnung des lyrischen Ichs auf die Realia, den Glanz des Glases, die Absenz des Weines; letzteres verweist, wenn auch auf recht trivialer Ebene, abermals auf den Aspekt der Vergänglichkeit.
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Oellig, Cornelia: „‚Mystische Gefäße als Romantische Sphärenwächter‘: Gefäßsymbolik in Der Goldene Topf von E. T. A. Hoffmann, Univ. Bachelorarbeit, Stockholm 2014, S. 8 (https://www.diva-portal.org/ smash/get/diva2:709698/FULLTEXT01.pdf, zuletzt: 30.04.2022). Vgl. Hörisch, Jochen: „Wein“, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2. Aufl. Stuttgart: Metzler 2012, S. 480 f., hier S. 480. Vgl. Dittrich 2012, S. 155. Vgl. ebd.
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III Personifiziertes Glas – Erich Jansen Die Tochter des Glasbildfabrikanten 35
„Wie’s gelingt, verwandeln deine/ Künste Glas in Edelsteine“
Mit der literarischen Adaption der Glasmalerei wird Glas nicht einfach Bedeutungsträger, sondern auch Medium einer visuellen Kunstform, die sprachliche Bearbeitung erfährt: Das Glasmotiv eröffnet in der Literatur einen Imaginationsraum, der als Schnittstelle zwischen verschiedenen Medien fungiert. Am Beispiel von Glas lässt sich demonstrieren, dass ein von der Literatur aufgegriffenes Material nicht fugenlos in ihre Formen und Regeln eingepasst werden kann. Das Material Glas selbst wird zur literarischen Produktivkraft und zugleich zu einem Bedeutungsträger.36
Die literarische Diskursivität von Bildern wurde seit dem späten 19. Jahrhundert durch das Aufkommen von Illustrierten und Familienblättern, in welchen ein enges Zusammenspiel von Druckgraphik und Sprachbild massenmedial möglich war, rezeptionsästhetisch verstärkt.37 Auch Jansen knüpft in seiner Lyrik an die intensivierten Wahrnehmungsmuster von Bild und Text an. Seine Lyrik, von ihm selbst als „Musikbildchen“38 bezeichnet, entzieht sich konsequent gängigen stilistischen Kategorien; märchenhafte Phantastik geht mit Realismus einher, Exotik mit Regionalismus: „Die Gedichte genügen trotz der […] Naivität der Bilderwelt keineswegs den Bedingungen der Heimatkunst. Denn die geographisch erkennbare Provinz ist nur Ausgangspunkt einer imaginären Landschaft […].“39 Tatsächlich sind Jansens Gedichte sowohl im westfälischen Linnich als auch in Russland, in Norwegen oder in kolonialen Regionen angesiedelt, in „poetische[n] Provinzen, die er detailversessen mit Fakten (über Landleben, Kleidung und Biographien von etwa Annette von Droste-Hülshoff, Sergej Jessenin) und Kenntnissen über Farben und Pflanzen vollgepfropft hat.“40 Entsprechend „treten in Jansens Dichtungen optische, akustische und olfaktorische Wahrnehmungen, oft synästhetisch, in Erscheinung, die den Wirklichkeitsprojektionen einen spürbaren Zauber verleihen.“41 Dies gilt auch für das vorliegende Gedicht.
35 36 37
38 39 40 41
Ringelnatz, Joachim: „An einen Glasmaler“. in: Ders., Flugzeuggedanken, Berlin: Rowohlt 1929, S. 83. Innerhofer 2007, S. 155 f. Vgl. Podewski, Madleen: „Mediengesteuerte Wandlungsprozesse. Zum Verhältnis zwischen Text und Bild in illustrierten Zeitschriften der Jahrhundertmitte“, in: Katja Mellmann, Jesko Reilling (Hg.), Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885, Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 61–79, hier S. 61 f. Zit. nach: Vollmer, Hartmut: „Nachwort“, in: Jansen, Erich: Erich Jansen Lesebuch, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 121–138, hier S. 134. Berendse, Gerrit-Jan: „Worträume. Regionalismus bei Erich Jansen und Ernst Meister“, in: Theo Buck (Hg.), Erstes Ernst-Meister-Kolloquium 1991, Aachen: Rimbaud 1993, S. 213–226, hier S. 218. Ebd. Vollmer 2008, S. 125 f.
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Glasgedichte – Kontinuitäten eines Motivs vor und nach 1945
Die Tochter des Glasbild-Fabrikanten (1963) Immer in der Nacht, wenn sie in weißer Seide über das mondne Katzenkopfpflaster des Innenhofs schreitet und alle Uhren im Hause verstummen, ziehen dreißig Künstler ihre schwarzen Tellerhüte und malen ihr Bild in die Madonnen ihrer Glasfenster; breitwangig, mit dem Duft hellweißer [Semmel] Oblaten die Augen aber, in Malvenwasser gebadet, innen ganz blau [wie die Adriaküste,] und die Arme malen sie rund, [alabastern], französisch kalt, wie auch die Nächte sind, wenn sie im weißen Kleid den Innenhof durchschreitet und zurückschaut, […] Sie sieht nicht, wie am [alten] [Eukalyptusbaum] Apfelbaum das violette Blut herabläuft[,] [die Abendsonne aus dem Traum der Männer steigt und ihren weißen Schuh vergoldet].42
In diesem Gedicht nimmt die indirekte Glaspoetisierung breiten Raum ein, was in der Forschung bisher kaum reflektiert wurde. So interpretiert Albert Klein die Darstellung der Tochter als Adaption des Motivs der „kalten Schönen“43, ohne indes auf Überschneidungen und Darstellungskorrespondenzen zwischen Glasbild und Titelfigur einzugehen. Die Auseinandersetzung mit den im Text eröffneten symbolischen Ebenen des Materials führt hier jedoch weiter. Nach Dittrich ist Glas ein „Symbol der Reinheit, Echtheit und Tugendhaftigkeit, der göttl. Offenbarung und Transzendenz, der Begrenztheit menschl. Erkenntnis sowie der Vergänglichkeit, des Scheins und des Todes.“44 Gerade der Aspekt der Reinheit muss vor dem Hintergrund des weißen Gewandes der Tochter, besonders aber aufgrund deren Identifikation 42
43
44
Die Wiedergabe folgt der textkritischen Edition des Gedichtes in: Breuer, Dieter/Gödden, Walter/Kiefer, Reinhard (Hg.), Die Welt kennt keine Poesie. Erich Jansen 1897–1968, Aachen: Rimbaud 1997, S. 66. Klein, Albert: „‚Aus den Briefen eines Königs‘. Das ‚liber mirabilis‘ des Erich Jansen“, in: Gerhard Rademacher (Hg.), Becker, Bender, Böll und andere. Nordrhein-westfälische Literaturgeschichte für den Unterricht, Essen: Neue Deutsche Schule 1980, S. 41–51, hier S. 44. Dittrich 2012, S. 154.
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mit der Gottesmutter („Madonnen ihrer Glasfenster“), hervorgehoben werden. Die religiöse Überhöhung der Tochter durch die Glasmaler wird im rein olfaktorisch beschriebenen Vorgang des Malens („Duft“) fortgeführt; ward dieser ursprünglich herkömmlichen „Semmeln“ zugeschrieben, hat der Autor letztere in der Endfassung durch religiöse „Oblaten“ ersetzt. Ferner ist die Tochter in „weiße Seide“ gekleidet, welche mit ihrer, Reinheit und Keuschheit symbolisierenden, Weiße die mariengleiche Darstellung vervollkommnet, denn Glas stand in der „geistl. Dichtung des Hochmittelalters […] für die unbefleckte Empfängnis Mariens.“45 Doch kann es auch die weibliche Schönheit und (damit verbundene) Erotik symbolisieren.46 Jansens Versen ist wiederholt erotische Evokation attestiert worden.47 Diese entspringe dem „szenischen Arrangement“48 seiner Dichtung: „Figuren und Objekte […] berühren sich nicht, sondern pochen auf ihre Eigenständigkeit.“49 Die bewusst statuarische Inszenierung der Jansenschen Bilderwelten und ihrer Figuren erzeugt, ähnlich einem Tableau vivant, eine Atmosphäre des Irrealen. Obgleich sich der Mensch darin oftmals wie eine barocke Staffagefigur ausnimmt, ist er poetisch aufgeladener Symbolträger. Der Dichter vereint hier zweierlei Symbolgehalte des Glases, verknüpft das Erotische mit dem Keuschen und verortet die Tochter zwischen lasziver Femme fatale und mariengleicher Femme fragile, welche ebenso zerbrechlich wie das Glas selbst erscheint. Gemäß der „Begrenztheit und Perspektivenabhängigkeit menschlichen Erkennens“50, bleibt das dräuende „violette Blut“ von ihr unbemerkt, mit welchem der Dichter sein Motiv bis zur Todes- und Vanitassymbolik ausgestaltet. Jansens Text geht somit über bloße Materialbeschreibung hinaus; im Akt des Glasmalens wird die Fabrikantentochter zum Symbolträger, gleichsam zu personifiziertem Glas. Der Verarbeitungsprozess erzeugt solchermaßen einen neuen poetischen Imaginationsraum, in welchem das Glasbild die Schnittstelle zwischen Realität und Phantasie bildet.
IV Göttliches Wirken – Peter Gans Preislied auf einen Glasbläser 51
„Wohl auch ein Glasermeister hat/ Den blauen Himmel blitzend aufgebaut“
Peter Gan geht in der Verbindung von Bild, Material und Text einen Schritt weiter als Jansen und nutzt hierfür u. a. eine andere Technik der Glaskunst. Wie Arthur Haberlandt nachweist, ist das „Visionäre seiner [des Glases; d. V.] Erscheinung […] der Anlaß für die Vorstellung 45 46 47
48 49 50 51
Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Gödden, Walter: „Das Doppelleben des Apothekers Erich Jansen“, in: Ders.: Vis a vis. Westfälische Autorinnen und Autoren in Porträts, Oelde-Stromberg: Literaturmuseum Haus Nottbeck 2008, S. 94– 97, hier S. 96.; vgl. auch: Berendse 1993, S. 220. Gödden 2008, S. 95. Berendse 1993, S. 219 f. Dittrich 2012, S. 154 f. Britting, Georg: „Gläserner März“, in: Ders.: Der irdische Tag, Höhenmoos: Georg-Britting-Stiftung 2008 (Sämtliche Werke in XXIII Bdn., hg. v. Ingeborg Schuldt-Britting, Bd. I), S. 21.
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einer gläsernen Überwelt.“52 In Peter Gans Preislied auf einen Glasbläser wird selbiger, mit seinem Lebensatem gläserne Herrlichkeit erschaffend, zum „Schöpfer […] / dieser diaphanen Wunderwelt“: Preislied auf einen Glasbläser (1935) Sieh ihm zu, dem Schöpfer und Verweser dieser diaphanen Wunderwelt! Seinen Lebensatem bläst der Bläser zart in die Zerbrechlichkeit der Gläser, die er drehend in die Flamme hält. In der Feuertaufenglut des Gases läutert er die stumme Werdepein eines schlanken Venezianer Glases, vorbestimmt dereinst in der Oasis der Vitrine nichts als dazusein. Eine weiße unter bunten Röhren wählt er dann und füllt sie mit Figur. Sieh, da tritt aus dunkelhohen Föhren, Sankt Huberti Mordlust zu betören, kreuzgeschmückt ein Glashirsch auf die Flur. Und nun flicht er in der Dinge Reigen einer Blume fromme Existenz, ihres Kelches goldgefülltes Neigen; und er bläst in sie das ganze Schweigen Gottes und der Erde ganzen Lenz. Papageien sträuben ihrer Schöpfe Regenbogenfarbenfeuerpracht; Fabelfische rudern stumm die Kröpfe ihrer fassungslos erstaunten Köpfe durch der Tiefsee purpurstille Nacht. Keinem Ding ist dazusein verboten, jedes lebt im gläsernen Komplott: zu der Tanzmaus mit den kleinen Pfoten, wie um seine Allmacht auszuloten, bläst der Meister itzt den Behemot. In olympisch seligen Bezirken wandelt dann sein Traum auf Wolkenspur. Er entschließt sich einen Gott zu wirken: schön und schlank wie abendliche Birken bildet er den ruhenden Merkur.
52
Haberlandt, Arthur: „Glas“, in: Hanns Bächtold-Stäubli, Eduard Hoffmann-Krayer (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. III, Berlin, Leipzig: De Gruyter 1930/1931, Sp. 855 f., hier Sp. 856.
