Gestalt und Gedanke: Ein Jahrbuch: 1951 9783486779417, 9783486779400


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German Pages 227 [248] Year 1951

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Table of contents :
INHALT
ABBILDUNGEN
AKADEMIEREDE 1951
TAG DES JUNGEN ARZTES / AUS DEM SCHLUSSBAND EINER JUGENDGESCHICHTE
RICHARD STRAUSS: LETZTE AUFZEICHNUNG
VOM LEBENSGESETZ UND WANDEL DER BILDKUNST / EIN VORTRAG
GÖTTERSUCHE
ÜBER MAX BECKMANN
DEM GEDENKEN AN HEINRICH TESSENOW
APOLLO INVITUS
SAINTE
HEILIGE
HOELDERLING UND SOPHOKLES
NEUE HORIZONTE
DIE SPÄTE ORESTIE
JÄGERGLÜCK
JÜNGLINGSHERRLICHKEIT
DAS DING
EINSAMER NIE
RHYTHMUS UND SPRACHE IM DEUTSCHEN GEDICHT / AUS EINEM ESSAY
AUS DEN ERINNERUNGEN AN DIE OSTSEE, 1937/39
DIE EINHEIT DES MENSCHEN MIT DER WELT GEDANKEN ZU GOETHES FRÖMMIGKEIT
«URWORTE»
PAIAN
HYMNUS
DIE MÜNCHNER RESIDENZ IM WIEDERAUFBAU DER STADT
MADELEINE WINKELHOLZERIN
Heiliger Berg
ANMERKUNGEN
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Gestalt und Gedanke: Ein Jahrbuch: 1951
 9783486779417, 9783486779400

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GESTALT UND GEDANKE

GESTALT U N D GEDANKE EIN JAHRBUCH

HERAUSGEGEBEN VON DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER SCHÖNEN

KÜNSTE

I M V E R L A G V O N R. O L D E N B O U R G

V E R A N T W O R T L I C H FÜR D I E R E D A K T I O N : CLEMENS GRAF BUCHGESTALTUNG:

PODEWILS

EMIL PREETORIUS

Copyrigth 1951 by Verlag von R. Oldenbourg München

INHALT

WILHELM HAUSENSTEIN / Akademierede 1951

9

HANS CAROSSA / Tag des jungen Arztes

16

WILLI SCHUH / Richard Strauß: letzte Aufzeichnung

52

E M I L PREETORIUS / Vom Lebensgesetz und Wandel der Bildkunst

40

WILHELM LEHMANN / Göttersuche

61

ERHARD GÖPEL / Über Max Beckmann

63

PAUL SCHMITTHENNER / Dem Gedenken an Heinrich Tessenow J O S E F BERNHART / Apollo invitus

68 75

STÉPHANE MALLARMÉ / Heilige Übertragung von Wilhelm Hausenstein K A R L REINHARDT / Hoelderlin und Sophokles

76 78

WALTER R I E Z L E R / Neue Horizonte Bemerkungen zu Carl Orffs Antigonae

103

ERNST BUS CHOR / Die späte Orestie

117

GEORG BRITTING / Jägerglück

123

ERNST PENZOLDT / Jünglingsherrlichkeit

125

MARTIN H E I D E G G E R / Das Ding

128

GOTTFRIED BENN / Einsamer nie

149

FRIEDRICH GEORG im deutschen GedichtJ Ü N G E R / Rhythmus und Sprache CARL J . BURCKHARDT an die Ostsee, 1937/39 / Aus den Erinnerungen

151 161

F R I E D R I C H G O G A R T E N / Die Einheit des Menschen mit der Welt

167

I N G E W E S T P F A H L / Paian

189

S Y M E O N D E R N E U E T H E O L O G E / Hymnus Übertragung von Joseph Bernhart

199

R U D O L F EiSTERER / Die Münchner Residenz im Wiederaufbau der Stadt

202

W I L H E L M D I E S S / Madeleine Winkelhokerin

208

H A N S C A R O S S A / Heiliger Berg

223

ANMERKUNGEN

226

ABBILDUNGEN R I C H A R D STRAUSS / Tagebucheintragung

34

M A X B E C K M A N N / Die Argonauten

64

H E I N R I C H T E S S E N O W / Entwurf einer Treppe K A R L CASPAR / Skizzen

72 102, 116, 201

C A R L O R F F / Aus der Partitur der „Antigonae"

104

G E R H A R D M A R C K S / Mädchenakt

160

HANS P F I T Z N E R / Aus der Partitur des unvollendeten Werks auf Goethes „Urworte. Orphisch"

188

A D O L F A B E L / Entwurf einer Neugestaltung des Hofgartens in München 206 Lageplan der Münchner Residenz

206

M A X L A E U G E R / Frauenkopf

206

WILHELM HAUSENSTEIN PRÄSIDENT DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER SCHÖNEN KÜNSTE AKADEMIEREDE 1951 Unsere Körperschaft hat sich den Namen einer «Bayerischem Akademie der Schönen Künste gegeben. Sie trägt ihn seit ihrer Gründung vor drei Jahren. Aber vielleicht empfiehlt es sich, das Attribut «bayerisch» einmal näher auszudeuten. Dieses Beiwort also besagt, daß unsere Akademie es für richtig hält, an einem bestimmten, mit kulturgeschichtlicher Eigentümlichkeit entwickelten und auch jetzt, nach der Katastrophe von 194;, noch immer spezifischen Standort t(u stehen: an dem künstlerisch besonders verdichteten Standort, der München heißt, und von ihm aus zunächst eine konkrete, eine unmittelbar zu überschauende Situation in den Blick zu fassen - diejenige eben, welche den Namen Bayern trägt. Wir sind der Meinung, daß es dem echten Maß des Menschen entspricht, vorab mit solchen unmittelbar zu überblickenden Größen zu arbeiten: denn diese sind es, die unmittelbar einzusehenden konkreten Dimensionen, die für ein recht eigentlich humanes Verhältnis z^m Leben die Grundlage bieten und für ebendieses humane Verhältnis ZUM Dasein Gewähr leisten. Derart also war und ist der Anfang unserer Initiative orientiert: das Erste und Nächste unserer Arbeit. Man muß als lebendiger Mensch sich an einer bestimmten Stelle zu Hause wissen, wie man an einer bestimmten Stelle geboren und begraben wird. Wenn unsere Akademie sich demnach «bayrisch)) nennt, so bedeutet dies gleichwohl nicht, daß sie den Wunsch und Willen hätte, sich in das Bayerische hinein abzusondern, ausschließlich das Bayerische zu sichten und zu pflegen. Unsere Akademie nimmt München und das 9

Bayerische vielmehr auch in der echten Absicht wahr, mit gegründeter Sicherheit ins Weitere blicken: den Radius ihrer Aufmerksamkeit und Sorgfalt auf alle Anliegen deutscher Kunst überhaupt erstrecken. Indem unsere Institution sich sozusagen an der Schwelle als bayerische Akademie konkretisiert, unternimmt sie es nur um so gewisser, in das Gan^e deutscher Kultur wirken. Auf dieses Gan^e, das Gan^e im künstlerischen, im kulturellen Sinne des Wortes, kommt es uns von München und Bayern her durchaus an. Daran wollen wir keinen Zweifel lassen. Indem wir vom bayerischen Standort ausgehen, trachten wir danach, eine vollständige deutsche Akademie auszumachen. Unsere Mitglieder wohnen und wirken in der Tat denn auch in den verschiedenen deutschen Landen; die außerbayerischen sind in der Überzahl; dies ist bedeutsam. Doch mehr, meine Damen und Herren. Ist es unserer Akademie zunächst um Bayern und München tun in dem soeben erläuterten Sinne nämlich, daß ein Leben in konkreten, in unmittelbar überschauenden Zusammenhängen %um natürlichen Wesen des Menschen, t(u seiner geschöpfliehen Bedingtheit gehört, so ist es uns von unserem eindeutigen Standort her weiterhin jedoch nicht nur um alle deutsche Kunst, sondern darüber hinaus um den Okzident tun. Diese «Bayerische Akademie» ist nicht nur deutschen, sondern ebensowohl und zugleich abendländischen Gepräges. Sie ist es bereits jet^t. Nachher davon etwas mehr. Lassen Sie mich hier erst eine kur^e paradigmatische Betrachtung rückblickender Art über das Thema «München und Europa», «München und die Weih einfügen. Nach beinahe einem halben Jahrhundert der Zugehörigheit der künstlerischen Zone, deren Mitte «München» heißt, wäre ich gewiß der letzte, ebendieser Mitte und der bayerischen Sphäre im ganzen eine eigentümliche, an Werten reiche künstlerische Ergiebigkeit bestreiten. Andererseits ist freilich offenkundig, wieviel diese Stadt 10

reden wir der Kür^e halber für diesmal nur von ihr - den Beiträgen aus der abendländischen Welt insgesamt verdankt. In Stichworten einige Beispiele. Der Belgier Orlando di Lasso, neben Palestrina wohl der größte Komponist der Renaissance, hat im München des sechzehnten Jahrhunderts als Kapellmeister des Herzogs Albrecht des Fünften eine musikalische Tätigkeit von europäischer Tragweite entfaltet. Der italienisch gebildete Niederländer Sustris schuf an der Michaelskirche. Das bezaubernde Sinnbild Bayerns, jene bald nach 1600 entstandene Figur der «Tellus Bavarica» vom Hofgartentempel, ist das Werk eines in Italien geschulten Niederländers, des Hubert Gerhard. Als Dekorateur, Maler, Architekt wirkte in München etwa um die nämliche Zeit der Flame Pieter de Witte, seit seiner italienischen Epoche Pietro Candida geheißen. Die Theatinerkirche verdankt die Vollendung ihrer herrlichen Kuppel und den einzigartigen Schmuck ihrer barocken Turmhelme dem Graubündner Zuccali. An der nämlichen Kirche und am Schloß Nymphenburg hat der Italiener Barelli bestimmend mitgearbeitet. Die Münchner Dreifaltigkeitskirche, deren Front so kompakt, so wohlgegliedert, so energisch in die Straße vordringt, ist ein Werk des Italieners Viscardi - nicht anders als der Bürgersaal an der Neuhauser Straße und die Klosterkirche zu Fürstenfeldbruck. Der Belgier Cuvillies, als Künstler in Paris erlogen, hat das alte Residenztheater, hat die Amalienburg gedichtet - dieses köstlichste Rokoko der Erde. Der größte Meister der Nymphenburger Porzellanmanufaktur, ja des europäischen Porzellans überhaupt war ein Tessiner: Bustelli. Dem Franzosen Metivier endlich dankt München die beispielhafte klassizistische Noblesse des Palais Almeida. Freilich: dies alles kennzeichnet Epochen, in denen Europa als solches existent war - Europa, das unsere Zeit nach zerstörenden Ge11

schebnissen und unter sehr veränderten Umständen aufs neue erst wiederherzustellen sucht. Und nun: genug der außerbayerischen, außerdeutschen Namen, so leicht sie sich würden vervielfachen lassen. Diese werden ja nicht um ihrer selbst willen aufgeführt, sondern als Argumente einer bestimmten These, die besagt: München hat, um München zu werden, je und je des europäischen Beitrags bedurft. Lassen Sie mich nun aber auch sogleich die gebührende Folgerung anschließen, die aus dem Geschichtlichen wieder ins Gegenwärtige führt: München wird, um weiterhin München zu sein, auchferner des abendländischen Beitrags überhaupt bedürfen - es wird eine europäische, eine abendländische Stadt sein oder es wird nicht sein. Man darf mir glauben, daß mir die eigenwüchsige Schönheit der Frauenkirche ans Herz greift. Dennoch bleibt wahr, daß für München immer wieder die Zufuhr künstlerischer Kräfte heilsam gewesen ist. Und allerdings: für diese wachsenden Kräfte ist München je und je, ein Wort des unvergeßlichen Karl Wolfskehl gebrauchen, ein erstaunlicher Humus gewesen - es hat an den von weit her gekommenen Kräften je und je eine erstaunlich gewinnende, anregende, einverwandelnde Fähigkeit bewiesen. So ergibt sich die zwingende Forderung: man tue die Tore Münchens weit auf, damit immer aufs neue das Europäische einströme. Im übrigen: man fürchte nicht, das ÖrtlichEigentümliche Münchens, die besondere Kulturlandschaft «Bayern» würde darunter leiden. Gerade in europäischen Begegnungen ist München, ist Bayern immer neu zu sich selbst gekommen. Es ergibt sich noch eine zweite Folgerung aus dem Gesagten: diese nämlich, daß es für München und Bayern gut ist, seine eigenen schöpferischen Kräfte dem Einfluß des weiteren Abendlandes auszusetzen. Keiner wird den Brüdern Asam das Bayerische, wenn ich so sagen darf: das Zünftig-Oberbayerische bestreiten, aber jeder Unterrichtete weiß, daß sie in einem von Bernini her bestimmten 12

