Giambattista Vico - Poetische Charaktere 9783110647778, 9783110643398

Das vorliegende Buch widmet sich der zweifachen radikalen Wende der Philosophie durch Giambattista Vico in seiner Scienz

250 111 2MB

German Pages 206 [208] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Neue Wissenschaft Vom Mondo Civile
1. Die Metaphysik, Herkules Und Homer
Vater Vico
2. Die Drei Stürze Des Herrn Vico Und Das Vaterland
3. Die Scienza Nuova Von 1725 In Vicos Vita
4. Vaterschaft Und Ingenium
Poetische Zwillinge
5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen Des Anfangs
6. Hierophone: Wort Und Gesang
7. Die Zwillinge Bild Und Sprache In Der Aktuellen Diskussion
Welche Wissenschaft?
8. Michelet Übersetzt Vicos Philosophie In Geschichte Und Dichtung
9. Wissenschaft Vom Mondo Civile – Wissenschaft Von Der Kultur?
10. Filologia, Philologie, Philology: Vico, Humboldt, Pollock
11. Vico Und Ibn Khaldūn: Polis, Umran Und Mondo Civile
Ricorso
12. Sechs Schlussbemerkungen Über Metaphysik, Poetische Charaktere Und Die Barbarei Der Reflexion
Bibliographie
Abkürzungen
Nachweise
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Giambattista Vico - Poetische Charaktere
 9783110647778, 9783110643398

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Giambattista Vico – Poetische Charaktere

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Herausgeber Horst Bredekamp, David Freedberg, Marion Lauschke, Sabine Marienberg, und Jürgen Trabant

Jürgen Trabant

Giambattista Vico – Poetische Charaktere

Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Exzellenz­clusters „Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor“ der Humboldt-Universität zu Berlin.

ISBN 978-3-11-064339-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064777-8 ISSN 2566-5138 Library of Congress Control Number: 2019938535 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Giambattista Vico: Scienza nuova 1730. Titelkupfer von D.A. Vaccaro und A. Baldi Lektorat: Marion Lauschke, Inga Nevermann-Ballandis Schriftleitung: Marion Lauschke Reihengestaltung: Petra Florath, Stralsund Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Für Horst Bredekamp Maria Luisa Catoni Yannis Hadjinicolaou Matthias Jung Sabine Marienberg Alva Noë Anja Pawel Tullio Viola

Inhalt



Vorwort

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile   1.  Die Metaphysik, Herkules und Homer

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Vater Vico   2.  Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland   3.  Die Scienza nuova von 1725 in Vicos Vita   4.  Vaterschaft und Ingenium

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Poetische Zwillinge   5.  Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs   6.  Hierophone: Wort und Gesang   7.  Die Zwillinge Bild und Sprache in der aktuellen Diskussion

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Welche Wissenschaft?   8.  Michelet übersetzt Vicos Philosophie in Geschichte und Dichtung   9.  Wissenschaft vom mondo civile – Wissenschaft von der Kultur? 10.  Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock ˉ polis, umran und mondo civile 11.  Vico und Ibn Khaldun:

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Ricorso



12.  Sechs Schlussbemerkungen über Metaphysik, poetische Charaktere und die Barbarei der Reflexion

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Bibliographie Abkürzungen Nachweise

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Vorwort

Wer einmal damit angefangen hat, kommt nicht mehr davon los. Man tritt ein in diese geheimnisvollen, ja unheimlichen Sätze von Giambattista Vico, man rätselt, was sie wohl bedeuten mögen, aber man kann nicht aufhören mit der Lektüre. Es ist eine Droge. Es sind oft lange, sich windende Satzungetüme. Sie führen in Urwälder der Gelehrsamkeit. Man verliert sich im Gestrüpp. Die späteren Herausgeber der Scien­­za nuova haben versucht, den Weg zu ebnen. Vor allem Fausto Nicolini hat die Syntax aufgeräumt, er hat Klammern und Kommas eingefügt, damit man weiß, dass es erst viel später – nach längeren Inzisen – wieder weitergeht mit dem Hauptsatz. Er hat Absätze geschaffen, die Absätze nummeriert, Überschriften und Zählungen in den Text hineingeschrieben, also sozusagen Schneisen in den dunklen Wald geschlagen. So richtig geholfen hat das nicht. Aber nicht nur die Sprache ist schwer. Noch schwerer sind die Sachen, die dort abgehandelt werden: Man muss gleichsam die gesamte griechische und lateinische Literatur und Mythologie zur Verfügung haben. Es beginnt gleich mit dem ersten Satz: „Quale Cebete Tebano …“ Wer weiß schon noch, wer der Thebaner Kebes war? Dann geht es weiter mit Herkules. Den kennt man. Man muss aber auch die Geschichten des Herkules kennen und wissen, dass er den nemeischen Löwen getötet hat und dass Herkules – jedenfalls nach Vico – den „nemeischen Wald“ in Flammen gesetzt hat und ihn mit dieser Flammenrodung dem Ackerbau zugeführt hat. Die Sternbilder des Löwen und der Jungfrau kommen ins Spiel, dann die Gottheiten Saturn oder Kronos. Homer, der Olymp und die olympischen Spiele tauchen auf. Und es geht gerade so weiter mit lateinischen und griechischen Schriftstellern: Varro, Thukydides. Nicht nur in die langen, komplizierten Sätze tauchen wir also ein, sondern auch in die dichte Welt der antiken Mythologie und Dichtung, der römischen Geschichte und des römischen Rechts, oft von lateinischen Ausdrücken begleitet: procurare auspicia, aqua et igni, humanitas etc. Dann erscheint natürlich auch das dritte große Textkorpus, die alte Bibel mit Noah, Ham, Sem und Japhet und so weiter und so weiter.

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Vorwort

Es ist also nicht verwunderlich, dass mir ein hochgebildeter junger Kollege kürzlich einigermaßen genervt entgegenhielt, dass er nur schwer in den Text hineinfinde. Ich hatte ihn in einem Vico-Seminar gebeten, drei Seiten des Textes zu referieren. Nun, in der Tat, der Text sperrt sich. Man muss mit dem Text und mit sich selbst Geduld haben. Wir haben es dann zusammen versucht. Grazie per la pazienza, Riccardo! Vico ist auch ziemlich unübersetzbar. Ich arbeite seit vielen Jahren an einer Übersetzung der ersten Auflage der Scienza nuova. Ich muss immer wieder aufhören. Es ist einfach zum Verzweifeln. Dann sage ich mir, warum soll ich das eigentlich ins Deutsche übertragen. Es liest doch niemand. Denn es wird auch auf Deutsch schwer zu lesen sein. Wer es dennoch lesen will und kein Italienisch kann, kann es ja auf Englisch lesen. Eine englische Übersetzung gibt es. Aber dann möchte ich mir den dunklen Text doch wieder auf Deutsch vergegenwärtigen. Aber wie übersetze ich, gleich im ersten Kapitel, einen so einfachen Begriff wie senso comune? Als „gemeinsamer Sinn“? (SN25: 8) […] il qual comun desiderio della natura umana esce da un senso comune, nascosto nel fondo dell’umana mente, che gli animi umani sono immortali; il qual senso, quanto è riposto nella cagione, tanto palese produce quello effetto: che, negli estremi malori di morte, desideriamo esservi una forza superiore alla natura per superargli. Mit senso comune ist bei Vico ein Ensemble von vorreflexiven Erkenntnissen gemeint, die allen Menschen gemeinsam sind, universelle Einsichten zwischen Gefühl und Wissen. Aber „Sinn“ passt an der Stelle nicht gut, weil man auf Deutsch nur schlecht sagen kann, dass die Menschen „einen gemeinsamen Sinn haben, dass p“. Im Deutschen hat man zwar eine ganze Reihe von möglichen anderen Ausdrücken für das hier Gemeinte zur Verfügung, man muss aber zwischen „Gefühl, Empfindung“ oder „Wissen, Erkenntnis, Einsicht“ entscheiden. „Gefühl, Empfindung“ ist eigentlich zu körperlich, „Wissen, Erkenntnis, Einsicht“ zu rational. Italienisch senso ist natürlich perfekt, weil es genau dieses körperliche unbewusste Wissen (gr. aisthesis) bezeichnet. Ich versuche es zunächst mit „Empfindung“ und „Gefühl“. Dieser gemeinsame Wunsch der menschlichen Natur geht hervor aus einer im Grunde des menschlichen Geistes verborgenen gemeinsamen Empfindung, dass die menschlichen Seelen unsterblich sind. Dieses Gefühl, wie verborgen es auch in der Ursache ist, so offen erzeugt es doch die Wirkung, dass wir in den äußersten Todesnöten wünschen, dass es eine höhere Macht geben möge, diese zu überwinden.

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Vorwort

„Empfindung“ und „Gefühl“ aber sind zu romantisch. Wenn ich nun „Erkenntnis“ oder „Wissen“ sage, ist das zu rationalistisch, das Körperliche verschwindet. Bei beiden Lösungen geht der traditionelle sensus communis verloren. Also bleibe ich doch beim „gemeinsamen Sinn“, auch wenn dieser nicht ganz grammatisch korrekt ist? Dieser gemeinsame Wunsch der menschlichen Natur geht hervor aus einem im Grunde des menschlichen Geistes verborgenen gemeinsamen Sinn, dass die menschlichen Seelen unsterblich sind. Dieser Sinn, wie verborgen er auch in der Ursache ist, so offen erzeugt er doch die Wirkung, dass wir in den äußersten Todesnöten wünschen, dass es eine höhere Macht geben möge, diese zu überwinden. Ich gebe es wieder auf. Aber es zieht mich auch immer wieder hin. Vielleicht schaffe ich es noch vor meinem seligen Ende, vor den estremi malori. „He remains unreadable and unread“, schreibt Isaiah Berlin (1976: 95). „Unreadable“ schon, aber „unread“ nicht. Die in den letzten fünfzig Jahren aufgeblühte VicoForschung liest Vico höchst intensiv und international. Und auch ich versuche hier, meine Leseerfahrungen zu artikulieren. Die Schwierigkeiten, die Unlesbarkeit, habe ich angedeutet, aber sie sind gerade auch die Herausforderung, die Droge. Ermutigt hat mich dabei das wunderbare intellektuelle Umfeld, in dem ich in den letzten Jahren arbeiten durfte. Die Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“, von Horst Bredekamp und John Krois ins Leben gerufen und im Exzellenzcluster „BildWissen-Gestaltung“ der Humboldt-Universität weitergeführt, schuf die Voraussetzungen für diese Rückkehr zu Vico. „Offen für Außergewöhnliches“ war die Volkswagen-Stiftung, die das Projekt „Symbolische Artikulation“ großzügig gefördert hat, in dem wir notwendiger­weise immer wieder auf Vico zurückgekommen sind. Auch wenn der Titel des Projekts von Cassirer und Humboldt inspiriert war, so war doch die Verkörperung des Denkens in „poetischen Charakteren“ unser Thema. Vichianisch grundiert und mit vielen anderen theoretischen und praktisch-künstlerischen Ansätzen angereichert – Humboldt, Peirce, Cassirer, Merleau-Ponty, Verkörperungsphilosophie – haben wir die Struktur und die Genese von Bild und Sprache erforscht. „Nascono esse gemelle“, „sie entstehen als Zwillinge“, dieses vichianische Prinzip hat uns dabei von Anfang an begleitet und ist im Verlaufe unserer Arbeit immer stärker geworden. Und Vicos Entdeckung, dass die Menschen in poetischen Charakteren sprachen (und sprechen), „parlarono per caratteri poetici“, hat sich im Verlaufe der Forschungen unserer Gruppe voll bestätigt. Der Forschergruppe „Symbolische Artikulation“ ist daher dieses Buch dankbar gewidmet.

Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

1. Vico als Vater und poetischer Charakter der Kulturwissenschaft Im Bereich der auf Englisch humanities genannten Wissenschaften figurieren unter den Ausdrücken „Kulturwissenschaft“ oder – im Plural – „Kulturwissenschaften“ Aktivitäten, die sich einmal programmatisch von den „Geisteswissenschaften“ abgesetzt hatten. Die sich „kulturwissenschaftlich“ verstehenden Bemühungen warfen den alten Geisteswissenschaften das Elitäre ihrer Gegenstände und das Idealistische ihrer Theorie vor. Die kulturwissenschaftliche Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften1 und die Polemik um eine – vermeintliche – Opposition zwischen „Kulturwissenschaft“ und „Geisteswissenschaft“ interessieren heute allerdings niemanden mehr. Es hat sich eine Art friedlicher Koexistenz etabliert: Einerseits hat offensichtlich der Terminus „Geisteswissenschaften“ trotz der kulturwissenschaftlichen Erschütterung den Sieg bei der Bezeichnung der gemeinten Disziplinen (humanities) davongetragen: Der Wissenschaftsrat gab zum Beispiel 2005 ein Memorandum zur Entwicklung und Förderung der „Geisteswissenschaften“ heraus, bei denen selbstverständlich die „Kulturwissenschaften“ mitgemeint waren. „Kulturwissenschaft“ ist andererseits als eine Ausrichtung der humanities anerkannt, die charakterisiert ist durch die Öffnung auf kulturelle Gegenstände, die vorher nicht beachtet wurden (zum Beispiel Gegenstände der Alltagskultur), auf die materiellen und medialen Träger der Kultur und auf Theorien, denen man eine „geisteswissenschaftliche“ Relevanz sonst nicht so unmittelbar angesehen hätte (zum Beispiel Gender-Theorie, Medientheorie). Auch wenn also die humanities als „Geisteswissenschaften“ weiterleben, so hatte doch die „kulturwissenschaftliche“ Wende eine heilsame Besinnung auf ihre Gegenstände, theoretischen Grundlagen und Methoden zur Folge. 1

Vgl. Kittler (Hrsg.) 1980.

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

Im Rahmen einer solchen Reflexion der Grundlagen der Disziplin ist Giambattista Vico von einem einflussreichen Vertreter der „Kulturwissenschaft“ zum „Gründerhelden der Kulturwissenschaft“ ausgerufen worden (Kittler 2000: 19, 43).2 Das ist natürlich ganz wunderbar, weil damit ein großer europäischer Philosoph auch auf die Schreibtische der Studierenden der Kulturwissenschaften gerät. Es ist allerdings auch nichts Neues, sofern Vico seit dem Anfang des letzten Jahrhunderts die Rolle des Gründungsvaters der – damals allerdings „Geisteswissenschaften“ genannten – humanities innehat. Erich Auerbach hat in den zwanziger und dreißiger Jahren durch eine Vico-Übersetzung3 und durch eine Reihe von Aufsätzen4 diese Rolle Vicos in der post-diltheyschen Diskussion um die Begründung der Geisteswissenschaften etabliert. Daher liest man denn auch in einem Übersichtsartikel über die „Geisteswissenschaften“ aus dem Jahre 1973: Der klar umrissene Plan eines konstruktiven Aufbaus der unter diesem Namen [das heißt „Geisteswissenschaften“] zusammengefaßten Klasse von Wissen­schaften wird in der Neuzeit zuerst von Giambattista Vico entworfen. Vico spricht ausdrücklich von einer „Scienza Nuova“, deren Logik durch Kombination der Philosophie mit Philologie und Geschichte systematisch zu erweitern, gegenüber der Logik der Mathematik und Physik selbständig aufzubauen und in dem Evidenz garantierenden Zusammenhang menschlichen Handelns (factum et verum convertuntur) zu fundieren sei. (Riedel 1973: 839) Man hat also nicht erst das Erscheinen der „Kulturwissenschaft“ abgewartet, um Vico zum Gründervater der humanities auszurufen. Dennoch ist es natürlich, wie gesagt, hoch erfreulich, dass Vicos Aktualität auch für die kulturwissenschaftlich renovierten humanities enthusiastisch bestätigt wurde. Weniger erfreulich bei dieser Ausrufung als „Gründerheld“ ist allerdings die Art und Weise, wie das geschieht: Viele Jahrzehnte nach Auerbachs Übersetzung beruht die kulturwissenschaftliche Wiederentdeckung Vicos nämlich allein auf der Lektüre dieses 1924 publizierten deutschen Textes. Das ist doppelt problematisch: Zum einen ist die Auerbach’sche Übersetzung nur eine Teil-Übersetzung des grundlegenden Werkes, der Scienza nuova, und eine hoch-problematische zudem – und mitnichten eine „sehr treue Verdeutschung“ (Kittler 2000: 21).5 Dies weiß man aber

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Kittler verwendet die Ausdrücke „Kulturphilosophie“ (Kittler 2000: 19) und „Kulturgeschichte“ (ebd.: 25) anscheinend synonym mit „Kulturwissenschaft“. Vico ist jedenfalls der Begründer oder Erfinder von allen dreien. Vico 1924. Jetzt in Auerbach 1967. Zu Auerbachs Vico-Übersetzung vgl. Trabant 1994: 211ff.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

nur, wenn man sich die Mühe macht, den ganzen Vico’schen Text kennenzulernen, was seit langem anhand einer neuen Übersetzung durchaus möglich ist.6 Zum anderen ist dies eine etwas schmale Basis für die sehr weitgehenden Aussagen zu einem Philosophen, der in den Jahrzehnten nach Auerbachs Übersetzung außerordentlich intensiv erforscht worden ist. Die Vico-Forschung hat sich in dieser Zeit, vor allem seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zu einer äußerst dynamischen internationalen Aktivität entfaltet,7 die jene sehr deutsche Fassung des Textes und jene sehr deutsche Sicht auf den Autor weit hinter sich gelassen hat. Vor allem haben die neueren Arbeiten gerade die auch hier wieder vorliegende typische Herangehensweise verabschiedet, die in Vico immer nur einen Vorgänger von etwas gesehen hat, aber eigentlich nie ihn selbst. „Vico senza Hegel“, „Vico ohne Hegel“, ist der Titel eines berühmten, für die neuere Vico-Forschung programmatischen Aufsatzes,8 der Vico aus seiner Inanspruchnahme als Vorgänger – hier Hegels – befreite. Die neueren Vico-Arbeiten haben versucht, Vico als Vico zu verstehen. Dabei haben sie – im Gegensatz zum Bild des „Gründerhelden der Kulturwissenschaft“ – vor allem festgestellt: 1. dass Vicos Neue Wissenschaft nicht zuerst eine Wissenschaft von der Kultur (das Wort kommt bei Vico gar nicht vor) oder der Geschichte ist, sondern zuvörderst Philosophie: Vicos Hauptfrage ist: Was können wir wissen? Vicos Philosophie ist vor allem und ausdrücklich Metaphysik; 2. dass die Kultur, um die es zweifellos bei Vico geht, die Gesellschaft mitumfasst, also alles vom Menschen Gemachte meint – Vico nennt es den mondo civile; 3. dass es nicht um Verstehen der Kultur im Sinne moderner Hermeneutik, also um das Interpretieren partikularer Fakten und Gegenstände, geht, sondern um Wissenschaft in einem ganz altmodischen, aristotelischen Sinne; 4. und dass die poetischen Charaktere, die gern aus den Übersetzungen eliminiert und von der Forschung vernachlässigt wurden, das Fundament dieser Wissenschaft sind. Deswegen führt das vorliegende Buch die poetischen Charaktere im Titel. Es geht also nicht an, übergangslos an den deutschen Vico der zwanziger und dreißiger Jahre anzuschließen und Vico auf dieser Basis zum Gründervater der Kulturwissenschaft auszurufen, beziehungsweise ihn zu einem „poetischen Charakter“ dieser Wissenschaft zu stilisieren. Da Vico aber ohne Zweifel permanent auf die Tagesordnung der Kultur- oder Geisteswissenschaften (und der Geschichts- und Sozialwissenschaften!) gehört, soll dagegen im ersten Kapitel dieses Buches versucht

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Vgl. Vico 1990a. Diese wird seit 1971 im Bollettino del Centro di Studi Vichiani aus Neapel dokumentiert. Piovani 1968.

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

werden, Vico als Vico im Lichte der neueren Forschung in Grundzügen darzustellen, die dann im weiteren Verlauf des Werks entfaltet und vertieft werden. Meiner fachlichen Ausrichtung entsprechend steht die Sprach- oder Zeichenphilosophie Vicos im Vordergrund. Die klassischen Arbeiten Erich Auerbachs zu Vico werden natürlich nicht vergessen.9 Ich möchte sogar in der Form an den großen Romanisten anschließen, dass ich den Gestus seines berühmten Werks Mimesis (1946) nachahme, literarische Werke von längeren Textzitaten her zu entfalten. Meine Darstellung nähert sich dem komplexen Denken Giambattista Vicos von den ersten beiden Seiten der Scienza nuova in der dritten Auflage von 1744.

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Von den sechs Vico-Studien in Auerbach 1967 sind vor allem „Vico und Herder“ von 1931 und „Giambattista Vico und die Idee der Philologie“ von 1936 grundlegend (Auerbach 1967: 222–242).

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

Abb. 1  Vico, Scienza nuova 1744, Dipintura (D. A. Vaccaro, F. Sesone) und Titelseite

2. Principj di scienza nuova 2.1. Das Buch beginnt mit einem Bild! Neben dem Bild auf der linken Seite liest man rechts auf der eigentlichen Titelseite: Principj di scienza nuova di Giambattista Vico d‘intorno alla comune natura delle nazioni. In questa terza impressione. In Napoli MDCCXLIV. Das 1744 in dritter Auflage erscheinende Werk hatte in der ersten Auflage 1725 eine ganz andere Form, und erst die zweite Auflage von 1730 entspricht im Wesentlichen derjenigen von 1744, die als Vicos Hauptwerk gelesen, übersetzt und rezipiert wird. Die Prinzipien der neuen Wissenschaft von Giambattista Vico über die gemeinsame Natur der Nationen, Neapel 1744, traditionell als Scienza nuova bekannt, sind das bedeutendste philosophische Werk in italienischer Sprache. Es ragt, jede Diskursgrenze sprengend, auch als ein singuläres literarisches Ereignis empor aus der Ebene des 17. und 18. Jahrhunderts zwischen Tasso einerseits und Goldoni, Manzoni, Leopardi andererseits. Vicos Formel von den poeti teologi aufgreifend und transformierend, jenen „Theologen-Poeten“, die den Anfang des menschlichen Denkens schaffen, könnte man Vico einen filosofo poeta, einen „Poeten-Philosophen“, nennen, nicht nur weil das Verhältnis von Rationalität und Phantasie ein zentrales

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

Thema seines Werkes ist, sondern auch weil bei seinem Schreiben diese beiden Vermögen gleichermaßen am Werk sind und ein poetisches philosophisches Denken neu erschaffen. Die Scienza nuova ist ein großes Beispiel für Wilhelm von Humboldts Satz: „Poesie und Philosophie entwachsen beide demselben Boden“ (Humboldt 1903–36 V: 334). Man hat das gewaltige Gebäude der Scienza nuova mit der Divina Commedia verglichen. In der Tat werden wie bei Dante gewaltige Räume des Wissens durchmessen. Wie bei Dante – „Mi ritrovai per una selva oscura“ – geht auch Vicos Wanderung aus von einem dunklen Wald. Es ist der Wald des Unwissens und der widersprüchlichen Meinungen der Bücher, in dessen Dunkelheit schließlich das Licht der Vico'schen Philosophie leuchtet. Und diese erzählt davon, wie die Menschheit sich aus dem dunklen wilden Wald der Vorwelt – la gran selva di questa terra (SN44: 13)10 – zum Licht der „Humanität“ erhebt. Im Gegensatz zu schlichteren Philosophien der Auf-Klärung vergisst dieses Denken aber niemals die fundamentale kreative Rolle der Dunkelheit, aus der es sich emporarbeitet. Vicos Philosophie ist ein großes Epos. Die Welt, in der sich die Narration abspielt, ist aber nicht das Jenseits wie bei Dante, sondern das Diesseits, das Vico den mondo civile nennt, der gesamte Raum der gesellschaftlichen und kulturellen Formen der Menschheit. Daher ist auch die Richtung der großen Reise grundverschieden: Während Dante vorwärts und von unten nach oben, aus der dunklen Unterwelt zur Höhe des göttlichen Lichts hin wandelt, führt uns Vico zurück und von unserer „menschlichen“ Welt hinab in die Vergangenheit, zu den Anfängen: Principj – das erste Wort des Gesamttitels der Scienza nuova – sind nicht nur logische Urgründe, sondern auch zeitliche und durchaus dunkle Anfänge. 2.2. Principj di scienza nuova, Prinzipien der neuen Wissenschaft. Dieser Titel stellt eine doppelte und von vornherein konfliktuelle Intertextualität her, zu den Prinzipien einerseits und zur Neuen Wissenschaft andererseits. Wer „Neue Wissenschaft“ sagt (und Vico sagt das emphatisch und ausdrücklich: „nova scientia tentatur“ heißt das zentrale Kapitel des Buches, das der Scienza nuova vorausgeht), der bezieht sich auf den fundamentalen Text der Aufklärung, nämlich auf das Novum Organum von Francis Bacon von 1620, das seinerseits auf das alte Organon von Aris­ toteles verweist. In gewisser Weise schließt er damit schon die Alternative aus, die von dem anderen großen Denker des 17. Jahrhunderts, von Descartes, angeboten wird, auf den der Ausdruck „Prinzipien“ verweist. Beide fragen danach, wie Menschen

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Die Stellenangaben entsprechen der in der Vico-Literatur allgemein üblichen, von Fausto Nicolini (Vico 1914–41) eingeführten Absatzzählung, die das Auffinden der Stellen – auch in Übersetzungen – ungemein erleichtert. Für die Abkürzung der verschiedenen Ausgaben der Scienza nuova (1725, 1730, 1744) folge ich dem Vorschlag von Paolo Cristofolini, die Ausgaben als SN25, SN30 und SN44 zu bezeichnen.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

sicheres Wissen gewinnen können. Bacons Neue Wissenschaft bezieht ihre Gewiss­ heit aus der Hand und den Sinnen des Menschen bzw. deren Extensionen (den Instrumenten), kurz: aus der Erfahrung, als einem Weg nach außen, in die Objektivität der Welt. Descartes‘ Weg ist gerade umgekehrt der Weg ins Innere des Subjekts, wo das Denken selbst die einzige Gewissheit gewährt. Enthusiastisch beschwört Vico das Pathos der Neuen Wissenschaft, explizit schließt er an Bacons Methode an – und damit Descartes‘ méthode aus. Daher muss die immer wieder diskutierte Frage, ob er ein Aufklärer sei, von vornherein positiv beantwortet werden – sozusagen unabhängig davon, ob seine Lehre dann dem Mainstream der aufgeklärten Philosophie entspricht oder nicht.11 In demselben Sinne ist ja auch Kant, der die Kritik der reinen Vernunft dem großen Engländer – und damit dem großen Projekt einer Neuen Wissenschaft – widmet, ein Aufklärer, auch wenn er die „normale“ Aufklärung weit hinter sich lässt. Es ist daher auch richtig, dass Vicos Werk als Scienza nuova, als „Neue Wissenschaft“, in die europäische Bildungstradition eingegangen ist und nicht, was ja auch möglich gewesen wäre, als Principj, „Prinzipien“. Aber wer „Prinzipien“ sagt, der ruft schon auch die Descartes’sche Suche nach den Principia philosophiae (1644) auf, die ihrerseits in der jahrtausendealten Tradition der Ur-Frage der Philosophie nach den archai, nach den Urgründen des Denkens und der Welt stehen. Kein anderer Philosoph ist im Denken Vicos so präsent wie Descartes, den er Renato delle Carte, oft sogar nur Renato nennt. Renato ist aber der vehement bekämpfte Gegenpol seines Denkens. Vicos Principj sind daher anti-renatische Prinzipien. Positiv bezieht sich der Ausdruck „Prinzipien“ eher auf Newton, den zeitgenössischen Heros der neuesten Wissenschaft, den Verfasser von Philosophiae naturalis principia mathematica (1687), dem Vico 1725 ein Exemplar der ersten Auflage seiner Principj zuschickte. 2.3. Vico stellt mit dem Titel Principj di scienza nuova die Grundfrage der Philosophie: Was können wir wissen? Der Neubeginn der Philosophie im 17. Jahrhundert verdankt sich ja den großen „Kränkungen“ des europäischen Menschen, der durch die religiösen Reformen, die Wissenschaften und die Entdeckungen seine feste Stellung in der Ordnung der Welt verloren hatte. Die katholische, lateinische Einheit des christlichen Europa ist zerstört. Der Europäer ist nicht mehr Mittelpunkt der Erde, die Erde ist rund, und jenseits des Meeres gibt es Menschen, die deutlich anders sind und sprechen als wir. Ja nicht einmal die Erde ist mehr der Mittelpunkt des Kosmos: Die Erde kreist um die Sonne (die ihrerseits auch nicht das Zentrum der Welt ist). Die Gewissheit des in den (lateinischen) Büchern aufbewahrten Wissens ist dahin. Alles ist neu zu bedenken. Eine neue Wissenschaft muss her: „nova scientia tentatur“. 11

Berlin 1976 zum Beispiel charakterisiert in seinem einflussreichen Buch Vico eher als einen Präromantiker.

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

3. Idea dell’opera In der zweiten Auflage des Buches von 1730 – deren genauer Titel etwas anders ist als der Titel der ersten und der dritten Auflage, nämlich: Cinque libri di Giambattista Vico de’ principj d’una scienza nuova d‘intorno alla comune natura delle nazioni, also: Fünf Bücher von Giambattista Vico von den Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Nationen – erscheint das berühmte Bild zum ersten Mal. Der originale Kupferstich unterscheidet sich durchaus von dem Bild von 1744, das nur ein etwas ungelenker Nachstich ist. Der Stich von 1730 gibt, wie Bredekamp (2015) geschrieben hat, mit seinen vibrierenden und unregelmäßigen Zügen die poetische Bewegung von Vicos Philosophie kongenial wieder, vor allem zeigt er die fundamentale Dunkelheit des Grundes, aus dem sich menschliches Denken emporhebt. Daher muss die dipintura von 1730 mein Buch eröffnen. Das Bild steht 1730 allerdings nach der Titelseite und hat damit noch nicht die philosophisch angemessene Position, nämlich diejenige, an der das Bild in der Ausgabe von 1744 steht.

Abb. 2  Vico, Scienza nuova 1730, Dipintura (D. A. Vaccaro, A. Baldi)

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

Das Bild ist eine dipintura, ein „Gemälde“, welches die „Idee des Werkes“ (idea dell‘opera) darstellt.12 Nichts führt so gut in das Werk Vicos ein wie dieses Bild, bzw. wie dieses Bild zusammen mit der längeren Erläuterung (die in der Originalausgabe 36 Druckseiten einnimmt), in der Vico das Bild deutet.13 Diese spiegazone della dipintura proposta al frontispizio beginnt folgendermaßen:14 (SN44: 1–2) So wie es Kebes aus Theben mit den moralischen Dingen tat, so zeigen wir hier eine Tafel der politischen Verhältnisse, die dem Leser behilflich sein soll, die Idee des Werkes vor der Lektüre zu erfassen und sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter im Gedächtnis zu behalten. Die Frau mit den geflügelten Schläfen über der Weltkugel – das heißt der Welt der Natur – ist die Metaphysik; genau dies besagt ja ihr Name. Das leuchtende Dreieck, das in sich ein schauendes Auge enthält, ist Gott mit dem Blick seiner Vorsehung; ausgehend von diesem Blick betrachtet ihn die Metaphysik in ekstatischer Haltung über die Ordnung der natürlichen Dinge hinaus, aufgrund deren die Philosophen ihn bisher betrachtet haben; in diesem Werk nämlich betrachtet die Metaphysik, indem sie sich noch höher emporhebt, in Gott die Welt des menschlichen Geistes, das heißt die metaphysische Welt, und zwar um seine Vorsehung in der Welt des menschlichen Gemütes, das heißt der politischen Welt oder der Welt der Völker, zu erweisen; diese besteht, wie aus ihren Elementen, aus all jenen Dingen, die das Bild hier mit denjenigen Hieroglyphen andeutet, die es unten zur Schau stellt.15 QUALE Cebete Tebano fece delle Morali, tale noi qui diamo a vedere una Tavola delle cose Civili; la quale serva al Leggitore, per concepire l’IDEA DI QUEST’OPERA avanti di leggerla; e per ridurla più facilemente a memoria con tal’ajuto, che gli somministri la fantasia dopo di averla letta. LA DONNA CON LE TEMPIE ALATE, CHE SOVRASTA AL GLOBO MONDANO, o sia al Mondo della Natura, è la Metafisica, che tanto suona il suo nome. IL TRIANGOLO LUMINOSO con ivi DENTRO un’OCCHIO VEGENTE, egli è Iddio con l’aspetto della sua Provvedenza; per lo qual’aspetto LA METAFISICA IN

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Der berühmte Vorgänger des Vico’schen Titelkupfers - und vermutlich auch sein Modell – ist Hobbes‘ Frontispiz des Leviathan, dem Bredekamp 1999 eine schöne Studie gewidmet hat. Zur philosophisch-kunsthistorischen Interpretation der dipintura vgl. Gilbhard 2012. Allerdings erst nach fünfzehn weiteren Druckseiten mit einem Porträt des Autors, einer langen Widmung, einem Lobschreiben, Bitten um Druckerlaubnis und Imprimaturen. Zu dieser Besonderheit der Vico’schen Schriften siehe Kapitel 2 und 4. Die zitierten deutschen Passagen aus SN44 stammen weitgehend aus der Übersetzung von Hösle und Jermann in Vico 1990a, die ich aber manchmal stillschweigend korrigiere; die Stellen aus SN25 oder SN30, von denen es keine deutsche Übersetzung gibt, sind von mir übersetzt.

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

ATTO DI ESTATICA IL CONTEMPLA sopra l’ordine delle cose naturali, per lo quale finora l’hanno contemplato i Filosofi: perch’Ella in quest’Opera, più in suso innalzandosi, contempla in Dio il Mondo delle menti umane, ch’è ‘l Mondo Metafisico; per dimostrarne la Provvedenza nel Mondo degli animi umani, ch’è ‘l Mondo Civile; o sia il Mondo delle Nazioni: il quale, come da suoi Elementi è formato da tutte quelle cose, le quali la DIPINTURA qui rappresenta co’ GEROGLIFICI, che spone in mostra al di sotto. Ich gebe diesen Anfang im italienischen Original in der von Vico gewollten Interpunktion und typographischen Form wieder mit ihren Kursiven, Majuskeln und heute im Italienischen unüblichen Großschreibungen. In der Erklärung der dipintura fallen insbesondere die Wörter und Phrasen in Majuskeln auf, die alles „Hieroglyphische“ markieren, das heißt die auf das im Bild Sichtbare referieren. Schon die akribische Gestaltung des Sichtbaren der Sprache verweist auf die Bedeutung des Bildlichen (des Visuellen und Ikonischen). Im weiteren Verlauf des Buches sind nur lateinische (juristische) Formeln und Termini, Götternamen und Hinweise auf Überschriften durch Versalien hervorgehoben. Diese von Vico genau überwachte graphische Gestaltung des Textes, welche die Lektüre lenkt und sehr erleichtert, wurde in den späteren Ausgaben verändert bzw. getilgt. Vor allem hat der – ansonsten verdienstvolle – Herausgeber der „klassischen“ Vico-Ausgabe Fausto Nicolini (Vico 1914–41) gewaltig in die typographische Form des Textes eingegriffen durch die Tilgung (fast) aller Auszeichnungen, durch die Einführung von Absätzen, Überschriften und Kapitel-Zählungen. Nicolini hatte dabei allerdings auch die glänzende Idee, die Absätze des großen Buches zu nummerieren. Diese Nummerierung hat es der Forschung sehr erleichtert, sich im Text zurechtzufinden. Seit 2004 bzw. 2013 liegen nun kritische Ausgaben der Scienza nuova von 1730 und von 1744 als Bände VIII und IX der Opere vor, die alle philologischen „Verbrechen“ der Nicolini’sche Ausgabe wieder zurücknehmen und den Text typographisch original rekonstruieren. Leider aber tilgen sie auch die Absatznummerierung, die die Vico-Forschung international zusammengehalten hat.16 Ich behalte in diesem Buch die Nicolini’sche Absatzzählung bei den Zitaten bei.

3.1. Bild und Wort 3.1.1. Caratteri poetici. Die Doppelheit von Bild und Wort bzw. die Vorgängigkeit des Bildes vor dem (hier notwendigerweise gedruckten) Wort führt – sozusagen auf den ersten Blick – einen Grundzug, ein „Prinzip“ Vico’schen Denkens, sinnlich vor Augen: Das Bild geht dem Wort voran, Bild und Wort sind aber „Zwillinge“. Deswegen ist es wichtig, dass Bild und Wort hier auch zusammen auftreten. Das Bild ist 16

Hierzu Trabant 2015a.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

der erstgeborene Zwilling, es ist ein „poetischer Charakter“. Vico hat die Entdeckung der poetischen Charaktere – als seine eigentliche philosophische „Entdeckung“, seine discoverta, angesehen, als seinen originellsten Beitrag zum europäischen Denken. Er formuliert sie narrativ und diachronisch in Absatz 34 als die Erschaffung erster „Wörter“, mit denen die Menschen als „Poeten“ am Anfang der Menschheitsgeschichte gesprochen hätten. „Poetische Charaktere“ sind bildhafte Zeichen, Verkörperungen eines noch „wilden“ phantastischen Denkens: (SN44: 34) […] die ersten Völker des Heidentums waren, nach einer bewiesenen Naturnotwendigkeit, Poeten, die mit poetischen Charakteren sprachen; diese Entdeckung, die der Hauptschlüssel dieser Wissenschaft ist, hat uns die hartnäckige Suche fast unseres ganzen literarischen Lebens gekostet. […] i primi popoli della Gentilità, per una dimostrata necessità di natura furon Poeti; i quali parlarono per Caratteri Poetici: la qual Discoverta, ch’è la chiave maestra di questa Scienza, ci ha costo la Ricerca ostinata di quasi tutta la nostra Vita Letteraria. Das vorliegende Buch versucht, mit diesem „Hauptschlüssel“, dieser chiave maestra, in die Festung der Scienza nuova einzudringen. Das Bild, die dipintura, ist der „poetische Charakter“ der neuen Wissenschaft. 3.1.2. fantasia. Im ersten Satz seiner spiegazione erläutert Vico die Voranstellung des Bildes allerdings nicht medientheoretisch, sondern erkenntnisökonomisch: Das Bild erlaube es dem Betrachter-Leser, vor der Lektüre des Werks die Idee des Werks auf einmal zu erfassen („per concepire l‘idea di quest‘opera prima di leggerla“), das Ganze sozusagen auf einen Blick in den „Griff“ zu bekommen, sich einen sinnlichen, visuellen „Be-Griff“ zu machen (con-cepire heißt ja „be-greifen“). Aber das Bild dient auch noch nach der Lektüre der Wörter dazu, die „Idee“ mithilfe der Phantasie besser im Gedächtnis zu behalten: „e per ridurla più facilemente a memoria, con tal aiuto che gli somministri la fantasia, dopo di averla letta“. In diesem Teilsatz zur Erläuterung der Funktion des Bildes – „sie leichter ins Gedächtnis zu überführen“ – wird nicht nur die traditionelle Mnemotechnik aufgerufen, dergemäß man Bilder besser im Gedächtnis behält als Wörter, sondern auch die Systematik der Vico’schen Philosophie des Geistes: Gedächtnis und Phantasie (und das Ingenium, also ein dreifaches kreatives Geistesvermögen memoria-fantasia-ingegno)17 operieren auf einer mittleren Ebene zwischen dem Körper und den Sinnen (corpo, sensi) 17

Vgl. Trabant 1994, Kap. 7. Vico ist ein Denker von Trinitäten: Fast alle zentralen Denkstrukturen sind triadisch, wie etwa die Abfolge der drei Zeitalter. In welchem Maße die Trias Vicos Denk-Rhythmus ist, zeigt auch das Ziel seiner Philosophie, die dem cartesischen (und

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und der Vernunft (ragione).18 Die gewaltige Masse der Wörter des Werks kann nicht als solche memoriert werden, sondern ist für das Gedächtnis auf die idea dell‘opera, auf die Grundidee, zu reduzieren. Indem sie das Bild aufruft, das diese Reduktion schon geleistet hat, hilft die Phantasie, die vorgängig „begriffene“ Idee im Gedächtnis zu bewahren, wo ohnehin eher Bilder als Worte aufgehoben sind. Die genetische Verwandtschaft von Bild und Wort erlaubt es, das Wort wieder ins Bild zu transformieren. 3.1.3. boria dei dotti. Die Dualität von Bild und Wort am Anfang seines philosophischen Hauptwerks verdeutlicht außerdem mit einem Blick das erste kritische Moment der Philosophie Giambattista Vicos. Vicos Philosophie ist nämlich auch eine Kritik der Moderne: Der modernen rationalen Welt liegt eine alte, wildere, „phantastischere“ Welt zugrunde, die es zu rekonstruieren gilt und die uns moderne Menschen Vorsicht und Bescheidenheit lehrt. Bescheidenheit, weil der mondo civile durchaus nicht, wie manche Philosophen meinen, eine Kreation menschlicher Ratio ist, sondern eine Kreation dunkler, früher, noch körperlicher geistiger Kräfte. Und Vorsicht, weil diese Herkunft jederzeit wieder aufbrechen kann: Rationalität und „Humanität“ sind späte und prekäre Errungenschaften, die auf einer Wildheit aufruhen, die niemals ganz überwunden wird und die daher immer wieder gezähmt werden muss. Den Glauben der Modernen an die fundierende Kraft der Rationalität nennt Vico boria dei dotti, „Anmaßung der Gelehrten“. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts heißt diese Arroganz „Logozentrismus“. Indem Vico eine semiotische Größe der niederen Ordnung der semiotischen Größe der höheren Ordnung voranstellt, das heißt indem er dem Wort das Bild zugrundelegt, macht er die stolzen rationalen Gelehrten auf ihre „poetischen“, „phantastischen“ und visuellen Grundlagen aufmerksam.

3.2. la dipintura Ich folge nun den Hauptgedanken in Vicos spiegazione. Vico liest das Bild gleichsam wie eine beschriebene Seite von oben nach unten, wobei er die visuellen Sinnbilder und ihr Arrangement in Worte transformiert. 3.2.1. Metaphysik etymologisch. Die Frauengestalt mit den geflügelten Schläfen ist die Metaphysik. Sie steht auf der Erdkugel, das heißt auf der natürlichen Welt, „wie ihr Name tönt“, „che tanto suona il suo nome“. Der Nebensatz, „wie ihr Name tönt“, ist für den Leser vielleicht nicht unbedingt so selbstverständlich, wie Vico hier

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augustinischen) Dualismus von Körper und Geist die Trinität von Körper, Sprache und Geist gegenüberstellt (SN44: 1045). Zur genaueren Rolle des Ingeniums, siehe unten Kapitel 4.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

meint. Dem heutigen Leser „klingt“ der Name „Metaphysik“ nicht unbedingt nach irgendetwas, es sei denn, er kennt die entsprechenden griechischen Wörter. Der Name „Metaphysik“ tönt nämlich griechisch: meta ta physika heißt: „über, jenseits der physischen, natürlichen Welt“. Der Hinweis auf den tönenden Namen der Metaphysik ist nun insofern außerordentlich bedeutsam, als er auf ein wichtiges Charakteristikum des Vico’schen Denkens und Schreibens hinweist: Vico denkt gleichsam durch die Signifikanten der italienischen Wörter hindurch, also „etymologisch“ (allerdings nicht in einem modernen wissenschaftlichen Sinne), ohne dass er dies immer explizit macht wie hier. Dabei gibt es für Vico eigentlich keine Differenz zwischen Italienisch, Lateinisch und Griechisch. Basis seiner Etymologien sind diese im Grunde als eine Sprache behandelten drei Sprachen (und die dazugehörige lateinisch-griechische Kultur), deren Wörter gleichsam in ihrer historischen und ihrer modernen italienischen Bedeutung präsent und mit anderen Wörtern gleicher oder ähnlicher Bedeutung verbunden sind. Wenn er beispielweise das Wort poeta benutzt, so denkt er an die italienische Bedeutung „Dichter“ ebenso wie an die griechische Bedeutung von poietes „Macher“, die ihrerseits wieder auf lat. factor, it. facitore, aber auch auf lat. auctor, it. autore etc. verweist. Wenn er nazione schreibt, so steht für ihn dieses Wort in einem semantischen Zusammenhang mit den anderen Wörtern, die von lat. nasci „geboren werden“ abhängen: nascimento, natura, naturale. Manchmal versteht man sogar ein italienisches Wort nur, wenn man es ins Griechische zurückübersetzt. So heißen zum Beispiel die Thesen oder Lehrsätze, die er im ersten Buch aufstellt, degnità, was auf deutsch soviel wie „Würde“ bedeutet. Das italienische Wort degnità übersetzt hier wörtlich den traditionellen griechisch-lateinischen Ausdruck axioma, weil gr. axíoma das ist, was „würdig ist (behalten, gelehrt zu werden)“, von axios „würdig“.19 Und wenn Vico davon spricht, dass das Bild die „Idee“ des Werks zu begreifen erlaubt, so muss man sich vergegenwärtigen, dass die „Idee“ für Vico dem Bild ganz nahe ist: ideia ist nämlich etymologisch etwas „Gesehenes“, Idee ist mit lat. videre „sehen“ verwandt.20 3.2.2. Metaphysik – mondo civile – Metapolitik. Die Metaphysik, also die Philosophie, die auf der Welt der Natur steht, betrachtet ekstatisch das Auge Gottes mit dem Blick der Vorsehung. Aber in Gott betrachtet die Metaphysik nicht die Natur, über die sie hinwegschaut, sondern als eigentliche metaphysische Welt betrachtet sie „die Welt der menschlichen Geister“, die dort in Gottes Vorsehung aufgehoben ist und von dort hinabstrahlt in die Welt der menschlichen Gesellschaft, in den mondo

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In den lateinischen und mittellateinischen Wörterbüchern finde ich das Wort dignitas nicht in dieser Verwendung. Vico ist allerdings nicht der erste italienische Autor, der degnità in diesem Sinne gebraucht; Battaglia verzeichnet Gelli als Erstbeleg. Zu Vicos Sprache vgl. die fundamentale Studie von Vitale 2016.

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civile. Das Auge Gottes sendet seinen Lichtstrahl in das Herz der Metaphysik, von wo er sich ausbreitet in die Welt der „cose civili“ oder die „Welt der Nationen“: (SN44: 2) […] in diesem Werk nämlich betrachtet die Metaphysik, indem sie sich noch höher erhebt, in Gott die Welt des menschlichen Geistes, das heißt die metaphysische Welt, und zwar um seine Vorsehung in der Welt des menschlichen Gemüts, das heißt der politischen Welt oder der Welt der Völker, zu erweisen. […] perch‘Ella, in quest‘Opera, più in suso innalzandosi, contempla in Dio il Mondo delle menti umane, ch‘è ’l Mondo Metafisico; per dimostrarne la Provvedenza nel Mondo degli animi umani, ch‘è ’l Mondo Civile, o sia il Mondo delle Nazioni. Der Ausdruck mondo civile – hier wiedergegeben mit „politische Welt“ – ist der zentrale und bekannteste Ausdruck der Vico’schen Philosophie überhaupt. Er bezeichnet das Gebiet der Realität, auf das sich seine Philosophie bezieht und deren „Prinzipien“ er finden wird. Auch hier gehe ich wieder etymologisch vor, um zu verstehen, was gemeint ist: civile kommt von lat. civis „Bürger“, „Bewohner einer civitas“, was auf griechisch polis, polites und politikos verweist. Socievoli „gesellig“ nennt Vico ein paar Zeilen weiter die Menschen, womit er die aristotelische Wesensbestimmung des Menschen als zoon politikon aufgreift. Gemeint ist also alles, was Menschen schaffen, seien es die im engeren Sinne politischen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, seien es Mythologien und Religionen, Schriften und Kunstwerke, oder, mit dem Ausdruck Ernst Cassirers, die „symbolischen Formen“. Mondo civile meint also „Kultur“ im umfassendsten Sinne dieses Wortes, als Gegenbegriff zu „Natur“, nicht im Sinne der Rubrik der Tageszeitungen, wo die „Kultur“ von der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, dem Sport etc. unterschieden wird. Allerdings muss, wenn man mondo civile mit „Kultur“ wiedergibt (was ich durchaus manchmal in diesem Buch tue), klar sein, dass es sich hierbei um eine durchaus anachronistische Modernisierung handelt.21 Die Philosophie, die die Wahrheit jenseits der Welt der Erscheinungen sucht, die Meta-Physik, findet diese also nicht in der Natur, dem mondo naturale, über den sie hinwegschaut, sondern in der „politischen“ (gesellschaftlichen, kulturellen) Welt: Sie ist wesentlich Meta-Politik. Der Blick auf den mondo civile ist Vicos ganz spezielle Wende der Philosophie, und vielleicht seine erste und bedeutsamste, sicher seine folgenreichste Entdeckung. Die Philosophen haben, so sagt er, die Wahrheit bisher immer in der natürlichen Welt gesucht („l‘ordine delle cose naturali, per lo quale finora l‘hanno contemplato i Filosofi“, SN44: 2). Und wir können heute hinzu21

Näheres hierzu siehe Kapitel 9.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

fügen: Die Philosophen werden die Wahrheit auch nach Vico vor allem in der Welt der Natur suchen. Vico aber ist gerade umgekehrt der revolutionären Auffassung, dass sichere Kenntnisse nur im mondo civile zu finden seien. Deswegen ist er der Lieblingsphilosoph aller Kultur-Wissenschaft. Gleichwohl geht es Vico nicht um die Begründung der Kulturwissenschaft, sondern um die Grundlegung der Philosophie, das heißt um die Bedingungen der Möglichkeit von Wissen (scienza) überhaupt.

3.3. Arbeit und Semiose Der mondo civile, in dem Vico die „Prinzipien“ des sicheren Wissens findet, ist in der dipintura zunächst in zwei Gestalten synthetisiert, die die beiden Hauptprobleme des Lebens der Menschen in der Welt zu lösen beginnen, nämlich durch die materielle Überwindung der Wildheit der Welt einerseits und durch die geistige Überwindung der Fremdheit der Welt andererseits, denkende Aneignung der Welt und Zähmung des wilden Geistes der Menschen: Arbeit und Denken/Sprechen (besser: Zeichen­machen, Semiose): Herkules und Homer. 3.3.1. Herkules. Herkules ist in der dipintura nicht besonders sinnfällig dargestellt. Die – schlecht erkennbaren – Zeichen Löwe und Jungfrau im Zodiak der Erdkugel verweisen, wie Vico in der spiegazione sagt, auf Herkules. Herkules ist der „Gründer“ (fondatore), der „Vater“ (padre), der „Autor“ (autore) (auch dieses Wort ist etymologisch im Sinne von auctor „Urheber“, „Schöpfer“ zu verstehen) der Nation. Als Gründer der Polis ist Herkules der Grundtyp, der „Charakter“ der politischen Helden („il carattere degli eroi politici“, SN44: 3). Herkules bewahrt die Menschen vor den zerstörerischen Kräften der Natur, er „arbeitet“ und ermöglicht damit die Existenz der Gesellschaft, der Polis. Der Löwe ist nämlich der Ur-Wald, den Herkules mit Feuer rodet und damit urbar macht. Herkules überwindet die Wildheit der Natur durch Ackerbau, das heißt durch „Kultur“ im etymologischen Sinne des Wortes: coltura (lat. cultura von colere, „den Acker anbauen“):22 (SN44: 3) […] welcher Löwe hier der große alte Wald der Erde gewesen ist, den Herkules, der der Charakter der politischen Helden gewesen ist, die vor den Kriegs-Helden gekommen sein müssen, in Brand gesetzt und kultiviert hat. […] il qual Lione qui si truova essere stata la gran Selva Antica della Terra; a cui Ercole, il quale si truova essere stato il carattere degli Eroi Politici, i quali dovettero venire innanzi agli Eroi delle guerre, diede il fuoco, e la ridusse a coltura.

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Coltura bedeutet bei Vico immer „Ackerbau“. Der moderne Ausdruck „Kultur“ gelangt erst im 19. Jahrhundert aus der deutschen Philosophie in die europäischen Bildungssprachen.

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3.3.2. boria delle nazioni. Gleichsam en passant wird bei der Erklärung der Herkules-Gestalt das zweite der beiden kritischen Motive des Vico’schen Werks eingeführt, wenn Vico schreibt: „da sich herausstellt, dass jede alte heidnische Nation von einem Herkules erzählt, der sie gegründet hat“ („poichè si truova ogni nazione gentile antica narrarne uno, che la fondò“, SN44: 3). Indem Vico sich durch das mythologische, historische und literarische Material durcharbeitet, das ihm Auskunft gibt über die Konstitution des mondo civile, findet er nämlich heraus, dass sich bei den verschiedenen Völkern strukturell Gleiches abspielt. Damit hat er nicht nur ein wichtiges wissenschaftstheoretisches Prinzip erfüllt, nämlich im empirischen Material allgemeine, universelle Gesetze zu finden, sondern auch sein kritisches Geschäft erledigt. Mit dem Nachweis universeller Gesetze kann er gegen „die Anmaßung der Völker“, die boria delle nazioni, ankämpfen, das heißt gegen Nationalismus oder Ethnozentrismus. Die Völker tendieren nach Vico dazu, ihre jeweiligen politischen Errungenschaften für einzigartig und exzellent vor allen anderen zu halten und sich darum allerlei Ansprüche anzumaßen. Daher hält Vico es für eine politische Notwendigkeit, den Völkern zu sagen, dass alles, was sie für ihre ganz besondere und ganz besonders gute Errungenschaft halten, genauso oder zumindest ähnlich bei den anderen Völkern vorkommt. Die Rechtsverhältnisse und das Denken entfalten sich bei allen Völkern nach den gleichen strukturellen Gesetzen. Den nicht zu leugnenden Verschiedenheiten liegen universelle Strukturen zugrunde: ein Universelles Recht (Diritto Universale) ebenso wie ein Universelles Geistiges Wörterbuch (Dizionario Mentale Comune), die sich nach demselben ewigen Gesetz in der Zeit entwickeln. 3.3.3. Homer. Homer, die zweite fundamentale Gestalt des mondo civile, ist, anders als Herkules, gut sichtbar. Auf das Standbild Homers fällt der Lichtstrahl, der vom Auge Gottes ausgeht und vom Herzen der Metaphysik reflektiert wird. Auch Homer ist ein „Gründer der Nation“ (fondatore delle nazioni), ein „Vater“ und ein „Autor“, Autor nunmehr allerdings auch im Sinne von „Verfasser von Texten“: „der erste Autor des Heidentums“ (primo autore della gentilità). Der Strahl der Vorsehung breitet sich, reflektiert von der Philosophie, aus in den rohen Geist der Menschen, die zu denken beginnen: (SN44: 6) Derselbe Strahl breitet sich aus von der Brust der Metaphysik auf die Statue Homers, des ersten Autors des Heidentums, der auf uns gekommen ist; denn kraft der Metaphysik […] sind wir schließlich in die schweren Geister der ersten Gründer der heidnischen Nationen hinabgestiegen, die noch ganz mit kräftigster Sinnlichkeit und weit umherschweifender Phantasie ausgestattet waren.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

LO STESSO RAGGIO SI RISPARGE DA PETTO DELLA METAFISICA NELLA STATUA D‘OMERO, primo Autore della Gentilità, che ci sia pervenuto; perchè, in forza della Metafisica […] si è da noi finalmente disceso nelle menti balorde de‘ Primi Fondatori delle nazioni gentili, tutti robustissimi sensi, e vastissime fantasie. Homer ist der Ur-poeta, er repräsentiert die sapienza poetica, das poetische Denken des Anfangs, das durch die Sinne und die Phantasie im Geist der Menschen entsteht, die Überwindung der eigenen, geistigen Wildheit des Menschen und die geistige Aneignung der Welt (gegenüber der körperlichen coltura der Welt durch Herkules). Der Ausdruck poetico ist, wie gesagt, etymologisch zu verstehen: Der griechische poietes ist derjenige, der etwas macht, von griechisch poiein „machen“. Die Urmenschen sind wild, fast wie Tiere, bestioni nennt sie Vico, ausgestattet „ganz mit kräftigster Sinnlichkeit“ (tutti robustissimi sensi), in einer wilden und feindlichen Umwelt. In ihrer Menschwerdung müssen sie die eigene und die sie umgebende Wildheit überwinden. Hierzu schaffen sie, gleichzeitig mit der Rodung des Waldes, eine erste „Sprache“, genauer: erste semiotische Größen, eben die „poetischen Charaktere“, caratteri poetici. Als Schöpfer dieser Charaktere sind sie „Poeten“. Zunächst legen sie den Gegenständen selbst (corpi) eine Seele oder Bedeutung bei, dann imitieren sie mit Bewegungen ihrer Körper (atti) die Welt, dann schaffen sie mythische Figuren, in denen sie ihre ersten Gedanken synthetisieren. Sémata, „Zeichen“, ist ein anderes Wort, das Vico gerade aus dem Homer für diese Ur-Zeichen entlehnt. Das erste Denken schaffen die „Poeten“ also in bedeutungsvollen semiotischen Gebilden, signifiant und signifié verbindend, materiell und ideell zugleich. Nach Vico bedeutet das griechische Wort logos (das auch „Mythos“, also „Geschichte, Erzählung“ bedeute) „Gedanke“ und „Wort“ gleichzeitig. Die Wort-Sprache (voci) dominiert, nach einem gleichzeitigen wilden Anfang lautlicher Manifestationen des Denkens in der Zwillingsgeburt des Lautlichen und des Visuellen, erst am Ende eines Prozesses der Zähmung des Geistes und der Zunge.23 Dass die ersten Menschen „Poeten“, Schöpfer von poetischen Charakteren, gewesen seien, nennt Vico zu Recht seine discoverta, seine große „Entdeckung“. Als Wissenschaft dieser poetischen Zeichen oder, Vicos homerisches griechisches Wort sémata aufgreifend, als „Sematologie“24, ist Vicos Philosophie tatsächlich der erste „linguistic turn“ oder besser „semiotic turn“ der Philosophie. Homer steht als Schaffer von „poetischem Wissen“ in „poetischen Charak­ teren“ für die „Poetizität“ der Menschen, für das Erschaffen des Denkens und der 23 24

Siehe Kapitel 6. Dieser Ausdruck ist eine Zeit lang als Alternative zu „Semiotik“ und „Semiologie“ verwendet worden, vgl. Trabant 1994: 9ff.

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Zeichen. Homer ist aber – und das ist eine neue Einsicht Vicos, der er das dritte Buch seiner Scienza nuova widmet – auch selbst (wie Herkules) ein „poetischer Charakter“. Vico vertritt nämlich, vor Friedrich August Wolf (1795), in der sogenannten homerischen Frage die Auffassung, dass Homer gar keine wirkliche historische Gestalt ist, sondern ein von den griechischen Völkern geschaffener Mythos. Die Griechen hätten sich in den homerischen Gedichten ihre historischen Erfahrungen erzählt und später dann auch aufgeschrieben und den Text einer mythischen Gestalt namens Homer zugeschrieben, in der sie gleichsam ihre eigene phantastische Poetenschaft synthetisch als lebendige Figur zusammenfassen. An einer berühmten Stelle der Scienza nuova bestimmt Vico den systematischen Status der poetischen Charaktere als generi fantastici (SN44: 34) oder universali fantastici (SN44: 209), als „phantastische Allgemein- oder Universalbegriffe“. Diese widersprüchliche Definition ist aber gar nichts Geheimnisvolles, sondern ergibt sich aus dem bisher Gesagten: Die Poeten schaffen die ersten Wörter-Gedanken in einem noch wilden Zustand, in dem sie vastissime fantasie, „riesengroße Phantasien“, aber noch keine Vernunft (ragione) haben. Die Phantasie ist nach Vico das den körperlichen Sinnen (robustissimi sensi) am nächsten stehende geistige Vermögen. Ihre Wirkung besteht vor allem darin, die Sinneseindrücke geistig zu wiederholen und zu verändern, vor allem zu vergrößern. Dabei entstehen die mythischen Figuren, die „Charaktere“, Bilder, ganze Erzählungen, konkrete Gestalten also, die aber ein Allgemeines bedeuten, das als solches – als Rationales, Abstraktes – noch nicht gedacht werden kann. Die universali fantastici sind „Modelle“ (SN44: 209), das heißt gewissermaßen frühe Stellvertreter der Allgemeinbegriffe, die als solche erst noch aus dem konkreten Denken des Anfangs abstrahiert werden müssen.25

3.4. Hieroglyphen des mondo civile 3.4.1. Religion, Ehe, Bestattung. Von den beiden Hauptprinzipien des mondo civile, von Herkules und Homer, Arbeit und Sprache, lenkt Vico den Blick auf die weiteren „Hieroglyphen“26, wie er die symbolischen Gegenstände seiner dipintura nennt: auf den Altar (auf dem die Weltkugel, die natürliche Welt balanciert), auf Wasserkrug, Feuer und Fackel, die auf dem Altar stehen, und auf die Urne neben dem Altar. Diese Gegenstände symbolisieren die drei Ur-Institutionen der gesellschaftlichen Welt überhaupt, nämlich Religion, Ehe und Bestattung. Ohne diese „Prinzipien“ ist nach Vico menschliche Gesellschaft nicht möglich. Es sind drei fundamentale Rechtsverhältnisse, welche die Menschen eingehen, drei Bindungen: Die Religion bindet die Menschen an eine höhere Macht (und zähmt damit die Wildheit der Psyche). Die Ehe als Bindung zwischen den Geschlechtern zähmt die Wildheit der 25 26

Vgl. Coseriu 1995. Siehe unten Kapitel 5.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

(männlichen) Sexualität und begründet die Verpflichtung zur Sorge für den Nachwuchs und die Gemeinschaft. Die Bestattung der Toten heilt den brutalen Bruch der Gemeinschaft der Menschen durch den Tod und bindet die Toten an die Lebenden. 3.4.2. Kultur. Ein Pflug lehnt quer am Altar und schiebt sich mit seiner Schar unter den Altar, der die „Prinzipien“ des mondo civile trägt. Er ist das Werkzeug der coltura, des Ackerbaus, auf dem alles – die gesamte „Kultur“ – basiert. An der anderen Seite des Altars lehnt ein Ruder (timone), das die Völkerwanderungen (trasmigrazione de‘ popoli) und die Seefahrt bedeutet. Diese sind in ihrer Anlehnung an den Altar ähnlich fundamental für die menschliche Welt wie der Ackerbau (coltura). Das Ruder ist aber auch dem Pflug feindlich entgegengestellt, sofern die Kultivatoren der Erde, die Sesshaften, die herumirrenden Völker zur Emigration über das Meer zwingen.27 In der Verlängerung der Linie des Pfluges liegt eine Schrifttafel, welche die „Kultur“ im modernen Sinne symbolisiert, also Sprache und Schrift. In der Zusammenfassung seiner „Hieroglyphen“ am Ende der spiegazione weist Vico auf die besondere und zentrale Position der Alphabettafel in der dipintura – und folglich in seiner Philosophie – hin: (SN44: 40) Die Tafel mit den Alphabeten hat ihren Platz in der Mitte zwischen den göttlichen und menschlichen Hieroglyphen, weil die falschen Religionen mit den Buchstaben zu verschwinden begannen, mit denen die Philosophien ihren Anfang nahmen. LA TAVOLA DEGLI ALFABETI È POSTA IN MEZZO A‘ GEROGLIFICI DIVINI, ET UMANI; perchè le false Religioni incominciaron’ a svanir con le lettere, dalle quali ebbero il Principio le Filosofie. Auf der Erde vor den bisher erwähnten „zivilen Dinge“ (cose civili) liegen – von rechts nach links – schließlich ein Liktorenbündel, ein Schwert, eine Börse, eine Waage und eine Flügelhaube, die erwähnten „menschlichen Hieroglyphen“, welche die „bekanntesten menschlichen Dinge bedeuten“ („significanti le cose umane più conosciute“, SN44: 24) und daher als traditionell eingeführte visuelle Symbole keiner ausführlichen spiegazione mehr bedürfen: Das Liktorenbündel (fascio) ist die zivile Gewalt (imperio civile, SN44: 25), das Schwert die militärische Gewalt (diritto della forza, SN44: 27), die Börse der Handel (commerzi, SN44: 28), die Waage die Rechtsgleichheit (ugualità naturale, SN44: 29) und die Flügelhaube Merkurs die Regelung von Krieg und Frieden.