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Und er bläst (fast frevles Unterwinden) donnersinnend die Melancholie, das gelassen-ewige Befinden des erhabenen homerisch blinden Götterhauptes von Otricoli. Und nun ruht er aus; mit roher Schnelle drängt das Volk sich zu den Türen hin. Nur ein Knäblein zögert auf der Schwelle. Liegt ihm wohl die zierliche Gazelle, liegt die Glockenblume ihm im Sinn?“53
Der Dichter knüpft in diesen Versen an die platonische Kunstauffassung der Renaissance an: Leon Battista Alberti schätzte den Glasmacher als Schöpfer des visio Dei und „bevorzugt[e] nach platonischem Muster die Künste für solche Zwecke: den Glasbläser für die Beseelung des Leibes, den Goldschmied für seine gediegene Bildung, den höchsten Architekten für den Bau der Kirche.“54 Doch anders als in der platonischen Auslegung, leistet Gans Glasbläser mit seinem Wirken keinen Dienst am Herrn, sondern kreiert sein eigenes Visio Dei „bzw. visio beatifica (selig machende Schau) als Inbegriff des den Erlösten beschiedenen ewigen frui Deo (Gottesgenuß).“55 Er wird, gemäß der Gattung des Preisliedes, verherrlicht und sein Wirken in göttlichen Kontext gestellt. Rychner attestiert Gan, der in seinem poetologischen Selbstverständnis tief im 18. Jahrhundert verwurzelt sei,56 einen Hang zur „Vergöttlichung der Sprache aus dem theologisch noch festgebliebenen Bewußtsein, daß die Weltschöpfung aus dem Wort geschehen war.“57 Der schöpferische Akt des Dichtens findet im Glasbläser seine handwerkliche Entsprechung. Das kunstvoll geblasene Glas aber wird vom Dichter, welcher bisweilen der Sprachmystik zuneigt,58 als märchenhafte Wunderwelt beschrieben und so in einen mystischen Kontext gerückt. Betrachten wir zunächst die Darstellung und Charakterisierung des Glasbläsers: der Text preist ihn als gottgleich („Schöpfer“) und glorifiziert sein Werk („Wunderwelt“). Dass der Glasbläser „seinen Lebensatem […] zart in die Zerbrechlichkeit der Gläser“ bläst, betont die Hingabe an seine Kunst, was besonders im Wort „zart“ zum Ausdruck kommt, das
53 54 55
56 57 58
Gan, Peter: „Preislied auf einen Glasbläser“, in: Ders.: Gesammelte Werke in drei Bänden (hgg. von Friedhelm Kemp), Göttingen: Wallstein 1997, Bd. I, S. 23 f. Borinski, Karl: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Bd. I: Mittelalter, Renaissance, Barock, Leipzig: Dieterich 1914, S. 152. Oberdorfer, Bernd: „Visio dei“, in: Hans Dieter Betz (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. VIII, Tübingen: J. C. B. Mohr 2005, Sp. 1125 f. hier Sp. 1125. Vgl. Rychner, Max: „Peter Gan“, in: Werner Kayser, Peter Gan, Hamburg: Christians 1972, S. 7–16, hier S. 12. Ebd. Vgl. ebd.
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semantisch wie alliterativ mit der „Zerbrechlichkeit der Gläser“ korrespondiert. Auf die Figur werden so zentrale Charakteristika (Zartheit und Empfindlichkeit) von Glas übertragen. Durch die von ihm vorgenommene Läuterung des Materials wird der Glasbläser überhöht. Zudem erfährt das fertige Objekt durch die Adjektive „kreuzgeschmückt“ und „fromm“ eine Kennzeichnung für den sakralen Gebrauch. Der Bezug zum Göttlichen wird in der Entscheidung des Glasbläsers, „einen Gott zu wirken“ noch eine Ebene weitergeschrieben, indem er als Weltenbauer inszeniert wird und dem von ihm kreierten Gott – als dessen Schöpfer – gar übergeordnet ist. Obgleich sein Tun als „fast [aber eben nur fast; d. V.] frevles Unterwinden“ klassifiziert wird, verfüge er de facto über göttliche, gar übergöttliche Allmacht. Auch das geblasene Objekt erfährt lyrische Überhöhung: emotive Verlebendigung („Werdepein“) geht mit mythenhafter Stilisierung der „diaphanen Wunderwelt“ einher: Die Kombination eines Archaismus („itzt“) mit mythologischen Gestalten und Szenerien (Behemot, die Heiligenlegende um Hubertus von Lüttich, Merkur, der Zeus von Otricoli), verleiht dem Ganzen eine traditionsreiche, altertümlich-antike Atmosphäre. Die sagenhafte Ikonographie wird um phantastische Fabelfische und exotische Papageien ergänzt, deren Gefieder durch die Komposition „Regenbogenfarbenfeuerpracht“ barockisierend veranschaulicht wird. Primär ist Gans Preislied ein Zeugnis jener „märchenhafte[n] Transzendenz“ 59, in welcher, durch gläserne Welten, die „Unwirklichkeit einer entrückten Szenerie“60 erzeugt wird. Diese Tradition wird vom Dichter mit religiösem Symbolgehalt kombiniert, das Märchenhafte um Sakrales ergänzt. War die Glasmalerei bei Jansen die Basis der Glaspoetisierung, so ist bei Gan die prunkvoll-entrückte Ästhetik des gläsernen Zierrats die Legitimation für die Evokation des Göttlichen und somit für die Verklärung des Glasbläsers.
V Resümee Innerhofer begreift Glas dezidiert als Motiv, welches „das Phantasma der Reinheit und der Wiederherstellung von Totalität, in seiner Zerbrechlichkeit die fragmentierenden, sinnauflösenden Kräfte der Moderne“61 symbolisiere. Georg von der Vring („Ein gutes Gedicht kann man auswendig lernen. Die moderne Lyrik kann man nicht auswendig lernen. Ein gutes Gedicht ist übersichtlich gebaut, mit einem Blick zu erfassen, in einem Tonfall zu lesen.“62), Erich Jansen („Die heutigen Menschen sind ja ohne Gemüt u. ihre Sprache hat keine Luft mehr, sie gleicht einem durchlöcherten Sieb. […] Die Lyrik in Deutschland ist total
59 60 61 62
Dittrich 2012, S. 154. Ebd. Innerhofer 2007, S. 156. Zit. nach: Meckel 1996, S. 505.
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auf den Hund gekommen.“63) und Peter Gan („Mein Verhältnis zur Gegenwart ist […] durch eine prekäre Vorliebe fürs Vergangene anscheinend ein wenig getrübt und belastet: was ich ohne Einschränkung als einen konstitutionellen Fehler, vielleicht des ganzen ‚genus irritabile vatum‘ einzuräumen habe.“64) haben mit den, von Innerhofer betrachteten, Autoren (Musil, Kafka und Scheerbart) denkbar wenig gemein. Als Vertreter einer allenfalls modernen Klassik sind sie tief in der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts verwurzelt. Jansens „Verfahren der lyrischen ‚Konservierung‘ von ‚Vergangenheitsreminiszenzen‘ bedarf einer ungebrochenen Sprach- und Seinsgewißheit, die gerade für die Literatur der Moderne […] nicht mehr vorausgesetzt werden kann.“65 Dieser klassische, un- bis antimoderne Habitus ist auch Georg von der Vring zu eigen: „Zurückschreckend vor der modernen Welt, die das faschistische Inferno heraufgebracht hatte, u. gänzlich abgewandt von einer sich zeitkritisch gebenden neueren Literatur, kehrte er zur klassisch-romantischen Liedtradition zurück.“66 Die Erweiterung des etablierten Symbolgehaltes um die Charakteristika des Weines und des Blutes (die sich in der Farbe des Rubinglases spiegeln) trägt zur schwermütigen Grundstimmung des Gedichtes bei und macht das Glas zur Basis gedanklicher und seelischer Projektionen. Von der Vring gelingt in der Synthese der symbolischen Topoi des Glases die Evokation einer, demselben bisher fremden, seelenkundlichen Komponente; indem er die Erweiterung der Transzendenz um die Ebene der Psychologie vollzieht, eröffnet er dem Glase einen neuen literarischen Raum. Erich Jansen verknüpft in Die Tochter des Glasbild-Fabrikanten die mariengleiche Darstellung der Tochter mit der Glassymbolik: er kombiniert das erotische mit dem keuschen Moment (wie es erstmals bei Gottfried von Straßburg in der ‚cristallinen minne‘ des Tristan erfolgte).67 Das Gedicht immaniert die Divergenz zwischen Keuschheit und Erotik und stellt sie der Zerbrechlichkeit von Glas und Femme fragile gegenüber. Zugleich erfolgt die Überwindung fester Grenzen, in deren Vollzug die Symbolgehalte neu konfiguriert werden und den klassischen poetischen Topoi von Glas, durch freie Kombination und Variation, neuer Raum erschlossen wird. Das Werk Peter Gans sei, aufgrund seiner Verwurzelung in klassischen und romantischen Sphären, einerseits „entschieden […] unmodern […]“68, zum anderen jedoch gerade deshalb „in der bewußt ‚plagiierenden‘ Einflechtung berühmter Verse und Wendungen in den eigenen Text sowie überhaupt in der hohen Reflektiertheit seines Schaffens von unverkennbarer Modernität.“69 Der Dichter selbst führt aus: „Es schmeichelt mir, die erhabenen 63 64 65 66 67 68
69
Jansen, Erich: „Brief an Hans Bender vom 13.Dezember 1965“, in: Breuer, Gödden, Kiefer, Die Welt kennt keine Poesie, S. 151 f., hier S. 151. Gan, Gedichte und Kommentare, S. 378. Houben 1992/1993, S. 102. Zimmermann 2011, S. 35. Vgl. Dittrich 2012, S. 154. Pfeiffer, Johannes: „Zwischen Dichten und Denken: Über Peter Gan“, in: Ders., Die dichterische Wirklichkeit: Versuche über Wesen und Wahrheit der Dichtung, Hamburg: Meiner 1962, S. 23–29, hier S. 28. Ebd.
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Glasgedichte – Kontinuitäten eines Motivs vor und nach 1945
Einfälle des Konzertmeisters in versteckterer Tonlage wiederholen und ein wenig abwandeln zu dürfen…“70 In dieser Devise liegt ein entscheidendes Charakteristikum des Preislied[es] auf einen Glasbläser: Gan greift darin die „märchenhafte Transzendenz“ auf und überträgt diese auf den Glasbläser, indem er selbigem sakrales Weihtum anheimstellt, das er mit mythologischer Überlieferung illustriert. Nicht einzig die Anthropomorphisierung des Handwerksgegenstandes, sondern auch die Verklärung des Schaffenden selbst stellt eine Weiterentwicklung bewusster Transzendenz dar. Das Glas steht literarisch im Spannungsfeld von Fazilität und Laszivität, von Traum und Tod, der Glasbläser zwischen Dämonie und numinoser Göttlichkeit.
70
Zit. nach: Kemp 1997, S. 475.