Rom gebildet worden sind. Keiner wird das eigenwüchsige Talent des Dachauer Gärtnersohnes Effner in Zweifel Riehen. Doch sollte man daran denken, daß der Baumeister und Dekorateur, der den poetischen Charme des Palais Preysing aus seiner Handfließenließ, in Paris unterrichtet worden war. Niemand bezweifelt das Bayerische in Leibis Malerei; aber niemand auch sollte die Bedeutung der Internationalen Kunstausstellung von 1869 im Glaspalast verkennen -jener Ausstellung, in welcher die Franzosen, Courbet voran, so nachdrücklich gegenwärtig waren, daß Leibi sich getrieben fühlte, nach Paris gehen. Der malerische Realismus der Franzosen jener Generation tat gerade hierzulande eine so starke Wirkung, daß sich eine ganze deutsche Malerschule, von Leibi, Thoma, Trübner geführt, mit ihm auseinandersetzte. Nicht erst davon reden, daß Spit^weg, Münchner par excellence, ein ausgebildet malerisches Element aus Frankreich nach München her üb ertrug; daß Schleich und Lier, der zweite besonders von Dupré bereichert, den Stil des paysage intime von Barbizpn nach München brachten. Nicht weiter auch davon zu reden, daß das Konstruktiv-Malerische eines Cézanne vor 1914 eine Generation junger Münchner Maler, die Generation des hochbegabten Pfälzers Weisgerber begeistert hat. Wenn es für München und Bayern eine Gefahr gibt, so ist es die eines selbstgefälligen Lokalismus und Provinzialismus, der sich gegen das gesamtdeutsche Kulturbild, gegen das Abendländische, gegen die Welt verschließt und, bar der universalen Maßstäbe, europäische Beiträge weder zu empfangen noch zu leisten weiß. Solche Gefahr, nach 1918 von einer gewissen horizontlosen Münchner Kleinbürgerlichkeit heraufbeschworen, kann gar nicht ernst genug wahrgenommen, gar nicht streng genug abgewiesen werden. Es war das von solcher Gefahr der Provinzjalität heimgesuchte München, das der Dichter Rilke abgeschreckt verließ. In dem dargelegten Sinne begreift unsere «Bayerische Akademie der 13

Schönen Künste» ihre deutsche, ihre europäische, ihre abendländische Aufgabe: als eine Aufgabe fruchtbarer Gegenseitigkeit %wischen München, dem Bayerischen, dem Deutschen überhaupt und dem Europäischen, ja der Welt. Aus solcher Gesinnung hat unsere Akademie begonnen, sich von München her über die deutschen Kulturbereiche auszudehnen und europäische Gestalten auch von jenseits der Grenzen ein%ube%iehen. Ich habe die Ehre, hier und heute auszusprechen, daß neuerdings unter anderen Namen die folgenden sich in der Form der Mitgliedschaft %um universalen Gedanken unserer Akademie bekannt haben: Paul Claudel; Albert Schweitzer; Benedetto Croce; Annette Kolb; Regina Ulimann; Mechtild Lichnowsky ; Rudolf Kassner; Max Picard; Carl J. Burckhardt; Oskar Reinhart; Alfred Kubin; Oskar Kokoschka; Hans Purrmann. Ich darf diese Namen aufführen, um exemplarisch darzutun, daß diese «Bayerische Akademie der Schönen Künste» von dem einen, bestimmten, bewährten Standort München her eine Konzeption entwickelt, die auf das kostbarste menschliche Gebilde gerichtet ist, das uns verblieb und das wir aus gemeinschaftlichem Geiste verteidigen müssen: auf das - noch nicht untergegangene - Abendland.

14

HANS CAROSSA TAG D E S J U N G E N ARZTES / AUS DEM SCHLUSSBAND E I N E R J U G E N D G E S C H I C H T E

W

ENN man zu Beginn dieses Jahrhunderts die Bevölkerung eines Ortes zahlenmäßig angeben wollte, so sprach man in unserer Gegend wohl meistens von Einwohnern, zuweilen aber auch noch, wie in alter Zeit, von Seelen, und die Stadt Passau hatte vierundzwanzigtausend Seelen. Von geschichtlichen oder politischen Schicksalen der Stadt soll übrigens hier nicht die Rede sein; jedenfalls ist Passau mit seiner Umgebung seit Jahrhunderten eines der wunderbarsten, merkwürdigsten Stadt- und Landschaftsbilder Deutschlands gewesen und wird es vermutlich immer bleiben. Wer zum ersten Male vom Mariahilfberg oder von der Burg Oberhaus über die Stadt hinsieht, wird von der Schönheit nnd Kühnheit ihrer Lage fast erschrecken, und es ist begreiflich, daß die verschiedenartigsten Geister sich von ihr angezogen fühlen. Der Erforscher der Erdrinde übt seinen Scharfsinn, wenn er die schweigsamen Orakel des Gesteins befragt, um die Vorgänge kennenzulernen, die sich in Urzeiten ereignet und schließlich die Halbinsel zurückgelassen haben, die heute Kirchen, Häuser und Gärten trägt. Der Liebende der Tierwelt aber, wie muß es ihn anmuten, wenn ihm auf sonnigen Hängen bei Obernzell die Smaragdeidechse begegnet, die ihn an südliche Reisen erinnert! Vor allem wissen es Zeichner und Maler, daß ihnen hier besondere Aufgaben gestellt werden. Manchem ist es wohl gelungen, Form, Farbenhauch 16

und Glanz der Landschaft einzufangen; auf die Künftigen aber warten wohl neue Probleme. An tiefgelegenen, mit steilen Höhen umbauten Orten wird das Auge ähnlich wie in Brunnenschächten lichtempfindlicher; dies merkt man in Passau vornehmlich an den seltenen Herbstund Frühlingstagen, wo warme trockene Winde von den Bergen fallen; wir sehen dann den Himmel so kornblumenblau wie er uns über den weiten flachen Ebenen fast nie erscheint, und jene zarten, leichtgeknickten Wolkenstriche, die das Volk «Regenwurzeln» nennt, glänzen silberweiß. Ohne Donau und Inn wäre freilich Passau immer nur eine verträumte Legendenstadt gewesen; die zwei mächtig zusammenflutenden Gewässer machten sie erst zu einer freien weltoffenen Siedelung, um die sich freilich jahrhundertelang weltliche und geistliche Herrschaften zankten und stritten. Fast jede Seitengasse führt zu einem Strand, und bei der letzten großen Überschwemmung von 1899 fuhren Zillen und Barken wie venezianische Gondeln durch die Straßen. Im Schlimmen wie im Guten war zu allen Zeiten das Wasser der natürliche Dämon der Stadt Passau. Die herrlichen, länderverbindenden Ströme sind stets auch bereit, gefährlich und feindlich zu werden. Wer die Totenbücher liest, wird über die Zahl der Kinder wie der Erwachsenen staunen, die vor allem der Inn jahraus jahrein verschlingt. In der Heiligen-Geist-Gasse sieht man eine Votivtafel aus Solnhofer Stein in eine Hauswand eingelassen: da weist eine Hand nach einem Kreuz, und eine alte Inschrift berichtet, bis hieher seien am Maria-Himmelfahrtstag, den 15. August 1501 «die Wassergüß' gangen». Über die Stadtmauer hinweg haben also damals Donau und Inn an der Stelle des HeiligenGeist-Spitals ihre Fluten vereinigt. 17

Meine ersten Passauer Monate fielen noch in die Zeit, wo ich meinen Aufenthalt als einen vorübergehenden ansehen durfte. Ich befand mich ja vorerst als Vertreter, ja gleichsam nur als Famulus des erkrankten Vaters, hier; auch stand mir noch die Promotion bevor, die ich in Leipzig ablegen sollte. Dennoch enthüllte mir die alte Stadt schon den Aspekt, der sich für einen jungen Arzt aus seiner Tätigkeit ergibt. Er geht ja mit andern Gedanken und Gesichten durch Tage und Nächte als irgendein Bürger oder ein durchreisender Gast. Wenn in der Dunkelheit lange Reihen erleuchteter Fenster friedlich seinen Weg begleiten, so weiß er in seinem verschwiegenen Herzen, daß es hinter diesen feierlich ruhigen Lichtern durchaus nicht immer froh und friedlich zugeht, und auch am hellen Tage hält ihm manches Haus eine Zeichenschrift entgegen, die kein anderer liest. Viele bemerken an gelblicher Mauer das Mutergottesbild mit der kleinen roten Lampe, die darunter brennt; er aber kennt auch das Erkerstübchen, das dahinter dämmert, und die junge Mutter, die nach überstandenen Wehen, ihr Kind an der Brust, in die Genesung hinüberschläft. Mancher mag auch noch über einem Torbogen den undeutlich gewordenen, schildhaltenden Adler von grauem Stein unterscheiden; doch wenige wissen, daß jetzt gerade hinter dieser Figur auf schweißdurchfeuchtetem Lager ein menschliches Anlitz langsam verfällt und stirbt. Von meinen Vormittagsbesuchen mit Verspätung heimgekehrt aß ich sehr eilig und ging sodann in das Wartezimmer, wo schon einige Patienten versammelt waren, besonders Frauen und junge Mädchen. Ein vollbärtiger Offizier ging ungeduldig zwischen den Sitzenden hin und her, stellte sich vor als Major S., bemerkte, die Uhr ziehend, er müsse zum 18

Dienst und bat, ihn gleich vorzunehmen. Mit strengem Blick verbeugte er sich gegen die übrigen Wartenden, was offenbar ein Ersuchen um Einverständnis bedeutete, und wer hätte es dieser kriegerischen Erscheinung zu verweigern gewagt ? Ich begriff, wie sehr es mein Ansehen vermehren mußte, daß eine solche Macht bei mir Hilfe suchte, obgleich mir noch der Doktortitel fehlte; eigentlich konnte ich es gar nicht glauben, und doch war es so. Kaum hatte sich nämlich die Türe des Ordinationszimmers hinter ihm geschlossen, da verwandelte sich der martialische Herr in einen bedauernswerten Hypochonder, der zwar von seinen Schmerzen in einem kommandierenden Tone sprach wie von etwas Ungehörigem, beinah Strafbarem, aber deshalb nicht weniger an ihnen litt. Immer wieder gab er mir seinen Puls zu fühlen und sah mich dabei so drohend an, als wollte er mir oder sich selber seinen Säbel durch den Leib stoßen, falls ich ein ungünstiges Urteil äußerte. Eigentlich tat ihm alles weh, besonders im Bereich der Eingeweide; doch zeigte sich an keinem Organ ein ernster Befund. Sehr ungehalten sprach er von Passaus anderen Ärzten: keiner von ihnen hätte für seine quälenden Zustände Verständnis bewiesen, einer sie sogar pure Einbildungen genannt, er werde sich ihrer keinem mehr anvertrauen. Er war nun in gewissem Sinne bei mir wirklich an den Richtigen gekommen; denn obgleich er, ohne es zu ahnen, mein jugendliches Weltbild auflockerte, in welchem bisher für einen kranken Soldaten kein Raum gewesen war, und obwohl mir Erfahrungen und Kenntnisse mangelten, vermochte ich doch seine Leiden gleichsam mitzuleiden, auf sie einzugehen und ihn zu beruhigen. Er verließ mich mit der Versicherung seiner Zufriedenheit, ging über mein Eingeständnis, die Promotion müßte ich leider

erst nachholen, mit einer wegwerfenden Handbewegung hinweg und bewahrte mir Treue, so lang ich in Passau blieb. Als ich in das Wartezimmer zurückkehrte, fiel mein Blick auf einen ganzen Strauß junger Mädchen, von denen einige schon zu meinen regelmäßigen Besucherinnen gehörten. Eine Unbekannte mit schwarzem rundem Strohhut und hellblauer Bluse stand, von mir abgewandt, vor der Blumenkrippe, in der eben einige Fuchsienstöcke aufgeblüht waren. Indessen sie durchs Fenster über die Straße sah, drückte sie mit ihren feinen Fingern die fest geschlossenen roten Blütenknospen auf; der leise Knall, der dabei entstand, schien ihr Vergnügen zu machen. Bei meinem Eintreten wurde sie sich ihrer Unart bewußt, ließ die Blumen in Ruhe und kehrte mir ein erschreckend bleiches Gesichtchen zu; es war, als brächte sie Todesluft in den hellen Sommertag herein. Deutliche Schwellungen der Augenlider ließen die Art ihres Leidens erraten. Auf einem Stuhle saß hüstelnd ein junger Priester von hektischem Aussehen, Fieberflecken auf den mageren Wangen, und las halblaut, ohne auf jemand zu achten, in seinem Brevier. Ein hübsches dunkles Mädchen lehnte in dem rotsamtenen großelterlichen Sofa und blickte träumerisch vor sich hin, als lächelte sie in einem unsichtbaren Spiegel sich selber zu; neben ihr saß eine Schöne mit rotem Haar in braunem Seidenkleid, einen Mimosenstock voll gelber Blütenkügelchen im Arm, in der Ecke eine Bäuerin mit einem Kind. Als ich nach kurzer Abfertigung der nächsten Kranken abermals die Tür zum Warteraum öffnete, sah eine ältliche Person, die in dem einstigen Lehnstuhl meines Großvaters ruhte, aus tiefer Versunkenheit zu mir auf und erhob sich mit feierlicher Umständlichkeit, um mir zu folgen, mußte jedoch ihren 20