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Zur Opposition von Sesshaften und Nomaden siehe Kapitel 11.

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

3.5. Das Bild im Wort Die ersten Wörter, die das Bild sprachlich „entfalten“ (spiegare), sind – noch vor der langen spiegazione – die Wörter des Frontispiz, also: PRINCIPJ DI SCIENZA NUOVA. 1744 erscheint aber auf dem Frontispiz ein weiteres Bild, das seinerseits der dipintura antwortet: die kleine impresa der sitzenden Metaphysik. Diese Vignette wird von Vico nicht kommentiert, vielleicht ist sie auch nur von der Druckerei auf die Titelseite gebracht worden. Da aber Vico die graphische Gestalt seiner Bücher immer genau überwacht hat, nehme ich auch das zweite Bild als wichtiges Element der philosophischen Botschaft dieser beiden Seiten (Abb. 3).28 Dieses kleine Bild ist wie ein Spiegel der dipintura. Der Spiegel ist das zentrale

Abb. 3  Vico, Scienza nuova 1744, Titelseite, Detail

Element der neuen Figur. Die Metaphysik betrachtet sich im Spiegel, den sie mit der linken Hand hält. Die Reflexion des göttlichen Lichts in der Metaphysik (Gott, Juwel auf der Brust, Homer) der dipintura ist hier Selbst-Reflexion geworden: Der Spiegel entspricht dem Juwel auf der Brust der Metaphysik. Mit der rechten Hand hält die Metaphysik ein Dreieck, mit dem sie zu schreiben scheint. Das Dreieck, auf der dipintura das Dreieck Gott, verweist als typisches Werkzeug des Architekten auf die Handlung des Messens und Bauens. Dies ist also eine Metaphysik, die misst und nachdenkt, eine Philosophie, die schreibt und Werke verfasst. Daher sitzt sie auch. Sie sitzt auf dem Globus, der physischen Welt, sie ist also immer noch Meta-Physik. Und sie stützt sich auf den Altar. Die Position der Philosophie ist also klar die Position zwischen dem Heiligen und dem Wahren. 28

Vgl. Papini 1984: 74–76, Verene 1987, Gilbhard 2012: 68–73.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

Diese Metaphysik ist nicht in Bewegung. Die Impresa gehört nämlich zur Wort- oder Schrift-Dimension des Werks, sie befindet sich auf derselben Seite wie die geschriebenen Worte des Titels. Das heißt sie gehört mehr zur Seite des rationalen Denkens als zur dramatischeren Seite des Bildes der Metaphysik in voller Aktion und Ek-stasis, „la metafisica in atto di estatica“ (S44: 2). Dies ist eine Metaphysik der stasis. Wegen dieser spiegelhaften Dualität – oder spekulativen Ambiguität – sind die beiden Titelseiten der Scienza nuova einander gegenübergestellt, sichtbar zur gleichen Zeit, um dem Blick zu erlauben, sich zwischen den identischen Figuren hin und her zu bewegen: zwischen der Frau mit den geflügelten Schläfen, dem Dreieck, dem Spiegel, dem Altar, dem Globus. Schließlich hält der Blick inne auf der geheimnisvollen Inschrift des Altars: ignota latebat („unerkannt war sie verborgen“). Es war die Metaphysik, die unerkannt und verborgen war. Jetzt aber – in der neuen Wissenschaft – ist sie enthüllt: quidquid latet apparebit.

4. Die fünf Bücher der Scienza nuova Der Blick auf die beiden ersten Seiten der Scienza nuova „ergreift“ (concepire) also die Gesamtidee, welche dann auf sechsunddreißig Seiten in Worten „entfaltet“ wird. Es folgen fünf sehr unterschiedlich lange Bücher, die hier kurz vorgestellt seien. 4.1. Das erste Buch (S. 37–127 der Originalausgabe), Dello stabilimento de‘ princìpi, Von der Feststellung der Prinzipien, ist das „philosophischste“, da es gleichsam das Systematische in relativ abstrakter, begrifflicher Form – wenn auch nicht besonders systematisch – enthält. Die weiteren Bücher sind weitaus narrativer, „poetischer“. Das erste Buch beginnt allerdings mit dem kuriosesten Teil des ganzen Werkes, einer zweiten tavola, nämlich einer Chronologischen Tafel der Weltgeschichte bei den alten Völkern von der Sintflut bis zum zweiten Punischen Krieg, vom Jahr 1656 bis zum Jahr 3849 seit dem Beginn der Welt, deren einzelne Etappen in Anmerkungen (von A bis X) erläutert werden. Dies ist die schematische Exposition des Materials, das der Neuen Wissenschaft zugrundeliegt und das die nun folgenden „Elemente“ formen: (SN44: 119) Um also den soeben auf der chronologischen Tafel aufgeführten Materien Form zu geben, stellen wir hier nun die folgenden philosophischen wie philologischen Axiome auf. Per dar forma adunque alle materie qui innanzi apparecchiate sulla Tavola Cronologica, proponiamo ora qui i seguenti Assiomi, o Degnità così Filosofiche, come Filologiche.

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Diese Axiome (degnità) sollen wie das Blut in lebendigen Körpern durch das Buch fließen und es beleben. Die degnità sind eine geordnete Folge von gleichsam in Stein gehauenen 114 Merksätzen, oft gefolgt von kurzen Erläuterungen, die das Gesamt der Scienza nuova in Kurzform enthalten. Es ist der Katechismus der Neuen Wissenschaft. Nicht von ungefähr heißen sie „Elemente“. Der intertextuelle Bezug ist der zu den berühmtesten Elementen, nämlich denen des Euklid, einem Grundbuch der abend- und morgenländischen Kultur, das Vico oft zum Vergleich heranzieht. Sicher bezieht er sich auch auf die Elementa philosophiae des großen Hobbes, den er oft zitiert. Es folgen die Prinzipien (Vico-Axiom) und die Methode, der philosophische Kern, auf den ich im nächsten Abschnitt eingehe. Das zweite und längste Buch Della sapienza poetica, Vom poetischen Wissen (S.  128–376) löst das Versprechen einer Darstellung der „Anfänge“ des Wissens in einer grandiosen Rekonstruktion des Entstehens menschlichen Wissens ein. Das „poetische Wissen“ der alten Völker, das aus der Phantasie der „Poeten“, der ersten Schaffer von Bildern und Zeichen, entsteht, wird in Form eines Baumes des Wissens entfaltet. Aus dem Stamm der Poetischen Metaphysik gehen zwei Hauptäste des Wissens hervor, der eine betrifft die zivile Welt des Menschen und der andere die Welt der Natur. Aus dem zivilen Ast wachsen die Poetische Logik, die Poetische Moral, die Poetische Ökonomie und die Poetische Politik hervor. Gemäß den beiden Grundachsen der „Idee des Werkes“ werden die (homerische) „Logik“, das heißt die Theorie der poetischen Charaktere, die Sprachtheorie oder besser: Sematologie, und die (herkulische) „Politik“, die Theorie der staatlichen Organisation, am ausführlichsten behandelt. Der natürliche Ast auf der anderen Seite verzweigt sich in die Poetische Physik, die Poetische Kosmographie, die Poetische Astronomie, die Poetische Chronologie und die Poetische Geographie.29 Im dritten Buch Della discoverta del vero Omero, Von der Entdeckung des wahren Homer (S. 379–413), stellt Vico die neue Einsicht (die er in der ersten Auflage der Scien­ z­ a nuova noch nicht hatte) von dem kollektiven und nicht-skripturalen poetischen Charakter Homers vor. Das vierte Buch Del corso che fanno le nazioni, Vom Lauf der Nationen (S. 414–489) spielt den ewigen Ablauf der Geschichte, die Folge von göttlichem, heroischem und menschlichem Zeitalter, in den verschiedenen Gebieten der gesellschaftlichen Organisation durch. Und das fünfte und kürzeste Buch Del ricorso delle cose umane nel resurgere che fanno le nazioni, Vom Wiederlauf der menschlichen Dinge in der Wiedererhebung der Nationen (S. 490–515), zeigt die Wirkung des Gesetzes vom „Lauf der Nationen“ (corso delle nazioni) in seiner Wiederholung (ricorso) in der Geschichte des christlichen Abendlandes. Der corso delle nazioni erweist sich gerade in seinem ricorso als ein ewiges, auch in anderen Zeiten und Gegenden gültiges Gesetz. Auch die Amerikaner hätten den ewigen Gang der Geschichte durchlaufen, 29

Vgl. Tagliacozzo 1995: 49.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

wenn sie nicht von den Europäern daran gehindert worden wären. Eine zehnseitige Conchiusione (S. 515–526) resümiert schließlich – unter Hinweis auf Platons ideale Polis – noch einmal den ewigen Gang der Geschichte, wobei Vico insbesondere die mögliche Beendigung der humanen Gesellschaft durch ihren inneren Verfall beschwört. Besonders beunruhigend ist Vicos Warnung vor einer „Barbarei der Reflexion“ (barbarie della riflessione) durch die Überbietung von Modernität und Rationalität. 4.2. Nach diesem Durchgang durch das ganze Buch folge ich Vicos Anweisung und schaue noch einmal auf die dipintura des Anfangs zurück und lese dazu das Resümee im vorletzten Abschnitt seiner spiegazione. In welchem Maße sich Vico als „Aufklärer“ inszeniert, kann man auch aus der üppigen Entfaltung der Licht-Metaphorik in diesem Abschnitt ersehen: Auf die Dunkelheit (tenebre, oscura) des geschichtlichen Materials ergießt sich das göttliche Licht der Philosophie: raggio, alluma, raggio, luce, schiarito, chiaro, lume. Fiat lux! (SN44: 41) Die ganze Idee dieses Werkes lässt sich also in folgendem Gesamtergebnis zusammenfassen. Die Finsternis im Hintergrund des Bildes ist der Stoff dieser Wissenschaft – ungesichert, unförmig, dunkel –, wie er in der chronologischen Tafel und den dazu verfassten Anmerkungen exponiert wird. Der Lichtstrahl, mit dem die göttliche Vorsehung die Brust der Metaphysik beleuchtet, sind die Grundsätze, Definitionen und Postulate, die diese Wissenschaft als Elemente zugrunde legt, um die Prinzipien, mit denen sie begründet wird, und die Methode, nach der sie geführt wird, zu durchdenken: All dies ist im ersten Buch enthalten. Der Lichtstrahl, der von der Brust der Metaphysik sich auf die Statue Homers ausbreitet, ist das eigentümliche Licht, mit dem im zweiten Buche die poetische Weisheit betrachtet wird und von dem im dritten Buch der wahre Homer erhellt wird. Von der Entdeckung des wahren Homer werden alle Dinge klargestellt, die diese Welt der Völker bilden, indem von ihren Ursprüngen fortgeschritten wird gemäß der Ordnung, in der beim Lichte des wahren Homer die Hieroglyphen hervortreten – dies ist der Lauf der Völker, der im vierten Buch behandelt wird – und, schließlich zu Füßen der Statue Homers angekommen, nach derselben Ordnung von vorne anfangend wiederkehren: Dies wird im fünften und letzten Buch behandelt. Laonde tutta l’Idea di quest’Opera si può chiudere in questa somma. LE TENEBRE NEL FONDO DELLA DIPINTURA sono la materia di questa Scienza incerta, informe, oscura, che si propone nella Tavola Cronologica, e nelle a lei scritte Annotazioni. IL RAGGIO DEL QUALE LA DIVINA PROVVEDENZA ALLUMA IL PETTO ALLA METAFISICA, sono le dignità, le diffinizioni, e i Postulati, che

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questa scienza si prende per elementi di ragionar i Principj, co’ quali si stabilisce, e ‘l Metodo, con cui si conduce; le quali cose tutte son contenute nel Libro Primo. IL RAGGIO, CHE DA PETTO ALLA METAFISICA SI RISPARGE NELLA STATUA D’ OMERO è la luce propia, che si dà alla Sapienza Poetica nel Libro secondo, dond’ è il Vero Omero schiarito nel Libro Terzo: dalla Discoverta del Vero Omero vengono poste in chiaro tutte le cose, che compongono questo Mondo di Nazioni. Dalle lor’ Origini progredendo secondo l’ordine, col quale AL LUME DEL VERO OMERO N’ ESCONO I GEROGLIFICI; ch’è ‘l Corso delle Nazioni, che si ragiona nel Libro quarto: e, pervenute finalmente A’ PIEDI DELLA STATUA D’ OMERO, con lo stess’ ordine rincominciando, ricorrono, lo che si ragiona del Quinto, ed Ultimo Libro.

5. Vico-Axiom Nach diesem Einblick in Vicos großes Buch sollen die Hauptachsen des Vicoschen Denkens unter Heranziehung des Gesamtwerks skizziert werden.

5.1. Vorbereitung Vico hatte zeit seines Lebens die Position eines Rhetorikprofessors an der Universität Neapel inne. Seine Lehrverpflichtungen betrafen (untergeordnete) propädeutische Veranstaltungen. Denn Rhetorik war Teil des Triviums, also trivial (und schlecht bezahlt). Das eigentliche (berufsbildende) Studium spielte sich in den höheren Fakultäten, in der Juristenfakultät oder in der Medizin, ab. Vico hat seine Lehrverpflichtungen ernst genommen und auch ein – allerdings erst postum veröffentlichtes – Lehrbuch der Rhetorik verfasst, die Institutiones oratoriae.30 Als Lehrer der – propädeutischen – Rhetorik oblag es ihm darüber hinaus, als Festredner am Anfang des Studienjahrs aufzutreten, eine Verpflichtung, der wir die bedeutenden Inauguralreden verdanken. Die berühmteste und wichtigste ist De nostri temporis studiorum ratione („Über die Studienmethode unserer Zeit“, 1709). Dies ist ein kleines Buch, in dem Vico die wissenschaftlichen Grundtendenzen der Zeit analysiert und für ein Studium eintritt, in dem nicht nur Rationalität und Natürlich-Mathematisches, sondern auch Phantasie und „Philologisches“ eine fundamentale Rolle spielen sollen. Des Weiteren oblag ihm das Verfassen von Inschriften, Nachrufen und Ähnlichem. Aus den Verpflichtungen als Rhetorikprofessor kann man die massive Präsenz sprachlicher Themen in seinem Denken ableiten bzw. den Grundzug seines Denkens, nämlich dass er von der Sprache her denkt. Auch sein erstes „philosophisches“ Buch, von dem er nur den ersten Teil schreibt, der Liber metaphysicus, argumentiert am Leitfaden der (lateinischen) Sprache: De antiquissima Italorum sapientia 30

Eine vollständige kritische Edition liegt vor in Vico 1989.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

ex linguae latinae originibus eruenda (Über die aus den Anfängen der lateinischen Sprache zu ersehende uralte Weisheit der Italer, 1710). Vico hat sich lange um eine höhere und besser bezahlte Professorenstelle bemüht, und zwar um eine juristische. Um sich hierfür zu qualifizieren, hat er sein lateinisches Hauptwerk De uno universi iuris principio et fine uno (1720–22) verfasst, eine Begründung des universellen Rechts, mit der er in die Auseinandersetzung seiner Zeit um das Naturrecht eingreift und das ihn direkt zur Scienza nuova führen sollte, ja das deren Hauptgedanken schon enthält. Ein Kapitel im zweiten Buch des Werks trägt, wie gesagt, die Überschrift: „nova scientia tentatur“, das heißt „eine neue Wissenschaft wird versucht“. Die große Mühe des Diritto universale war aber vergeblich. Vico gewinnt den Wettbewerb um die Professur nicht, eine bittere Niederlage. Der ungerechte Schlag seitens der Universität war sicher ein Grund für die Wende zur italienischen Sprache, das heißt zu einem Publikum jenseits dieser lateinischen Institution und für die Inangriffnahme seines großen Werks, der Scienza nuova, an dem er bis zu seinem Lebensende 1744 arbeiten sollte.

5.2. Methode Sprache (oder besser: Zeichen) und Recht sind die beiden Hauptthemen, über die Vico arbeitet. Diese beiden Themen bringt Vico in die Tendenzen und in die Fragestellungen der Philosophie seiner Zeit. Der philosophische Horizont, in dem Vico denkt, ist die Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Empirismus, wie sie die Zeit seit Descartes und Bacon und Hobbes bestimmt. Descartes‘ Discours de la méthode erscheint 1637, die Instauratio magna Bacons 1605 bis 1627, der zweite Band, das Novum Organum, 1620, Hobbes‘ Elementa philosophiae 1642–1658. Natürlich kennt Vico auch Locke, Newton, Leibniz, die zeitlich seine unmittelbaren Vorgänger sind. Vico trifft, wie wir gesehen haben, seine Wahl in dieser großen Auseinandersetzung der Zeit, die ja noch das ganze 18. Jahrhundert in Europa bestimmen wird: Leidenschaftlich entscheidet er sich für Bacon und gegen Descartes. Nicht nur verweist der Titel der Scienza nuova auf Bacons Programm der „Neuen Wissenschaft“, sondern im Abschnitt über die Methode im ersten Buch (SN44: 359) sowie im Axiom XXII (SN44: 163) schreibt Vico ausdrücklich, dass seine Neue Wissenschaft der Methode Bacons folge, „der sichersten philosophischen Methode“, die er von den natürlichen Dingen auf den mondo civile übertrage. 5.3. Das Prinzip 5.3.1. Descartes war nun insofern ein Gegenpol zu dieser neuen empirischen Wissenschaftswelt, als er auch diese noch nach den letzten Quellen sicheren Wissens befragte, nach dem Prinzip der Prinzipien sozusagen. Das Experiment war ihm nur eine Form – letztlich unsicherer – sinnlicher Erfahrung. Er fand die Gewissheit und Wahrheit bekanntlich einzig in der Einsicht, dass er denkt (und also ist). Gerade

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

wegen dieser Radikalität, die bei Vico auf heftigen Widerstand stößt, ist Descartes so präsent in Vicos Denken wie kein anderer Philosoph. Seine Autobiographie, die 1728 erscheint und die ich im nächsten Kapitel behandele, ist insgesamt als Gegen-Text zum Discours de la méthode angelegt. Indem Vico genau in dem Bereich, den Descartes als ganz besonders unsicher verwirft, in der Geschichte, in der Poesie, in der Mythologie, in den Rechtsverhältnissen, das Wahre (il vero), also sicheres Wissen (scienza), zu finden glaubt, stellt er sich nicht nur gegen Descartes, der die Wahrheit im reinen Denken findet, sondern auch gegen den Rest der Philosophie, die das Wahre in der Natur sucht und die Welt der Nationen oder die „Philologie“ (wie Vico das Ensemble der Texte und Zeichen nennt, in denen der mondo civile sich mani­ festiert)31 als nicht wissenschaftsfähig ansieht. 5.3.2. Die erste Auflage der Scienza nuova erzählt die Entdeckung von Vicos „Prinzip“, das Aufkommen dieser zentralen Erkenntnis, als das Aufschimmern eines Lichtes in der tiefsten Finsternis, welche die widerstreitenden Bücher der Philosophen und Philologen erzeugen. Das Licht leuchtet auf, wenn man – wie Descartes – dies alles einmal beiseiteschiebt, wenn man sich in einen Zustand „höchsten Unwissens“ („in uno stato di somma ignoranza“, SN25: 40) begibt, „als ob es bei dieser Suche jemals weder Philosophen noch Philologen für uns gegeben hätte“ („come se per questa ricerca non vi fussero mai stati per noi né filosofi né filologi“, SN25: 40) oder „als ob es keine Bücher in der Welt gäbe“ („come se non vi fussero libri nel mondo“, SN44: 330). Die Begründung seiner Entdeckung liefert Vico in der Scienza nuova von 1725 aber eher implizit. In den „volkstümlichen Traditionen der von den Autoren gegründeten Nationen“ findet man deswegen das Wahre, weil diese Welt der Nationen, der mondo civile, von den Menschen selbst gemacht worden ist. In der Dunkelheit der Verwirrung leuchtet das einzige Licht, auf dem Ozean des Zweifels erscheint als einziges kleines Festland, „dass die Welt der heidnischen Nationen aber ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist“: (SN25: 40) Denn alle diese Ungewissheiten zusammengenommen können uns auf keinen Fall an dieser einzigen Wahrheit zweifeln lassen, die die erste einer solchen Wissenschaft sein muss, da in dieser langen und dichten Nacht der Finsternis dieses einzige Licht schimmert: nämlich dass die Welt der heidnischen Nationen aber ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist. Infolgedessen erscheint in diesem unendlichen Ozean von Ungewissheiten dieses kleine Stück Land, auf dem der Fuß Halt finden kann: nämlich dass wir seine Prinzipien in der Natur unseres menschlichen Geistes und in der Kraft unseres Verstehens finden müssen. 31

Siehe unten Kapitel 10.

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Perché tutte queste dubbiezze, insieme unite, non ci possono in niun conto porre in dubbio questa unica verità, la qual dee esser la prima di sí fatta Scienza, poichè in cotal lunga e densa notte di tenebre quest‘una sola luce barluma: che ’l mondo delle gentili nazioni egli è stato pur certamente fatto dagli uomini. In conseguenza della quale, per sí fatto immenso oceano di dubbiezze, appare questa sola picciola terra dove si possa fermare il piede: che i di lui princípi si debbono ritruovare dentro la natura della nostra mente umana e nella forza del nostro intendere. Wie sehr es sich bei dieser Entdeckung des einzigen Lichts um eine Parallele zu Descartes, ja um eine dekonstruktive Umkehrung der entsprechenden Descartes’schen Entdeckung handelt, ist an dieser Stelle besonders evident. Vico findet wie Descartes die Gewissheit des Wissens im Geist: „dentro la natura della nostra mente umana“ (SN25: 40). Nur ist dieser Geist nicht das leere und reine Denken selbst, sondern es ist der Geist, wie er sich in die Gestalten des mondo civile entäußert hat. 5.3.3. Auch in der berühmten Formulierung des „Vico-Axioms“32 der Scienza Nuova von 1744 wird diese Einsicht als ein niemals untergehendes ewiges Licht der Wahrheit dramatisch, cartesisch eingeführt: (SN44: 331) Aber in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste, von uns weit entfernte Vergangenheit bedeckt ist, erscheint dieses niemals untergehende, ewige Licht dieser Wahrheit, die sich keinesfalls in Zweifel ziehen lässt, nämlich dass diese gesellschaftliche Welt ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist. Ma in tal densa notte di tenebre, ond‘ è coverta la prima da noi lontanissima Antichità, apparisce questo lume eterno, che non tramonta, di questa Verità, la quale non si può a patto alcuna chiamar‘ in dubbio; che questo Mondo Civile egli certamente è stato fatto dagli uomini. Aber warum ist denn das Von-den-Menschen-gemacht-Sein eine so große Wahrheit? Hier folgt nun endlich die explizite Begründung: weil nur derjenige, der etwas gemacht hat, es auch erkennen kann. Das Wahre und das Gemachte sind konvertierbar, verum et factum convertuntur. Vico hat diesen Grundsatz, der die Wissensgewissheit des Handwerkers über das von ihm verfertigte Werkstück in ein allgemeines erkenntnistheoretisches Prinzip verallgemeinert, nicht erfunden.33 Und er hatte das Prinzip auch schon in seinem Liber metaphysicus der sicheren Kenntnis zugrundegelegt. 32 33

Das von Fellmann 1976 so genannt wurde. Vgl. Löwith 1968.

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Neue Wissenschaft vom Mondo Civile

Dort allerdings hatte er es einzig auf die Mathematik bezogen. Nun aber wird dieses Prinzip auf den mondo civile übertragen, wobei die Parallele zur Mathematik ausdrücklich festgehalten wird: (SN44: 349) Somit verfährt diese Wissenschaft genau wie die Geometrie, die sich selbst die Welt der Größen schafft, während sie sie nach ihren Elementen konstruiert oder betrachtet; aber mit um so viel mehr Realität, als die Ordnungen in Rücksicht der Ordnungen der Menschen mehr Realität haben als Punkte, Linien, Oberflächen und Figuren. Così questa Scienza procede appunto, come la Geometria, che mentre sopra i suoi elementi il costruisce, o ‘l contempla, essa stessa si faccia il Mondo delle grandezze; ma con tanto più di realtà, quanta più ne hanno gli ordini degli uomini d’intorno alle faccende degli uomini, che non ne hanno punti, linee, superficie e figure. Die Menschen können sicheres Wissen, Wahrheit, aus dem mondo civile beziehen – und nur aus diesem, weil dieser von den Menschen gemacht worden ist. Die Natur dagegen, in der die Philosophen bisher scienza gesucht haben, ist nicht vom Menschen gemacht und kann daher auch nur von ihrem „Macher“, dem Ersten Macher (primo fattore), von Gott selbst verstanden werden: (SN44: 331) Das muss jeden, der darüber nachdenkt, verwundern, wie sich alle Philosophen ernsthaft darum bemühten, Wissenschaft dieser natürlichen Welt zu betreiben, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen hat; und wie sie alle es vernachlässigten, über diese Welt der Nationen oder politische Welt nachzudenken, von der doch, weil die Menschen sie gemacht hatten, die Menschen Wissenschaft betreiben konnten. Lo che a chiunque vi refletta, dee recar maraviglia; come tutti i Filosofi seriosamente si studiarono di conseguire la Scienza di questo Mondo Naturale; del quale, perchè Iddio egli il fece, esso solo ne ha la Scienza; e traccurarono di meditare su questo Mondo delle Nazioni, o sia Mondo Civile; del quale, perché l‘avevano fatto gli uomini, ne potevano conseguire la Scienza gli uomini.

5.4. Das Allgemeine und Ewige Da nicht die Natur sondern die Kultur die Welt möglichen sicheren Wissens ist, werden nun gerade die Bücher, die sowohl die Naturwissenschaftler als auch die cartesische Philosophie verworfen hatten, wieder auf die Tagesordnung der Wissenschaft gebracht, aber doch anders als vorher. Die Bücher – vor allem diejenigen der Alten – sagen nicht unmittelbar die Wahrheit, sondern sie sind das Material, durch das sich die Wissenschaft hindurcharbeiten muss. Dieses kulturelle Wissen ist bis-

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

her von der „Philologie“ erfasst worden.34 Die „Tavola cronologica“ skizzierte diesen „philologischen“ Stoff, den die Philosophie nun zu formen hat. Die Geschichte und die Geschichten, die die Völker erzählen, sind das „Empirische“, das dem prüfenden Blick des Neuen Wissenschaftlers ausgesetzt ist. Und damit, was er tut, auch „Wissenschaft“ ist, muss er nach dem Allgemeinen und Ewigen im Philologischen suchen. Vicos auf der Welt der Kultur und Gesellschaft aufbauende „Wissenschaft“ ist insofern in einem emphatischen Sinne Wissenschaft, als sie das alte aristotelische Prinzip für Wissenschaftlichkeit ausdrücklich unterschreibt: „scientia debet esse de unversalibus et eternis“ (SN44: 163), „Wissenschaft muss sich aufs Universelle und Ewige beziehen“. Das heißt umgekehrt auch: „de individuis non est scientia“, „vom Individuellen gibt es keine Wissenschaft“. Die Übertragung der Bacon’schen Methode auf den mondo civile meint, dass in ihm und nicht in der Natur das Allgemeine und Ewige gesucht wird – und nur hier gesucht werden kann. Vicos Wissenschaft vom mondo civile ist also gerade keine Wissenschaft vom Einzelnen und Besonderen im Sinne der modernen hermeneutischen Geisteswissenschaften. 5.4.1. Diritto universale und dizionario mentale comune. In der unendlichen Vielfalt seines konkreten Materials findet Vico das Gemeinsame und Universelle: Allen menschlichen Gesellschaften liegt nämlich eine gleichförmige politische und kulturelle Struktur zugrunde. Aufgrund der Gleichförmigkeit des menschlichen Geistes („uniformità d‘idee“, SN44: 3) bilden die Menschen überall, wo sie sich organisieren, einerseits dieselben Grund-Institutionen: Religion, Ehe, Bestattung. Dieser universellen gesellschaftlich-rechtlichen Organisation (diritto universale) entspricht auf der parallel dazu verlaufenden semiotisch-geistigen Organisation andererseits ein allen Menschen gemeinsames Denken, ein universelles geistiges Wörterbuch (dizionario mentale comune), das sich im wesentlichen gerade auf diese universellen Rechtsverhältnisse bezieht. So haben nach Vico zum Beispiel alle Gesellschaften ein Wort für den Gründer der Polis, den „Vater“, den „Autor“, den „Poeten“. 5.4.2. Drei Zeitalter. Darüber hinaus entwickelt sich die gesellschaftliche Organisation nach demselben diachronischen Schema, der Abfolge eines „göttlichen“, „heroischen“ und „menschlichen“ Zeitalters. Vico nennt diese den corso che fanno le nazioni, den Lauf der Nationen: Am Anfang steht eine clanmäßig organisierte „Familie“ mit einem großen „Vater-Priester“ als „Gründer“, eine theokratische Herrschaft, auf die eine aristokratische, feudale Herrschaft der Wenigen folgt, die schließlich in eine Gesellschaft mit Rechtsgleichheit für alle Menschen übergeht (die monarchisch oder republikanisch verfasst sein kann). Diese Abfolge der drei Zeitalter ist das diachronische Grundgesetz, das dem mondo civile zugrundeliegt. Es ist die „Ewige Ideale 34

Siehe Kapitel 10.

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Geschichte“ (storia ideal eterna, SN44: 7). Sie findet sich überall auf der Welt, alle menschlichen Gesellschaften durchlaufen denselben corso. Vico blickt zur Bestätigung der Befunde über sein Hauptmaterial, die griechische Mythologie und die römische Rechtsgeschichte, hinaus auf die Germanen, auf die amerikanischen Ureinwohner, die er „patacones“ nennt, und manchmal auch nach Japan und China. Sein Blick ist global. Das universelle Gesetz der Abfolge von göttlichem, heroischem und menschlichem Zeitalter ist darüber hinaus wiederholbar. Ein ricorso, eine Wiederholung des corso, ist möglich. Wenn, wie es in Europa mit dem Ende des Römischen Reiches geschah, eine „menschliche“ Gesellschaft zerstört wird und in die Barbarei zurückfällt, kann sie wieder aufsteigen nach den Gesetzen der storia ideal eterna. 5.4.3. Drei Sprachen. Den Dreischritt von göttlicher, heroischer und humaner Gesellschaft spielt Vico auf allen Gebieten der menschlichen Kultur durch, in der intellektuellen und affektiven Entwicklung der Menschen (natura), die von der Phantasie zur Vernunft (ragione) aufsteigt, in den Rechtsformen, den Regierungsformen, den Sprachen und Schriftzeichen, den Jurisprudenzen, den Gerichtsformen, Kriegen, Strafen und Zahlensystemen etc. Sofern Homer, der Poet, neben Herkules, dem Arbeiter und „politischen Helden“, der zweite Grund-Charakter des mondo civile ist, der die „poetischen Charaktere“ schafft, sofern dem Universellen Recht ein Universelles Wörterbuch entspricht, kommt in allen kulturellen Manifestationen aber den Zeichen und der Sprache eine besondere Bedeutung zu. Der „Ewigen Idealen Geschichte“ entspricht Vicos Geschichte der menschlichen Semiose: die Abfolge von göttlicher, heroischer und menschlicher Sprache. Am Anfang stehen „göttliche“ Zeichen. Dies sind Sachen (corpi), denen die Menschen eine „Seele“ bzw. eine „Bedeutung“ geben. „Heroische“ Zeichen sind nach Vico insbesondere diejenigen, die wir heute ikonische Zeichen nennen würden: Bilder, Vergleiche, Metaphern. Diese transformieren sich schließlich in – scheinbar willkürliche – Zeichen, in Wörter (voci) der „menschlichen“ Sprache. 5.4.4. Zwillinge. Hinsichtlich der Materialität der Zeichen greift Vico eine allgemeine Einsicht der Rhetorik sematogenetisch auf. Als Rhetoriker weiß er nämlich, dass Menschen nicht nur mit der Stimme und akustisch wahrnehmbar sprechen, sondern auch mit Gebärden, visuell. Aus Platons Kratylos übernimmt er die Dualität von phone und schema. Diese Doppelheit von vox und actio nutzt Vico bei der Entwicklung der menschlichen Semiose aus: Lautsprache und Gebärden entstehen gemeinsam, als „Zwillinge“: (SN44: 33) […] sie wurden als Zwillinge geboren und sie schritten gemeinsam voran, in allen ihren drei Arten, die Schriften mit den Sprachen.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

[…] naquero esse gemelle, e caminarono del pari in tutte e tre le loro spezie le lettere con le lingue. Die poetischen Charaktere, in denen die ersten Menschen ihr Denken und Sprechen fassen, entfalten sich in dieser medialen Zweiheit. Dabei ist die actio zunächst stärker als die vox: Am Anfang, in der „göttlichen“ Sprache, ist die Gebärde, das Visuelle, das Vorherrschende. In der heroischen Sprache sind Stimme und Gebärde gleichberechtigt. In menschlichen Zeiten schließlich herrscht die Stimme, die Lautsprache (und die ihnen entsprechende Buchstabenschrift). Da der mondo civile sich insgesamt als riesiges Archiv von Zeichen manifestiert, das die „Philologie“ verwaltet, sind die Zeichen die Basis der Neuen Wissenschaft. In ihnen findet sie das sichere Wissen und die Wahrheit, nach der jede Metaphysik sucht. Vicos Meta-Politik, die Wissenschaft vom mondo civile, die „Kultur-Wissenschaft“, ist als Wissenschaft der poetischen Charaktere und der sich aus ihnen entwickelnden Zeichen des Menschen notwendigerweise Sematologie.

6. Rezeption 6.1. Vico ist – er hat es selbst immer beklagt – offensichtlich zunächst nur wenig und zögerlich gelesen worden. Dennoch gab es in Italien, vor allem in Neapel, eine „kleine“ direkte Vico-Tradition (v. a. Vincenzo Cuoco).35 Wichtiger ist aber vielleicht die quasi „atmosphärische“ Präsenz Vicos in Italien selbst dort, wo man vorrangig andere philosophische Traditionen fortführt, also zum Beispiel bei den italienischen „idéologues“, die eigentlich die französische Spätaufklärung verlängern. Überhaupt ist ja die „Stimmung“ der italienischen Philosophie insgesamt, wenn ich hier ein kühne Verallgemeinerung einstreuen darf, von Bruno bis heute, ziemlich vichianisch, sofern sie die kreativen Kräfte des Geistes, Phantasie und Ingenium (und nicht die raison), als Grundprinzip des menschlichen Denkens fasst und sofern sie das „Zivile“ als ihren hauptsächlichen Gegenstand betrachtet.36 Obwohl die erste Übersetzung der Scienza nuova in eine fremde Sprache die deutsche Übersetzung von 1822 war und obwohl es in Deutschland erste – zögerliche – philosophische Annäherungen an Vico gegeben hat,37 ist Vico von dem französischen Historiker Michelet auf die europäische Bühne und ins europäische Bewusstsein gehoben worden. Michelet hat Vico 1827 ins Französische „übersetzt“ und dabei aus Vico einen sehr französischen Autor gemacht, einen romantischen Geschichtsphilosophen in der Nachfolge Voltaires. Michelet nimmt die eigentlich philosophischen Intentionen 35 36 37

Vgl. Garin 1966/1978, Bd. 3: 1016 ff. Vgl. Bodei 2004. Vgl. Trabant 1996.

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Vicos (die Begründung der scienza) kaum zur Kenntnis, die sprachphilosophischsemiotischen (sémata) blendet er weitgehend aus und instrumentalisiert Vico als Vorgänger seiner eigenen Geschichtsauffassung.38 Dennoch ist es Michelets außerordentlich erfolgreiche französische Adaptation, die Vico berühmt gemacht hat und ihn sozusagen in das europäische Gedächtnis eingegraben hat. Ohne Michelet hätte es vermutlich keine europäische und dann globale Vico-Rezeption gegeben. Neue Dynamik bekam die europäische Vico-Lektüre dann dadurch, dass der bekannteste italienische Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, Benedetto Croce, Vico als Philosophen wieder entdeckte, 1911 ein bedeutendes Vico-Buch schrieb, in dem Vico nun als Vorläufer des historistischen 19. Jahrhunderts erschien („das neunzehnte Jahrhundert im Keime“, Croce 1927: 209),39 und die große Werkausgabe von Fausto Nicolini (Vico 1914–41) anregte. Diese Aktivitäten waren nicht ohne Einfluss auf den zweiten internationalen Rezeptionsschub, den die neue deutsche Teil-Übersetzung der Scienza nuova durch Emil Auerbach 1924 bewirkte. In den zwanziger und dreißiger Jahren hatte der sehr deutsche Vico Auerbachs die Aufgabe, als Vorgänger der Bemühungen um eine wissenschaftstheoretische Begründung der Geisteswissenschaften zu fungieren, die seit Dilthey die Wissenschaftsphilosophie bewegte. Hatte nicht Vico die Wissenschaftsfähigkeit der Wissenschaften von der Kultur behauptet? Das hatte er wohl, es war aber eine andere scienza als die deutsche Geisteswissenschaft.40 Mit Auerbach emigriert Vico dann gleichsam in die Vereinigten Staaten, wo 1948 die englische Übersetzung erscheint, endlich eine gute, komplette Übersetzung in eine fremde Sprache, die nicht auf ein anderes philosophisches oder historisches Projekt hin ausgerichtet ist, eine translatio Vici, die Vico endgültig zu dem Welt-Autor machte, der er heute ist.41 Hierzu hat in der englischsprachigen Welt sicher auch die bedeutsamste literarische Bezugnahme auf Vico beigetragen, diejenige von James Joyce, für dessen Finnegans Wake sowohl der Ablauf der drei Zeitalter als auch die etymologische Sprachverwendung Vicos eine wichtige Anregung gewesen ist.42 Außerdem polemisierte gegen Joyces Vico niemand geringerer als Samuel Beckett (1929). Seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist Vico nicht nur in Italien, sondern gerade auch in der angloamerikanischen Welt43 und in der deutschen Diskussion, zunehmend auch wieder in Frankreich, ein wichtiger philosophi-

38 39 40 41 42 43

Siehe Kapitel 8. „il secolo decimonono in germe“ (Croce 1911/1980: 226). Siehe Kapitel 9. Vico 1948/1986. Vgl. Verene (Hrsg.) 1987. Tagliacozzo gründet die New Vico Studies nach den 300-Jahr-Feiern 1968.

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scher Bezugspunkt. Mit der Etablierung eines Centro di studi vichiani in Neapel hat Italien den Vico-Studien einen sehr aktiven institutionellen Rahmen gegeben, in dem Vico endlich auch als Vico und nicht nur als Vorgänger thematisiert wird. Das Bollettino del Centro di Studi Vichiani ist seit 1971 das wichtigste Publikationsorgan der Vico-Studien. Schließlich hat die spanischsprachige Welt in den Estudios sobre Vico seit fünfundzwanzig Jahren ein aktives Vico-Zentrum. 6.2. Die Metaphysik, Herkules und Homer sind die drei Hauptfiguren von Vicos dipintura, welche die drei großen Bereiche seines Denkens repräsentieren: Wissen (Philosophie), Rechtsgeschichte (Politik) und Sprechen/Denken (Sematologie). Die Rezeption hat sich oft auf einen Bereich konzentriert, obwohl doch alle drei durch den göttlichen Strahl der Vorsehung aufs Innigste miteinander verbunden sind. Seit Vicos Entdeckung durch den Historismus ist „Herkules“ in der VicoRezeption dominant: Vico als Denker einer politischen Geschichte der Menschheit. Der Historiker Michelet feiert Vico als Begründer der „Philosophie der Geschichte“. Ihn hat an Vico der Gedanke des Selbermachens der Geschichte fasziniert, das er aber mehr als prometheische revolutionäre Aktivität denn als geduldige herkulische Arbeit verstand, wie auch die Gesamtkonstruktion der Universalgeschichte, die Abfolge der drei Zeitalter, des göttlichen, heroischen und menschlichen Zeitalters. Michelets Auffassung der Universalgeschichte, zu deren Gipfel das revolutionäre Frankreich die Menschheit geführt hat, steht allerdings in evidentem Widerspruch zur These eines ricorso delle cose umane, einer möglichen Wiederholung des Aufstiegs der Menschheit nach einer universalgeschichtlichen Katastrophe. Die – deutschen – Philosophen oder philosophierenden Theoretiker der Geisteswissenschaften, Kulturwissenschaften, Wissenschaften von der „geschichtlichen Welt“ oder wie immer man die humanities hierzulande nennt, haben sich vor allem für das Vico-Axiom interessiert, also für die „Metaphysik“. Der Absatz 331 der Scienza nuova von 1744 ist damit gleichsam die Lieblingsstelle der deutschen Vico-Rezep­ tion.44 Das Vico-Axiom begründete ja die Wissenschaftlichkeit der Disziplinen vom mondo civile und war eine wichtige Figur in der Legitimierung dieser prekären „Wissenschaften“. Auerbach hatte Vico in die Diskussion um die Begründung der Geisteswissenschaft eingebracht, und Kittler schließt siebzig Jahre später für die Begründung der „Kulturwissenschaft“ unmittelbar an Auerbach an. Echt philosophisch, metaphysisch, nämlich als ernstzunehmende Alternative zur kantischen Transzendentalphilosophie, liest Stefan Otto Vicos Neue Wissenschaft.45 Am wenigsten Beachtung hatte zunächst der dritte Bereich, der sprachphilosophische oder sematologische gefunden, die Theorie der „poetischen Charaktere“, 44 45

Vgl. Fellmann 1976. Vgl. Otto 1989. Vgl. auch Verene 1981.

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obwohl Vico sie als seine discoverta angesehen hatte, als seinen originellen Beitrag zur Philosophie. Diesen Aspekt vertreten die Gestalt Homers und die dipintura selbst, die ja nichts anderes ist als ein poetischer Charakter der Vico’schen Philosophie. In der Vico-Rezeption hat „Homer“ zunächst nur insofern eine Rolle gespielt, als Vico als ein Vorgänger der These vom „kollektiven“ und „oralen“ Homer in der HomerPhilologie angesehen wurde. Aber der mit der Figur Homers vor allem gemeinte Gedanke einer „poetischen“ Begründung des Denkens und Sprechens, kurzum die sprachphilosophische Bedeutung Vicos, ist nach einigen Andeutungen Cassirers46 erst in der neueren Vico-Rezeption erkannt worden.47 Sie scheint derzeit eine besonders attraktive Perspektive der Vico-Lektüre zu sein. Die Diskussion um die Zeichen, insbesondere um Bild und Sprache (die natürlich eingeschrieben ist in eine historisch situierte Philosophie der Erkenntnis und der Geschichte), betrifft zentrale Aspekte des Denkens unserer Zeit. Vicos Philosophie war der erste linguistic turn in der Geschichte der Philosophie (vor dem zweiten bei Humboldt und dem dritten in der modernen analytischen Philosophie). Wo Descartes alle Erfahrung von der Tafel des Denkens abwischte und gleichsam nur in der blankgeputzten Tafel selbst die einzige Wahrheit erkennen mochte, schrieb Vico alle „Charaktere“ der menschlichen Kulturen wieder auf die Tafel des Denkens. In Zeichen und Sprachen (lettere e lingue) erschafft sich menschliches Denken. Daher sind auch in ihnen die Prinzipien der Wahrheit zu suchen, eine Einsicht, auf die sich die moderne Sprachphilosophie viel einbildet. Vico erkannte überdies die tiefe Verbindung von Bild und Wort, warnt sowohl davor, die Rationalität des Wortes zu übertreiben, wie umgekehrt davor, sich ausschließlich der Wildheit des Bildes auszusetzen. Er plädiert für eine Multimedialität menschlicher Kommunikation und Kognition, in der Auge und Ohr, aber auch Phantasie und Rationalität ein delikates Gleichgewicht bewahren.

46 47

Vgl. Cassirer 1923/1973: 91ff. Grundlegend war dafür Pagliaro 1959. Nach den bekannten Arbeiten von Apel 1963, Liebrucks 1964 und Coseriu 1969/72 vgl. auch Cantelli 1986 und Trabant 1994.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

7. Perspektiven 7.1. Embodiment Zur Verdeutlichung der eben angedeuteten Aktualität Vicos möchte ich am Ende dieses einführenden Kapitels die Parallelität – nicht Vorgängerschaft – zwischen Vicos Philosophieren gegen den „reinen Geist“ des Descartes und einer modernen Denkrichtung skizzieren, die ihrerseits immer noch gegen Descartes kämpft.48 Ich beziehe mich dabei auf eine ziemlich breite Protestbewegung gegen „rein mentale“ Auffassungen des menschlichen Geistes in den Kognitionswissenschaften (Computerwissenschaften, Neurowissenschaften etc.), die als „Philosophie der Verkörperung“ zusammengefasst worden ist.49 Auch in der Linguistik hat schon früh eine auf den Körper bezogene Sprachwissenschaft gegen die „rein mentale“, cartesisch-rationalistische Sprachauffassung Chomskys opponiert.50 Die wesentlichen Elemente der Theorien des „verkörperten Denkens“ sind von Fingerhut, Hufendiek und Wild (2013) unter vier Punkten, den vier E.s, zusammengefasst worden: Menschliches Denken ist embodied, enactive, embedded und extended. Die Parallelität von Vicos Philosophie mit dieser Denkrichtung springt geradezu in die Augen. In der Scienza nuova begegnen uns die vier E.s in folgender Form: Embodied. Die Philosophie der Verkörperung kämpft gegen einen modernen Cartesianismus, in dem das Gehirn, aufgefasst als Computer und völlig getrennt vom Körper, die ausschließliche Instanz des Denkens ist. Im 18. Jahrhundert ist natürlich nicht das Computer-Gehirn der Gegner, sondern der reine Geist (intellection pure) von Descartes. Descartes‘ Philosophie hatte auch Neapel erobert. Und Vico opponiert in seiner Geschichte des menschlichen Geistes leidenschaftlich gegen die radikale Trennung von res cogitans und res extensa. Am Anfang steht kein reines Denken der res cogitans sondern ein „korpulentes“ – corpolento – Denken. Memoria-fantasiaingegno, Gedächtnis, Phantasie und Ingenium sind die kognitiven Kräfte des Anfangs. Die Menschen stehen mit diesen „korpulenten“ Geisteskräften in der wilden, unverstandenen Welt. Mit ihrer Körperkraft roden sie Wälder, kultivieren den Großen Wald der Welt, la gran selva del mondo. Mit memoria-fantasia-ingegno, den körperlichen Fähigkeiten des Geistes, schaffen sie Bilder, mimetische Laute und Gebärden, große bedeutsame Körper (corpi), mit denen sie sich die Welt zu eigen machen. Enactive. Das menschliche Denken ist aktive menschliche Zeichenproduktion. Denken ist keineswegs nur passive mentale Repräsentation, sondern die Formen des Denkens sind Geschöpfe, Ergebnisse eines Prozesses des enactment. Die Macher des Anfangs, die facitori, die Vico auch Poeten nennt, das heißt ganz etymologisch 48 49 50

Vgl. zum Beispiel ausdrücklich Damasio 1994. Dafür grundlegend waren die Arbeiten von John M. Krois, jetzt versammelt in Krois 2011. Vgl. Lakoff/Johnson 1980. Vgl. auch Trabant 2016b.

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„Macher“, sind Schöpfer von poetischen Zeichen. Die „poetischen Charaktere“ des Anfangs sind atti – „Handlungen“. Die ersten kognitiven Handlungen sind deiktische und mimetische Handlungen des tanzenden Körpers, der Stimme, die den Donner nachahmt, der zeichnenden und einritzenden (charassein) Hand. Embedded. Der Geist ist in den Körper eingebettet, der menschliche Organismus ist kein isolierter Körper sondern eingebettet in die Welt, und die Welt liegt nicht einfach da, untätig, sie ist ihrerseits aktiv und kommt dem menschlichen denkenden Organismus mit bestimmten Eigenschaften entgegen.51 Affordances nennt die Philosophie der Verkörperung diese dem Menschen entgegenkommenden Eigenschaften der Welt. Vicos semiogenetische Urszene erzählt beispielhaft von einer Welt, die mit bestimmten affordances auf den Menschen zukommt: Der Donner und der Blitz kommen dem Menschen entgegen, und der Mensch verarbeitet die visuellen und auditiven Eigenschaften der Welt in der Produktion bestimmter Zeichen. Die Form der Sachen wird im Zeichen mimetisch nachgebildet. Das erste Wort zum Beispiel, IOUS, hat diese Form, weil ihm der Donner in dieser Lautform entgegenkommt. Extended. Das zeichenmachende Denken ist immer ausgedehnt auf die materielle Welt außerhalb des Kopfs. Clark und Chalmers (1998) haben Otto und Inga als inzwischen sprichwörtliches Paar zur Exemplifizierung der extension des Geistes erfunden: Inga hat all ihr Wissen im Gedächtnis und findet daher den Weg ins MoMa ohne weiteres äußeres Hilfsmittel. Otto dagegen, der schon ein bisschen dement ist, verlässt sich auf ein Wissen außerhalb seines Gehirns, das GPS in seinem Notebook führt ihn ins Museum. Bei Vico ist das Wissen von vornherein extended: Die Zeichnungen, die „Charaktere“, die heroischen imprese sind Denken außerhalb des Schädels. Schon das erste Zeichen überhaupt ist eindeutig und ausdrücklich eine Extension des Geistes in die Welt: Es ist nicht erst Ottos Notizbuch, in dem der Geist außerhalb des Gehirns steckt, also eine äußerst sophistizierte Spätform des Denkens, sondern schon die erste kognitive Bewegung des Menschen transportiert Geist in die Sache. Die ersten Wörter nennt Vico sostanze animate, animierte Substanzen. Der wilde Mensch mit seinen korpulenten geistigen Fähigkeiten überträgt seinen Geist oder seine Seele anima (psyche) auf die Gegenstände der Welt (corpi). Der Baum, der Stein oder der Bach bekommen eine anima. Der Geist dehnt sich in die Welt aus, nicht nur in extremis und in Notsituationen wie bei Otto, sondern prinzipiell. Die Grundbewegung des Denkens ist die Ausdehnung, Vico nennt sie trasporto, Metapher, Übertragung. Denken ist die metaphor we live by.52 Wir haben in Vico alle Elemente der modernen Philosophie der Verkörperung zusammen. Dies ist keine philosophiegeschichtliche Überraschung, da diese ja wie Vicos Philosophie eine Kritik des (modernen kognitionswissenschaftlichen) Carte51 52

Vgl. Engel/Marienberg (Hrsg.) 2016. Vgl. Lakoff/Johnson 1980.

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1. Die Metaphysik, Herkules und Homer

sianismus ist. Vico ist aber kein „Vorgänger“ dieser Philosophie (auch schon deswegen nicht, weil diese in ihrer amerikanischen Version als völlig geschichtslos daher kommt). Eher könnte er einen Beitrag zu ihr leisten, er könnte einer ihrer „Lehrer“ sein: Die „Verkörperung des Denkens“ geschieht bei Vico in der Vielfalt der menschlichen Zeichen, das heißt Vicos Zeichen-Philosophie ist weiter entwickelt und reicher als das, was wir in den verkörperungsphilosophischen Arbeiten bisher lesen. Und auch die Einbettung der Philosophie des Geistes in eine Philosophie der gesellschaftlichen Organisation, die Ausweitung des Blicks von Homer auf Herkules, könnte die Perspektiven der Verkörperungsphilosophie erweitern. Nicht Vorgängerschaft möchte das vorliegende Buch beschreiben sondern Zeitgenossenschaft und damit womöglich etwas zur Zukunft einer lebendigen Philosophie des menschlichen Geistes beitragen.

7.2. Bildakt und Verkörperung In diesem Sinne möchte ich auf die Forschungen hinweisen, die eine Berliner Arbeitsgruppe in den letzten Jahren vorgelegt hat. Ausgehend von Horst Bredekamps Theorie des Bildakts (2010) und der Philosophie der Verkörperung hat sie sich unter dem Titel der „symbolischen Artikulation“ mit den genetischen Bedingungen und strukturellen Eigenschaften von Bild und Sprache beschäftigt.53 Vicos Auffassung, dass Sprache und Bild als „Zwillinge“ geboren werden und sich gemeinsam entwickeln, dass also Denken sich in visuell-gestischen und akustisch-phonischen Formen, als schema und phone, verkörpert, war der Ausgangspunkt von Untersuchungen zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Semiosen.54 Cassirers Ausdruck der „symbolischen Formen“ stand dabei im Wesentlichen für die Gemeinsamkeiten, Humboldts Ausdruck der „Artikulation“ wies auf die strukturellen Differenzen. Bild und Wort artikulieren beide die Welt, hierin sind sie Zwillinge. Die Sprache aber artikuliert darüber hinaus auf eine Art und Weise, die sie vom Bild unterscheidet. Vicos Sematologie war Bezugspunkt und Inspiration dieser Forschungen.55 7.3. Ursprung der Sprache Da Vicos Geschichte des menschlichen Denkens ganz entschieden vom Ursprung und der Entwicklung der Sprache und des Denkens erzählt, steht sie außerdem in Beziehung zu den Überlegungen, die seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts von den verschiedensten Wissenschaften zur Naturgeschichte des Men-

53 54 55

Vgl. Marienberg (Hrsg.) 2017. Zur Aktualität der „Zwillingsdiskussion“ siehe unten Kapitel 7. So ist etwa Noës „writerly attitude“ des menschlichen Denkens durchaus vichianisch, vgl. Noë 2017.

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schen angestellt werden.56 Ursprung und Entwicklung der Sprache ist derzeit eines der prominentesten Themen moderner Wissenschaften vom Menschen.57 Diese können sich auf die ungeheuren Einsichten der Entwicklungsbiologie, der Genetik, der ­Neurowissenschaften beziehen, die seit dem 19. Jahrhundert unser Wissen vom Menschen revolutioniert haben, und scheinen daher sternenweit von den „phantastischen“ Erzählungen Vicos entfernt zu sein. Aber auch die modernen wissenschaftlichen Theorien vom Ursprung heißen mit einer aufschlussreichen Metapher aus der Theater- oder Filmwelt „Szenarien“, das heißt sie sind Vorformen von Scripten zum Ursprung, also unvollständige und fiktive Erzählungen darüber, wie es gewesen sein könnte.58 Ein Blick auf Vicos Szenario könnte da von einigem Erkenntniswert sein.59 Natürlich wird durch die erwähnten Perspektiven die Vico-Lektüre in moderne Diskussionszusammenhänge eingebracht, und Vico scheint wieder ein „Vorgänger“ zu sein. Die Möglichkeit eines solchen Anschlusses macht ja das aus, was man die „Aktualität“ eines Denkers nennt, von der ich ausgegangen war. Dennoch ist die Situation der Rezeption heute insofern eine völlig andere als zu Michelets und Croces Zeiten, als sie sich jetzt vor dem Hintergrund einer differenzierten, weit ausge­ fächerten Vico-Forschung abspielt, die jede einseitige Lektüre wieder in den Vero Vico einholt.

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Vgl. Trabant/Ward (Hrsg.) 2001. Gerade erschienen ist dazu Friederici 2017. Auf die Funktion von scenarios oder historical narratives in der Biologie hat der große Biologe Ernst Mayr 1998: 292f. hingewiesen. Siehe Kapitel 6.

Vater Vico

2. Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland

1. Vita – scienza 1.1. Das Leben in der dritten Person Il signor Giambattista Vico egli è nato in Napoli l’anno 1670 da onesti parenti, i quali lasciarono assai buona fama di sé. Il padre fu di umore allegro, la madre di tempra assai malinconica; e così entrambi concorsero alla naturalezza di questo lor figliuolo. (V: 5)1 Herr Giambattista Vico ist im Jahre 1670 zu Neapel geboren. Er stammt von achtbaren Eltern, die einen sehr guten Ruf hinterlassen haben. Der Vater war von heiterer Gemütsart, die Mutter dagegen hatte ein ziemlich melancholisches Temperament. In diesem Sinne wirkten auch beide Eltern auf das Wesen ihres Sohnes ein. (A: 7)2 So beginnt Vicos Vita, die er 1725 selbst geschrieben hat, scritta da se medesimo, und die 1728 in Venedig im Druck erschien. Der Herr Vico ist aber nicht 1670 geboren, wie er schreibt, sondern 1668, und zwar am 23. Juni. Vicos Leben war ähnlich ortsgebunden und äußerlich ereignislos wie dasjenige Kants, der sich ja bekanntlich aus seinem heimatlichen Königsberg nicht wegbewegt hat. Vico hat sein ganzes Leben in Neapel verbracht, bis auf eine neunjährige Abwesenheit als junger Hauslehrer einer Adelsfamilie auf dem Land im Süden Neapels. In Neapel war er dann als schlecht bezahlter Professor für Rhetorik an der Universität tätig. Er war verheiratet, hatte acht Kinder (von denen fünf überlebten). Es

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Die Abkürzung V steht für die Ausgabe der Vita in Vico 1990b, 1: 3–60. Die Abkürzung A steht für die unter dem Titel Autobiographie erschienene Übersetzung der Vita von Vinzenz Rüfer (Vico 1948), die ich hier und da stillschweigend verändere. So korrigiere ich zum Beispiel gleich den Anfang der Übersetzung, an dem Rüfer den „Herrn Vico“ wegübersetzt: „Giambattista Vico ist im Jahre 1670 zu Neapel geboren“. Aber die radikale Selbstdistanzierung Vicos als „il signor Giambattista Vico“ ist entscheidend.

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Vater Vico

gelang ihm nicht, einen besser bezahlten juristischen Lehrstuhl zu erhalten. Die bedrückende ökonomische Situation war nicht zuletzt der Grund eines Gefühls der ungerechten Behandlung, der Zurücksetzung, der Nichtanerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung, das seine Vita durchzieht. Nicht von ungefähr ist schon im zweiten Satz seiner Vita von Melancholie die Rede. Als er 1725 vom Grafen Porcia gebeten wurde, eine Vita zu schreiben, war er aber immerhin in Italien schon so berühmt, dass er mit anderen Zelebritäten der gelehrten Welt Auskunft über sein Leben geben sollte. Vico war der einzige, der diese Hausaufgabe dann auch erledigte. Er hatte in der Tat bis zu diesem Jahr eine ganze Reihe wichtiger Bücher auf Lateinisch geschrieben, und er hatte 1725 gerade sein Hauptwerk vollendet, auf Italienisch diesmal, die Scienza nuova bzw. genauer, wie wir gesehen haben: Principj di una scienza nuova intorno alla natura delle nazioni. Wenn er 1725 sein Leben erzählt, blickt Vico auf fünfundfünfzig Jahre zurück (er sagt ja, er sei 1670 geboren), vor allem aber blickt er von diesem Werk aus auf sein Leben zurück. Dieses Leben wird in eine Narration gebracht, an deren Ende als Telos die Principj di una scienza nuova stehen. Die Autobiographie ist ganz auf dieses Werk ausgerichtet, von Anfang an. Die Arbeit an seinem Werk wird nun nicht als subjektive Errungenschaft eines erzählenden Ich präsentiert, sondern als die einer dritten Person, die bei der ersten Nennung auch noch höflich als Herr Giambattista Vico distanziert wird: „il signor Giambattista Vico“. Weiter kann man sich nicht von seinem Ich entfernen. Wir sprechen nicht von uns selbst als dem Herrn Neumann oder der Frau Müller. Auch die anderen Gelehrten und in sein Leben eingreifende (lebende) Personen nennt Vico zumeist bei der ersten Nennung „il signor X“ oder „il signor conte di X“. Auch hier diese formelle höfliche Distanzierung. Vicos Ich ist in eine objektivierte, distanzierte Gestalt in der dritten Person transformiert. Vielleicht ist auch die Verschiebung des Geburtsjahres der unbewusste Effekt dieser Schaffung von Distanz. Aus dieser Vita wird fast alles getilgt, was nicht zum Telos, dem Werk, hinführt. Deswegen sind zwar die Eltern hier am Anfang genannt, als Geber eines dem Gelehrten angemessenen Temperaments, einer Mischung aus Lebhaftigkeit und Melancholie. Der Vater wird zweimal erwähnt, als jemand, der die Studien seines Sohnes lenkt. Die Mutter, die Quelle der gelehrten Melancholie, kommt nur noch einmal vor, nämlich wenn sie sich Sorgen macht um einen Sohn, der ohne Rücksicht auf seine Gesundheit die Nächte durchstudiert. Seine Frau aber, mit der Vico acht Kinder hat, wird mit keiner Silbe erwähnt. Die Kinder kommen vor, en passant, und zwar als Quelle eines Hindernisses am Werk: Sie machen Krach. Sie lärmen – offensichtlich störend – vor der großen Entscheidung in der Universitäts-Karriere. „Tra lo strepito de’ suoi figlioli“ (V: 51), „unter dem Lärm seiner Kinder“ muss Vico sich auf die größte Prüfung seines Lebens vorbereiten, die er dann nicht besteht.