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Von Fenstern, Spiegeln und globalen Utopien
Glas oder im übertragenen Sinne Fenster, aber auch Spiegel, sind gängige Motive sowohl im literarischen Bereich als auch einer übergeordneten globalen Kultur. Sie stehen in konstanter Wechselwirkung mit der öffentlichen Rezeption und verfestigen sich immer wieder zu neuen Denkbildern, Metaphern und Ideen. Je nach Epoche wird Glas sinnbildlich für Transparenz, einem eher positiv besetzten Begriff verwendet, andererseits kann es durchaus negative Konnotationen beinhalten. Im kulturellen Gedächtnis sind Begriffe wie Fensterstürze als Auslöser für Konflikte und Kriege oder der Begriff der gläsernen Decke nicht wegzudenken. Dennoch wird hier der Fokus auf das positive Potenzial gelegt, damit der Begriff als Signalgeber und Wegweiser für die Möglichkeiten einer global vernetzten Gesellschaft fruchtbar gemacht werden kann. Hierzu bietet es sich an, exemplarisch zu untersuchen, mit welchem Effekt mit Glas umgegangen wird. Der Radius der Materie wird an dieser Stelle vom weiten Begriffsfeld Glas auf die Begriffe Fenster und Spiegel als Vergleichsgröße eingegrenzt. Grenze ist dabei ein guter Hinweis, denn es besteht die Frage, ob Glas aufgrund seiner transparenten Eigenschaft als Symbol für Durchlässigkeit, Offenheit und Verständigung gebraucht wird oder als materielle Barriere verstanden wird. Als erste Referenz dient die Betrachtung der Darstellung Caspar David Friedrichs in seinem Atelier von Georg Friedrich Kersting aus dem Jahr 1811 (Abb. 1). An dem Gemälde ist auffällig, dass das geschlossene Fenster lediglich als Lichtquelle dient, die den Künstler und seine Leinwand erhellt. Dies ist insofern bemerkenswert, da Caspar David Friedrich für seine Naturdarstellungen bekannt ist, in denen Menschen im Freien beim Betrachten ihrer Umwelt gezeigt werden. Der hermetische Raum, dessen Tür ebenfalls geschlossen ist und abseits des Fensters ins Dunkle abdriftet, steht dazu im Kontrast. Die Wechselwirkung zwischen Natur und Künstler*in, bzw. Dichter*in, zwischen Arbeitsraum und Inspirationsquelle wird über ein Jahrhundert später von Peter Handke in seinem Werk Nachmittag eines Dichters verarbeitet. Handke beschreibt einen gehemmten Dichter, der die Türen seines Hauses wie durch einen Zwang öffnet, um Inspiration von seiner Umwelt zu erhalten. Glas ist hier als Hindernis zu sehen, der Wirkort des Schriftstellers ein heterotoper Raum zwischen Neurosen und horror vacui. Jedoch ist die Sicht des namenlosen Protagonisten derart überfrachtet durch seine Arbeit und seine Neurosen, dass ein fruchtbarer, kreativer Schreibprozess ausbleibt. Demonstrativ stapeln sich deshalb „die Bücher […] auf dem Fußboden
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1 Georg Friedrich Kersting: Caspar David Friedrich in seinem Atelier, 1811.
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Von Fenstern, Spiegeln und globalen Utopien
oder auf den Fensterbänken.“1 Interpretierte Umwelt überlagert symbolisch die scheinbare Realität. Beinahe ironisch wirken deshalb Formulierungen, wie: „Eine Fliege im Raum störte ihn jedenfalls mehr als selbst eine Dampframme im Freien.“2 Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieb Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz die Wohnung des Protagonisten Franz Biberkopf als eine Höhle oder einen Bau, welcher nach außen durch Türen und geschlossene Fenster abgegrenzt ist. Mehr als deutlich wird der Prozess der Öffnung und Schließung anhand des Fensters gezeigt. Während Biberkopf am offenen Fenster steht und die Straßen Berlins auf sich wirken lässt, steht er doch in einem negativen Verhältnis zu seiner Außenwelt. Glas und im Speziellen Fenster scheinen sich von einer romantischen lichtdurchlässigen Interpretation hin zu einem Verständnis widerwilligen Aufnehmens von Außeneindrücken entwickelt zu haben. Franzens Fenster steht offen, passieren auch spaßige Dinge in der Welt […] In den Februar hinein säuft Franz Biberkopf in seinem Widerwillen gegen die Welt, in seinem Verdruß. […] Er sieht runter in seinem Tran, macht das Fenster auf, schreit über den Hof […]. Franz ist im Begriff, die Fenster aufzureißen und den Holzklotz runterzuschmeißen […].“3
Der Protagonist muss im Laufe des Romans erst symbolisch wiedergeboren werden, um mit seiner Umwelt im Einklang zu sein (mit Blick auf die neun Kapitel des Buches auch ein Symbol für die Entwicklung eines Kindes). Glas ist ein modernes Baumaterial, das gerade wegen seiner transparenten Eigenschaft zur architektonischen Konzeption öffentlicher und privater Gebäude verwendet wird. Der Diskurs der gläsernen Decke lässt hier jedoch den Beigeschmack von Scheintransparenz entstehen. Es stellt sich die Frage, ob durch die Digitalisierung, Globalisierung und die Vernetzung durch das Internet andere Fenster, digitale Glasgebäude erschaffen werden, die, fernab aller romantischen Vorstellungen, den positiven Gedanken hinter dem Glas vermitteln. Und tatsächlich werden im allgemeinen Sprachgebrauch glasverwandte Begriffe gebraucht, um Bereiche der digitalen Informationsvermittlung zu benennen. Das erfolgreichste Betriebssystem der Firma Microsoft, Windows, macht sich das evozierte transparente Glasbild zunutze, um bewusste und unterbewusste Assoziationen positiv herbeizuführen. Moderne Datenvermittlung erfolgt über Glasfaserkabel. Werden innerhalb eines Browsers Webseiten geöffnet, wird von Fenstern gesprochen. Fenster, die, zumindest digital, potenzielle Einblicke, Meinungen und Zahlen global kommunizieren können. Eine so gewonnene Kommunikation dient auf einer Makro-Ebene dem gemeinsamen Besprechen, Verstehen sowie der Lösung von Problemen, die von der einzelnen Person abstrahiert sind und somit empathiefördernd sein können. Dass mit diesen neu gewonnenen Kommunikationsmitteln so etwas wie ein Paradigmenwechsel einhergeht, zeigt sich bereits im 1995 erschienenen Anime-Film Ghost in the
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Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers, Salzburg/Wien: Residenz 1987, S. 12. Ebd., S. 13. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Freiburg im Breisgau: Olten 1977, S. 129.
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2 Spiegelmetaphorik und Identitätsspaltung, Oshii, Mamuro: Ghost in the Shell, 1995.
Shell, der nicht nur ein mögliches Zukunftsszenario mit weit fortgeschrittener prosthetischer Technik sowie einer starken Vernetzung behandelt, sondern sich mit diesen anhand von Glas-, Fenster- und Spiegel-Metaphern auseinandersetzt. Seine Thematik ist gerade deshalb aktuell, scheint es doch so als würden die im Film zwischen Dystopie und Utopie changierenden technischen Mittel nach und nach Einzug in die gegenwärtige Lebensrealität erhalten. Aus der Perspektive der Protagonistin Motoko Kusanagi stellt der Regisseur Mamuro Oshii die Frage nach Identität in einer Welt, die Körper austauschbar macht und Geister (Ghosts) – zu verstehen als ein Bewusstsein oder Seele –, massiv beeinflussbar und manipulierbar sind (Abb. 2). In der Mitte des Films reflektiert Oshii visuell über die Dialektik zwischen Menschen und Maschinen. Über eine mehrere Minuten laufende Sequenz wird die Stadt New Port City in ihren zahlreichen Facetten gezeigt. Die Protagonistin spiegelt sich in Fensterscheiben, Flüssen sowie dem herunterprasselnden Regen. Die „city overflowing with information“4 ist das Bild einer hochtechnisierten, aber auch verwirrenden, heterotopen Welt, in der sich das Individuum zurechtfinden muss. Gerade deshalb wird Motoko Kusanagi zuvor tauchend gezeigt, ein Hobby, dass von ihrem Arbeitskollegen belächelt wird, da sie riskiert zu versinken. In der Szene finden sich mehrere Verweise auf Glas und Spiegel. Die Protagonistin spiegelt sich z. B. beim Auftauchen in der Wasseroberfläche, womit auf ihre Identitätssuche und Spaltung Bezug genommen wird. Ihr Monolog wird von der scheinbar antagonistischen künstlichen Intelligenz des Puppet Masters unterbrochen, der mit ihrer Stimme spricht: „We are alike, you and I. Like 4
Shindo, Takumi: Ghost in the Shell Readme 1995 -> 2017, New York 2017, S. 21.
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Von Fenstern, Spiegeln und globalen Utopien
reality and fantasy, facing one another through a mirror.“5 Die Aussage beinhaltet die Kernproblematik, aber auch das Potenzial der Symbiose von Mensch und Technik. Glas ist das symbolträchtige Material, das durchblickt werden muss, um eine neue Form von Identität zu erschaffen. Die Dialektik zwischen positiver Technikentwicklung sowie deren Schattenseiten wird im offiziellen Handbuch zur Filmreihe zwar trivial aber doch treffend beschrieben: „The year is 2029. People have become so cyberized that their brains can connect directly to the network, and cyborg technology is ubiquitous. This leads to new forms of crime – and new forms of life.”6 (S. 129) Besonders der letzte Aspekt deutet einen evolutionären Gedanken an, der im Film bildlich durch die Darstellung eines Stammbaums der Arten verdeutlicht wird. Dass dieser in der Folge durch ein hochtechnisiertes militärisches Gerät zerschossen wird, nach und nach bis zum menschlichen Zweig, zeigt, dass über die menschliche Zukunft anders reflektiert werden muss, wenn sich Mensch und Maschine, menschlicher Geist und künstliche Intelligenz miteinander verschmelzen. Es entsteht eine neue Form von Leben. Aus dem passiven Blicken aus oder durch ein Fenster wird das aktive Eintauchen und Verschmelzen mit Gedanken und Bildern einer das Individuum weit überschreitenden Welt. Aus diesem Grund vereint die Protagonistin des Films ihren Geist mit einer künstlichen Intelligenz, die scheinbar zur Singularität geworden ist und erlangt ein globales Bewusstsein. Metaphorisch blickt sie dadurch nicht mehr in einen Spiegel, sondern durchschreitet ihn oder wird sich selbst bewusst über ihren eigenen Geist. The merging of Motoko and the AI program Puppet Master at the end of the film could be called a marriage of a human and a computer. The film’s themes and images ask just how close humans and AI can come to each other – or in other words, wether life can emerge from a sea of information.7
Zwar gibt der Film keine klare Antwort auf diese Frage, allerdings erscheint sein Ende durchaus eine positive Zukunftsvision anzubieten. Motoko Kusanagi wird symbolisch nach der Zerstörung ihres Cyborgkörpers in die materielle Hülle mit dem Aussehen eines Kindes transferiert und wiedergeboren. Damit erinnert der Film an den Gedanken Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra: Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene. Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele ward, und zum Löwen das Kameel, und der Löwe zuletzt zum Kinde.8
Durch die symbolische Verwandlung zum Kind deutet der Film die neu-gewonnenen Möglichkeiten an, kreativ mit der Welt zu interagieren, impliziert hingegen auch die Irrelevanz der Körperlichkeit bei einer Symbiose von Geist und künstlicher Intelligenz. Da die 5 6 7 8
Ebd., S. 36. Ebd., S. 22. Ebd., S. 21. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/Za-I-Verwandlungen, zuletzt: 30.04.2022.
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3 Der zerschossene Stammbaum der Arten, Oshii, Mamuro: Ghost in the Shell, 1995.
Protagonistin nun über ein scheinbar universales Bewusstsein verfügt, kann sie sich frei in den Weiten des digitalen Netzes bewegen und besitzt Zugriff auf sämtliche Informationen. Und auch darin erinnert der Film an Nietzsche, denn bei dem Philosophen ist es ein Kind, das Zarathustra einen Spiegel vorhält: „Was erschrak ich doch so in meinem Träume, dass ich aufwachte? Trat nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug?“ „Oh Zarathustra – sprach das Kind zu mir – schaue Dich an im Spiegel!“ Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht mich sahe ich darin, sondern eines Teufels Fratze und Hohnlachen.9
Über dieses Erweckungserlebnis wächst Motoko Kusanagi hinaus (Abb. 3). 9
Ebd., http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/Za-II, zuletzt: 30.4.2022.
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Von Fenstern, Spiegeln und globalen Utopien
Mit Blick auf gegenwärtige globale Protestbewegungen gegen Ungerechtigkeiten, Freiheitseinschränkungen und Diskriminierungen einzelner Bevölkerungsgruppen treten diese Vorstellungen aus dem Rahmen der Fiktion und sie zeigen, welche Möglichkeiten die Digitalisierung bietet. Während social media einerseits als Ausdrucksform der Selbstdarstellung und des Narzissmus gesehen wird, verdeutlichen die Black Lives Matter-Bewegung oder die Proteste in Hong Kong, dass Fenster zu Welten geöffnet werden, die lange verschlossen, verschwiegen oder zensiert wurden. Gerade deshalb ist es wichtig, mithilfe des Denkanstoßes ‚Glas‘ über das Potenzial der Digitalisierung und Globalisierung sowie dem damit einhergehenden Fluss an Informationen zu reflektieren und über Glasfaserkabel einen Teil zu einer positiven interkonnektiven Zukunft beizutragen.