Platz wieder einnehmen; denn katzenhaft gewandt hatte sich schon die Bleiche mit den geschwollenen Augenlidern vor ihr hereingeschmiegt und mir erklärt, sie könne nicht warten, sie dürfe den Rottaler Zug nicht versäumen. Sie war schon bei anderen Ärzten gewesen und wußte, worum es ging: aus einer ganz neuen roten Ledertasche nahm sie ein mit Watte umwickeltes Fläschchen voll weinheller Flüssigkeit, die ich untersuchen sollte. Beim Sprechen und Lachen zeigte sie regelmäßige Zähnchen von bläulichem Weiß; das Zahnfleisch aber hatte die Farbe sehr blasser Korallen. Während ich nun mit Reagensglas und Essigsäure über dem Spiritusflämmchen wie Zeus mit der Waage der Moira hantierte und das Los der Armen so tief sinken sah, daß mir aller Groll wegen der aufgesprengten Fuchsienknospen verging, legte sie die Watte zusammen und verwahrte sie in der roten Tasche. Plaudernd weihte sie mich in ihre Sorgen und Hoffnungen ein. Dem elterlichen Geschäft zu Liebe müsse sie bald heiraten und schon aus diesem Grunde rasch gesund werden. Augenscheinlich fehlte ihr die volle Einsicht in den Charakter ihres Leidens. Dieses wurde meistens nach dem Namen des englischen Arztes, der es zuerst erkannt und beschrieben hat, als Brigth'sche Krankheit bezeichnet. Sie galt als unheilbar und pflegte in zwei, drei Jahren tödlich zu enden. Es gab noch keinen Professor Franz Volhard, der später die wunderbarsten Rettungen bewirkte, indem er seinen Patienten als Vorbedingung jeder Kur die vollkommene Enthaltung von Kochsalz befahl. Was haben wir einstmals den Nierenkranken nicht alles widerraten! Paprika, Pfeffer, Ingwer, Kardamomen, Wein, Bier und Essig, dies alles sollten sie meiden wie Gift, und wer Geld genug hatte, wurde nach Sizilien ZI

oder Kairo geschickt. Das chlorhaltige Kochsalz aber, den schlimmsten Schädling für kranke, ermüdete Nieren, erlaubten wir ihnen und gaben ihnen höchstens den Rat, seinen Gebrauch soviel wie möglich einzuschränken, womit so gut wie nichts genützt war; denn nur der absolute Verzicht läßt Heilung erwarten. Um nicht abermals überlistet zu werden, hatte indessen die wunderliche Alte dicht an der Tür Platz genommen; sie war eine der Figuren, die man heut vergeblich suchen würde. Sie entfaltete einen unsagbar schmutzigen Papierbogen, der schon in Stücke zerfiel, sagte, dies sei ein Gutachten des verstorbenen Bezirksarztes Dr. L., ich sollte es lesen, und falls ich es verantworten könnte, erneuern, vor allem auch meinen Stempel daruntersetzen; denn eigentlich lebe sie nur von den Unterstützungen, die sie sich durch das Vorzeigen des Attestes bei verschiedenen Ämtern, Stiftungen und einigen privaten Wohltätern verschaffe. Auf mein Zeugnis würde man ihr vielleicht auch eine andere Wohnung zuweisen; denn ihre gegenwärtige sei zu feucht, und leider habe sie böse Nachbarinnen, darunter eine richtige Hexe, die ihr immer den Rheumatismus anzaubere, bald in die Knie, bald in die Schultern oder in die Hüften. Während ich den haarfein geschriebenen Zeilen entnahm, daß Fräulein Ida Krompaß, Appellationsgerichtsratsdienerstochter, wegen eines Herzklappenfehlers nicht mehr arbeitsfähig sei, begann sie sich zu entkleiden und sagte, das Zeugnis wäre schon vor Jahren ausgestellt, ihr Zustand jedoch seither noch viel schlimmer geworden, auch dieses möchte ich ihr bestätigen. Sie hatte sich für die Untersuchung, ihrem Geschmack entsprechend, hinreißend fein gemacht. Ihr Haar, nur wenig ergraut, war zu zwei hohen Wellen emporfrisiert, die sich 22

wie die Mithrazipfel eines Hohepriesters gegeneinander neigten, und zwischen diesen beiden Bögen stand ein winziger Strauß von künstlichen Vergißmeinnichtblüten. Das Hemd war eine Sehenswürdigkeit aus alter Zeit; es bestand fast nur aus echten Spitzen, doch waren überall Schleifen angebracht, hergestellt aus den bekannten gelben Seidenbändern, mit welchen Zigarren gebündelt werden, man konnte sogar noch Bezeichnungen darauf lesen wie Havana Coreos und Flor Fina. Über der müden welken Haut sah dies alles etwas gespenstisch aus; ich beeilte mich mit der Untersuchung und fing gleich an, ein überzeugend kräftiges Attest zu verfassen, als mir auf einmal einfiel, daß die ganze Mühe vergeblich war. Ich hatte mir wegen des mangelnden Doktortitels noch keinen Stempel anfertigen lassen und fand mich genötigt, die Alte zu bitten, sie möge sich nun doch zu einem andern Arzt begeben, da ich ihr nicht zumuten könne, das Vierteljahr bis zu meiner Promotion zu warten. Sie meinte aber, dies wäre nicht schlimm, sie werde sich die paar Monate noch mit dem alten Zeugnis behelfen und im November wieder vorsprechen. Ich wollte durchaus kein Honorar von ihr haben, erfuhr aber nun, was in der Folge sich mir oft bestätigte, daß immer die Armen dem Arzt gegenüber die nobelsten sind. «Nehmen Sie wenigstens diese Kleinigkeit!» sagte sie, legte ein winziges Briefchen auf den Tisch und ließ merken, daß eine Zurückweisung sie beleidigen würde. Ich entgegnete, das Zeugnis wäre ja doch vorderhand noch gar nicht geschrieben, nahm aber den Umschlag, spürte, daß er eine Münze enthielt, und legte ihn in ein leeres Malachitschüsselchen auf den Schreibtisch. Als kleine Gegengabe wollte ich ihr ein Herzkräftigungsmittel schenken, welches damals hoch gepriesen und von einer 23

Fabrik allen Ärzten zugesandt wurde; sie wehrte jedoch fast ängstlich ab; fast sah es aus, als wollte sie gern ihre Krankheit behalten, die ihr immerhin ein bescheidenes Einkommen sicherte. Zwei Leute, die nun kamen, wollten ihre Rechnungen begleichen; sie zahlten mit Goldstücken, und obgleich dies damals nicht ungewöhnlich war, empfand ich es doch als Anerkennung. Nun aber kam die Schöne, die den Mimosenstock brachte. Mit vertrauendem Lächeln trat sie herein; aber enttäuscht verließ sie mich nach einer Weile wieder, sichtlich befremdet von einer Veränderung, die seit ihrem ersten Besuch mit mir vorgegangen war, und ich konnte sie ihr nicht erklären, ohne sie zu kränken. Sie hatte mir damals nur allzu gut gefallen, so daß ich sie ungern entließ und die Geduld der Wartenden im Nebenzimmer auf eine harte Probe stellte. Sie mußte dann daheim ihrer Mutter eine hohe Meinung von mir beigebracht, ja sie beredet haben, mich doch ebenfalls zu konsultieren. Wirklich kam die Alte schon am nächsten Tag; aber das Wesen dieser unansehnlichen Witwe, vor allem ihr klanglos lautes Lachen stieß mich ab, und als nun die Tochter wieder vor mir stand, fand ich auch in ihr den Blick, die Stimme und die Bewegungen der süßlichen Matrone, ja ich glaubte vorauszusehen, daß nach abgefallener Jugendblüte die Tochter sich von der Mutter nicht viel unterscheiden würde. Meine erste Empfindung war erloschen, und aller Aufwand an ärztlicher Sorgfalt, Höflichkeit und dankbarer Mimosenbewunderung vermochten ihr nicht die herzliche Nähe zu ersetzen, die sie sich hatte erwarten dürfen. Während ich an dem schönen Sommertag dahinordinierte, gingen die Gedanken ihre eigenen Wege; sie verstärkten 24

aber alle nur die Überzeugung, daß das Leben, in das ich nun immer tiefer hineingeriet, nicht mein wahres Leben war. Ich träumte mir eine freie, an kein bestimmtes Geschäft gebundene Existenz und wußte, daß es mir unmöglich sein würde, dieses Lebensziel jemals aufzugeben. Vorerst freilich mußte meine Sehnsucht ein Geheimnis bleiben; dies war aber in der kleinen Stadt kaum durchführbar. Ich begriff, daß man eine Maske tragen und seine Flügelanlagen unkenntlich machen müsse, um hier als normales, also wertvolles Geschöpf zu gelten und nicht etwa in den Ruf eines Ausnahmemenschen zu kommen, der nicht nur für mich selber, sondern auch für das Ansehen des Vaters höchst schädlich werden konnte. Nach der letzten Konsultation blieb ich ein Weilchen allein, schrieb einiges auf und öffnete aus purer Zerstreutheit, eigentlich gegen meine Absicht, das Briefchen der armen alten Appellationsgerichtsratsdienerstochter; es enthielt zu meiner Verwunderung ein Goldstück. In diesem Augenblick fiel mir der große Paracelsus ein, der den Markgrafen Philipp von Baden von der Ruhr geheilt hatte und dafür von dem fürstlichen Betrüger um sein ausbedungenes Honorar geprellt worden war. Der bettelarmen Alten aber war ich die Ausfertigung des Attestes vorerst schuldig geblieben und hielt dennoch schon den überreichen Lohn in der Hand. Dies bedrückte mich ein wenig, ließ aber dennoch einen Plan in mir zur Reife kommen. Auf einem Zettel begann ich mir auszurechnen, wie viele solche Münzen ich mir jede Woche würde zurücklegen müssen, um nach etwa zehn Jahren von den Zinsen leben zu können, also jene Unabhängigkeit zu gewinnen, die Schopenhauer für den geistigen Menschen als wünschenswert, ja sogar als notwendig erklärt. Nie sollte der Goldschatz angetastet werden, und meine Be25

dürfnisse beschloß ich auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Nach zehn Jahren war ich fünfunddreißig und konnte mein weiteres Leben anwenden wie es mir gut erschien. Ermutigt von meinem verwegenen Plan sah ich durch das offene Fenster hinab in den heißen Tag der Bahnhofstraße. Der Optiker Kaps, der zur ebenen Erde sein Geschäft betrieb, hatte zur Werbung über dem Laden einen riesigen Zwicker angebracht, durch dessen blaue Gläser die Sonne zwei bläuliche Ovale auf die Steinplatten des Bürgersteigs warf. Zuweilen trat ein Vorübergehender in den farbigen Schein, um auf meinem Arztschild die Sprechstunden zu lesen, und in diesem Augenblick meldete mir die Klingel, daß noch ein Nachzügler eingetroffen war. Im Wartezimmer stand ein kleiner Mann in Eisenbahneruniform neben einer noch etwas kleineren Frau, die schon an ihrem Gruß als Österreicherin erkennbar war. Beide waren sichtlich bedrückt; sie baten um einen Krankenbesuch bei ihrem sechsjährigen Söhnchen. Der Junge war seit Monaten lungenkrank, und kein Mittel rührte bei ihm an. Ich folgte den Eltern in die Wohnung. Der Kleine fieberte, hustete blutigen Eiter aus und atmete mühsam. Seine Lunge war angegriffen; das konnte niemand bezweifeln. Dennoch befremdete das Krankheitsbild; ich vermochte es nicht so ohne weiteres in meine Tuberkulosefälle einzureihen. Der Vater, ein bayerischer Bahnschaffner, und die Mutter, eine hübsche Welserin, waren sichtlich gesund, überhaupt niemand in der Familie jung verstorben. Ich fragte nach früheren Erkrankungen des Knaben, und beide Eltern beteuerten, er wäre seit den Masern stets in Ordnung gewesen. «Einmal nur», erinnerte die Mutter, «hat er mir einen rechten Schrecken eingejagt, aber das ist lange her, wohl schon ein 26