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2. Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland

Dass die Frau und die Kinder keine größere Rolle spielen in dieser Vita, ist auch insofern bemerkenswert, als Vico in seinem sonstigen Werk größten Wert auf Vaterschaft legt. Die Figur des Vaters – des padre, des autore, des poeta, des facitore – ist fundamental für sein Denken und ganz offensichtlich auch für sein Fühlen. So weist er in den sogenannten Vindiciae wütend die Behauptung des Rezensenten der Acta eruditorum zurück, dass er ein neapolitanischer Priester sei. Er besteht darauf, dass er ein verheirateter Mann ist, der fünf Kinder mit seiner Frau hat, ein Vater also: „Ego vero uxorem triginta abhinc annis duxi […] ex qua quinque filios habeo superstites“ (VV: 9).3 Die Ehe mit einer festen Frau, die dem Vater sichere Kinder gebiert, ist in Vicos Universalgeschichte die Basis der menschlichen Gesellschaft. Die Abwesenheit seiner Rolle als Vater seiner Kinder in der Vita ist aber nicht die Tilgung von Vaterschaft, sondern ein weiteres Indiz dafür, dass es Vico hier allein auf die Vaterschaft seines Werks ankommt: sozusagen als autore, padre, poeta dell’opera. Er nennt das Werk, die Scienza nuova, in den Vindiciae „meus genuinus partus“, „mein echtes Kind“.

1.2. Zwei Stürze Private Ereignisse, wie sie in jedem Leben vorkommen – Geburten, Todesfälle, Krankheiten – spielen also nur eine geringe Rolle in der Vita, eben als Hindernisse bei der Arbeit. Während der Arbeit an der Geschichte des Antonio Caraffa plagen ihn zum Beispiel Schmerzen im Arm und die strepiti domestici (V: 43), der Krach im Haus. Zwei solcher Ereignisse sind allerdings umso dramatischer inszeniert, weil sie für das Werk von fundamentaler Bedeutung sind. Es sind zwei Stürze, zwei Fälle: Erstens stürzt Vico als Kind von einer Treppe: „ma in età di sette anni, essendo col capo in giù piombato da alto fuori d’una scala nel piano“ (V: 5), „stürzte er im Alter von sieben Jahren kopfüber von der Höhe einer Treppe auf den Boden“ (A: 7) . Und zweitens fällt Vico als erfahrener Professor tief nach der erwähnten erfolglosen Bewerbung für einen höher dotierten Lehrstuhl. Es sind lebensgefährliche Stürze. Aber beide Stürze führen schicksalshaft hinauf zum Telos dieses Lebens, zum Werk. Der Sturz als Kind verstärkt seine von den Eltern gegebene Doppelnatur, die ihn zum Gelehrten macht: „dass Giambattista seitdem melancholischer und reizbarer Art blieb, wie dies ja bei geistvollen und tiefen Menschen sein muss“ (A: 8), „che indi in poi e’ crescesse di una natura malinconica ed acre, qual dee essere degli uomini ingegnosi e profondi“ (V: 5). Und der zweite Sturz, der Fall von der Höhe der als sicher gewähnten und verdienten Bewerbung um den juristischen Lehrstuhl, führt direkt zum Hauptwerk. Der ganze Vorgang der Bewerbung um diese Stelle wird ausführlich, auf vier Druckseiten, dargelegt: die Wahl des Themas, die Ausarbeitung, die Argumentation, sogar die Fehler 3

Siehe Kapitel 4. VV ist die Abkürzung für Vici Vindiciae in Vico 1996.

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Vater Vico

beim Vortrag stellt Vico genauestens dar. Er hat den Wettbewerb nicht gewonnen, weil er es versäumt hatte, den Verantwortlichen zu schmeicheln und zu anticham­ brieren. Aber diese disavventura (V: 52) bekommt ihren Sinn durch die dadurch veranlasste Abfassung des Hauptwerks. Überzeugt, dass er für den Ruhm des Vaterlandes geboren ist, richtet Vico sich nach dem Sturz nämlich zum Höchsten auf: […] che da questo colpo di avversa fortuna, onde altri arebbe rinunziato a tutte le lettere, se non pentito di averle mai coltivate, egli non si ritirasse punto di lavorare altre opere. Come in effetto ne aveva già lavorata una divisa in due libri. (V: 53f.) Nach dem Streich, den ein ungünstiges Schicksal Vico gespielt hatte, hätte jeder andere in seiner Lage allen Wissenschaften entsagt oder sogar bereut, sie jemals getrieben zu haben. Vico aber ließ sich keinesfalls davon abhalten, weitere Werke auszuarbeiten. Er schrieb denn auch tatsächlich ein in zwei Bücher geteiltes Werk nieder. (A: 100) Die zwei hier erwähnten Bücher sind die Vorstufe zu der dann 1725 erschienenen Scienza nuova. Dass die Erzählung des Lebens völlig auf das Werk ausgerichtet ist, bedeutet auch, dass diese Vita fast ausschließlich eine Erzählung von Lektüren und Schriften ist. Vico erzählt, welche Bücher er von frühen Knabenjahren an gelesen hat und was er von ihnen hält. Er berichtet, wie er sich durch Logiktraktate, Naturphilosophie und Metaphysik, durch die Naturrechtsdiskussion durcharbeitet. Dann schreibt er, welche Bücher er selbst geschrieben hat und was sie enthalten. Ausführlich referiert er seine sechs ersten Inauguralreden zum Studienjahr der Universität, sein Liber metaphysicus (De antiquissima Italorum sapientia) (1710) und das Werk über das Naturrecht De uno universi iuris principio (1720), sein lateinisches Hauptwerk, das ihn für den juristischen Lehrstuhl qualifizieren sollte. Er entwickelt darin eine katholische Antwort auf die drei großen protestantischen Naturrechtslehren von Selden, Pufendorf und Grotius. Schließlich resümiert er die Scienza nuova von 1725 auf sechs Druckseiten.4 Man würde annehmen, dass Vico auch über seine Tätigkeit als Professor an der Universität Neapel berichtet. Aber er erzählt nur, wie er den rhetorischen Lehrstuhl gewinnt, sagt dann aber nichts mehr über diese Tätigkeit. Nicht einmal, dass er dafür ein Lehrbuch der Rhetorik verfasst hat, ist ihm der Erwähnung wert.5

4 5

Siehe das nächste Kapitel. Diese Institutiones oratoriae lässt er auch nicht drucken, sie sind auch erst 1989 vollständig publiziert worden, vgl. Vico 1989.

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2. Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland

1.3. Renato Die ausschließliche Erzählung von Lektüren und Schriften macht die Vita nicht gerade zu einer für jeden Leser interessanten Lektüre, wie etwa die Confessiones des Augustinus oder Rousseaus, die alle Lebensaspekte betreffen. Vicos Vita ist aber unerlässlich für das Verständnis seines Werks. Sie ist wegen ihrer Konzentration auf das Werk ein konstitutiver Teil der Vico’schen Philosophie. Und in dieser Hinsicht ist sie absolut vergleichbar mit dem Text, auf den sie sich bezieht und dessen Gegenbild sie in jeder Hinsicht ist: Descartes’ Discours de la méthode. Der Discours de la méthode heißt nicht „Vita“, obwohl er natürlich auch eine Lebensbeschreibung ist. Umgekehrt könnte auch Vicos Vita ohne weiteres „Discorso del metodo“ heißen, denn sie beschreibt den Weg – griechisch hode – zur sicheren und wahren Erkenntnis. Beide Bücher sind Erzählungen „über den Weg“ (met’ hode) zur großen philosophischen Einsicht. Und beide sind teleologisch auf die Gewinnung dieser Grundwahrheit ausgerichtet. Aber Vico will alles anders machen als Descartes. Descartes sagt Ich. Die Erzählung des Discours beginnt: „Pour moi, je n’ai jamais présumé que mon esprit fût en rien plus parfait que ceux du commun“ (Descartes 1637/1960: 33), „Ich meinerseits habe niemals angenommen, dass mein Geist in irgendeiner Hinsicht vollkommener wäre als der Geist gewöhnlicher Menschen.“6 Er erzählt seine subjektive Geschichte, weil er die wahre Erkenntnis an das Ich bindet: „Ich denke, also bin ich.“ Renato erzählt die Geschichte seines Wegs in drei Schritten: 1. Ich lerne in der Schule alles, was in den Büchern steht: „J’ai été nourri aux lettres dès mon enfance; et […] j’avais un extrême désir de les apprendre“ (ebd.: 35), „Ich bin seit meiner Kindheit mit Wissenschaften genährt worden, und […] ich hatte eine außerordentliche Lust, sie zu lernen.“ Alle diese Wissenschaften bringen aber keine „klare und sichere Erkenntnis“ („connaissance claire et aussurée“, ebd.: 35). 2. Also lasse ich sie hinter mir. Ich gehe dann in die Welt, um im „großen Buch der Welt“ zu lesen, im „grand livre du monde“ (ebd.: 40). Aber auch dort finde ich keine sichere Erkenntnis. 3. Also bleibe Ich als einziger Ort des Wissens zurück. Und in der Tat finde ich dort die Wahrheit der Selbstgewissheit des Denkens: „Je pense donc je suis“ (ebd.: 67). Weil diese Geschichte des Ichs nicht an die historische, individuelle Person Descartes gebunden ist, sondern universelle Geltung beansprucht – jedes Ich findet in sich diese einzige und ewige Wahrheit – bleibt das Ich des Descartes im Discours historisch wenig bestimmt oder wenig individualisiert. Das Ich sagt nicht, wie es heißt, es nennt keine Zeit und keinen Ort der Geburt. Eltern, Frauen und Kinder bleiben gänzlich unerwähnt. Sogar die außerordentliche Bewegung dieses Lebens, die

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Die Übersetzung der Descartes-Passagen stammt von mir.

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Vater Vico

Reisen des Descartes, bleibt ziemlich schemenhaft. Es kommt auch nicht darauf an, es geht ja um das universelle Ich. Vico glaubt Renato diese Geschichte nicht, er hält sie für eine Fiktion: „finse Renato“, und erzählt seine ganz parallele Erfahrung anders: Da sì fatta disperazione (tanto egli è pericoloso dare a’ giovani a studiar scienze che sono sopra la lor età!) fatto disertore degli studi, ne divagò un anno e mezzo. Non fingerassi qui ciò che astutamente finse Renato Delle Carte d’intorno al metodo de’ suoi studi, per porre solamente su la sua filosofia e mattematica ed atterrare tutti gli altri studi che compiono la divina ed umana erudizione; ma, con ingenuità dovuta da istorico, si narrerà fil filo e con ischiettezza la serie di tutti gli studi del Vico, perché si conoscano le propie e naturali cagioni della sua tale e non altra riuscita di litterato. (V: 7) In dieser Verzweiflung – so gefährlich ist es, jungen Leuten Fächer zum Studium anzuweisen, für die sie noch zu jung sind! – wandte er den Studien den Rücken und schweifte einundeinhalb Jahre von ihnen ab. Es soll hier nun nicht gefabelt werden, wie René Descartes schlauerweise über die Methoden seiner Studien gefabelt hat, um lediglich die Philosophie und Mathematik zu erheben, alle anderen Bestrebungen aber, welche die göttliche und menschliche Gelehrsamkeit ausmachen, herabzusetzen; vielmehr soll mit der Unbefangenheit, die des Historikers Pflicht ist, genau und schlicht die Reihenfolge aller Studien Vicos erzählt werden, damit man die eigentlichen und natürlichen Ursachen erkenne, die ihn als gelehrten Schriftsteller so und nicht anders werden ließen. (A: 11) Vico fügt seine Descarteskritik an der Stelle seiner Vita ein, wo sich in seinem Leben Ähnliches wie bei Descartes ereignet. Wie Descartes lässt auch Vico in seiner Jugend die Bücher hinter sich. Er hatte sich die falschen Bücher vorgenommen und sich daher von den Studien abgewandt. Auch er ist ein disertore degli studi, ein „StudienDeserteur“. Descartes erzählt ja, dass er sich ganz von den Büchern abwendet und in die Welt hinausgeht: C’est pourquoi […] je quittai entièrement l’étude des lettres; et me résolvant de ne chercher plus d’autre science que celle qui se pourrait trouver en moimême, ou bien dans le grand livre du monde, j’employais le reste de ma jeunesse à voyager. (Descartes 1637/1960: 40) Deswegen habe ich das Studium der Wissenschaften ganz hinter mir zurückgelassen; und ich beschloss, keine andere Wissenschaft mehr zu suchen als die, welche sich in mir oder aber im großen Buch der Welt befinden konnte, und verbrachte den Rest meiner Jugend mit Reisen.

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2. Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland

Diese Abwendung von den Büchern glaubt ihm Vico nicht. Denn Vico kehrt zurück zu den Büchern. Und in den Büchern findet er seine Wahrheit, während Descartes dann auch noch das „große Buch der Welt“ hinter sich lässt und die einzige Wahrheit in sich selbst findet, im Ich, „en moi-même“. Gerade von dieser massiven Präsenz des Ich, von dieser philosophischen Subjektivierung des wahren Wissens, distanziert sich Vico mit der Versetzung in die dritte Person und mit der höflichen Distanzierung von sich selbst als dem „Herrn Vico“. Und er fügt eine weitere Objektivierung hinzu: die Selbstcharakterisierung als Historiker: ma, con ingenuità dovuta da istorico, si narrerà fil filo e con ischiettezza la serie di tutti gli studi del Vico. (V: 7) vielmehr soll mit der Unbefangenheit, die des Historikers Pflicht ist, genau und schlicht die Reihenfolge aller Studien Vicos erzählt werden. (A: 11) Der cartesischen Fiktion – Renato finse – steht Vicos Geschichtsschreibung – da istorico – gegenüber. Die starke Bezugnahme auf Descartes schafft, trotz ihrer Negativität, ein geradezu brüderliches Verhältnis zu diesem Philosophen. Keinen anderen nennt er, wie Descartes, bei seinem Vornamen.

1.4. Renato: le premier principe Bruder Renato ist der philosophische Gegner. Er repräsentiert für Vico eine falsche Naturphilosophie und einen verfehlten Rationalismus, den er insbesondere für die Erziehung der Jugend für fatal hält. Dass die einzige sichere Erkenntnis im Cogito liegen soll, kritisiert Vico in der Vita durch die Tilgung des Ichs und dann aber gerade auch dadurch, dass er Renatos Wegbeschreibung zu seiner einzigen Wahrheit imitiert und konterkariert. Am Anfang des vierten Teils des Discours, am Ende der Reise durch die Bücher und durch das große Buch der Welt, stellt Descartes ja einigermaßen dramatisch fest: […] et remarquant que cette vérité: je pense, donc je suis, était si ferme et si assurée que toutes les plus extravagantes suppositions des sceptiques n’étaitent pas capables de l’ébranler, je jugeai que je pouvais la recevoir sans scrupule pour le premier principe de la philosophie que je cherchais. (Descartes 1637/1960: 65f.) […] und als ich bemerkte, dass diese Wahrheit „ich denke, also bin ich“ so fest und so sicher war, dass nicht einmal die extravagantesten Annahmen der Skeptiker sie erschüttern konnten, schloss ich, dass ich sie ohne Skrupel als das erste Prinzip der Philosophie, das ich suchte, annehmen konnte.

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Auf diese Entdeckung des ersten Prinzips der Philosophie antwortet Vico in der Vita folgendermaßen: Auch er entdeckt sein erstes Prinzip endlich, finalmente, also nach langer Suche, und in aller Deutlichkeit, con tutta distinzione, und zwar in seinem Hauptwerk: In quest’opera egli ritruova finalmente tutto spiegato quel principio, ch’esso ancor confusamente e non con tutta distinzione aveva inteso nelle sue opere antecedenti. (V: 54) In diesem Werk findet Vico endlich ganz deutlich jenes Prinzip, das er in seinen vorhergehenden Werken erst verworren und noch nicht mit gebührender Deutlichkeit erkannt hatte. (A: 101) Dieses Prinzip ist die Einsicht, dass man das Wahre, also sichere Erkenntnis, in den autori, den Gründern der Volkstraditionen, findet: […] giudicare il vero negli auttori delle nazioni medesime dentro le tradizioni volgari delle nazioni che essi fondarono. (V: 55) […] das Wahre bei den Vätern der Nationen innerhalb der volkstümlichen Traditionen der Nationen finden, die diese begründet haben.7 Diese autori sind die Schöpfer des mondo civile, der Welt menschlicher Einrichtungen. Aber dramatischer und mit deutlicherem Anklang an Renatos Entdeckung des ersten Prinzips findet sich diese Entdeckung der ersten und unerschütterlichen Wahrheit der Vico’schen Philosophie in der Scienza nuova 1725 selbst ausgedrückt. Ich habe dieses erlösende Erscheinen des festen Eilands im Ozean des Zweifels schon im ersten Kapitel dargestellt, aber der zentrale Satz sei noch einmal zitiert: (SN25: 40) Perché tutte queste dubbiezze, insieme unite, non ci possono in niun conto porre in dubbio questa unica verità, la qual dee esser la prima di sí fatta Scienza, poichè in cotal lunga e densa notte di tenebre quest’una sola luce barluma: che ’l mondo delle gentili nazioni egli è stato pur certamente fatto dagli uomini. Denn alle diese Ungewissheiten zusammengenommen können uns auf keinen Fall an dieser einzigen Wahrheit zweifeln lassen, welche die erste einer solchen Wissenschaft sein muss, da in dieser langen und dichten Nacht

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Meine Übersetzung, Rüfner übersetzt: „[…] wie man die Wahrheit über die Gründer der Nationen innerhalb der Überlieferungen der von diesen Gründern gestifteten Völker selbst kritisch beurteilen kann“ (A: 102).

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der Finsternis dieses einzige Licht schimmert: nämlich dass die Welt der heidnischen Nationen aber ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist. Vicos principio ist nicht weniger revolutionär als das premier principe des cartesischen Cogito. Es ist eine ebenso radikale Wende der Philosophie in der Suche nach wahrer Erkenntnis, weg von der Natur zur Kultur, zum mondo civile als jener Welt, in welcher der Mensch sichere Erkenntnis haben kann. Mit spürbarem Stolz über diese Entdeckung am Ende seines Denkwegs, in den Principj di una scienza nuova, schreibt Vico 1725 seine Vita. Dieses „premier principe de la philosophie“ muss, wie wir gesehen haben, durch das weitere Prinzip ergänzt werden, nämlich die Entdeckung der poetischen Charaktere, die er in der Scienza nuova von 1725 sogar das „erste Prinzip“ nennt (SN25: 261). Zwei revolutionäre Einsichten Vicos korrespondieren also Renatos erstem Prinzip: – erstens, dass die Meta-Physik eine Meta-Politik ist, da sicheres Wissen nur auf der Basis des mondo civile gewonnen werden kann, weil wir diesen selbst gemacht haben; – und zweitens, dass die Menschen ihr Denken in poetischen Charakteren schaffen, bzw. dass sich das gesamte kognitive Wirken des Menschen aus körperlichen und phantastischen Quellen speist, die niemals ganz versiegen; modern gesagt: dass Denken embodiment in Zeichen ist.

2. Carattere poetico, mondo civile und Vicos dritter Sturz 2.1. Vico als carattere poetico Die ersten Menschen sind poeti gewesen, die in caratteri poetici gesprochen haben. Auch wenn sie sich im Verlauf der Geschichte abschwächt, bleibt diese fundamentale Poetizität des Denkens den Menschen doch erhalten. Vico ist selbst ein solcher Poet, ein autore, ein padre, der in poetischen Charakteren denkt. In der Vita ist Vico der „Autor“ eines poetischen Charakters, nämlich seiner selbst als des „Herrn Giambattista Vico“. Ein abstraktes Ich à la Descartes wäre kein poetischer Charakter. Aber durch die Porträtierung des „signor Vico“ in der dritten Person schafft Vico sich selbst als carattere poetico. Caratteri poetici sind individuelle Gestalten, die etwas Allgemeines repräsentieren. Achill ist ein individueller Held, aber er ist eben auch der Inbegriff des Muts. Homer ist als individuelle Dichterfigur auch der Inbegriff des Dichters. Diese Gestalten des frühen, phantastischen Denken sind universali fantastici, phantasiegeschaffene Allgemeinbegriffe. Als carattere poetico ist der Herr Vico dieser bestimmte indi-

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viduelle Herr Vico, aber er ist auch der Philosoph überhaupt, der am Ende seines Lebens eben zu seiner Wahrheit, zu seinem Prinzip kommt. Insofern ist Vico im übrigen mitnichten bescheidener als Renato, dem er maßlosen Ehrgeiz vorwirft. Wie dieser in seinem Discours sein Ich als universales philosophisches Ich konstruiert, so ist auch der Herr Vico in seiner Vita der universale Philosophus, allerdings als universale fantastico.

2.2. Vicos mondo civile Ein besonderes Merkmal der Schaffung seines eigenen carattere poetico als Philosoph ist die Abhängigkeit dieser Gestalt, des Herrn Vico, von der Gesellschaft, vom mondo civile. Herr Vico schreibt eine Geschichte seiner Lektüren und Schriften. Beides, Lesen und Schreiben, bildet ein dichtes Netzwerk von literarischen und gelehrten Größen, mit denen Herr Vico in intensivem Austausch steht. Sie sind das Du, mit dem Vico kommuniziert, aber in der Narration in der dritten Person ist natürlich auch dieses Du transformiert in die dritte Person. Die Lektüren, das heißt die Autoren, denen Vico begegnet, werden mehr oder weniger ausführlich kommentiert und in Beziehung gesetzt zu Vicos Denken. So ist Renato, das haben wir gesehen, zwar ein negativer Bezug, ein entgegenstehendes Du, aber doch auch ein Bruder. Andere Denker, etwa Platon, werden geliebt, Aristoteles wird kritisiert. Während Vico wenig über seine eigenen Verwandten erzählt, schafft er sich eine intellektuelle Familie, aus der seine geistigen Kinder hervorwachsen. Ausdrücklich tut er das mit Platon, Tacitus, Bacon und Grotius. Diese Vier nennt er seine autori, also mit dem Wort autore, das ja auch für „Vater“ steht. Sie sind die Väter seines Denkens und seines Werks. Sobald Vicos eigene Werke entstehen, gehen die Kommentare zu den gelesenen Vätern und Brüdern über in Referate seiner Werke, in ausführliche Selbstdarstellungen, von den Inauguralreden bis zur ersten Scienza nuova, das heißt in Charakterisierungen seiner geistigen Kinder. Wie niemand sonst übergibt Vico diese eigenen Werke, diese Kinder, den Anderen, der Gesellschaft. Alle Werke haben ausführliche Widmungen, sind an Andere gerichtet. Das Selbstgeschriebene bedarf für Vico daher auch der Bestätigung durch die Anderen. Nichts ist ihm wichtiger als die Reaktion seiner Leser. Vico zitiert oft und ausführlich zustimmende Briefe von Lesern, von deren Anerkennung er völlig abhängig zu sein scheint.8 Erst in der Anerkennung durch die community ist das Werk in der Welt.

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Dies ist nicht nur eine Reaktion auf das Gefühl des Nicht-Beachtetet-Werdens durch die Stadt und die Gelehrtengemeinschaft. Der Herausgeber der Vico'schen Werke Andrea Battistini verweist in diesem Zusammenhang auch auf die religiöse Texttradition, in der die Vita steht: auf die legenda sacra, in der die acta sanctorum, die Taten der Heiligen, durch Zeugen

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2. Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland

Das Du, auf dessen Lob Vico vor allen anderen aus ist, heißt patria. Vico ist nicht nur Vater und Autor. Er braucht zu seiner Vaterschaft die Anerkennung anderer Väter bzw. des Großen Vaters des Vater-Landes. Nach der Rückkehr von seiner einzigen Abwesenheit von Neapel fühlt er sich als Fremder in der patria, ein alter Topos, aber ein ganz offensichtlich tief empfundener. Vico will dem zum Vater-Land vergrößerten Vater gefallen. Nach dem Sturz in der misslungenen Bewerbung um den juristischen Lehrstuhl befürchtet er, dass er „in der Zukunft niemals mehr einen würdigen Ort in seinem Vaterland haben würde“ („per l’avvenire aver mai più degno luogo nella sua patria“, V: 52). Aber er richtet sich auch wieder an dem Gedanken auf, dass er für den Ruhm des Vaterlandes und folglich Italiens geboren sei, „che ’l Vico è nato per la gloria della patria e in conseguenza dell’Italia“ (V: 53). Es ist kein Zufall, dass die Vita mit dem Wort patria endet. Die Vita beschreibt einen Bogen von den Eltern (parenti) und dem Vater (padre) im ersten und zweiten Satz zum Vaterland (patria) im letzten Satz. Das Wort patria am Ende der Vita steht in einem Brief eines ganz großen Vaters, des Kardinals Corsini, der ihm für die Scienza nuova von 1725 dankt, die ihm gewidmet war: „onde io me ne congratulo con cotesta sua ornatissima patria“ (V: 60). Dieses Lob kommt vom Vater aller Väter: Corsini wird nämlich ein paar Jahre später Papst: Papa. Diesem Heiligen Vater, Clemens XII., widmet er dann 1730 auch die zweite Auflage der Scienza nuova.

beglaubigt werden müssen und dadurch erst in ihrer Heiligkeit konstituiert werden (Battistini in Vico 1990b, 2: 1238).

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Vater Vico

2.3. Der dritte Sturz Die schönste und tragischste dieser Widmungen ist diejenige an Vicos ganz große Sehnsuchts-Patria. Seine Scienza nuova von 1725 ist den „Akademien Europas“, also den Wissenschaftsinstitutionen des europäischen Nordens, gewidmet. Die Widmung ist ein einziger Satz, der sich kunstvoll über zwei Druckseiten hinzieht (Abb. 4).

Abb. 4  Vico, Scienza nuova 1730, Widmung

Der strukturelle Kern dieses Satzes lautet: ALLE ACCADEMIE DELL’EUROPA […] QUESTI PRINCIPI DI ALTRO SISTEMA […] GIAMBATTISTA VICO […] SCRITTI IN ITALIANA FAVELLA RIVERENTEMENTE INDIRIZZA.

DEN AKADEMIEN EUROPAS DIESE PRINZIPIEN EINES ANDEREN SYSTEMS GIAMBATTISTA VICO GESCHRIEBEN IN ITALIENISCHER SPRACHE BIETET EHRERBIETIG DAR.

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2. Die drei Stürze des Herrn Vico und das Vaterland

Diese Widmung ist eine hochartifizielle syntaktische Meisterleistung. Vico ruft der gelehrten Welt Europas, seiner wichtigsten und größten patria, zu: Ich übergebe euch dieses Buch, euch schenke ich mein Werk, mein Kind, ich bin der stolze Vater. Und diese Widmung und dieses Werk verhallen gleichsam ungehört, die Scienza nuova von 1725 ist ein für die europäische patria totgeborenes Kind. Es ist eine Tragödie: Vico schreibt zum ersten Mal ein philosophisches Werk auf Italienisch statt auf Lateinisch, „scritti in italiana favella“, und widmet es Europa. Aber das gelehrte Europa kann kein Italienisch, es liest dieses Werk daher auch nicht. Und schlimmer noch: Es stellt sich dumm. Die Leipziger Acta eruditorum publizieren die schon erwähnte bösartige kleine Rezension, in der fast alles falsch ist. Das angerufene ganz große Vaterland, Europa, antwortet nicht bzw. verhöhnt den Vater Vico und sein Kind. Vico stürzt ein drittes Mal in eine tiefe Verzweiflung. Er schreibt eine Erwiderung, ein kleines Buch von zweiundsiebzig Druckseiten: Vici Vindiciae, das ich im übernächsten Kapitel behandele. Vor allem aber schreibt er dann das ungelesene Buch noch einmal völlig neu. Der Unverstand der großen patria ist der Anstoß zu höchster Produktivität: Vico schafft 1730 die Scienza nuova, das große Werk, wie wir es kennen. Schon ihr Titel zeigt die Neukomposition an: Cinque libri di Giambattista Vico de’ principj d’una scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni. Dieses Werk in fünf Büchern beginnt mit der Voranstellung der dipintura und der spiegazione des Bildes. Dies ist, wie Vico in der Ergänzung seiner Vita (1731) erzählt, eigentlich eine Verlegenheitslösung gewesen. Vico hatte einige Seiten aus dem schon gedruckten Werk gelöst und musste nun die fehlenden Seiten ersetzen. Es ist eine geniale Verlegenheitslösung! 1744 wird das Werk dann nach einigen eher wenig, aber durchaus bedeutsamen Änderungen erneut aufgelegt. So rückt die dipintura an die ihr philosophisch zustehende Stelle gegenüber der Titelseite, verliert aber durch den Nachstich einiges an ihrer philosophischen Aussagekraft. Die Scienza nuova in ihrer klassischen Form verdankt sich also einem dritten Sturz in den Abgrund, aus dem sich Vico in einer ungeheuren Anstrengung durch den völligen Neubau seines philosophischen Werkes erhebt, „zum Ruhm des Vaterlands“, alla gloria della patria.

3. Die Scienza nuova von 1725 in Vicos Vita

3.1. Die Erzählung der Vita ist auf das große Werk von 1725 als ihr Telos orientiert. Niemand kann daher den Sinn dieses Buches besser darstellen als sein so ungeheuer selbstreflektierter Autor selbst. Deswegen möchte ich hier das Resümee dieses Werkes aus der Vita in der deutschen Übersetzung von Vinzenz Rüfer einfügen. Die im Folgenden zitierte Passage setzt ein nach dem zweiten Sturz, der Niederlage bei der Bewerbung um den juristischen Lehrstuhl, und skizziert, wie Vico sich aus dem Abgrund hervorarbeitet, eben bis zu seiner Neuen Wissenschaft: „In diesem Werk findet Vico endlich ganz deutlich jenes Prinzip, das er in seinen vorhergehenden Werken erst verworren […] erkannt hatte“. Vicos Synthese des Werks macht deutlich, dass die erste Scienza nuova ein anderes Buch ist als die von mir im ersten Kapitel skizzierte Scienza nuova von 1730 und 1744. Das frühe Werk ist völlig anders aufgebaut. Nach einer kritischen Einführung in den philosophischen Kontext besteht das Buch aus zwei Hauptteilen: „per l’idee“, „nach den Ideen“, und „per la parte delle lingue“, „von Seiten der Sprachen“. Vico trennt hier also den politischen „Inhalt“ der Menschheitsentwicklung, die „Ideen“, von der gleichzeitig mit dieser verlaufenden sprachlich-semiotischen Entwicklung, „von Seiten der Sprachen“. Genau diese Trennung wird er – in einem Nachtrag zur Vita 1731 – als entscheidenden Fehler des Buches kritisieren und 1730 in der Endfassung der Scienza nuova aufheben und das Politisch-Gesellschaftliche mit dem Sprachlich-Semiotischen verbinden, denn sie sind „ per natura tra lor uniti“, „naturgemäß miteinander verbunden“ (V: 79). Allerdings verwirft er das Werk von 1725 auch nicht. Er schlägt sogar vor, die Scienza nuova von 1725 zusammen mit dem neuen Werk zu drucken, denn „in der Sache“ (nelle materie, V: 79) habe er nicht geirrt. Wenn dies nicht möglich sei, dann sollen wenigstens drei Stellen bewahrt und mit der Neufassung zusammen publiziert werden: erstens die Darstellung der Münz- und Wappenkunde, zweitens die Ausführungen über die Ursachen der lateinischen Sprache und drittens das Kapitel über das universelle geistige Wörterbuch, das dizionario mentale comune.

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3. Die Scienza nuova von 1725 in Vicos Vita

Aber soweit ist Vico in der Vita noch nicht, sondern er beschreibt das Werk im Stolz des glücklich erreichten Ziels seines philosophischen Wegs. Er lobt sich selbst als den großen katholischen Denker aus dem Süden gegenüber den drei protestantischen Gelehrten Grotius, Pufendorf und Selden aus dem Norden. Trotz der totalen Umgestaltung des Werkes nach dem dritten Sturz sind die hier zitierten Seiten eine ausgezeichnete kurze Einführung in Vicos Grundgedanken, das heißt in die materie, in denen er sich ja nicht geirrt hat. Auffällig an Vicos Zusammenfassung von 1725 ist, dass er nur die erste der beiden Wenden seiner Philosophie erwähnt, nämlich dass man das Wahre in den „Autoren der Nationen“ findet, das heißt in einer etwas kryptischen Formulierung des „Vico-Axioms“. Es fehlt in der Synthese aber ein deutlicher Hinweis auf das „Prinzip“, auf dem meine Vico-Interpretation basiert, nämlich dass die ersten Völker „Poeten“ gewesen sind, die in „poetischen Charakteren“ gesprochen haben. Vicos discoverta wird in dem folgenden Satz mehr versteckt als betont: „In dem von den Sprachen handelnden Teil der ‚Neuen Wissenschaft‘ enthüllt Vico neue Prinzipien der Poesie, des Gesanges und der Verse. Er weist nach, dass sie einem Bedürfnis der Natur entsprangen, das bei allen Urnationen gleichartig ist.“ Dies ist deswegen merkwürdig, weil Vico im Text der Scienza nuova selbst diese „Entdeckung“ als „erstes Prinzip dieser Wissenschaft“ („ciò che tal primo principio è di questa Scienza“, SN25: 261) hervorhebt, die ihn fünfundzwanzig Jahre größter Anstrengung gekostet habe. Er schreibt dort sogar, dass die poetischen Charaktere so fundamentale Elemente der ersten Sprache der „Poeten“ gewesen seien wie das ABC als Elemente der Grammatik und die Elemente der Geometrie: (SN25: 261) così si sono ritruovati essere i caratteri poetici stati gli elementi delle lingue con le quali parlarono le prime nazioni gentili. so sind die poetischen Charaktere die Elemente der Sprachen gewesen, mit denen die ersten heidnischen Nationen gesprochen haben. Vielleicht muss Vico in der Vita die zentrale Rolle seiner discoverta noch nicht so betonen wie in der Neufassung des Werks 1730, wo ja gerade diese ihn dazu bewegte, die Gesamtkomposition des Werkes zu ändern, also eine synthetische Verbindung von „Ideen“ und „Sprachen“ vorzunehmen, und wo er ins Herz seines Werkes die weitere discoverta stellt, nämlich die „Entdeckung des wahren Homer“, seines wichtigsten poetischen Charakters: Della Discoverta del Vero Omero heißt das dritte Buch der fünf Bücher der Endfassung der Scienza nuova. Auch hinsichtlich des Vico-Axioms lässt sich sagen, dass erst die kompositionelle Umwälzung des Buches das philosophische „Prinzip“ in aller Deutlichkeit hervortreten lässt. Erst die Neufassung stellt nämlich das „Philosophische“ in einer theoretischen Konzentration im ersten Buch (Dello stabilimento de’ principj) den konkreten

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Darlegungen des Poetischen Wissens voran: Nach den Anmerkungen über den historischen „Stoff“ (materie) folgen die Axiome (elementi, degnità), die Prinzipien (principj) und die Methode (metodo). Und schließlich ist auch die Voranstellung der dipintura und ihrer spiegazione eine weitere Gelegenheit, noch einmal das „Prinzipielle“ zu zeigen und zu sagen. 3.2. Die folgenden Seiten sind das Ende der Vita von 1725/28, die mit dem Brief des Großen Vaters schließt: Aber dass Vico zum Ruhme seines Vaterlandes und folglich auch Italiens geboren wurde – denn dort und nicht in Marokko war sein Geburtsort und reifte er zum Gelehrten heran – ist nur an folgendem deutlich zu erkennen: Nach dem Streich, den ein ungünstiges Schicksal Vico gespielt hatte, hätte jeder andere in seiner Lage allen Wissenschaften entsagt oder sogar bereut, sie jemals getrieben zu haben. Vico aber ließ sich keineswegs davon abhalten, weitere Werke auszuarbeiten. Er schrieb denn auch tatsächlich ein in zwei Bücher geteiltes Werk nieder, das zwei volle Quartbände gefüllt hätte. Im ersten Buch dieses Werkes sucht Vico die Prinzipien des natürlichen Rechts innerhalb der Prinzipien der Humanität der Nationen. Vico ging hierbei den Wegen der Unwahrscheinlichkeiten, Ungereimtheiten und Unmöglichkeiten in all dem nach, was andere über diese Fragen mehr ersonnen als wissenschaftlich begründet haben. Im zweiten Buch des Werkes erklärt er sodann gemäß einer be­­stimmten rationalen Zeitrechnung die Entstehung der menschlichen Sitten in der dunklen und der mythischen Zeit der Griechen, von denen wir alles empfangen haben, was wir über die heidnischen Altertümer wissen. Schon war dieses Werk von Don Giulio Torno, einem sehr gelehrten Theologen der neapolitanischen Kirche durchgesehen worden, als sich Vico eines anderen besann. Er erwog, dass das von ihm angewendete negative Beweisverfahren, wie sehr es auch die Phantasie erregt, für den Verstand dennoch höchst unwillkommen ist; denn durch das negative Beweisverfahren bildet sich der menschliche Geist in keiner Weise weiter. Außerdem war Vico durch den Streich eines ungünstigen Schicksals in die Verlegenheit gekommen, das Werk nicht drucken lassen zu können. Dies war so, obgleich Vico aus dem Gesichtspunkt der Ehre nur zu sehr zur Herausgabe des Werkes verpflichtet war; denn er hatte gerade die Veröffentlichung bindend angekündigt. Vico nahm nun all seinen Geist zusammen, um durch konzentriertes Nachdenken an Stelle der negativen Methode eine positive und somit strengere, deshalb aber auch wirksamere Methode zu finden. So ließ er denn gegen Ende des Jahres 1725 zu Neapel in der Druckerei Felice Moscas ein Buch in Duodez erscheinen. Es umfasste nicht mehr als

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3. Die Scienza nuova von 1725 in Vicos Vita

zwölf Bogen in Kleindruck und hatte folgenden Titel: „Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die Natur der Völker, nach der andere Grundzüge des natürlichen Rechtes der Völker gefunden werden“. Vico richtete dieses Werk mit einer Widmung an die Universitäten Europas. In diesem Werk findet Vico endlich ganz deutlich jenes Prinzip, das er in seinen vorhergehenden Werken erst verworren und noch nicht mit gebührender Unterscheidung erkannt hatte. Denn er empfand eine unabweisbare, auch menschlich verständliche Notwendigkeit, die ersten Ursprünge jener Wissenschaft aus den Prinzipien der heiligen Geschichte abzuleiten. Angesichts der sowohl für die Philosophen als auch für die Philologen nachgewiesenen Unmöglichkeit, eine fortschreitende Entwicklung der genannten Wissenschaft von den ersten Autoren der heidnischen Nationen abzuleiten, verfolgte Vico unentwegt seine Richtung, die Herr Johannes Clericus anlässlich des vorhergehenden Werkes folgendermaßen beurteilt: „Vicos Übersicht der dort aufgestellten Hauptepochen von der Sintflut bis zum zweiten Punischen Kriege verbreitet sich über verschiedene Begebenheiten jener Zeiten. Bei dieser Darlegung macht er viele philologische Bemerkungen über zahlreiche Themen und berichtigt eine Menge allgemein verbreiteter Irrtümer, die auch von den einsichtigsten Leuten nicht beachtet wurden“. In dieser neuen Wissenschaft stellt Vico mittels einer neuen Ars critica (= einer neuartigen Kritik) dar, wie man die Wahrheit über die Gründer der Nationen innerhalb der Überlieferungen der von diesen Gründern gestifteten Völker selbst kritisch beurteilen kann. Erst Tausende von Jahren nach der Gründung sind bei ihnen die Schriftsteller, um die sich gegenwärtig die übliche Kritik bewegt, aufgetreten. Mit der Fackel dieser neuen Ars critica entdeckte Vico ganz andere als die bisher angenommenen, nur der Einbildung vorgetäuschten Ursprünge beinahe aller Disziplinen der Wissenschaften und Künste, die nötig sind, um das natürliche Recht der Nationen nach lichtvollen Ideen und gemäß einer besonderen Terminologie zu erforschen. Er gliedert die „Neue Wissenschaft“ unmittelbar in zwei Teile: der eine bezieht sich auf die Ideen, der andere auf die Sprachen. In dem Teil, der sich auf die Ideen bezieht, enthüllt Vico historische Prinzipien der Völkerkunde [geografia] und der geschichtlichen Zeitrechnung [cronologia], welche die beiden Augen der Geschichte sind. Auch legt Vico unmittelbar die Prinzipien der Universalgeschichte dar, die bisher gefehlt haben. Er enthüllt neue historische Prinzipien der Philosophie und in erster Linie eine Metaphysik des menschlichen Geschlechts, d. h. eine natürliche Theologie aller Nationen. Gemäß dieser Theologie ersann ein jedes Volk seine eigenen Götter. Das geschieht auf Grund eines bestimmten natürlichen Instinkts, den der Mensch von der Gottheit hat. In Gottesfurcht werden die ersten Gründer der Nationen

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dazu veranlasst, sich mit bestimmten Frauen zu dauernder Lebensgemeinschaft zu vereinigen, und das waren die ersten Ehen in der menschlichen Gesellschaft. Es wird sodann deutlich, dass das große Prinzip der Theologie der Heiden sowie das Prinzip der theologischen Dichter (die die ersten Dichter in der Welt waren) und schließlich das Prinzip der ganzen heidnischen Humanität ein und dasselbe waren. Vico entwickelt von dieser Metaphysik aus eine Moral und dann eine Politik, die allen Nationen gemeinsam sind und die Grundlage der Jurisprudenz im Menschengeschlecht bilden. Die Jurisprudenz differenziert sich nach gewissen Gruppen innerhalb der Zeiten, ebenso wie auch die Nationen selbst die Idee ihrer Natur immer mehr entfalten. Durch diese weitere Entfaltung wechseln auch die Regierungen, als deren letzte Form Vico die Monarchie nachweist. In der Monarchie kommen schließlich die Nationen der Natur nach zum Ausruhen. So füllt Vico auch die große wissenschaftliche Leere aus, welche die allgemeine Geschichte in ihren Prinzipien gelassen hat, da sie mit Ninus innerhalb der Monarchie der Assyrer beginnt. In dem von den Sprachen handelnden Teil der „Neuen Wissenschaft“ enthüllt Vico neue Prinzipien der Poesie, des Gesanges und der Verse. Er weist nach, dass sie einem Bedürfnis der Natur entsprangen, das bei allen Urnationen gleichartig ist. Gemäß diesen Prinzipien enthüllt Vico die unbekannten Ursprünge der heroischen Wappen. Diese bildeten eine lautlose Sprache aller Urnationen, die der Form artikulierter Sprachen entbehrten. Vico zeigt dann unmittelbar darauf neue Prinzipien der heraldischen Wissenschaft. Er erkennt die Identität dieser Prinzipien mit denen der Wissenschaft von den Medaillen. Vico weist dann die Ursprünge der Herrscher­häuser von Österreich und Frankreich, die viertausend Jahre hindurch ständig souverän waren, als heroisch nach. Auf Grund der Ergebnisse der Entdeckung von den Ursprüngen der Sprachen erkennt Vico gewisse Prinzipien, die allen Sprachen gemeinsam sind. Als Probe dieser Erkenntnisse enthüllt er die wahren Ursachen der lateinischen Sprache. Er überlässt es den Gelehrten, nach diesem Beispiel die gleiche Probe mit allen übrigen Sprachen vorzunehmen. Er entwirft weiter die Idee eines allen Ursprachen gemeinsamen Etymologikons. Ferner stellt er die Idee eines anderen Etymologikons der Ausdrücke fremden Ursprungs dar. Schließlich entwirft er den Gedanken eines allgemeinen Etymologikons für die Wissenschaft und somit die Idee einer Sprache, die für die spezielle Erörterung des natürlichen Rechts der Völker unentbehrlich ist. Mit den soeben beschriebenen Prinzipien der Ideen und der Sprachen – und das bedeutet mit einer solchen Philosophie und Philologie – legt Vico die Grundlagen einer idealen ewigen Geschichte nach der Idee der Vorsehung. Vico weist im Laufe seines ganzen Werkes nach, dass das natürliche Recht der

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3. Die Scienza nuova von 1725 in Vicos Vita

Völker durch die Vorsehung ordnend gestaltet worden ist. Nach der von ihm dargestellten ewigen Geschichte verläuft jeweils auch die besondere Geschichte der Nationen in der Zeit. Dies gilt für ihre Ursprünge, Fortschritte, ihr geordnetes Leben, ihren Verfall und ihr Ende. Vico entnahm den Ägyptern, die über die Griechen spotteten und ihnen sagten, sie seien ewige Kinder und kennten das Altertum nicht, zwei große antiquarische Fragmente und benutzte sie in seinem Werk. Das erste Fragment besagt, dass die Ägypter alle vor ihnen abgelaufenen Zeiten in drei Epochen einteilten: eine des Zeitalters der Götter, die zweite des Zeitalters der Heroen, die dritte des Zeitalters der Menschen. Das zweite Fragment besagte, dass entsprechend dieser Einteilung und der Zahl der Zeitalter und in einer entsprechenden Zahl von Jahrhunderten vor den Ägyptern auch drei Sprachen gesprochen wurden: Eine göttliche Sprache, die stumm ist und sich in Hieroglyphen oder heiligen Schriftzeichen ausdrückt. Eine zweite Sprache, die sich symbolisch oder in Metaphern ausdrückt, wie es die heroische Redeweise tut. Schließlich eine dritte epistoläre Sprache, über die man für die täglichen Erfahrungen des Lebens übereingekommen ist. Vico beweist dann, dass die erste Epoche und die erste Sprache der Zeit der Familien entsprochen haben. Die Familien aber haben in allen Nationen zweifellos früher existiert als die Gemeinwesen. Diese erhoben sich auf der Grundlage der Familien. Diese aber wurden von den Vätern als souveränen Fürsten unter der Herrschaft der Götter regiert. Die Väter verwalteten damals alle menschlichen Angelegenheiten nach den göttlichen Wahrzeichen. Vico setzt nun mit der größten Ungezwungenheit und Einfachheit den Geschichtsverlauf jener Epoche im Rahmen der Göttermythen der Griechen auseinander. Hierbei macht er die Bemerkung, dass die Götter des Morgenlandes, die von den Chaldäern an die Gestirne versetzt wurden, durch die Phönizier zu den Griechen gelangten. Dies geschah, wie Vico nachweist, nach den Zeiten Homers. Jene Götter des Orients entsprachen den Bezeichnungen der griechischen Götter. Sie wurden in Griechenland so aufgenommen wie später in Latium, wo man die Namen der lateinischen Götter ebenfalls als übereinstimmend mit ihnen erkannte. Sodann weist Vico nach, dass diese Zustände sich bei den Lateinern, Griechen und Asiaten überall gleichartig herausgebildet haben. Vico legt ferner dar, dass die zweite Epoche mit der zweiten Sprache, der symbolischen, in die Zeit der ersten bürgerlichen Regierungen fiel. Von ihnen führt er den Nachweis, dass sie zur Zeit gewisser heroischer Königsherrschaften oder der Herrschaft regierender Adelsstände existiert haben. Herakleische Rassen nannten sie die ältesten Griechen. Sie galten bei ihnen als göttlicher Abkunft und standen über den ersten Plebejern, die bei den herrschenden

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Familien als tierischen Ursprunges galten. Vico weist nun mit der größten Ungezwungenheit nach, wie die Geschichte jener aristokratischen Herrscher von den Griechen in der Gestalt ihres thebanischen Herakles vollkommen dargestellt ist. Dieser war – mindestens unter den griechischen Heroen der größte. Seinem Stamm waren zweifellos die Herakliden entsprossen, die unter zwei Königen das spartanische Reich verwalteten. Dieses aber war, wie man nicht bestreiten kann, ein aristokratisches Reich. Da nun die Ägypter und auch die Griechen in jeder Nation einen Herakles antrafen – unter den Lateinern hat Varro sogar vierzig gezählt – zeigt Vico, dass bei allen heidnischen Nationen nach den Göttern die Heroen geherrscht haben. Auf Grund eines großen Fragmentes unter den griechischen Altertümern enthüllt Vico die Tatsache, dass die Kureten sich von Griechenland aus nach Kreta, nach Saturnien (Italien) und nach Asien verbreitet haben. Er enthüllt ferner, dass dies die lateinischen Quirites waren. Eine Gruppe dieser Quiriten waren die römischen Quiriten, d. h. die Versammlung der mit Lanzen bewaffneten Männer; daher ist das Quiritenrecht das Recht aller Heroengeschlechter. Vico zeigt die Nichtigkeit der Fabel, dass die Gesetze der Zwölf Tafeln aus Athen gekommen seien. Sodann legt er folgendes dar: Durch drei bei den Heroengeschlechtern Latiums von Anfang an heimische, in Rom eingeführte, und dort eingehaltene Gesetze, sowie durch jene, die auf den Zwölf Tafeln festgehalten wurden, gewannen die Ursachen der römischen Herrschaft sowie der römischen Tugend und Gerechtigkeit Bestand. Im Frieden geschah dies durch die Gesetze, im Kriege durch Eroberungen. Sonst wäre die alte römische Ge­­ schichte, wenn man sie mit den gegenwärtigen Gedankengängen liest, sogar noch unglaubwürdiger als die mythische Geschichte der Griechen. Vico beleuchtet auf die eben dargestellte Weise die wahren Prinzipien der römischen Gesetzeskunde. Schließlich weist er nach, dass die dritte Epoche das Zeitalter der Menschen und der Volkssprachen, in die Zeiten der Ideen einer vollständig entwickelten und deshalb bei allen gleichartig erkannten menschlichen Natur fällt. Diese Natur brachte Formen menschlicher Regierungen mit sich, die von Vico als die volksfreien und die monarchischen Regierungsformen nachgewiesen werden. In jenes Zeitalter fallen auch die römischen Rechtsgelehrten, die unter den Kaisern wirkten. Vico endet also mit dem Beweise, dass die Monarchien die letzten Regierungsformen sind, in welchen die Nationen schließlich ihre Regierungsform vollenden. Vico legt im Gegensatz zu einer anderen Auffassung, die ein bloßes Hirngespinst ist, dar, dass die ersten Könige nicht Monarchen in der Art der heutzutage regierenden Fürsten waren und darauf nicht die Republiken kamen. Auch haben die Nationen durchaus nicht, wie man sich bisher einbildete, mit List und Gewalt ihren Anfang nehmen können.

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3. Die Scienza nuova von 1725 in Vicos Vita

Nach diesen und anderen geringeren, aber in großer Zahl gemachten Entdeckungen spricht Vico über das natürliche Recht der Völker. Er weist nach, zu welchen bestimmten Zeiten und in welchen bestimmten Formen zunächst die Sitten entstehen, die den gesamten Haushalt des natürlichen Rechts der Völker ausmachen: Das sind die Religionen, die Sprachen, das Grundeigentum, der Handel, die Stände, die herrschenden Gewalten, Gesetze, Waffen, Gerichte, Strafen, Kriege, Friedensverträge und Bündnisse. Von jenen Zeiten und Formen ausgehend, erläutert Vico die ewigen Merkmale, die beweisen, dass gerade diese und keine andere Natur, Entstehungsweise und Entstehungszeit einem solchen Phänomen zugehöre. Hierbei legt Vico immer als wesentliche Verschiedenheiten zwischen den Hebräern und den Heiden dar, dass jene sich auf Grund der Handlungen eines ewigen gerechten Prinzips entfalteten und fest auf dieser Grundlage standen, während die heidnischen Nationen schlechthin von der Vorsehung geleitet wurden und sich abweichend entwickelten. Die heidnischen Nationen gingen ihren wechselvollen Entwicklungsgang dennoch mit konstanter Gleichartigkeit durch drei Arten des Rechts, die den drei Epochen und Sprachen der Ägypter entsprachen: das erste Recht ist ein göttliches und steht bei den Hebräern unter der Herrschaft des wahren Gottes, bei den Heiden unter der Herrschaft der falschen Götter. Das zweite Recht ist ein heroisches, d. h. es ist den in die Mitte zwischen die Götter und die Menschen versetzten Heroen eigentümlich. Das dritte Recht ist das menschliche Recht, das Recht der vollständig entwickelten und bei allen Menschen als gleich erkannten menschlichen Natur. Nur bei diesem menschlichen Recht können in den Nationen die Philosophen auftreten, welche es verstehen sollen, das Recht durch die Maximen eines ewigen gerechten Prinzips zu vollenden. Über diese Tatsachen haben sich Grotius, Selden und Pufendorf übereinstimmend geirrt; denn aus dem Mangel einer Ars critica betreffs der Stifter der Völker selbst sahen sie in diesen Stiftern Weise mit einer Geheimlehre und übersahen, dass die Heiden durch die Vorsehung mit göttlicher Majestät über den Weg der volksmäßigen Weisheit geführt wurden. Aus dieser ging nach Jahrhunderten die geheime Weisheit hervor. Daher haben jene Gelehrten das natürliche Recht der Nationen, das aus den Sitten erwuchs, mit dem natürlichen Recht der Philosophen verwechselt. Das Naturrecht der Philosophen wurde aber von diesen drei Gelehrten auf Grund von Vernunftschlüssen gefolgert. Grotius, Selden und Pufendorf haben es unterlassen, ein (gemäß göttlichem Privileg vor allen anderen verlorenen Nationen) für seine Gottesverehrung auserwähltes Volk zu unterscheiden. Dieser Fehler ihrer Ars critica hatte schon früher die gelehrten Ausleger des römischen Rechtes verführt, als sie auf Grund der Fabel, dass die Gesetze aus Athen nach Latium und Rom

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gekommen seien, die Lehren der philosophischen Sekten in die Wissenschaft vom römischen Recht hineinzwängten und damit dem Geist des römischen Rechts widersprachen. Zu diesen philosophischen Sekten gehören insbesondere die Stoiker und Epikureer, deren Prinzipien mehr als andere Lehren nicht nur der Jurisprudenz, sondern sogar auch allem zivilen Leben entgegenstehen. Man hat die Lehren der Stoiker und Epikureer nicht dem entsprechend und auch nicht nach der Tatsache beurteilt, dass es sich um Sekten bestimmter Zeiten handelt. Die römischen Juristen selbst aber bekennen sich deutlich dazu, diese Lehren in dieser Weise behandelt zu haben. Vico verschafft mit seinem Werk zum Ruhm der katholischen Religion unserem Italien den Vorteil, das protestantische Holland, England und Deutschland um ihre drei Fürsten in dieser Wissenschaft nicht beneiden zu müssen. Ferner ergibt sich der Vorteil, dass in unserer Zeit die Prinzipien der gesamten menschlichen und göttlichen heidnischen Gelehrsamkeit im Schoße der wahren Kirche entdeckt wurden. Auf Grund dieser Tatsachen hat Vicos Buch das Glück gehabt, von seiner Eminenz dem Kardinal Lorenzo Corsini, dem es gewidmet ist, beifällig aufgenommen zu werden. Das Werk erhielt von ihm das folgende Lob, das wohl nicht letzten Ranges ist: „Unstreitig ein Werk, das durch die Klassizität der Sprache und die gründliche Gelehrtheit hinreichend beweist, dass noch heute in den Geistern Italiens die angeborene, ganz besondere Begabung für toskanische Beredsamkeit und der starke glückliche Mut zu neuen Schöpfungen in den schwierigsten Wissensfächern lebt. Daher beglückwünsche ich mich, und zugleich Ihr sehr geehrtes Vaterland.“ (A: 100–111).

4. Vaterschaft und Ingenium

1. Pater oder erro Vicos Vita zeigt einen empfindlichen Menschen, der offensichtlich ganz besonders verletzlich war, wenn es um seine Publikationen ging. So hat er zum Beispiel die Tatsache nur schwer ertragen, dass in seiner Heimatstadt kaum jemand die Scienza nuova lesen wollte: Vico schreibt an einen Freund, dass er es vermeide, den Leuten zu begegnen, denen er sein Buch geschickt hat, da sie es ja doch nicht gelesen hätten, und dass er das Gefühl habe, das Buch in eine Wüste geschickt zu haben. Vico litt unter solchen paranoiden Anwandlungen oder unter tatsächlichen Misserfolgen mit besonderer Intensität. Er versucht dies in seiner Autobiographie dadurch zu kompensieren, dass er seitenweise Briefe von Lesern zitiert, die seine Schriften loben. Bei dieser extremen Dünnhäutigkeit war es für ihn natürlich ein ganz unerträglicher Schicksalsschlag, als ihm 1729 der – wie soll man es anders nennen – miese kleine Text zur Kenntnis kam, der in den Leipziger Acta Eruditorum von 1727 erschienen war und der mit offensichtlicher Ignoranz und unverhohlener Bosheit seine Scienza Nuova niedermachte: Prodiit ibidem (Neapoli) liber cui tit. Principii d’una Scienza nuova 8°, cuius libri auctor, quamvis nomen suum eruditos celet, certiores tamen facti sumus per amicum quendam Italum esse eundem abbatem Neapolitanum cui nomen Vici sit. Agitavit auctor in isto libello novum iuris naturalis systema, seu figmentum potius, ex aliis longe quam hactenus sueverunt philosophi principiis deductum magisque ad ingenium pontificiae Ecclesiae accommodatum. Multo labore contra Grotii et Pufendorfii doctrinas et principia disputat; ingenio tamen magis indulget quam veritati; longaque coniecturarum mole sibi ipsi deficiens, ab ipsis Italis taedio magis quam applausu excipitur. (VV: 2) Erschienen ist daselbst (in Neapel) ein Buch mit dem Titel Principii d’una Scienza nuova 8°, dessen Verfasser, obwohl er den Gelehrten seinen Namen verheimlicht, ein neapolitanischer Abbas namens Vicus ist, wie wir von einem

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Vater Vico

italienischen Freund erfahren haben. Der Verfasser behandelte in diesem Buch ein neues System – oder eher eine Phantasiegestalt – des Naturrechts, das er aus völlig anderen Prinzipien ableitet, als sie die Philosophen bisher zu befolgen pflegten, und das eher dem Geist der päpstlichen Kirche entspricht. Mit viel Mühe streitet er gegen die Lehren und Prinzipien von Grotius und Pufendorf; aber er folgt mehr seinem Ingenium als der Wahrheit; und da er durch das große Ausmaß seiner Mutmaßungen sich selbst widerspricht, ist er selbst von den Italienern mehr mit Ablehnung als mit Zustimmung aufgenommen worden. Diese anonyme Kurzanzeige der Scienza nuova von 1725 stammt von Johann Burckhard Mencke, dem Herausgeber der Acta, einem hochmächtigen Herrn (er war sogar Erster Minister des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen). Sie ist eine jener „Kritiken“, in denen vielbeschäftigte Rezensenten – ohne jegliches Nachdenken und Rücksichtnahme, aber im vollen Bewusstsein ihrer eigenen Wichtigkeit und Superiorität – ein Buch präsentieren und lächerlich machen, ohne sich angemessen über das Buch zu informieren oder gar das Buch zu lesen. Der hastige Mencke hat das Buch offensichtlich nur kurz in der Hand gehabt, denn schon seine Formatangabe (Oktav statt Duodez) ist falsch, und der Titel des Werks ist ungenau und unvollständig wiedergegeben. Er hat wahrscheinlich auch keine Zeit gehabt, das Buch zu öffnen, sonst hätte er den Namen des Autors entdeckt, dessen Fehlen er moniert. Er habe einen italienischen Freund bemühen müssen, der ihm mitgeteilt habe, das Buch stamme von einem neapolitanischen Abbate namens Vicus. Der vermeintlich priesterliche Autor ist ihm Grund genug, genüsslich das protestantische Verdikt zu fällen, es handele sich um ein antipufendorfisches und antigrotiussches klerikales katholisches Machwerk (figmentum) über das Naturrecht, das auch in Italien auf Ablehnung gestoßen sei. Es ist ein kurzer Text von nicht einmal hundert Wörtern, aber er enthält alles, was man an Ignoranz, Arroganz und Vorurteilen in hundert Wörter hineinpacken kann. Vico ist so verstört über dieses Elaborat – in der Ergänzung seiner Vita von 1731 nennt er es eine „vile impostura“ (V: 73), einen „schändlichen Betrug“ (A: 116) –, dass er sofort eine lange Erwiderung schreibt, die Notae in acta eruditorum lipsiensia, ein kleines Buch von zweiundsiebzig Seiten im Erstdruck (Neapel: Mosca 1729).9 Er nennt die Notae präziser und treffender auch Vici vindiciae, also „Vicos Erhebung von Besitz- und Rechtsansprüchen“. Vico vindiziert in seinen Anmerkungen nämlich das Recht des Autors auf seine Autorschaft, das heißt er klagt das elementare Grund9

Zweisprachig jetzt in Bd. XII der Opere (Vico 1996: 25–109). Die Zahlenangaben nach dem Kürzel VV beziehen sich auf die Nicolini'sche Absatzzählung der Vindiciae, die diese Ausgabe beibehält.