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Scherbenbilder II, 2021/22 Anna Westphal
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Jeannine Harder
Glas – fantastisches Material der polnischen Unabhängigkeit Zu den philosophischen, soziologischen und künstlerischen Ver knüpfungen der gläsernen Häuser in Stefan Żeromskis Vorfrühling
Gläserne Häuser stehen im Polnischen sprichwörtlich für Utopien und nicht erfüllbare Träume. Diese metaphorische Verbindung von Glas und Idealismus geht auf den 1924 erschienenen Roman Vorfrühling [Orig.-Tit.: Przedwiośnie] zurück. Das letzte Werk Stefan Żeromskis ist ein Klassiker der polnischen Prosa des 20. Jahrhunderts. Die gläsernen Häuser [Szklane domy]1– namensgebend für den ersten Teil des Romans – sind die Vision einer gerechten, durch Reformen erneuerten Gesellschaft, ein Idealbild des 1918 wiedergegründeten polnischen Staats. „Das Glas spielt die Hauptrolle“ bekommt die Romanhauptfigur Cezary Baryka, ein polnischstämmiger Jugendlicher, der im von Russland regierten Aserbaidschan aufwächst, von seinem Vater Seweryn als Quintessenz aus dessen Schilderungen zur neuen polnischen Gesellschaft erklärt.2 Tatsächlich lässt Żeromski in Seweryns Beschreibungen eine ganze Reihe von soziologischen, lebens- und gesellschaftsreformerischen Ideen zusammentreffen, die sich auf ideale Weise in den gläsernen Bauten materialisieren. In diesem Beitrag möchte ich die Einbindung verschiedener im damaligen Polen zirkulierender sozialreformerischer und sozial-philosophischer Denkrichtungen in Vorfrühling aufzeigen, so z. B. die Gartenstadtbewegung nach Ebenezer Howard, die Anthroposophie Rudolf Steiners, den staatenlosen Sozialismus Edward Abramowskis und den Gesellschaftsorganismus nach Herbert Spencer. Zentral für meine Analyse des Romanteils Gläserne Häuser ist dabei die Betrachtung von Körper-Konzepten auf individueller und gesellschaftlicher Ebene und ihre Verbindungen zum Material Glas.
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Die deutschsprachigen Literaturzitate entstammen der Literaturübersetzung von Żeromski, Stefan: Vorfrühling (= Polnische Bibliothek), Frankfurt am Main: Suhrkamp 21994. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 86. „Szkło tam gra główną rolę.“ Żeromski, Stefan: Przedwiośnie [Vorfrühling], Kraków: Wydawnictwo Greg 2007, S. 52.
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Beobachtungen zum oftmals spannungsgeladenen Verhältnis von individuellem Erleben und gesellschaftlichen Anforderungen prägen bereits den dem ersten Teil vorgeordneten Auftakt des Romans Genealogie [Genealogia], der die familiären Hintergründe des Protagonisten Cezary Barykas erläutert. Gleiches gilt für den Beginn von Die Gläsernen Häuser, der in Baku zur Zeit des Ersten Weltkriegs, der russischen Revolution und dem kurz darauf folgenden Armenierpogrom spielt.3 Baku, die Hauptstadt Aserbaidschans und Anfang des 20. Jahrhunderts Teil des russischen Zarenreichs, ist für Cezary seine Heimat. Hier ist er aufgewachsen und obwohl Vater und Mutter aus Polen stammen, fühlt Cezary sich als Russe. Der Vater hat eine gut bezahlte Arbeit im Staatsdienst und so mangelt es der Familie an nichts. Dennoch träumen Cezarys Eltern zeitlebens von einer Rückkehr nach Polen. Mit dem Kriegsausbruch 1914 erhält der Vater, Seweryn Baryka, sein Einberufungsschreiben in die russische Armee. Da sein Vater nach dem Kriegsende nicht zurückkehrt, glaubt Cezary zunächst, dass er gefallen sei. Die Mutter verstirbt, nachdem sie aufgrund ihrer Einstufung als Konterrevolutionärin schwere Zwangsarbeit trotz einer Lungenerkrankung leisten musste. Durch die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution auf Aserbaidschan nehmen in Baku die gesellschaftlichen Missstände zu. Als sich Cezary und sein Vater Seweryn Ende 1918 doch noch wiederfinden, geschieht dies unter Umständen, in denen die beiden massiv mit Zuständen von Verwahrlosung, Unreinheit, Krankheit und mit dem täglichen Anblick des Todes konfrontiert sind. Seweryn, von den Behörden bereits für tot erklärt, kehrt als namenloser Bettler verwundet nach Baku zurück; Cezary arbeitet unter Zwangsbedingungen als Totengräber und verscharrt die Leichen des Armenierpogroms. Hinsichtlich der Körpergerüche sind für Cezary die Lebenden, mit denen er im Lager haust, nicht mehr von den Leichnamen zu unterscheiden: „Zuweilen schlich er sich nachts aus dem Schuppen, der nach den Lebenden stank, als wären auch sie schon tot, […].“4 Durch seine Erfahrungen von Hunger, Einsamkeit, Verrohung und Verwahrlosung während der tödlichen Revolten in Baku beginnen für Cezary die Grenzen zwischen Leben und Tod zu verschwimmen. Einen Höhepunkt findet diese Erfahrungswelt Cezarys in dem Gespräch mit dem Leichnam eines Armeniermädchens.5 Mit seinem Vater unterhält sich Cezary nach dessen überraschender Wiederkehr zum ersten Mal hinter dem Sichtschutzzaun des Aborts, der als „nicht zugedeckt und voll Kot“ beschrieben ist und „zwischen dem Leichengraben und der Soldatenunterkunft“ liegt.6 All diese Umstände an der Grenze von Leben und Tod 3
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Durch die massenhafte Zuwanderung wuchs Bakus Bevölkerung von 1856 bis 1910 schneller als die von London, Paris oder New York. Der russische Gouverneur beschrieb die Boomtown 1914 als eine „Stätte der Gesetzlosigkeit, der organisierten Kriminalität, Gewalt und Xenophobie“, ein „Synonym für den gefährlichsten Ort Russlands“, zitiert nach Baberowski, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. Zugl.: Tübingen, Univ., Habil.-Schr., 2003, München: Dt. Verl.-Anst 2003, S. 63. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 66. „Nieraz w nocy wysuwał się z szopy, śmierdzącej żywymi kandydatami na trupów nie gorzej od umerlaków […]“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 39. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 62–64; S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 35–37. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 69. „[…] do kloaki […] stojącej między rowem umarłych i koszarami żołnierzy […] pełnymi nie zasypanego kału […]“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 40 f.
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lassen sich als durch die russische Revolution ausgelöst erkennen. Nach der gewalttätigen Auflösung des Zarenreichs breiten sich Hunger, Krankheit, Chaos, Tod, Zerstörung und Armut über die im russischen Einflussbereich stehenden Räume unkontrollierbar aus. Schließlich überredet Seweryn seinen Sohn, mit ihm nach Polen zu kommen. Die Reise in das nach 123 Jahren als Staat wiedergegründete, unabhängige Polen soll für beide ein besseres Leben als in Aserbaidschan oder in der nun kommunistisch regierten Sowjetunion bedeuten. Für den Vater ist es auch der Wunsch, in seine Heimat zurückzukehren. Mit dem gefährlichen, odysseehaften, teilweise illegalen Bahntransfer zunächst nach Moskau und dann über Charkiw in Richtung neue polnische Republik setzt sich die körperliche Erfahrung von Halt- und Schutzlosigkeit, Übergang und Gefahr für Vater und Sohn fort. Der Vater kehrt nicht nach Polen zurück, da er auf der Fahrt verstirbt, einzig Seweryn erreicht die junge Republik. Als Gegenentwurf zu dieser erlebten Welt des Leids, Schreckens, Todes und Schmutzes steht die Welt der gläsernen Häuser, von der der Vater seinem Sohn Cezary auf ihrer ersten Etappe der Bahnfahrt erzählt. Diese „neue Zivilisation“ soll sich, so beschreibt es Seweryn, in Polen derzeit immer weiter ausbreiten.7 Elementarer Kern dieser neuen Siedlungen seien gläserne Häuser, die der Vater seinem Sohn plastisch und technisch detailliert beschreibt und die auf Ideen und den Unternehmergeist eines aus Warschau stammenden Verwandten, eines Arztes Dr. Baryka, gründen sollen. Eine bahnbrechende Entdeckung, nämlich die Herstellung von bruchfreiem Glas, ermögliche den Bau rein aus Glas bestehender Gebäude ohne Zuhilfenahme weiterer Materialien. Die neuen gläsernen Siedlungen entsprechen in ihrer Anlage in wesentlichen Punkten den Gartenstädten des Engländers Ebenezer Howard, wie er sie in seiner in Europa und Nordamerika rezipierten Veröffentlichung To-morrow. A peaceful path to real reform und deren Neuauflage Garden cities of to-morrow beschrieb.8 Ebenso wie bei Howard sind die gläsernen Siedlungen in den Ausführungen Seweryn Barykas Neugründungen außerhalb der Städte mit einer genossenschaftlichen Organisation.9 Alles Eigentum liegt also in der Hand der Gemeinschaft. Um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen zu erhöhen, sollte möglichst viel Luft und Tageslicht in die Gebäude gelangen können. Antipoden zu diesen Vorstellungen waren die sogenannten Mietskasernen der Großstädte mit ihren dunklen, schmutzigen Hinterhöfen und beengten Räumen. Genauso beschreibt Seweryn das bisherige Leben der arbeitenden Klasse in den Städten, aber auch die Lebensbedingungen von großen Teilen der Bauernschaft Polens erscheinen gesundheitsgefährdend.10 Die Bezeichnung als Gartenstadt ist im Text als Gegensatzbegriff zu den bisherigen Städten zu finden:
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S. Żeromski: Vorfrühling, S. 77. Howard, Ebenezer: To-morrow. A peaceful path to real reform, London: Swan Sonnenschein & Co. 1898. Vgl, S. Żeromski: Vorfrühling, S. 83, 85; S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 34 f. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 83, 85; S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 51, 53.
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So werden auch die alten Städte, diese Schrecken der alten Zivilisation, verschwinden. Zu musealen Überresten einer verlorenen Welt werden die Bankinstitute, Geschäfte, Speicher, Magazine, Warenlager werden – und neue Gartenstädte, Stadtsiedlungen inmitten von Feldern, Wäldern, Bergen werden weit über das Land verstreut, entlang den elektrischen Bahnen und Verkehrswegen entstehen.11
Żeromski kannte als Einwohner Warschaus die zahlreichen Gartenstadt-Projekte, die in den 1920er Jahren um die Hauptstadt herum entstanden.12 Der Hygienearzt Władysław Dobrzyński, reales Alter Ego der Romangestalt Dr. Baryka, hatte mit seinen Publikationen und weiteren öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten die Gartenstadt-Idee ab dem frühen 20. Jahrhundert in die polnischen Gebiete getragen. Bei den Bemühungen Dobrzyńskis und der Warszawskie Towarzystwo Hygieniczne [Warschauer Hygiene-Gesellschaft] steht besonders der Aspekt der Volksgesundheit und Hygiene im Mittelpunkt, wie bereits einige Titel seiner Veröffentlichungen als Beilagen der Zeitschrift Zdrowie [Gesundheit] unterstreichen.13 Seweryn Baryka thematisiert das Baumaterial Glas zusammen mit den ständig von Wasser durchspülten doppelschaligen Wänden der Häuser wiederholt im Kontext der
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S. Żeromski: Vorfrühling, S. 87. „Toteż stare miasta, te straszne zmory starej cywilizacji, będą zanikać, będą stawały się zabytkami muzealnymi, siedliskiem banków, sklepów, składów, magazynami krajów, składami towarów — a powstaną nowe miasta-ogrody, miasta-siedziby, wśród pól, lasów, wzgórz rozciągnięte, rozwleczone po okolicach, wzdłuż linii elektrycznych kolei i tramwajów.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 53. Beispiele aus dem Warschauer Umland, die in den 1920er Jahren geplant oder gebaut sind, sind u. a. Podkowa Leśna, Komorów, Popowo-Letnisko, Teile von Stary Żoliborz, Śródborów. Vgl. Śliwa, Zuzanna/Lis, Andrzej/Szafrański, Tomasz: Spółdzielczość mieszkaniowa w Polsce. Housing Co-Operatives in Poland. Bydgoszcz: gax manufaktura artystyczna 2004. Zu den Aktivitäten in Żoliborz vgl. auch Szymański, Mirosław S.: Die Kinderfreundebewegung in der II. Republik Polen (1918 bis 1939), Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Univ. 1995 (= Oldenburger Universitätsreden, Band 76). Władysław Dobrzyński war auf das Thema der Gartenstädte 1907 auf einem internationalen HygieneKongress in Berlin aufmerksam geworden. Neben seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Gartenstädte seit 1908 nahm er an Delegationen nach England und Deutschland teil, organisierte Ausstellungen in Warschau und war aktiv an der Gründung verschiedener Gartenstadtsiedlungen im Warschauer Umland beteiligt. Dobrzyński, Władysław: Nowoczesne poglądy na sprawę mieszkań warstw niezamożnych [Moderne Ansichten über die Frage der Wohnungen der mittellosen Schichten], Warszawa 1908; Dobrzyński, Władysław: O miastach przyszłości (Garden cities) [Über die Städte der Zukunft (Garden cities)], Warszawa 1909; Dobrzyński, Władysław: O miastach przyszłości jeszcze słów kilka [Noch einige Worte über die Städte der Zukunft], Warszawa 1910; Dobrzyński, Władysław: Miasta ogrody w Anglii [Gartenstädte in England], Warszawa 1911. Dobrzyński, Władysław: Zdrowie publiczne, a idea miast-ogrodów [Die öffentliche Gesundheit und die Idee der Gartenstädte], Warszawa 1911; Dobrzyński, Władysław: Krótki zarys prac delegacyi do sprawy miast-ogrodów przy Warsz. Tow. Hygienicznem ze sprawozdaniem z wystawy [Kurzer Abriss über die Arbeit der Delegation zum Thema der Gartenstädte bei der Warschauer Hygienegesellschaft mit einem Ausstellungsbericht], Warszawa 1912; Dobrzyński, Władysław: Postępy idei miast-ogrodów w Anglii i u nas [Die Fortschritte der Idee der Gartenstädte in England und bei uns], Warszawa 1914; Dobrzyński, Władysław: Rozwój idei miast-ogrodów w Królestwie Polskiem [Die Entwicklung der Idee der Gartenstädte im Polnischen Königreich], Poznań 1914.