Jahr. Ich sitze neben ihm und stricke und sehe, wie er mit meinem Uhrschlüsselchen spielt. Meine alte kleine Taschenuhr war ja noch eine von den altmodischen, die man mit einem winzigen Schlüsselchen aufziehen mußte. Ich gehe einen Augenblick aus dem Zimmer, und wie ich zurückkehre, schaut er aus, als müßte er ersticken, kriegt keine Luft, wird zwetschkenblau und pfeift und gurgelt und schnauft wie beim Keuchhusten. Ich hab gleich nach dem Herrn Bahnarzt geschickt; als der kam, war der Kleine schon ruhiger, und nun gestand er dem Herrn Doktor ein, er habe das Schlüsselchen verschluckt. Ach, die Kinder, sie müssen alles in den Mund nehmen.» - «Und was hat der Herr Doktor verordnet ?» fragte ich. - «Viel Sauerkraut essen und Brot und Bandnudeln, um das Ding einzuwickeln, damit es den Darm nicht verletzt.» - «Ist es zum Vorschein gekommen ?» — «Sicherlich.» - «Haben Sie's gesehen?» - «Das gerade nicht. Auf das viele Sauerkrautessen hin bekam er Leibschmerzen und Durchfall, da ist es gewiß abgegangen.» «Und womit ziehen Sie nun Ihre Uhr auf?» - Sie zeigte lächelnd ihr Handgelenk: «Seit meinem Namenstag trag ich eine Armbanduhr.» - «Und seit wann hustet der Kleine ?» - «O das ist wohl schon ein halbes Jahr.» Ich verschrieb ein Mittel gegen Fieber und Husten und ging in das Café Wittelsbach, um dort an einem abseitigen Tischchen über die Sache nachzudenken, die mir ziemlich rätselhaft vorkam. Alles will geübt sein, auch das Maskentragen; ich machte nur langsam Fortschritte darin: Immer noch ging es mir nah, wenn einer meiner Patienten starb, und manchmal zürnte ich dem Toten, daß er mir dies hatte antun können. Zuweilen schrieb ich den Hinterbliebenen gefühlvolle Kondolenz27

briefe; dann kam es vor, daß diese Bekundung des Mitgefühls als Eingeständnis unrichtiger Behandlung aufgefaßt wurde. Immer wieder vergaß ich auch, wie vorteilhaft es ist, so zu tun, als wüßte man alles. Nur die großen ärztlichen Berühmtheiten dürfen sich's erlauben, wenn jemand sie nach dem Wert eines neuen Mittels fragt, mit jovialem Lächeln zu sagen: „Ich kenne es nicht, ich habe keine Erfahrung darüber." Sie schaden dadurch dem Ansehen des Mittels, keineswegs ihrem eigenen. Bei dem Anfänger ist es umgekehrt. Nach und nach lernte ich Kollegen kennen, meistens wohlwollende, zuweilen auch andere. Ein neu zu Rate gezogener Arzt, der den Leuten bereits Autorität geworden ist, kann seinen noch unbewährten Vorgänger ohne ein Wörtchen des Tadels, durch ein bloßes Achselzucken, eine ironische Miene, ja durch eine scheinbar ganz korrekte, ganz allgemein gehaltene Bemerkung dermaßen schädigen, daß kein Gräslein des Vertrauens mehr wächst. In jenem Sommer begegnete mir zum erstenmal als unmittelbare Anschauung der unverhüllte, der fassungslose Schmerz der Seele, den ich sonst nur aus Erzählungen kannte. Die Mutter eines jungen Mädchens, das der Lungenschwindsucht erlegen war, ließ mich am Tage vor dem Begräbnis rufen, um mit mir über den Tod ihrer Tochter zu sprechen. Die Fragen, die der Arzt in solchen Fällen zu hören bekommt, sind fast immer die gleichen: Hätte der schlimme Ausgang nicht doch vermieden werden können ? Ist wirklich alles Notwendige geschehen ? — Aber nichts dergleichen vernahm ich. Das Haus lag an dem Kleinen Exerzierplatz, wo gerade eine Dult stattfand, und unser Gespräch ging manchmal fast unter in der betäubenden Blechmusik der großen Bierzelte, in dem bebenden Schreien der Moritatensänger. 28

Die Frau, die wohl nicht recht wußte, wie sie ihr Gefühl in Worte bringen sollte, war immer sehr in sich gekehrt gewesen; ich hatte ihr einmal zugesehen, wie sie die kranke Tochter wusch und kämmte. Diese war außerhalb des Betts auf einem Stuhl gesessen, indessen die Mutter mit Kamm und Bürste schweigend hinter ihr stand. Das Mädchen hatte lächelnd meine Verordnungen entgegengenommen und freundlich geplaudert; dabei waren immer wieder aus den Augen der Mutter Tränen in das dichte blonde Haar der Tochter gefallen, die nichts davon merkte. Jetzt schien die arme Frau in Grübelei versunken, unterdrückte einen schmerzlichen Ton, der sich ihrer Brust entringen wollte, kniete sich auf das leere Bett der Verstorbenen, erhob die Hände und preßte leidenschaftlich ihren Mund an die Wand. Man sah dort auf heller Tapete die dunklen Abdrücke, welche die feuchten Hände der Kranken hinterlassen hatten, wenn sie bei ihren vielen Schmerz- und Stickanfällen einen Halt suchte. Diese Stellen bedeckte die Mutter mit verzweifelten Küssen. Endlich wurde sie ruhiger, doch nur äußerlich. «Ich will aufrichtig mit Ihnen sprechen» sagte sie mit großem Ernst und lächelte unheimlich. « Sie wissen es, daß meine Anni nicht tot ist, und ich weiß es auch. Erbarmen Sie sich, lieber Herr Doktor, gehen Sie mit mir hinüber nach Sankt Severin! Mir würde der Herr Leichenwärter Graf die große Glashalle nicht aufsperren; Ihnen aber kann er es nicht verweigern. Ach, sie ist ein so rücksichtsvolles Kind; sie will niemand kränken, auch Tote nicht, und wenn sie scheintot, aber bei Besinnung ist,wird sie sich nichts anmerken lassen.» Meine Entgegnungen hörte sie höflich an, befreite sich aber nicht von ihrer Einbildung. «Sie werden es feststellen» sagte sie zuversichtlich. 29

Als wir die Wohnung verließen, schien sie gefaßt und ruhig. Wie es aber in ihrem Innern aussah, enthüllte sich, als wir durch ihren kleinen Gartenhof gingen. «Diese schwarzen Stiefmütterchen hätte ich nicht pflanzen sollen», sagte sie, «die haben das Unglück gebracht.» Wir fuhren mit der Seilfähre über den Inn. Die Reihe der Ufergebäude war wie ein Traum von südlicher Stadt. Wir fanden den alten Wärter der Toten, der eben auf seiner grünen Gartenbank ein wenig nickte, jedoch keinen Unwillen über die Störung seiner Sonntagsruhe verriet. Er hatte gewiß viel Sonderbares in seinem langen Leben gesehen und holte den Schlüssel mit dem erhabenen Lächeln eines Menschen, der ein für allemal entschlossen ist, sich über nichts mehr zu wundern. Das ganze vollzog sich schnell. Schon der Geruch im Räume der Aufgebahrten trieb zur Eile, und nach Öffnung einer Vene, als das Mädchen mit seinem todveredelten, aber schon sehr eingesunkenen und etwas puppenhaft gewordenen Gesicht wieder festlich dalag im weißen Seidenkleid mit Myrtenkranz und zurückgeschlagenem Schleier, da schien die Mutter völlig ernüchtert; sie weinte still in sich hinein, während ich von dem Gefühl, einen Frevel begangen zu haben, nicht loskam. Wie uns aber manchmal in bewegten Augenblicken ganz entlegene Dinge durch den Kopf gehen, so fiel mir während des kurzen Gesprächs, mit dem wir uns draußen vor dem Gittertor des Friedhofs verabschiedeten, das kranke Söhnchen des BahnschafFners ein, und es war mir wie in einer Erleuchtung vollkommen klar, was ein erfahrener Kliniker vermutlich sofort erraten hätte, daß nämlich das Uhrschlüsselchen von dem Kleinen keineswegs verschluckt, sondern, wie der ärztliche Ausdruck lautet, aspi3°

riert, also eingeatmet worden war, daß es nicht im Magen sondern nur in der Lunge stecken konnte. Ich setzte mich auf einen der Felsblöcke, die hoch über dem Friedhof den Wiesengrund unterbrechen, und überdachte mein Leben. Die Jahre der Kindheit, wo man glaubte fliegen oder über das Wasser laufen zu können, wie weit lagen sie zurück! Noch empfand ich mein Wesen als beweglich, stark und verwandelbar; aber was für Dienste mutete ihm das Leben zu! Und der Tod, das große Geheimnis, ich ahnte schon, wie er durch den täglichen Umgang gewöhnlich wurde, wie er der Entweihung verfiel. Vom Dultplatz lärmte die Musik herüber; drunten aber stieg die schwarz gekleidete Gestalt der Mutter in die Fähre, die langsam den wilden Inn überschwamm. Ich sah die feierlich friedliche Stadt in dem schräger fallenden Nachmittagslicht, fühlte mich rätselhaft an sie gebunden und wußte nicht, ob ich sie haßte oder liebte.

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WILLI SCHUH R I C H A R D STRAUSS: L E T Z T E A U F Z E I C H N U N G

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N sein Schweizer Tagebuch hat Richard Strauss im Sommer 1946 den Satz Jacob Burckhardts eingetragen: «Geschichtsstudien sind die würdigste Beschäftigung der Gebildeten.» Das Betrachten und Erkennen kulturgeschichtlicher Zusammenhänge und Entwicklungen ist Richard Strauss in den späteren Lebensjahren in steigendem Maße zum Bedürfnis geworden. Auch sein eigenes Lebenswerk, in dem er «einen letzten Ausläufer der WelttheaterEntwicklung ins Reich der Musik» sah, und seine eigene künstlerische Entwicklung wurden ihm zum Anlaß von Betrachtung und Besinnung. Im Zusammenhang damit begann er in den 1930er Jahren mit der lockeren, durch keinerlei festen Plan begrenzten Aufzeichnung von Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken, zwischen die vielfach auch Zitate aus der ihn gerade beschäftigenden Lektüre kulturgeschichtlicher und kunstphilosophischer Werke, sowie der Schriften Wagners, Berlioz', Hans von Bülows und anderer eingestreut wurden. Eine kleine Auswahl aus den in schlichten, blau eingeschlagenen Schreibheften verstreuten Aufzeichnungen konnte ich 1949 in den von mir herausgegebenen «Betrachtungen und Erinnerungen» des Meisters vorlegen, vieles kommt seines fragmentarischen und skizzenhaften Charakters wegen für eine Veröffentlichung nicht (oder noch nicht) in Frage, anderes wird im Rahmen einer künftigen Darstellung von Persönlichkeit, Leben und Schaffen Richard Strauss' ausgeschöpft werden müssen. Die letzte kurze Eintragung, die Strauss knapp drei Monate vor seinem Tode einem der «Blauen Hefte» anvertraute, und 32

die wir hier mit der freundlichen Einwilligung der Erben mitteilen können, knüpft an die Geburtstagsartikel an, die aus Anlaß des 85. Geburtstages des Meisters (11. Juni 1949) erschienen waren. Die Rückkehr in die bayerische Heimat mußte des Komponisten Gedanken von neuem auf die wechselvollen Beziehungen zu seiner Vaterstadt München und auf dasjenige seiner Opernwerke lenken, in dem er einst seinem Unmut über Richard Wagners und seine eigenen Münchner Erfahrungen, aber auch seiner Liebe zu München künstlerischen Ausdruck gegeben hatte: auf das Singgedicht «Feuersnot». Der alte Meister weist dem «Nichtoperchen» eine ganz bestimmte Stellung in seinem Gesamtwerk zu und deutet auf einen Z u g seines Schaffens hin, der gerade von jüngeren Betrachtern, für die das Strauss'sche Œuvre bereits klassische Geltung gewonnen hat, oft übersehen wird: den eines schöpferischen Widerspruchsgeistes, der sich zugleich als ein Geist der «Verwegenheit» - ohne den (nach Goethe) kein Talent denkbar sei - bekennt. In einer früheren (unveröffentlichten) Aufzeichnung sagt Strauss hierüber: «In der ,Feuersnot4 ist, stärker als vorher noch, der Geist der Opposition betätigt, der außer meiner erheblichen schöpferischen Begabung und meinem angeborenen Können von frühester Jugend an stark in mir ausgeprägt war.» Und in den «Betrachtungen und Erinnerungen» nennt er «Feuersnot» ein «kleines Intermezzo gegen das Theater, mit persönlichen Motiven und kleiner Rache an der lieben Vaterstadt». G e g e n das Theater: Ganz ähnlich spricht Strauss während der Arbeit an «Capriccio» in einem Brief an Clemens Krauß von einem Bazillus, der sich immer wieder gegen das Theater rühre, so sehr er es in seinen virtuosen Leistungen bei den Franzosen bewundere. Und im gleichen Zusammenhang: 33