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4. Vaterschaft und Ingenium

recht des Autors ein, dass das, was er dem Publikum anbietet, nicht auf unverschämte und gehässige Art und Weise entfremdet wird (alienare, VV: 50), sondern dass es zumindest als das wahrgenommen wird, was es ist: als ein bestimmtes Buch eines bestimmten Autors mit einem bestimmten Namen. Denn: „liber meus genuinus partus“ (VV: 46), „dieses Buch ist wirklich mein Kind“. Dass dieses Buch wirklich das Kind dieses Vaters ist, das ist die erste und hauptsächliche Vindikation Vicos, von der alle anderen abhängen: Vater, Autor, und das heißt auch: Schöpfer, „Poet“, Macher – padre, autore, criatore, poeta, factor – sind ja zentrale Ausdrücke für Vico. Sie bezeichnen den Anfang – das principio, die arché – der Menschen-Welt, die Vico reflektiert: die Vaterschaft, die autorità. Und die schöpferische Kraft des „Vaters“, von der hier insbesondere die Rede sein soll, ist das Ingenium. Vico repliziert auf den furchtbaren Text aus Leipzig, indem er ihn Satz für Satz widerlegt – bis auf eine Stelle: Er gibt seinem Widersacher Recht, dass er das Buch multo labore, „mit großer Mühe“, geschrieben habe. Man kann multo labore auch mit „unter großen Wehen“ übersetzen. Denn der Vater ist auch ein Gebärender, ein parens (VV: 21). Punkt für Punkt stellt Vico in dieser umgekehrten Vaterschaftsklage (die „normale“ Vaterschaftsklage wird ja gegen einen sich entziehenden Vater geführt) gegen die Leipziger Verfremdungen seine Vaterschaft und die Haupteigenschaften seines Kindes klar. Im Zusammenhang mit dieser leidenschaftlichen Vindizierung literarischer Autorschaft wird auch verständlich, warum Vico in den Vindiciae so sehr darauf besteht, ein Familienvater mit Frau und fünf Kindern zu sein und kein kinderloser Abbate: Die generative Kraft ist unteilbar. Die unglaubliche libidinale Energie, mit der Vico seine Geschöpfe besetzt und verteidigt, wird im Falle der Scien­­ z­ a  nuova von 1725 zusätzlich noch dadurch frustriert, dass er, wie wir gesehen haben, gerade dieses Kind denen gewidmet hatte, die es so gehässig verkennen: den Akademien Europas, „alle Accademie dell’Europa“, der gelehrten Welt Nordeuropas. Man pflegt diese Reaktion Vicos als übertrieben zu kritisieren. Nicolini meint zum Beispiel, dass Vico den Mencke'schen Text mit Stillschweigen hätte übergehen sollen, statt seine Verletztheit auch noch in dem langen Traktat der Vindiciae öffentlich zu machen. Das ist sicher richtig: So sind nun einmal die Regeln des Spiels, das ist das stillschweigende gentlemen’s agreement. Dennoch muss man aber sagen, dass Vico in seiner Verletztheit und Naivität etwas sehr Wichtiges tut, wenn er das Spiel der Gentlemen nicht mitspielt. Indem er die Grundregeln zivilisierten Verhaltens einklagt, die von dem vermeintlichen Gentleman eklatant verletzt worden sind, legt er nämlich einmal die Regeln des Spiels explizit offen. Dass die ethischen Grund­lagen literarischer und gelehrter Kommunikation thematisiert werden, geschieht so oft nicht!10 10

Vicos Vorbild hat mich ermutigt, ein ungeschriebenes Gesetz der heutigen scientific community zu verletzen und einmal über die Paraphrase als eine Art stillschweigend zu erduldenden Diebstahls zu klagen, vgl. Trabant 2015b.

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Über diese grundsätzliche Bedeutung hinaus zeigen gerade die Vindiciae erneut, wie sehr Vicos Philosophie gelebte Philosophie ist, mit welcher Intensität systematische Einsichten seiner Philosophie auch gleichzeitig als Einsichten empfunden werden, die für die eigene Lebensgeschichte gelten. Es ist eben für Vico nicht möglich, die Weltgeschichte als einen Aufstieg der Menschheit von der Tierheit zur Humanität zu beschreiben, ohne dann zu protestieren, wenn wildes, vor-menschliches Verhalten in die „humane“ Gesellschaft einbricht und die Grundlagen des „humanen“ mondo civile zu zerstören droht. Im Sinne dieser Präsenz der großen Koordinaten seines Denkens in den Vindiciae nennt der Vater Vico seinen Widerpart daher auch einen erro ignotus oder erro latitans, einen unbekannten oder sich versteckenden (Herum-)Irrenden. Im Gegensatz zu Vico, der seine Autorschaft in seinem Buch zweifach deutlich angegeben hat, ist der Verfasser der Kritik in der Tat anonym. In der Opposition zwischen erro und auctor/poeta tut sich die ganze Kluft zwischen Tierheit und menschlicher Kultur – umanità – auf: Errones sind nämlich in Vicos Geschichtskonstruktion jene Kinder Noahs, die nach der Sintflut in die Tierheit zurücksinken, zu bestioni werden und im sogenannten error ferino, im tierischen Herumirren, im großen wilden Wald der Urwelt herumschweifen. Die errones kennen keine Vaterschaft, weil sie in ihrer schwei­fenden Wildheit keine familiären Beziehungen eingehen, sondern sich „schamlos“ mit verschiedenen Frauen unter freiem Himmel paaren und daher eben auch keine „genuinen“ Kinder haben. Kultur und Humanität entstehen für Vico weltgeschichtlich erst in dem Moment, wo feste Paar(ungs)beziehungen entstehen, wo die Männer „mit sicheren Frauen sichere Kinder“ zeugen, von denen sie sagen können: „meus genuinus partus“, „dies ist gewiss mein Kind“, wo also Vaterschaft – autorità – entsteht. Es geht weltgeschichtlich und privat um Kultur oder Unkultur: pater oder erro.11

2. Die Kraft des Vaters Ich möchte im Folgenden eine Passage der von Mencke ausgelösten Vicoschen Vaterschafts-Vindizierung in deutscher Übersetzung vorstellen. Sie behandelt den zentralen Begriff der Vico’schen Philosophie des menschlichen Geistes, das Ingenium, die Kraft der geistigen Schöpfung.12 Mencke, der nichts von Vico weiß, da er ja das Buch nicht gelesen hat, über das er schreibt, wendet ausgerechnet diesen Ausdruck als Vorwurf gegen Vico. Vico, der Denker des Ingeniums, kann dies natürlich nicht auf sich beruhen lassen und schreibt eine Digression über das Ingenium

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Zu diesem Übergang von der Tierheit in die Menschheit siehe Kapitel 6 und zu Nomadentum und Sesshaftigkeit siehe auch Kapitel 11. Vgl. dazu insbesondere Sanna 2016.

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und das Lachen, in der er gegen die gedankenlose Gegenüberstellung von Ingenium und Wahrheit gerade das Ingenium als Urgrund der Wahrheit herausstellt. Zweimal kommt der Ausdruck ingenium im Leipziger Allerleirau vor: Zunächst sagt Mencke, das in dem Buch behandelte Naturrechtssystem sei „magis ad ingenium pontificae Ecclesiae accomodatum“, eher dem Ingenium, der Geistesart, der katholischen Kirche entsprechend. Schon an dieser Stelle hakt Vico ein und schreibt: Nicht zufällig ist hier von dem Herumirrenden das Wort „Ingenium“ gewählt worden. Es macht den Geist der Sprache13 deutlich, in der die Protestanten sprechen, wenn sie sagen, dass die römisch-katholische Kirche sich auf das Ingenium von Disputationen und nicht auf die Wahrheit des Buches, das heißt des Evangeliums stütze. Und daher sagt derselbe dann, dass ich mich in dem eher dem Ingenium der päpstlichen Kirche entsprechendem System mehr dem Ingenium als der Wahrheit hingebe (magis ingenio indulgere quam veritati, VV: 15). „Magis ingenio indulgere quam veritati.“ Gegen diese Opposition von Ingenium und Veritas muss Vico protestieren, geht doch seine ganze philosophische Anstrengung dahin, diesen Gegensatz zu überwinden: Grundsatz seiner Philosophie ist, dass die Menschen das, was sie geschaffen haben, auch erkennen können, dass sie gerade von dem von ihnen selbst Gemachten Wissen, scientia, und das heißt allemal „wahres Wissen“ haben können, dass also das von den Menschen selbst Geschaffene der Grund für die Wahrheit ist. Die Produktivkraft dieses menschlichen Schaffens ist das Ingenium. Es ist die – nicht nur geistige – Kraft der Vaterschaft und der Autorschaft. Vicos Philosophie ist darauf aus, die altmodische Opposition zwischen den – mit dem Machen, dem poiein, der „Poesie“ im etymologischen Sinne verbundenen – „niederen“ Geistesvermögen Gedächtnis, Phantasie und Ingenium (memoria, fantasia, ingegno) und der vermeintlich „höheren“ Ratio zu überwinden. Als erstes und hauptsächliches kritisches Motiv der Vico’schen Philosophie ist uns ja sein Protest gegen die boria dei dotti begegnet, gegen die Arroganz der Gelehrten (und in Mencke haben wir geradezu ein Prachtexemplar eines arroganten Gelehrten vor uns), das heißt gegen den gängigen Rationalismus oder Logozentrismus, der die Wahrheit allein an die Ratio bindet. Dass zwischen Ratio und Ingenium kein Gegensatz besteht, sondern dass das Ingenium der rationalen Wahrheit zugrundeliegt, ist der erkenntnistheoretische Grundgedanke, den Vico gegen den gängigen rationalistischen Diskurs seiner Zeit verteidigen muss. Aus der „Digression über das 13

Auf Lateinisch genius linguae. Dies ist ein bedeutsamer Beleg für die Formel vom „génie de la langue“, die seit dem 17. Jahrhundert in Europa Karriere macht und die jeweilige besondere Eigenart einer Sprache bezeichnet.

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menschliche Ingenium, über scharfsinnige und witzige Worte und über das Lachen“, dem längsten und philosophisch bedeutendsten Kapitel der Vindiciae, stelle ich im Folgenden die Passage über das Ingenium in deutscher Übersetzung vor, ein bedeutsames Fragment einer Geschichte der Einbildungskraft und der Poesie.14 * Digression über das menschliche Ingenium, über scharfsinnige und witzige Worte und über das Lachen (20) Aber die Philosophie, die Geometrie, die Philologie, ja eigentlich alle Arten von Lehren beweisen in aller Klarheit, dass die Meinung, dass das Ingenium im Gegensatz zur Wahrheit steht, völlig absurd ist. (21) Und zuallererst die Philosophie; denn man sagt nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch, sondern es ist auch von den Philosophen bewiesen worden, dass das Ingenium der göttliche Vater [parens] aller Erfindungen ist. O dass man doch mit dem Bacon’schen Organum Philosophie treiben würde, dass die Philosophen also doch das, was sie denken, auch tatsächlich mit Experimenten als wahr beweisen würden, so wie Lord Verulam zu seinem Organum auch noch das Buch mit dem Titel Cogitata visa geschrieben hat!15 Die Kunst oder Wissenschaft des gesunden Denkens ist eine Verwandte der Engländer seit jenen alten Zeiten, als – bei Tacitus in dessen Vita – der weise Agricola „das ingenium der Britannier dem studium der Gallier vorzog“, um sie zur Pflege der Künste der Humanität anzutreiben; daher wird auch heute noch bei den Engländern die Experimentalphilosophie vor allen übrigen hochgeschätzt. In der Tat, wenn man so Physik betreiben würde, dann wären von Sokrates nicht nur die Schumacher mehr geschätzt worden als die Sophisten – wobei jene ein dem Menschengeschlecht nützliches Werk tun, diese aber überhaupt nichts –, sondern die Philosophen wären dadurch auch wahrlich gewissermaßen dem besten und größten Gott ähnlich, bei dem ja Verstehen und Werk ein und dasselbe sind. (22) Auch wenn ich nur wenig von Geometrie verstehe, so habe ich dennoch mit der synthetischen Methode der Alten eingesehen, wie die unzähligen Sätze des Euklid, das heißt die Elemente der Größen zu durchlaufen und zu lesen sind, die, auseinandergerissen und verstreut, zunächst kein πρòς τι mit-

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Vgl. Kamper 1981. Dieser Titel, also: „Gedachtes Gesehenes“ oder auch „Gesehenes Gedachtes“, entspricht zwar genau dem von Vico vertretenen Programm einer empirischen Überprüfung der Ideen. Das Werk von Bacon hat allerdings einen etwas anderen Titel, nämlich Cogitata et visa de interpretatione naturae, sive de inventione rerum et operum (1607).

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einander, also keine Beziehung zueinander zu haben schienen; und dass die Geometrie aus diesen Elementen, nicht nur bei den Problemen, die sie ganz geistig mit Zirkel und Lineal konstruiert, sondern auch bei den Theoremen, die sie als wahr betrachtet, das Wahre macht [vera facere]. Was nur derjenige wirklich leisten kann, der mit einem kräftigen Ingenium ausgestattet ist: Daher ist der Geometer in seiner Welt der Figuren gewissermaßen ein Gott, so wie der beste und größte Gott in dieser Welt der Geister und Körper gewissermaßen ein Geometer ist.16 Und zu Recht werden daher diejenigen, die eine zu den Zwecken der Mechanik herabgelassene Geometrie zum Ausführen ziviler oder militärischer Werke betreiben, bei uns Italienern mit einem knappen und kenntnisreichen Wort ingegneri genannt. Und was wir von der synthetischen Methode sagen, steht auch der analytischen Methode überhaupt nicht entgegen, da diese ja aus der gleichsam göttlichen verborgenen Kraft des Ingeniums entstanden ist, mit deren Hilfe die Algebristen selber zu raten glauben, wenn sie mit ihren richtig ausgeführten Berechnungen das Wahre beweisen; und was die Synthetiker oft mit großer Mühe leisten, das führen die Analytiker mühelos und leicht und überaus geschickt aus. Das kann, wenn nicht die Kraft des Ingeniums gewissermaßen eine höhere menschliche Kraft ist, auch gar nicht anders sein. (23) Von der Physik nun, von der die Medizin ein Anhang ist, haben wir schon gesprochen. In der Politik, zu der die Regierungskunst, die Befehlskunst, die Redekunst und die Jurisprudenz gehören, werden wir, insbesondere bei der Redekunst, sofort klar zeigen, dass diejenigen an Geschicklichkeit hervorragen, die am meisten über das Ingenium verfügen. Nur in der Theologie, die uns von dem göttlichen Ingenium des besten größten Gottes, der das erste Wahre ist, gelehrt wird, ist es göttliches Gesetz, dass wir unser schwaches Menschen-Ingenium geringschätzen und seine das menschliche Begreifen übersteigenden Wahrheiten eher für wahr halten als das, was mit geometrischen Beweisen bewiesen worden ist. Gewissermaßen aus der kleinsten Partikel jenes göttlichen Ingeniums, auch wenn dies wie gesagt das menschliche Begreifen übersteigt, beweist die Algebra ihre unzweifelhaften Wahrheiten. (24) Schließlich lehrt die Philologie in der Rhetorik, dass der Scharfsinn [acumen] des Ingeniums ohne Wahrheit nicht bestehen kann; Sachen, die gewöhnlicherweise außerordentlich weit verstreut und versprengt erschienen, rückt er zusammen und spitzt er zu [acuit] auf einem gemeinsamen Grund versteckter Wahrheit, durch den etliche lange Überlegungen eingespart werden 16

Vgl. denselben Gedanken in der Passage über das Ingenium in der Formulierung des Liber metaphysicus von 1710: „ut Deus sit naturae artifex, homo articifiorum Deus“ (Vico 1979: 126): „wie Gott der Macher der Natur ist, so ist der Mensch der Gott des von ihm Gemachten.“

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können, so dass diese Sachen sich durch einen eleganten Nexus als miteinander verknüpft und verbunden erweisen. Daher führt Aristoteles folgenden Grund an, warum die scharfsinnigen Worte [acuta dicta]17 erfreuen: weil der Geist, der Hunger auf Wahrheit hat, wenn er das scharfsinnige Wort hört, in kürzester Zeit und auf einen Schlag vieles lernt. (25) Dagegen werden die witzigen Worte [arguta dicta] bloß von der schwachen und matten Phantasie vorgetäuscht,18 die entweder die nackten Namen der Sachen zusammenträgt oder nur die Oberflächen der Sachen – und nicht einmal vollständig – zusammenstellt oder irgendwelche absurden oder unzusammenhängenden Dinge dem unaufmerksamen Geist gegenüberstellt, der etwas Zusammengehörendes und Zusammenhängendes erwartet und in seiner Erwartung getäuscht und frustriert wird. Dadurch geraten die Fibern des Gehirns, die auf ein zusammenhängendes und zusammengehörendes Objekt ausgerichtet waren und von einem anderem, unerwarteten gestört wurden, durcheinander und verbreiten durch diese Aufregung ihre zitternde Bewegung über den Rumpf in alle Verzweigungen der Nerven; diese Bewegung erschüttert den ganzen Körper und wirft den Mensch aus seiner aufrechten Stellung. Daraus ergibt sich, dass die Tiere des Lachens entbehren, weil sie nur einen einzigen Sinn haben, mit dem sie auf einzelne Gegenstände einen nach dem anderen achthaben, und jeder Gegenstand, der dem Tier gegenübersteht, wird vom anderen wieder verdrängt und zerstört. Gerade hieraus siehst du klar ein, dass die Tiere, da ihnen von der Natur gerade der Sinn des Lachens vorenthalten worden ist, auch bar jeder Vernunft sind. Und hier und nirgendwo sonst ist nun auch klar geworden, dass den Lachern jener geheime Sinn eigen ist, der ihnen selbst verborgen ist, wenn sie ernsthafte Dinge durch Lachen quittieren; da das Lachen dem Menschen eigen ist, glauben diese nämlich in der Tat gerade dann, wenn sie lachen, sich als Menschen zu erkennen. Das Lachen stammt aber aus unserer schwachen Menschennatur, durch die wir „getäuscht werden durch den Schein des Richtigen.“ Und in der Tat: wegen der von uns solchermaßen erklärten Natur des Lachens stehen die lachenden Menschen gleichsam in der Mitte zwischen den strengen und ernsten Männern und den Tieren. *

17 18

Vicos Definition des Ingeniums liegt die geometrische Metapher von der „akuten“, also eigentlich „spitzwinkligen“ Verbindung zweier auseinanderliegender Dinge zugrunde. Lat. finguntur. Fingere ist bei Vico allemal dem Sagen der Wahrheit gegenübergestellt, wie wir bei seiner Kritik an Descartes gesehen haben, der die Beschreibung seines philosophischen Erkenntniswegs nur fingiert habe: „finse Renato Delle Carte“ (V: 7).

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Im zweiten Teil der Digression führt Vico dann die Theorie des Lachens beziehungsweise die Charakterisierung der derisores, der Lächerlich-Macher, weiter aus. Das Ingenium als das Vermögen der dicta acuta ist das höhere Geistesvermögen, das den viri graves zukommt, den würdigen Männern. Gravitas – hier meint es vor allem die Beständigkeit (constantia) beim Verfolgen einer Sache – ist eine entscheidende Qualität der auctoritas, aber gravitas bedeutet auch „Schwangerschaft“! Die Phantasie, die hier als schwach und matt charakterisiert ist und die nur dicta arguta erzeugt, steht unter dem Ingenium und kommt den leicht von einer zur anderen Sache hin und herspringenden homines ridiculi, den Spaßmachern, den derisores zu. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Digression über das Ingenium und das Lachen nicht nur ein Exkurs in die Systematik der Vico’schen Philosophie ist, sondern auch die Polemik gegen den erro mit den Mitteln systematischer Philosophie fortführt: Phantasie, Spaßmacherei, das die „Gehirnfibern“ durcheinanderbringende Schwanken des Geistes – titubant, vacillant, lapsant (VV: 28) –, das sich auf den ganzen Körper ausdehnt und den aufrechten Gang des Menschen gefährdet, ihn also dem Tier annähert. Das ist die Beschreibung des Geisteszustandes des unbekannten erro, der sich mit seinen haltlosen dicta arguta über das Buch des Vaters Vico aus der Menschheit verabschiedet. Die derisores sind Tier-Menschen oder MenschenTiere, sie stehen „inter viros et belluas“, „zwischen Männern und Tieren“ (VV: 26). Sie sind wie die bestioni des wilden Anfangs. Im Resümee der Vindiciae in der späteren Ergänzung seiner Vita (1731) rät Vico daher auch dem falschen Verleumder, dem falso infamatore, aus der Welt der Menschen zu scheiden und unter den wilden Tieren in den afrikanischen Wüsten zu leben: „esca dal mondo degli uomini e vada a vivere tralle fiere ne’ deserti dell’Affrica“ (V: 75). Im schärfsten Gegensatz zu diesem tiermenschlichen Phantasten, dem ­bestione, steht der gravis vir, der menschliche Mensch, auf den Vico am Ende seiner Digression wieder zurückkommt: Demosthenes repräsentiert diesen Gegentypus, den Mann des Ingeniums und des ernsten dictum acutum, den „ohne jeden Zweifel scharfsinnigsten Redner von allen“ („orator procul dubio omnium acutissimus“, VV: 30). Seine Rede glänzt durch blitzartige Enthymeme („enthymemata quae fulminum instar“, VV: 30), die aber niemanden zum Lachen bringen! (30) Dieser nun, Demosthenes, der so sehr durch seinen Scharfsinn hervorragte, konnte aber durch seine Reden niemals Lachen erregen, und, als er es einmal versuchte, war er, wie Cicero erzählt, dabei so ungeschickt, dass er sich selbst völlig lächerlich machte. Nachdem Vico nun bewiesen hat, wie sehr die Wahrheit auf dem Ingenium aufruht, lässt er seine Digression mit der folgenden sarkastischen Sequenz enden:

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(31) Aus alledem schließt nun jener unbekannte Herumirrende, wie sehr das Ingenium der Wahrheit entgegengestellt sei, wo doch gerade nichts so konsequent die Wahrheit verfolgt wie das Ingenium: dazu habe ich, weil hier die Sache ihren Ausgang genommen hat, einige Anmerkungen gemacht, um jenem Irrenden zu zeigen, dass, wie er ganz richtig mit dem Volke glaubt, die Lehre aus der Beredsamkeit eine völlig andere Sache ist als die Lehre, die von der Philosophie ausgeht. * Ich wollte die Digression über das Ingenium und das Lachen hier zur Kenntnis bringen, weil sie als ein Teil der Vindiciae wenig beachtet wurde,19 vor allem aber weil sie Wichtiges zu Vicos Auffassung dieses zentralen geistigen Vermögens beiträgt. Dies sei hier abschließend kurz resümiert. Erstens fasst die Passage das auch aus anderen Schriften Vicos Bekannte in einmaliger Klarheit zusammen: Das Ingenium ist die wichtigste geistige Kraft des Menschen (vis humana maior), weil sie die in den Menschen gelegte Form der göttlichen Schöpfungskraft (divinum ingenium) ist. Wie bei dieser fallen auch beim menschlichen Ingenium Denken und Machen zusammen: „intelligentia et opus unum idemque sunt“ (VV: 21), „Intelligenz und Werk sind ein und dasselbe“. Zweitens präzisiert die Stelle die Systematik der kreativen Geisteskräfte: Es geht Vico eigentlich immer um drei schöpferische geistige Vermögen: um Memoria, Phantasie und Ingenium. In der letzten Entwicklung seines Denkens, in der Scienza nuova von 1744, sind diese drei Vermögen eng zusammengerückt, ja als drei – in dieser Reihenfolge aufsteigende – Formen der Memoria geradezu zu einer Kraft verschmolzen.20 Im früheren Liber metaphysicus von 1710 werden Memoria und Phantasie, die dort miteinander gleichgesetzt sind, noch deutlich vom Ingenium getrennt: Die Phantasie ist das Vermögen, Bilder zu schaffen („facultas qua imagines confor­ mamus“), in denen wahre Züge der Natur falsch gemischt werden („vera naturae falso mixta“),21 während das Ingenium – wie hier – als Vermögen bezeichnet wird, Getrenntes zusammenzubringen. Diese Unterschiedlichkeit von Phantasie und Ingenium wird in den Vindiciae noch deutlicher akzentuiert: Die Phantasie ist die schwächere geistige Kraft, die noch ganz mit dem Körper verbunden ist. Die deutlichere Trennung kommt natürlich durch die polemische Absicht Vicos zustande, den phantasievollen Lächerlich-Macher seines Buches dem wilden Zwischenbereich zwischen Menschheit und Bestialität zuzuordnen. 19 20 21

Die Vindiciae finden aber zunehmend Beachtung, vgl. Verene/Bayer 2009, Recknagel 2016 und die französische Übersetzung Vico 2004b. Vgl. dazu Trabant 1994, Kapitel 7. Vico 1979: 124.

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Die Körperlichkeit der Phantasie zeigt Vico, drittens, vor allem durch ihre Verbindung mit dem Lachen. Das Lachen markiert die niedrigste Stufe des Menschseins. Sofern es nur dem Menschen eigen ist (die Tiere lachen nicht), ist es zwar schon menschlich, andererseits aber doch noch ganz nahe bei den Tieren: „derisores proxime accedunt ad belluas“ (VV: 26), „die Lacher stehen den Tieren ganz nahe“. Phantasie und Lachen bezeichnen daher so etwas wie die geistige Tierheit des Menschen. Aus dieser Stellung von Phantasie und Lachen wird nun auch endgültig klar, dass sich hier, und nicht beim Ingenium, der Abgrund zur Wahrheit auftut: Den phantastischen Spaßmachern – wie dem anonymen Rezensenten – sind auf ewig die göttlichen Schätze der Wahrheit verschlossen („divini veritatis thesauri semper occlusi“, VV: 27), die allein den ingeniösen ernsthaften Männern wie Vico gehören. Schließlich macht die Digression über das Ingenium die systematische Zugehörigkeit des Begriffes Ingenium zu Autorschaft, Vaterschaft und Poetenschaft deutlich – und damit zum Kern seiner Philosophie: verum et factum konvergieren im Ingenium. Die Digression über das Ingenium führt mitten ins Herz der Vico’schen Philosophie. Sie steht im Zentrum des Textes, in dem Vico seine Autorschaft und Vaterschaft einklagt. Sie ist – um bei generativen Metaphern zu blieben – der Omphalos, der Nabel, seiner Vaterschaftsklage: Sie vindiziert das Ingenium als höchste, weil göttliche Kraft des Menschen, als vis humana maior, als die Kraft des Vaters.

Poetische Zwillinge

5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war die Hieroglyphe. Die Hieroglyphe war aber das Wort (logos), die Hieroglyphe war das Wort des Anfangs. Sie ist der Anfang (italienisch: principio) und das Prinzip (italienisch: principio) des Denkens der Menschen überhaupt wie auch der Anfang des Denkens von Giambattista Vico. An den Anfang der Neuen Wissenschaft stellt Vico eine Hieroglyphe: die dipintura mit ihren Hauptcharakteren, der Metaphysik, Herkules und Homer, und den Gegenständen für die hauptsächlichen Institutionen der Menschheit. Die Metaphysik steht auf dem mondo civile, der von der Erde, dem mondo naturale, getragen wird. Der Globus (der seinerseits auf dem Altar, also auf der Religion aufruht) ist natürlich auch das Fundament der gesellschaftlichen Welt. Und alles ist mit dem ins heilige Dreieck eingeschriebenen Auge Gottes verbunden: Das Auge Gottes strahlt aus dem Himmel ins Herz der Metaphysik, welche „in Gott die Welt der menschlichen Geister betrachtet“ („contempla in Dio il Mondo delle menti umane“, SN44: 2). Vom Herzen der Metaphysik wird der Strahl der göttlichen Vorsehung so reflektiert, dass er Homer beleuchtet. Vor allem aber fällt das göttliche Licht auf das, was bei Vico ausdrücklich „Hieroglyphen“ heißt: GEROGLIFICI.

1. GEROGLIFICI Das Wort geroglifico kommt gleich am Anfang der spiegazione della dipintura an prominenter Stelle vor, nämlich im zweiten Absatz, und zwar in Majuskeln: (SN44: 2) […] il quale [il mondo civile], come da suoi Elementi è formato da tutte quelle cose, le quali la DIPINTURA qui rappresenta co’ GEROGLIFICI, che spone in mostra al di sotto. […] [der mondo civile] wird, wie von seinen Elementen, von all diesen Dingen gebildet, welche das Bild hier mit den Hieroglyphen darstellt, welche es unten ausstellt.

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Poetische Zwillinge

1.1 Die Hieroglyphen sind die Grundfiguren seiner Wissenschaft vom mondo civile wie bei Euklid die „Elemente“, die stoicheia der Mathematik. Diese sind in drei Gruppen von Gegenständen in drei Ebenen übereinander angeordnet. Nachdem er Metaphysik, Herkules und Homer erläutert hat, leitet Vico folgendermaßen zur Erklärung der HIEROGLYPHEN über: (SN44: 7) […] AL LUME DEL RAGGIO DELLA PROVVEDENZA DIVINA DALLA METAFISICA RISPARSO IN OMERO ESCONO ALLA LUCE TUTTI I GEROGLIFICI, che significano i Principj […] di questo Mondo di Nazioni. […] im Glanz des Strahls der göttlichen Vorsehung, welcher sich von der Metaphysik auf Homer ausbreitet, treten alle Hieroglyphen ans Licht, die die […] Prinzipien dieser Welt der Nationen bedeuten. Ich habe schon im ersten Kapitel gezeigt, dass die erste Gruppe von Hieroglyphen, bestehend aus Augurenstab und Altar, aus Feuer und Wasser auf dem Altar und aus einer Urne, die drei Ur-Institutionen der Menschheit, nämlich Religion (Augurenstab, Altar), Ehe (Feuer und Wasser) und Bestattung (Urne) repräsentieren. Aufgrund dieser drei Institutionen verwandeln sich die Tiere, die die Menschen waren, die bestioni, in Menschen. Die zweite Gruppe von Hieroglyphen, die auf der Ebene etwas weiter unten liegen, sind wieder drei: Pflug, Ruder und Alphabettafel für den Ackerbau, die Völkerwanderung und die Seefahrt und die letzte Entwicklung der Kultur: die Schriftkultur. Die dritte, unterste Gruppe von Hieroglyphen: das Rutenbündel, das Schwert, die Börse, die Waage und der Heroldstab repräsentieren die Herrschaft, das heroische Recht der Waffengewalt, Handel und Geld, das Gesetz und die Zähmung des Krieges. 1.2. Im Absatz 30 endet die Erklärung der GEROGLIFICI. Es folgt eine Passage der spiegazione, die gleichsam vom Bild abrückt und in einer Art Fazit weitergehende Überlegungen anstellt. Erst im Absatz 40 kehrt Vico wieder zum Bild zurück. In den letzten drei Abschnitte der spiegazione wirft Vico aus immer größer werdender Entfernung letzte Blicke auf das Bild: (SN44: 40) Ora per raccogliere tutti i primi Elementi di questo Mondo di Nazioni da’ GEROGLIFICI, che gli significano; IL LITUO, l’ACQUA E ’L FUOCO SOPRA L’ALTARE, L’URNA CENERARIA DENTRO LE SELVE, L’ARATRO, CHE S’APPOG­ GIA ALL’ALTA­­RE e ’L TIMONE PROSTRATO A PIE’ DELL’ ALTARE significano […]: il FASCIO significa […]: la SPADA, CHE S’APPOGGIA AL FASCIO significa […]; la BORSA significa […]: la BILANCIA significa […]: e finalmente il CADUCEO significa […]: LA TAVOLA DEGLI ALFABETI È POSTA IN MEZZO A’ GEROGLIFICI DIVINI, ET UMANI […].

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5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

Um nun alle ersten Elemente dieser Welt der Nationen von den Hieroglyphen her zu versammeln, die sie bedeuten: der Stab, das Wasser und das Feuer auf dem Altar, die Aschenurne in den Wäldern, der Pflug, der sich an den Altar lehnt und das am Fuß des Altars liegende Ruder bedeuten […], das Rutenbündel bedeutet […], das auf dem Rutenbündel liegende Schwert bedeutet […], die Börse bedeutet […], die Waage bedeutet […], und schließlich bedeutet der Heroldstab […], die Alphabettafel ist mitten hineingestellt in die göttlichen und menschlichen Hieroglyphen […]. Vico führt hier alle Hieroglyphen noch einmal auf, und er sagt auch noch einmal, was sie bedeuten: „X significa y“, zum Beispiel: „Der Stab bedeutet die Augurenkunst“ usw. Das Wort GEROGLIFICO wie auch die einzelnen Hieroglyphen selbst werden weiter ganz konsequent in Majuskeln geschrieben. Die wichtigsten Momente der Licht-Syntax des ganzen Bildes werden in den für die Bezeichnung der Hieroglyphen reservierten Majuskeln angeführt: die Dunkelheit des Hintergrunds, der Lichtstrahl der göttlichen Vorsehung, der von Gott auf die Metaphysik und von dieser auf Homer und schließlich auf die Hieroglyphen zu Füßen Homers fällt: (SN44: 41) LE TENEBRE NEL FONDO DELLA DIPINTURA […]. IL RAGGIO, DEL QUALE LA DIVINA PROVVEDENZA ALLUMA IL PETTO ALLA METAFISICA […]. IL RAGGIO, CHE DA PETTO ALLA METAFISICA SI RISPARGE NELLA STATUA D’OMERO […]. AL LUME DEL VERO OMERO N’ESCONO I GEROGLIFICI […]. A’ PIEDI DELLA STATUA D’OMERO […]. Die Dunkelheit im Hintergrund des Bildes […]. Der Strahl, von dem die göttliche Vorsehung der Metaphysik die Brust erleuchtet […]. Der Strahl, der sich von der Brust der Metaphysik auf die Statue Homers ergießt […]. Im Licht des wahren Homer treten die Hieroglyphen hervor […]. Am Fuß der Statue Homers […]. Der letzte Blick auf das Bild schließlich wird in der folgenden Zusammenfassung in Absatz 42 kondensiert: (SN44: 42) TUTTA LA FIGURA rappresenta gli tre Mondi secondo l’ordine, col quale le menti umane della Gentilità da Terra si sono al Cielo levate. TUTTI I GEROGLIFICI, CHE SI VEDONO IN TERRA dinotano il Mondo delle Nazioni; al quale prima di tutt’altra cosa applicarono gli uomini: IL GLOBO CH’È IN MEZZO rappresenta il Mondo della Natura; il quale poi osservaron i Fisici: I GEROGLIFICI, CHE VI SONO AL DI SOPRA significano il Mondo delle Menti, e di Dio; il quale finalmente contemplarono i Metafisici.

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Poetische Zwillinge

Die ganze Figur stellt die drei Welten nach der Ordnung dar, in der sich die menschlichen Geister des Heidentums von der Erde zum Himmel erhoben haben. Alle Hieroglyphen, die man auf der Erde sieht, bezeichnen die Welt der Nationen, um die sich vor allen anderen Dingen die Menschen zuerst bemüht haben. Die Erdkugel in der Mitte stellt die Welt der Natur dar, welche dann die Physiker beobachtet haben. Die Hieroglyphen, die darüber sind, bedeuten die Welt der Geister und Gottes, welche schließlich die Metaphysiker betrachteten. „DIE GANZE FIGUR stellt dar“, „TUTTA LA FIGURA rappresenta“. Die Versalien, die in der spiegazione systematisch zur Bezeichnung der „Hieroglyphen“ verwendet werden, dehnen sich hier auf die ganze Figur aus: Nachdem Vico zuerst nur von den bisher erwähnten, „unteren“ einzelnen Gegenständen als GEROGLIFICI gesprochen hat („tutti i geroglifici, che si vedono in Terra“), wird nun auch der Globus durch die Majuskeln als Hieroglyphe markiert. Er ist die Hieroglyphe der natürlichen Welt. Und auch das, was „darüber“ ist, wird ausdrücklich als „Hieroglyphen“ bezeichnet, also die Metaphysik und das Auge Gottes, welche die „geistige, göttliche oder metaphysische Welt“ bedeuten. Die Majuskeln zeigen an, dass es legitim ist, die ganze Figur als eine Hieroglyphe im Sinne Vicos anzusehen: „TUTTA LA FIGURA rappresenta“. 1.3. HIEROGLYPHEN sind bei Vico Gegenstände bzw. Bilder von Gegenständen, die etwas bedeuten: significano, dinotano, rappresentano. Es sind semiotische beziehungsweise sematologische Größen. Vico selbst verwendet in diesem Zusammenhang das homerische Wort sémata, „Zeichen“. HIEROGLYPHEN sind Gegenstände und Bilder, die nicht irgend etwas bedeuten, sondern solche, die die Prinzipien des mondo civile bedeuten: „che significano i Principj […] di questo Mondo di Nazioni“ (SN44: 7). HIEROGLYPHEN sind ganz offensichtlich etwas, das außerordentlich wichtig ist. Überall, wo das Wort geroglifico auf diesen ersten 36 Seiten vorkommt, ist es in Großbuchstaben gedruckt, GEROGLIFICO, und auch die Wörter für die Gegenstände, die Hieroglyphen sind, sind in Majuskeln gesetzt: IL LITUO, IL FASCIO, L’ARATRO. Vico hebt mit großer Sorgfalt die Hieroglyphizität der dargestellten Gegenstände durch den Druck hervor. Das Substantiv GEROGLIFICO kommt vierzehnmal in der spiegazione vor. Die Scienza nuova von 1744 hat in der Originalausgabe 526 Seiten, auf denen das Wort insgesamt achtundsechzigmal vorkommt.1 Ein Viertel der Vorkommnisse von geroglifico befindet sich in der spiegazione, die aber quantitativ nicht einmal ein Zehntel des Buches ausmacht. 1

Angaben nach Veneziani 1997.

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5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

HIEROGLYPHEN stehen vor den Wörtern, sie gehen als Bilder den sprachlichen Zeichen voran. Die doppelte Funktion der Hieroglyphen ist es, noch vor der Lektüre die „Idee des Werkes“ zu fassen: „per concepire l’idea di quest’opera avanti di leggerla“ (SN44: 1) (dies ist eine der wenigen Stellen, wo die Großbuchstaben keine Hieroglyphe bezeichnen) und diese nach der Lektüre mithilfe der Phantasie wieder zu erinnern. Memoria und fantasia sind die Gefährtinnen der Hieroglyphen am Anfang und am Ende. Das Bild insgesamt ist die Hieroglyphe, die vor der Sprache steht: „tutta la figura rappresenta“.

2. Lingua geroglifica In der Einleitung der Scienza nuova befinden wir uns im Bereich eines allgemeinen Hieroglyphen-Diskurses, im Bereich der hieroglyphicity, und nicht im Bereich eines ägyptologischen Diskurses.2 Allerdings evoziert nicht nur der Ausdruck „Hieroglyphe“ gleichsam automatisch Ägypten, sondern ein Werk, das die gesamte „philologische“ Gelehrsamkeit seiner Zeit aufruft, ist ohne eine explizite Bezugnahme auf Ägypten gar nicht denkbar. In Vicos Referenz auf Ägypten, welche die ganze Scien­za nuova durchzieht, kann man ein positives und zwei kritische Momente unterscheiden. Zunächst zur Affirmation des Ägypten-Diskurses. 2.1. In den Absätzen 31–39, in jenem Zwischenraum der spiegazione della dipintura, in dem sich Vico von der Erklärung des Bildes entfernt, wendet er sich dem zu, was er das „System“ nennt (SN44: 31). Der Ausdruck „System“ ist bei Vico an Diachronie gebunden. „System“ bezeichnet eine historische Abfolge. Und das „System“ ist eine ägyptische Erbschaft. Es ist die Abfolge der drei Zeitalter, des göttlichen, des heroischen und des menschlichen Zeitalters, denen drei Sprachen entsprechen: (SN44: 32) […] la prima nel tempo delle Famiglie […]; la qual si truova essere stata una lingua muta per cenni, o corpi, ch’avessero naturali rapporti all’idee, ch’essi volevan significare: la seconda si parlò per Imprese Eroiche […]: la terza fu la Lingua Umana per voci convenute da’ popoli. […] Die erste Sprache wurde gesprochen in der Zeit der Familien […]; es ist offensichtlich eine stumme Sprache gewesen aus Gebärden oder Körpern, die natürliche Beziehungen zu den Ideen haben sollten, die sie bezeichnen wollten; die zweite Sprache wurde gesprochen in heroischen Devisen […]; die dritte Sprache war die menschliche, die aus von den Völkern vereinbarten Wörtern besteht.

2

Zu letzterem vgl. David 1965 und Iversen1961.

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Poetische Zwillinge

Dieses Schema der drei Zeitalter und Sprachen wird auf die Ägypter bezogen, die drei Sprachen unterschieden hätten: „Queste sono appunto le tre Lingue, che pur gli Egizj dissero essersi parlate innanzi nel loro Mondo“ (ebd.), „das sind gerade die drei Sprachen, von denen auch die Ägypter sagten, dass sie in ihrer Welt gesprochen worden seien“. Die erste Sprache, die göttliche Sprache, hätten sie eine „hieroglyphische Sprache“ genannt: „la geroglifica, ovvero Sagra, o Segreta, per atti muti, convenevole alle Religioni“. Stumme Gebärden, geheime Zeichen, die der Religion entsprechen, eine Sprache, die dem Bezirk des Heiligen angehört. Es ist eine Sprache aus „heiligen Einritzungen“, hiero-glyphisch. Vico, für dessen Schreiben die etymologische Transparenz konstitutiv ist, schreibt nicht einfach geroglifico, ohne an hieros „heilig“ und glyphein „einritzen“ zu denken. Die zweite, heroische Sprache nennen die Ägypter „sym­­bolisch“, und die dritte, die menschliche, die Vico pistolare nennt, ist die „Briefsprache“ der ägyptologischen Tradition. Dieses System der drei Sprachen lässt sich folgendermaßen schematisch darstellen:

a.

1

2

3

4

5

Materialität

signifiant /

Feld

Funktion

Vermögen

b. Zwillinge:

signifié

1. göttlich

corpi

hiero-

atti-cenni

visuell GRAPH-phon

natürlich

Heiliges

glyphisch 2. heroisch

imprese

symbolisch

eroiche

visuell

graph-phon

ähnlich

Herrschaft

Kognition fantasia Kommuni- (poetico) kation

sémata 3. menschlich epistolär

voci

lautlich graph-PHON „willkürlich“ gewöhnliches Kommu­­ni- ragione convenuto

Leben

kation

a placito

Die typischen Signifikanten der drei Sprachen sind: bei der göttlich-hieroglyphischen Sprache corpi oder atti o cenni, das heißt Gegenstände und Gebärden, bei der heroisch-symbolischen Sprache imprese eroiche oder sémata, das heißt heroische Devisen, und bei der menschlich-epistolären voci, Vokalzeichen, Wörter. Die cenni e corpi sind hinsichtlich ihrer Materialität visuell, auch in der zweiten Periode haben wir vor allem visuelle Signifikanten, und erst in der dritten Periode werden die Signifikanten phonisch. Die Beziehung zwischen signifiant und signifié wird zunächst als „natürlich“ bezeichnet. Diese Identität von Signifikant und Signifikat, die starke Iko-

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5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

nizität des Anfangs, löst sich allmählich auf. Die Identität geht über in eine Ähnlichkeit zwischen Signifikant und Signifikat, und schließlich verschwindet diese Ähnlichkeit. Die Nicht-Abbildlichkeit der „menschlichen“ Sprache ist aber nur ein Schein: Es sieht nur so aus, als seien die lautlichen Zeichen arbiträr, nicht-ikonisch, a placito. Dies ist aber eigentlich nicht der Fall, da auch ihnen letztlich (Laut-)Bilder zugrundeliegen. Die Felder der Rede, in denen die Zeichen operieren, sind erstens das Heilige oder die Religion, zweitens die Herrschaft, das dominio, und im dritten Zeitalter schließlich das gewöhnliche Leben. Die Funktionen, die für diese Sprachen aufgerufen werden, sind die kommunikative und die kognitive. Kommunikation ist nicht die erste Funktion der Sprachen, ursprünglicher ist die kognitive Funktion, die geistige Weltbearbeitung. Homer ist der Urpoet, der geistige Bearbeiter der Welt, der Schöpfer von Zeichen. Erst die dritte, die „menschliche“ Sprache ist kommunikativ (pistolare von gr. epistole „Botschaft“). 2.2. Der Ausdruck lingua geroglifica wird von Vico graphisch deutlich von dem Substantiv GEROGLIFICO unterschieden: Das Adjektiv geroglifico wird nicht mit Majuskeln geschrieben, sondern kursiv. Dennoch ist die hieroglyphische Sprache strukturell identisch mit den GEROGLIFICI des Anfangs der Scienza nuova. Wie sieht diese erste hieroglyphische Sprache aus atti, cenni und corpi aus? Die Grundbewegung des Geistes ist trasporto, Übertragung zwischen Mensch und Welt, in beide Richtungen. Tras-porto ist der italienische Terminus für meta-phora. Die ersten hieroglyphischen corpi sind Gegenstände der Welt: Bäume, Bäche, Steine. Diese werden insofern zu Zeichen oder „Sprache“, als die Menschen eine Seele (anima) als Bedeutung in diese Gegenstände hinübertragen. Durch diese „Animation“ werden die corpi zu Gottheiten. Die erste Sprache ist nicht deswegen eine lingua divina, weil Götter diese Sprache sprechen, sondern weil die Zeichen, die die Menschen machen, Götter sind: die Nymphe im Bach oder im Baum. Sie sind Projektionen unserer Seele in die Substanzen der Natur: sostanze animate, „beseelte Substanzen“ nennt sie Vico. Der umgekehrte trasporto findet statt bei den atti (Handlungen) oder cenni (Winke) der ersten Sprache, den Gebärden, die in einer mimetischen Beziehung zur Welt stehen. Es sind Nachahmungen der Welt mit unseren Körpern, Übertragungen von Welt in den menschlichen Leib. Der Schamane tanzt den Baum oder das zu jagende Tier. Das von Vico mehrfach angeführte Beispiel ist die Bewegung des dreifachen Sichelns, die „drei Ernten“ und dann „drei Jahre“ bedeute. Noch interessanter ist allerdings das Hauptbeispiel für die corpi. Vico kommt im Verlaufe seines Buches mehrfach auf das zurück, was er am Anfang skizziert. So gibt es im Hauptteil der Scienza nuova, im Buch II über die Poetische Weisheit, den langen Paragraphen 435 über die geroglifici (hier dann übrigens nicht mehr in Majuskeln, diese waren für den Bezug auf die dipintura reserviert), in dem zunächst der Grundsatz bestätigt wird, dass „alle ersten Völker aufgrund einer gemeinsamen

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Poetische Zwillinge

natürlichen Notwendigkeit mit Hieroglyphen sprechen“, „fu comune naturale necessità di tutte le prime Nazioni di parlare con geroglifici“ (SN44: 435). Das Beispiel für die Hieroglyphen des Anfangs entnimmt er Herodot: die „Realwörter“ (parole reali) des re Idanturo. Der Perserkönig Darius erklärt dem König Idanthyrsus von Skythien den Krieg. Dieser schickt dem Darius daraufhin eine Botschaft, die aus fünf Gegenständen, corpi, besteht, nämlich einem Frosch, einer Maus, einem Vogel, einem Bogen und einer Pflugschar. Der Frosch bedeutet: „ich bin aus der Erde geboren, ich bin ein Sohn dieses Landes“. Die Maus bedeutet: „ich habe mir in dieser Erde ein Haus gemacht“. Der Vogel bedeutet: „mir gehören die Auspizien“. Die Pflugschar bedeutet natürlich: „ich habe diese Erde kultiviert“, „ridutte a coltura“. Der Bogen bedeutet: „mir gehören die Waffen und die Befehlsgewalt in Skythien, und ich werde dich bekämpfen“. Die zeichenhaften corpi der ersten Sprache sind tatsächlich „Körper“, Gegenstände, die dem Adressaten als Botschaft überbracht werden. 2.3. Die lingua geroglifica besteht also aus visuellen Zeichen, aus Gegenständen (corpi) oder eben auch aus „Zeichnungen“ (das heißt mimetischen Gebärden, atti, cenni) der Gegenstände. Die Herstellung der visuellen Zeichen ist mit der Vorstellung des „Schreibens“ verbunden. Genauer gesagt meint der Ausdruck „Schreiben“ gerade die „Produktion visueller Zeichen“. Eine andere Formulierung für den zitierten Satz, dass die ersten Völker mit Hieroglyphen sprechen, ist nämlich der Satz, dass die Völker „zuerst schreibend sprachen“: „prima parlarono scrivendo“ (SN44: 429). Hiermit ist nicht gemeint, dass die frühen Menschen im modernen Sinne „schreiben“, also Laut-Sprache in visuelle Zeichen überführen, sondern dass sie völlig unabhängig von der Lautsprache – visuelle Zeichen von sich geben. Auch im Wort „Hiero-glyphe“ ist ja die Vorstellung des Schreibens enthalten: glyphein bedeutet – wie die entsprechenden anderen griechischen Wörter für „Schreiben“, charassein oder graphein – „einritzen“. Der für Vico typische Ausdruck für die Urzeichen ist ja derjenige des (poetischen) Charakters. Die Urzeichen, die Hieroglyphen, sind nicht nur Glyphen, sondern auch Hiero-Charaktere. 2.4. Die Hieroglyphizität des ersten Denkens steht im Zentrum der Vico’schen Philosophie. Dem oben zitierten Satzes, „dass die ersten Nationen mit Hieroglyphen gesprochen hätten“, entspricht natürlich Vicos philosophische Entdeckung, seine discoverta, dass die ersten Völker des Heidentums mit erwiesener Naturnotwendigkeit Poeten gewesen seien, welche in poetischen Charakteren gesprochen hätten (SN44: 34). In dem Ausdruck „poetisch“ wird als die geistige Produktivkraft des Anfangs die Phantasie aufgerufen und im „Charakter“ das „Schreiben“. Die „poetischen Charaktere“ sind „heilige Einschreibungen“ oder Hiero-Glyphen. Das „Heilige“ dieser ersten Zeichen wird im Übrigen besonders deut­lich an den ersten lautlichen Zeichen, die ich im nächsten Kapitel behandeln werde.

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5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

2.5. Zwillinge. Charakter und Wort, Schrift und Laut stehen sich in Vicos semiohistorischem „System“ aber nicht, wie es das obige Schema in Rubrik 1a anzudeuten scheint, als diachronische Gegensätze gegenüber. Zwar ist die hieroglyphische erste Sprache aus Körpern und Gesten gewissermaßen auch die Vergangenheit der dritten Sprache aus Wörtern (das heißt „Stimmen“, voci). Bei genauerem Hinschauen aber handelt es sich nicht um eine Ablösung des Graphisch-Visuellen durch das Phonische, sondern nur um eine quantitative Veränderung, gleichsam um ein welthistorisches Zunehmen des Lautlichen gegenüber dem Visuellen (in Rubrik 1b des Schemas). Denn Schrift und Laut entwickeln sich miteinander in einer symbiotischen Dualität. Dies ist die weitere discoverta Vicos, auf die er immer mit einigem Stolz hinweist und die er vehement gegen andere, „monströse“ Meinungen verteidigt: Schrift und Sprache sind „Zwillinge“: (SN44: 33) […] i Filologi han creduto nelle nazioni esser nate prima le Lingue, dappoi le Lettere; quando […] nacquero esse gemelle, e caminarono del pari in tutte e tre le loro spezie le lettere con le lingue. […] die Philologen haben geglaubt, zuerst seien die Sprachen und dann die Schriften entstanden, während sie doch […] als Zwillinge geboren wurden und sich in allen ihren drei Arten parallel entwickelten, die Schriften mit den Sprachen. Den Hiero-glyphen des Anfangs stehen Hiero-phone, „heilige Laute“, als Zwillinge zur Seite. Am Anfang der Semiogenese ist allerdings das Visuelle der erste und größere Zwilling, und das Phonische ist die weniger wichtige Semiose. Der kleine stimmliche Zwillingsbruder der Hieroglyphe ist der Gesang. In der zweiten Sprache sind Schrift und Stimme ungefähr gleichberechtigt, aber am Ende, in der menschlichen Sprache, tragen die vokalen Zeichen die Hauptlast der Semiose. Die Zwillingsgeburt der Semiose eröffnet die Möglichkeit des Übergangs von dem einen zu dem anderen: Wenn Schrift und Laut von Anfang an Zwillinge sind, dann können auch – als letzte semiotische Erfindung der menschlichen Kultur – die Buchstaben wieder für die voci stehen, so wie es Vico in der Hieroglyphe der Alphabettaffel in der dipintura vorführt. Sie sind auch in der dritten Stufe der menschlichen Entwicklung immer noch – wie Gesang und Hieroglyphe am Anfang – Zwillinge. In zwillingshafter Parallelität haben sie übrigens beide am Ende ihre ursprüngliche Ikonizität („Natürlichkeit“, „Ähnlichkeit“) fast abgestreift, aber niemals ganz verloren. Ikonizität liegt auch als aufgehobene aller Semiose zugrunde.

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Poetische Zwillinge

3. Gegen Ägypten Auch wenn Vico aus der ägyptologischen Tradition das welthistorische Schema der Abfolge der drei Zeitalter und der ihnen entsprechenden Sprachen übernimmt, so geht es ihm doch nicht um spezifisch Ägyptisches, sondern ausdrücklich um die Universalität dieses Schemas. Im Anschluss an die zitierte Passage über die „ägyptische“ Abfolge von hieroglypischer, symbolischer und epistolärer Sprache legt Vico Wert auf die Feststellung, dass man diese drei Sprachen ebenso bei den Chaldäern, Skythen, Germanen, und allen anderen alten heidnischen Nationen gefunden habe: „le quali tre lingue si truovano tra’ Caldei, Sciti, Egizj, Germani, e tutte le altre nazioni gentili antiche“ (SN44: 32). 3.1. Und weil dieses System universell ist, weist Vico ausdrücklich den Anspruch der Ägypter zurück, die älteste Kultur zu sein. Nur weil Ägypten wie China sich so lange vor den anderen Nationen verschlossen habe, habe sich dort die alte „scrittura geroglifica“ so lange gehalten. Ein Beweis für ein besonderes Alter ihrer Kultur sei dies aber nicht. Die Universalität des Systems der drei Sprachen sei dagegen „ein Beweis für die Eitelkeit ihres eingebildeten großen Alters“, „una dimostrazione, d’esser vana la lor’ immaginata lontanissima Antichità (SN44: 32). Denn – und das ist sogar eines der Axiome (degnità LVII) der Neuen Wissenschaft – alle Nationen sprachen am Anfang in Hieroglyphen: (SN44: 226) Questa Degnità è ’l Principio de’ geroglifici, co’ quali si truovano aver parlato tutte le Nazioni nella loro prima barbarie. Dieses Axiom ist das Prinzip der Hieroglyphen, mit denen alle Nationen offenbar in ihrer ersten Barbarei gesprochen haben. Auch in der Erläuterung seines welthistorischen Schemas, der tavola cronologica, weist Vico den Anspruch der Ägypter auf einen historischen Primat vor allen Völkern, vor allem vor Israel, unter Hinweis auf die einschlägige Literatur ausdrücklich zurück.3 Dieses „antiägyptische“ Argument ist aus systematischen Gründen wichtig. Denn der Anspruch Ägyptens auf Priorität ist für Vico eine Form der boria delle nazioni, der „Anmaßung der Nationen“, jener ethnozentrischen oder nationalistischen Verblendung, deren Zurückweisung eines der beiden kritischen Motive der Vicoschen Philosophie ist.

3

Vgl. SN44: 44, wo Vico seine ägyptologische Belesenheit demonstriert.

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5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

3.2. Dass es bei Vico programmatisch um Hieroglyphizität und nicht um Ägypten geht, wird sodann an der Kritik eines weiteren klassischen Elements des Ägypten-Diskurses deutlich. An der schon zitierten Stelle, wo Vico die Hieroglyphen des Skythen-Königs vorführt, kritisiert er die „falsche Meinung“, dass „die Hieroglyphen von den Philosophen erfunden worden seien, um darin die Mysterien einer hohen geheimen Weisheit zu verbergen“, „ch’i geroglifici furono ritruovati di Filosofi, per nascondervi dentro i misterj d’alta Sapienza Riposta“ (SN44: 435). Für Vico gehören die Hieroglyphen zur wilden ersten Semiose der Frühzeit aller Völker, es ist nichts Geheimnisvolles oder Esoterisches an den Hieroglyphen, sondern sie verdanken sich im Gegenteil einer „natürlichen Notwendigkeit“: „fu comune naturale necessità di tutte le prime Nazioni di parlare con geroglifici“ (ebd.). Mit diesem weiteren traditionellen Element des Ägypten-Diskurses weist Vico die andere Anmaßung zurück, gegen die er so leidenschaftlich kämpft, die Anmaßung der Gelehrten, die boria dei dotti, das logozentrische Vorurteil. Dagegen steht Vicos Überzeugung von einem wilden, phantastischen, ignoranten Ursprung aller Kultur: „l’Uomo ignorante si fa regola dell’Universo“ oder: „homo non intelligendo fit omnia“ (SN44:405), „der Mensch wird alles ohne Verstand".

4. Hieroglyphen des Anfangs – Hieroglyphen des Endes 4.1. Die lingua geroglifica ist also die Sprache des Anfangs, und Vicos Text tut, was er von der Menschheit sagt: Er „spricht“ am Anfang in Hieroglyphen. Mit seiner Theorie der Hieroglyphen und der lingua geroglifica verfolgt Vico eine kritische und eine systematische Intention. Die hauptsächliche kritische Intention Vicos richtet sich gegen den traditionellen Phono- und Logozentrismus, der bei den Gelehrten herrscht. Die Gelehrten haben immer gesagt, dass der Laut zuerst dagewesen sei und dass die Schrift nur den Laut wiedergebe, als Zeichen des Zeichens. Dies weist Vico mit der Annahme der semiotischen Zwillingsgeburt zurück: Schrift und Laut sind Zwillinge, und als erster Zwilling erscheint die Hieroglyphe, das Visuelle, corpi und atti: „che tutte le nazioni prima parlarono scrivendo“ (SN44: 429). Der Laut ist der zweitgeborene Zwilling. Des Weiteren ist die Hieroglyphe nicht nur ein Signifikant, sondern zugleich auch der erste – aus der Phantasie, nicht aus der Ratio geborene – Gedanke, also Signifikat und Signifikant in einem. Dies richtet sich gegen die in der europäischen Tradition mit dem Namen Aristoteles verbundene dominante Sprachauffassung, derzufolge Sprache im Wesentlichen stimmlich erzeugte Laute, voces (ta en te phone), seien, die nur arbiträre (kata syntheken) Zeichen für die sprachunabhängig erzeugten universellen conceptus seien, und dass die Sprachen sich nur in den Lauten unterscheiden, welche ihrerseits wiederum durch ebenso arbiträre Schriftzeichen wiedergegeben werden können. Dies ist für Vico die Sprach- und Erkenntnistheorie, wie sie sich der boria dei dotti, der rationalistischen Anmaßung der Gelehrten, verdankt.

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Poetische Zwillinge

4.2. Vicos systematische Intention ist dagegen die Entwicklung einer alternativen semiogenetischen Geschichte: Das heilige Bild ist der Anfang, und der Anfang ist wild, phantastisch und dominant visuell. Und dieses Wilde, Phantastische und Visuelle liegt allem Denken zugrunde, es ist das frühe Denken der Menschheit. Der wilde Anfang ist auch noch im letzten, scheinbar rationalen phonischen Zeichen, dem Wort, enthalten, dialektisch aufgehoben. Die Wörter sind daher auch nur scheinbar arbiträr. Sie sind es nicht wirklich, weil wir hinter diesen scheinbar arbiträren Lauten Abbildliches festmachen können. Vico spielt das Willkürlichwerden an Beispielen durch, die ich im nächsten Kapitel behandeln werde: das Laut-Bild IOUS wird Iovis und Ius. Das Bildhafte und Poetische widersteht jeder logozentrischen Arroganz. Diese Systematik enthält damit aber auch ein bildkritisches Moment oder besser: eine bildbezogene Warnung: Das Bild gehört der wilden Zeit an. Das Bild ist zweifellos der erste Schritt in die Menschheit, es ist daher eben auch die dominante Semiose einer barbarischen Kultur. Wir Modernen befinden uns dagegen im dritten, im menschlichen Zeitalter, im Zeitalter der menschlich-epistolären Wort-Sprache. Dies ist für Vico ein Fortschritt, der die semiotisch und politisch wilde Welt hinter sich lässt. Sofern nun die wilde Vergangenheit noch in dem Produkt der zivilisiertesten Endzeit enthalten ist, versiegen zwar einerseits die „poetischen“ Kräfte des Anfangs niemals, andererseits lässt sich aber auch die Gefahr nicht bannen, dass die Menschheit wieder in die Wildheit zurückfallen könnte. Es gibt bei Vico keine romantische Begeisterung für die Hieroglyphen. Die Hieroglyphen sind Zeichen der überwundenen phantastischen Wildheit, sie enthalten damit immer auch die Drohung eines Rückfalls in die Barbarei. Wenn die „Realwörter“ des Königs Idanthyrsus aus wilder Vorzeit die moderne Kultur dominieren, wenn die Maus Mickey, der Vogel Donald und der Frosch Kermid zu zentralen Zeichen der Kultur werden, dann haben wir ein Problem. Denn wenn die Hieroglyphen dominieren, dann sind wir – zumindest semiotisch – wieder in einem „göttlichen“, barbarischen Zeitalter angelangt – vielleicht in der Frühzeit eines dritten corso der Geschichte. Die Menschheit war nach Vico zunächst von der mythischen Vorzeit bis zum zivilisierten Rom aufgestiegen, dann kamen die Germanen, die Barbaren, und haben alles zerstört. Die Menschheit musste daher im Mittelalter noch einmal durch die wilde Periode der Hieroglyphen und Rechtlosigkeit gehen, bevor sie erneut zum menschlichen Zeitalter aufsteigen konnte: „che ‚n tutti que’ secoli infelici le nazioni fussero ritornate a parlare una lingua muta tra loro“ (SN44: 1051), „in all diesen unglücklichen Jahrhunderten waren die Nationen dazu zurückgekehrt, eine stumme Sprache untereinander zu sprechen“, eine Sprache aus Hieroglyphen: „la Scrittura Geroglifica dell’Imprese Gentilizie“ (ebd.), „die hieroglyphische Schrift der Adelszeichen“. Das italienische impresa heißt auch „Unternehmen“. Die erwähnten modernen Hieroglyphen sind Elemente einer modernen „Unterneh-

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5. Hieroglyphen: Wilde Zeichen des Anfangs

mens-Sprache“. Die Tatsache, dass die Zeichen, die uns dominieren, eine stumme Sprache aus Unternehmens-Hieroglyphen sind, eine „scrittura geroglifica delle imprese“, könnte darauf hindeuten, dass wieder barbarische Zeiten angebrochen sind, secoli infelici, „unglückliche Jahrhunderte“.