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Hygiene, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen: „Vollkommene Gesundheit aber gibt und erhält gerade ein gläsernes Haus.“14 Zuvor hatte Seweryn Baryka seinem Sohn bereits ausführlich den Fertigungs- und Konstruktionsprozess der Bauwerke erklärt, mit Betonung der industriellen Fabrikproduktion und der wirtschaftlichen Kostenplanung: Gläserne Häuser kosten verschwindend wenig, da zu ihrem Bau weder Maurer noch Zimmerleute, Tischler oder Dachdecker benötigt werden. Lediglich das Material, der Transport und zwei oder drei Monteure sind zu bezahlen. Das Haus wird – ohne die Erdarbeiten – binnen drei, vier Tagen errichtet. Es brauchen nämlich nur die in der Fabrik vorgefertigten Teile zusammengesetzt zu werden.15
Neben diesen ökonomischen und hygienisch-sozialen Punkten zur Verbesserung der Lebensqualität für die breite Bevölkerung weisen die gläsernen Häuser in Vorfrühling aber auch ästhetisch-motivische Bestandteile auf, die über eine streng rational ökonomische Planung, wie sie für Unterstützer*innen des Neuen Bauens charakteristisch war, hinausgehen. So betont Seweryn auch die individuelle Gestaltung eines jeden Gebäudes: […] diese Häuser sind von Künstlern entworfen. […] Die Häuser sind farbig, je nach der Landschaft und der Eingebung eines Künstlers, aber auch nach dem Geschmack der Bewohner. […] Die Häuser sind auf das erlesenste, phantastischste, reichste verziert, […] denn die Rohrbalken der Wand und die Tafeln des Daches kann man im flüssigem Zustand nach Belieben färben.16
Farben und Formen der Glashäuser nehmen die sie umgebende Natur gestalterisch auf und verschmelzen mit ihr optisch. Jeder Einzelbau und dadurch die gesamte Siedlungsanlage ist somit von dem Grundgedanken geprägt, dass die Form aus den Gegebenheiten des Ortes und individuellen Vorlieben organisch ‚erwachsen‘ soll.17 Diese verbildlichte Entwicklung aus sich selbst heraus lässt sich auf die Entwicklungsperspektiven des noch jungen polnischen Staats zu dieser Zeit übertragen, wie auch die Titelmatrix des Romans – Vorfrühling als Hinweis auf die Zukunft der jungen Republik – es nahelegt. Im Sinne des die Menschen
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S. Żeromski: Vorfrühling, S. 88. „A zdrowie zupełne da, zabezpieczy i podtrzyma właśnie dom szklany.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 53. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 83. „Szklane domy kosztują niezmiernie tanio, gdyż przecie przy ich budowie nie ma mularzów, cieślów, stolarzy i gonciarzy. Sam materiał jeno, transport na miejsce i dwu, trzech monterów. Sam dom — bez robót ziemnych — buduje się w ciągu trzech, czterech dni. Jest to bowiem tylko składanie części dopasowanych w fabryce.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 50. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 82. „Bo te domy komponują artyści. […] Domy są kolorowe, zależnie od natury okolicy, od natchnienia artysty, ale i od upodobania mieszkańców. […] Domy te są najwymyślniej, najfantastyczniej, najbogaciej zdobione, według wskazań artystów i upodobań nabywców, bo belkę ściany i taflę dachu można w stanie jej płynnym zabarwić, jak się żywnie podoba.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 50. Ähnliche Überlegungen finden sich beinahe zeitgleich bei Künstler*innen und Architekt*innen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in mehreren Teilen der Welt, dazu zählen u. a. Hugo Häring, Hans Scharoun, Antoni Gaudí, Frank Lloyd Wright, Louis Sullivan, Rudolf Steiner. Ohne dass sie eine gemeinsame Architekturtheorie oder Weltanschauung vertreten hätten, hat sich für ihre Werke wegen der Verbindung von Natur und Architektur der Begriff der „organischen Architektur“ etabliert.
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ganzheitlich umfangenden und ihre soziale Wirklichkeit umwandelnden Gesamtkunstwerks sind ebenfalls die Ausstattung der gläsernen Häuser wie „alle Möbel, Geräte und Gegenstände“ aus Glas.18 Diese Gestaltung, die aufgrund der Transparenz des Materials sich als visuell besonders stimulierend vorstellen lässt, wendet sich von den sachlich-nüchternen Erwägungen zum Wohnungs- und Siedlungsbau des Neuen Bauens mit ihrer Anpassung der Gestaltung an die industriellen Produktionsprozesse ab. Vielmehr lässt sich hierin eine Nähe zu Gruppierungen der Lebensreform und Lebensphilosophie erkennen. Die verschiedenen Ansätze, die sich unter dem Begriff Lebensreform versammeln, sind in Polen in unterschiedlichem Maße rezipiert worden.19 Die durch Rudolf Steiner begründete Anthroposophie fand in den 1920er Jahren in Warschau erste Anhänger*innen.20 Für Steiner ist das Prinzip der Entwicklung Ausgangspunkt jedes Vorgangs in Natur und Kultur. Entwicklung als stufenweise Umgestaltung lässt sich durch den physikalischen Entstehungsprozess und die Eigenschaften des Glases in seinen verschiedenen Aggregatzuständen flüssig und fest auch auf die gläsernen Häuser übertragen, so z. B. wenn Seweryn Baryka über Glas als „empfängliches und gefügiges Material“ für die im Einklang mit der Natur stehende Form- und Farbgestaltung spricht.21 Für einige begriffliche Leitmotive der lebensreformerischen Werte von Reinheit, Helligkeit und Klarheit, wie sie Kai Buchholz analysiert hat,22 ist Glas geradezu die ideale Materialisierung. Wie bereits beschrieben, fügt sich die Reinheit des Glases zunächst in den Bereich der Hygiene- und Gesundheitspflege ein. Die Klarheit des Materials funktioniert dabei auf einer doppelten Bedeutungsebene, zum einen zeichnet sie Glas als etwas Pures, Unverfälschtes aus. Zum anderen ist hier auch eine geistige Klarheit gemeint, zu der die Transparenz des 18
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S. Żeromski: Vorfrühling, S. 82; „naczynia wszystkie, sprzęty, graty, meble — szklane“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 50. Speziell zur Aufgabe von Glas im Zusammenhang zur Idee des Gesamtkunstwerks äußerte sich im deutschen Raum bereits zuvor Paul Scheerbart in seinem Artikel Die Gartenarchitektur (1890) und in seiner Bruno Taut gewidmeten Veröffentlichung Glasarchitektur (1914), Scheerbart, Paul: Glasarchitektur, Berlin: Verlag Der Sturm 1914; Scheerbart, Paul: „Die Gartenbaukunst, ihre Geschichte und ihre Stellung zur Architektur und zu den anderen Künsten“ in: Paul Scheerbart (Hg.), Theoretische Schriften 2. Autobiographisches, Rezensionen, Schriften zur Kunst, Schriften zum Theater, Essays, Bellheim: Ed. Phantasia, S. 76–83. Die Vielgestaltigkeit lebensreformerischer Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich ermessen in der umfangreichen Publikation. Darin zur Verbreitung der lebenreformerischen Ideen in Mittelosteuropa Farkas, Reinhard: „Lebensreform – ‚deutsch‘ oder multikulturell“ in: Kai Buchholz/Rita Latocha/ Hilke Peckmann et al. (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt: Häusser, S. 33–35. So waren u. a. die Künstlerinnen Luna Drexler und Jadwiga Siedlecka, nachdem sie bereits bei der Gestaltung des Goetheaneums in Dornach mitgearbeitet hatten, Initiatorinnen bei der Gründung von anthroposophischen Gesellschaften in Polen. In Warschau war es Jadwiga Siedlecka, die für die Verbreitung der Lehre Steiners aktiv war. Sie übersetzte in den 1920er Jahren mehrere seiner Schriften ins Polnische. Dobiasz, Maja: „Dzieje antropozofii w Polsce“, https://www.gnosis.art.pl/e_gnosis/anthropos_i_sophia/dobiasz_dzieje_antropozofii_w_polsce.htm, zuletzt: 25.04.2022. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 83. „[…] podatnym i posłusznym […]“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 50. Buchholz, Kai: „Begriffliche Leitmotive der Lebensreform“ in: Kai Buchholz/Rita Latocha/Hilke Peckmann et al. (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt: Häusser, S. 41–43.