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19. Juni 1949 In den biografischen Abhandlungen, die ich jetzt reichlich zu lesen bekomme, vermisse ich fast überall die richtige Einstellung gerade auch zum Textbuch der Feuersnot. Man vergißt, daß dieses gewiß nicht vollkommene Werk (besonders in der allzu ungleichen Orchesterbehandlung) doch gerade zu Anfang des Jahrhunderts ein neuer subjektiver Styl im Wesen der alten Oper ist, ein Auftakt! Gerade bei Göthe forschen alle Literaturhistoriker fast in jedem Werk und in jedem Satz nach den Beziehungen der Persönlichkeit, des Erlebnisses zum Kunstwerk — warum sieht man nicht das Neue an meinen Werken, wie in ihnen, wie nur noch bei Beethoven der Mensch sichtbar in das Werk spielt — dies beginnt im 3. Akt Guntram schon (Absage an den Collektivismus), Heldenleben, Don Quixote, Domestica — u. in der Feuersnot ist bewußt der Ton des Spottes, der Ironie, der Protest gegen den landläufigen Operntext das individuelle Neue. Darum die heitere Persiflage der Wagnerschen Diktion, wegen der nicht zu streichenden Anrede Kunrads ist ja gerade das ganze Nichtoperchen entstanden! Das Bekenntnis in Intermezzo, Capriccio ist doch das, warum sich meine dramatischen Werke von den landläufigen Opern, Messen, Variationen unterscheiden in direkter Beethoven-, Berlioz-, Lisztnachfolge. Musik des 20. Jahrhunderts. Der griechische Germane!

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«Es muß ein Ingrediens dabei sein, was mir neben dem Theater die Sache noch etwas Reizender* macht. Dies ist für meine Oper (ich weiß!) in mancher Hinsicht ein Hindernis (siehe ,Feuersnot', ,Intermezzo', , Schlagobers', auch ,Frau ohne Schatten').» «Reizend» war für Strauss eine Sache nicht zuletzt dann, wenn sie in einer unmittelbaren erlebnis- oder bekenntnismäßigen Beziehung zu seiner Person stand, «reizend» noch mehr, wenn sie erlaubte, den Ton des Spottes, der Ironie, des Protestes anzuschlagen. Beides war in «Feuersnot» gegeben, und ebenso später in «Intermezzo» und «Capriccio». Was das «sichtbare Hineinspielen des Menschen ins Werk» angeht, genügt hier wohl Straussens eigener Hinweis auf den III. «Guntram»-Akt - über dessen grundlegende Bedeutung für seine Weltanschauung die «Betrachtungen und Erinnerungen» (Seiten 169 und 177) Aufschluß geben - und auf die autobiographischen Elemente in «Don Quixote», «Heldenleben» und «Symphonia Domestica». Wenn der Meister in diesem Zusammenhang den Vergleich mit Goethe wagt, so erklärt sich das daraus, daß der Weimarer Goethe für ihn Vorbild und Maß bedeutete und er sich mit seinem Werk tief verbunden wußte, - 76 jährig begann er noch einmal mit der vollständigen Lektüre der Propyläen-Ausgabe. - Im besonderen spielt aber auch noch die lebendige Erinnerung an die Lektüre von Herman Grimms «Leben Goethes» mit, die ihm in der Schweizerzeit «ein Labsal» bedeutet hatte. «Geradezu begeistert hat mich - so schrieb er mir am 15. November 1946 aus Baden (bei Zürich) - , daß ich ein paar sehr merkwürdige Parallelen im Lebenslauf dieses Allergrößten mit meiner eigenen Entwicklung (in bescheidenem Abstand) zu constatieren mir schmeichle.» Ob Strauss die Schreibweise «Göthe» unbewußt von Wagner, der sie gleichfalls verwen37

dete, übernommen hat ? - Die geschichtliche Einordnung seines Lebenswerks in die von Beethoven über Berlioz und Liszt verlaufende Entwicklungslinie zeigt, daß für den Meister das eigene Schaffen bereits historisch geworden war. Die für Richard Strauss so besonders charakteristische Fähigkeit des Distanzhaltens erhellt auch aus den in dieser letzten Aufzeichnung bezogenen Stellung zu «Feuersnot»: Vorzüge und Unvollkommenheiten werden mit der gleichen ruhigen Sicherheit und Objektivität festgestellt, als ob es sich um ein fremdes Werk handelte. Der neue, subjektive Stil «im Wesen der alten Oper», das will sagen: im Rahmen der traditionellen Oper, erscheint als das Positive; die Bemerkung, daß es sich nur um einen Auftakt handle, präzisiert die historische Position im dramatischen Gesamtoeuvre, und die nüchterne Feststellung «allzu ungleicher Orchesterbehandlung» bildet eines der vielen Beispiele für die unbestechliche Selbstkritik, die Strauss an seinen eigenen Werken von dem Augenblick an zu üben vermochte, in dem sie sich von ihm abgelöst hatten. Das uneitle Selbstbewußtsein, das sichere In-sichRuhen, das eine der Voraussetzungen des Distanzierungsvermögens bildet, erlaubte Strauss schon in der «Feuersnot», mit der leidenschaftlichen Verteidigung der Wagnerschen und der eigenen Sache - Wolzogens Text weiß in Kunrads große Ansprache ja sogar die Namen der beiden Meister einzuflechten - die «heitere Persiflage der Wagnerschen Diktion» in Wort und Ton zu verbinden. Das Bekenntnis erweist sich bei Strauss immer als völlig unpathetisch, und selten bleibt es ohne einen Einschlag von Selbstironie. Die Themen des Mannes in der «Domestica» und die versteckten und offenen Selbstporträts in der «Frau ohne Schatten» und in «Intermezzo» bezeugen es. 38

Überraschen mag in der mitgeteilten Aufzeichnung die Schlußwendung: «Musik des zo. Jahrhunderts. Der griechische Germane!» Strauss meint wohl etwa dies: In seiner Musik sei - vor allem in seinem Opernschaffen, das mit Ausnahme des wagnerhörigen «Guntram» ja ganz unserem Jahrhundert angehört - die von Beethoven, Berlioz, Liszt und Wagner verfolgte Linie ins zo. Jahrhundert hinein fortgeführt worden. Mit dem Wort vom «griechischen Germanen» hat Richard Strauss in dem letzten Gedanken, den aufzuzeichnen ihm gegönnt war, eine Selbstinterpretation gegeben, die sich nicht allein auf die Reihe der aus den griechischen Mythen schöpfenden Opernwerke stützt, sondern ihre tiefere Rechtfertigung in dem mit wachsendem Alter mehr und mehr in klassische Bahnen gelenkten Denken und Empfinden des Meisters findet. In der Heiterkeit und Luzidität der Spätwerke gibt sich die vollzogene Wendung zu klassischem Maß, zu einer Formkultur zu erkennen, die Strauss in Goethes «Tasso», in der Musik Mozarts und in der Plastik und Architektur der Griechen am reinsten verwirklicht sah. Die Deutung der Persönlichkeit und (insbesondere des späteren) Werks von Richard Strauss wird künftig von diesem letzten Wort des Meisters - einem echten Schlüsselwort - ausgehen müssen.

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EMIL PREETORIUS V O M L E B E N S G E S E T Z U N D W A N D E L D E R BILDK U N S T / EIN V O R T R A G

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S geht heute um den Versuch, in knapp bemessener Stunde etwas Grundsätzliches zu sagen über die sehr besondere Lage der heutigen bildenden Kunst: woher sie kommt - was sie bedeutet - wohin sie weist. Das ist, wie Sie begreifen, ein überaus komplexes, vielschichtiges Thema, und es hängt zudem unlöslich mit vielen anderen Themen zusammen. Das ist jedoch nicht die einzige Schwierigkeit, es gibt noch eine andere. Die Kunst ist kein Thema der Erkenntnis - sondern der Ausdruckskultur; Kunst versteht man nicht durch Denken, sondern durch Anschauen. So wäre es wohl richtig, meinen theoretischen Ausführungen zugleich die anschauliche Ergänzung zu geben, also die zugehörigen Bilder vorzuführen. Allein: um das bei einer Darlegung wie der meinen vollständig und unmißverständlich zu tun, wären nicht nur hunderte, es wären einige tausend Bilder zu zeigen. Und das ist technisch wie zeitlich unmöglich. So bin ich also genötigt, nicht nur an Ihr Mitdenken zu appellieren, sondern auch an Ihr innerliches Mitschauen, an die Bereitschaft, Ihre mannigfaltigen bildnerischen Erfahrungen sich jeweils ins Gedächtnis zu rufen. Endlich: nehmen Sie meine Erörterung, wie schon gesagt, als einen Versuch, als Blick und Hinweis, als einen Griff in das Gewoge der Möglichkeiten, der dies vielberedete, problembeladene Thema auf seine Weise weiterbringen will und faßbar machen. Betrachtet man die heutige Kunst aus einer größeren Distanz und faßt sie als ein Ganzes, so gewinnt man, unbeschadet be40

deutendet Einzelleistungen, ein Bild von seltsam wirrer Dissonanz : die ekstatische Sprache dumpfer, losgelassener Triebe, die skeptische Hintersinnigkeit transzendierender Realismen, Komplexe eines überhellten Bewußtseins und Fragmente technischer Zivilisation, alles das wuchert anarchisch ineinander. Das Bild dieser Kunst ist, nicht anders als unsre ganze, aufs Nichts bezogene Daseinsverfassung, beklemmend fragwürdig geworden: alles scheint in Auflösung begriffen, im Flusse, im Wandel, auf hundert verschiedenen Wegen im hastenden Aufbruch nach einem unbekannten Wohin. Aber wie sollte es auch anders sein ? Wenn die heutige Welt kein einheitliches Antlitz mehr trägt, wenn dies Antlitz zerfällt ins Gewirre innerer Gegensätze, wenn ein früheres geschlossenes Weltbild zerstückt ist zu einer Art von Weltmontage, so kann auch die Kunst als ihr Spiegel kein homogenes Gepräge mehr haben, so muß auch sie in sich widerspruchsvoll sein, zerfallen ins Gegeneinander der mannigfachsten Herkünfte, Zielsetzungen und Sinngehalte. Und daher kommt es, daß heute jeder Künstler, der aus echtem inneren Drange schafft, des Glaubens sein kann, ja sein muß, er werke im Geiste dieser Zeit, er gehöre zurAvantgarde, sein Tun und Streben sei aufs Künftige gerichtet und darum - sit venia verbo - modern. Wer weiß: vielleicht hat von den Vielen so mancher Einzelne, vielleicht auch haben sie erst alle zusammen recht. Und doch läßt sich aus dem vielartig schillernden Begriffe der Modernität eine künstlerische Produktion herauslösen, die mit einer früheren nicht mehr zu vergleichen, die also in einem besonderen Sinne wesensneu ist: diejenige nämlich, deren Grundtendenz auf eine Entgegenständlichung zielt, die bewußt, ja programmatisch das Abstrakte zu ihrem Gehalt 4i