6. Hierophone: Wort und Gesang

1. Das Singen des Gottes Den Hiero-Glyphen, den visuellen „heiligen Einritzungen“ des Anfangs, entsprechen, das folgt aus der Zwillingsgeburt der poetischen Charaktere, lautliche Produktionen der „Poeten“, vokale Realisierungen poetischer Charaktere. Diese lautlichen Zwillinge der ersten Zeichen sind zwar die zweitgeborenen und zunächst weniger dominanten, sie sind aber als Vorformen der Lautsprache nicht weniger wichtig als die visuellen Zeichen. Ihnen obliegt sogar eine ganz besondere Aufgabe, sofern vor allem in ihnen das Denken des Göttlichen erfolgt. Die ersten Wörter der Menschheit sind phonische Bilder des Donners: IOUS, oder des Blitzes: ZEUS. Und diese sind gleichzeitig Lautbilder der Gottheit: Iovis-Jupiter oder Zeus. Diese Laute sind also Hiero-Phone, „heilige Laute“. Denn „Gott“ ist der erste Gedanke und das erste Wort: IOUS ist ein mimetischer Laut, mit dem die bestioni den Donner, die schreckliche Gewalt des Gewitters, nachahmen. ZEUS ist das lautliche Abbild des Blitzes, der zuckende Laut malt die zuckende Lichterscheinung. IOUS ist das schreckerfüllte phonetische Abbild des Göttlichen und Lauten und Polternden. Modern gesagt: IOUS ist das erste kognitive Ereignis, das im Laut verkörpert ist. Ein drittes mögliches Urwort ist UR, welches das vom Blitz entfachte Feuer nachahmt. Die Vielzahl der ersten Wörter macht im Übrigen deutlich, dass bei Vico auch im Ursprung Verschiedenheit herrscht. Das erste Wort ist zunächst noch nicht mitteilend, es ist an niemanden gerichtet, sondern – wie später bei Herder oder Humboldt – eine rein semantischkognitive Erfindung des „Einsamen im Walde“.4 Es ist gleichzeitig der erste Gedanke. Und dieser ist: „Gott“. Dieser erste Gedanke wird vor einer Höhle gefasst und veranlasst den gigantischen Urmann, seine Frau in die Höhle zu zerren. Denn nun – angesichts der Gottheit, die er erfunden hat – möchte er sich nicht mehr schamlos unter freiem Himmel dem Geschlechtsverkehr hingeben. Nach der Entdeckung des Gött4

Herder 1772/1978: 34.

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6. Hierophone: Wort und Gesang

lichen haben die bestioni nämlich Angst, sich unter den Augen des Himmels zu paaren, was vorher kein Problem war. Sie schämen sich vor Gott, und damit erfinden sie den zweiten Grund für die menschliche Gesellschaft: die Scham, pudore. Deswegen zerren sie die scheuen Frauen nun in ihre Höhlen: „I Giganti strascinarono le prime donne dentro le loro grotte“ (SN44: 510). Sie paaren sich nicht mehr im Angesicht des Himmels, sie irren nicht mehr herum, sondern setzen sich fest, fermi, in den Höhlen: „[…] incominciarono con le loro donne a star fermi prima nelle spelonche“ (SN44: 524). Sie gründen Familien: „con certe mogli fecero certi figliuoli, e ne divennero certi padri“, (SN44: 1098), „mit sicheren Frau zeugten sie sichere Kinder und wurden ihre sicheren Väter“. In der Höhle eröffnen sie dann auch die kommunikative Dimension der Sprache: Der durch Wort und Scham zum Menschen mutierende bestione kommuniziert dort nämlich mit seiner Frau. Außer in dem nun „menschlichen“ Geschlechtsverkehr wird in den Höhlen auch sprachlich miteinander verkehrt: (SN44: 506) […] i mariti incominciarono a comunicare le loro prime umane idee con le loro donne dall’idea d’una loro Divinità, che gli sforzò strascinarle dentro le loro grotte; e sì questa Volgar Metafisica incominciò anch’ella in Dio a conoscer la mente umana. Die Ehemänner begannen nun, ihre ersten menschlichen Ideen ihren Frauen mitzuteilen, beginnend mit der Idee einer Gottheit, die sie zwang, diese in ihre Höhlen zu zerren. Und so begann auch diese Volksmetaphysik, in Gott den menschlichen Geist zu erkennen. Der wilde Urmensch sagt seiner Frau also nicht: „Mach das Essen! hol mir die Keule!“ oder, wie Hunding in der Walküre: „Rüst uns Männern das Mahl!“. Er sagt auch nicht wie Rousseaus erster sprechender Mensch: „Ich liebe dich“.5 Sprechakttheorisch vollzieht er keine Aufforderung, gibt keinen Befehl, und er vollzieht kein Expressiv, sondern er macht eine objektive Mitteilung. Er teilt seiner Frau seinen ersten Gedanken mit, das heißt er sagt etwas über die Welt, gleichsam: „Dort ist der Gott“, IOUS.6 In der Höhle, im Intimraum der menschlichen Gesellschaft, geht die Zähmung des Triebs der umana libidine einher mit der Kommunikation des ersten menschlichen Gedankens, IOUS. Das erste kommunikative Wort ist das Resultat einer Zähmung der Passion. Es ist daher nicht einfach Schrei, sondern es ist Gesang, canto. Die ersten Menschen sprechen singend, „dovettero formare le prime loro lingue cantando“ (SN44: 230), „sie mussten ihre ersten Sprachen singend bilden“. „Parlan essi cantando“ sagt Vico 5 6

Rousseau 1781: 131. Näheres zum Sprachursprung vor und in der Höhle, vgl. Trabant 2019.

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an anderer Stelle (SN44: 462), eine sprachliche Formulierung, die derjenigen vom „parlare scrivendo“ für die hieroglyphen Zeichen parallel ist (SN44: 429). Den Eigenschaften dieses Urgesangs – und damit dem Ursprung der Sprache – möchte ich im Folgenden nachgehen.

2. Canto Systematisch ist der Gesang der Bruder der Gebärde, der hierophone Zwillingsbruder der Hieroglyphe. Der Gesang ist das erste sematologische Produkt der Stimme, so wie die Gebärde das erste sematologische Produkt der Körperglieder ist. Vico spricht vom Gesang oder genauer vom parlare cantando an zwei wichtigen Stellen der Scienza nuova: in den Axiomen (degnità) LVIII und LIX und in der Passage der „Poetischen Logik“, die von der „poetischen Rede“ handelt (SN44: 461–462): (SN44: 228) LVIII. I mutoli mandan fuori i suoni informi cantando: e gli scilinguati pur cantando spediscono la lingua a prononziare. Die Stummen geben ihre formlosen Töne singend [cantando] von sich: und die Stotternden bringen ebenfalls nur singend [cantando] ihre Zunge zum Sprechen. (SN44: 229–230) LIX. Gli uomini sfogano le grandi passioni dando nel canto, come si sperimenta ne' sommamente addolorati, et allegri. Queste due Degnità, supposte, che gli Autori delle Nazioni gentili […] dovettero formare le prime loro lingue cantando. Die Menschen machen großen Leidenschaft singend Luft, wie man es an denen erfahren kann, die in höchstem Maße betrübt oder heiter sind. Diese beiden angenommenen Grundsätze geben Anlass zu der Vermutung, dass die Gründer der heidnischen Völker […] ihre ersten Sprachen singend bilden mussten. Und in der „Poetischen Logik“: (SN44: 461) […] dovettero dapprima, come fanno i mutoli, mandar fuori le vocali cantando; dipoi, come fanno gli scilinguati, dovettero pur cantando mandar fuori l’articolate di consonanti. […] dass sie [die Menschen] zunächst, wie es die Stummen tun, die Vokale singend von sich geben mussten; danach mussten sie, wie es die Stotternden tun, ebenfalls singend artikulierte Konsonanten von sich geben.

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Dort ist dann auch davon die Rede, dass die Chinesen (die offensichtlich als Menschen des Anfangs betrachtet werden) „singend sprechen“, „parlan essi cantando“ (SN44: 462). Die Axiome (degnità) im ersten Buch sind, wie Vico schreibt, das „Blut“ der Scienza nuova, das heißt sie enthalten alles, was systematisch grundlegend ist, während das lange zweite Buch die gesamte Diachronie der „Poetischen Weisheit“ darlegt. Die synchronischen Einsichten der Axiome werden im Rest des Werks auf eine Zeitachse, in die Diachronie, projiziert. Schon im zitierten Absatz 230 wird ausdrücklich von den „wilden“ Stummen und Stotterern auf die wilden Vorväter der Nationen geschlossen. In den Axiomen stellt Vico fest, dass der Gesang zwei Hindernisse der Artikulation überwindet: ein physisches und ein psychisches. Im ersten Fall sind die körperlichen Organe, die für die Lautproduktion bestimmt sind, nicht bereit, wie es der Fall der Stummen und Stotterer zeigt. Im zweiten Fall ist die Psyche nicht bereit, da sie von den Leidenschaften beherrscht ist. Weder der Körper noch die Seele stehen in diesen Fällen den Menschen zur Verfügung. Hier kommt nun der Gesang zuhilfe. Er eröffnet die Möglichkeit, diese Hindernisse zu überwinden, sowohl synchronisch, bei den Menschen, die diese Blockaden haben, als auch diachronisch in der Menschheitsgeschichte. Physische und psychische Hindernisse der noch wilden Menschen werden im Gesang überwunden, das heißt „dass die Gründer der heidnischen Völker ihre ersten Sprachen singend bilden mussten“, „dovettero formare le prime loro lingue cantando“ (SN44: 230). Vico benutzt nicht den Ausdruck „Schrei“ für die erste lautliche Zeichenproduktion, den der französische Philosoph Condillac zwei Jahre nach der Scienza nuova im Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) in seiner Erzählung über den Sprachursprung benutzen wird. Condillac spricht vom cri des passions, vom Schrei der Leidenschaften, als Ausgangspunkt der Lautsprache, der auch bei ihm von Gebärden (action) begleitet ist.7 Der Schrei ist reine Körperlichkeit, reine Passionalität, in Bühler’schen Termini: reine Kundgabe oder Appell. Herder kritisiert daher in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) gerade an dieser Annahme Condillacs, dass aus der reinen Passionalität-Körperlichkeit niemals menschliche Sprache entstehen kann.8 Vico spricht mit Bedacht vom canto, vom Singen der ersten Sprecher. Sein Ausdruck canto enthält nämlich die fundamentalen Unterschiede zwischen der reinen Körperlichkeit des Schreis und dem Entstehen des Denkens in der Semiose. Canto ist der erste Schritt zum Denken, das noch im Körper wurzelt. Im Gesang ist der Schrei (Natur) auf dem Weg zur Kultur. Die folgenden Züge markieren diesen Übergang vom Schrei zum Sprach-Gesang. 7 8

Condillac 1746/1973: 195 Herder 1772/1978: 18ff.

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1. Vico betrachtet den canto in phonetischer Hinsicht offensichtlich als eine Lautproduktion, die in einem ersten Schritt nur die Stimme, also den Luftstrom, die Stimmbänder und den Atem, in Bewegung setzt, noch ohne Beteiligung der Organe des oberen Stimmapparats, den er „Instrument“ nennt (SN44: 231, 454, 462). Diese erste Vokalisierung setzt dann die Erzeugung von Sprachlauten in Gang: Zuerst werden die Vokale, dann die „schwierigeren“ (SN44: 461) Konsonanten gesungen. Der Gesang ist im Unterschied zum Schrei eine prä-artikulatorische Vokalisierung, die zur Artikulation drängt. 2. Der tiefere Grund für die Charakterisierung der ersten lautlichen Zeichen als „Gesang“ ist die Tatsache, dass canto schon eine erste Etappe der Domestizierung des wilden Urmenschen bezeichnet, einen ersten Schritt in die „Kultur“. Der Gesang, der „die Leidenschaften hinauslässt“ („sfoga le passioni“), ist, wie es das schöne italienische Verb sfogare deutlich sagt, schon eine gezähmte Lautproduktion. Der Schrei ist reine Animalität, der Gesang dagegen ein Verströmen (sfogare) des Inneren, gerade um nicht mehr schreien zu müssen. Der Gesang ist auch ein „Erhöhen der Stimme“ („alzare la voce“, SN44: 461) und als solches schon Kontrolle der Stimme in den beiden Dimensionen der Wildheit: Er überwindet die Härte der „Fibern“ der ersten Menschen, und er überwindet die nicht gezähmten Leidenschaften, also die Wildheit des Körpers und der Seele. Um die subtile Differenz zwischen Schrei und Gesang zu verdeutlichen, können wir eine Passage heranziehen, an der eine wilde Lautproduktion, ein Schrei, erwähnt wird. Dort gebraucht Vico – übrigens nur ein einziges Mal in der Scienza nuova – die Wörter brontolare und urlare, „brüllen und schreien“. Am Anfang der „Poetischen Metaphysik“ zeichnet Vico ein Bild der bestioni, der noch unmenschlichen Riesen des Anfangs im wilden Wald der Erde, der großen Körper mit der „corpolentissima fantasia“ (SN44: 396), der höchst körperlichen Phantasie. Vico erzählt das Erwachen des Geistes in den bestioni. Die Riesen befinden sich jenem Naturereignis gegenüber, von dem alles seinen Ausgang nimmt, dem Gewitter: „il Cielo finalmente folgorò, tuonò con folgori, e tuoni spaventosissimi“, „der Himmel blitzte schließlich, er donnerte mit entsetzlichen Blitzen und Tönen“ (SN44: 377). Die erste Reaktion der Riesen betrifft das Sehen: „erschreckt und entsetzt von der mächtigen Erscheinung, deren Ursache sie nicht kannten, erhoben sie die Augen und gewahrten den Himmel“, „alzarono gli occhi, ed avvertirono il Cielo“ (ebd.). Die an die Erde gebundenen Giganten richten also ihre Blicke nach oben. Auf diese körperliche Bewegung folgt eine geistige Bewegung: Die Giganten stellen sich vor (si finsero), dass der Himmel so ist wie sie, „der Himmel sei ein großer belebter Körper“, das heißt wie „Menschen, die alle riesige Körperkräfte hatten und schreiend und brüllend ihre äußerst heftigen Leidenschaften kundtaten“, „d’Uomini tutti robuste forze di corpo, che urlando, brontolando spiegavano le loro violentissime passioni“ (SN44: 377). Die bestioni stellen sich selbst also als Wesen vor, die noch in ganz tierischen Lautpro-

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duktionen, brüllend und schreiend, ihre Leidenschaften ausdrücken. Dieses Brüllen und Schreien sind vormenschliche Laute, noch kein canto. Mit dem ersten Wort aber, das den Schrei imitiert, werden die Laute canto. Das Wort canto bezeichnet also gerade die Differenz zwischen Tierheit und Menschheit, zwischen reiner Körperlichkeit und Semiose. 3. Die geschilderte Urszene hat eine weitere Bedeutung für die Systematik der Semiogenese. Vico insistiert zwar mehrfach auf dem Primat der visuellen Semiose, er besteht ja auf der – originellen, derridistischen – These, dass die ersten Menschen schreibend sprachen, „prima parlarono scrivendo“, und darauf, dass die ersten Wörter caratteri poetici sind, also Einritzungen, charakteres, oder Hiero-glyphen. Die geschilderte Urszene über den Ursprung des menschlichen Denkens erzählt aber eigentlich eine andere Geschichte: Sie ist eine eher akustisch-phonetische als eine visuell-händische Szene. Gewiss, das Gewitter hat sowohl visuelle als auch akustische Seiten, es gibt Blitze und Donner. Sicher ist auch, dass die wilden Kerle zunächst ihre Augen emporheben. Aber: das Erwachen des Geistes zur Bildung des ersten Gedankens ist doch einem Hören, einem akroamatischen Ereignis geschuldet. Die Giganten hören die Natur: „das Pfeifen der Blitze und den Lärm des Donners“, „il fischio de’ fulmini e il fragore de’ tuoni“, und es scheint, „als ob der Himmel ihnen etwas sagen wolle“, „il cielo volesse loro dir qualche cosa“ (SN44: 377). Der Himmel ist ein großer beseelter Körper, der Laute von sich gibt. Deswegen erheben die Giganten nicht nur die Augen, sondern sie lauschen und erheben dann ihre Stimme: „alzano la voce“ (SN44: 461). Das Erheben der Stimme ist der Gesang: IOUS. Die Geburt des menschlichen Denkens verdankt sich – zumindest in dieser imaginierten Urszene – einem Hörerlebnis, einem akroamatischen Ereignis, auf das der Mensch mit einem Laut mimetisch antwortet. Als akroamatisches Ereignis ist Vicos Urszene der berühmtem Urszene Herders ganz ähnlich, in der bekanntlich ein Schaf dem noch sprachlosen Menschen entgegenkommt und entgegen-blökt. Nicht das Sehen und nicht das Tasten sind dort der Ursprung der Sprache, sondern das Hören, dem der Laut aus der Welt entgegentönt. Die dennoch subtilen, aber tiefen Differenzen zwischen Vico und Herder bestehen darin, dass bei Herder allein das Hören auf die Welt die Sprache generiert, nicht das Sehen und Tasten, dass es das friedliche Schaf und nicht das furchteinflößende Gewitter ist, das dem Menschen entgegentönt, dass schon allein das innere Echo des Tönens der Welt das erste Wort/Gedanke ist und nicht erst das Laut-Bild und dass schließlich das erste Wort eigentlich kein Hiero-phon ist, kein „heiliger Laut“. Das erste Wort/Gedanke bei Herder ist nicht „Gott“, sondern „Ha, du bist das Blökende!“ Allerdings ist auch beim entgegenblökenden Lamm das Agnus Dei nicht weit.9

9

Vgl. Trabant 1994, Kap. 6, und Trabant 2016a.

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4. Wie bei Herder hat die Lautproduktion in Schrei und Gesang je verschiedene Funktionen: Der Schrei als Ausdruck der Passion des Subjekts informiert uns nur über dessen Gemütszustand. Der Schrei hat nur Ausdrucks- und vielleicht Apellfunktion, aber keine Darstellungsfunktion. Canto bezeichnet dagegen gerade die kognitiv-mimetische Kraft der Lautproduktion: Diese drückt nicht nur den Seelenzustand aus, sondern bildet ein Stück Welt ab. Die Urgesänge der ersten Poeten sind Laut-Bilder des Donners, des Blitzes und des Feuers: IOUS, ZEUS, UR, Bilder des ersten Gottes, „Darstellung“. 5. An einer etwas versteckten Stelle der Scienza nuova findet sich ein Hinweis auf die magische Kraft des canto. In einem Kapitel der „Poetischen Politik“, das nichts mit der poetischen Logik oder dem Ursprung der Sprache zu tun hat, „Über die heroische Politik“ (SN44: 646–649), erläutert Vico die Etymologie des Wortes cantare. Er sagt, es komme vom Verb canere, das „vorhersagen“ bedeute, und sei mit den Auspizien – also der antiken Vorhersagekunst – verbunden. Dies bezieht er dann auf die magische Kraft des Gesangs: Apollo, der Gott des Weissagens und des Gesangs, bestraft Marsyas und Linus, die als bessere Sänger auch stärkere magische Kräfte als der Gott gehabt hätten. Das kann er nicht zulassen. Die Sirenen, die Sphinx und Kirke sind magische Sängerinnen, ihr cantare ist Ausüben von Zauberkraft auf den Zuhörer. Incantare heißt auf Deutsch „verzaubern“. Der canto entstammt also nicht nur einem Hören auf die Welt, er hat seinerseits wieder stärkste Wirkung auf die Zuhörer. Dieses weitere akroamatische Moment des canto, diese magische Kraft des Singens, kann auf den sprachlichen Urgesang bezogen werden. Wenn die Frauen in der Höhle den Gesang ihrer Männer hören, diese Stimmen, die von Gott singen, ergreift sie ein Zauber, die Magie des heiligen Lautes. Der Sprachursprung verdankt sich also Höreindrücken aus verschiedenen Richtungen: Der erste akroamatische Aspekt bezog sich auf das Hören auf die Welt: Die bestioni hörten den Lärm des Donners und imitierten diesen dann mit ihrem Gesang: IOUS. Vico dehnt die akroamatische Dimension dann auf das Hören der Stimme aus: Die Frauen in der Höhle müssen die Stimme hören, die ihnen von Gott singt. Der canto übt magischen Zauber auf ihr Ohr aus. Vico erfasst also – wenn auch ganz unsystematisch – die Bedeutung des Hörens in der Bildung der (Laut)Sprache. Gesang-Stimme und Hören gehören in der Sprachproduktion untrennbar zusammen. Nur die Rolle des Sich-Selbst-Hörens des Sprechers bei der Sprachproduktion kennt Vico noch nicht. Dieser akroamatische loop wird auch erst fast hundert Jahre später von Wilhelm von Humboldt als fundamentale Dimension der Sprachbildung erkannt. 6. Der Abschnitt über den Gesang findet sich in einem Kapitel über die locuzion poetica, das poetische Sprechen. Der canto ist also ausdrücklich eine künstlerische Tätigkeit, der Singende ist auch ein „Poet“ im alltäglichen Sinn. Der Gesang ist kreative Tätigkeit der ersten Menschen, er ist ein Produkt des künstlerischen geistigen

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Vermögens, der Phantasie. Im Übrigen folgt auf den Abschnitt über den Gesang eine lange Passage über den Vers, auch er eine poetische Form der ersten Sprache. Das Kapitel, in dem Vico vom Gesang handelt, beweist, dass „innerhalb der Ursprünge der Poesie […] auch die Ursprünge der Sprachen und die Ursprünge der Schrift ­gefunden worden“, „dentro l’Origini della Poesia […] si son truovate l’Origini delle Lingue, e l’Origini delle Lettere“ (SN44: 472).

3. Gesang und Artikulation Der Gesang ist noch nicht Wort und Sprache im linguistischen Sinne, also eine aus Phonemen zusammengesetzte artikulierte Einheit. Wie aber steht es mit dem artikulierten Wort bei Vico? Er benutzt das italienische Wort voce, lateinisch vox, für das „Wort“ der Lautsprache. Mit diesem Ausdruck, der ja „Stimme“ bedeutet, bezeichnet er deutlich den lautlichen Charakter der Wörter. Er präzisiert die Lautlichkeit des Wortes, indem er es voce articolata nennt. Articolato bedeutet bei Vico vor allem „lautlich“, zumal es oft dem Adjektiv muto „stumm“ entgegengesetzt ist. Das Adjektiv articolato, das ja eigentlich „gegliedert“ bedeutet, greift aber auch die alte Vorstellung auf, die wir bei Aristoteles finden, dass menschliche sprachliche phone („Stimme“) sich durch ihre grammata vom tierischen Lärm unterscheidet. Der „Lärm“ (psophos) der Tiere ist agrammatos, das heißt nicht in grammata – also Laut-Elemente – gegliedert, während die menschliche Stimme phone grammatike ist, lateinisch eben: „in articuli, kleine Teile untergliedert“. Voce articolata ist also die phone grammatike der Tradition. Vico, der etymologisch denkt und schreibt, ist diese Bedeutung des Adjektivs articolato gewiss bewusst. Er benutzt allerdings eher ein anderes Wort, wenn er ausdrücklich auf die Artikuliertheit verweisen will: das Wort prononziare. Prononziare ist die intentionale Produktion von einzelnen Lauten, die dann das artikulierte Wort bilden. Es bleibt aber durchaus dunkel, wie aus dem Gesang des Anfangs die Worte der Sprache entstehen. Es ist Vico klar, dass die Wörter der menschlichen Sprache articolate oder prononziate sind; wie sie das aber werden, ist einigermaßen unklar. Einerseits insistiert Vico auf dem monosyllabischen Charakter der ersten Wörter. Diese einsilbigen Wörter werden dann ausgedehnt – aber wie? Andererseits gibt es die Vorstellung, dass holophrastische Ausdrücke durch Zusammenziehung zu Wörtern werden. Vicos berühmtes Beispiel ist das Wort für Zorn, ira oder collera. Er sagt, dieses Wort leite sich aus einem Ausdruck ab, der „mir kocht das Blut im Herzen“ („mi bolle il sangue nel cuore“, SN44: 460) bedeute, und das Wort sei eine „Verkürzung“ (accorciamento, SN44: 462) des längeren Ausdrucks. Aber auch dieser Vorgang bleibt eher geheimnisvoll. Vico stellt sich zum Beispiel durchaus nicht vor – wie Rousseau (1781) das tut – dass das Wort das Ergebnis einer konsonantischen Segmentierung – und insofern einer tatsächlichen „Gliederung“ – eines ununterbrochenen

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vokalischen Melismas (also von Gesang) ist. Vico ist kein großer Theoretiker der Artikulation der Wortsprache. Was das Wort (voce) strukturell ist, bleibt unklar. Dies festzustellen ist deswegen auch heute noch von einiger Bedeutung, weil auch moderne Szenarien der Sprachrevolution gerade an diesem Punkt schwach sind. Das eigentliche Wunder der Sprache, die Artikulation, also die Gliederung des Lautstroms in unterscheidbare Bewegungen und Laute, deren Zahl limitiert ist und die unendlich kombiniert werden können, ist auch heute noch ein völlig ungelöstes Rätsel der Evolution. Oft ist in modernen Theorien der Sprachevolution dieses Wunder nicht einmal als solches erkannt. Dabei ist die Entwicklung der Artikulation die Bedingung der Möglichkeit der Entfaltung menschlicher Sprache und ihr struktureller Kern.

4. Sprachursprung heute Im Licht der aktuellen Diskussion um den Sprachursprung scheinen diese Geschichten vom Übergang des Schreis zum Gesang und von diesem zur artikulierten Sprache (lingua articolata) bloß phantastische Erzählungen zu sein. Der schreiende und brummende bestione, der auf den gewaltigen Eindruck der Welt auf seine Augen und Ohren mit der Erzeugung des ersten Gedankens reagiert – IOUS –, der zu singen beginnt, um die Hindernisse seines Körpers und die Leidenschaften seiner Seele zu überwinden, der Sprache und Denken „poetisch“ erzeugt, ähnelt aber durchaus in mancherlei Hinsicht dem armen menschlichen Primaten, der die modernen Erzählungen über den Sprachursprung bevölkert. 4.1. Wir befinden uns in diesem Kapitel über Vicos „heilige Laute“ daher mitten in der Diskussion um den Ursprung der Sprache im engeren Sinne, also der Lautsprache, die derzeit in verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen geführt wird. Biologen, Verhaltensforscher, Genetiker und Neurowissenschaftler erzeugen aufgrund komplizierter und raffinierter empirischer Untersuchungen – Beobachtungen von Primaten, vergleichende Studien zu Affen und Menschen, Einblicken ins Genom, Gehirn-Tomographien etc. – den Eindruck, die Frage endlich wissenschaftlich beantwortet zu haben.10 Dies ist natürlich mitnichten der Fall. Sprechen ist ein viel zu komplexes Verhalten, als dass dessen Ursprung jemals vollständig erklärt werden könnte. Aber die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben doch einige wichtige Einsichten in die Biologie und das Verhalten von Menschen und anderen Primaten gebracht, so dass ganz plausible Szenarien entworfen werden konnten, wie es gewesen sein könnte. Eigentlich geht auch Vico nicht anders vor als diese moder10

Forschungen (und Spekulationen) zur Naturgeschichte der Sprache sind seit 1975 geradezu explodiert, vgl. Trabant/Ward (Hrsg.) 2001.

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nen Forscher. Auch er entwirft aufgrund von empirischem Material ein Szenario des Ursprungs. Allerdings stammt sein Material nicht aus der Naturbeobachtung, sondern aus der Beobachtung von Menschen und aus Büchern, aus dem, was er die „Philologie“ nennt, also aus allen ihm zugänglichen Informationen über die Vergangenheit und die Gegenwart menschlicher Kultur. Dieses Verfahren entspricht durchaus dem Verfahren moderner, das heißt empirischer Wissenschaft, wie es der Gründer moderner Wissenschaftlichkeit, Francis Bacon, empfiehlt, den Vico immer wieder anführt: von konkreten Fakten ausgehen und dann allgemeine Gesetze induzieren. Schauen wir von Vico auf moderne Einsichten in den Sprachursprung. Das derzeit plausibelste Szenario des Sprachursprungs in den modernen Naturwissenschaften scheint mir das von Michael Tomasello entwickelte zu sein. Tomasello geht aufgrund vergleichender Primatenbeobachtung von einem fundamentalen Unterschied zwischen den Menschenaffen und den Menschen aus: von der tieferen Gesellschaftlichkeit des Menschen. Natürlich sind auch die anderen Primaten gesellschaftliche Tiere, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Das Denken, Verhalten und Kommunizieren der great apes ist aber konkurrentiell und damit individuell. Die menschlichen Primaten dagegen – etwa ab dem homo heidelbergensis – sind von der Konkurrenz zur Kooperation übergegangen, die eine shared intentional­ ity, eine gemeinsame Intentionalität der Kooperierenden, begründet. Das ist die Grundlage ihres gewaltigen Erfolgs. Die klassische aristotelische Auffassung vom Menschen als zoon politikon, die auch Vicos Anthropologie zugrundeliegt – „la natura de’ quali ha questa principale propietà d’essere socievoli“ (SN44: 3), „das Wesen der Menschen hat die folgende Haupteigenschaft: sie sind gesellig“ –, wird hier sozusagen experimentell bekräftigt. Bei der Suche nach den Vorformen von Sprache geht Tomasello nicht von den vokalen Produktionen der Primaten aus, sondern von Gebärden. Er setzt visuellgestische Kommunikation als primär und legt diese dann der späteren vokalen, im engeren Sinne sprachlichen, zugrunde. Dies entspricht Vicos Reihenfolgen von Gesten, Bildern und Wörtern: atti, immagini, voci. Auf der Basis ihrer kooperativen Gesellschaftlichkeit tun die Menschen nach Tomasello etwas, das kein Affe tut. Sie zeigen auf etwas in der Welt für den anderen Menschen: pointing. Sie stellen also in der kooperativen Kommunikation einen Weltbezug her. Sie handeln informativ (und nicht nur direktiv oder appellativ wie die anderen Primaten). Pointing ist gleichsam der sichtbare Verhaltensunterschied zwischen dem Menschen und seinen nahen Verwandten. Auch Vicos erste Menschen stellen anfangs einen zeigenden Bezug zur Welt her: „mutoli additando“ (SN44: 402). Ihre ersten poetischen Zeichen „weisen stumm“, also lautlos, auf etwas in der Welt, auf den Himmel, die Erde und das Meer:

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(SN44: 402) […] e, dapprima, mutoli additando, spiegarono esser’esse sostanze del Cielo, della Terra, del Mare. […] und erklärten zunächst durch lautloses Zeigen mit den Fingern, das seien die Substanzen des Himmels, der Erde, des Meeres. Diesen deiktischen Weltbezug arbeiten nach Tomasello die Menschen dann in mimetischen Gebärden aus, wenn der Gegenstand abwesend ist: pantomiming. Die visuelle gestische Kommunikation ist also nicht nur Deixis, sondern auch Mimesis oder ikonische Präsenz des Gezeigten in der Gebärde. Die Geste als visuelle, ikonische Bewegung geht der Sprache voraus. Dies entspricht Vicos sematologischer Grundannahme. Die poetischen Charaktere sind mimetische Gebärden des Anfangs. In einem weiteren evolutiven Schritt übernimmt nach Tomasello dann die Stimme, die bis dahin nur dem Ausdruck der Emotionen diente (in Bühler’schen Termini: auf „Ausdruck“ und „Appell“ festgelegt war), die Funktion des Zeigens und Nachahmens. Diese „natürliche“ vokale Kommunikation, vor allem ihr ikonischer Teil, ist die Vorgängerin der „konventionellen“ Sprache. Auch bei Vico sind die voci die hauptsächlichen Zeichen einer späteren Phase der menschlichen Entwicklung, aber anders als bei Tomasello sind visuelle und phonetische Zeichen Zwillinge, nicht jüngere und ältere Schwestern. Die Lautwörter sind von Anfang an dabei. Während in der ersten Phase der Entwicklung der menschlichen Kooperation die Kommunikation noch zweitpersonal und ohne Festlegung der Formen, also mit sogenannten „natürlichen“ Gesten und Lauten vor sich geht, werden nach Tomasello diese Formen in einem zweiten Schritt der Entwicklung des Menschen, ab dem Auszug aus Afrika (200 000 Jahre vor der Jetztzeit), festgelegt oder „konventionalisiert“. Aus den ikonischen vokalen Sprachgesten werden arbiträre sprachliche Formen, als welche die Wörter seit Aristoteles betrachtet werden. Vico nennt die Wörter der dritten Entwicklungsphase „convenute dai popoli“, das heißt sie verdanken sich einer „Konvention der Völker“. Aber die voci sind nur scheinbar „arbiträr“ (a placito), die Arbitrarität ist nur eine Täuschung der Oberfläche, das Mimetisch-Abbildliche der Wörter bleibt immer erhalten. Genau das wendet Vico leidenschaftlich gegen die unausrottbare aristotelische Tradition der „arbiträren“ Wörter ein, der Tomasello kritiklos folgt. 4.2. Die Parallelen zwischen Vico und Tomasello sind evident: die fundamentale Kooperativität, das Zeigen und pantomiming, das Aufeinanderfolgen von Gebärde und voci. Aber Tomasello arbeitet natürlich viel „wissenschaftlicher“. Seine Naturgeschichte des menschlichen Geistes ist durch empirische Beobachtungen von Primaten belegt. Vico weiß nichts über Affen, sondern hat nur literarische Kenntnisse früher Menschheitserfahrungen, und die sind – gegenüber den evolutionsbiologischen Zeiträumen – auch nicht so besonders alt. Sie sind eben „philologisch“,

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nicht naturwissenschaftlich. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob der Unterschied zwischen Vico und der neuen „wissenschaftlichen“ Geschichte wirklich so groß ist. Auch bei der naturwissenschaftlichen Geschichte handelt es sich um eine story, eine vom Erzähler konstruierte Narration, zugegebenermaßen eine einigermaßen plausible. Es gibt aber keine Dokumente aus der Vergangenheit, die diese Geschichte belegen. Die Evidenz liegt in einer gnadenlosen Synchronie. Der Erzähler weiß alles über das gegenwärtige Verhalten der great apes; er weiß alles über das gegenwärtige Verhalten der Menschen. Und er hat gute Gründe für die Annahme, dass die great apes eine frühere Entwicklungsstufe der menschlichen Primaten repräsentieren. Deswegen bringt er die beiden Entwicklungsstufen nun in eine diachronische Narration. Aber es ist eine diachronische Konstruktion aus synchronischem Wissen. Und diese so wissenschaftliche Geschichte lässt – vor allem an wichtigen Übergängen – einiges unerläutert. Der Übergang vom Konkurrenzverhalten der Affen zur menschlichen Kooperation ist plausibel. Die selektiven Vorteile von Kooperation sind klar: Wer kooperiert, überlebt, und es werden sich die kooperativen Individuen fortpflanzen. Dieser darwinistische Grundgedanke, der alle Transitionen plausi­bi­ lisiert,11 stand Vico natürlich noch nicht zur Verfügung. Die kooperativen Menschen zeigen auf die Welt für den anderen Menschen (pointing). Wir wissen das, weil die heutigen kleinen Menschen es so machen. Aber warum tun sie das? Woher weiß der Erzähler, dass die abwesenden Dinge mimetisch abgebildet wurden (pantomiming)? Sodann ist der Übergang von der Gebärde zur Stimme nicht wirklich überzeugend erklärt. Wieso zeigt und pantomimiert nach der Geste nun auch die Stimme? Die Ermöglichung einer größeren Öffentlichkeit, also einer Kommunikation über größere Entfernung und der Kommunikation in der Nacht durch die Stimme, ist ein schwacher Grund. An dieser Stelle ist Vico besser: Nach Vico gibt es keinen solchen Übergang, denn beide – Stimme und Gebärde – sind von vornherein dabei. Dass sich die Zeichen ab einem bestimmten Zeitpunkt an eine größere Gruppe richten können, mag als Grund für den Übergang der „natürlichen“ kommunikativen Bewegungen in konventionelle nicht recht zu überzeugen. Schließlich geht Tomasello ebensowenig wie Vico auf die Erfindung der zweiten Artikulation, also der Phoneme und ihrer Kombination, ein. Diese ist aber, wie gesagt, das eigentliche Wunder der menschlichen Sprachbildung. Versuche einer plausiblen naturhistorischen Erklärung der phonematischen Artikulation, etwa durch das Gen FOXP2, haben bisher auch bei anderen Autoren noch keine befriedigende Lösung gebracht. Auch die Vernaturwissenschaftlichung der Geschichte des menschlichen Denkens erzeugt also kein wirklich sicheres Wissen. Auch die Natural History of 11

Vgl. Maynard-Smith/Szathmáry 1997.

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Human Thinking, die sich auf mehr Wissen stützt als Vico, ist eine Konjektur, wie die alte Geschichte aus dem 18. Jahrhundert. Vicos Geschichtskonstruktion basierte auf weniger Wissen, vor allem auf einem anderen Wissen, einem Wissen aus Büchern, einem Wissen aus Sprache. Historische, juristische, aber auch mythologische und dichterische Texte waren die Quellen für die Konstruktion seiner Geschichte. Vico nennt die Gesamtheit dieser Texte „Philologie“. Die Philologie ist sein empirisches Material, die Basis seiner Wissenschaft. Die Philologie (Platon, die Bibel usw.) führt ihn zur universellen Geschichte der Erfindung des Denkens (und der menschlichen Gesellschaft) vor und in den Höhlen. Aus der Philologie konstruiert er universalia et aeterna, also allgemeine wissenschaftliche Aussagen über die Erfindung von Religion, Sprache und Gesellschaft.12 Vico bezieht sich für die Begründung der Wissenschaftlichkeit seiner Geschichtskonstruktionen ausdrücklich auf Aristoteles und auf den Vater der modernen empirischen Wissenschaften, auf Francis Bacon. Seine wissenschaftstheoretischen Grundannahmen sind also die der modernen Naturwissenschaft! Tomasellos Empirie sind Tierbeobachtungen und Menschenbeobachtungen, Vicos Empirie ist das Ensemble menschlicher Zeichen aus kulturgeschichtlichen Quellen. Beide induzieren aus dem Empirischen eine storia ideale eterna des Menschen, das heißt scienza. 4.3. Vicos Erzählung darf nicht nur als phantastische Naturgeschichte der Sprache gelesen werden. Vicos Erzählung vom Sprachsingen spricht nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch vom Heute und Morgen. Sie erinnert uns daran, was das Wesen der Sprache ist oder dass der „poetische Charakter“ der Sprache – sogar noch in den „konventionellen Wörtern der Völker“ (SN44: 32) – Orpheus ist: die poetische Stimme, welche die Welt singt, ein Gesang, den die Zuhörer vernehmen, die er bezaubert (incanta). Vicos Sprachsingen ist Denken und Kommunikation, Rationalität und Emotionalität, Stimme und Hören, ewige Erzeugung des lautlichen Gedankenzeichens aus dem Körper und seinem Ingenium.

12

Siehe Kapitel 10.

7. Die Zwillinge Bild und Sprache in der aktuellen Diskussion

1. Zwillingsgeburt (SN44: 33) [...] nacquero esse gemelle e caminarono del pari, in tutte e tre le loro spezie, le lettere con le lingue. [...] sie wurden als Zwillinge geboren und beschritten die gleichen Wege in all ihren drei Arten, die Schriften mit den Sprachen. Diese schöne, poetische Feststellung Giambattista Vicos über die Zwillingsgeburt von Sprache und Schrift geht, wie wir gesehen haben, weit über den Bereich von Linguistik und Grammatologie hinaus. Sie bezieht sich auf das Entstehen mensch­ licher Kognition und der mit ihr notwendig verbundenen menschlichen Semiosen, nicht nur auf Sprache und Schrift im engeren Sinn. Vico verfügt noch nicht über die Redeweise, die diese Reichweite seines Satzes verdeutlichen würde. Er spricht noch die Sprache der Grammatik, das heißt der Wissenschaft von der Sprache seiner Zeit. Wovon er aber handelt, ist Semiotik und Erkenntnistheorie. Das Denken des Menschen verkörpert sich in visuellen und phonischen Zeichen, in Bildern und Sprache. Das menschliche Denken ist immer verkörpertes Denken. Selbst wo der logos „stumm“ ist, ist er kein „reines“, unkörperliches Denken, sondern Deuten, Bewegen, Zeichnen. Das Denken des Anfangs entfaltet sich gleichzeitig visuell-gestuell und akustisch-phonetisch, von Anfang an: „nacquero gemelle“. Aber die wichtigere Se­­ miose ist am Anfang die visuell-gestuelle, das Bildhafte im medialen Sinn. Strukturell allerdings sind beide Semiosen „abbildlich“ (die Signifikanten haben „natürliche“ Beziehungen zu ihren Signifikaten) oder – mit dem moderneren Begriff – "ikonisch". Das Bildlich-Gestuelle wird nach Vico im Laufe der semiotischen Geschichte schwächer: Die visuelle Semiose tritt allmählich gegenüber der Laut-Sprache zurück. Und auch die strukturelle Bildlichkeit nimmt im Verlaufe der Entwicklung des mondo civile immer weiter ab. Die dominante Semiose der „menschlichen“, das heißt der modernen Zeit, ist die Sprache im engeren Sinne, also die Lautsprache, – „voci con-

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Poetische Zwillinge

venute dai popoli“ –, die nicht visuell ist und die strukturell „arbiträr“ zu sein scheint, aber zutiefst ikonisch bleibt. Obgleich die Laut-Sprache die Leitsemiose des „menschlichen“ Zeitalters ist, das heißt obwohl der kleinere phonetische Zwilling des Anfangs schließlich die Oberhand gewinnt, liegt dem Wort aber doch das Bild zugrunde. Gegenüber den logophilen Rationalisten legt Vico der gesamten menschlichen Kultur, dem gesamten menschlichen (Sprach-)Denken – und seinem eigenen (Sprach-)Denken – Bildlichkeit zugrunde, sowohl in medialer als auch – vor allem – in struktureller Hinsicht. Nicht zu sehen, dass das Bild der „menschlichen“ Sprache zugrundeliegt, ist gerade ein entscheidendes Moment dessen, was er die boria dei dotti (SN44: 59) nennt, die „Anmaßung der Gelehrten“, die alles auf Rationalität (ragione), Arbitrarität (a placito) und Laut-Sprache (voci) reduzieren. Mit Derrida (1967) können wir die boria dei dotti den Logo- und Phonozentrismus der Philosophie nennen. Genau dagegen schreibt Vico an, im Namen des Bildes – in seinen drei zentralen Momenten: im Namen des Sehens, im Namen der Isomorphie zwischen Signifikant und Signifikat und im Namen des wilden Denk-Vermögens, der Phantasie, die diese Bilder schafft, der Imagination. Von Bildern und visuellen Zeichen der Moderne schreibt Vico allerdings nichts. Es ist offensichtlich, dass er visuelle Semiosen nicht für die Leitsemiosen der Moderne hält. Die „menschliche“ Zeit – in der er lebt – und das Denken in „menschlicher“ Zeit sind offensichtlich charakterisiert durch die Sprache im engen Sinne. In der Perspektive des Philosophen des 18. Jahrhunderts sind die visuellen Semiosen Denkwege der Vorzeit. Moderne, „menschliche“ Zeiten denken in Sprache. Bilder – in beiderlei Hinsicht, medial und strukturell – gehören einer „wilden“, „primitiveren“ Form des menschlichen Denkens an. In diesem Sinne ist bei Vico der (moderne) Mensch nur durch Sprache Mensch. Dennoch – und das ist das Entscheidende – ist Vico ein Philosoph des Bildes, das er seiner rationalistischen und logozentrischen Moderne entgegenhält und dessen drei essentielle Züge er der Sprache zugrundelegt. Schon einmal ist nach Vico diese „menschliche“ Kultur – die Kultur der Sprache – im Verlauf der Geschichte zusammengebrochen, nämlich als mit der Invasion der Barbaren das Römische Reich unterging. Die menschliche Kultur hat danach sowohl in politischer als auch in semiotischer Hinsicht noch einmal den Dreischritt von der göttlichen über die heroische zur „menschlichen“ Zeit durchlaufen: von der Theokratie über die Aristokratie zur rechtsgleichen Monarchie und Republik einerseits, von den Götterbildern über die heroischen Hieroglyphen bis zur Sprache andererseits. Der modernen Kultur droht nun aber nach Vico nicht so sehr der erneute Abstieg in die wilde Vorzeit theokratischer Herrschaft und wilder Bilder als gerade umgekehrt etwas, das er die „Barbarei der Reflexion“ nennt, die barbarie della riflessione (SN44: 1106), also eine Übertreibung der Rationalität, die die poetischen, phantastischen und bildschöpferischen Kräfte des Menschen völlig unterdrückt. Vico

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7. Die Zwillinge Bild und Sprache in der aktuellen Diskussion

führt die semiotische Gestalt der Barbarei der Reflexion nicht aus.13 Wir können aber aus systematischen Gründen – wegen der Parallelität von politischer und semiotischer Geschichte – eine extreme Vorherrschaft rationaler Sprache annehmen. Den extremen Rationalismus beklagt Vico ja in der vom Cartesianismus geprägten geistigen Situation seiner Zeit. Gegen diese Gefahr ist Vicos Philosophie der Bilder und der Imagination gerichtet. Vicos Philosophie sensibilisiert daher für die Tatsache, dass in unserer aktuellen kulturellen Situation eigentlich beide Gefahren gleichzeitig lauern: die barbarie della riflessione und der Rückfall in die wilde Theokratie und die wilde Bilderwelt des Anfangs, die „prima barbarie del senso“ (SN44: 1106). Das Auseinanderdriften der von Vico gewünschten Verbindung von sprachlich-rationalem und bildlich-phantasievollem Denken scheint für die Kultur unserer Zeit charakteristisch zu sein: auf der einen Seite eine extrem rationale Sprachkultur (in der alles Imaginative aus der Sprache vertrieben wird) und auf der anderen Seite eine irrationale Bilder- und Musik-Rausch-Kultur (aus der alles Rationale vertrieben wird, weil „der Geist Widersacher der Seele“ ist, wie das Manifest des modernen Irrationalismus sagt).14 Beide Extreme sind gleichermaßen sprachfeindlich: Das extrem rationalistische wissenschaftlich-technische Bezeichnungs-System geht über die Sprache hinaus und ist eigentlich keine Sprache mehr, sondern Zeichen. Die Vorherrschaft der Zeichen gefährdet auch den Bestand der Sprachen der Welt.15 Die emotional-phantastische Bild(und Musik-)Kultur auf der anderen Seite eliminiert die Sprache, weil sie sich diese nur als rein rational vorstellen kann. Vor allem auf den Theaterbühnen findet derzeit dieser unglückselige Kampf der Bilder, des Tanzes und der Musik gegen die Sprache statt. Wenn nun in einer Kultur tatsächlich die Bilder die Oberhand gewinnen würden, so wäre dies aus Vicos Sicht ein Rückfall in wilde Zeiten. Wenn der stärkere Zwilling des Anfangs wieder dominant wird, führt uns das in „heroische“ und „göttliche“ Zeiten zurück. Aber eine solche „Bilderflut“ ist nicht Vicos Angst, seine Befürchtung richtet sich vielmehr auf das Gegenteil: auf die radikale Entkörperlichung der Sprache in ein rationales, arbiträres, völlig bildfernes Bezeichnungssystem. Die Barbarei der Reflexion, nicht die Barbarei des Bildes und des Anfangs ist Vicos Angst. Er insistiert auf der strukturellen Bildhaftigkeit auch der arbiträr daherkommenden Wörter, und er erinnert daran, dass auch die arbiträrste und scheinbar rationalste kulturelle Lebenswelt aufruht auf Bildern und der geistigen Kraft, die sie schafft: der Phantasie, der Imagination.

13 14 15

Siehe Kapitel 12. Vgl. Klages 1929. Vgl. Trabant 2014.

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Poetische Zwillinge

2. Ikonozentrismus / Phonozentrismus „Nacquero esse gemelle.“ Mit der These von der Zwillingsgeburt von Bildern und Laut-Sprache steht Vico damit auch ikono- oder schemato-zentrischen Tendenzen entgegen, die – soweit ich sehe – zu Vicos Zeiten niemand vertrat, die aber heute in der Kulturtheorie und in naturwissenschaftlichen Szenarien zur menschlichen Evolution vorherrschen: „Am Anfang war das Bild oder die Gebärde“. Die Theorie der Entstehung menschlicher Kommunikation von Michael Tomasello geht, wie wir gesehen haben, davon aus, dass menschliche Semiose mit dem Zeigen auf den Gegenstand, Deixis, und mit der mimetischen Gebärde, also mit dem schema, beginnt.16 Die Stimme (phone) hat an dieser objektiven Dimension der Semiose zunächst nicht teil, sondern ist an die Emotion, also an das Subjekt gebunden, sie „begleitet“ bestenfalls das Zeigen und Darstellen, gleichsam als emotionaler soundtrack. Erst in einem zweiten Schritt gibt es einen Übergang vom Visuell-Gestuellen ins Medium des Lauts und der Stimme, die nun ihrerseits die zeigenden und mimetischen Handlungen gegenüber dem Gegenstand nachvollziehen. Laut-Sprache als Sprache mit darstellender, nicht bloß expressiver Funktion ist in diesem Szenario etwas später Hinzukommendes. Sie steht nicht im Zentrum dieser Theorie, und sie ist auch nicht das „eigentlich Menschliche“ menschlicher Semiose, das sich schon in den gestuell-visuellen Zeichen findet. Das entscheidende strukturelle Kriterium der menschlichen Laut-Sprache, die (doppelte) Artikulation,17 spielt in diesem Szenario so gut wie keine Rolle. Vicos Auffassung von der Zwillingsgeburt der Zeichen widerspricht dem Schematozentrismus dieses modernen Evolutionsszenarios ebenso, wie sie dem Phonozentrismus der Tradition widersprach: „nacquero esse gemelle“. Das Lautliche kommt bei Vico eben nicht erst in einem zweiten Schritt, sondern es ist von vornherein da, mit derselben Funktion wie das Schema: Zeigen und Imitieren des Gegenstandes, betrieben von derselben geistigen Energie, der Phantasie, und mit derselben strukturellen Eigenschaft: der Isomorphie zwischen Signifikant und Signifikat. Bredekamps Theorie des Bildakts fällt nicht in die schemato- oder ikonozentrische Falle, die aus der zeitlichen Vorgängerschaft des Bildes eine Superiorität ableitet. Zwar schreibt er: „Mensch ist, wer Naturgebilde in Bilder umzuformen und diese als eigene Sphäre zu bestimmen vermag“ (Bredekamp 2010: 28). Aber er leitet daraus gerade keine Hierarchie von Bild und Sprache ab: Und selbst wenn eine regelhafte Lautsprache das Produkt einer relativ jungen, nicht länger als 200 000 Jahre zurückreichenden Entwicklung ist, die der 16 17

Zum griechischen Begriff des schema (im Zusammenhang mit chroma und phone) vgl. Catoni 2008. Zur Artikulation als anthropologischem Essentiale vgl. Jung 2009.

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7. Die Zwillinge Bild und Sprache in der aktuellen Diskussion

Fähigkeit des Humanoiden zur Bildgestaltung vermutlich um zwei Millionen Jahre nachläuft, dann taugt dieser Umstand nicht zur Hierarchiebildung. (Bredekamp 2010: 55) Die Theorie des Bildakts will ausdrücklich nicht zur Schwächung, sondern zur Stärkung der Sprache „in der Ära ihrer visuellen Herausforderung“ (ebd.) beitragen. Dennoch legt das evolutionäre Prius des Bildes ein Superius des Bildes vor der Sprache nahe, vielleicht nicht bei Bredekamp, aber zum Beispiel in der kulturellen Praxis und in einer sprachfeindlichen und bilderfreundlichen Publizistik, die ihre Argumente durch die evolutionären Szenarien bestätigt sieht. Daher ist es nützlich, daran zu erinnern, dass die paläoanthropologischen Einsichten auch sprachfreundlichere Interpretationen gefunden haben, die sozusagen im Sinn der Vico’schen sematogenetischen Zwillingsgeburt sprechen. So geht zum Beispiel Neil MacGregor in seiner Geschichte der menschlichen Kultur davon aus, dass die Entwicklung eines Werkzeugs und die Entwicklung der Sprachfähigkeit Hand in Hand – sozusagen von der Hand in den Mund – gehen. Das älteste menschliche Artefakt, das im British Museum aufbewahrt wird, das zwei Millionen Jahre alte Schneidewerkzeug (Olduvai stone chopping tool), entstehe in dem Moment, in dem sich die beiden menschlichen Gehirnhälften asymmetrisch entwickeln, was ja auch die Grundbedingung für Sprachfähigkeit ist: This chopping tool represents the moment at which we became distinctly smarter, with an impulse not just to make things but to imagine how we could make things ‚better‘. (MacGregor 2010: 12) Das Herstellen von Gegenständen macht uns menschlich: „in this sense, it is making things that makes us human“ (ebd.: 13). Aber „making things“ ist eben gleichzeitig auch „making words“. Ausdrücklich schreibt MacGregor dann über den 1,2 bis 1,4 Mil­ l­ ionen Jahre alte Olduvai Faustkeil: „this chipped stone tool may hold the secret of speech“ (ebd.: 17). Und er fährt fort: Recently scientists have looked at what happens neurologically when a stone tool is being made. They have used modern hospital scanners to see which bits of the brain are activated as knappers work their stone. Surprisingly, the areas of the modern brain that you use when you’re making a handax overlap considerably whith those you use when you speak. It now seems very likely that if you can shape a stone you can shape a sentence. (MacGregor 2010: 17) „Naquero esse gemelle.“ Die These von der Gleichursprünglichkeit von Werkzeug und Sprache nimmt jedenfalls, wenn sie sich weiter belegen lässt, allen eifersüchtigen Kämpfen um die Präferenz des Bildes oder des Wortes den Wind aus den Segeln: „If

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Poetische Zwillinge

you can shape a stone you can shape a sentence“. Offensichtlich spricht einiges dafür, die Gleichursprünglichkeit von Wort und Bild anzunehmen, statt mit der evolutionären Vorgängigkeit des Bildes Bild und Sprache in Konkurrenz zu setzen. Die These vom sprechenden Bild wird stärker, wenn nicht erst die Artefakte und dann die Menschen sprechen, sondern wenn die Artefakte gleichzeitig mit den Wörtern zu sprechen beginnen.

3. Welt-Ansichten Vicos Szenario von der Zwillingsgeburt der Semiosen stärkt die These der Bildakttheorie von der Gemeinsamkeit und dem Zusammenspiel von Sprache und Bild. Humboldts Spruch „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ (Humboldt 1903–36 IV: 14) scheint dagegen geradezu der Kampfslogan einer von „Bildangst“ getriebenen Sprachdominanz zu sein. Wenn der Mensch nur Mensch durch Sprache ist, kann es mit dem Bild nicht weit her sein. Bredekamp (2009) hat daher auf diese scheinbare Provokation von Humboldts Spruch höchst polemisch reagiert. Im Dienste einer generellen Abrüstung in diesem polemos möchte ich aber zunächst bemerken, dass die als pathologisch diagnostizierte „Bildangst“ in der europäischen Tradition nicht unbedingt mit Sprachlob einhergeht und dass das Bild in moderneren (weniger religiösen) Zeiten doch eher Lust als Angst erzeugt. Natürlich ist es richtig, dass es das Bild in beiden Strängen unserer Tradition schwer gehabt hat: Die Bibel polemisiert immer wieder gegen das Bild – gegen Götzenbilder (idola) – „du sollst dir kein Bildnis machen“. Und Platon gründet ja sozusagen die gesamte europäische Philosophie und Wissenschaft auf einer leidenschaftlichen Kritik der Bilder. Aber beide Traditionen sind deswegen noch lange nicht sprachfreundlich. Dem Wort geht es doch ebenso an den Kragen. Gewiss ist das Wort in der Bibel die große welterzeugende Kraft: „Am Anfang war das Wort“ (Gott ist im Übrigen auch ein „ma­­chender“, mit der Hand „bildender“ Gott, nämlich in Gen. 2.7). Aber dieses Wort des Anfangs war Gottes Wort. Das Wort des Menschen wird schärfster Kritik unterzogen: Der Sündenfall ist ein Fall der Sprache (genauer: des kreativen Miteinander-Sprechens) ebenso wie der Turmbau zu Babel, der uns die Vielfalt der Sprachen als Strafe einbringt. Was die griechisch-philosophische Tradition angeht, so beginnt sie mit Pla­­­­­­tons Kritik der Bilder im Höhlengleichnis. Aber die bessere Alternative zu den Schatten  sind ja nicht die Wörter, sondern die Sachen selbst oder die wahren For­ men.18 Die Sprache ist bei Platon doch ein noch schlechteres Abbild als die Schatten 18

Mir scheint daher auch, dass die Weisen auf Jan Saenredams berühmtem Bild keineswegs im Gespräch versinken, wie Bredekamp (2009: 52) meint, sondern dass sie ihren Blick auf die wahren Formen richten.

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7. Die Zwillinge Bild und Sprache in der aktuellen Diskussion

der Höhle, die Wörter sind schlechte eikones der Dinge. Deswegen ist es besser, so empfiehlt Sokrates am Ende des Kratylos, sich den Sachen selbst – sprachlos – zuzuwenden.19 Bildkritik und Sprachkritik von Anfang an. Aber in der Neuzeit steigt doch, bei gleichbleibender Sprachkritik, das Ansehen des Bildes.20 Platons Kritik an den Wörtern als schlechten Bildern verschärft und vertieft sich beim Vater der europäischen Aufklärung, bei Francis Bacon (1620).21 Die Alternative ist dort jedoch nicht wie bei Platon die Abwendung von aller Sprache, die Sprachlosigkeit, sondern gerade eine Bildwerdung der Wörter: Die Wörter sollen die Welt richtig abbilden: „secundum naturam“. Die Wörter der Volkssprache, die „Bilder des Marktes“, die idola fori, das heißt die schlechten Bilder des dummen Volkes, sollen getilgt werden und durch richtige, „natürliche“ (Wort-)Bilder ersetzt werden, die die Wissenschaft liefert. Es versteht sich, dass diese Bilder eine Universal-Sprache sind, die historische Partikularität der idola fori ist ja ihr Makel.22 Die Aufklärung hat also gerade das Nicht-Abbildliche der Wörter kritisiert und ihr sprachkritisches Heil und Korrektiv in den Bildern gesehen: Die planches der Encyclopédie, also die Bilder, sind die sprachkritische Erfüllung der Aufklärung. Noch der Kalender der Französischen Revolution versucht, im expliziten Gegensatz zum „arbiträren“ traditionellen Kalender, ein Bild des natürlichen Jahresablaufs zu malen. Die Monate heißen „KeimMonat“ Germinal, „Blumen-Monat“ Floréal, „Wiesen-Monat“ Prairial, „Ernte-Monat“ Messidor, „Heiß-Monat“ Thermidor und nicht März, April, Mai, Juni, Juli, August. Und lässt nicht gerade die Säkularisierung der Kunst, die Befreiung der Bilder von der Religion (die die Bilder ja eigentlich degradierte, wichtig war, was „dahinter“ war, das Heilige, die Bilder waren doch nur Zeichen), überhaupt erst die Bilder und ihre Bildlichkeit erblühen? Die „Bilderflut“ der modernen, autonomen Kunst fragt nicht mehr danach, ob man sich ein Bild machen soll oder nicht. Sie macht einfach Bilder. „Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus und Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen, es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr“, sagt Hegel in der Ästhetik (Hegel 1986, 13: 142) zu diesem Prozess der Befreiung des Bildes durch den ästhetischen Blick. Die Bilder verweisen nicht mehr als Zeichen auf das Heilige dahinter, sondern sie zeigen sich selbst, und wir schauen jetzt das Bild selbst an. Und gerade das setzt doch die ungeheure Bildexplosion der europäischen Kunst in Gang. Vielleicht, so könnte man fragen, spricht das Bild sogar erst jetzt?

19 20 21 22

Vgl. Kratylos 439 a/b. Gerade das erzeugt ja doch die Wut der fundamentalistischen Ikonoklasten! Vgl. Trabant 2003, Kap. 4.1. Vgl. Bacon 1620, Aphorismus 59.