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Materials beitragen kann. Nach Steiner offenbart sich das Geistige dem Menschen über Licht und Farbe. Das farbige Glas der Häuser vermag beides gleichzeitig visuell zu übermitteln.23 Über die Sinneswahrnehmung gelangt der Mensch schließlich zur Erkenntnis und es wird die Entwicklung zum Geistesmenschen angestoßen. Glas erscheint hierbei in seinem Zusammenspiel mit der Natur als Hauptstimulanz für die menschliche Entwicklung. Laut Seweryns Ausführungen sind Auswirkungen dieser Entwicklung bereits bei den Menschen in den Glashaussiedlungen zu beobachten: Als eine Erkenntnis zu einer ganzheitlicheren Lebensführung habe sich unter den Siedlungsbewohner*innen und auch in der Bauernschaft verbreitet eine rein vegetarische Ernährung durchgesetzt und Schweine und Rinder führten nun ein würdevolles Leben in den gläsernen Stallungen.24 Auch scheint bei Żeromski eine Abwendung vom Materialismus durch, wie sie den verschiedenen Lebensreformbewegungen mehr oder weniger stark zu eigen war, wenn er Seweryn Baryka sagen lässt: „Es ist doch durch die Erfindung unseres Baryka offensichtlich geworden, daß weder Geld noch die Anhäufung von Sachwerten, Wertgegenständen und kostbaren Nippessachen, sondern einzig und allein die Gesundheit der Ausdruck von Reichtum ist.“25 Die Glassiedlungen entsprechen aufgrund des klassenlosen, genossenschaftlich organisierten Lebens dort in vielen Punkten den Vorstellungen eines individuellen Anarchismus in einem staatenlosen Sozialismus wie ihn Edward Abramowski, Sozialphilosoph und Psychologe und ein enger Freund Żeromskis, propagierte.26 Die Romanfigur Gajowiec formuliert die Eckpfeiler der Weltanschauung Abramowskis für Cezary wie folgt: Er war ein Sohn seiner Zeit, ein revolutionärer Sozialist, der an alle Klippen des Marxismus stieß und mit seinem Maß des subjektiven Phänomenalismus darin umherirrte, schließlich eine eigene Lehre vom Boykott gegen den Staat mit Hilfe von Vereinen, Genossenschaften, Kooperativen entwickelte. Er wollte eine neue, unbekannte Welt, die nach seiner Vorstellung eine große, allgemeine ethische Bewegung sein sollte, eine prophezeite, erdachte Welt schaffen.27 23 24
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Entsprechend wichtig waren daher auch die farbigen Glasfenster im ersten Goetheaneum in Dornach, welche von Jadwiga Siedlecka gestaltet worden waren. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 85; S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 52. Anders als bei der Vegetarier-Bewegung, die die fleischlose Ernährung als Prämisse für eine gesunde Lebensführung vorgibt, haben sich in den Glassiedlungen die Menschen aus Selbsterkenntnis für einen Verzicht von Fleisch entschieden, da sie es aufgrund der körperlich weniger schweren Arbeit immer weniger benötigen. Auf diese Selbstentwicklung bauend setzt die Anthroposophie keine Ernährungsregeln fest, gibt aber Empfehlungen zu einer fleischlosen Kost. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 88. „Okazuje się przecie, właśnie wskutek i wobec wynalazku naszego Baryki, że wyrazem bogactwa nie jest pieniądz ani nagromadzenie wartości realnych, drogocennych przedmiotów i rzadkich fatałachów, tylko — zdrowie.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 53. Ein zentrales Werk zu Abramowskis Gesellschaftsvorstellungen ist Abramowski, Edward: „Socjalizm a państwo“ [Sozialismus und Staat], in: Edward Abramowski (Hg.), Pisma. Pierwsze zbiorowe wydanie dzieł treści filozoficznej i społecznej [Schriftstücke. Erste Sammelausgabe von Werken philosophischen und sozialen Inhalts], Warszawa: Związek Polskich Stowarzyszeń Spożywców, S. 239–378. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 293. „Syn swego czasu, socjalista rewolucyjny, obijający się o wszelkie szkopuły nauki Marksa, błąkający się wśród nich ze swoją miarą fenomenalizmu podmiotowego, stwarza wreszcie naukę własną bojkotu państwa za pomocą złączenia ludzi w związki, stowarzyszenia, kooperatywy. Usiłuje wytworzyć świat nowy i nieznany, który w jego pojmowaniu będzie wielkim, powszechnym ruchem etycznym, świat przewidywany, wymyślony.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 184.
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Wie zeitgleich Steiner war auch Abramowski Verfechter einer Lebenslehre, die alle Bereiche der menschlichen Erfahrungen umfasste und über das irdische Leben hinausreichte. 28 Auf die zahlreichen Bezüge in Vorfrühling zu Abramowskis Gesellschaftsutopie verweisen Literaturinterpretationen regelmäßig.29 In welchem Zusammenhang das als Baumaterial verwendete Glas jedoch zu dessen soziologischen, philosophischen und psychologischen Schriften zu deuten ist, hat die Forschung bisher nicht erläutert. Es lassen sich an den Glassiedlungen Merkmale erkennen, die aus Abramowskis Theorie des staatenlosen Sozialismus stammen, der seine Entwicklung einzig aus moralischen Prinzipien des Einzelnen ableitet. So ist in diesem anti-revolutionären Sozialismus eine Zusammenarbeit des Adels und der Bourgeoisie mit der Arbeiter- und Bauernschaft notwendig. Auf die Glashäuser lässt sich dies übertragen, da es keine durch Größe oder Schmuck gekennzeichneten Herrschaftsgebäude gibt; Adel und Großbürgertum bewohnen gleichartige Häuser wie die anderen Gesellschaftsmitglieder. Die von Licht, Farbe und Transparenz bestimmte Optik der Glashäuser, die ein gleichzeitiges Wahrnehmen der sie umgebenden Natur sowie der Vorgänge im Inneren der Räume ermöglicht, lässt insbesondere Reminiszenzen zur Lebensphilosophie Abramowskis erkennen. Für Abramowski war die Wahrnehmung das Entscheidende für die Entwicklung des Menschen. Zur Herausbildung des Individuums sieht er die intuitive Wahrnehmung als wichtiger als die aufmerksame Wahrnehmung an, da erstere mit der Natur und dem Unterbewusstsein verknüpft sei. Die Probleme, die das Leben der Menschen in der auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft bestimmen, hat Abramowski in Zagadnienia socjalizmu [Die Probleme des Sozialismus] dargelegt:30 Die bewusste Wahrnehmung trenne die Individuen voneinander, da sie von Lebensbeginn an von einer dichten Atmosphäre von Gedanken umgeben sind, die sich symbolisch in Sprache und Arbeitsgegenständen angesammelt haben. Diese Atmosphäre forme und entwickle die ganze vernunftbegreifende Seite der menschlichen Seele und nutze jede Bewegung unseres denkenden Wesens, um ihr Inhalt und Form aufzuzwingen. Diese apperzeptiv aufgenommenen Begriffe und Gedanken sollen jedoch nicht die individuellen Seelen sein, sondern die gesellschaftliche 28
Abramowski widmete sich in seinen letzten zehn Lebensjahren seit 1908 vertieft der Psychologie. Seine einflussreichste psychologisch-philosophische Veröffentlichung ist Metafizyka doświadczalna [Empirische Metaphysik], Abramowski, Edward: Metafizyka doswiadczalna i inne pisma [Empirische Metaphysik und andere Schriften], Warszawa: Panstw. Wydawn. Nauk 1980. Darin beschrieb er u. a. wie es verschiedene Arten der Wahrnehmung gebe, einerseits unmittelbare Eindrücke, die mit Imaginationen verknüpft seien, und deren intellektuelle Umwandlung nach Eintritt in die Aufmerksamkeit. Die intuitive Wahrnehmung ist mit dem Unterbewusstsein verbunden. 29 In Vorfrühling erklärt die Figur des Beamten Szymon Gajowiec, der Cezary als väterlicher Freund in Warschau aufnimmt, ihm die Ideale des staatslosen Sozialismus. Der 1918 verstorbene Abramowski wird als Inspiration in Gajowiec‘ Erläuterungen zur Entwicklung des polnischen Staats auch namentlich genannt. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 291–293; S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 184. 30 Abramowski, Edward: „Zagadnienia socjalizmu“ [Die Probleme des Sozialismus], in: Edward Abramowski (Hg.), Pisma. Pierwsze zbiorowe wydanie dzieł treści filozoficznej i społecznej [Schriftstücke. Erste Sammelausgabe von Werken philosophischen und sozialen Inhalts], Warszawa: Związek Polskich Stowarzyszeń Spożywców, S. 1–144, hier S. 25–62.
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Seele des Bewusstseins. Im Unterbewusstsein hingegen könnten sich die Menschen seelisch verbinden. Um diesen Zustand zu erreichen, sei es jedoch nötig, alles materiell Dingliche, das die Menschen sich selbst geschaffen haben, aus der Welt zu entfernen. Diese Hindernisse seien es, die die Seele in einem ständigen Konflikt halten und es nicht möglich machen, zu ihrem natürlichen Wesen zu gelangen. Die Abkehr von der Welt der Dinge würde es schließlich den Menschen ermöglichen, ihren Kampf mit der Gesellschaft zu beenden. Dann könnten sie in der Gesellschaft den natürlichen Egoismus und Altruismus erfahren. In den Glassiedlungen ist diese Überlegung unorthodox und experimentell umgesetzt: Dingliches ist zwar nicht völlig aufgeben worden, doch ist es in seiner Transparenz optisch schwer zu erfassen und soll so dazu beitragen, dass die Menschen den direkten Kontakt miteinander finden und ursprüngliche, intuitive Formen des Zusammenlebens erfahren können. In Kenntnis der Ansichten Abramowskis zum Verbleib der Seele nach dem Tod liest sich der Abschnitt zu den gläsernen Häusern wie eine Vorausschau auf das weitere Schicksal Seweryn Barykas: „Das Leben nach dem Tod ist reicher und reicht weiter in das Universum hinein, und der Mensch erreicht durch sein Sterben sein Ziel und gleichzeitig das Ziel der künftigen Entwicklung seiner Art und des Lebens im Allgemeinen.“31 Auch wenn mit der Jahrhundertwende in Polen die positivistische-szientistische Lehre nicht mehr den Vorrang vor neuen reformerischen Bewegungen hatte, in die auch metaphysische Vorstellungen einflossen, so stehen positivistische Denkmodelle für die Gesellschaftsentwicklung dennoch bei der Wiedergründung der polnischen Republik 1918 zur Verfügung, ließ sich doch an diese Konzepte sowohl mit Betonung des Sozial- aber auch des Nationalgedankens anknüpfen.32 Der für die positivistische Gesellschaftstheorie in Polen wichtigste Philosoph war dabei der Engländer Herbert Spencer. Mit der Methode der organischen Arbeit [praca organiczna],33 wie sie im polnischen Positivismus aus der Rezeption der Spencerschen Überlegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden war, galt es, zur Zeit der Besatzung das Fortbestehen der polnischen Nation zu ermöglichen.34 31
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„życie pośmiertne jest bogatsze, dalej sięgające w wszechświat, a człowiek umierając osiąga swój cel i zarazem cel przyszłego rozwoju gatunku swego i życia wogóle.“ Krzeczkowski, Konstanty: „Edward Abramowski 1868–1918“ in: Edward Abramowski (Hg.), Pisma. Pierwsze zbiorowe wydanie dzieł treści filozoficznej i społecznej [Schriftstücke. Erste Sammelausgabe von Werken philosophischen und sozialen Inhalts], Warszawa: Związek Polskich Stowarzyszeń Spożywców, S. LII–LXXI, hier S. LXX, eigene Übersetzung. Saldern, Adelheid von: Kunstnationalismus. Die USA und Deutschland in transkultureller Perspektive 1900–1945, Göttingen: Wallstein Verlag 202, hier S. 367 f. Das Prinzip des eines jeden Einzelnen durch bewusste Arbeit an der Gesellschaft Beteiligten zum Wohle der Gesellschaft im Ganzen, gebündelt im Terminus der „organischen Arbeit“, findet sich in polnischen Veröffentlichungen seit den 1840er Jahren. Porter, Brian A.: „The construction and deconstruction of nineteenth-century Polish liberalism“ in: Stanislav J. Kirschbaum (Hg.), Historical reflections on Central Europe, London: Palgrave Macmillan UK, S. 37–64. Die organische Arbeit als gezieltes Zusammenwirken aller auf die Gesellschaft einflussnehmenden Bereiche wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur sollte einen Gegenpol zur Germanisierungs-
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Spencer stellte in seinen Publikationen verschiedene Analogien von Organismus und Gesellschaft her, wobei er schließlich Gesellschaft und Organismus in ihrer Funktionsweise parallelisierte und die Gesellschaft als besondere Ausprägung eines Organismus zum „Super-Organismus“ deklarierte.35 Zur Illustration seiner Analogie von biologischen Wesen und der Gesellschaft führte er durchsichtige Lebensformen wie Schleimpilze an, bei denen unter dem Mikroskop eine Verschmelzung verschiedener vorher einzeln bestehender Anteile sichtbar wird. Für höher entwickelte Lebensformen erläuterte Spencer die Entwicklung und Funktionsweisen der Blutkörperchen als individuell zirkulierende Einheiten. Die Idee der Gesellschaft als Organismus untermauerte er also durch physiologische Beobachtungen, die erst mittels Vergrößerung unter den gläsernen Linsen des Mikroskops als Erweiterung der Fähigkeiten des biologischen Auges für den Menschen erkennbar sind. In seiner „transzendentalen Physiologie“,36 die keine Spezies direkt als Vorbild für den Organizismus von Gesellschaften nimmt, folgte für Spencer aus der Summe der mittels Mikroskopie erkannten physiologischen Entwicklungen, dass Soziologie und Physiologie sich mehr oder weniger gegenseitig durchdringen:37 „So entsteht im sozialen Organismus, wie im individuellen Organismus, ein Leben des Ganzen, das sich vom Leben der Einheiten unterscheidet, obwohl es ein von ihnen erzeugtes Leben ist.“38 Das Material Glas ermöglicht durch seine Transparenz, dass die Verbindungen der Häuser – und damit auch der Menschen zueinander – durch die gläsernen Gehwege und Wasserrohre sichtbar werden. Glas als Baumaterial ist die Verkörperung des technischen Fortschritts, gleichzeitig wird es auch zur Verkörperung eines wissenschaftlichen Fortschritts, weil sich mit den gläsernen Häusern die Welt wie durch ein Mikroskop betrachtet
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und Russifizierungspolitik der Besatzungsmächte bilden. Deutliche Anleihen an Spencers Ideen finden sich beispielsweise in Werken des Schriftstellers Bolesław Prus, seinerseits gut bekannt mit Stefan Żeromski. Besonders evident tritt bei Spencer diese Analogie in der Kapitelüberschrift A society is an organism hervor, H. Spencer: The principles of sociology, Band 1, London: Williams and Norgate 21877, S. 449– 463. Die verschiedenen Analogie- und Parallelebenen von biologischen Organismen und Gesellschaft bei Spencer hat Gray, Tim: The political philosophy of Herbert Spencer. Individualism and organicism Aldershot, Hants: Avebury 1996, S. 57–71 dargestellt. Eine harmonische Zusammenarbeit ist im sozialen Organismus zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten möglich durch die Grundsätze Solidarität, Toleranz, Humanität. Staatliche Lenkung hat nur insofern zu erfolgen, als dass durch administrative Einrichtungen eine Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sein muss, sodass das Individuum nicht in seinem Wohl gefährdet ist und die Möglichkeit hat, sein „soziales Selbst-Bewusstsein“ auszubilden, Offer, John: „A new reading of Spencer on ‚society‘,‚organicism‘ and ‚spontaneous order‘“ in: Journal of Classical Sociology 15, S. 337–360, S. 351. Staatssozialismus und kommunistische Revolution ließen sich mit der Entwicklungsidee des sozialen Organismus Spencers daher nicht vereinbaren, da sich im Sozialismus nur mit vorgeschriebenen sozialen Zielen arbeiten ließ. Spencer, Herbert: The principles of sociology, Band 1. Offer, A new reading, S. 337–360. „Hence arises in the social organism, as in the individual organism, a life of the whole quite unlike the lives of the units; though it is a life produced by them.“ H. Spencer: The principles of sociology, Band 1, S. 455.