macht, mehr noch, die gerade darin ihre besondere, ihre neue metaphysische Begründung sucht. Diese, die eigentlich moderne Kunst, hat freilich schon vor mehr als einem Menschenalter ihren Anfang genommen - denken Sie an Kandinsky, an Klee und deren theoretische Darlegungen - und sie wird gekennzeichnet, je nach ihren sehr differenzierten Sonderarten, als Konstruktivismus, Funktionalismus, Abstraktismus oder Konkretismus. Und diese Kunst ist es, die in zunehmendem Maße sich ausbreitet, in zunehmendem Maße sich schlechthin als die Kunst unsrer Zeit präsentiert, in zunehmendem Maße aber auch eine tiefe Spaltung und Verwirrung in das künstlerische Leben von heute trägt. Denn diese Kunst vertritt andere Wertbegriffe als jene sind, die vordem für die bildende Kunst gültig waren, und zwar wann, wo und wie auch immer Bildkunst geschaffen wurde. In den früheren Künsten noch so verschiedener Gattungen, Charaktere, Zeiten und Völker sind dennoch die gleichen Prinzipien anschaulicher Gestaltung, die gleichen Prinzipien formalen Aufbaus wirksam, sind die gleichen Wertmaßstäbe gültig. Alle bisherige Kunst gehört derselben Sphäre vergeistigter Form, gesteigerter, geklärter Sichtbarkeit an, ob es sich um asiatische, ägyptische oder europäische Kunst handelt, um frühe oder späte, um primitive oder entwickelte, um freie, selbsteigne oder zweckgebundene: die Wahrheit des Satzes «ars una species mille», sie kann durch Beispiele mannigfaltigster Art unmittelbar und unwiderlegbar anschaulich gemacht werden. Nun aber erhebt sich angesichts der modernen, abstrakten Kunst die Frage mit wachsender Dringlichkeit: stellen sich die neuen Bildschöpfungen außerhalb der bisher gültigen Maßstäbe, sind sie, grundsätzlich gefaßt, überhaupt noch «Bilder» im altgewohnten Wortverstande, also, kurz formu42

liert, Sinnschöpfungen im Sinnenhaften ? Oder sind sie vielleicht, was durchaus möglich und darum erwägenswert wäre, eine völlig neue Kategorie von Lebenswerten, die aber auch mit bildnerischen Mitteln ausgedrückt, verwirklicht wird wie vordem die Kunst ? Denn das ist ja nicht zu verkennen: Ziel, Sinn dieser modernen Kunst ist nicht mehr Wertschöpfung einer höchsten Idealität des Sinnenhaft-Anschaulichen, nicht mehr oder doch nicht vor allem Sache des Bewegtseins, des Erlebnisses vom Auge her als einem Sinnesorgan von geistigseelischer Schöpferkraft; sie ist vielmehr etwas anderes, und zwar etwas artanderes, jedenfalls aber etwas, das sich im Sinnenhaften selber, unmittelbar und ausschließlich, nicht mehr vollenden kann und vollenden soll. Es gibt nun ein Hauptargument für die moderne, die gegenstandslose Kunst, und dies Argument lautet: jede elementare Form und Farbe und deren Kombination auf der Fläche besitze das, was man als Gefühlsvalenz bezeichnen kann. Daher, so wird gefolgert, müsse man auch durch richtige Zusammenfügung und gut erdachte Disponierung solcher bloßen Abstrakta wie Linien, Farben und Formen an sich eine geistigseelische Resonanz im unvoreingenommenen Betrachter erwecken können. Das ist freilich nicht zu bezweifeln: Farbe, Liniament und deren Kompositionen auf der Fläche, sie klingen allemal im sensiblen Menschen wider und schaffen mannigfache Eindrücke und Assoziationen. Wie denn jeder Künstler wohl weiß, wievieles an überraschenden Wirkungen sich aus der leeren Bildfläche hervorzaubern läßt, wenn man erst einmal das Wagnis tut, alles Gegenständliche, alles Gestaltige resolut über Bord zu werfen und sich ohne jede Bindung darauf zu ergehen. Man macht damit die Gesetzlichkeiten, die der Fläche immanent sind, als solche lebendig, 43

man weckt sie auf zu einem seltsam körperlos-geisterhaften Dasein. Und gerade die echten, die starken Künstler, die das einmal voll erlebt, mögen in einem begreiflichen Gedankenkurzschluß ehrlich davon überzeugt sein, daß eben diese Kunst als sozusagen die stoffbefreite, die absolute, allen bisherigen Schaffens letzter und krönender Schluß sei. Jedoch: hat denn schließlich nicht jede Kunst, seit die Welt steht, sich aufgebaut auf den Empfindungswerten, den Gefühlsvalenzen eben jener Abstrakta, auf den Elementen von Farbe, Linie, Form, Gefüge, die ehemals freilich unbewußt, intuitiv aus der unendlich mannigfaltigen, unendlich differenzierten, unendlich beziehungsreichen Fülle der unmittelbarlebendigen Anschauung gewonnen wurden und nicht, wie in der gegenstandslosen Kunst, unter radikaler Preisgabe all' solchen Reichtums, planvoll und selbstzwecklich ausgedacht und konstruiert ? Und ist nicht auf diesen Abstrakta als einer letzten Schicht, als auf dem bloßen, sinnlichen Grundgerüst, man könnte sagen dem Skelett der Flächengesetzlichkeit, alsdann in der schöpferischen Auseinandersetzung mit der sichtbaren Umwelt, eben mit einer jeweiligen, einer sogenannten Natur, eben aus dieser besonderen Spannung, der ganze Formen- und Farbenreichtum organisch erwachsen zur Vielfalt und Einheit des bildnerischen Aufbaus, eben zum «Bildwerke» im eigentlichen, ursprünglichen Wortverstand ? Ich meine mit alledem: die bewußte, die programmatische Forderung der neuen Kunst nach völliger Entgegenständlichung, ihre Abkehr von aller sichtbaren Natur und ihre Zukehr zu einem abstrakt Geistigen, zu einem Etwas jenseits alles Gestaltigen, mit dieser Tendenz ist sie, ich betone, von der bisherigen Kunst aus gesehen, auf dem Wege, sich selber aufzu44

heben, nämlich das eigentliche und eigenste Lebensgesetz aller wirklichen Bildkunst zu verleugnen. Freilich, dem steht eine ganz andere Frage gegenüber: ob es mit der fortschreitenden Aufhellung unseres Bewußtseins, diesem Schicksalswege der Menschheit, nicht zwangsläufig hat dahin kommen müssen. Und darüber wollen wir versuchen, Klarheit zu gewinnen, indem wir die Bahn dieser Bewußtseinsentwicklung verfolgen, wie sie im Bilde künstlerischen Schaffens sich spiegelt. Weiter gefaßt heißt das: wir wollen den Prozeß verfolgen, in dem der ewige Drang des Menschen nach bewältigender Erkenntnis, nach einer geistigen Aneignung der Welt sich auch in der Schaffung ihres Bildes von je zu je vollzogen hat. Wir müssen dabei den Blick zurückwenden dorthin, wo die Bildschöpfung des Menschen beginnt; es sei versucht, diesen Überblick zusammenzuraffen und gerade nur die entscheidenden Wendepunkte des weiten, vielverschlungenen Weges aufzuzeigen. Wie alles Menschen-, alles Geisteswerk, so ist auch die Kunst entstanden aus einer polaren Spannung: einerseits aus dem prometheischen Drange des Menschen zu sich selber, dem Drange, sich loszureißen von der umhüllenden Natur, andrerseits aus der dunklen Angst, ihr schützendes Gehege zu verlassen. Sie ist also entstanden aus einer zwiefachen inneren Not, zur Beschwörung einer doppelten Gefahr. Und sichtbaren Ausdruck gewann diese beschwörende Geste in dem vom Menschen geschaffenen Abbilde der ringsher auf ihn eindringenden, von ihm erblickten, erlebten Außenwelt, eben der Natur in der Fülle und Macht ihrer vielartigen Gestalten. So ist der Beginn aller eigentlichen Bildschöpfung im wesentlichen die Darstellung der sichtbaren Umwelt, die Darstellung von Naturformen; auch die sogenannten geometrischen 45

Schöpfungen früher Menschen haben sich ja vielfach erst um den Kern der dargestellten Naturformen kristallisiert oder aus diesem Kern entwickelt. Sogleich ist hier aber einem möglichen Mißverständnis zu begegnen: schon jeder Zeichenversuch eines Kindes, also des werdenden Menschen, belehrt uns darüber, daß das Stück Natur nicht an sich, als solches, dargestellt wird, vielmehr die aus dem Erlebnis dieses Naturstückes erst entwickelte innere Vorstellung davon. Kein Kind - das wissen Sie wohl - und genau so kein primitiver und gewiß auch kein früher Mensch denkt je daran, ein Ding der Natur einfach «abzuzeichnen» oder das aus der Vorstellung Gezeichnete alsdann an der realen Natur zu verdeutlichen oder gar zu «korrigieren». Indem aber der frühe Mensch sich mühte, für seine innere Vorstellung, für sein inneres Bild des ursprünglich außen gesehenen ein neues Außenbild eigenen Gepräges aus sich heraus zu stellen, entband sich in diese Mühung eine Welt von Empfindungen und ward in seiner Bildschöpfung auf eine oft seltsame Weise sichtbar. War aber nun die innere Vorstellung nach außen realisiert im Bilde, das Bild als solches also geschaffen, so war es auf den Weg der Entwicklung gesetzt. Und für diese Entwicklung gab es vor allem zwei Antriebe. Einmal zeugt mit der Mehrung der geschaffenen Bilder die bewirkte Bildform weiter als bewirkender Bildstoff: Bild wirkt also auf Bild. Das ist eine Befruchtung, die als ständiges Hin und Wider in der gesamten Geschichte der Kunst zu erkennen, die eines der Fundamente ist, darauf der sichtbare Bau des Geistes als eine Gegenwelt zur Natur sich erhoben hat. Dann wird das gewonnene Bild mit dem ursprünglichen Stück Natur verglichen und seine Ähnlichkeit bis zur Naturnähe getrieben. 46

Allerdings, wie immer wieder betont werden muß, insoweit ein solch objektives, losgelöstes Vergleichen von Natur- und Bildform bei der zunächst im Menschen innerlich gefesselten Vorstellung von der Außenwelt ganz allmählich erst zur Möglichkeit wurde. Ganz langsam begann das Auge gleichsam zu selbständiger Funktion zu erwachen, ganz langsam ward aus dem gebundenen Seelen- das freie Sinnesorgan und erst damit auch aus der innen beseelten Natur die äußere Welt der Gegenstände. Damit aber das Auge wach werde, mußte die innere Vorstellung verdämmern, .in deren Dienst es gestanden. Und diese innere Vorstellung verlor an Kraft, als sich das gemeinsame Weltgefühl lockerte, das hieß für die Kunst, als eine gemeinsame Vorstellungswelt erblaßte, die das Bild alles Sichtbaren geschaffen, genährt und getragen hatte, als sich die Bindung löste, in der jeweils ein Raum, ein Glaube, ein Blut, eine Vielheit von Menschen zum homogenen Ganzen wurden: Wandlungen, die freilich unvermerkt, die in fließenden Übergängen sich vollzogen, die sich als die verschiedenen Stilphasen darstellen oder thematisch gesehen als die je verschiedenen «Naturen» der verschiedenen Epochen der Kunst. Jene Wirkung von Bild zu Bild heißt modern gesagt Artistik; jenes Angleichen des inneren Bildes an das äußere Stück Natur Naturalismus. Von beiden Begriffen im heutigen Sinne kann man allerdings erst sprechen, wenn jeweils das Bewußtsein hinzutritt: das Bewußtsein, das im Falle der Artistik, nicht mehr die Natur darstellen, sondern mit ihren Mitteln «reine» Bildwerke schaffen will - denken Sie an das Barock - , und das im anderen Falle, im Naturalismus, die Natur als solche aufgegriffen hat und unabhängig gemacht, ja in Gegensatz gestellt hat zu allem Innerlichen - denken Sie 47