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Poetische Zwillinge

Nun, eine durchaus bilderfreundliche moderne Kultur ist im Jahr 1820 Hintergrund des Satzes aus Wilhelm von Humboldts erster Akademierede: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ (Humboldt 1903–36 IV: 14), der den Bilderfreund so provoziert hat. Der Satz markiert keineswegs eine Abkehr von dieser Kultur. Der Satz badet in dieser Bildkultur, ohne jede Angst vor einer Flut. Zunächst hat der Satz überhaupt nichts mit Bildern zu tun, er ist daher auch nicht gegen das Bild gerichtet. Der Satz präsupponiert keine Aussage über das Bild, die er zurückweisen würde. Der Satz erscheint in einem Kontext, in dem Humboldt sich gegen eine allmähliche Entstehung der Sprache und eine allmähliche Menschwerdung ausspricht, wie sie die evolutionären Szenarien der Sprachursprungsdiskussion des 18. Jahrhunderts imaginieren. Humboldts Ungeduld richtet sich nicht gegen das Bild, sondern gegen evolutionäre Spekulationen, für die es zu seiner Zeit noch keine wissenschaftliche Evidenz gab. Plausibler ist ihm, wie er im Satz vor seinem provokanten Spruch sagt, ein qualitativer Sprung: „mit Einem Schlage“ (Humboldt 1903–36 IV: 14) ins Menschsein. Dieser Sprung ist die Sprache. Sobald der Mensch Sprache hat, ist er Mensch. Deshalb gilt umgekehrt: „um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn“ (ebd.). Humboldt wirft einen synchronischen Blick auf den Menschen und macht als dessen Zentrum, als das, was den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet, seine Sprachlichkeit aus. Was ist aber nun „Sprache“ bei Humboldt? Sprache ist – modern gesagt – primär Kognition: Bildung des Denkens in synthetischer Einheit mit dem Laut, der seinerseits „artikuliert“ ist. Die Sprache ist – nach einem späteren berühmten Satz – „das bildende Organ des Gedankens“ (Humboldt 1903–36 VII: 53). Zweifache Artikulation – Gliederung des Gedankens und Gliederung des Lauts – ist das strukturelle Charakteristikum der Sprache. Humboldt deutet das in der Rede von 1820 noch etwas kryptisch an. In einer späteren Akademierede wird er deutlicher: „Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Sprache“ (Humboldt 1903–36 IV: 122). Die Gliederung der Welt in inhaltliche Einheiten, die Konzentration eines Gedankens in einen Signifikanten, das leisten auch Bilder. Aber die geniale Fähigkeit, einige wenige rekurrente Bewegungen der Stimmwerkzeuge fast unendlich zu Signifikanten zu kombinieren, mit diesen Kombinationen geistige Einheiten fest zu verknüpfen und mit weiteren Kombinationen dieser phonisch-geistigen Einheiten unendliche geistige Welten aufzubauen, das ist schon etwas, das nur die Sprache kann. „Sprache“, die den Menschen zum Menschen macht, ist also eindeutig nicht „Bild“. Sie ist an die Stimme und das Ohr gebunden, und sie hat ein strukturelles Merkmal, das Bilder nicht haben: sie ist doppelt artikuliert. Aber es gibt in dem Satz von der Sprache, die den Menschen zum Menschen macht, keinen Antagonismus zum Bild. Das Wort ist, wenn man es in Vicos Familienmetapher ausdrücken will, auch bei Humboldt der Bruder des Bildes. Zwar ist die phonische Artikulation genau die Eigenschaft, die die Differenz zum Bild bezeich-

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7. Die Zwillinge Bild und Sprache in der aktuellen Diskussion

net. Dennoch ist das Wort dem Bild ganz nah. Der Feind des Wortes ist – wie bei Vico – nicht das Bild, sondern das Zeichen.23 Das Zeichen verfolgt Humboldt mit Inbrunst. Man kann allerdings nicht von „Zeichenangst“ sprechen, sondern eher von einer „Zeichenverachtung“ – und einer unerschütterlichen Zuversicht, dass das Wort über das Zeichen siegen wird. Humboldt stellt – ebenfalls in der Rede von 1820 – sein ganzes „vergleichendes Sprachstudium“, also die Beschreibung der Sprachen der Welt, unter die Kritik des Zeichens: Es geht darum „die Sprachen immer weniger als willkührliche Zeichen anzusehen“ (Humboldt 1903–36 IV: 32). Sprache als Zeichen zu betrachten ist für Humboldt der seit Aristoteles herrschende Irrtum der europäischen Sprachphilosophie. Dass die materiellen Wörter „willkürlich“ gegenüber dem Inhalt sind, ist der zu bekämpfende Irrglaube dieser Tradition: Sie meinte, das Denken geschehe zunächst sprachlos und sei bei allen Menschen gleich und die Wörter, das heißt die Laute kämen dann nur zum Zwecke der Kommunikation post festum hinzu und hätten nichts mit dem Inhalt zu tun. Ihre verschiedenen materiellen Formen in den verschiedenen Sprache seien daher auch „konventionelle“ (kata syntheken), unterschiedliche Klänge.24 Genau hier, in der leidenschaftlichen Kritik des aristotelischen Zeichens a placito, treffen sich nun Vico und Humboldt. Humboldts Sprachauffassung ist – wie Vicos – eine Kritik des Zeichens im Namen des Bildes. Drei Elemente des Bildes teilt nämlich das Wort mit dem Bild: 1. Es ist verkörpertes Denken, das heißt Gedanke und materielle Form werden immer zusammen gebildet. 2. Der Laut als Material der Sprache und auch die konkreten materiellen Wörter sind strukturell zutiefst isomorph zu ihrem Inhalt, sowohl mit dem Denken überhaupt als auch mit dem jeweiligen Gedanken. Humboldt schreibt in seinem Hauptwerk ganze Seiten über das Ikonische der Sprache, über die „Uebereinstimmung des Lautes mit dem Gedanken“ (Humboldt 1903–36 VII: 53).25 3. Die Sprache ist im kantischen Denkrahmen Humboldts eine Form der Einbildungskraft, jenes Vermögens, das phantasia oder imaginatio, „BildKraft“, in der Tradition heißt. Sprache ist eben gerade nicht jenes rationale Wesen, das die körper-, bild- und musiktrunkenen Irrationalisten so hassen. Natürlich ist die Sprache phonetisch-akustisch und nicht visuell-gestisch. Stimme und Gehör sind die Organe der Sprache. Aber auch diese mediale Qualität der Sprache wird bei Humboldt durch eine außerordentlich starke visuelle Metaphorik ins Bildliche gezogen. Eine Bilderflut überschwemmt sozusagen die Stimme und das Ohr. Die wichtigste Metapher des gesamten Humboldt’schen Sprachdenkens, die

23 24 25

Die Trias von Bild, Wort und Zeichen beschäftigt Humboldt sein ganzes Sprachdenken lang, vgl. Trabant 2012, Kap. 8, und Trabant 2018. Vgl. Aristoteles: De int. 16a (Aristoteles 1962). Vgl. Humboldt 1903–36 VII: 76ff. und die entsprechenden Seiten in Trabant 1986: 82–90 und Trabant 2018.

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Poetische Zwillinge

in der Rede von 1820 an prominenter Stelle erscheint, ist nämlich die von den „WeltAnsichten“: Ihre [der Sprachen] Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. (Humboldt 1903–36 IV: 27). Die Metapher von den Weltansichten durchzieht Humboldts gesamtes sprachphilosophisches Werk. Sprache wird auch einmal als „Gemählde“ bezeichnet, Sprachen beleuchten die Welt wie in einem Prisma, Sprachen geben dem Blick auf die Welt verschiedene „Farbe“ (Humboldt 1903–36 IV: 24). Hier hat bestimmt niemand Bildangst, sondern hier versucht jemand gerade, die Sprache so nahe wie möglich ans Bild zu rücken. Wenn eine Sprachtheorie die Vermählung von Sprache und Bild befördert, dann sicher die Humboldt’sche: Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache, und – so müssten wir ergänzen – die Sprache ist zutiefst bildlich, nämlich Welt-Ansicht. An der zentralen philosophischen Stelle seines Hauptwerks schreibt Humboldt: Überhaupt erinnert die Sprache oft […] in dem tiefsten und unerklärbarsten Theile ihres Verfahrens, an die Kunst. Auch der Bildner und Maler vermählt die Idee mit dem Stoff. (Humboldt 1903–36 VII: 95) „Nacquero esse gemelle“, die Bilder und die Sprache.

WELCHE WISSENSCHAFT?

8. Michelet übersetzt Vicos Philosophie in Geschichte und Dichtung La traduction, c’est une imitation dans laquelle on invente, une invention dans laquelle on imite. (Michelet, traducteur de Vico, 1825)

1. Michelet traduttore – traditore Dass der große französische Historiker Jules Michelet Vico durch seine Übersetzung in Europa berühmt gemacht hat – 1827 erscheinen die Principes de la philosophie de l’histoire, traduits de la Scienza nuova de J. B. Vico und 1835 dann die Œuvres choisies de Vico – und ihn damit vor dem Vergessen gerettet hat, steht ganz außer Zweifel. Michelet ist seinerseits durch die Übersetzung Vicos berühmt geworden, so dass es Michelet angezeigt erschien, manchmal mit „Michelet, traducteur de Vico“ zu unterschreiben. Michelet war auch sicher einer der besten Kenner der Vico’schen Schriften. Er hatte alles von Vico gelesen, was damals erreichbar war, und, soweit möglich, auch alles, was über Vico geschrieben worden war. Die Meinungen sind aber darüber geteilt, in welchem Sinn und in welchem Ausmaß Michelet der „Schüler“ Vicos gewesen ist, als der er sich – mit Michelet-typischem Aplomb – am Ende seines Lebens (1869) bezeichnet: „Je n’eus de maître que Vico“ (OC IV: 14)1, „Ich hatte keinen anderen Lehrer als Vico“. Während man in der Michelet-Forschung generell eine kontinuierliche Präsenz Vicos in Michelets Werk feststellt, die jenen Ausspruch gründlich zu belegen scheint, beurteilt man diese in der Vico-Forschung eher skeptisch. Nicolini hat von einem „travestimento», einer Verkleidung, ja sogar von einem Verrat, „tradimento», Vicos durch Michelet gesprochen (Croce/Nicolini 1948: 528), und Fassò (1968) nennt Michelet einen „presunto discepolo del Vico“, einen „vermeintlichen Schüler Vicos“. Diese unterschiedliche Beurteilung der Beziehung Michelet–Vico hat damit zu tun, dass die einen Vico gerade nur in der Form kennen, die Michelet ihm gegeben hat, während die anderen von Vicos Originaltexten ausgehen. Schon ein oberflächlicher Vergleich zwischen dem italienischen und dem französischen Vico zeigt, 1

Und er erläutert: „Son principe de la force vive, de l’humanité qui se crée, fit et mon livre et mon enseignement“ (ebd.). Die Abkürzung OC steht für die Œuvres complètes, hrsg. v. Paul Viallaneix (Michelet 1971ff.).

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Welche Wissenschaft?

dass Michelet in der Tat so tief in Vicos Text eingegriffen und eher ein französisches Buch „d’après Vico“ als eine Übersetzung der Scienza nuova hergestellt hat, so dass Nicolinis Verdikt des „travestimento“ gewiss nicht falsch ist. „In Michelets Bearbeitung ist von Vico kaum etwas übrig geblieben, als der Name auf dem Titelblatt“ urteilt Auerbach (1924: 9). Wie ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zeige, sind auch die Differenzen bei den zentralen Themen (philosophischer Sinn der Scienza nuova, „Vico-Axiom“, Geschichtsauffassung,) so erheblich, dass die Rede vom „tradimento“ durchaus eine gewisse Plausibilität gewinnt. Es bliebe dann nur mehr eine biographische Abhängigkeit von Vico übrig, gemäß dem anderen Ausspruch Michelets: „Je suis né de Vico“ (1872)2, „ich bin aus Vico geboren“, Vico als Michelets Vater oder Mutter. In der Tat stellt Michelet wegen Vico den Kontakt zu Victor Cousin her, der das Vico-Vorhaben Michelets mit großem Interesse fördert (ebenso wie parallel dazu die Übersetzung der Herderschen Ideen durch Quinet); das von Cousin geförderte Vico-Buch wird Michelets erster großer literarischer Erfolg; durch Vico – wie durch die Erfahrung der Juli-Revolution – findet Michelet wohl auch endgültig zur Geschichte. Das ist zwar nicht wenig, es wäre aber dennoch eher eine kontingente Abhängigkeit, welche die Abgründe kaum verdeckt, die die beiden Schriftsteller voneinander trennt. Gleichwohl hatte Nicolini trotz des schweren Vorwurfs des tradimento-travestimento der Scienza nuova die Schülerschaft Michelets insgesamt nicht so unfreundlich bilanziert, und andere Arbeiten der Vico-Forschung3 verstärken unter Berücksichtigung weiterer Aspekte des Michelet’schen Werks diese Bilanz. In diesem Sinne möchte auch ich versuchen, noch einmal für eine tiefere Affinität zwischen Vico und Michelet zu argumentieren. Mit „tiefer“ meine ich sowohl „echt vichianisch“ als auch, zum Teil jedenfalls, „verborgen“ – dem Michelet-Leser ebenso wie vielleicht Michelet selbst. Diese Nähe sehe ich allerdings nicht bei den „großen“ geschichtsphilosophischen Themen, sondern in dem Bereich, der erst in jüngster Zeit als ein „großes“ Vico’sches Thema behandelt wird, im Bereich der Sprache und der Zeichen, den ich Sematologie nenne. Aber auch da handelt es sich nicht so sehr um theoretische Übernahmen, also um die Zustimmung zu bestimmten sprachphilosophischen oder sematologischen Theoremen – hier ist wie bei der Geschichtsphilosophie die Beziehung sogar eher problematisch –, als um Übereinstimmungen im sematologischen Tun: Hier möchte ich einerseits zeigen, dass Michelet in seinen Arbeiten, die an die Vico-Übersetzung anschließen, in der Histoire romaine und in den Origines du droit français, im Sinne der Vico’schen Sematologie vorgeht, und andererseits, dass er als Geschichtsschreiber die Rolle des Vico’schen poeta, des Schöpfers poetischer Zeichen, einnimmt. Michelet ist also ein vichianischer Interpret „poetischer Charak2 3

Zitiert von Viallaneix in OC I: 275. Vgl. Verri 1983 und Pons 1975.

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8. Michelet übersetzt Vicos Philosophie in Geschichte und Dichtung

tere“ und ein poeta, der in „poetischen Charakteren“ spricht. Der letzte Zug scheint mir geradezu die Essenz des historiographischen Diskurses Michelets auszumachen: Historiographie als Mythopoiesis.4

2. Philosophie der Geschichte Bevor ich auf das Sematologische im Werk Michelets zu sprechen komme, muss ich jedoch die Problematik der „klassischen“ Vico-Themen bei Michelet erläutern. Die – gerade von Michelet ausgehenden – ideés reçues über Vico (und Michelet) besagen, dass Vico der Begründer der „Geschichtsphilosophie“ gewesen sei, der den Grundsatz aufgestellt habe, dass die Menschheit sich selber erschaffe („Le mot de la Scienza nuova est celui-ci: L’humanité est son œuvre à elle-même“, OC II: 341), und der im Kollektiv – im Volk, le Peuple – und nicht im Einzelnen den Agenten der Geschichte erkannt habe. Mit den als fatalistisch angesehenen Zyklen der Vico’schen Geschichtstheorie hat sich Michelet dagegen nicht anfreunden können.5 2.1. Der Hauptgrund für Croce/Nicolini, nicht nur von einer Verkleidung der Scienza nuova, sondern auch von einem Verrat an Vico zu sprechen, ist die Tatsache, dass Vicos Hauptwerk bei Michelet einen neuen, moderneren Gesamtsinn bekommt. Vico wird dem historisch gestimmten Publikum des beginnenden 19. Jahrhunderts, das sich angesichts der Französischen Revolution und ihrer Folgen Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte erwartet, als Erfinder der „Philosophie der Geschichte“ präsentiert.6 Dieses grosso equivoco (Croce/Nicolini 1948: 529) drückt sich eklatant durch den französischen Titel und durch die ausdrückliche Interpretation aus, die das Werk in dem einleitenden „Discours sur Vico“ und in dem Artikel „Vico“ für die Biographie universelle (beide 1827), vor allem aber an verschiedenen anderen prominenten Stellen Michelet’scher Schriften, insbesondere im Vorwort zur Römischen Geschichte, bekommt. Allein schon durch den Titel Principes de la philosophie de l’histoire wird die Scienza nuova in eine Texttradition hineingerufen, in der sie gar nicht stehen kann. Der Ausdruck und die Sache der „philosophie de l’histoire“ sind bekanntlich von 4 5

6

Vgl. Brombert 1989: 810, der von den „mythopoeic qualities“ der Geschichte der französischen Revolution spricht. Vgl. etwa: „Angeregt durch Vico, bei dem er bereits eine Laizisierung der Geschichte vorfand, und unter dem Einfluß der Julirevolution vertrat Michelet […] die These, dass die Geschichte maßgeblich das Werk des Menschen sei, seines Tuns und Wollens“ (Lange 1980: 69). „Michelet unterscheidet folglich nicht mit Vico ‚corsi‘ und ‚ricorsi‘ in der Geschichte, sondern richtet den Blick allein auf das Drängen nach vorn“ (ebd.: 70). Später, mit größerer Berechtigung, als Vorläufer für die neuen historiographischen Bemühungen aus Deutschland, die mit den Namen Wolf, Niebuhr, Grimm verbunden sind.

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Voltaire erfunden worden, um eine alternative Geschichtsauffassung gegen die christlich-heilsgeschichtliche Konzeption etwa Bossuets zu stellen.7 Sie ist, wie Croce (1911/1980: 135f.) bemerkt hat, eigentlich auch keine Philosophie, sondern Geschichte, beziehungsweise eine besondere Art von Geschichtsbetrachtung, die sich weder mit den positiven Fakten des Geschehenen noch mit der religiös christlichen Erläuterung der Weltgeschichte zufriedengibt, sondern die aufgeklärt nach dem Sinn der geschichtlichen Entwicklungen fragt. Der Voltaireschen Geschichtsphilosophie antwortet dann Herder mit Auch eine Philosophie der Geschichte und später mit seinen Ideen. Herders Ideen werden gleichzeitig von Michelets Freund Quinet übersetzt und erscheinen im selben Jahr (1827) in Frankreich wie Michelets Vico. Auch diese Gleichzeitigkeit subsumiert Vico unter die modernere Fragestellung der Traditionslinie Voltaire–Herder.8 Vicos Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Nationen sind aber, wie der Vico’sche Original-Titel es ganz präzise formuliert, in eine ältere Frage eingebunden, in die Frage Descartes’ nach den Grundlagen des Erkennens (principia) vor allem, dann in die Frage Bacons nach einer neuen empirischen Wissenschaft (scientia nova) und in die Frage der Begründung des Rechts der Völker (ius gentium). Der Sinn der Weltgeschichte, wie ihn Voltaire oder Herder diskutieren, kommt dabei erst in zweiter Linie zur Sprache. Die bekannte zyklische Geschichtsauffassung ist jedenfalls nicht der hauptsächliche Gegenstand von Vicos neuer Wissenschaft. Aber das Letztere behauptet auch Michelet nicht, sondern er resümiert diesen Gegenstand folgendermaßen: Dans cette variété infinie d’actions et de pensées, de mœurs et de langues, que nous présente l’histoire de l’homme, nous retrouvons souvent les mêmes traits, les mêmes caractères. Les nations les plus éloignées par les temps et par les lieux suivent dans leurs révolutions politiques, dans celles du langage, une marche singulièrement analogue. Dégager les phénomènes réguliers des accidentels et déterminer les lois générales qui régissent les premiers, tracer l’histoire universelle, éternelle, qui se produit dans le temps, sous la forme des histoires particulières; décrire le cercle idéal dans lequel tourne le monde réel, voilà l’objet de la nouvelle science; elle est tout à la fois la philosophie et l’histoire de l’humanité“ (OC I: 617, Hervorhebung J. T.).

7 8

Vgl. „Dans la philosophie de l’histoire, Vico s’est placé entre Bossuet et Voltaire qu’il domine également“ (OC II: 297). Michelets erfolgreiche geschichtsphilosophische Interpretation Vicos hinterläßt noch ihre Spuren im Romanwerk Hugos, vgl. Engler 1982: 333: „Die Geschichtsphilosophie, die Hugo 1874 zum eigentlichen Romanthema macht, haben von verschiedenen Positionen aus Giambattista Vico und Jules Michelet entwickelt.“

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In dieser unendlichen Vielfalt von Handlungen und Gedanken, von Sitten und Sprachen, die uns die Geschichte des Menschen darbietet. finden wir oft dieselben Züge, dieselben Eigentümlichkeiten. In Zeit und Raum sehr weit voneinander entfernte Völker folgen in ihren politischen und sprachlichen Revolutionen einem einmalig analogen Gang. Die gesetzmäßigen Phänomene von den akzidentellen zu unterscheiden und die allgemeinen Gesetze zu bestimmen, welche die ersteren beherrschen, die ewige Universalgeschichte zu zeichnen, die sich in der Zeit in Form besonderer Geschichten manifestiert, den idealen Kreis zu beschreiben, in dem sich die wirkliche Welt dreht, das ist der Gegenstand der neuen Wissenschaft, sie ist gleichzeitig Philosophie und Menschheitsgeschichte.9 Ganz ohne Zweifel ist dies eine richtige Beschreibung von Vicos Suche nach dem Universellen im historisch Partikularen. Das primäre „objet de la nouvelle science“ sind aber nicht diese Universalien, sondern es ist – hierarchisch eine Stufe höher – die (transzendental)philosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt. Und die Antwort ist, wie ich schon oft in diesem Buch gesagt habe, das Vico-Axiom, also dass wir „Wissenschaft“ gerade von dem haben können, was wir selber gemacht haben, das heißt vom mondo civile (den Michelet übrigens richtig mit monde social übersetzt) und nicht vom mondo naturale, der physischen Welt, die Gott gemacht hat. Vico transformiert Philosophie ausdrücklich von einer Meta-Physik in eine Meta-Politik. Wenn der Gegenstand seines Werks somit auch nicht mehr als ein im engeren Sinne meta-physischer angesehen werden kann, so ist er aber weiterhin „meta“, sofern es um die Bedingungen der Möglichkeit sicherer Kenntnisse (Wissenschaft) von der Welt, jetzt eben der politischen Welt geht. Gegenstand der Scienza nuova ist also – wie Croce es idealistisch nannte – eine Philosophie des Geistes, moderner würden wir sagen: eine Philosophie der Erkenntnis, theoretische Philosophie. Die von Michelet zurecht genannten „allgemeinen Gesetze“, die „ewige Universalgeschichte“, der „ideale Kreis der Welt“, die Vico in allen partikularen Manifestationsformen des mondo civile aufsucht, etwa die „princìpi universali ed eterni“ (SN44: 332) der Religion, der Ehe und der Bestattung der Toten, stehen im Dienst dieser philosophischen Aufgabe, sie dienen dem Nachweis von „Wissenschaft“.10

  9 10

Deutsche Übersetzung von J. T. Dass Michelet gerade das Philosophische der Vico’schen Philosophie verfehlt, arbeitet Fassò 1968 in aller Schärfe heraus.

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2.2. Michelet steigt von der philosophischen (“meta-politischen”) Ebene der Vico’schen Reflexion hinab auf die Stufe darunter: Bei ihm geht es nicht mehr um die Begründung der Wissenschaft von der (selbstgemachten) Welt, sondern um diese selbstgemachte Welt selbst. Michelet transponiert damit auch Vicos philosophischen (meta-politischen) Enthusiasmus von der höheren Ebene des Erkennens des Gegenstandes auf die Ebene des zu erkennenden Gegenstandes, das heißt in einen politischen Enthusiasmus. Vico war stolz darauf, dass er das Prinzip der Erkenntnis gefunden hatte: Diese gesellschaftliche Welt können wir erkennen, weil wir sie gemacht haben. Das war sein Axiom. Er war aber nicht besonders stolz auf dieses Machen selbst; denn die Menschen machen diese Welt ohne Verstand und ohne Planung, sie machen sie mit den niederen Vermögen der Phantasie und des Ingeniums, geleitet – auch gegen ihre Absichten – von der Göttlichen Vorsehung, der Provvedenza divina: „homo non intelligendo fit omnia“ (SN44: 405), „der Mensch wird alles ohne Verstand“. Es gibt daher auch keinen Grund für irgendeinen Triumph, für irgendeine Aufgeblasenheit des Menschen, für irgendeine boria, wie Vicos Schlüsselterminus heißt. Michelet glüht dagegen vor Begeisterung über das Selber-Machen des homo faber: „L’humanité est son œuvre à elle-même“ (OC II: 341), „die Menschheit ist ihr eigenes Werk“, ist Michelets triumphalistische Umformulierungen des Vico-Axioms seit dem Vorwort zur Histoire romaine 1831. Wenn Michelet den Menschen als den Macher seiner Geschichte feiert, gibt er dem Vico-Axiom eine Interpretation, die der Vico’schen Bescheidenheit vor der Provvedenza divina geradewegs entgegengesetzt ist.11 So liest Michelet Vicos Theorie der selbstgeschaffenen Götter und Helden, der „poetischen Charaktere», strikt als eine Geschichte aufklärerischer Selbstbefreiung von diesen „bizarres et inexplicables figures qui flottaient dans l’air“ (OC II: 341) zu rationaler Klarheit, während sie bei Vico doch gerade umgekehrt als Warnung an die aufgeklärten Menschen gedacht war, dass ihren rationalen Begriffen „wilde“ phantastische Kreationen zugrunde liegen, von denen sie sich niemals ganz befreien können. Diese Differenz in der Auffassung des menschlichen Selber-Machens des mondo civile wird schlagend an den unterschiedlichen Mythen deutlich, mit denen die beiden Autoren sie jeweils illustrieren. Als den Macher der Geschichte führt Michelet den „poetischen Charakter“ des Prometheus an. „L’homme est son propre Prométhée“ (OC IV: 13), erläutert er 1869 den Hauptgedanken Vicos, „son principe de la force vive, de l’humanité qui se crée“ (OC IV: 14), „sein Prinzip der lebendigen Kraft, der Menschheit, die sich erschafft“. Prometheus, der gegen die Götter Revoltierende und den Göttern das Feuer als Grundlage der menschlichen Kultur Entreißende, ist 11

Michelet bemerkt dies in gewisser Weise selbst, wenn er schreibt, dass Vico sich der Kühnheit seines Gedankens nicht bewusst gewesen sei (OC II: 341).

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der menschheitsbegründende Heros des revolutionären Michelet – und der gesamten Aufklärung. Der erste „politische Heros“ bei Vico ist aber Herkules (SN44: 3), der auf Geheiß der Götter – nicht gegen sie – fromm handelnde und fromm leidende und „arbeitende“ Bezwinger der wilden Natur.12 Der poetische Charakter des Prometheus hat Vicos Phantasie überhaupt nicht inspiriert und spielt in Vicos Mythenwelt nur eine völlig untergeordnete Rolle. Die Opposition zwischen Herkules und Prome­ theus bezeichnet im Übrigen auch ganz eindeutig die Differenz zwischen Vico und Herder, dem Michelet fast in allem näher steht als Vico.13 2.3. Mit der Transformation des Vico’schen „Machens“ vom herkulischen frommen „Arbeiten“ gegen die Natur an der Hand der Göttlichen Vorsehung ins prometheische, anti-religiöse und letztlich dann auch gottlose, triumphal revolutionäre, Sich-Selber-Schaffen der Menschheit hängt auch Michelets Kritik an Vicos zyklischer Geschichtsauffassung zusammen. Für Vico verläuft die menschliche Geschichte vom göttlichen über das heroische ins menschliche Zeitalter, um dann wieder zurückzufallen in eine neue Barbarei, aus der eine weitere Abfolge von göttlichen, heroischen und menschlichen Zeitaltern in einem ricorso hervorgeht, die ihrerseits ebenfalls wieder in eine wilde Vorzeit degenerieren kann. Michelet, dem Sohn der Revolution, der den Triumph der sich selber schaffenden Menschheit feiert, muss dieses ewige Kreisen der Geschichte widerstreben: Ainsi préoccupé de Rome, Vico aperçut le monde sous la forme symétrique de la cité. Il se plut à considérer le mouvement de l’humanité comme une rotation éternelle, corso, ricorso. Il ne vit point, ou du moins ne dit pas que si l’humanité marche en cercle, les cercles vont toujours s’agrandissant. (OC II: 342) Solcherart auf Rom fixiert nahm Vico die Welt in der symmetrischen Form der Stadt wahr. Es gefiehl ihm, die Bewegung der Menschheit als eine ewige Rotation, corso, ricorso, zu betrachten. Er sah nicht – oder zumindest sagt er nicht – dass, wenn die Menschheit im Kreise läuft, diese Kreise immer größer werden. Aus der Perspektive einer prometheischen Menschheitsgeschichte des Fortschritts machen die Vico’schen Kreise höchstens als Spirale Sinn. Michelets eigene Geometrie der Universalgeschichte ist aber auch nicht die Spirale, sondern gut aufklärerisch der nach oben gerichtete Pfeil des stetigen Aufstiegs der Menschheit zu einem klaren Ziel. 12 13

Vgl. Fellmann 1976: 72f. Daher nimmt Fassò 1968: 542ff. auch bei Michelets Interpretation des „Vico-Axioms“ gerade einen über Quinet vermittelten Einfluß Herders an.

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2.4. Und dieses Ziel heißt Frankreich. Seiner Introduction à l’histoire universelle (1831) stellt Michelet folgendes flamboyante Bekenntnis voran: Ce petit livre pourrait aussi bien être intitulé: Introduction à l’histoire de la France; c’est à la France qu’il aboutit. [Denn: Michelets] glorieuse patrie est désormais le pilote du vaisseau de l’humanité. (OC II: 227) Dieses kleine Buch könnte genauso gut heißen: Einführung in die Geschich­ ­te Frankreichs; denn es ist Frankreich, auf das es hinzielt. [Denn] das glorreiche Vaterland ist von nun an der Kapitän des Schiffes der Menschheit. Während Michelet hinsichtlich des Fortschrittsdenkens Herder näher steht als Vico, ist die Anbindung des Fortschritts der Menschheit an ein bestimmtes Volk ebenso unherderisch wie unvichianisch. Für Vico wäre die von Michelet gezeichnete Menschheitsgeschichte als Aufstiegsgeschichte Europas vom alten Osten über Griechenland und Rom zu den modernen Nationen Europas, an deren Ende als höchste Erfüllung des Sich-Selber-Machens der Menschheit die historische Entwicklung Frankreichs steht, ein geradezu eklatantes Beispiel für das, was er die boria delle nazioni, die An­­ maßung der Nationen, das ethnozentrische oder nationalistische Vorurteil, nennt – und leidenschaftlich bekämpft. 2.5. Michelet hat sicher recht, wenn er bei Vico als Agenten des mondo civile nicht so sehr das Individuum festmacht, sondern den kollektiven Menschen, „l’homme collectif“ (OC I: 280), das Volk, le Peuple. Diesen Gedanken hebt er insbesondere im Vorwort zur erweiterten Vico-Ausgabe von 1835 hervor: Les législations, les religions sont, aussi bien que les littératures, l’ouvrage, l’expression de la pensée des peuples. […] La science sociale date du jour où cette grande idée a été exprimée pour la première fois. Jusque-là, l’humanité croyait devoir ses progrès aux hasards du génie individuel. (OC I: 279 f.) Die Gesetzgebungen und die Religionen sind, ebenso wie die Literaturen, das Werk und der Ausdruck des Denkens der Völker. […] Die Sozialwissenschaft entsteht an dem Tag, an dem diese große Idee zum ersten Mal geäußert worden ist. Bis dahin glaubte die Menschheit, dass sie ihren Fortschritt dem Zufall des individuellen Genies verdanke. Vico geht aber die Begeisterung für das Volk völlig ab, die bei Michelet sowohl als revolutionäres Pathos für das „einfache Volk“ (das er daher auch gern mit einem Großbuchstaben ehrt: le Peuple) als auch als romantisches – „herdersches“ – Interesse für das Volk im Sinne der kulturellen und politischen Gemeinschaft – gleichzeitig und zweideutig – präsent ist. Das Volk im Sinne der revolutionären Klasse

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(plebe, volgo) ist für Vico kein Identifikationsgegenstand; die Klassenkämpfe, auf die sich Vico bezieht, liegen weit zurück in der Vergangenheit, im alten Rom nämlich. Und das Volk im Sinne der Ethnie, das Vico meistens nazione nennt, ist zwar in der Tat der kollektive Schöpfer der Kultur; es interessiert Vico aber nicht in seinem Sosein, in seiner spezifischen Partikularität, die Vico zwar nicht leugnet, die er aber vor allem als Quelle der schon genannten Gefahr, der boria delle nazioni, des ethnischen Vorurteils ausmacht.

3. Sprache bei Michelet, Sprache bei Vico Nach diesen Andeutungen der Differenzen zwischen Vico und Michelet, die erheblich sind – es sind eigentlich geradezu von Wort-Brücken überdeckte Abgründe –, möchte ich meine These vom dennoch „tief“ vichianischen Charakter des Miche­ let’schen historiographischen Diskurses erläutern. Ich greife dabei einen Gedanken von Antonio Verri auf, der Michelet einen „angeborenen“ Vichianismus zubilligt: Michelet sei „naturalmente vichiano“ (Verri 1983: 281). Angesichts der gezeigten Differenzen kann Verri dieses vichianische Naturell nun natürlich nicht mehr an der Geschichtsphilosophie festmachen, sondern er sieht es in einem Interesse für Sprachliches, das Michelet schon gehabt habe, bevor er Vico begegnet sei.14 Gemeinsam sei ihnen vor allem die Überzeugung, dass die Sprache untrennbar mit den historischen und gesellschaftlichen Fakten verbunden sei: „Les actions que nous raconte l’histoire, les signes dont se compose le langage ne sont que des expressions diverses d’une même chose“ (OC I: 250). „Die Handlungen, die uns die Geschichte erzählt, die Zeichen, aus denen die Sprache besteht, sind nur verschiedene Ausdrücke derselben Sache“, schreibt Michelet 1825 mitten in der Arbeit an der Vico-Übersetzung in einer Schulrede über die Einheit der Wissenschaften. Wenn hierin auch durchaus eine Parallelität zwischen Vico und Michelet gesehen werden kann, so ist Michelets Verhältnis zu Vicos Sprachthema bedeutend komplizierter, als Verri glaubt, der eine Kontinuität des „natürlichen Vichianismus“ von den frühen Projekten Michelets über die Vico-Editionen bis zu den rechtsgeschichtlichen Interpretationen der Origines du droit français (1837) annimmt. Michelets Interesse am Sprachthema ist nämlich zunächst völlig unvichianisch, es ist herderisch, ja geradezu humboldtisch. Daher versteht Michelet auch die eigentliche Sprach- oder besser Zeichen-Philosophie Vicos nicht, wie man an seiner Bearbeitung der Scienza nuova sieht. Erst in seiner eigenen historiographischen Arbeit, im Tun, nicht in der Theorie, dort wo Michelet „alte Zeichen“ – sémata – interpretieren muss

14

Vgl. Verri 1983 und 1984, der dabei seinerseits auf die Untersuchung von Viallaneix 1959: 223ff. zurückgreift.

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und wo er selber poetische Charaktere schafft, befindet sich Michelet auf vichianischem Boden. 3.1. Michelet hatte, wie man seinem Journal des idées entnehmen kann, noch vor der Begegnung mit Vico, anlässlich einer Sophokles-Lektüre 1819, ein Buchprojekt zum „Caractère des peuples trouvé dans leur vocabulaire“ ins Auge gefasst (Michelet 1959: 224). Er hatte den Plan 1823 unter einer ganzen Fülle alternativer Titel – etwa „le génie et l’histoire des peuples trouvés dans leur langue“ – noch einmal etwas ausführlicher skizziert (1959: 227–230), er hatte in der zitierten, 1825 gehaltenen Schulrede den innigen Zusammenhang zwischen Sprache und geschichtlichen Handlungen betont und auf dem Höhepunkt seiner Übersetzungsarbeit 1826 das Projekt einer Darstellung des Zusammenhangs von Sprachen und „civilisation“ noch einmal erwähnt: „Histoire de la civilisation trouvée dans les langues“ (1959: 240), in die er „beaucoup de mots de la Science nouvelle“ einarbeiten wollte. Es scheint daher nur konsequent, Michelets Arbeit an Vicos Scienza nuova, in der ja die Sprache eine so prominente Rolle spielt und in der tatsächlich ein unauflöslicher, „natürlicher“ Zusammenhang zwischen Sprache und „civilisation“, dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben, angenommen wird, als eine Realisierung des Projekts anzusehen.15 Eine solche Auffassung krankt allerdings daran, dass sie die Tatsache unberücksichtigt lässt, dass Michelet die Rolle der Sprache in seiner Version der Scienza nuova radikal schwächt, ja dass er die Vico’sche Sprachphilosophie oder Sematologie, geradezu systematisch aus den Principes de la philosophie de l’histoire von 1827 tilgt. 3.2. Die Verdrängung des Sematologischen wird an folgenden einschneidenden Veränderungen der Scienza nuova in der französischen Fassung deutlich (dabei führe ich nur die drei eklatantesten Eingriffe auf): 3.2.1. Michelet kürzt die dipintura, mit der Vico mit einem Schlag – mit einem visuellen Zeichen – den Inhalt und das Verfahren seiner Scienza nuova und damit auch seine Sprach-Theorie zeigen will: Das dem sprachlichen Text vorangestellte Bild resümiert ja nicht nur den philosophischen Hauptgedanken des Werks, sondern vollzieht auch die sematologische Entdeckung – die discoverta – Vicos nach, dass dem Denken in Wörtern ein wildes Denken in Bildern zugrundeliegt. Die Tilgung des Bildes ist ein starkes erstes Indiz für das Unverständnis der sematologischen Intentionen des Werks.

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Vgl. Verri 1984: 129.

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3.2.2. Dies wird von der nächsten und dramatischsten Kürzung voll bestätigt. Michelet streicht nämlich mit der dipintura auch die Erklärung, die spiegazione des Bildes. Michelet fand diese „Idea dell’opera“ besonders dunkel, ja er vermutete sogar, dass sie geschrieben worden sei, um Leser abzuschrecken: L’explication de ce frontispice, en quarante pages, est le morceau le plus obscur de l’ouvrage, et semble mise tout exprès à l’entrée pour le fermer au plus grand nombre des lecteurs. (OC I: 616) Die Erklärung dieses Frontispiz, auf vierzig Seiten, ist das dunkelste Stück des Werkes und es scheint hier absichtlich an seinen Eingang gestellt worden zu sein, um es einer größeren Zahl von Lesern zu verschließen. Die „Idea dell’opera“ macht aber wie kein anderer Teil der Scienza nuova den philosophischen Gesamtsinn des Werks und seine systematischen Zusammenhänge deutlich, und dabei natürlich auch die fundamentale Bedeutung der Sprache und der Zeichen. Unmittelbar auf die Darstellung der politisch-rechtlichen Organisationsformen der drei Vico’schen Zeitalter folgt ja doch die Skizze der drei Semiosen (lingue), die diesen drei Zeitaltern entsprechen, und die Darlegung der untrennbaren Zusammengehörigkeit von lingue und Rechtsinstitutionen. Indem Michelet die Scienza nuova dieser einleitenden Darlegung beraubt und sie mit den chronologischen Tafeln zur Weltgeschichte von der Sintflut bis zum zweiten punischen Krieg beginnen lässt, nimmt er ihr von vornherein ihre philosophischen Intentionen und reduziert sie auf Geschichte. Ohne diese Einleitung ist dann auch die systematische Stellung der Vico’schen Sematologie, die Vico in dem Kapitel über die „Poetische Logik“ im zweiten Buch länger ausführt, überhaupt nicht mehr klar. Michelet bringt dieses Kapitel zwar relativ ausführlich, aber auch hier fehlen ganze Passagen, kleinere Abschnitte, einzelne Sätze – vermeintliche Abschweifungen und altmodische Gelehrsamkeiten. Ohne die Erläuterungen der „Idea dell’opera“ ist dieses Kapitel über den logos aber einfach nur eines unter den vielen Kapiteln der „Poetischen Weisheit“ und steht neben der poetischen Moral, Ökonomie, Politik, Physik, Kosmographie, Astronomie, Chronologie und Geographie. Die „poetische Logik“ ist aber, zusammen mit der „Poetischen Metaphysik“, die Grundlage für die genannten Bereiche des wilden Denkens: Sie ist die Theorie dieses Denkens, denn die Sprache und die Zeichen sind dieses Denken selbst. Sie ist nicht wie Sexualität, Familie, Staat, Körper, Welt, Sterne, Zeit und Erde nur ein Gegenstandsbereich des Denkens. 3.2.3. Drittens wird die Verdrängung des Sematologischen an der systematischen Tilgung von Bildern und Zeichen, von poetischen Charakteren, aus dem Text deutlich: Michelet kürzt Vicos ausführliche Illustrationen des wilden Denkens durch

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mythologische Gestalten und andere alte Zeichen durchgehend weg. Es bleiben gewissermaßen nur die nackten Signifikate ohne die Signifikanten, mit denen sie doch verbunden sind. So werden die Hauptgedanken der „Poetischen Weisheit“ in den gerade erwähnten Bereichen des primitiven Denkens durch ausführliche Darlegungen der griechischen Göttermythen erläutert. Beispielsweise werden im Kapitel über die „poetische Moral“ die Ur-Vorstellungen der Ehe anhand einer von Absatz 511 bis 515 sich erstreckenden Erörterung des Mythos der Juno illustriert,16 die folgendermaßen beginnt: (SN44: 511) I Poeti Teologi fecero de’ matrimoni solenni il secondo de’ divini caratteri dopo quello di Giove: Giunone, seconda divinità delle Genti dette Maggiori. Die Poeti Teologi machten aus den feierlich geschlossenen Ehen den zweiten der göttlichen Charaktere nach demjenigen Jupiters: Juno, die zweite Gottheit der sogenannten gentes maiores. Von den Abschnitten 511 bis 515 bleibt aber nur ein Satz bei Michelet: „Les hommes se créèrent, sous le nom de Junon, un symbole de ces mariages solennels. C’est le premier de tous les symboles divins après Jupiter“ (OC I: 494).17 Und dieser verbleibende Satz zeigt noch im übersetzerischen Detail, wie tief die Verdrängung der Vico’schen Sematologie geht. Durch die Wiedergabe der Ausdrücke poeti teologi und divini caratteri mit „les hommes“ und „symboles divins“ – gewissermaßen durch die Übersetzung Vicos in den Diskurs der Aufklärung – beraubt Michelet den Satz schlicht seines vichianischen Gehaltes: Es sind nicht einfach „Menschen“, die die Juno schaffen, sondern „Poeten-Theologen“, also priesterliche Schöpfer von Göttern. Und die Juno ist auch nicht einfach ein göttliches „Symbol“, sondern präziser ein göttlicher „Charakter“, das heißt ein als Person mit bestimmten Zügen gezeichneter Mythos, ein als Erzählung (favola) konkret gefasster Urgedanke.18 Als Kreation der „Poeten“ ist Juno ein poetischer Charakter. Die Verdrängung der Mythen und sémata ist auch eine Verdrängung der poeisis, des Machens der „Poeten“. Zurecht sagt Fassò (1969: 526) daher, dass der Poet Michelet die Poesie nicht verstanden habe. 3.3. Es kann aber gar nicht genug betont werden, dass die Entdeckung der poetischen Charaktere nach Vicos Selbstinterpretation gerade das Neue seiner Philosophie war. Diese discoverta hat Michelet bei seiner Bearbeitung der Scienza nuova

16 17 18

Vgl. die in Kapitel 10 zitierte Juno-Passsage SN25: 414. Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal die Eingriffe Michelets im Detail zu studieren. Vergleichbares geschieht jetzt in der neuen englischen Übersetzung bei Penguin (Vico 1999), in der die caratteri poetici als „symbols“ erscheinen, vgl. Kapitel 12.

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einfach nicht wahrgenommen. Er hat sie ja auch nicht übersetzt. Sie steht in der Einleitung, der „Idea dell’opera“, die Michelet als den vermeintlich dunkeln und esoterischen Teil nicht verstanden hat. 3.4. Die Bereinigung der Scienza nuova von den Zeichen bleibt aber in der Tat überraschend und merkwürdig bei einem Autor, der gerade noch laut die Identität von Zeichen und Handlungen beschworen hat: „die Handlungen, die uns die Geschichte erzählt, die Zeichen, aus denen die Sprache besteht, sind nur verschiedene Ausdrücke derselben Sache“ (OC I: 250). Drei Gründe der Sprachauffassung Michelets scheinen mir hierfür verantwortlich: 1. Michelets Interesse für Sprache ist auf Einzelsprachen bezogen. 2. Michelet verachtet letztlich – gut logozentrisch, aufgeklärt – die alten Zeichen. 3. Michelet interessiert sich nur für die Sprache, nicht für den fundamentalen Vico’schen Zusammenhang von Sprache und Bildern. 3.4.1. Als Ziel der sematologischen Entdeckung nennt Vico in der „Idea dell’opera“ die Erstellung eines dizionario mentale comune, eines allen Sprachen zugrundeliegenden Verzeichnisses der Grundideen der Menschheit. Dieses zentrale Konzept ist bei Michelet nicht mehr auffindbar bzw. völlig entstellt (OC I: 436). Als ein auf das Universale abzielendes Sprachprojekt steht Vicos Projekt in deutlichem Gegensatz zu dem, was Michelet an den Sprachen interessiert. Michelets Sprachprojekt richtet sich nämlich auf die Erforschung der Einzelsprachen in ihrer Individualität. Es schreibt sich ein in die Tradition der Frage nach dem „génie des langues“ – und gerade nicht in die Tradition der Problematik der „langue philosophique“. Wie schon in den frühen Projektskizzen macht sich Michelet auch in den Vorlesungen, die er 1827/28 über die Sprache gehalten hat, für das Studium der verschiedenen einzelnen Sprachen stark und polemisiert vehement gegen das Projekt einer Universalsprache.19 Nun ist zwar Vicos dizionario mentale comune auch kein klassisches Universalsprachenprojekt, sondern durchaus ebenfalls eine Alternative zu einem solchen, wie es seit Bacon in der Philosophie immer wieder propagiert wird.20 Es ist aber dennoch kein Projekt zur Erforschung von Einzelsprachen, des „génie des langues», des Partikularen als solchen, sondern ein Projekt zur Erforschung des Universellen im Partikularen. Es ist prinzipiell auf das Universelle ausgerichtet, während Michelets Suche nach dem „Caractère des peuples trouvé dans leur vocabulaire“ von vornherein auf die einzelne Sprache aus ist. Das folgende Zitat aus Michelets Vorlesung über die Sprache dokumentiert diese völlig andere Zielrichtung der Sprachbetrachtung:

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Vgl. Viallaneix 1959: 128. Über die Einzelheiten des Projekts vgl. Trabant 1994: Kap. 4.

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Chaque peuple est une personne dans la société humaine […]. Ne faut-il pas qu’une personne ait un son de voix, une physionomie à elle? De même qu’une nation n’est parfaitement représentée que par l’ensemble des individus qui la composent, de même que l’humanité n’est bien représentée que par tous les peuples du monde, de même l’esprit de l’humanité n’est parfaitement représenté que par l’ensemble des langues de tous les peuples.21 Jedes Volk ist eine Person in der menschlichen Gesellschaft […]. Muss nicht jede Person ihre eigene Stimme, ihre eigene Physiognomie haben? Ebenso wie eine Nation nur durch das Ensemble der Individuen vollkommen dargestellt ist, aus denen sie besteht, so wird auch die Menschheit nur von allen Völkern der Welt gut dargestellt und der Geist der Menschheit wird nur durch das Ensemble der Sprachen aller Völker vollkommen dargestellt. Im Sinne dieser Sprachauffassung wird später das „Tableau de la France“ im dritten Buch der Geschichte Frankreichs mit den berühmten Sätzen beginnen: L’histoire de France commence avec la langue française. La langue est le signe principal d’une nationalité. (OC IV: 331) Die Geschichte Frankreichs beginnt mit der französischen Sprache. Die Sprache ist das hauptsächliche Zeichen einer Nationalität. 3.4.2. Im Lichte seines Fortschrittsdenkens sind die frühen Semiosen, die wilden Zeichen des Anfangs, von denen Vicos Scienza nuova handelt, bei Michelet deutlich negativ konnotiert. Für Michelet geht es darum, dass sich die Menschheit in ihrem Aufstieg zum reinen Denken von diesen körperlichen „symboles“ befreit: Im Vorwort zur Römischen Geschichte, das Michelet ganz Vico widmet, macht er gut logozentrisch deutlich, dass die Menschheit zwar von den wilden Zeichen ausgeht, dass sie diese aber in ihrem Aufstieg zur universellen und reinen, signifikantenfreien Rationalität (idée pure) hinter sich lässt wie die Raupe ihren Kokon: Ainsi l’humanité part du symbole, en histoire, en droit, en religion. Mais de l’idée matérialisée, individualisée, elle procède à l’idée pure et générale. Dans l’immobile chrysalide du symbole, s’opère le mystère de la transformation de 21

Zitiert bei Viallaneix 1959: 129f. Dies erinnert stark an folgende Passage aus Humboldts erster Akademierede von 1820: „Es ist alsdann mit den Sprachen, wie mit den Charakteren der Menschen selbst, oder um einen einfacheren Gegenstand zur Vergleichung zu wählen, wie mit den Götteridealen der bildenden Kunst, in welchen sich Totalität aufsuchen, und ein geschlossener Kreis bilden lässt, da jedes das allgemeine, als gleichzeitiger Inbegriff aller Erhabenheiten nicht individualisirbare Ideal von Einer Seite darstellt“ (Humboldt 1903–36 IV: 33).

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l’esprit; celui-ci grandit, s’étend, tant qu’il peut s’étendre; il crève enfin son enveloppe, et celle-ci tombe, sèche et flétrie. (OC II: 341) So geht die Menschheit vom Symbol aus, in der Geschichte, im Recht, in der Religion. Aber von der verkörperten und individualisierten Idee schreitet sie voran zur reinen und allgemeinen Idee. In der unbeweglichen Puppe des Symbols vollzieht sich das Geheimnis der Verwandlung des Geistes; dieser wird größer, erweitert sich, so weit er sich erweitern kann; er durchbricht schließlich seinen Kokon, und dieser fällt ab, vertrocknet und verwelkt. 3.4.3. Ein weiterer Grund für Michelets mangelndes Verständnis des Sprachthemas in der Scienza nuova liegt in der Tatsache, dass Vico ja auch nicht nur von der Sprache spricht, sondern auch von Zeichen und Bildern. Mehr als für die Sprache im engeren Sinne interessiert sich Vico für die Zeichen des Menschen überhaupt. Vicos „linguistische“ Redeweise macht allerdings diese im modernen Sinne semiotische Perspektive nicht recht deutlich. Michelets Interesse an Sprache war dagegen ganz eindeutig auf Sprache im engeren Sinne bezogen.22

4. Michelet als Sematologe Wenn ich auch hinsichtlich der Einschätzung der Scienza nuova als Realisierung des Michelet’schen Sprachprojekts nicht mit Verri übereinstimme, so folge ich ihm doch im Aufsuchen Vico’scher Momente in den folgenden Werken, in der Histoire romaine und in den Origines du droit français.23 4.1. Immer wieder wird in den einschlägigen Arbeiten betont, dass Michelet eigentlich erst in der Einleitung zur Römischen Geschichte 1831 sagt, was ihm Vico bedeute. Ich habe diese Einleitung – und ihre aus meiner Sicht falsche Vico-Interpretation – schon ausführlich zitiert. Die Darstellung der römischen Geschichte selbst, zumindest ihr erster Teil, ist aber insofern echt vichianisch, als Michelet hier ganz nach dem Vorbild Vicos sematologisch vorgeht: Der Einstieg in die römische Geschichte über die römischen Mythen und die frühen Rechtsformeln gemahnt eindeutig an die Scienza nuova – deutlicher noch an die erste Scienza nuova von 1725 als an die von Michelet übersetzte Fassung von 1744. Zwar führt Michelet als sein

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Michelet hat sich aber durchaus, wie Haskell 1993 gezeigt hat, intensiv für Bilder interesssiert. Er hat sie allerdings nicht mit der Sprache in einen sematologischen Zusammenhang gebracht. Da die in Abschnitt 4 und 5 dieses Kapitels behandelten vichianischen Momente in Michelets Werk eher die Freunde Michelets interessieren dürften als die Freunde Vicos, lasse ich hier die Michelet-Zitate unübersetzt.

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Welche Wissenschaft?

unmittelbares Vorbild Niebuhrs Römische Geschichte an, dennoch ist das Vorwort zur Histoire romaine eine einzige Hommage an Vico als Vorgänger Niebuhrs. Diese Vorgängerschaft ist übrigens auch von anderen Zeitgenossen stark empfunden worden, und zwar so sehr, dass sie Niebuhr geradezu des Plagiats geziehen haben.24 Niebuhr selbst hat sich immer geweigert, eine Vertrautheit mit Vico zuzugeben. Auch Michelet wundert sich in einer Rezension der Niebuhr’schen Römischen Geschichte, dass Niebuhr denjenigen verschweigt, der doch das Ganze vorbereitet habe: „je parle de ce pauvre Vico, que l’Allemagne semble commenter depuis un demi-siècle, le plus souvent sans le nommer“ (OC II: 681), „ich spreche von dem armen Vico, den Deutschland seit einem halben Jahrhundert zu kommentieren scheint, zumeist ohne ihn zu nennen“. Das erste Buch von Michelets Histoire romaine, in der die Mythen und frühen Gesetzestexte als Dokumente für die politischen Zustände des frühen Rom interpretiert werden, ist also im Verfahren bis in die Beispiele hinein voller Vico. Ich zitiere zwei Stellen zur Illustration: (1) Über Romulus schreibt Michelet: Le héros romain, le fondateur de la cité, doit être d’abord un homme sans patrie et sans loi, un outlaw, un banni, un bandit, mots synonymes chez les peuples barbares. Tels sont les Hercule et les Thésée de la Grèce. […] La cité commence par un asile, vetus urbes condentium consilium. (OC II: 378 ff.) Und Vico: (SN44: 106) Romulus gründete innerhalb des im Haine eröffneten Asyls Rom auf die Klientelen, die der Schutz waren, den die Familienväter den zu dem Asyl Geflüchteten gewährten, insofern diese als bäuerliche Tagelöhner arbeiteten. (2) Immer wieder stellt Vico etymologische Überlegungen über die Quiriten an, die schließlich auch im Entwurf des Gemeinsamen Geistigen Wörterbuchs erscheinen, in der Liste der „Ansichten“ von den Gründervätern der Nationen. Diese würden (SN25: 389) wegen ihrer Stärke áristoi, von Ares, Mars, also gewissermaßen martialisch genannt […]. Auf dieselbe Art und Weise wurden sie von den lateinischen Stämmen Quiriten oder mit einem – quir genannten – Speer bewaffnete Priester genannt, dies sind die saturnischen Cureti, die die Griechen in Italien beobachtet hatten.25 24 25

So zum Beispiel Orelli 1816. Zit. nach Trabant 1994: 105f.

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Dieselbe Nähe von Mars und quir bei Michelet: Le nom de quirinus et quirites n’est autre que celui de mamertin, puisque mamers était chez les Sabins identique avec quir, lance, et que le Mars sabin n’était autre chose qu’une lance. (OC II: 392) 4.2. Im nächsten Werk, den Origines du droit français cherchées dans les symboles et formules du droit universel, geht es gar nicht so sehr um das „droit français“, sondern eher um das „droit universel“, um die Ur-Institutionen der Menschheit, ganz ähnlich wie Vico sie aus dem frühen römischen Recht, der griechischen Mythologie und sonstigen „primitiven“ Quellen rekonstruiert. Zwar nennt auch hier Michelet wieder einen großen Deutschen, nämlich Jacob Grimm, als das unmittelbare Vorbild seines Unternehmens. Aber auch hier, bei dieser neuen Wissenschaft der „Symbolik des Rechts“ (OC III: 604), wird Vico als Vorgänger gefeiert. Der ausgesprochen universalistische Zug dieses Michelet’schen Werks lässt viel eher an Vico als an Grimm denken. Michelet stellt Vergleiche einfacher Rechtsinstitutionen in verschiedenen Kulturen an, vor allem im römischen, griechischen, germanischen, indischen Recht. Auch das eher unsystematische Vorgehen erinnert an Vico: Michelet springt von Indien zu den Kelten, von den Friesen zu den Römern, von diesen zum mittelalterlichen Frankreich, um – wie Vico – die Universalität und die Vielfalt der konkreten Erscheinungsweisen bestimmter einfacher Rechtsverhältnisse zu zeigen. Parallel zur Scienza nuova von 1725, in der man eine ausgearbeitete Wissenschaft von den Wappen findet, ist der Heraldik auch in den Origines ein ausführliches Kapitel gewidmet ist. Als Beispiel für die „continui riecheggiamente vichiani“, die schon Croce/ Nicolini (1948: 533) in den Origines festgestellt haben, sei hier eine Passage aus dem Kapitel über die Könige zitiert, die gleichsam die aus der römischen Geschichte zitierten etymologischen Überlegungen zu quir fortsetzt – natürlich etymologisch moderner und kühner: Le vrai nom du guerrier, c’est le mâle, celui qui a la force virile: baro26, karl (Kral, Krol, Karolus, nom des chefs ou rois, chez les Slaves et chez les Francs). (G. 282) Peut-être le mot primitif, d’où les quirites de Rome ont tiré leur nom, le mot de quir, pointe, lance, indique-t-il aussi la force virile, le culte du pieu, de Palès et du Phallus. (OC III: 710)

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Auch baro kommt bei Vico in diesem Zusammenhang vor, in der spanischen Form varón, vgl. SN25: 389.

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4.3. Der sematologische Ansatz der Römischen Geschichte und der Origines, die Interpretation von Mythen, Wörtern, Rechtsformeln, ist von Vico abhängig, auch wenn Grimm oder Niebuhr als die direkteren Vorbilder genannt werden. Dennoch bleibt einschränkend sicher wahr, was der strenge Fassò (1968: 525) festgestellt hat, dass nämlich bei Michelet der philosophische Grund dieser Unternehmung fehle. Michelet transformiert – wir haben es oben ja schon gesagt – das Philosophische ins Historische oder Sozialwissenschaftliche. Die philosophische Intention Vicos war es aber, durch die Vielfalt der Zeichen (und der ihnen entsprechenden Rechtsinstitutionen) hindurch die Einheit des menschlichen Geistes (von der das dizionario mentale comune und die storia ideale eterna abhängen) zu rekonstruieren, weil dies die Bedingung der Möglichkeit einer neuen Metaphysik (als Metapolitik) ist. Michelet geht es dagegen in der Römischen Geschichte um die römische Geschichte und in den Origines um einen Rechtsvergleich quer durch die Kulturen, und nicht um philosophische Prinzipien.

5. Michelet poeta 5.1. Bei einem Autor wie Michelet, dem Fassò immerhin bescheinigt, dass er wenn auch kein Philosoph so doch ein Dichter gewesen sei (Fassò 1968: 526), ist es vielleicht aber auch ganz falsch, danach zu fragen, ob er der „Schüler“ im Sinne eines philosophisch-theoretischen Nachfolgers von Vico gewesen sei, und gar auch noch die Treue zur philosophischen Lehre des Lehrers als Ausweis der Schülerschaft einzuklagen. Freilich setzt uns Michelet selbst auf diese Fährte, wenn er sagt: „Je n’eus de maître que Vico“ (OC IV: 14). Aber erstens weichen alle klugen Schüler von ihren Lehrern kreativ ab, und zweitens braucht sich die Schülerschaft ja nicht unbedingt auf die philosophischen Inhalte zu beziehen. Statt als einen philosophischen Lehrer kann man den maître ja auch als einen Handwerks-Meister verstehen, dessen Machen der Lehrling erlernt. Die sematologischen Analysen in den erwähnten historiographischen Werken basieren auf einer solchen Ähnlichkeit des Machens. Im Sinne einer Nachfolge durchs Tun27 – durch praktische Imitation – möchte ich schließlich den folgenden Zug der Historiographie Michelets verstanden wissen: Michelet inkarniert geradezu die zentrale Figur der Vico’schen Philosophie, die er in seiner Version der Scienza nuova so schmählich malträtiert hat: Michelet ist ein poeta im Sinne Vicos, ein bedeutender Schöpfer von Mythen, von „poetischen Charakteren“. Wir haben gesehen, dass das Fassen der ersten Gedanken und das Einrichten der ersten kulturellen Institutionen nach Vico durch die „Poeten“ geschieht, die man 27

Den starken mimetischen Zug Michelets hat Viallaneix folgendermaßen zugespitzt: „Michelet devient Vico, comme il deviendra plus tard Jeanne d’Arc ou Danton“ (1959: 230).

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sich nicht als „Dichter“ im modernen Sinne vorstellen darf, also als zivilisierte und raffinierte Gestalter der Sprache als Kunst, sondern als wilde, über eine noch ganz körperliche Geistigkeit – memoria-fantasia-ingegno – verfügende Schöpfer: poietes „Macher“. Die von ihnen geschaffenen poetischen „Charaktere“ sind wesentlich „graphische“, also visuelle Zeichen und Symbole, aber auch Gestalten wie die Figuren eines Dramas oder wie die schon angeführten Götter- und Heldengestalten. Hinsichtlich ihres logischen Status sind die poetischen Charaktere universali fantastici, phantasiegeschaffene Universalien, also eigentlich logische Wechselbälger: Die Phantasie schafft nur konkrete, besondere Größen, die gerade keine logischen Allgemeinbegriffe sind. Im wilden Denken, das noch keine abstrakten Allgemeinbegriffe kennt, stehen diese phantastischen Kreationen für allgemeine und abstrakte Begriffe, für „Prinzipien“, die als solche noch nicht gedacht werden können. 5.2. Diese „primitive“ Verbindung des Konkreten mit dem Abstrakten ist auch der Grundzug von Michelets Geschichtsschreibung. Allerdings kommt Michelet vom entgegengesetzten Pol der Menschheitsentwicklung, nämlich von der rationalen Begriffsbildung her, zu dieser Verbindung: Während die frühen „göttlichen“ und „heroischen“ Schaffer der Mythen das Allgemeine – das „Prinzip“ – noch nicht als solches denken können, erkennt der moderne, dem „menschlichen“ Zeitalter angehörige Geschichtsschreiber, der die konkreten Gestalten der Geschichte schreibend zum Leben erweckt, das „Prinzip“ in den konkreten Gestalten – und benennt es meistens auch explizit. Michelet ist sozusagen kein „naiver“, sondern ein „sentimentalischer“ poeta.28 Geschichte ist für Michelet ein Kampf der Prinzipien. Klassisch drückt sich das in seiner Geschichte der französischen Revolution aus, in der sich Christentum und Revolution im weltgeschichtlichen Prinzipienstreit gegenüberstehen. Diese Konzeption der Weltgeschichte charakterisiert Michelets Historiographie aber schon seit seiner frühen Histoire universelle von 1831: Asien vs. Europa ist dort zum Beispiel das Prinzip der Fatalität gegen das Prinzip der Freiheit: „La Perse est le commencement de la liberté dans la fatalité“ (OC I: 230). Das Prinzipielle manifestiert sich historisch in konkreten Gestalten bzw. umgekehrt: die konkreten Gestalten repräsentieren oder besser: inkarnieren das Prinzipielle. So schreibt Michelet anlässlich der Ermordung des Herzogs von Orléans:

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„Sinn für die Wirklichkeit“ nennt Humboldt die spezifische Einbildungskraft des Geschichtsschreibers gegenüber der dichterischen Einbildungskraft in seiner Akademieabhandlung „Über den Geschichtschreiber“ von 1821 (Humboldt 1903–36, V: 39), in der die Verwandtschaft – und die Differenz – des Geschichtsschreibers und des Dichters eine klassische Analyse findet.