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erfahren lässt: Die gläsernen Bauten verschwinden aufgrund ihrer Transparenz optisch beinahe und der Blick wird auf die Menschen und ihre Kommunikationswege als den kleinsten Einheiten des gesellschaftlichen Organismus gelenkt. In der Erzählung zu den gläsernen Häusern ermöglicht die Transparenz der die Menschen umgebenden Welt, ein Idealbild der organisch gegliederten Struktur der einzelnen Individuen und ihres Zusammenwirkens anschaulich zu zeichnen.39 Das Streben nach der Verwirklichung dieser idealen Gesellschaft ist aber nicht nur aufgrund ihrer Charakteristika von Fortschritt, Aufbau und gesellschaftlicher Entwicklung für das junge, unabhängige Polen von zentraler Bedeutung, ebenso wichtig ist es für Seweryn Baryka und auch für Cezary, wieder zu einer neuen Ordnung zu gelangen, die ihre Gültigkeit und Festigkeit erhält, indem jede*r einzelne bewusst an ihr mitwirkt.40 Die gläsernen Häuser lassen diese Arbeit der Gemeinschaft visuell erfahrbar werden. Eine Vorstellung, die für Vater und Sohn nach den Erlebnissen in Krieg und Revolution, als sämtliche gewohnte Ordnungen wegbrechen und ihnen einzig das nackte Überleben blieb, essenziell ist. Ihre traumatisierte Psyche findet in dieser Gedankenwelt einen Rettungsanker, um sich wieder ‚in Ordnung‘ zu bringen. Eine körperliche Transzendenz und veränderte Wahrnehmung wird gleichsam evoziert durch den schlechten Gesundheitszustand Seweryn Barykas mit Fieber und Krämpfen, Nahrungs- und Schlafmangel und vor allem durch die ihn dauerhaft beeinträchtigende Kriegsverletzung am Kopf. Bereits bei Antritt der Fahrt steht der Vater an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Ruhe findet der individuelle Körper mit seinen Gebrechen, Verletzungen und Bedürfnissen erst dadurch, dass er in einem Gesellschaftskörper aufgehoben ist, der die Organismusgrenzen des Individuums hinter sich lässt. Nach Spencer durchläuft die Gesellschaft eine „super-organische Evolution“.41 So schreibt er: „Durch eine Katastrophe kann das Leben des Aggregats zerstört werden, ohne dass gleich das Leben aller seiner Einheiten zerstört wird; andererseits ist das Leben des Aggregats, wenn es durch keine Katastrophe verkürzt wird, viel länger als das Leben seiner Einheiten.“42 So wie sich bei dem Blick durch die Glaslinse des Mikroskops neue Einblicke in physiologische Zusammenhänge von verschiedenen Organismen dem menschlichen Auge offenbaren, lassen sich durch die Transparenz der gläsernen Häuser Struktureinheiten des gesellschaftlichen Organismus erkennen. Für den einzelnen Mensch als Grundeinheit der Gesellschaft wird dieses Sehen zu 39
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Ähnliche Beschreibungen einer durchsichtigen Welt finden sich in der um die Jahrhundertwende erschienenen Novelle Der Traum [Orig.-tit.: Sen], Prus, Bolesław: „Der Traum“ in: Julian Tuwim (Hg.), Pinettis weisse Rose. Die polnische phantastische Novelle, Leipzig, Weimar: Kiepenheuer, S. 493–512. Auch in den Ursprüngen der Gartenstadtbewegung ist ein starkes pazifistisches Moment als Grundlage für eine gute Zukunft auszumachen, wie bereits der Titel der ursprünglichen Veröffentlichung von Ebenezer Howard To-morrow. A peaceful path to real reform belegt. E. Howard: To-morrow. Spencer nannte das erste Kapitel seiner Philosophy of Sociology „Super-organic Evolution“, H. Spencer: The principles of sociology, Band 1, S. 3–8. „By a catastrophe the life of the aggregate may be destroyed without immediately destroying the lives of all its units; while, on the other hand, if no catastrophe abridges it, the life of the aggregate is far longer than the lives of its units.“ Ebd., S. 477, eigene Übersetzung.
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einer Transzendenzerfahrung, in der das Individuelle im evolutionären Übergang im SuperOrganismus aufgeht. Die gegenseitige Durchdringung von Einzelkörper und Gesellschaft entspricht dabei der von Mary Douglas vertretenen Ansicht des menschlichen Körpers als Mikrokosmos der Gesellschaft.43 Alle der frequent auftauchenden Körperbeschreibungen und -metaphern in Żeromskis Vorfrühling lassen sich damit als auf die gesellschaftliche Entwicklung bezogen verstehen. Dies gilt auch für die auffällig starken Kontraste von Chaos, Tod, Schmutz und auf der anderen Seite Ordnung, Leben, Sauberkeit, die den gesamten Roman durchziehen, wie es Łukasz Pawłowski analysierte. 44 Auch in diesen Gegensatzpaaren spielt das Material Glas eine wichtige Rolle. Glas, besonders in Verbindung mit Wasser, beschreibt Seweryn als ein Material von großer Reinheit. Dies bezieht sich nicht nur auf die bereits oben erwähnten medizinisch-hygienischen Belange, sondern auch auf Reinheit in einem symbolischen, rituellen Sinne. Bereits die Erläuterungen zu den Grundstoffen und der Glasherstellung, die scheinbar ohne permanentes menschliches Zutun vonstatten geht, lassen es überweltlich und magisch erscheinen. Seweryn nennt nur zwei Bestandteile, die zur Produktion nötig sind: Ein „reiner, klarer, goldener Sand“, der ein „paar Dutzend oder auch ein paar hunderttausend Jahre“ in Küstennähe unter einer neun Meter dicken Torfschicht unberührt lag,45 und Meerwasser, welches durch einen von Dr. Baryka konstruierten Kanal strömt und dadurch die Turbinen einer riesenhaften Glashütte antreibt. Die Kombination des aus dem Sand hergestellten bruchfesten Glases zusammen mit Wasser bleibt schließlich für die Nutzung der gläsernen Häuser zentral. Für das Problem des Glashauseffekts, also der großen Hitzeentwicklung unter Sonneneinstrahlung, sollen die Häuser nach Planung des Dr. Baryka über eine Kühlfunktion mit Wasser in den doppelschaligen Außenwänden verfügen. Im Winter übernimmt warmes Wasser dabei die Heizung der Räume. Gleichzeitig spült das Wasser sämtlichen Schmutz heraus. Das Wasser, das wie das Blut in den Adern die Organe des Körpers mit seinem fortlaufenden Fluss antreibt und verbindet, steht hier als reinigendes Element des gesellschaftlichen Organismus in Gegenüberstellung zu den Bildern des Todes, der Verletzungen, Zerstörungen und Krankheiten46 nach den Pogromverbrechen, als das Blut der Leichname als
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Douglas, Mary: Purity and danger. An analysis of the concepts of pollution and taboo, London: Routledge 1978. Pawłowski, Łukasz: „Czystość, brud i chaos rewolucji. O dwóch częściach ‘Przedwiośnia’“ [Purity, dirt, and revolutionary chaos. Two parts of Żeromski’s ‘Przedwiośnie’], in: Teksty Drugie [Second Texts] 20, S. 176–188. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 79. „[…] szczery, czysty, złoty piasek, […] o kilkadziesiąt czy kilkaset stulecie.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 48. Vgl. hierzu auch die zahlreichen Beispiele aus verschiedenen Kulturkreisen, in denen Körperflüssigkeiten und -absonderungen religiös und gesellschaftlich mit Unreinheit verknüpft sind, daneben auch die Transitionsprozesse von Geburt und Tod in M. Douglas: Purity and danger. Auch die Umstellung auf die beschriebene fleischlose Ernährung der Glassiedlungsbewohner*innen ist als Gegenmaßnahme zur Verunreinigung des Körpers durch Blut von toten Lebewesen zu verstehen.