an den Impressionismus, nicht nur an den des 19. Jahrhunderts, sondern an den so vieler, auch nicht europäischer Kunstepochen. Der Weg, den ich hier zu beschreiben versuche, der Weg des menschlichen Bewußtseins gespiegelt im Wandel seines künstlerischen Gestaltens, er wäre durch Bilder sinnfällig zu machen. Nimmt man als Beispiel die neuere europäische Kunstentwicklung, so kann an mittelalterlicher Kunst, etwa an gotischen Bildern gezeigt werden, wie sich das Innere mit dem Äußeren noch in einer fraglosen, in einer ungebrochen naiven Einheit befindet, wie also die innere Anschauung hier noch einfach dominiert. Dann beginnt da und dort die allmähliche Naturalisierung: Grünewald als aufschlußreiches Beispiel, bei dem sich schon die naturalistischen Elemente als Bruchstücke, als Forminseln gleichsam absondern von dem noch tief Innenhaften. Daneben läuft der zentrale Prozeß des Herankommens an die Natur, also eine grundsätzliche Durchnaturalisierung des noch immer innerlich gewesenen Bildes vor allem in Italien als der Hauptprozeß. Die Etappen dieses Prozeßes sind genannt mit den Namen: Cimabue, Giotto, Fra Angelico, Masaccio, Perugino bis zu Raffael und Lionardo, bis zu den Venezianern, wo bereits das äußere Auge bestimmend vorwaltet. Zusammen damit geschieht die allmähliche Gewichtsverlegung vom Plastisch-Zeichnerischen aufs eigentlich Malerische; Wölflin formuliert: aus dem Tast- wird das Sehbild. Von da geht der Weg über Holländer und Engländer zu den Franzosen, das Landschaftsbild entsteht: Poussin, der erste abgelöste Naturausdruck, der Gegenraum zur Menschenwelt; zugleich das Clair-Obscur, der Freiraum, und alsdann die atmosphärischen Probleme. Die Beispiele der besonderen französischen Ent48

wicklung liegen auf der Hand: über den sogenannten Realismus, die gewußte Gesamtnatur mit allem dazu gehörigen, Perspektive, Anatomie, Baumschlag, Konvention des Landschaftsensembles, zur augenblicks empfundenen Natur, dem «morceau peint» der Impressionisten: knapp gefaßt die Entwicklung von Courbet, Barbizon bis zum späten Monet. Der Weg führt weiter: Neoimpressionismus, Expressionismus. Der Drehpunkt heißt Cézanne: er hat als erster die Darstellung jener geheimen Gesetzmäßigkeit an sich erstrebt, die über alles Gegenständliche hinaus und von ihm fort der Farbe, der Einzel-, der Bild-, der Raumform als künstlerischem Gebilde innewohnt. Und er hat damit das Problem der Darstellung auch grundsätzlich schon verrückt. Er ist in Wahrheit - so wenig das seltsamer Weise von ihm selbst gewollt und gewußt war - der große Wendepunkt der bildenden Kunst geworden : der Inaugurator einer endgültigen Scheidung von Außen- und Innenwelt, von Natur und Geist, der Wegweiser also zu einem bewußten, einem programmatischen Innen und damit auch zur Aufhebung jener wesentlichen Spannung zwischen dem bewegten Herzen des Künstlers und dem gegebenen Element der Natur, aus dessen bewältigtem Medium er einmal sein Herz hat sprechen lassen. Es ist wohl nicht nötig, die letzte Kurve des Weges aufzuzeichnen, den die Kunst seit jenem unwiderruflichen Bruch der alten, gläubigen Einheit von Innen und Außen, von Welt und Sinn, im überstürzenden Laufe einander ablösender Kunstrichtungen gegangen ist. Nun wäre es das Thema einer besonderen Betrachtung, an diesem Punkte unserer Darlegung zu erweisen, inwieweit die moderne Naturwissenschaft, ihre Erkenntnisse und deren Anwendung als fortschreitende Rationalisierung, 49

Mathematisierung und Mechanisierung, die moderne Naturwissenschaft mit ihrem Aspekt auf die Natur als auf eine Summe und ein System abstrakter unsichtbarer Energien mitgeholfen hat, in zunehmendem Maße das Verhältnis des schöpferischen Menschen zur Außenwelt zunächst zu einem nur noch mittelbaren zu machen und schließlich völlig zu wandeln. Hierher gehört also eng das viel bedachte, viel beredete Problem der Maschine, der maschinellen Gesamtapparatur, die wie ein Filter, wie ein Spektrum zwischen Mensch und Natur geschaltet ist, diese Natur zerlegt in ungreifbare Spannungen, diese zerlegten Elemente aber wiederum zusammenzufügen beginnt zu einer erstmaligen, eigenwilligen, menschentstammten anderen Natur, zu einem Reich von seinen Gnaden. Nicht beherrscht der Mensch mehr die Natur wie ehemals als wohl ihr gewaltigstes, dennoch aber dieser Natur noch ganz eingehöriges, von ihr umschlossenes, behaustes Mittelstück: der Mensch von heute steht in gewissem Sinne außerhalb der Natur, befestigt in einer selbstherrlichen, einer menscherschaffenen, einer Welt mit eigenen Gesetzen, eigenen Zusammenhängen: kurzum, der Mensch steht nahezu schon in einer anderen, nämlich in seiner eigenen besonderen Wirklichkeit. Und in diesem völlig neuen Faktum liegt der letzte Grund verborgen, warum denn ein Weg von uns selbst zu den Dingen, ein Weg ins Herz der Außenwelt nicht mehr gegeben ist, warum denn die sogenannten «natürlichen» Beziehungen, wie man sich auch immer darum bemühe, nicht mehr wie ehedem zwanglos, überzeugend und unmittelbar umzusetzen sind in lebendig künstlerische Gestaltung. Und hier liegt auch der Grund dafür, daß die Kunst sich von ihrem ursprünglichen Boden löste, daß sie ausbrach aus ihren bisherigen Grenzen, daß sie nach neuen Wegen suchte und zu50

letzt, gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, in einem logisch zwingenden Weiter, dahin kommen mußte, das NichtGegenständliche zu ihrem Gehalt zu machen, von allem Gestaltig-Sichtbaren eben zu «abstrahieren»: etwas, wozu es übrigens keine Analogie gibt in der gesamten Geschichte der Kunst, obwohl das immer wieder behauptet wird. Und damit stehn wir auch vor unserer Kernfrage: ist die Bildkunst im bisherigen Sinne, in dem Sinne, seit Menschen leben und gestalten, an ihr Ende gelangt: ich meine mit dem Erlöschen der alten, zugleich zeugerischen und bindenden Spannung zwischen dem stumm der bildnerischen Nachformung anheimgegebenen Stück Natur und seinem bildenden Former, dem Künstler ? Unsere Antwort heißt: wie alles Lebendige, so hat auch die Kunst ein Innen und ein Außen, zwei Seiten eines geheimnisvollen Vorgangs, eben des bildnerischen Prozesses. Von jeder dieser beiden Seiten - es sind, tiefer gesehn, nur zwei Seiten der Betrachtung - komme ich zum gleichen Ergebnis. Von außen gesehn: der Leib der Bildkunst, die Natur, sie ist nicht mehr wie ehemals gegeben als eine in einer Vielheit gemeinsam lebendige, von ihr geglaubte Realität, als eine Bildwelt, die Eigenreiz genug hat, daß sie den Menschen zur Nachformung errege, Eigenmacht genug, dies Nachformen in feste Grenzen zu binden, die innere Spannung also zu schaffen, die dem Bildwerke erst jene geheimnisvolle Lebendigkeit einhaucht, die im Betrachter widerklingt. Von innen gesehn: das Bewußtsein des heutigen Menschen, der eigentlich metaphysische Bezirk unserer Zeit, dies Bewußtsein ist zu selbsteigen, zu selbstbedingt geworden, als daß es sich noch genügen könnte, die Gebilde der Natur nachzuformen, als daß es in anderen Grenzen walten könnte und gestalten als in den selbsteigenen, als Ji

in der Sphäre menschgeschaffenen Machtbereichs. Damit sei aber nicht gesagt, daß von nun ab keine Bildwerke mehr gemacht werden in der bisherigen Weise; sie werden wohl noch lange geschaffen. Denn Einzelne wird es immer wieder geben, die jenseits allen Dualismus von Außen und Innen in ursprünglicher Naivität hineingreifen in die sinnerschlossene Sichtbarkeit der Welt, die aus der sogenannten Natur zu holen vermeinen, was Schaffensdrang und Schaffensmacht ihnen Gestalt werden läßt. Und doch ändert das nichts mehr an dem Faktum, daß auch die mächtigste Bildnerkraft eines Einzelnen nicht wiederbringen kann, was einmal der reiche glänzende Spiegel war einer ganzen Welt und ihres tragenden, einenden Glaubens, und was vergangen ist für immer. Die alte Natur, sie war einmal, als in sich göttliches Gewächs, ein Reich der Beseeltheit, erfüllt von symbolischer Kraft und darum wahrhaft nachbildenswert in ihrer hohen Eigenständigkeit; sie stand einmal als das andere organische Ordnungsgefüge, als das andere Subjekt dem Subjekt Mensch ebenbürtig gegenüber, so daß beide einander zugeordnet waren in einem geheimnisvollen Hin und Wider. Aber aus der ehemals innen beseelten Natur ist die äußere Welt der Gegenstände geworden. Das will sagen: wir vermögen die Welt nur noch gegenständlich zu denken, nur noch vergegenständlicht zu sehen. Und damit ist jenes geheimnisvollfruchtbare Zueinander unheilbar zerstört der Natur in uns und der Natur um uns. Alles in Allem: der Mensch ist gleichsam zurückgewiesen auf sich selbst und die Sphäre des Schöpferischen in die Helle seines Bewußtseins, in die Bewußtheit seiner selbst gerückt, genauer noch, in das Bewußtsein dieser Bewußtheit. Denn diese doppelte Reflexion ist es gerade, durch die alles bildnerische Schaffen die Selbstver52

ständlichkeit einbüßt, die fruchthare Naivität vergangener Epochen. Wir leben, wie der tiefsinnige Münchener Paläontologe Edgar Dacque einmal gesagt hat, geologisch in der Menschperiode: der Mensch ist die letzte übriggebliebene Natur, er hat ihre schöpferischen Kräfte aufgesammelt in sich. Und schon Herders spürerischer Geist spricht einmal von der bevorstehenden Erscheinung einer neuen, anderen Natur für den Menschen als den Freigelassenen der Schöpfung. Jedesfalls: ins Große, Künftige gesehn, kann nicht mehr bezweifelt werden, daß mit dem Wegfall der zugleich bindenden und zeugenden Spannung vom Innen zum Außen, vom Ich zur sichtbaren Welt, daß mit dem Verlust des uralten, sinnlichen Bodens die Kunst auch ihre alte organische Gewachsenheit, ihre innerlich gesetzliche Lebendigkeit einbüßen, daß sie zwangsläufig mehr und mehr zu etwas Künstlichem werden muß, das heißt zu einem im selbsteigenen, selbstwilligen Geistesakte erdachten, konstruierten Gebild. Und so sehen wir folgerichtig auch, wie die Kunst zunehmend zu einem Technischen, wie das Technische zur Kunst wird. Man muß sich freilich dabei lösen von zwei Vorurteilen: erstens von dem grundsätzlichen, die Technik nur als Widerbild alles Seelenhaften, als Wahrzeichen allen Untergangs zu nehmen, als jenes unheimliche Etwas, das die Individuen trennt und die Massen zusammentreibt, von der Technik als jener dämonischen Macht im Tonfall der Spengler, Klages und Georg Friedrich Jünger. Man kann mit besserem Rechte nämlich die Technik ebenso erkennen als gerade das Medium, das den Menschen über seinen selbstischen Eigenwillen hinaus wieder zum Menschen führt. Längst hat die Technik ihre bloß technische Rolle überschritten, sie ist zu einer moralischen Macht geworden und stellt uns, nicht 53