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Chaque homme est une humanité, une histoire universelle… Et pourtant cet être, en qui tenait une généralité infinie, c’était en même temps un individu spécial, un être unique, irréparable, que rien ne remplacera. (OC V: 352)29 Jeder Mensch ist eine Menschheit, eine Universalgeschichte… Und doch war dieses Wesen, in dem eine unendliche Allgemeinheit lag, gleichzeitig ein besonderes Individuum, eine einmaliges, unwiederbringliches Wesen, das durch nichts ersetzt werden kann. Sofern der Herzog von Orléans und jede andere historische Gestalt, ja jeder Mensch, als diese konkrete einzelne Gestalt ein Universelles repräsentiert, sind sie universali fantastici, aber sozusagen ins Historiographische gewendet: universali fantastici storici. Sofern der moderne Geschichtsschreiber die Gestalt zum Leben erweckt und gleichzeitig das „Prinzip“ der konkreten Gestalt erkennt, ist er Poet, Schöpfer des poetisch-historischen „Charakters“, und Sematologe, Interpret des poetischen Charakters, zugleich. Als Poet schafft er die konkrete Gestalt, die auf jeden Fall sinnhaltig oder „prinzipiell“ ist: „chaque homme est une humanité“. Als Sematologe – als Vico sozusagen – nennt er auch ausdrücklich deren „Prinzip“.30 An zwei Beispielen aus der Geschichte der französischen Revolution sei die typische Form des poetischen Charakters bei Michelet gezeigt, an Kant und Danton. Wo Michelet die Reaktionen auf die ersten revolutionären Ereignisse in der Welt beschreibt, kommt er auch auf Kant zu sprechen, der in Königsberg den Nachrichten aus Frankreich entgegenfiebert. Kant ist aber nicht nur Kant, er ist die Philosophie selbst: Au fond des mers du Nord, il y avait alors une bizarre et puissante créature; un homme? Non, un système, une scolastique vivante, hérissée, dure, un roc, un écueil taillé à pointes de diamant dans le granit de la Baltique. Toute religion, toute philosophie, avait touché là, s’était brisée là. Et lui, immuable. Nulle prise au monde extérieur. On l’appelait Emmanuel Kant; lui, il s’appelait Critique. (HistRev I: 415)

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Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Roland Barthes 1954/1988: 80, der überhaupt als Erster das Augenmerk auf die Strukturen des Michelet’schen Diskurses gelenkt hat. Das komplementäre – und üblichere – Verfahren zur Schaffung phantastischer Universalien ist das im historiographischen Diskurs Michelets ebenfalls häufige Verfahren der Konkretisierung abstrakter Größen durch Personalisierung: Insbesondere Länder sind in Michelets historischer Welt gern durch Prosopopee zu handelnden Charakteren phantastisch gebildet. Berühmt ist aus der frühen Histoire universelle: „La France agit et raisonne, décrète et combat; elle remue le monde; elle fait l’histoire et la raconte“ (II: 249). Und Lieblings-Agent überhaupt ist natürlich „le Peuple», das mit allen Zügen einer Person ausgestattet ist.

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Und Michelets berühmte Identifikation Dantons mit der Republik und mit Frankreich hat ihn ja bei der mehrheitlich robespierristisch eingestellten französischen Revolutionsgeschichtsschreibung bis heute unbeliebt gemacht. Danton repräsentiert für Michelet gegenüber der logischen, analytischen „bourgeoisie philosophique“, der Madame Roland und die Girondisten ebenso angehörten wie Robespierre und die Jakobiner, den ewigen, „organischen“ französischen Bauern: Danton était une force organique: différence profonde de nature et de méthode, qui devait les rendre irréconciliables encore plus que leur haine. Danton […] n’était pas exclusivement homme de son siècle. Il appartenait à un élément très profond des masses qui ne varie pas. C’est comme dans l’Océan; le changement et le mouvement sont en haut, et vous croiriez que l’Océan remue et change; nullement; à vingt ou trente pieds, sauf certains courants, il est immobile. De même, le vaste fond de la population, l’éternel paysan de France. Tout change, il ne change pas. (HistRev I: 1284) Danton ist die Republik. Wenn er verhaftet wird, wird die Republik verhaftet, wenn er stirbt, stirbt die Republik: „Danton arrivant aux prisons, Danton tué par Robespierre, la République égorgée par la République“ (HistRev II: 793) sagen die Royalisten. Für Michelet ist aber Danton ganz allein die Republik, denn Robespierre ist schon wieder das Prinzip der Monarchie: La chute de la République date pour nous, non de thermidor, où elle perdit sa formule, mais de mars, d’avril, où elle perdit sa vitalité. (HistRev II: 796). Die Republik und der „éternel paysan de France“, das ist aber nichts anderes als Frankreich, Dantons Traum des versöhnten Frankreich: Le grand rêve de Danton […] c’était une table immense où la France réconciliée se serait assise pour rompre, sans distinctions de classes ni de partis, le pain de la fraternité. (HistRev II: 807). Wenn Danton stirbt, stirbt dieses republikanische, ewige, brüderliche Frankreich: Cri sincère et désespéré des patriotes atteints au coeur: ,Ils ont décapité la France!ʻ (HistRev II: 809).

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5.3. Während Michelet diesen poetischen Grundzug seines historiographischen Diskurses nicht ausdrücklich reflektiert, versteht er sich ganz bewusst als Schriftsteller, der den Toten eine Stimme gibt, als vates.31 Geschichtsschreibung ist für Michelet die Auferweckung der Toten. Roland Barthes hat mit dem Ausdruck „historien pontife“ (1954/1988: 80) diese Priesterschaft Michelets deutlich bezeichnet. Hiermit erfüllt Michelet ein weiteres Charakteristikum des Vico'schen poeta: Der mythische Ur-Poet ist nämlich Orpheus, der genauer als poeta teologo bezeichnet wird (SN44: 80). Wie Vicos Orpheus so ist der mythopoetische Geschichtsschreiber Michelet ein Beleber der Toten, ein Meister der Auspizien, ein Herr über die Ahnen. 5.4. „Mon Vico, mon Juillet, mon principe héroïque“, diese Phrase aus einer autobiographischen Notiz aus dem Jahre 1854,32 enthält in aller Kürze das geschilderte Verfahren der mythopoetischen Historiographie. Auch seine eigene Geschichte bevölkert Michelet mit poetischen Charakteren. Vico ist ganz offensichtlich der wichtigste poetische Charakter seiner Autobiographie. Das historische Individuum Vico bekommt eine universelle, prinzipielle Bedeutung: Vico wird mit der Julirevolution von 1830 identifiziert und als „principe héroïque“ auf den abstrakten Begriff gebracht. Vico-Juillet ist ein carattere poetico bei Michelet, so wie es die griechischen Götter- und Heldenmythen bei Vico sind. So wie bei Vico die verschiedenen Gottheiten „Prinzipien“, Anfangs- und Ur-Gründe der Geschichte der Menschheit, sind, so ist für Michelet Vico das heroische „Prinzip“ seiner Lebensgeschichte: Vico ist der Anfangs- und Urgrund seines eigenen heroischen revolutionären Anfangs.

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Diesem Moment widmet sich insbesondere Viallaneix 1975. Zitiert bei Viallaneix 1959: 224.

9. Wissenschaft vom mondo civile – Wissenschaft von der Kultur?

1. coltura (SN44: 3) […] la gran selva antica della terra, a cui Ercole […] diede il fuoco e la ridusse a coltura. […] der große alte Wald der Erde, den Herkules in Brand steckte und dem Ackerbau zuführte. (SN44: 4) […] la selva nemea, a cui Ercole diede il fuoco per ridurla a coltura. […] der nemeische Wald, den Herkules in Brand setzte, um ihn dem Ackerbau zuzuführen. (SN44: 14) […] tali Ercoli domarono le prime terre del Mondo, e le ridussero alla coltura. […] solche Herkulesse zähmten die ersten Felder der Welt und führten sie dem Ackerbau zu. Coltura bedeutet in Vicos Scienza nuova nur „Ackerbau“. Und coltura kommt in dem großen Buch immer nur – und zwar elf Mal – im Verbgefüge ridurre a coltura vor: „dem Ackerbau zuführen“.33 In Vicos Narration der Entfaltung des menschlichen Lebens auf der Erde steckt der erste starke Mann der Urwelt – Herkules – den Urwald in Brand und führt ihn damit dem Ackerbau, der coltura, zu. Damit zähmt Herkules die Wildheit der Welt. Das Verb domare, „zähmen“, erscheint ebenfalls im Kontext dieser reductio ad culturam. Die Brandrodung der Wildnis, die Zähmung des großen alten Waldes der Welt („la gran selva antica della terra“), ist der Austritt des Menschen aus der Tierheit. Das ridurre a coltura ist der erste Schritt des frühen Menschen in das, was wir heute „Kultur“ nennen. Das Wort „Kultur“ kennt Vico aber nicht.

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Das wissen wir deswegen so genau, weil die Vico-Forschung über den einfach unverzichtbaren Konkordanzen-Band von Veneziani 1997 verfügt.

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2. mondo civile Dass es das Wort „Kultur“ nicht gibt bei dem, der als „Gründervater aller Kulturwissenschaft“ (Kittler 2000: 29) wiederentdeckt wurde, scheint mir keine triviale Bemerkung zu sein. Mondo civile entspricht natürlich dem, was wir heute „Kultur“ im weitest denkbaren Sinne – als Ensemble aller vom Menschen geschaffenen Dinge – nennen können. Aber der Ausdruck mondo civile akzentuiert eben „Kultur“ doch auf eine ganz spezifische Weise. Zunächst steht der mondo civile im Gegensatz zum mondo naturale, zur natürlichen Welt. Von Anfang an stellt Vico diese beiden Welten schärfstens gegenüber – immer begleitet von einer Polemik gegen die Philosophen, die bisher nur den mondo naturale betrachtet hätten. Aber dann enthält der Ausdruck civile eben doch eine ganz bestimmte, vielleicht am besten „juristisch-semiotisch“ zu nennende Perspektive auf diese der natürlichen Welt gegenüberstehende Welt des Menschen. Mondo civile ist im Deutschen nicht leicht wiederzugeben, und die Übersetzung dieses zentralen Ausdrucks präjudiziert die gesamte Deutung des Werkes. Vico ist ein etymologisch denkender Schriftsteller. Daher ist civile für ihn das italienischlateinische Adjektiv zu cives, civitas, die in Vicos italienisch-lateinisch-griechischem Sprachhorizont auf griechisch polis, polites, politikos verweisen. Darauf habe ich schon im ersten Kapitel aufmerksam gemacht. Den lateinischen und griechischen Wörtern entsprechen viele deutsche Möglichkeiten: „Burg, Bürger, bürgerlich“ – „Stadt, Städter, städtisch“ – „Staat, Staatsbürger, staatsbürgerlich“ – „Gesellschaft, Geselle, gesellschaftlich, gesellig“, aber natürlich auch „politisch“ oder durchaus auch „zivil“. Hobbes, einer der wichtigen (negativen) Bezugsautoren Vicos, hatte De cive („Vom Bürger“) geschrieben, womit er den Menschen als Mitglied eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses (im Gegensatz zum natürlichen Menschen: De corpore und De homine) meinte. „Zivil“ und „zivile Welt“ wäre aber im Deutschen ungewöhnlich in diesem Kontext, das Wort „zivil“ hat sich ja auf Umgangsformen und Kleidung, auf einen Teil des Rechts (Zivilrecht) und auf den Gegensatz zum Militärischen spezialisiert. Vico stellt gleich am Anfang der Scienza nuova (SN44: 2) den mondo civile der Natur wegen einer fundamentalen Eigenschaft des Menschen entgegen, die bisher von den Philosophen übersehen worden sei („nol contemplarono“): Die Haupteigenschaft der Natur der Menschen sei es nämlich, dass sie socievoli, gesellig, seien. Diese gesellige Natur sei das, was den Menschen am eigensten sei: „la parte più propia degli uomini“. Das ist Vicos erste Aussage über den Menschen in der Scienza nuova. Man könnte also für „gesellschaftliche Welt“ als Übersetzung für mondo civile plädieren. „Gesellschaftlich“ klingt sehr modern, soziologisch. Das Wort „gesellschaftlich“ kommt aber im 18. Jahrhundert auf, wäre also durchaus nicht anachronistisch. Auch „politische Welt“ wäre natürlich möglich, denn selbstverständlich ist die Feststellung des geselligen Wesens der Menschen ein Echo der Wesensbestimmung des

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9. Wissenschaft vom mondo civile – Wissenschaft von der Kultur?

Menschen als zoon politikon in der Politik von Aristoteles, selbst wenn Vico hier ungerechterweise behauptet, die Philosophen hätten das politische Wesen des Menschen bisher nicht beachtet. Aber Vico gebraucht auch das Adjektiv politico, so dass man „politisch“ besser für die Vorkommnisse von politico reserviert, zum Beispiel gerade wo er – wie am Anfang der Scienza nuova – Herkules als den eroe politico, den „politischen Helden“, bezeichnet (SN44: 3): Durch die Rodung des Waldes, die Vico als prototypische Aktion gegen die Wildheit der Welt immer wieder hervorhebt, ermöglicht Herkules die Gründung der polis.

3. kulturell Aber natürlich wäre auch „kulturelle Welt“ nicht falsch. Zumal das Wort coltura etymologisch ja die erste „kulturelle“ Handlung des Menschen bezeichnet: Die Rodung des wilden Waldes für die coltura ist die Urhandlung des „politischen Helden“, der damit die Grundlage für die Kultur bereitet. Herkules, die allegorische Figur für die materielle Bearbeitung der Natur, ist einfach die Basis des mondo civile. Er wird daher von Vico auch als erster der beiden Grund-Helden des mondo civile genannt: Zunächst muss einmal materiell der Boden bereitet werden für die Kultur: Wo Wildnis war, muss coltura werden. Dass der Ackerbau die Grundlage für die Kultur ist, dass coltura die Basis von Kultur ist, zeigt augenfällig der folgende Ausschnitt aus der dipintura (Abb. 5).

Abb. 5  Vico, Scienza nuova 1730, Dipintura, Detail

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Aus dem Ur-Wald, der sich dunkel hinter dem Altar auftürmt, aus der „gran selva di questa terra“ (SN44: 13), das heißt aus dem Ort der Wildheit überhaupt, ragt ein Pflug, der sich unter den Altar schiebt und diesen gleichsam trägt. Der Pflug ist das Ur-Instrument der coltura und damit auch der Kultur. Der Pflug, die Agri-Kultur, ist die Basis für den Altar, das heißt für die Religion, auf der die Grundinstitutionen des menschlichen Zusammenlebens basieren: Ehe, Totenbestattung und der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Die Schrifttafel setzt sodann die Linie des Pfluges fort und verlängert die Agri-Kultur auf die „Kultur“ im modernen, eingeschränkten Sinne, auf die Welt der Sprachen und Buchstaben (lingue e lettere). Die Schrifttafel ruht ihrerseits auf einer korinthischen Säule, welche die Modernität symbolisiert, weil sie die neueste der Säulenordnungen ist. Sie verweist auf die letzte Phase der menschlichen Kultur und der Entwicklung der Zeichen. Homer, dem die Tafel gegenüberliegt, steht für den früheren Zustand, sofern er eine noch schriftlose, orale Phase der Kulturentwicklung darstellt. Vico legt Wert auf die Feststellung, dass Homer nicht geschrieben hat, dass er ein carattere poetico ist, eine „Hieroglyphe“, und noch kein „Buchstabe“, wie sie auf der Tafel zu finden sind : (SN44: 23) LA TAVOLA MOSTRA I SOLI PRINCIPJ DEGLI ALFABETI E GIACE RIMPETTO ALLA STATUA D’OMERO; perchè le lettere, come delle greche si ha dalle greche Tradizioni, non si ritruovarono tutte a un tempo: ed è necessario ch’almeno tutte non si fussero ritruovate nel tempo d’Omero, che si dimostra, non aver lasciato scritto niuno de’ suoi Poemi. Die Tafel zeigt nur die Anfänge der Alphabete und liegt der Statue Homers gegenüber; denn die Buchstaben – wie wir von den griechischen aus der griechischen Überlieferung wissen – wurden nicht alle zur selben Zeit erfunden; und man muss annehmen, dass sie zumindest zur Zeit Homers noch nicht alle erfunden waren, da wir zeigen, dass er keines seiner Gedichte schriftlich hinterlassen hat. Coltura (Pflug) und Kultur (Buchstabentafel, Säule, Homer) verweisen in dieser Darstellung metonymisch aufeinander. Dennoch ist der (kaum zu umgehende) Ausdruck „kulturelle Welt“ für mondo civile in zweierlei Hinsicht unpassend: Einerseits ist er ein eklatanter sprachlicher Anachronismus, da das Wort „kulturell“ erst im 20. Jahrhundert aufkommt und damit eine Modernität vorspiegelt, die dem Text aus dem 18. Jahrhundert nicht angemessen ist. Andererseits ist „kulturelle Welt“ insofern nicht präzise, als das „Kulturelle“ im modernen Sinne zumeist nur einen Aspekt des mondo civile bezeichnet und nicht den mondo civile insgesamt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Kittler (2000: 15) ein „Geviert“ von Natur, Technik, Gesellschaft und Kultur aufruft, bei dem die

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9. Wissenschaft vom mondo civile – Wissenschaft von der Kultur?

„Kultur“ von der „Gesellschaft“ unterschieden wird. Der mondo civile umfasst bei Vico aber das Juristisch-Politische und das „Kulturelle“: Die großen Provinzen des mondo civile sind nämlich governi, lingue und giurisprudenze, also politische Organisationsformen, semiotische Weltbemächtungsformen und politisch-juristische Theorien. Im vierten Buch der Scienza nuova fächert Vico diese Gebiete auf: nature, costumi, diritti naturali, governi, lingue, caratteri, giurisprudenze, autorità, ragioni, giudizj, sette di tempi, das heißt er betrachtet Regierungsformen, Rechtsformen, Gebräuche, Mentalitäten, Zeichen, Sprachen, Religionen. Bei Vico wird also gerade keine Trennung von Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft vorgenommen, sondern das Soziale oder Politische und das im engeren Sinne „Kulturelle“ gehören zusammen, sie bilden zusammen den mondo civile. Es fällt allerdings umgekehrt auch auf, dass große Bereiche des „Kulturellen“ im engeren Sinne nicht behandelt werden: die Künste, Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik, Tanz, aber auch Alltagskultur, Geräte und Techniken spielen bei Vicos Betrachtung des mondo civile kaum eine Rolle. Ich gleite im vorliegenden Buch durchaus mit einer bewussten Ungenauigkeit über die terminologische Schwierigkeit hinweg. Ich sage am liebsten mondo civile oder „Menschenwelt“, manchmal auch „gesellschaftlich“, „zivil“, „kulturell“, selten „politisch“ – und nie „geschichtlich“.

4. geschichtlich Erich Auerbach (Vico 1924) übersetzt aber civile gerade zumeist mit „historisch“, „geschichtlich“ oder „in der Geschichte“ (manchmal auch mit „politisch“).34 Damit stellt er Vico in die Tradition der Diltheyschen Begründung der Geisteswissenschaft als Wissenschaften von der „geschichtlichen Welt».35 Dies ist natürlich angesichts der so dominanten diachronischen Perspektive Vicos nicht falsch. Der mondo civile ist ein sich in der Geschichte entfaltender. Aber es gibt zwei Gründe, die gegen „geschichtlich“ sprechen. Einerseits einen innertextuellen: Vico kennt das Adjektiv storico und setzt es dort ein, wo er „historisch“ oder „geschichtlich“ sagen möchte, wo er also ausdrücklich auf die zeitliche Dimension verweist. Andererseits evoziert „geschichtliche Welt“ oder „historische Welt“ eben den philosophischen Kontext der Diltheyschen Begründung der Geisteswissenschaften und das heißt eine hermeneutische Epistemologie, die bei Vico nicht zu finden ist. Es geht in der modernen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik ja darum, das Verstehen und Interpretieren partikularer historischer Phänomene als wissenschaftsförmiges Handeln zu rechtfertigen. Aber das ist bei Vico einfach nicht der Fall, auch wenn Kittler (2000: 35f.) – in der Tradition der deutschen Vico-Rezeption – schon bei Vico den Anfang 34 35

Auch in den Vico-Aufsätzen (Auerbach 1967) ist immer von „geschichtlich“ die Rede. Vgl. Dilthey 1910.

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einer hermeneutischen Epistemologie der Kulturwissenschaft entdecken will. Kittler sieht Hermeneutisches an der oft zitierten Stelle (SN44: 34), wo Vico die Schwierigkeit der Entdeckung des Hauptschlüssels seiner Wissenschaft betont, die ihn sein ganzes literarisches Leben gekostet habe. Dort sei von „Verstehen“ die Rede. Das ist aber nur in Auerbachs deutscher Übersetzung der Fall, nicht im italienischen Original. Vico erläutert an der Stelle, warum es so schwer gewesen ist, zu dieser Entdeckung zu gelangen: […] perocché tal natura poetica di tai primi uomini in queste nostre ingentilite nature egli è affatto impossibile immaginare, e a gran pena ci è permesso d’intendere. (SN44: 34) Auerbach übersetzt die Stelle folgendermaßen: […] weil es unserem heutigen, zivilisierten Wesen ganz unmöglich ist, sich die dichterische Natur solcher ersten Menschen vorzustellen, und es uns nur mit großer Mühe gestattet ist, sie zu verstehen (Vico 1924: 66, Hervorhebung J. T.). Vico konstatiert hier, dass wir Modernen uns mit unserer rationalen Mentalität von dieser wilden Vorzeit und dem wilden phantastischen Denken überhaupt kein Bild machen können, immaginare (unsere Phantasie ist viel zu schwach), und dass wir sie kaum rational durchdringen können: intendere. Das von Vico verwendete italienische Verb intendere bedeutet „rational begreifen, erfassen“.36 Der terminus technicus für das „Verstehen“ in der modernen Hermeneutik im Italienischen ist comprendere. Comprendere benutzt Vico aber überhaupt nicht in diesem Sinne, es bedeutet bei ihm nur „umfassen, zusammenfassen“, nicht „verstehen“. Die Stelle SN44: 34 taugt einfach nicht als Beleg für die Präsenz eines hermeneutischen Ansatzes bei Vico. Es geht an dieser Stelle überhaupt nicht um epistemologische Fragen, also um das, was „Verstehen“ in der Hermeneutik heißt, das Erfassen eines historisch-partikularen Gegenstandes und das damit verbundene zirkuläre Vorgehen.

36

Mit „begreifen“ übersetzen es daher auch Hösle/Jermann in Vico 1990a.

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9. Wissenschaft vom mondo civile – Wissenschaft von der Kultur?

5. Wissenschaft Es gibt keine Proto-Hermeneutik bei Vico. Es ist sogar ausdrücklich das Gegenteil der Fall: Vico bezieht sich im wissenschaftstheoretischen Absatz 163 explizit auf zwei Prinzipien, die beide Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen Epistemologie sind: erstens auf das aristotelische Prinzip, dass Wissenschaft nur vom Universellen und Ewigen gemacht werden darf: scientia debet esse de unversalibus et aeternis. Es geht also gerade nicht um das Partikulare, sondern um die universellen Gesetze hinter den besonderen Ereignissen und Dingen. Und zweitens bezieht er sich ausdrücklich auf Bacons induktive Methode, die die beste wissenschaftliche Methode sei und die er von den natürlichen Dingen auf die umane cose civili übertrage. Das heißt nichts anderes, als dass aus dem partikularen empirischen Material universelle und ewige Wahrheiten zu gewinnen sind. Nur diese sind Wissenschaft, scientia. Vicos Epistemologie ist keine Hermeneutik sondern die Übertragung einer naturwissenschaftlichen induktionistischen Forschungslogik auf den mondo civile.37 Dies entspricht der allgemeinen Zielsetzung seiner Neuen Wissenschaft. Wie Descartes und Kant stellt Vico die Grundfrage aller (theoretischen) Philosophie: Was können wir wissen, wo finden wir sicheres Wissen, wo finden wir scientia? Und hier ist nun die radikal neue Antwort Vicos: Wir finden Wissenschaft, sicheres Wissen des Wahren in den gesellschaftlichen und semiotischen Produktionen des Menschen und nicht in der Natur, weil wir nur das erkennen können, was wir selbst gemacht haben. Bei Vico bekommt also die Wissenschaft ein neues Substrat: den mondo civile. Bei den neueren hermeneutischen Bemühungen bekommt umgekehrt die kulturelle Welt eine Wissenschaft.

6. Kultur-Wissenschaft Allerdings – und insofern ist Vico dann doch der Gründer der Kulturwissenschaft, oder sagen wir besser: einer ganz bestimmten Kulturwissenschaft – erhält natürlich dadurch, dass die Kultur nun das Substrat für sicheres Wissen ist, diese einen neuen Status. War „Kultur“, der mondo civile, traditionellerweise nur die Basis für inferiore geistige Einsichten, für das Sammeln und Erinnern (memoria), nicht für höchste, rationale Einsichten, so bekommt sie jetzt eine neue Würde. Gerade in ihr findet der Geist nun ewige und universelle Gesetze. Der mondo civile kann nämlich nicht nur deswegen wissenschaftlich erkannt werden kann, weil er vom Menschen gemacht ist, sondern auch, weil dieses Machen universell nach denselben Gesetzen abläuft. Die universelle Einförmigkeit des mondo civile ist die zweite Bedingung für

37

Zu Vico und Hermeneutik vgl. Woidich 2007.

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Welche Wissenschaft?

seine Eignung als Substrat für Wissenschaft. Die Menschen handeln zwar durchaus verschieden, sie gehen auf „verschiedenen Wegen“ (diverse vie, SN44: 2), sie werfen mit ihren Zeichen „verschiedene Blicke“ (diversi aspetti, SN44: 161) auf die Welt. Aber diesen oberflächlichen Verschiedenheiten liegen universelle Einförmigkeiten und Gesetzmäßigkeiten zugrunde.38 Wie er sich diese Universalität vorstellt, exemplifiziert Vico einmal am Beispiel des Wortes „Vater», des Gründers der polis: Es gibt nicht nur ein Wort für den Vater, sondern vierzehn verschiedene Wörter, die alle den „Herkules“, den politischen Gründungsvater, bezeichnen: Leviti, Caldei, Maghi, Poeti, Eroi, Re, Aristoi, Cureti/Quiriti, Eraclidi, Optimi, Heri, Viri, Padri. Wenn man die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter betrachte, so könne man darin zwölf verschiedene Eigenschaften (propietà) unterscheiden, die sich in verschiedenen Mischungen in den Wörtern finden. Diese zwölf Eigenschaften der Väter sind: 1. Gotteserfinder, 2. Vater sicherer Kinder, 3. Herkunft von Herkules, 4. Weiser/Zauberer, 5. Opferbringer, 6, Herr über Familie, 7. Stärke, 8. Großmut, 9. Ruhm, 10. Herr über das Land, 11. Waffengewalt, 12. Gesetzesmacht. Das Verhältnis der verschiedenen Wörter zu den semantischen Zügen stellt sich folgendermaßen dar:

Alle diese Verschiedenheiten zusammengenommen bilden dann die voce mentale comune, das gemeinsame geistige Wort. Die Vielfalt ist in der universellen Einheit aufgehoben. Das Ensemble solcher Wörter für die fundamentalen politischen Institutionen wäre dann das dizionario mentale comune, das, wie das Beispiel zeigt, die Verschiedenheit in der Universalität bewahrt. So muss man sich strukturell auch die Universalität der politischen Formen vorstellen: Durch die verschiedenen politischen Einrichtungen scheint das universelle Recht (diritto universale) hindurch. Der mondo civile entfaltet sich in aller Ver38

Näheres dazu siehe das nächste Kapitel.

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9. Wissenschaft vom mondo civile – Wissenschaft von der Kultur?

schiedenheit historisch nach einer storia ideal eterna, einer ewigen idealen Geschichte, die bei allen Nationen dieselbe ist. Und genau dies interessiert Vico, denn genau dies ermöglicht Wissenschaft: „scientia debet esse de universalibus et aeternis“. Das Ewige und Universelle sind die identischen politischen und semiotischen Strukturen, die sich einer tiefen Einheit des menschlichen Geistes (uniformità d’idee, SN44: 3) verdanken. Die Wissenschaft von der Kultur, die hier begründet wird, instauriert nicht die Hermeneutik als neues Verfahren der wissenschaftlichen Annäherung an (partikulare) kulturelle Gegenstände, sondern ist eine Wissenschaft, welche die epistemologischen Grundsätze alter und neuzeitlicher Naturwissenschaft bewahrt (Induktion des Allgemeinen aus dem empirischen Material), diese aber gerade nur in der Kultur – bzw. genauer: im mondo civile – überhaupt für erfüllbar hält. In Letzterem besteht ihre Neuheit: scienza nuova.

10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

1. Filologia 1.1. Vicos Wende gegen die gesamte Philosophie Europas, sicheres Wissen, scienza, nicht dort zu suchen, wo die Wissenschaftler-Philosophen es bisher gesucht haben, in der Natur, sondern in der Welt der Menschen, im mondo civile, ist eine Provokation. Sie ist deswegen so ungeheuerlich, weil die Welt der menschlichen Dinge bis dahin als eine Anhäufung von unendlich verschiedenen, sich verändernden Dingen in Raum und Zeit betrachtet wurde, als ein durch Zufälligkeiten und Kontingenzen geprägtes Sammelsurium: historische, zufällige Ereignisse, verschiedene Sprachen, Texte, Mythologien etc. Und genau in diesem Bereich soll nun Wissenschaft zu suchen sein. Der mondo civile wurde zwar durchaus von Gelehrsamkeit erfasst, von Grammatikern, Historikern, Juristen und anderen. Vico nennt das Ensemble dieser Disziplinen filologia. Aber filologia ist nicht Wissenschaft, scienza, sondern Lehre, dottrina: (SN44: 7) la Dottrina di tutte le cose le quali dipendono dall’umano arbitrio, come sono tutte le Storie delle Lingue, de’ Costumi e de’ Fatti così della pace, come della guerra de’ popoli. die Lehre von allen Dingen, die vom menschlichen Willen abhängen, wie es alle Geschichten der Sprachen, der Sitten und der Fakten des Friedens und des Kriegs der Völker sind. Vom arbitrio umano, vom Willen des Menschen, hängen die Gegenstände der filologia ab. Das klingt nicht danach, dass diese Dinge wissenschaftsfähig sind: Menschlicher Wille und menschliche Willkür generieren ja eher Chaos als Ordnung. Wie kann das Chaos der menschlichen Dinge Wissenschaft, also sicheres Wissen, gewähren? Es gibt zwei Bedingungen für die Möglichkeit von scienza: Der Grund für Vicos grundstürzende Wende der Philosophie ist ja einerseits das Prinzip des verum

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10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

et factum convertuntur, dass man nur das sicher erkennen kann, was man selbst gemacht hat. Den mondo civile haben die Menschen gemacht, also können sie ihn auch erkennen. Aber damit aus unseren Denkbemühungen richtige Wissenschaft herauskommt, muss das Nachdenken über die menschlichen Ding noch einer zweiten Bedingung gehorchen: Es muss vom Universellen und Ewigen handeln, es muss Universelles zutage fördern. Modern würden wir sagen: Es muss allgemeine Gesetze generieren. Diese zweite Bedingung kann der mondo civile nun deswegen erfüllen, weil die menschliche Willkür zwar durchaus Verschiedenes in verschiedenen Zeiten und Räumen erzeugt, diesen Verschiedenheiten aber Universelles zugrunde liegt. Der Mensch ist nämlich in allen Zeiten und Räumen zutiefst derselbe. Alle Menschen haben einen gemeinsamen Sinn, „il senso comune degli uomini d’intorno alle umane necessità e utilità“ (SN 44: 141, degnità XI), „den gemeinsamen Sinn für das dem Menschen Notwendige und Nützliche“. Dem Verschiedenheiten erzeugenden arbitrio liegt also ein universelles Gemeinsames zugrunde. Die universellen und ewigen Gesetze des comune müssen im willkürlich Wandelbaren herausgefunden werden. Denn sie sind die Wissenschaft. Philologie ist alles, was die Gelehrten von der menschlichen Welt zusammentragen und untersuchen, von den Sprachen, den Sitten und Friedens- und Kriegstatsachen. Philologen sind: (SN44: 139) […] tutti i Gramatici, Istorici, Critici che son’ occupati d’intorno alla cognizione delle Lingue, e de’ Fatti de’ popoli, così in casa, come sono i costumi e le leggi, come fuori, quali sono le guerre, le paci, l’alleanze, i viaggi, i commerzi. […] alle Grammatiker, Geschichtsschreiber, Kritiker, die sich mit der Erkenntnis der Sprachen und der Taten der Völker befassen, und zwar sowohl derjenigen im Innern, wie der Sitten und Gesetze, als auch der auswärtigen, wie der Kriege, Friedensschlüsse, Bündnisse, Reisen, Handelsbeziehungen. Philologie beschäftigt sich nach Vico also nicht nur mit Texten, sondern hat einen sehr umfassenden, ja totalen Gegenstandsbereich. Über die sprachlichen Sachen, lingue, hinaus sind alle vom Menschen erzeugten Dinge Gegenstände der Philologie: „tutte le cose che dipendono dall’umano arbitrio“ (SN44: 7). Vico präzisiert auch den Raum dieser Dinge: sowohl in casa, in der Nähe, als auch in der Ferne, fuori, und alle Völker, tutte le nazioni, sind anvisiert. Philologie ist global. Aber die Philologie ist nicht Wissenschaft, scienza, sondern dottrina, Lehre. Das ist eine niedrigere Form des Wissens. Wie wird nun aus der dottrina Wissenschaft, scienza? Die Philosophie macht sich daran, die philologischen Dinge wissenschaftlich zu bearbeiten: Vico nennt das Verfahren, in dem das geschieht, eine nuova arte critica, eine „neue kritische Kunst“, die er gleich am Anfang (SN44: 7) erläutert: „La

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Welche Wissenschaft?

Filosofia si pone ad esaminare la Filologia“, „Die Philosophie überprüft die Philologie.“ „Angesichts der bedauerlichen Dunkelheit der Ursachen und der gleichsam unendlichen Vielfalt der Wirkungen“ ist sie bisher davor zurückgeschreckt, sich mit dem Philologischen rational auseinanderzusetzen (ragionare): „per la di lei deplorata oscurezza delle cagioni e quasi infinita varietà degli effetti, ha ella quasi un orrore di ragionarne“. Sie verlor sich in der Dunkelheit und in der Vielfalt. Nun aber macht die Philosophie die Philologie zur Wissenschaft: „la riduce in forma di Scienza.“ Und sie kann es, weil den menschlichen Dingen Universelles zugrundeliegt, das daher auch zutage gefördert werden kann, also: „col discovrirvi il Disegno di una Storia Ideal Eterna, sopra la quale corrono in tempo le Storie di tutte le Nazioni.“ Die Philosophie entdeckt in der Philologie den „Plan der ewigen idealen Geschichte“, etwas was in allen Nationen gleich ist: „in tutte le nazioni“. Durch diese Begegnung der Philologie mit der Philosophie wird auch die Philologie eine andere. Das sieht man zunächst daran, dass Vico durchgehend die „alte Philologie“ kritisiert. Oft gibt es Sätze wie: „Die Philologen haben bisher geglaubt, dass …“. Ein Beispiel für einen solchen „Irrtum“ der alten Philologie ist die traditionelle Sprachauffassung, der Vico sein alternatives Sprachkonzept entgegenstellt. In kurzer konzentrierter Form kritisiert er, dass die Philologen bisher angenommen haben, dass die Sprachen „willkürlich bedeuten“: Ma delle Lingue volgari egli è stato ricevuto con troppo di buona fede da tutti i Filologi, ch’elleno significassero a placito. (SN44: 444). Die Grammatiker hätten aus Unwissenheit die Maxime ausgegeben, dass die menschlichen artikulierten Wörter, a placito, also „willkürlich“, etwas bedeuten. Das ist zwar ungerecht gegenüber den Grammatikern, denn es war Aristoteles, der Philosophus, der diese Maxime erfunden hat. Wie dem auch sei, die philosophische Überprüfung dieser Annahme – durch Vico – zeigt, dass die Wörter „natürlich“ bedeutet haben müssen „per queste lor'origini naturali, debbon aver significato naturalmente“ (ebd.). Der „natürliche“, das heißt bildhafte, mimetische, poetische Ursprung der Sprache ist Vicos mit der neuen kritischen Kunst gefundene wissenschaftliche Wahrheit. Indem Vico die Philosophie auf das Gebiet der Philologie lenkt, gewinnt diese also eine in dreifacher Hinsicht veränderte Position in der Systematik der Disziplinen: Erstens ist sie nicht mehr nur die Rumpelkammer der Gelehrsamkeit. Sie stellt im Gegenteil das Material bereit, in dem Wissenschaft möglich ist. Sie hat dadurch eine höhere Position als zuvor: Denn im mondo civile kann sich der Mensch selbst erkennen, wissenschaftlich. Philologie gewinnt eine neue Würde. Zweitens muss Vico wegen der philosophischen Perspektive auf das Universale den Gegenstandsbereich der Philologie auf alle Artefakte des Menschen erweitern. Philologie ist nicht mehr nur das Studium der Text-Welt wie in der Tradition. Philologie umfasst jetzt

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10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

viel mehr: Sprachen, historische Tatsachen, Sitten, also alle vom Menschen gemachten Gegenstände. Philologie ist total. Drittens bringt die Suche nach den universalia et eterna in den menschlichen Dingen nicht nur eine Erweiterung auf andere Gegenstände als Texte sondern notwendigerweise auch eine Globalisierung mit sich. Nicht nur die Texte der Griechen und Römer sind Gegenstand der Philologie, sondern die kulturellen Gegenstände aller Völker der Erde. 1.2. „La riduce in forma di scienza.“ Wie geht Vico konkret bei der Reduktion der Philologie auf Wissenschaft vor? Die dipintura ist eine Visualisierung dieser Verwissenschaftlichung der Philologie. Das Bild zeigt zunächst das Verfahren selbst, die reductio ad scientiam: Die Philosophie steht auf dem Globus und beleuchtet die universalia et eterna des mondo civile. Aufgrund des Studiums eines riesigen philologischen Korpus hat Vico die auf dem Bild dargestellten universellen Einrichtungen der Menschheit gefunden. Alle diese „Prinzipien“ hat Vico aus seinem philologischen Material als universelle und ewige Gesetzmäßigkeiten induziert oder auf die „Form der Philosophie“ reduziert. Ein zweites Beispiel für die Reduktion der Philologie auf Wissenschaft ist Vicos Geschichte des Denkens und der Sprache, wie ich sie in diesem Buch dargestellt habe: Wie die bestioni – heute würden wir von menschenähnlichen Primaten sprechen – durch die Begegnung mit mächtigen Naturgewalten die ersten Gedanken in visuellen und lautlichen Zeichen und Bildern, in poetischen Charakteren fassen und wie sich diese in einer storia ideal eterna in die modernen Sprachen und Schriften verwandeln, diese universelle Geschichte ist eine aus den Erzählungen der alten Völker, aus Homer, aus Platon, aus der Bibel, aus alten Rechtsquellen geschöpfte „Reduktion in die Form der Wissenschaft“. Als drittes Beispiel sei die Art und Weise erwähnt, wie Vico aus den ihm verfügbaren Geschichten universelle „Prinzipien“ induziert, also wie er zum Beispiel aus allerlei philologischem Material über die Göttin Juno dann das als universell angesehene Prinzip der Ehe destilliert. Über etliche Seiten (SN44: 505–515) trägt Vico alles zusammen, was er über diese Gottheit aus der Mythologie, aber auch aus dem römischen Recht und von antiken Autoren weiß. Einen Eindruck von der Art und Weise, wie Vico die Philologie auf Wissenschaft reduziert, mag die folgende Passage über Juno und die Ehe aus der ersten Scienza nuova geben. Zunächst wird das „Prinzip“ an einem poetischen Charakter festgemacht: „Juno ist das Prinzip der feierlichen Eheschließungen“. Sodann wird das philologische Material ausgebreitet, welches in das Prinzip eingeflossen ist. Die Passage erhellt dergestalt Vicos konkretes Allgemeines, das universale fantastico: (SN25: 414) Juno ist das Prinzip der feierlichen Eheschließungen, das heißt der mit den Auspizien Jupiters gefeierten; und daher wird sie giogale genannt,

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vom Joch [giogo] der Ehe, und Lucina, die die sicheren Kinder zum zivilen Licht [luce civile] bringt. Sie ist Jupiters Schwester und Gattin; denn die ersten Ehen wurden geschlossen zwischen denen, die an den Auspizien Jupiters teilhatten. Sie ist eifersüchtig auf Jupiter, aber mit einer strengen Eifersucht, wie sie Gesetzgebern zukommt, die Völker und Nationen gründen sollen; eifersüchtig bedacht darauf, die Ehen denen zukommen zu lassen, die keine Gemeinschaft der Auspizien mit Jupiter haben. Sie ist unfruchtbar, aber sozusagen von einer zivilen Unfruchtbarkeit; daher blieb es gemeinsame Sitte bei allen Nationen, dass die Frauen keine Hausstände gründen. Sie schwebt in der Luft, dem Ort der Auspizien: mit einem Seil am Hals, wegen der ersten Gewalt, die, wie wir oben sagten, von den Giganten den herumstreifenden Frauen angetan wurde, mit der diese sie in ihre Höhlen schleppten und sie dort festhielten; daher stammen die sicheren Erbfolgen der Häuser oder der Gentes Maiores. Auch an den Händen war sie mit einem Seil gebunden, das der erste eheliche Knoten war, dem als Zeichen bei fast allen Nationen der Ring folgte; mit zwei großen Steinen an den Füßen, um die Beständigkeit der Ehen zu bezeichnen, die niemals geschieden wurden. Daher wurde die Scheidung bei den Römern auch erst sehr spät eingeführt; daher nannte Vergil die feierliche Ehe conjugium stabile. Mit solcher Leichtigkeit erklärt sich also diese Fabel, die anfangs eine der größten Qualen für das Ingenium der Mythologen war. Der Juno ist der Pfau geweiht, dessen Schwanz den Farben der Iris ähnelt, die ihre Dienerin ist, um die Luft zu bezeichnen, die der Ort der Auspizien ist, durch welche Juno die Göttin der feierlichen Ehen ist. Die Notwendigkeit des Findens von universalia et eterna für die Wissenschaft im mondo civile macht also das denkbar weiteste Konzept von Philologie nötig: alles in der Menschenwelt ist Gegenstand der filologia, und dies in allen Nationen: global. Der Globus der dipintura symbolisiert auch diese Weltweite der Philologie. Dieses totale und globale Konzept von Philologie ist – in seiner Beziehung auf Wissenschaft – extrem ehrgeizig. Es nähert die Philologie der Wissenschaft an. Jedenfalls hat es so gewirkt, dass die „philologischen Fächer“ sich gerade im Anschluss an Vico als „Wissenschaften“ verstehen konnten. 1.3. Wilhelm von Humboldt gründet nicht nur die Universität Berlin, sondern mit ihr einen neuen Typ von Universität in den deutschsprachigen Ländern: eine forschende Universität. Das war Anfang des 19. Jahrhunderts etwas durchaus Neues: „Immer im Forschen bleiben“ war das Gesetz der neuen Universität (Humboldt 1903–36 X: 251). An der Universität wurde jetzt ausdrücklich Wissenschaft (scientia) betrieben, nicht nur Lehre (doctrina) erteilt. Das heißt auch, dass alle dort gelehrten Disziplinen sich als Wissenschaften verstehen sollten und begründen mussten,

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10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

wieso sie Wissenschaften waren. Für die Naturwissenschaften war dies kein Problem. Sie waren einfach immer als Wissenschaften angesehen worden. Aber für die Geschichte und die Textwissenschaften, die Philologien, war das nicht so einfach. Worin bestand ihre Wissenschaftlichkeit? Diese wurde eigentlich mehr präsupponiert als ausdrücklich begründet. Und da kam – am Ende des 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Entwicklung einer Wissenschaftstheorie für die Geisteswissenschaften – Vico gerade recht: Wir können Wissenschaft von unseren menschlichen kulturellen Sachen haben, ja gerade von diesen, weil wir sie gemacht haben und sie deswegen auch verstehen können. Aus diesem Grundsatz Vicos schöpft die geisteswissenschaftliche Hermeneutik die Gewissheit ihrer Wissenschaftlichkeit.39 Die zweite Bedingung für Wissenschaftlichkeit, dass die Wissenschaft von den universalia et eterna handeln muss, hat diese Vico-Rezeption allerdings nicht aufgenommen.

2. Philologie Wilhelm von Humboldts welthistorische Bedeutung liegt in der soeben er­­ wähn­­ten Großtat der Gründung der Forschungs-Universität. Universität ist eine Anstalt, in der Professoren und Studenten gemeinsam Wissenschaft betreiben. Das ist neu 1810. Der englische Journalist Peter Watson nennt dies „Humboldt’s gift“, Humboldts Geschenk an die Menschheit (Watson 2010: 225ff.). Humboldts zweite welthistorische Großtat ist die Erfindung der Linguistik. Humboldt nennt sie „das vergleichende Sprachstudium». Humboldt erfindet die Linguistik als strukturelle Beschreibung und Vergleichung aller Sprachen der Welt.40 2.1. Zunächst aber hatte Humboldt sich etwas als wissenschaftliches Betätigungsfeld vorgenommen, das der Vico'schen filologia weitgehend entsprach: nämlich die Beschreibung aller empirischen Erscheinungsformen des Menschen. Es geht vor allem um die kulturellen Formen, die natürlichen Differenzen spielen dabei allerdings auch noch eine Rolle, zum Beispiel der Unterschied der Geschlechter. Humboldt nennt dies „Anthropologie“. Das war die gängige Bezeichnung für die Erkundung der besonderen Manifestationen des Menschen im 18. Jahrhundert – in Abgrenzung zur Philosophie, die über die universellen Eigenschaften des Menschen reflektiert. In diesem riesigen Gegenstandsbereich des Anthropos findet Humboldt dann das Zentrum des Menschen und der Anthropologie – und das ist die Sprache. Humboldt weitet die Anthropologie also nicht aus wie Vico die Philologie, sondern konzen-

39 40

Vgl. Auerbachs Vico-Aufsätze in Auerbach 1967. Vgl. Trabant 2012.

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triert sie auf einen Gegenstand. Dieser ist aber immer noch groß genug: alle Sprachen der Welt. Global ist dieser Gegenstand allemal. Eine solche Wissenschaft hatte vor ihm Leibniz vorgeschlagen. Leibniz hatte 1765 geschrieben: „on mettra en dictionnaires et grammaires toutes les langues de l’univers“ (Leibniz 1765/1966: 293), „man wird alle Sprachen der Welt in Wörterbücher und Grammatiken bringen.“ Leibniz begründet auch, warum man einen solche völlig verrückte Idee realisieren muss: weil die Sprachen die „wunderbare Vielfalt der Operationen unseres Geistes“ zeigen und weil daher die Beschreibung aller Sprachen der Welt die Wissenschaft vom menschlichen Geist ist. Genau diese Leibnizsche Idee aus den Nouveaux Essais greift Humboldt auf und begründet sie ausführlich in seiner Sprachphilosophie. Dazu muss er aber erst einmal die gängige falsche Vorstellung von Sprache beiseiteräumen. Dies ist die aris­ totelische Sprachauffassung, gegen die schon Vico gekämpft hat: die Vorstellung also, dass Wörter nur zur Kommunikation dienen und dass sie arbiträre Zeichen sind. Für Humboldt sind Sprachen vor allem zum Denken da, zum Denken der Welt, sie sind kognitive Instrumente, Denk-Sachen. Und sie sind „Weltansichten“, also „Bilder der Welt“, die überhaupt nicht a placito, „willkürlich“, sind. Jede Sprache ist eine besondere Ansicht der Welt, deswegen manifestiert sich in ihnen der Reichtum des menschlichen Geistes, und diesen zu beschreiben ist der Zweck der Sprachwissenschaft: Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (Humboldt 1903–36 IV: 27) Eine solche kognitive Sprachwissenschaft ist eine neue Wissenschaft vom menschlichen Geist – und tatsächlich ein zweites Geschenk an die Menschheit. Wie geht das „vergleichende Sprachstudium“ vor? Hier tut sich die deutliche Differenz zu Vico auf: Humboldts Sprachwissenschaft soll die jeweilige Individualität jeder Sprache deskriptiv erfassen, also gerade nicht das Universelle und Ewige. Man muss jede Sprache als individuellen „feingewebten Organismus“ darstellen (Humboldt 1903–36 IV: 1). Die strukturellen Deskriptionen von Sprachen in Grammatiken und Wörterbüchern sind aber, so Humboldt weiter, nur die Skelette der Sprachen, „todte Gerippe“. Sprachen sind lebendig erst in ihren Reden und Texten. Sprache ist Sprechen. Erst im Sprechen und Schreiben bekommt die Sprache ihre lebendige Form – oder wie er sagt – ihren „Charakter“, in einer völlig anderen Ver-

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10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

wendung dieses Ausdrucks als bei Vico! Wir müssen also Texte und Reden in jeder Sprache studieren. Und hier kommt dann die Philologie ins Spiel. In seinem Hauptwerk Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (Humboldt 1836) zeigt Humboldt die Verschiedenheit der Sprachen zunächst an verschiedenen morphosyntaktischen Verfahren, also an dem, was er den „Bau“ – modern „Struktur“ – nennt. Aber da Sprache wesentlich Sprechen ist, muss man sie als Tätigkeit, als energeia, beobachten, das heißt man muss die Sprachen in ihren Texten und Diskursen betrachten. Eine solche Textarbeit macht traditionell die Philologie, die nun mit der Linguistik zusammenkommen müsse. Den „Charakter“ einer Sprache, das heißt die Individualität einer Sprache, könne man nur von Sprachen erfassen, die eine reiche Textproduktion haben, welche durch die Philologie bearbeitet werde: Diese Gattung der Sprachforschung erfordert daher eine kritisch genaue Bearbeitung der in einer Sprache vorhandenen schriftlichen Denkmäler und findet einen meisterhaft vorbereiteten Stoff in der philologischen Behandlung der Griechischen und Lateinischen Schriftsteller. […] So enge auch die Zerglie­ derung der Sprache, die Aufsuchung ihres Zusammenhanges mit verwandten und die nur auf diesem Wege erreichbare Erklärung ihres Baues mit der Bearbeitung der Sprachdenkmäler verbunden bleiben muss, so sind es doch sichtbar zwei verschiedene Richtungen des Sprachstudiums, die verschiedene Talente erfordern und unmittelbar auch verschiedene Resultate hervorbringen. Es wäre vielleicht nicht unrichtig, auf diese Weise Linguistik und Philologie zu unterscheiden und ausschliesslich der letzteren die engere Bedeutung zu geben, die man bisher damit zu verbinden pflegte, die man aber in den letztverflossenen Jahren, besonders in Frankreich und England auf jede Beschäftigung mit irgend einer Sprache ausgedehnt hat. Gewiss ist es wenigstens, dass die Sprachforschung, von welcher hier die Rede ist, sich nur auf eine in dem hier aufgestellten Sinne wahrhaft philologische Behandlung der Sprachdenkmäler stützen kann. (Humboldt 1903–36 VII: 173f.) Philologie ist also ganz traditionell das Studium und die Bearbeitung von Texten, die sich bisher vor allem mit lateinischen und griechischen Texten beschäftigt hat. Aber die philologische Textarbeit muss auf alle Sprachen der Welt ausgedehnt werden. Nur dank einer globalen philologischen Textarbeit kann der „Charakter“ aller Sprachen erkannt werden. Nur mit der Philologie in ihrem Zentrum, als „Schlussstein der Sprachkunde“ (Humboldt 1903–36 IV: 13), gelangt die Linguistik zu ihrem eigentlichen Ziel, dem Erfassen der sprachlichen Individualität.

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2.2. Humboldt nimmt also gerade Vicos Perspektive auf Universelles und Ewiges nicht ein. Und auch Vicos Ausdehnung der Philologie auf alle Gegenstände des mondo civile wird durch Humboldts Konzentration der Anthropologie auf Sprache zurückgenommen.41 Das hört sich eher wie eine Schwächung von Philologie an: Philologie als eine Unterabteilung der Sprachwissenschaft. Es ist aber keine Schwächung, sondern eine Stärkung durch die Position im Herzen des Sprachstudiums: Mit Humboldts Studium der Sprachen wird nicht irgendein kultureller Gegenstand betrachtet, sondern der kulturelle Gegenstand überhaupt: die Sprache. Sie ist für Humboldt das Zentrum des Menschen. Sprache ist das Denken des Menschen. „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ (Humboldt 1903–36 IV: 15). Sprachstudium ist die Wissenschaft des Menschlichen des Menschen. Und es geht darum, dieses Zentrum adäquat zu erfassen. Nach der linguistischen Erfassung der Struktur, des Baus, wird, weiter ins Zentrum rückend, die Philologie tätig, die die Texte studiert und eben zum individuellen „Charakter“ der Sprache führt. Die Philologie ist das Herz des Herzens der Wissenschaft vom Menschen. Aber hier kommt dann doch die Frage nach der Wissenschaftlichkeit dieser philologisch geleiteten Sprachforschung wieder auf. Traditionell gilt: de individuis non est scientia. Humboldt fragt sich daher, ob diese Erfassung von Individualität, diese philologische Annäherung an die Sprache, überhaupt Wissenschaft ist: Die Untersuchung dieser Individualität […] ist das schwierigste Geschäft der Sprachforschung. Es ist unläugbar, dass dieselbe, bis auf einen gewissen Grad, nur empfunden, nicht dargestellt werden kann, und es fragt sich daher, ob nicht alle Betrachtung derselben von dem Kreise des wissenschaftlichen Sprachstudiums ausgeschlossen werde sollte? (Humboldt 1903–36 IV: 421) Seine Antwort: Er wisse es nicht. Man könne aber nicht der „Begierde widerstehen, wenigstens den Versuch zu wagen“, die Individualität zu beschreiben, weil die linguistische Arbeit „erst durch diese höheren Betrachtungen wirklich belohnt wird“ (Humboldt 1903–36 IV: 423). Der Beruf des Sprachforschers nähert sich dadurch dem des Künstlers an. Er muss die letzte Form seines Gegenstandes in einem kühnen Sprung erschaffen. Philologie führt also zur Kunst! Und das ist für Humboldt allemal das Höchste.

41

Allerdings stellt Humboldt in seiner Rede „Über den Geschichtschreiber“ (1821) grundsätzliche methodische Überlegungen an, die er später ausdrücklich auf die Sprachwissenschaft transferiert. Er hat also durchaus das gesamte Gebiet der menschlichen Dinge, „tutte le cose le quali dipendono dall’umano arbitrio“ (SN44: 7), im Auge.

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10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

3. Philology Zunächst ist auch in den deutschsprachigen Ländern das geschehen, was Humboldt an der zitierten Stelle für Frankreich und England beklagt, nämlich dass man den Ausdruck „Philologie“ auf jedwede Beschäftigung mit Sprache ausgedehnt hat. Deswegen hießen die Universitätsinstitute im 19. und 20. Jahrhundert eben Seminare für romanische oder germanische oder sonstige „Philologie“. Das ist heute vielerorts revidiert worden. Oft ist nur noch, wie zu Humboldts Zeiten, die klassische Philologie übriggeblieben. Aber nicht nur der Ausdruck schwindet sondern die Sache selbst.42 3.1. Das ist der Ausgangspunkt des Protestes von Sheldon Pollock. Pollock, Professor für Indologie an der Columbia University, ist in neuester Zeit als letzter Verteidiger der philology hervorgetreten. Pollock geht aus von der Feststellung, dass sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Indien, dem Land seiner Philologie, also der Sanskrit-Texte, philology bedroht ist, aus den Universitäten verschwindet, nicht mehr finanziert wird. Der Grund für dieses Verschwinden sei der totale Sieg eines einseitig ökonomischen Denkens: Universitäten sind zunehmend nur noch Schulen für science, Technik, IT und management. Philologie bringt nichts ein. Also weg damit. Pollock hält die Zerstörung der Philologie für ein Zeichen der ultimativen Verdummung der Menschheit. Denn worum geht es in der philology? Es geht um nichts weniger als: the survival of the very capacity of human beings to read their pasts and, indeed, their presents and thus to preserve a measure of their humanity. (Pollock 2009: 935). Es geht also als um das Selbstverständnis des Menschen oder um das Menschsein des Menschen: „to preserve a measure of our humanity“. Philologie ist bei Pollock insbesondere eine systematische Auseinandersetzung mit dem in Textform gefassten Denken der Menschheit. Und das ist eine globale Aufgabe: Philology is, or should be, the discipline of making sense of texts. It is not the theory of language – that’s linguistics – or the theory of meaning or truth – that’s philosophy – but the theory of textuality as well as the history of textuality. If philosophy is thought critically reflecting upon itself, as Kant put it, 42

Zur Geschichte des Begriffs im 19. Jahrhundert und zur aktuellen Diskussion um Philologie vgl. Messling 2016, Kapitel 1.4. und 1.5.

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Welche Wissenschaft?

then philology may be seen as the critical self-reflection of language. Or to put this in a Vichean idiom: if mathematics is the language of the book of nature, as Galileo taught, philology is the language of the book of humanity. (Pollock 2009: 934) Angesichts dieser großen Bedeutung von philology – „the language of the book of humanity“ – ist es unerträglich, dass Philologie zerstört wird, in Amerika, in Indien und, so können wir hinzufügen, zunehmend auch in Europa. Als besonderen ökonomistischen Skandal hebt Pollock zum Beispiel die dumme Vernichtung der SanskritPhilologie in Berlin hervor, die himmelschreiende Einstellung des Lehrstuhls von Franz Bopp an Humboldts Universität! Aber nicht nur der um sich greifende Ökonomismus ist schuld an der Vernichtung der Philologie. Die humanities selbst haben durch einige problematische Entwicklungen der letzten Jahrzehnten die Philologie geschwächt (Pollock 2009: 934f.). Die Philologie selbst muss sich daher als Disziplin auch diszipliniert verhalten, um jenes Lesen des Buchs der Menschheit zu ermöglichen. Dazu skizziert Pollock drei Regeln: Erstens sind die Texte selbst zu lesen und studieren, und zwar in ihren Originalsprachen (eine notwendige Polemik gegen das zunehmende Lesen von Texten in Übersetzungen, insbesondere in englischen Übersetzungen). Solcherart ist ihr „objektiver“ Sinn zu suchen. Das urphilologische Vorbild ist Lorenzo Valla, der durch genaue Sprachanalyse festgestellt hat, dass das Latein der Konstantinischen Schenkung niemals aus der Zeit Konstantins stammen konnte, sondern erst aus dem 8. Jahrhundert. Zweitens sind die Sinngebungen zu studieren, die den Texten bisher gegeben worden sind. Auch wenn die Konstantinische Schenkung eine Fälschung ist, so hat sie doch eine bestimmte Lektüre erfahren, die die Herrschaftsansprüche des Papstes begründete. Drittens ist die eigene Subjektivität und Historizität des Interpretierenden zu reflektieren. Not tut also eine dreifache methodische Disziplinierung. Es geht um die gute alte Hermeneutik, die die Grundlage der Philologie sein muss. Die komplizierte Text-Arbeit wird von Pollock als politische Notwendigkeit gesehen. Die Gesellschaften verstehen sich selbst nur, wenn sie diese systematische Textarbeit trainieren. Sie müssen das Verstehen von Texten lernen, damit sie auch im Leben miteinander verstehend umgehen. Das ist die politische Bedeutung der Philologie: Um als Menschen zu leben, müssen sie ihren mondo civile zu lesen verstehen. Das bringt ihnen die Philologie bei, eine Lesekunst von höchster politischer Relevanz. 3.2. Vicos Erhöhung der Philologie als Bedingung der Möglichkeit von scienza sowie die Globalität des Textverstehens sind die Grundlagen dieser hohen politischen Bedeutsamkeit der Philologie bei Pollock. Wie sieht es aber aus mit Vicos Ausweitung

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10. Filologia, Philologie, philology: Vico, Humboldt, Pollock

der Philologie auf „tutte le cose le quali dipendono dall’umano arbitrio“? Pollock spricht nur von Texten und textuality. Er präzisiert immerhin, dass er nicht nur schriftliche Texte meint, sondern „all texts – whether oral, written, printed, or electronic, whether literary, religious, or legal, those of mass culture no less than those of elite culture“ (Pollock 2016: 131). Er weitet den Gegenstandsbereich der Philologie aber nicht wie Vico über Sprachliches hinaus auf alles Menschliche aus. Pollocks disziplinäre Regeln für die Text-Philologie scheinen mir aber zutreffend für das Verstehen der Werke des Menschen überhaupt, die „gelesen“ werden müssen. Was Pollock vom Lesen der Texte sagt, gilt für alle „textförmigen“ Manifestationen des Menschen, und das sind nicht nur Texte, sondern auch Bilder, Filme, Tänze, Häuser und andere Artefakte des Menschen: So müssen wir auch angesichts von Bildern sehen und sagen, was die Bilder sagen; wir müssen sehen und sagen, was über sie gesagt worden ist; und wir müssen unser eigenes Selbstverständnis in unser Bildverständnis einbringen. Dies sind die Regeln der Hermeneutik, die überall in den humanities ­gelten. Letztlich ginge es dann auch bei Pollocks philology doch vichianisch um: „tutte le cose le quali dipendono dall’umano arbitrio, come sono tutte le Storie delle Lingue, de’ Costumi e de’ Fatti così della pace, come della guerra de’ popoli.“ (SN44: 7). Von Vico hat Pollock die Gewissheit, dass wir uns den Texten wissenschaftlich nähern können, dass es möglich ist, Philologie als Wissenschaft zu betreiben, „la ridurre in forma di scienza“. Er meint damit allerdings nicht wie Vico, dass man universalia et eterna finden muss, damit es auch scienza wird. Diese aristotelische Bedingung für Wissenschaft hat die geisteswissenschaftliche Vico-Rezeption übersehen beziehungsweise nicht ernst genommen. Pollock glaubt mit Auerbachs VicoInterpretation, dass Vicos scienza die Hermeneutik ist. Das ist zwar nicht der Fall. Vicos scienza ist scientia de universalibus et eternis, nicht Hermeneutik, nicht Interpretation des Besonderen oder des Individuellen. Aber Vico hat die Philologie trotzdem auf den Weg der Wissenschaft geführt. Er hat ihren wissenschaftstheoretischen Status erhöht, indem er den mondo civile als wissenschaftsfähig erkannt hat. Er hat damit der filologia, der Philologie und der philology den Weg zu einer stolzen Hermeneutik gewiesen, die zwar nicht von ihm stammt, der wir aber folgen müssen, wenn wir Menschen bleiben wollen: „to preserve a measure of our humanity“.