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„dunkelrote Brühe“ von den Leichenwagen trieft und sich mit dem Wegesstaub zu einer Farbspur vermischt.47 Während das Blut der verwesenden Leichen gefährliche Krankheiten mit sich bringt, werden hingegen die Glaswände der Häuser zur pulsierenden, schützenden Hülle für den menschlichen Körper und bewahren seine Unversehrtheit. Indem in diesen Glashäusern keine konstruktiven Elemente aus weiteren Materialien wie Eisenstahl oder Holz als Stütze der Glasflächen notwendig sind, übertrifft Żeromski die Klarheit und Reinheit von tatsächlich gebauten Gebäuden, bei denen Glas nur ein wesentlicher Baustoff sein kann. 48 Die utopischen Glashäuser huldigen damit einem materiellen Purismus. In der Verbindung von Glas und Wasser ergeben sich auch Anknüpfungspunkte zur Bibel: Die Beschreibung der durch und durch gläsernen und damit auch vollkommen transparenten Gebäude impliziert, dass sich hier nichts verbergen lässt, dass alles offenbar wird, ähnlich der symbolischen Beschreibung des gläsernen Meeres in der Offenbarung des Johannes.49 Als negatives Materialgegenstück zum reinen, schützenden Glas steht bei Żeromski der alles zerfressende Rost des Eisens: Eines Tages verschlug es Baryka auf einen großen Hof, dessen widerwärtiger Anblick keine Feder zu beschreiben vermag; die beispiellose Unordnung, den Schmutz, ohne Sinn und Verstand hingeworfenes Gerümpel vermag nichts wiederzugeben. Es war ein Eisenlager oder vielmehr ein Alteisenlager. […] Man konnte sagen, der Rost hatte den ganzen Hof zerfressen und war selbst zurückgeblieben als Spur der Dinge, die er vernichtet hatte. Auch die Juden, die dort herumliefen, schrien, schwärmten und sich wegen irgendetwas in die Haare gerieten, waren rostig, vom Eisen tödlich angefressen.50
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S. Żeromski: Vorfrühling, S. 61; „ruda posoka powlekając wyschniętą drogę barwistym pośrodku szlakiem.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 35. Glas als Baumaterial fand vor allem für die in den botanischen Gärten zu begehenden Gewächshäuser Anwendung, andere wichtige Meilensteine der Glasarchitektur waren u. a. der Londoner Crystal Palace von Joseph Paxton anlässlich der Weltausstellung 1851 und der Glaspavillon von Bruno Taut auf der Kölner Werkbundausstellung von 1914. „Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich dem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier Wesen, voller Augen vorn und hinten.“ Lutherbibel, Offenbarung 4,6 – Lutherbibel 2017, https://www.bing.com/newtabredir?url=https%3A%2F%2Fwww.bibleserver. com%2FLUT%2FOffenbarung4, zuletzt: 24.04.2022. Die Offenbarung nimmt in der Lehre Rudolf Steiners sowie auch im christlichen Anarchismus in Nachfolge Lew Tolstois, zu dem sich auch in Edward Abramowskis Schriften zahlreiche Parallelen finden, eine zentrale Position für die Vorstellungen zur menschlichen Evolution ein. Demnach war die Apokalypse nicht ein zu fürchtendes Weltenende, sondern eine allumfassende Enthüllung für die Menschheit als Rückkehr zum göttlichen Ursprung in einem Zusammenschluss aller. Weitere Hinweise auf eine Nähe zum christlichen Anarchismus sind der Vegetarismus, die einfache, arbeitsame Lebensweise der Siedlungsbewohner*innen und die aus der Bergpredigt abgeleitete pazifistische Einstellung Seweryn Barykas. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 85–90; S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 52–54. Vgl. zum Glas- und Kristallmotiv in der Offenbarung bei Leschonski, Henrik: Der Kristall als expressionistisches Symbol. Studien zur Symbolik des Kristallinen in Lyrik, Kunst und Architektur des Expressionismus (1910–1925). Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 2007 (= Europäische Hochschulschriften Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Band 1960), Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Wien: Lang 2008, S. 20–28. S. Żeromski: Vorfrühling, S. 302. „Pewnego razu Baryka zabrnął na wielkie podwórze, którego obmierzłego wnętrza żadne pióro opisać nie zdoła, którego bezprzykładnego nieładu, brudu, wstrętnej
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Und so wie Tod, Schmutz und Elend Cezarys Leben begleiten, egal an welchem Ort und egal in welcher Gesellschaft er sich befindet, so wird auch auf das Motiv der gläsernen Häuser im Handlungsverlauf immer wieder rekurriert: nach dem Überschreiten der polnischen Grenze, bei Cezarys Ankunft in Warschau, während seiner Erlebnisse im PolnischRussischen Krieg, als er bei seinem Aufenthalt auf einem Landadelshof im Morgengrauen an ein Dorf kommt, das in Schlamm und Mist zu versinken scheint, und zuletzt in Warschau nach einer kommunistischen Versammlung, als Cezary durch die dreckigen, schlammigen, dunklen Straßen der Stadt läuft.51 Auch wenn Cezary bei der Erzählung des Vaters noch an der glücksverheißenden Sauberkeit der gläsernen Bauten, die er als Glasschränke bezeichnet, zweifelt,52 so lässt ihn das Idealbild der gläsernen Häuser dennoch nicht mehr los. Stetig auf der Suche nach ihnen und nach sich selbst findet er keine Gesellschaft, der er sich zugehörig fühlt. In den Gesprächen mit seinen Bekannten, Freunden und Liebschaften bewahrt er stets eine kritische Haltung, manchmal mit Unwissen und Naivität gepaart, gegenüber allen Gesellschaftsentwürfen, mit denen er im Handlungsverlauf realiter oder gedanklich durch Gespräche in Kontakt kommt. Das gilt sowohl für den staatenlosen Sozialismus in der Erzählung seines Vaters zu den fantastischen Glashäusern als auch für den revolutionären Kommunismus des Studenten Antoni Lulek, das konservative Leben des Landadels bei seinem Armeefreund Hipolit Wielosławski und das inzwischen ernüchterte, pragmatische, irgendwo zwischen Romantik und Positivismus angesiedelte Weltbild des Ministerialbeamten Gajowiec. Żeromski lässt uns als Leser*innen im Ungewissen, ob und wie sich Cezary in Polen schließlich integrieren und an der Entwicklung der Gesellschaft mitwirken wird. Eine letzte Konfrontation mit der staatlichen Ordnung steht als Schlussszene mit ungewissem Ausgang: Am ersten Vorfrühlingstag schließt sich Cezary einem Arbeiterdemonstrationszug an. Berittene Polizei und Infanterie erscheinen, um die Gruppe auseinanderzutreiben. Cezary stürzt unbewaffnet auf die Soldaten zu und damit möglicherweise in seinen Tod. Dann würde Cezary im Jenseits endlich die so lange gesuchten gläsernen Häuser erblicken können. Für das Diesseits stellten die massiven gesellschaftspolitschen Probleme des polnischen Staats jedoch weiterhin eine Aufgabe dar, die nicht mit der Vision gläserner Häuser gelöst werden konnte. So blieben sie und auch das Ideal eines staatenlosen Sozialismus eine Utopie.
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bezmyślności rzeczy naprędce rzuconych nic nie zdoła wysłowić. Były to składy żelaza, a raczej starego żelaziwa. […] Można by powiedzieć, że ten cały podwórzec przeżarła rdza i sama tylko została jako ślad rzeczy, które zniweczyła. I Żydzi, którzy tam biegali, krzyczeli, roili się i o coś wodzili za łby, byli rdzawi, zagryzieni na śmierć przez żelazo.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 187 f. Analog zum tödlichen Eisenrost ist auch die Farbe des Blutes der verwesenden Leichen in Baku als „ruda“ bezeichnet, in Ableitung von dem Substantiv „ruda“ für Eisenerz. S. Żeromski: Vorfrühling, 115; 119; 128; 239; 340. „Mir scheint, es ist etwas zu viel Sauberkeit geplant. Ein klein wenig Schmutz dabei wäre ganz gut.“ Ebd., S. 87. „Wydaje mi się, że cokolwieczek za dużo tam ma być czystości. Przydałoby się cokolwiek brudnej zakwaski.“ S. Żeromski: Przedwiośnie, S. 53.
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Kurzbiographien
Stefan Egelhaaf, Lehrstuhl für Physik der weichen Materie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, beschäftigt sich mit experimenteller Kolloidphysik, wobei sein besonderes Interesse seit vielen Jahren den Eigenschaften und dem Verhalten kolloidaler Gläser gilt. Jasmin Grande, glasforschend seit dem Bauhausjubiläum 2019, Mitveranstalterin einer Unkonferenz im NRW-Forum Glasgalaxien 1919–2019. Ein Stoff im Wandel, Leiterin der „Moderne im Rheinland“/Zentrum für Rheinlandforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Forschung zur regionalen Kulturgeschichtsschreibung, z. B. zur Glastopographie Düsseldorfs. Jeannine Harder, Kunsthistorikerin mit den Schwerpunkten Angewandte Kunst und Ostmitteleuropa, Dissertationsprojekt an der Universität Leipzig zur „Polnischen Schule der Plakatkunst“ im internationalen Kontext, Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung seit 2021, glasfasziniert seit der Kindheit durch die Sammelleidenschaft meiner Eltern für moderne Glaskunst. Reinhard Köpf, seit gut einem Jahrzehnt „gläsern“, als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro Ivo Rauch (Koblenz) als Sachverständiger und Gutachter für Glasmalerei vom Mittelalter bis in die Gegenwart und seit 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Forschungsschwerpunkt „Moderne Glasmalerei“. Mitherausgeber des Buches Moderne Glasmalerei Düsseldorf (2021). Fabian Korner, glasforschend seit dem Bauhausjubiläum 2019, Mitveranstalter einer Unkonferenz im NRW-Forum Glasgalaxien 1919–2019. Ein Stoff im Wandel, seit 2021 Student der Ästhetik in Frankfurt am Main. Sein, aus der Glasforschung resultierendes, Interesse an der Materialität der Dinge, führt Fabian Korner u. a. in einer Kolumne des Designmagazin Form unter dem Titel Unantastbar fort. Die Frankfurter Glasarchitektur ist der gegenwärtige Raum, in dem Fabian Korner die Materialität der Wahrnehmung und die Wahrnehmung der Materialitäten jenseits des nur Schauenden, sondern auch taktilen erforscht.
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Kurzbiographien
Christina Kunze, glasuntersuchend seit dem Bauhausjubiläum 2019, Referentin bei einer Unkonferenz im NRW-Forum Glasgalaxien 1919–2019. Ein Stoff im Wandel, Studentin der Kunstgeschichte mit selbstgewähltem Schwerpunkt der Moderne an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Joe Spicker, ebenfalls glasforschend seit dem Bauhausjubiläum 2019, Teil des Teams der Unkonferenz im NRW-Forum Glasgalaxien 1919–2019. Ein Stoff im Wandel, Anwendung des Glas-Begriffs auf diverse Bereiche der internationalen Popkultur u. Heterotopien, Germanistik M. A. der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Anna Westphal, im Leben wie beim Arbeiten Anbeterin des Lichts und daher unendlich dankbar für die Erfindung des Glases, ist Künstlerin mit Basis in Köln. Ob per Anhalter oder ohne strebt sie allerdings sehr danach, viel in unserer Galaxie unterwegs zu sein, um die Erlebnisse und Fundstücke in ihren Werken zu verarbeiten. Neben freien Arbeiten und Porträts entstehen auch Illustrationen, so in den letzten Jahren mehrfach für das Projekt Kalltalgemeinschaft des Instituts „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Eva Wiegmann, Dr. phil., Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Glas ist für mich ein Werkstoff, dessen Vielschichtigkeit literatur- und kulturgeschichtliche Entwicklungen auf einzigartige Weise spiegelt und zugleich die enge Verschränkung von Material- und Geistesgeschichte sichtbar macht. Arbeitsschwerunkte: Ästhetische Innovation im Kontext von Epochenschwellen, Inter- und Transkulturalität, Postkoloniale Studien, Kulturkritik und Antimoderne, Literatur und Psychoanalyse, Intermedialität. Derzeit wiss. Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Joey Wilms, Studium der Germanistik und der Jiddischen Kultur, Sprache und Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2021 Bachelorabschluss mit einer Studie zum Flussmotiv bei Günter Eich. Gegenwärtig Masterstudent der Germanistik in Düsseldorf. Benedikt Wintgens, glasforschend seit der retrospektiven Begegnung mit dem Bonner Parlamentsgebäude des Jahres 1949, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e. V. in Berlin, Forschungen insbesondere zur Literatur- und Architekturgeschichte des Parlamentarismus.
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Bildnachweise
Jasmin Grande Abb. 1: Bauhaus-Archiv, Berlin, Fotografie: Bayer & Schmölz. Stefan Egelhaaf Abb. 1–5: alle Bildrechte liegen beim Autor. Eva Wiegmann Abb. 1: Wikimedia Commons (David Brewster: Memoirs of the Life, Writings, and Descoveries of Sir Isaac Newton, Vol. 1, Thomas Constable and Co., Edinburgh 1855, S. 46, Abb. 7); Abb. 2: Wikimedia Commons (Royal Society of London, 1664); Abb. 3: Wikimedia Commons. Reinhard Köpf Abb. 1: Otto-Bartning-Archiv / TU Darmstadt; Abb. 2: Kurt Junghanns, Bruno Taut 1880– 1938. Architektur und sozialer Gedanke, Leipzig 1998; Abb. 3: © https://hdl.huntington. org/digital/collection/p15150coll2/id/451. Benedikt Wintgens Abb. 1: © Deutscher Bundestag / Presse-Service Steponaitis (Nr. 2139336); Abb. 2: © Bestand Erna Wagner-Hehmke, Haus der Geschichte, Bonn. Joe Spicker Abb. 1: gemeinfrei, By Georg Friedrich Kersting – Hannelore Gärtner: Georg Friedrich Kersting. Seemann, Leipzig 1988, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index. php?curid=12264576; Abb. 2–3: Oshii, Mamuro: Ghost in the Shell, 1995. Farbtafeln Abbildungen S. 57–71, 117, 130–131, 173–188: alle Bildrechte liegen bei der Künstlerin Anna Westphal; S. 118: Claudia Lo Gatto; S. 119: © Foto: Niels Baumgarten; S. 120: Kirsten Heusgen, Melissa Ix, Nicolas Stumpe; S. 121: https://www.imageprofessionals.com; S. 122, 124–128: © Foto: Jürgen Wiener; S. 123: © Foto: Reinhard Köpf; S. 129: Oshii, Mamuro: Ghost in the Shell, 1995.
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