anders als jedes eherne Sittengesetz, vor das Entweder-Oder furchtbarer Drohung oder segensvoller Versprechung. Beide aber, Drohung wie Versprechung, sind mittlerweile einander so nahegerückt, daß eben die Technik, in der sich wahrhaftig und den Menschen zu Trotz die letzten vernünftigen Kräfte objektiviert zu haben scheinen, daß es gerade die Technik ist, die heute zur Entscheidung zwingt: Untergang oder Besinnung! Zweitens aber in sachlicher Hinsicht, und das geht nun die Kunst an: man darf den Begriff Technik nicht zu enge, nicht zu speziell fassen, man muß ihn verstehen in seiner ganzen Weite. Unsere gesamte Geräte- und Baukunst, jede Art zweckverhafteten, angewandten künsderischen Schaffens in seiner nahezu unbegrenzten Vielfalt - all das gehört heute j a auch zum Technischen. Und noch eine Erkenntnis gilt es hier zu gewinnen von schlechthin entscheidender Art: die Erkenntnis nämlich, daß mit diesem Technisch-Künsderischen ein anderes Gestaltungsgesetz gegeben, ein völlig neues Formprinzip erwachsen ist. Alle bisherige Kunst, alles frühere Gestalterleben ist vom Organisch-Sinnenhaften, vom Leibesgefühl ausgegangen: der Leib des Menschen als letzte Gegebenheit, als letzte bestimmende Grundeinheit. Heute besteht aber die seltsame, in sich widerspruchsvolle Tatsache, daß der Mensch in diesem Sinne eben nicht mehr das Maß der Dinge ist, wie sehr er auch die ganze Welt seinem herrschbegierigen Willen einbezogen hat. Das neue gestaltende Schaffen ist nicht mehr vom Leibhaft-Sinnlichen als der Grundeinheit her bestimmt, sondern es gewinnt Art und Maß von einem Geistigen her und von der diesem Geistigen eigentümlichen Tendenz zur Entsinnlichung, zur Abstraktion, zur Aufzehrung alles Substanziellen. Und diese Tendenz ist die herrschende geworden der gesam54

ten modeinen Welt, eine Tendenz, die auf allen Gebieten unseres Geisteslebens konvergiert und mutatis mutandis deutlich wird : in der Philosophie ebenso wie in den heutigen religiösen Strömungen, in den Naturwissenschaften mit ihrer neuen Physik wie in der Literatur - hierher gehört, bezeichnender Einzelfall, das moderne Bühnenwerk mit den imaginären Décors - , in der Baukunst wie in der Musik und auch, wie wir es ja sahen, zu einem bedeutenden Teile in der neuen Malerei, die damit eine ganz besondere, nämlich eine symptomatische Bedeutung gewinnt. Es ist in diesem Sinne sehr bezeichnend, daß bei den Apologien, die abstrakte Ktinsder ihren Werken heute beizugeben pflegen, meist nicht von den Elementen des Sinnenhaft-Anschaulichen gesprochen wird, also von Farbe, Linie, Form, um so mehr aber von naturwissenschaftlichen, vor allem von der Kernphysik und deren neuer Erkenntnisweise, die jenseits aller sinnlichen Anschauung liegt. Und es wird die kühne Analogie gewagt: wie diese Kernphysik sich von der unmittelbaren, sinnlich gegebenen Natur grundsätzlich entferne und gerade dadurch einer anderen, neuen, ja der eigentlichen, der wahren Natur näherkomme, ganz so verhalte es sich auch bei der abstrakten Kunst. Der klassischen Physik als bloßem Grenzfall der neuen wird als durchaus verwandtes das Verhältnis der früheren zur neuen Kunst gegenübergestellt. Die genannte Entwicklung aber zur Vergeistigung, zur Entsinnlichung, sie ist durchaus allgemeiner, überindividueller Art. Mehr und mehr wird diese abstrakte Gesamttendenz spürbar, mehr und mehr hebt sie geradezu das alte Gegenüber auf von Geist und Wirklichkeit, das einmal Urproblem war aller Philosophie, aller Naturwissenschaft seit der Antike. Was aber übrigbleibt von der Wirklichkeit, ist zuletzt die 55

reine Form an sich: alles sonst, Raum und Zeit, Kraft und Materie, Substanz und Kausalität, sie sind gewandelt, aufgegangen in mathematischen Funktionen. Es ist, nochmals gesagt, die reine Form, eine gänzliche Durchformalisierung, die schlechthin souverän wird. Und es ist zugleich der von manchem seit langem schon prophezeite Weg einer endgültigen Überwindung der materialistischen Weltauffassung in Richtung auf eine idealistische, von der schon Plato und Pythagoras geträumt. Die Krise der Kunst, sie ist also nur ein Beispiel, nur der Ausschnitt eines krisenhaften Gestaltwandels unsrer gesamten Wirklichkeit. Nehmen wir es einmal an: die alte Wirklichkeit zerbröckelt und versinkt, eine neue taucht empor, eine andere wirkende Umwelt als eine andere Daseins Sphäre menschbezwungener Kräfte, Spannungen, Räume, eine Daseinssphäre geistigen Gepräges. Sie wäre eine Art Neunatur, die freilich erst voll erfaßbar wird durch eine neue Phase des Bewußtseins, in die wir einzutreten beginnen: nach jenem tiefen Goethewort, daß jeder Gegenstand, wohlbeschaut, ein neues Organ in uns aufschließe. Es begibt sich eine lebendig zeugende Bewegung zwischen Subjekt und Objekt, wobei dies wie jenes passiv und aktiv ist zugleich. Pointiert ausgedrückt heißt das in unserem Falle: die gedachte Neunatur wäre ebenso Produkt des Menschen wie der Mensch Produkt dieser Neunatur, und erst beider wechselseitig-zeugerisches Ineinander könnte das lebendig Ganze schaffen einer neuen Wirklichkeit. Mit dieser neuen Wirklichkeit, dieser Neunatur aber wird notwendig auch ein neues Gegenüber mit neuen Grenzen erwachsen. Und an deren Widerstand im schöpferischen Anprall - ein Widerstand, den das alte Gegenüber, die alte Natur, so scheint es, nicht 56

mehr zu bieten vermag - am «Gegen-Druck» dieser neuen Grenzen wird auch eine gegenstandlose Kunst wieder zu einer gegenstandserfüllten werden: es wird wie von selbst eine neue Thematik entstehen, ein neues allverständliches und allverbindliches Objekt der Darstellung, das heute und heute erstmals in der gesamten Geschichte der Kunst nicht mehr vorhanden ist als der gemeinsame, befestigende, versammelnde Nenner, auf den die bildnerischen Kräfte bezogen waren zu sinnvoller Einheit. Man kann es auch anders ausdrücken und statt vom Objekt vom Subjekt, vom Menschen her fassen. Wenn Schiller einmal so schön sagt, zweierlei gehöre zum Künstler, daß er sich über das Wirkliche erhebe und daß er zugleich im Sinnlichen verbleibe, so ist zu fragen: kann ein neues «Sinnliches» werden, hat sich vielleicht die optische Sinneswahrnehmung des Menschen gewandelt, oder ist sie auf dem Wege dazu ? Wird es also eine Art von neuem, primärem Sehen geben, so primär allerdings, wie es jede Gesichtswahrnehmung überhaupt sein kann ? Denn wir wissen ja, alle übliche Sinneswahrnehmung ist in weitem Umfang konventionsgebunden, wir kennen eine Geschichte des menschlichen Sehens mit tiefgreifenden Veränderungen durch die Zeiten und Völker hin. Und wer könnte der angeschauten, der sinnenhaft erfaßten, sogenannten Natur irgendwo Grenzen ziehen ? Wenn aber eine andere Welt vor uns heraufdämmert, eine Welt von anderen Maßen, anderen Substanzen, anderen Gefügen, so wird ihr auch ein anderes, ein neues Welt-Bild entsprechen, und dies Welt-Bild muß, sofern die Menschheit überhaupt fortdauert, unvermeidlich nicht nur in unser bewußtes Denken und Wissen einfließen, sondern auch in unsere unbewußte Anschauung und eine neue künstlerische 57

Gestaltungsart hervortreiben. Über diese Gestaltungsart ist freilich als über etwas künftiges nichts auszusagen; denn jede Analogie zu dem, was einmal war und für immer vergangen ist, wäre fehl am Platze, da sie alte Formbegriffe, festgelegte Bildvorstellungen für etwas unvergleichbar Neues assoziieren würde und damit zwangsläufig in die Irre führen. Ich bin am Ende meiner Überlegung angelangt; lassen Sie mich zu ihrem Anfang zurückkehren. Es ist eine verwirrend gegensätzliche Vielfalt künstlerischen Glaubens, Wollens, Tastens und Werkens, die sich heute uns überall darbietet, eine Vielfalt, die jede Diskussion über das Thema Kunst von vornherein auf gar zu unsicheren Boden stellt und zuletzt darum ins Uferlose treiben muß, weil ja der Begriff «Kunst» seine Eindeutigkeit verloren hat, weil die ehemals klar gezogene Grenze zwischen dem, was denn das Künstlerische in seinem Eigentlichsten, in seinem Grundwesen ausmache und was nicht, längst verwischt ist, wenn nicht geradezu aufgehoben. Und damit entfällt auch die Gültigkeit jener Differenzen und Nuancen, die gerade in ihrer Subtilität bestimmend waren für die Rangstufen, die Qualitätsgrade bildnerischer Verwirklichung. So schwankt heute mehr als je und je alle Meinung über die Bildkunst im trüben Zwielicht völliger Subjektivität, und Urteil steht gegen Urteil in oft grotesker Art. Jene letztlich entscheidenden subtilen Kriterien für das spezifisch Künsderische, sie bestehn gewiß auch jetzt noch: für diejenigen nämlich, die der Bildkunst als einer besonderen, im Sinnenhaften formschöpferischen Geistigkeit nahe sind, die wissen, was bildnerische Logik und die Grade ihrer Schlüssigkeit bedeuten. Aber diese Kriterien sind heute, ins Große gesehen, sozusagen außer Kurs gesetzt, 58

weil das Künstlerische - ich kann mich nur wiederholen keine festen Grenzen mehr hat, weil es über seine Grenzen hinausdrängt, weil es erfüllt ist von den außer- und überkünstlerischen Tendenzen des gesamten jüngsten Weltverlaufs, weil das ganze moderne Kunstschaffen zusammen mit allen geistigen Ausdrucksmitteln mitwirken will an einem allgemeinen, «neuen Lebenssinn» und daher auch, selbst in den gewagtesten Versuchen, immer wieder seine besondere Legitimation gewinnt. Dies Fraglich-, dies Flüssigwerden der Grenzen gilt aber keineswegs nur für die Kunst; es ist ein Symptom, das in nahezu allen Geistesbezirken sichtbar wird und mit zu dem bewegenden Gesamtbilde einer Schicksalsstunde gehört, die zwischen einem Nicht-Mehr und Noch-Nicht in der Schwebe hangt, einer Stunde, da die Einheit von Mensch und Welt fragwürdig geworden ist, da es gilt, ein neues, sinnvolles Zueinandergefügtsein von Mensch und Welt zu gewinnen, soll die Gestalt beider nicht zerbrechen, soll der Mensch nicht sein eigen Maß einbüßen und damit seine besondere Würde verlieren, und soll die Welt nicht weiterhin absinken ins dumpf Chaotische. So ringsher dunkel verhangen, so unabsehbar verstrickt aber diese Stunde auch immer sein mag, so wenig wir alle wissen, was eigentlich sie uns geschlagen hat: auch diese bange Stunde darf uns nicht untätig, nicht verzagt finden, auch sie verlangt ihre rechte Erfüllung, auch sie fordert den vollen Einsatz eines Jeden an seiner besonderen Stelle, mit seinen besonderen Kräften, mit seinem Ernst und seinem Glauben. Denn auch diese Stunde steht ja nicht losgelöst für sich allein, auch sie ist geschaltet in den großen und unaufhörlichen Fortgang alles Lebendigen, auch sie drängt dazu, im Bilde einer neuen Erkenntnis wie im Bilde einer 59

neuen Form sich wiederum ein gültiges Antlitz zu schaffen, auch sie ist wie alles Gegenwärtige trächtig nicht nur des Gewesenen, sondern auch dessen, was kommen soll und kommen muß. Ich darf diese, wie mir wohl bewußt ist von so mancher Frage, so mancher Ungewißheit beschattete Darlegung abschließen mit einem nachdenklichen Worte des unvergeßlichen Freundes Paul Valéry. Prophezeien könne man, so meinte er einmal, heute nicht mehr wie ehemals mit zurückgewandtem Blicke; denn aus dem Gewesenen lasse sich nicht die leiseste Ahnung mehr gewinnen für das Kommende. Seine gesamte Vergangenheit habe der Mensch in einem Maße für seine Zukunft hingeopfert, daß die auffälligsten Merkmale dieser Zukunft nunmehr ohne jedes Vorbild, ohne jedes Beispiel seien. Was wir uns aber bewahren müßten, das sei der Wille zur Klarheit, der unbeirrbare Blick des Verstandes, nicht zuletzt aber der tätig-kameradschaftliche Sinn für das große Abenteuer, in das das Menschengeschlecht sich eingelassen, da es sich von seinen ursprünglichen, seinen «natürlichen» Bedingungen unermeßlich weit entfernt habe und nun auf dem Wege sei - wer weiß wohin !

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