11. Vico und Ibn Khaldun: ˉ polis, umran und mondo civile

In diesem Kapitel begehe ich eine philologische Sünde, die aus meiner Sicht unverzeihlich ist: Ich schreibe über einen Text, dessen Sprache ich nicht kann. Ich nähere mich einem arabischen Buch, den Muqaddima von Ibn Khaldˉun, über deutsche und englische Übersetzungen. Mein philologisches Ethos sollte mir das eigentlich untersagen.43 Ich wage es trotzdem, unter Berufung auf allerlei Vorsichtsmaßnahmen, und stelle das ganze Kapitel unter den Vorbehalt einer unerlaubten Anmaßung. Der Vergleich zwischen Vicos Scienza nuova und Ibn Khalduns ˉ Muqaddima „bietet sich aber einfach an“ oder drängt sich auf: Beide Werke treten auf als „neue Wissenschaft“ von dem, was die Griechen polis nennen. Ich war einfach neugierig zu erfahren, was denn nun dran ist an der immer wieder festgestellten Ähnlichkeit der beiden Werke, zumal ja an diese Feststellung oft die Behauptung angeschlossen wird, Ibn Khaldun ˉ habe Vicos neue Wissenschaft schon dreihundertfünfzig Jahre vor Vico vorweggenommen. Also habe ich die Muqaddima gelesen in deutschen und englischen Übersetzungen. Die verfügbaren deutschen Übersetzungen sind leider nur Teilübersetzungen, die gerade für mich wichtige Teile, nämlich viele Kapitel über die Sprache, auslassen. Daher habe ich auf die vollständige englische Übersetzung von Franz Rosenthal zurückgegriffen, von der mir Sprach- und Sachkundige versichert haben, dass sie ganz ausgezeichnet sei. Ich werde also Ibn Khaldun ˉ manchmal auch auf Englisch zitieren. Bei einigen wichtigen Punkten habe ich Freunde befragt, die des Arabischen mächtig sind. Ich habe also den Eindruck, dass ich einen ganz ordentlichen Einblick in die fremde Textwelt gewonnen habe. Schließlich wage ich den hier folgenden Vergleich auch, weil umgekehrt oft relativ sorglos ohne Kenntnisse des Italienischen (oder gar ohne Kenntnisse beider Sprachen) kühne Vergleiche

43

Ich stimme daher der Forderung des im vorangehenden Kapitel behandelten Pollock (2009: 960) leidenschaftlich zu, dass man die Sprache des Textes können muss, den man philologisch bearbeitet.

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11. Vico und Ibn Khaldun: ˉ polis, umran und mondo civile

zwischen Ibn Khaldun ˉ und Vico angestellt werden. Denen kann ich das nun Folgende mit einem einigermaßen (aber tatsächlich nur „einigermaßen“) guten Ge­­ wissen entgegenstellen.

1. Muqaddima – Scienza nuova Ibn Khaldun, ˉ der arabische Historiker des 14. Jahrhunderts (1332–1406), wird in der Literatur immer wieder mit Giambattista Vico in Verbindung gebracht. So wird zum Beispiel gesagt, dass Ibn Khaldun ˉ schon lange vor Vico die „Geschichtsphilosophie“ begründet habe.44 Einmal abgesehen von der Tatsache, dass auch Vico nicht die „Geschichtsphilosophie“ begründet hat, so ist es doch richtig, dass sowohl der Historiker des 14. Jahrhunderts als auch der Philosoph des 18. Jahrhunderts ausdrücklich eine „neue Wissenschaft“ der gesellschaftlichen Welt, der polis, ins Leben gerufen haben, eine Wissenschaft vom zoon politikon, als das Aristoteles den Menschen definierte. Hierin liegt die tiefe Berechtigung des Vergleichs zwischen den beiden Gelehrten. Auf diesem gemeinsamen Grund sind aber, so möchte ich zeigen, die Differenzen zwischen den beiden neuen Wissenschaftlern tief. Vor allem lässt der Blick auf Aristoteles’ zweite Definition des Menschen als zoon logon echon, als „logos habendes Tier“, die Differenzen zwischen den beiden komplizierten Textwelten der Muqaddima und der Scienza nuova deutlich hervortreten. Vico schlägt eine radikale Wende der Philosophie von der natürlichen Welt auf die „zivile“ Welt vor, weil wir nur in ihr wahres Wissen, scienza, gewinnen können. Der mondo civile ist die Gesamtheit aller kulturellen Schöpfungen des Menschen, deren beiden Achsen das Politische und das Kognitiv-Sprachliche sind. Der Mensch ist aristotelisch zoon politikon und zoon logon echon. Beides ist aufs engste miteinander verknüpft. Herkules und Homer, der „politische“ Held und der „poetische“ Held, gesellschaftliche Organisation und materielle Weltbearbeitung einerseits und denkerische Weltbemächtigung andererseits erzeugen die menschliche Welt. Die Arbeit der Hand und die Arbeit des Geistes schaffen das factum, das Selbstgemachte, von dem dann das Wahre (verum) abgeleitet werden kann. Insbesondere habe ich in diesem Buch herausgearbeitet, in welch tiefem und neuem Sinn Vico die aristotelische Definition des Menschen als zoon logon echon transformiert, wie der Mensch seinen logos schafft, wie er sein Denken in seinen Zeichen verkörpert. Vicos neue Wissenschaft ist primär und vor allem Philosophie, das heißt eine Antwort auf die Grundfrage aller Philosophie: Was können wir wissen? Auch Ibn Khalduns ˉ Muqaddima begründen eine neue Wissenschaft. Ibn Khaldun ˉ betont eindringlich die Neuheit seines Buches:

44

Vgl. zum Beispiel Mi’raj 1980.

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Welche Wissenschaft?

Dieses ist das Ziel dieses ersten Buches unseres Werkes. Es ist, als ob dies eine Wissenschaft sei, die in sich selbst unabhängig ist; denn sie hat ihren eigenen Gegenstand, welcher die menschliche Kultur und die menschliche Gesellschaft ist. (Ibn Khaldun ˉ 2011: 103 f.) Diese Wissenschaft ist neu, weil ihr Gegenstand, die menschliche Kultur, bisher noch nie behandelt worden ist. Sie ist nicht Rhetorik oder Politik sondern etwas Anderes, eine völlig neuartige Wissenschaft: Du musst wissen, dass das zu diesem Zweck Gesagte eine neu eingeführte Vorgehensweise ist, von außergewöhnlicher Tendenz und gewaltigem Nutzen; Forschung und Versenkung haben dahin geführt. Es gehört nicht zur Wissenschaft der Rhetorik, welche eine der logischen Wissenschaften ist […]. Es gehört auch nicht zur Wissenschaft von der Politik, denn diese bezieht sich auf die Verwaltung des Haushalts oder der Stadt […]. Der Gegenstand dieses Buches ist anders als der der beiden (genannten) wissenschaftlichen Disziplinen, welche ihr (das heißt der hier verfolgten Disziplin) manchmal ähnlich sind; es ist sogar, als ob dies eine neu erfundene Wissenschaft sei. (Ibn Khaldun ˉ 2011: 104) Unter Verweis auf Aristoteles beziehungsweise „die Philosophen“ erklärt Ibn Khaldun, ˉ dass der Mensch ein zoon politikon ist. Das Adjektiv ist von polis abgeleitet. Ausgangspunkt ist also, dass Gemeinschaft für den Menschen notwendig ist. Die Philosophen haben dies durch die folgenden Worte ausgedrückt: Der Mensch ist seiner Natur nach „politisch“, das heißt, die Gemeinschaft, welche in ihrer Terminologie „Stadt“ heißt, ist für ihn unumgänglich. Dies ist die Bedeutung von „Kultur“. (Ibn Khaldun ˉ 2011: 111) Was hier mit „Kultur“ im Deutschen (der englische Übersetzer sagt civilization) wiedergegeben wird, heißt auf arabisch umran.45 Umran ist das Ensemble der politischen und kulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft. Die Parallele zu Vico ist evident: Umran ist der mondo civile. Und daher ist es auch völlig zutreffend zu sagen, dass Ibn Khaldun ˉ die Wissenschaft von „Kultur“, „civilization“, umran oder mondo civile dreihundertfünfzig Jahre vor Vico gegründet hat.

45

Vgl. Spittler 2002: 265.

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11. Vico und Ibn Khaldun: ˉ polis, umran und mondo civile

Aber es gibt – außer den völlig verschiedenen „philologischen“ Bezugswelten der beiden Werke (muslimische Welt des Mittelalters vs. gräkolateinische Welt der Antike und christliche Moderne) – drei in die Augen springende fundamentale systematische Unterschiede zwischen den beiden „Wissenschaften von der Kultur“: 1. Die Wissenschaft vom umran ist keine Philosophie der Erkenntnis. Sie ist eine Wissenschaft unter anderen, eine außerordentlich umfassende gewiss. Die Wissenschaft des mondo civile ist dagegen scienza, wahres Wissen. Ibn Khaldˉuns Wissenschaft des umran ist Kultur-Wissenschaft, Vicos Wissenschaft des mondo civile ist einfach Wissenschaft. 2. Auch wenn Vicos Scienza nuova mit der Tafel der politischen Geschichte des Altertums, mit Herkules, beginnt, so akzentuiert sie doch den Homerischen Teil des mondo civile, also die Geschichte des Denkens und der Zeichen, des logos, bzw. sie fusioniert Herkules und Homer. Ibn Khalduns ˉ kulturelle Welt, der umran, wird nicht primär als eine Geschichte der Zeichen oder des menschlichen Denkens, des logos, entfaltet, sondern fokussiert klar auf das Gesellschaftlich-Politische. 3. Während Vico den logos aus Aristoteles’ zweiter Definition des Menschen als zoon logon echon radikal gegen Aristoteles in die Vielfalt der menschlichen Zeichen transformiert, bleibt Ibn Khaldun ˉ aristotelisch: Er skizziert einerseits den logos als menschliches Denken und behandelt andererseits den logos als Wortsprache, und zwar als eine ganz bestimmte Sprache, das Arabische. Diese ersten Andeutungen sollen im Folgenden durch meine Leseerfahrungen mit den Muqaddima etwas näher ausgeführt werden.

2. Die neue Wissenschaft vom umran Ibn Khalduns ˉ Wissenschaft vom umran wird in den Muqaddima als eine Trias von Herrschaft, Hand und Denken entfaltet, und zwar auf die folgende systematische Art und Weise: Kapitel 2 bis 4: die Herrschaft: die politische Organisation (mit ihrer charakteristischen Bipolarität von sesshafter und nomadischer Kultur); Kapitel 5: die Hand: die Handwerke oder die materielle Produktion; Kapitel 6: das Denken: die Wissenschaften oder die intellektuelle Produktion.

2.1. Herrschaft Ibn Khaldun ˉ interessiert sich vor allem für die Herrschaft und hier insbesondere für den historisch-sozialen Grundzug der muslimischen Welt, den Unterschied zwischen Nomaden und Sesshaften. Die Opposition von Wüste und Stadt ist grundlegend für seinen historischen Blick, mit einer klaren Präferenz für die Nomaden. Ibn Khaldun ˉ geht davon aus, „dass das Nomadentum der Ursprung der Sesshaftigkeit ist und ihr vorangeht“ (Ibn Khaldun ˉ 2011: 138). Ich habe im Kapitel über das Ingenium angedeutet, dass Vico dagegen leidenschaftlich auf der Seite der Sesshaften steht, die Nomaden nennt er ja errones, Herumirrende, die er mit den noch nicht ganz menschlichen Protomenschen gleichsetzt. Der Grund für die Präferenz der

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Welche Wissenschaft?

Nomaden bei Ibn Khaldˉun ist die asabiyya, die die deutsche Übersetzung „Gruppensolidarität“ (auch Rosenthal übersetzt „group solidarity“) nennt, der starke soziale Zusammenhalt der Wüstenstämme.

2.2. Hand und Denken Wenn auch die Entwicklung des logos nicht das Hauptinteresse Ibn Khalduns ¯ ist, so widmet er doch immerhin ein Drittel seines Buchs diesem Thema. Er bezieht sich wiederholt ausdrücklich auf Aristoteles’ zoon logon echon. Wie wir gesehen haben, beginnt er mit einer allgemeinen Betrachtung über die gesellige Natur des Menschen im ersten Kapitel. Aber als zoon politikon ist der Mensch noch wie andere Tiere. Die spezifische Differenz zu diesen ist der logos, das Denken, und die Hand: Für den Menschen bestimmte Er als Ersatz für alles dieses das Denken und die Hand. Die Hand ist für Fertigkeiten im Dienste des Denkens bereitet. Die Fertigkeiten verschaffen ihm die Werkzeuge, die ihm die Glieder ersetzen, die für die übrigen Tiere zu ihrer Verteidigung bereitet sind. (Ibn Khaldˉun 2011: 112) Ich zitiere diese wichtige Stelle auch auf Englisch, weil die englische Übersetzung wesentlich klarer ist hinsichtlich des Verhältnisses von Denken, Hand und Handwerken (craft): To man, instead, He gave the ability to think, and the hand. With the help of the ability to think, the hand is able to prepare the ground for the crafts. The crafts, in turn, procure for man the instruments that serve him instead of limbs, which other animals possess for their defense. (Ibn Khaldun ˉ 1967: 87) Dies ist eine große anthropologische Einsicht: Das Denken und die Hand sind die Grundlagen des Menschseins. Hand und Denken lassen uns natürlich sofort an die beiden Grundfiguren der Vico’schen Philosophie denken: an Herkules und Homer, die materielle und die intellektuelle Arbeit. Dennoch läuft diese Dualität nicht parallel bei den beiden Autoren: Vicos Herkules ist ja nicht nur die Hand, sondern er bedeutet – als eroe politico – auch die Herrschaft (und die Handwerke – jenseits der coltura, der Bearbeitung des Bodens – spielen bei Vico überhaupt keine Rolle). Und Ibn Khalduns ˉ Denken ist, wie wir gleich sehen werden, überhaupt nicht homerisch. Die Dualität von Hand und Denken ist ein wichtiger struktureller Zug für die Komposition des Buches von Ibn Khaldun: ˉ Das fünfte Kapitel, über die Hand, handelt vom Handel und anderen Berufen und Handwerken, von materieller Produktion. Das sechste Kapitel handelt von der geistigen Aktivität des Menschen. Der logos wird aber in einer Weise thematisiert, die sich zutiefst von Vico homerischem Ansatz unterscheidet.

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11. Vico und Ibn Khaldun: ˉ polis, umran und mondo civile

2.3. Denken Das sechste Kapitel der Muqaddima beginnt mit einem Abschnitt über das Denken (6.1.), mit einer kleinen Geschichte des Geistes: Die Sinneswahrnehmungen schaffen zunächst „Bilder“ (pictures) im Gehirn (Ibn Khaldun ˉ 2011: 404 und 1967: 545). Das Denken beschäftigt sich dann mit diesen Bildern: Der erste Schritt des Denkens ist „unterscheidendes Verstehen“ (Ibn Khaldˉun 2011: 404), es abstrahiert „Vorstellungen“ von jenen ersten Bildern. Wohlgemerkt, nicht das Wort unterscheidet, sondern das Denken. Im Umgang mit den Anderen und im praktischen Leben schafft das Denken dann „Aussagen“ (auf Englisch ziemlich anders: apperceptions) im „Erfahrungsverstand“ (experimental intellect). Drittens schafft es, jenseits praktischer Notwendigkeiten, „Wissen“ im spekulativen Verstand (speculative intellect, Ibn Khal­ dun ˉ 1967: 555). Endziel des Denkprozesses ist schließlich der „reine Verstand“. Diese Entwicklung des Denkens ist eine völlig mentale Aktivität. Auch wenn die „Aussagen“ (apperceptions) offensichtlich aus dem Umgang mit anderen Menschen stammen, so wird doch nichts über eventuelle sprachliche Eigenschaften derselben gesagt. Im Kapitel 6.3. bezieht sich Ibn Khaldun ˉ erneut auf Aristoteles’ Definitionen des Menschen als zoon politikon und als zoon logon echon. Er wiederholt in 6.6., was er zu Beginn der Muqaddima geschrieben hat, dass das Denken die spezifische Differenz zu den Tieren ist: „dass der Mensch zur Gattung der Lebewesen gehört und dass Gott ihn von diesen (anderen) unterschieden hat durch das Denken, das Er ihm verliehen hat“ (Ibn Khaldun ˉ 2011: 414f.). Das arabische Wort, das hier für „Denken“ verwendet wird, ist offensichtlich dem griechischen Wort logos völlig parallel. Es be­­deutet gleiˉ verkürzt chermaßen Denken und Rede: naatiq, von der Wurzel n-t-q. Aber Ibn Khal­­­dun das arabische Wort auf die Bedeutung „Denken“, so wie es die Römer taten, als sie logos mit ratio übersetzten und das zoon logon echon zum animal rationale machten – und damit den Sprach-Anteil des logos wegkürzten. Diese „rationalistische“ oder „mentale“ Interpretation des logos unterscheidet sich zutiefst von Vicos Auffassung, der, wie wir gesehen haben, den logos ja gerade in den materiellen Zeichen entfaltet. Logos ist immer verkörpertes Denken, Denken ist immer körperliches Zeichen. Vico sagt dies ausdrücklich, wenn er schreibt, dass Logos Wort und Idee zugleich seien: „logos significa e idea e parola“ (SN44: 401). Ibn Khaldun ˉ dagegen hält, wenn ich den Übersetzungen trauen darf, durch sein ganzes Buch die Trennung von Denken und Sprache durch. Wörter sind bloß die äußerlichen Statthalter der Ideen: „Linguistic expression is merely the interpreter of ideas that are in the mind“ (Ibn Khaldun ˉ 1967: 738), und als solche schieben sie sich als „Schleier“ vor den Gedanken: „Words and expressions are media and veils between the ideas“ (ebd.).46 46

Das 43. Kapitel ist in der von mir genutzten deutschen Ausgabe leider nicht übersetzt. Die „Schleier zwischen den Ideen“ erinnern stark an Locke, der die Wörter als „a mist before our eyes“ kritisiert hat (Locke 1690, III ix 21).

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2.4. Sprache Wörter werden getrennt von den Ideen behandelt. Sie spielen aber trotzdem eine wichtige, ja fundamentale Rolle in Ibn Khalduns ˉ neuer Wissenschaft. Sie kommen nämlich in ihrer traditionellen Rolle als Kommunikations-Mittel vor, also sozusagen in ihrer „politischen“ Funktion, nicht in der kognitiven Funktion, die bei Vico primär ist. Das Politische ist allemal der dominante Blickwinkel Ibn Khalduns. ˉ Ibn Khaldun ˉ schreibt zum ersten Mal über die Sprache am Ende des vierten Kapitels (4.22), also im Teil des Buches über die Herrschaft. Sprache ist für ihn ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Organisation, deswegen muss sie auch an dieser systematischen Stelle des Buchs behandelt werden: Die Dialekte in den Städten kommen von den Gründern oder Eroberern, sie sind also arabisch. Da die Religion arabisch ist, muss Arabisch herrschen, und andere Sprachen müssen vermieden werden. Der zweite Kalif hatte sogar andere Sprachen untersagt. In den Städten, unter den Sesshaften, herrscht ein verdorbenes Arabisch, das dem wahren Arabisch der Wüstenstämme entgegensteht. Sprache erscheint also in den Muqaddima zum ersten Mal als Aspekt der historischen Entwicklung der dynamischen Opposition zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum, mit einer starken Präferenz für die nomadische Sprache, denn diese ist Arabisch, reines Arabisch. Arabisch ist die asabiyya-Sprache. Von Anfang an meint „Sprache“ in den Muqaddima Wortsprache, ja sogar eine be­­stimmte historische Einzelsprache, Arabisch, und nicht ein Ensemble von verschiedenen visuellen und phonischen Semiosen, wie Vico sie mit dem Ausdruck lingue bezeichnet. Sprache wird ausführlich in den Kapiteln 6. 43 bis 6. 59 behandelt mit langen Abhandlungen verschiedener linguistischer Themen: Sprache als handwerkliche Fähigkeit, Erwerb der (arabischen) Sprache durch dialogische Habitualisierung, Klassifikation arabischer Dialekte, die Sprache der Nomaden und der Sesshaften, Stil, Dichtung. Die Ausführungen zu den beiden arabischen Sprachen, zur Sprache der Nomaden und zur Sprache der Sesshaften, sind das Herz dieser linguistischen Überlegungen. Und so begegnet uns die grundlegende Opposition der Ge­­ ˉ schichte – Sesshafte vs. Nomaden – wieder als Zentrum der Linguistik Ibn Khalduns. Ibn Khaldun ˉ trennt Denken und Sprechen scharf. Daher wird das logos-Thema auf zwei Wegen behandelt, einmal als Denk-Problematik in einer Diskussion der Kognition und logischer Probleme und zum anderen als Sprach-Problematik in den langen Ausführungen zur Kommunikation unter den Arabern. Das entspricht genau der aristotelischen Arbeitsteilung in De interpretatione zwischen dem sprachlosen Denken, dem Schaffen der Denk-Bilder (homoiomata), einerseits und den kommunikativen Lauten, ta en te phone, oder Zeichen, semeia, andererseits. Ibn Khaldun ˉ ist hier treu aristotelisch: Wörter sind kommunikative Laute.

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11. Vico und Ibn Khaldun: ˉ polis, umran und mondo civile

3. Zwei neue Wissenschaften Nach diesem zugegebenermaßen kühnen Blick auf die ehrfurchtgebietenden Muqadddima möchte ich zu dem ebenso kühnen Vergleich zwischen Vico und Ibn Khaldun ˉ zurückkehren. Die auffällige Parallele ist die Tatsache, dass beide Autoren eine neue Wissenschaft gründen und dass die Neuheit dieser Wissenschaft darin besteht, dass sie eine Wissenschaft der polis, des umran oder des mondo civile, der Welt des Menschen, nicht der Natur ist. Der Mensch ist ein politisches Wesen, dessen Besonderheit der logos ist. Aber außer dieser sehr allgemeinen Gemeinsamkeit – dem Bezug auf den gleichen Gegenstand – ist alles anders: 1. Ibn Khalduns ˉ Buch ist kein philosophisches Buch. Es sucht keine Antwort auf die metaphysische Frage der Philosophie, wie wahre Erkenntnis möglich ist. Es ist ein Buch über die Kultur oder die Geschichte. Vicos Scienza nuova dagegen ist Philosophie, die sich auf die Kultur bezieht, sie ist Metaphysik, die Metapolitik geworden ist. 2. Der mondo civile hat daher völlig verschiedene systematische Positionen bei den beiden Autoren: Bei Vico ist er das Material für philosophische Einsichten. Die Wende des Substratums der Philosophie ist die erste und philosophisch vorrangige Neuheit von Vicos Wissenschaft. Bei Ibn Khaldun ˉ beweist die Wissenschaft von der menschlichen Welt nichts. Sie ist einfach die Wissenschaft von der Kultur. Sie ist neu, weil ihr Gegenstand, der umran, ein neuer Gegenstand einer Wissenschaft ist. 3. Da bei Vico die „kulturellen“ oder „philologischen“ Beweise für die philosophische Wahrheit, die scienza, universell und ewig sein müssen, ist die „Kultur“ bei Vico gewissermaßen gar nicht Kultur oder Geschichte, wie wir sie heute verstehen, das heißt ein Ensemble von partikularen menschengemachten Ereignissen und Formen, sondern vor allem eine Manifestation des Universellen. Die Abfolge der drei politischen Organisationsformen – göttlich, heroisch, menschlich – zum Beispiel ist ja überall dieselbe. Der mondo civile verläuft in der philosophischen Perspektive Vicos gemäß einer storia ideale eterna. Gewiss schaut auch Ibn Khaldun ˉ nach allgemeinen Prinzipien im Funktionieren und in der Geschichte des umran, wie etwa dem Gegensatz zwischen Wüste und Stadt, der asabiyya, dem Aufstieg und Niedergang von Staaten, um nur die wichtigsten dieser historischen Gesetze zu nennen. Diese werden aber nicht über die muslimische Welt hinaus auf andere Kulturen ausgedehnt, wie das explizit bei Vico der Fall ist. Sie sind allgemeine, aber keine universellen Gesetze. Ibn Khalduns ˉ historische und kulturelle Beschreibungen gehören einer Ebene unterhalb der ewigen und universellen Gesetze Vicos an. Ibn Khalduns ˉ Geschichte bleibt näher an den besonderen gesellschaftlichen Strukturen und historischen Entwicklungen. 4. Ibn Khalduns ˉ neue Wissenschaft ist keine integrierte Geschichte der menschlichen gesellschaftlichen Institutionen und der menschlichen Kognition,

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die sich in caratteri poetici manifestiert. Bei Vico ist menschliches Wissen insgesamt poetisch. Die Kapitel des zweiten Buches sind: metafisica, logica, morale, iconomia, politica, storia, fisica, cosmografia, astronomia, cronologia, geografia poetica. Das dritte Buch über den vero Omero ist das Herz der Scienza nuova. Der poetische logos, die Entdeckung der poetischen Charaktere, ist die zweite „Neuheit“ von Vicos Wissenschaft und eben der Schlüssel, la chiave maestra, der neuen Wissenschaft. Ibn Khalduns ˉ Wissenschaft des umran ist dagegen vor allem politische Geschichte. Die Geschichte der Hand und des logos sind gewiss konstitutive Teile des umran, Denken und Sprache sind integrale Kapitel dieser neuen Wissenschaft. Aber sie sind nicht deren Schlüssel, die chiave maestra. 5. Die Sprache ist bei Ibn Khaldun ˉ Sprache im engen Sinne: Wortsprache. In Vicos sematologischer Geschichte der Menschheit werden keine „richtigen“ Spraˉ dagegen chen  – Englisch, Französisch, Lateinisch etwa – behandelt. Ibn Khaldun schreibt ausführlich über konkrete historische Sprachen, über das Arabische und die Sprachen der Städte, und über soziolinguistische Veränderungen, zum Beispiel darüber, wie die Sprache des Stammes in den Städten beeinflusst und völlig verändert wird, wie die nomadische Reinheit des Arabischen zerstört wird. Ibn Khaldun ˉ schreibt über die konkreten gesellschaftlichen und historischen Umstände des Sprachwandels. 6. Daher erscheint der mittelalterliche Autor Ibn Khaldun ˉ moderner, deskriptiver, näher an den empirischen Fakten der zivilen Welt. Vicos philosophische Annäherung an den mondo civile ist demgegenüber in gewisser Hinsicht altmodisch. Seine Suche nach universellen Gesetzen der Kultur und der Geschichte zwingt den mondo civile in das Prokrustesbett der alteuropäischen Auffassung von „Wissenschaft“ (universalia et aeterna). Ibn Khaldun ˉ dagegen beobachtet ohne diese universalistischen oder „wissenschaftlichen“ Zwänge, als echt historischer Autor, das Funktionieren und die Transformation einer bestimmten Gesellschaft, eben seiner muslimischen Welt, und entdeckt dabei, als ein Soziologe avant la lettre, deren grundlegende gesellschaftliche Strukturen und geschichtliche Gesetze in einer neuen Wissenschaft des umran. Vom Vico'schen Standpunkt aus ist die „neue Wissenschaft“ Ibn Khalduns ˉ „Philologie“: (SN44: 7) […] la Filologia, o sia la Dottrina di tutte le cose, le quali dipendono dall’umano arbitrio, come sono tutte le Storie delle Lingue, de’ Costumi, e de’ Fatti, così della pace, come della guerra de’ popoli. [...] die Philologie oder die Lehre von allen Dingen, die vom menschlichen Willen abhängen, wie es alle Geschichten der Sprachen, der Sitten und der Fakten des Friedens und des Kriegs der Völker sind.

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11. Vico und Ibn Khaldun: ˉ polis, umran und mondo civile

„Philologie“ heißt eben auch, dass Ibn Khalduns ˉ neue Wissenschaft nicht „Wissenschaft“ in Vicos streng universalistischem Sinne ist, scienza, sondern, wie Vico hier sagt, dottrina. Erst die Philosophie reduziert ja die „Doktrin“ Philologie auf Wissenschaft („la riduce in forma di Scienza“, SN44: 7), indem sie in all diesen „dunklen Ursachen und unendlich verschiedenen Wirkungen“ („oscurezza delle cagioni, e quasi infinita varietà degli effetti“, SN44: 7) „den Plan einer ewigen idealen Geschichte“ entdeckt: „la riduce in forma di Scienza, col discovrirvi il Disegno di una Storia Ideal’Eterna“ (SN44: 7). Aber eben genau deswegen, weil er keine Storia Ideal’Eterna in seiner „Philologie“ entdecken will, ist Ibn Khaldun ˉ moderner, ein Historiker und Gesellschaftswissenschaftler, kein universalistischer Philosoph.

Ricorso

12. Sechs Schlussbemerkungen über Metaphysik, poetische Charaktere und die Barbarei der Reflexion

1. Vicos Philosophie ist Philosophie Ohne Jules Michelet wäre Vico nicht der große europäische Denker geworden, als der er seit der französischen Übersetzung von 1827 gilt. Michelet hat Vico für Europa entdeckt. Aber Michelet hat, wie wir in Kapitel 8 gesehen haben, Vico auch auf eine bestimmte Interpretations-Schiene gesetzt, die Vicos Image in der Welt bis heute dominiert. Sein Buch heißt Principes de la philosophie de l’histoire, traduits de la Scienza nuova de J. B. Vico. Michelet hat Vico damit hineingerufen in die französische Tradition der „philosophie de l’histoire“, wie sie von Voltaire initiiert und von Herder und anderen weitergeführt wurde. Das ist eine radikale Verschiebung und Verkürzung des Vico'schen Werks. Michelets Vico-Adaptation tilgt schlicht und ergreifend die Philosophie aus Vicos Werk, auch wenn „philosophie“ im Titel des französischen Buches steht, und macht ihn zu einem Historiker. Vico selbst aber sagt deutlich, wohin er gehört: in die Philosophie tout court, nicht in die „philosophie de l’histoire“, die es zu Vicos Lebzeiten noch gar nicht gab. Der Titel seines Hauptwerks, Principj di una scienza nuova, ruft nämlich eindeutig die Tradition Bacons, Descartes’ und Newtons auf und nicht die „philosophie de l’histoire“, die außerdem, wie Croce bemerkte, keine Philosophie ist, sondern nur eine spezifische Art von Geschichtsbetrachtung.1 Wer „neue Wissenschaft“ sagt, schließt an Bacons Novum Organum an, wer „Prinzipien“ sagt, ruft Descartes’ Principia philosophiae und Newtons Principia mathematica auf. Es geht bei Vico zuvörderst um die Grundfrage der theoretischen Philosophie, um das wahre und sichere Wissen, um die „connaissance claire et assurée“, wie Descartes im Discours de la méthode das Ziel der (theoretischen) Philosophie bezeichnete.2

1 2

Croce 1911/1980: 136. Croce beklagt schon vor mehr als hundert Jahren, Vico sei „gleichsam begraben unter dem Namen des ‚Geschichtsphilosophen‘“ (1911/1980: 293), und nennt daher auch sein VicoBuch einfach und provokant La filosofia di Giambattista Vico. Es beginnt mit der gnoseologia vichiana, der Erkenntnistheorie Vicos. Der Grabhügel ist aber immer noch nicht abgetragen,

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Er wendet die theoretische Philosophie von der Naturbetrachtung auf die Betrachtung der menschlichen, politischen (civile) Welt. Aus Meta-Physik wird Meta-Politik. An dieser philosophischen Fragestellung ist Michelet nicht interessiert, ihn als Historiker interessiert allein der zweite Teil des Titels des Vico'schen Buches: d’intorno alla comune natura delle nazioni. Er reduziert die Scienza nuova auf die naturrechtlich-politische Problematik, beziehungsweise sogar auf den geschichtlichen Ablauf des mondo civile, wie Vico ihn konstruiert und in dem Michelet enthusiastisch das Prinzip der französischen Revolution, das politische Selbermachen, erkennt. Die Darstellung der Universalgeschichte ist aber nicht Vicos Hauptabsicht, sondern sozusagen nur die Beweisführung für die philosophische Hauptintention der Scienza nuova: Sie zeigt die aeterna et universalia, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der selbstgemachten politischen Welt, welche ihre Wissenschaftlichkeit (scien­za) ermöglichen (SN44: 163). Wenn wir uns die dipintura als bildnerische Gesamtdarstellung der Vico'schen Philosophie noch einmal vor Augen führen, so tilgt Michelet sozusagen die Figur der Metaphysik aus dem Bild. Durch dieses Wegoperieren der Philosophie ist Vico in seinem europäischen Auftritt bei Michelet nicht in seiner ganzen Größe und als derjenige erschienen, der er war: nämlich ein großer Gegner von Descartes und eine philosophische Alternative zu Kant. Wegen seines historisch-politischen Fokus entfernt Michelet des Weiteren nicht nur die Metaphysik aus dem Bild, er tilgt auch gleich das ganze Bild, dessen Sinn er nicht versteht. Die Principes de la philosophie de l’histoire unterdrücken die dipintura und ihre spiegazione und löschen im weiteren Verlauf des Textes systematisch Vicos ausführliche Erörterungen mythologischer Gestalten, der caratteri poetici, der Formen des wilden Denkens der Menschheit. Das zweite Opfer der Michelet’schen Manipulation des Vico'schen Textes ist also die Philosophie der poetischen Charaktere, das heißt Vicos Philosophie des menschlichen Geistes oder Zeichenphilosophie. Der mondo civile erscheint bei Michelet und damit im Großteil der Vico-Rezeption, nur als politische Universalgeschichte, nicht als Geschichte des menschlichen Denkens.

2. Vicos Philosophie ist eine Philosophie des verkörperten Geistes Die Tilgung der poetischen Zeichen entspricht einer Entfernung Homers aus der dipintura. Homer ist aber nicht zufällig die beherrschende Gestalt auf diesem Bild. Der – poetische Charaktere schaffende – Poet Homer ist nämlich das zweite sondern durch Wikipedia und andere Verbreiter von einmal gefassten idées reçues neu aufgehäuft und damit ewig und unverrückbar geworden.

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12. Sechs Schlussbemerkungen

„Prinzip“ und damit das zweite Herzstück der Philosophie Vicos. Dass die ersten Menschen „Poeten“ gewesen seien, die in „poetischen Charakteren“ gesprochen haben, nennt Vico seine discoverta. Sie ist der Ausgangspunkt für seine Philosophie des menschlichen Geistes, dessen Geschichte er als Entfaltung der Zeichen des Menschen erzählt. Der von Homer repräsentierte zeichenphilosophische – oder wie ich ihn nenne: sematologische – Strang der Scienza nuova ist vielleicht derjenige, der Vico am meisten an aktuelle philosophische und anthropologische Forschungen annähert. Während Geschichtsphilosophie heute weniger die Wissenschaften vom Menschen bewegt, ist die Genese des menschlichen Denkens derzeit eines der am meisten diskutierten Probleme. Michael Tomasellos Bücher über das Entstehen der menschliche Kommunikation und des menschlichen Denkens, Origins of Human Communication (2008) und A Natural History of Human Thinking (2014), sind in diesem Buch stellvertretend für diese Bemühungen genannt worden. Dass die ersten Menschen „Poeten“ gewesen seien, die in „poetischen Charakteren“ gesprochen haben, ist eine etwas altmodische Redeweise über die Genese des menschlichen Denkens in und als Zeichen. Sie meint aber nichts anderes, als dass das menschliche Denken durch seine eigene Aktivität, das heißt ja „poetisch“, anders gesagt „enaktiv“, in konkreten materiellen Formen entsteht, deren Bedeutung synthetisch mit diesen materiellen Manifestationen verbunden ist (embodied). Vicos Anticartesianismus korrespondiert aufs Schönste mit jener der modernen antikartesischen Kognitionswissenschaft, die das Denken als ein verkörpertes auffasst. Für diese entsteht das Denken nicht körperlos in der res cogitans, als mentale Repräsentationen (die dann von Zeichen exteriorisiert und kommuniziert werden können), sondern als körperlich-geistige Aktivität. Als Beispiel einer solchen modernen Philosophie der Verkörperung seien Autoren wie Alva Noë (2009) oder Shaun Gallagher (2005) genannt. Es ist auch kein Zufall, dass Alva Noës Buch Strange Tools. Art and Human Nature (2015) ein ziemlich vichianisches Buch ist. In der Berliner Forschergruppe “Bildakt und Verkörperung”, die mit der Philosophie der Verkörperung eng verbunden ist, gilt Vico als ein konstanter Bezugsautor.3 Die Verkörperungen des Denkens bei Vico sind „phantastisch“, sie verdanken sich eben dem geistigen Vermögen, das noch ganz im Körper verankert ist (Vico nennt es corpolento), der fantasia und dem ingegno.4 Sie sind keine rationalen abstrakten Begriffe, sondern sie repräsentieren das Allgemeine in konkreten Bildern, deswegen sind sie universali fantastici, phantasiegeschaffene Allgemeinbegriffe. Vico erfasst des Weiteren auf geniale Weise, dass die Verkörperung des Denkens nicht nur in Sprache vonstatten geht, sondern in gesamt-somatischen Handlungen, die er als mediale Zwillinge darstellt: Das Denken entsteht gleichzeitig in 3 4

Vgl. Marienberg (Hrsg.) 2017. Vgl. Verene 1981, Sanna 2001 und 2016.

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visuellen und akustischen Zeichenformen (lettere e lingue). Wie bei Tomasello das typisch menschliche Zeigen auf die Welt für den anderen (pointing) am Anfang steht, so geht auch Vicos logos aus dem Zeigen auf die Welt (additando) hervor und entfaltet sich in einem mimetischen Machen (poiesis). Der menschliche Körper „tanzt“ die Bedeutung. Tomasello nennt das pantomiming. Vico entwickelt eine einigermaßen komplizierte Geschichte des menschlichen Geistes in seinen visuellen und phonetischen Manifestationsformen in der Abfolge von göttlicher, heroischer und menschlicher „Sprache“ (ich würde sagen: Semiose), die weitere überraschende Parallelen zu modernen Szenarien der Sprach- und Zeichenevolution aufweist.

3. Vicos Philosophie des Geistes ist poetische Charakteristik Wie schon Michelet 1827 so tilgt auch die neue englische Übersetzung der Scienza nuova im Penguin-Taschenbuch (Vico 1999) das zweite Prinzip der Vico'schen Philosophie, beziehungsweise sie transformiert es durch das Übersetzen in etwas völlig Anderes. Vico hatte geschrieben, dass die ersten Menschen in „poetischen Charakteren“ gesprochen haben. Und er hat dies als seine mühsam und spät errungene discoverta hervorgehoben. Diese Einsicht ist ihm also ganz besonders wichtig. Vico weiß genau, dass dies in der Tat seine wirklich neue philosophische Einsicht ist. Das sogenannte „Vico-Axiom“, also dass die Menschen die politische Welt selbst gemacht haben und dass man sie deswegen sicher erkennen kann, hat ja durchaus Vorgänger, etwa Hobbes, und ist daher nicht so revolutionär neu. Die poetischen Charaktere als erste Zeichen des Menschen aber sind Vicos Entdeckung, die ihn, wie er sagt, fast sein ganzes literarisches Leben gekostet hat. In der englischen Übersetzung im Penguin-Taschenbuch – also in dem Text, der das Schicksal Vicos in der heutigen anglophonen Welt bestimmt – sprechen die ersten Menschen nun aber in „poetischen Symbolen“: „[…] the first peoples of pagan antiquity were, by a demonstrable necessity of their nature poets who spoke by means of poetic symbols” (Vico 1999: 24).5 Der – entscheidende – Ausdruck “Charakter” ist verschwunden. Bei dem etymologisch aus der Sprache heraus denkenden Vico ist damit alles getilgt, was ihm in der Semantik dieses Ausdrucks wichtig war: Der charakter ist etymologisch die „Einritzung“ (von gr. charassein), eine abdruckhafte Zeichnung, Charakter ist das Schriftzeichen, er ist aber auch die Person eines Dramas oder einer Geschichte und der Persönlichkeitstyp (wie in den Charakteren von Theophrast und La Bruyère). Charakteres haben bildhaft darstellende Funktion. 5

Leider zitiert auch Pollock (2009) diese Übersetzung der Scienza nuova. Der Bezug auf Übersetzungen, den Pollock in der philologischen Arbeit so problematisch findet, wird noch problematischer durch den Bezug auf schlechte Übersetzungen.

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12. Sechs Schlussbemerkungen

Vicos Philosophie des poetisch verkörperten Denkens ist explizit eine poetische Charakteristik. Der englische Ersatzterminus „Symbol“ hat demgegenüber eine ganz andere Bedeutung und Tradition: Das symbolon ist keine „Einritzung“, kein Schriftzeichen, keine Person, sondern primär nur ein Erkennungszeichen aus zwei zusammenpassenden Teilen irgendeines Gegenstandes (von symballein „zusammen-werfen“). Die Funktion des symbolon ist rein kommunikativ, nicht darstellend. Der Ausdruck „Symbol“ ist wegen seiner ursprünglichen semantischen Leere und materiellen Unbestimmtheit viel allgemeiner als „Charakter“. Er hat dann eine mächtige religiöse Tradition, in der aber zunächst die Funktion des kommunikativen Erkennungszeichens dominiert. Er verweist in der modernen Philosophie etwa auf Peirce und Cassirer. Das war natürlich die Absicht des modernisierenden Übersetzers. Vico verwendet selbst das Wort „Symbol“ in einer ganz bestimmten Bedeutung, die nicht mit der des „Charakters“ übereinstimmt und die nun in der allgemeinen Bedeutung der „poetic symbols“ verschwindet. Vico erläutert den Ausdruck carattere poetico in Bezug auf seinen philosophisch-logischen Status: Caratteri poetici, so schreibt er, sind generi fantastici, also phantasie-geschaffene Allgemeinbegriffe. Die englische Übersetzung deutet diesen Ausdruck zunächst einigermaßen korrekt als „imaginative general categories“ (obwohl auch „category“ nicht dasselbe ist wie genere und Vico den sehr aristotelischen Ausdruck „Kategorien“ überhaupt nicht verwendet). Aber sie fügt – nunmehr völlig übergriffig – hinzu: „or archetypes“: „[…] their symbols were certain imaginative general categories, or archetypes“ (Vico 1999: 24). Davon steht nichts bei Vico, der Ausdruck “Archetyp” kommt bei Vico nicht vor. Die Hinzufügung von archetype ist ein Eingriff in den Text, der aus vielen Gründen unnötig und falsch ist. Archetypus ist von Descartes in der Dritten Meditation als neuer und ganz aparter Terminus verwendet worden. Nicht nur war dieser lateinische Ausdruck im 17. Jahrhundert durchaus ungewöhnlich, sondern Vico hätte dieses Wort auch niemals von seinem philosophischen Gegner zur Erläuterung seiner ureigensten Entdeckung übernommen. Die gedankenlose Hinzufügung will Vico modernisieren: „Archetyp“ kennt doch jeder, nicht wahr? „Archetyp“ ruft Vico aber hinein in einen ihm völlig fremden, modernen Diskurs, den der Jungschen Psychologie. Der Text reist aus dem Neapel des 18. Jahrhunderts ins Zürich des 20. Jahrhunderts, eine weite Reise! Auf diese terminologische Vernichtung und Verschiebung der Vico'schen Philosophie durch die neue englische Übersetzung hinzuweisen ist deswegen so wichtig, weil Vico in der sich abzeichnenden einsprachig englischen Weltkultur nunmehr ein Denker der „Symbole“ und „Archetypen“ sein wird. Er war und ist aber der Mann der poetischen Charaktere, die generi fantastici sind. Dass es anders gegangen wäre, beweist die nach wie vor unübertroffene erste Übersetzung der Scienza nuova ins Englische von Bergin und Fisch, in der die alten Poeten in „poetic characters“ gesprochen haben, welche „imaginative genera“ gewesen sind: „… the first gentile

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peoples […] were poets who spoke in poetic characters „ und: „The poetic characters of which we speak were certain imaginative genera“ (Vico 1948/1986: 21f.). Es geht doch.

4. Vicos Philosophie begründet eine Wissenschaft von der Kultur Ohne Auerbachs deutsche Übersetzung wäre Vico nicht der Gründungsvater einer Wissenschaft von der Kultur geworden, als der er hierzulande betrachtet wird. Auerbach hat Vico in die Diltheysche Begründung der Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften als Disziplinen von der „geschichtlichen Welt“ hineingerufen. Hierzu passte Vicos Philosophie vorzüglich: Weil wir sicheres Wissen von dem haben können, was wir selber gemacht haben, eben von der menschlichen Kultur, dem mondo civile, den Auerbach diltheyisch die „geschichtliche Welt“ nennt, ist unser Bemühen um das Verstehen kultureller Manifestationen Wissenschaft. Dieser Ansatz greift – im Gegensatz zu Michelet – immerhin Vicos philosophische Intention auf, bezieht sie aber sozusagen nur auf die Fundierung der Wissenschaftlichkeit der Kultur-Wissenschaft, weniger auf die Begründung von Wissenschaft überhaupt. In dieser Tradition ist Vico nun aber für etwas in Anspruch genommen worden, das er nicht vertrat, nämlich für die Wissenschaftlichkeit der Hermeneutik, also der Interpretation besonderer kultureller Gegenstände. Vicos Wissenschaft von der Kultur ist aber Wissenschaft im alten aristotelischen Sinne: Scientia debet esse de universalibus et aeternis (SN44: 163). Und das heißt implizit natürlich auch: de individuis non est scientia. Vicos Wissenschaftsauffassung passt daher gut zu Sozial- und Kulturwissenschaften, die Allgemeines und Gesetzmäßiges hinter den kulturellen und sozialen Manifestationen anvisieren. Sie passt nicht zu interpretierenden Annäherungen an partikulare historische Phänomene. Insofern war die Berufung auf Vico im hermeneutischen Lager ein Missverständnis. Vico ist kein Theoretiker der Interpretation. Aber über Vico hinausgehend – und vielleicht von der Ferne und indirekt durch Vicos Wissenschafts-Anspruch inspiriert – war die Begründung der Wissenschaftlichkeit hermeneutischer Verstehensbemühungen ja durchaus Gegenstand der allgemeinen Wissenschaftstheorie, die rationale Standards des Argumentierens und Beweisens auch für hermeneutische Disziplinen entwickelte. Diese Bemühungen um die Wissenschaftlichkeit der hermeneutischen Kulturwissenschaften – von Dilthey (1910) bis von Wright (1974) – scheinen aber allmählich vergessen worden zu sein. Bestimmte Kulturwissenschaften haben sogar in einer Art poststrukturellen, dadaistisch antirationalen Wahnsinns auf wissenschaftliche Standards völlig verzichtet und delirierende Diskurse als Verfahren der humanities zugelassen. Es war daher ein Leichtes, solchen jeglicher Kontrolle und Selbstkontrolle entbehrenden

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12. Sechs Schlussbemerkungen

Textproduktionen Fakes unterzuschieben, die jene haltlosen Diskurse imitierten, und dann mit der Enthüllung die humanities zu blamieren. Das berühmte Beispiel ist der Aufsatz von Alan D. Sokal: “Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity” von 1996. Solche Streiche diskreditierten aber nicht die Kulturwissenschaft insgesamt, sondern nur eine bestimmte Richtung – zum Wohle ernsthafter wissenschaftlicher Verfahren in unseren Disziplinen. Denn auch wenn Vico kein Theoretiker der Hermeneutik war, so bestärkt er doch die humanities in der Gewissheit, dass Wissenschaft vom mondo civile möglich ist. Er besteht allerdings auf der Einhaltung von Prinzipien der Wissenschaftlichkeit. Nach diesen vier Bemerkungen, mit denen ich hier am Ende noch einmal die Motive meiner Beschäftigung mit Vico im Kontext heutiger Vico-Studien etwas polemisch situiert habe, möchte ich mein Buch mit zwei eher melancholischen politischen Bemerkungen abschließen. Ich wende meinen Blick von Homer auf Herkules, den „politischen Helden“, auf den corso der Geschichte und damit zurück auf die dipintura insgesamt, denen Vico einige warnende – oder verzweifelte – Betrachtungen widmet, die mich immer bewegt und beunruhigt haben.

5. Über die Barbarei der Reflexion Vicos Geschichtskonstruktion, die storia ideale eterna, beschreibt einen doppelten historischen Ablauf: Aus dem Herumirren vorgeschichtlicher bestioni, dem barbarischen error ferino, gehen zunächst „göttliche“, das heißt theokratische Priesterherrschaften hervor, die sich in „heroische“, aristokratische Regierungen transformieren, um schließlich „menschlichen“ – entweder monarchischen oder repu­ blikanischen – Regimen Platz zu machen, deren politisches Hauptcharakteristikum die Rechtsgleichheit der Bürger ist. Eine solche „menschliche“ Ordnung ist in der Spätantike durch den Germaneneinfall zerstört worden, so dass die Welt in eine „zweite Barbarei“ (barbarie ricorsa) versank. Aus dieser erhob sie sich in einer neuen Abfolge von göttlichen, heroischen und menschlichen Regierungsformen und Kulturen. Im 18. Jahrhundert lebt Vico in „menschlichen“ Zeiten. Die Scienza nuova endet, in der conchiusione dell’opera, mit einer Betrachtung über die Weltgeschichte, die ein mögliches erneutes Versinken in der Barbarei denkt. Sie imaginiert einen totalen Zusammenbruch des menschlichen Zusammenlebens und fragt, wie die Gesellschaften aus einer solchen Anarchie, „ovvero la sfrenata libertà de’ popoli liberi“ (SN44: 1102), „der entfesselten Freiheit der freien Völker“, herausfinden. Es gibt drei Wege aus dem Chaos: Erstens können die Völker durch einen Monarchen die Ordnung wiederherstellen, sie können sich sozusagen durch einen Augustus zähmen lassen, das ist die Lösung von innen. Zweitens können die durch ihre Dekadenz geschwächten Völker erobert werden und somit von außen aus ihrer selbstverschuldeten Sklaverei des Lasters geführt werden, durch stärkere Völker,

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die „von Natur aus die besseren sind“ („sono per natura migliori“, SN44: 1105). Vico denkt hier vermutlich an das Schicksal Ägyptens und Griechenlands in der römischen Eroberung. Die eroberten Völker finden durch die Fremdherrschaft wieder zu menschlichen Zuständen zurück. Die dritte Möglichkeit ist, dass nichts dergleichen geschieht und in „langen barbarischen Jahrhunderten“ („lunghi secoli di barbarie“, SN44: 1106) die Städte zu Wäldern und die Wälder zu Menschenhöhlen werden. Imperiale innere oder äußere Aufräumarbeiten des Chaos sind heute kaum noch erfolgreich. Napoleon hat das Chaos in Frankreich nicht wirklich in den Griff bekommen, Trump richtet das Chaos erst an. Auch die Eroberung und Besetzung von Ländern wird nicht als Ermächtigung „besserer“ Völker erlebt. Die Deutschen haben mit ihrem Eroberungskrieg Europa ins Chaos gestürzt. Irak und Afghanistan wehren sich gegen die „besseren“ Völker, die sie erobern. Es scheint, dass nur der dritte Weg noch offen ist: die langen Jahrhunderte der Barbarei. Diesen Zustand äußerster gesellschaftlicher Verkommenheit beschreibt Vico als eine Gesellschaft des extremen Egoismus. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, „an nichts zu denken als an den besonderen Vorteil eines Jeden“ (in der Übersetzung von Auerbach) („di non ad altro pensare ch’alle particolari propie utilità di ciascune“, SN44: 1106). Sie leben in ihrer großen Zahl und Masse „mit tierischer Verkommenheit in vollständiger Vereinsamung des Gemüts und des Willen“ („nella loro celebrità o folla de’ corpi, vissero come bestie immani in una somma solitudine d’animi e di voleri“, ebd.). Sie können sich kaum miteinander verständigen, weil „jeder seinem eigenen Gefallen und seiner Laune folgt“ („non potendovi appena due convenire, seguendo ogniun de’ due il suo propio piacere o capriccio“, ebd.). Sie trachten mit „Schmeicheleien und Umarmungen nach dem Leben und den Gütern von Vertrauten und Freunden“ („dentro le lusinghe e gli abbracci, insidia alla vita e alle fortune de’ suoi confidenti ed amici“, ebd.). Diese Zustände verdanken sich einem Überraffinement, der „Barbarei der Reflexion“, barbarie della riflessione (ebd.). Sie ist schlimmer als die primitive, erste „Barbarei der Sinne“. Es ist ein Vorherrschen von Rationalität, „eine bösartige Herrschaft des Intellekts“, una riflessiva malizia, welche die Gesellschaften zersetzt und die Menschen zu unmenschlicheren Tieren macht, als sie es je gewesen sind. Während Vico bei dieser Schilderung wohl vor allem die Zustände der späten römischen Republik im Sinne hatte, hat der Journalist Frank Schirrmacher in seinem Buch Ego (2013) die aktuelle gesellschaftliche Situation ganz ähnlich beschrieben: als Gesellschaft eines raffinierten, technisch versierten, völlig ökonomisierten Egoismus. Wer erkennt in Vicos Gemälde nicht die große Zahl narzissistisch einsamer Menschen in der Masse? Wer sieht nicht den permanenten Bürgerkrieg in den sogenannten sozialen Medien, in denen die users – wie zum Beispiel der amerikanische Präsident – egoistisch nur der eigenen Laune folgen und nicht auf Verständigung abzielen? Wer bemerkt nicht den ständigen Betrug in den Umarmungen und Schmeicheleien durch Werbung und Politik? Die dazugehörigen

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12. Sechs Schlussbemerkungen

Kriege und Umweltzerstörungen haben in vielen Teilen der Welt die Städte zu Wäldern und die Wälder – sofern es sie noch gibt – zu Menschen-Höhlen gemacht, „far selve delle città, e delle selve covili d’uomini“ (SN44: 1106). Vico hat die neuesten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte nicht gekannt. Er hat nicht geahnt, welches Ausmaß und welche Intensität die Barbarei der Reflexion annehmen wird. Daher lässt ihn sein Vertrauen in die göttliche Vorsehung glauben, dass die dekadenten Völker aus der Barbarei der Reflexion doch noch herausfinden und dass die reflexiv barbarischen Völker schließlich doch wieder zu Einfachheit und guten Sitten zurückkehren: (SN44: 1106) [...] e così ritorni tra essi la pietà, la fede, la verità, che sono i naturali fondamenti della giustizia e sono grazie, e bellezze dell’ordine Eterno di Dio. [...] so kehren unter sie zurück Frömmigkeit, Treue, Wahrheit, die die natürlichen Grundlagen der Gerechtigkeit sind und Gnaden und Schönheiten der ewigen Ordnung Gottes. (Vico 1924: 423) Eine solche Hoffnung besteht heute nicht mehr.

6. Rea metafisica Wie eine Welt aussieht, in der statt der göttlichen Vorsehung Zufall und Fatum herrschen, hat Vico in jener dunklen Ekphrasis dargestellt, die in der Scienza nuova von 1730 auf die spiegazione della dipintura folgt (Vico 2004a: 55–56). Sie diente an dieser Stelle der Verdeutlichung des schönen Bildes des von der Vorsehung gelenkten mondo civile durch seine Negation: „Du kannst, o Leser, die Schönheit dieses göttlichen Bildes [divina dipintura] leicht verstehen angesichts des Schreckens, welches dir gewiss die Hässlichkeit jenes anderen, völlig gegensätzlichen Bildes [altra dipintura tutta contraria] einflößen muss, das ich Dir nun zu betrachten gebe.“ Vico gibt das alternative Bild aber nur sprachlich, wobei er wie in der spiegazione mit Majuskeln auf die imaginierten Hieroglyphen verweist. Auf dem sprachlich gezeichneten Gegen-Bild kauert die falsche Philosophie, die rea metafisica, die böse Metaphysik, auf dem Boden eines von Gott verlassenen Globus, statt sich ekstatisch zu Gott und seiner Vorsehung höher emporzuheben, „più in suso innalzandosi“ (SN44: 2). Vico hat die finstere Ekphrasis dann in der Auflage der Scienza nuova von 1744 wieder getilgt. Weil die Scienza nuova von 1744 die Version ist, in der Vicos Werk gelesen wird, ist diese dunkle Vision von 1730 weitgehend unbekannt. Heute muss man sie aber in Erinnerung rufen. Denn Vicos verzweifelter Blick auf die Welt – hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung – lässt sich nicht mehr verdrängen.

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Mein Buch endet mit einem Bild, wie es mit einem Bild, der divina dipintura, begonnen hat, allerdings mit der altra dipintura tutta contraria – und ganz aus Worten: Das lichtvolle und sehende DREIECK erleuchtet die Weltkugel; dies ist die göttliche Vorsehung, welche den Globus lenkt. Die falsche und daher böse Metaphysik [rea metafisica] hat aber die FLÜGEL ihrer Schläfen an der Erdkugel festgemacht, auf der entgegengesetzten, schattenbedeckten Seite, weil sie sich nicht über die Welt der Natur erheben kann – und sie kann es nicht, weil sie sich nicht erheben will, und sie ist unfähig dazu, weil sie es nicht will. Daher lehrt sie in dieser ihrer Finsternis entweder den blinden Zufall Epikurs oder das ebenso blinde Fatum der Stoiker. Und gottlos meint sie, dass diese Welt Gott sei oder aus Notwendigkeit wirke, was mit den Stoikern auch Benedikt Spinoza glaubt, oder dass sie aus Zufall wirke, was aus jener Metaphysik folgt, die John Locke von Epikur bezieht. Und da sie mit beidem den Menschen aller Wahl- und Entscheidungsfähigkeit beraubt hat und da sie Gott alle Vorsehung genommen hat, lehrt sie, dass überall die Laune [capriccio] herrschen müsse, um – je nachdem – dem Zufall oder dem Fatum zu begegnen. Sie hält mit der linken Hand die BÖRSE, weil diese giftigen Lehren nur von verzweifelten Menschen gelehrt werden, die entweder als niedrige niemals teilhatten am Staat oder als hochmütige niedrig gehalten wurden oder nicht zu jenen Ehren aufgestiegen sind, deren sie sich in ihrem Hochmut würdig glauben, und daher unzufrieden sind mit dem Staat, wie Benedikt Spinoza, der, weil er ein Jude war, keiner Republik angehörte und daher eine Metaphysik erfand, die alle Republiken der Welt zugrunde richtet. Mit der rechten Hand hält sie die WAAGE, weil sie ja die Wissenschaft ist, die das Maß des Wahren gibt, oder die Kunst des guten Urteils. Weil sie aber zu anfällig und zu empfindlich ist, bleibt sie bei keiner Wahrheit stehen, fällt schließlich in den Skeptizismus und glaubt, das Gerechte und das Ungerechte seien von gleichem Gewicht. Sie bringt – wie es die furchtbaren Senonischen Gallier mit den Römern machten, die eine Lanze mit dem SCHWERT beluden – das Schwert aus dem Gleichgewicht, so dass es vor der anderen Seite überwiegt, wo der HEROLDSTAB MERKURS liegt, der das Symbol der Gesetze ist. Und so lehrt sie, dass die Gesetze der ungerechten Gewalt der Waffen dienen sollen. Der ALTAR ist zerfallen, zerbrochen der AUGURENSTAB, umgestürzt der KRUG, verloschen die FACKEL. Und so verweigert man einem tauben und blinden Gott alle göttlichen Ehren. Und überall sind die göttlichen Zeremonien abgeschafft, und folglich sind bei den Nationen auch die feierlichen Ehen beseitigt, die bei allen mit göttlichen Zeremonien geschlossen werden, und es herrschen Konkubinat und Hurerei.

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12. Sechs Schlussbemerkungen

Das RÖMISCHE RUTENBÜNDEL ist aufgelöst, verstreut und versprengt, und daher ist alle von den Religionen geforderte Moral mit der Vernichtung derselben verloschen, verloschen ist alle ökonomische Zucht mit der Auflösung der Ehen. Tatsächlich geht die politische Lehre unter, womit sich alle zivilen Herrschaftsformen auflösen. Die STATUE HOMERS liegt auf der Erde, weil die Poeten mit der Religion bei allen Heiden die Humanität begründet haben. Die ALPHABETTAFEL liegt zerbrochen auf dem Boden, weil die Wissenschaft der Sprachen, mit denen die Religionen und die Gesetze sprechen, es ist, die diese bewahrt. Die ASCHENURNE im Wald trägt die Aufschrift LEMURUM FABULA. Und die Schar des PFLUGS verliert die Spitze. Und es verschwindet der allgemeine Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, und die Leichen werden unbestattet auf der Erde zurückgelassen, und man gibt die Kultivierung der Felder auf und die Städte entvölkern sich. Und das RUDER, die Hieroglyphe der gottlosen Menschen ohne menschliche Sprache und Sitte, verwildert wieder in den Wäldern. Und es kehrt zurück der viehische Gemeinbesitz der Sachen und der Frauen, die sich die Männer mit Gewalt und Blut aneignen müssen.

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Nachweise Die Kapitel 1, 4, 5, 7, 8, 9, 12 greifen auf folgende Arbeiten zurück, die für das vorliegende Buch – zum Teil erheblich – überarbeitet worden sind: 1. „Herkules, Homer und die Metaphysik: Zur Philosophie von Giambattista Vico.“ In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 31/3 (2006):229–260. 4. „Vindizierte Vaterschaft oder Vicos Digression über das Ingenium und das Lachen.“ In: Bernhard Dotzler und Helmar Schramm (Hrsg.): Cachaça. Fragmente zur Geschichte von Poesie und Imagination (Fs. Carlo Barck). Berlin: Akademie Verlag 1996:154–159.

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Image Wo rd Action

Editors Horst Bredekamp, David Freedberg, Marion Lauschke, Sabine Marienberg, and Jürgen Trabant

Imag0 Sermo Actio

Bild Wort Aktion

Bereits in der Reihe erschienene Bände: Band 1

23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung Hrsg. von Marion Lauschke, Pablo Schneider ISBN 978-3-11-055962-0

Band 2 Horst Bredekamp

Image Acts. A Systematic Approach to Visual Agency ISBN 978-3-11-053630-0

Band 3

Ikonische Formprozesse. Zur Philosophie des Unbestimmten in Bildern Hrsg. von Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel ISBN 978-3-11-053103-9

Band 4

Symbolic Articulation. Image, Word, and Body between Action and Schema Hrsg. von Sabine Marienberg ISBN 978-3-11-055812-8

Band 6 Mark-Oliver Casper

Social Enactivism. On Situating High-Level Congnitive States and Processes ISBN 978-3-11-057567-5