Geschichte Sibiriens: Von den Anfängen bis zur Gegenwart [Reprint 2021 ed.] 9783112569689, 9783112569672


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German Pages 260 [287] Year 1983

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Geschichte Sibiriens: Von den Anfängen bis zur Gegenwart [Reprint 2021 ed.]
 9783112569689, 9783112569672

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Ludmila Thomas GESCHICHTE SIBIRIENS

Ludmila Thomas

Geschichte Sibiriens Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Mit 32 Abbildungen und 3 Karten

Akademie-Verlag • Berlin 1982

Einband: Jäger aus dem Polargebiet Quellennachweis der Abbildungen : Abb. 1, 3—12, 16—23 26—32, Einband

Zentrales Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, Berlin (Bildarchiv)

Abb. 2, 13—14

Aufgenommen von W. Steinitz während seiner Expedition zu den Chanten im Jahre 1935 (im Besitz von Inge Steinitz)

Abb. 15

Aus dem Besitz von W. Steinitz (Standort: Fachbibliothek Finnougristik der Humboldt-Universität zu Berlin)

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektor: Eva Hausotter, Sibylle Windorf © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 • 100/209/82 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Einbandgestaltung: Rolf Kunze Karten: Christel Ohm Bestellnummer: 752 6368 (2151/17) • LSV 0239 Printed in G D R D D R 11,80 M

Inhalt

Vorbemerkung Russische Maße und Gewichte Einführung

Kapitel I Der Anschluß Sibiriens an das Russische Reich 1. Kosaken jenseits des Ural 2. Die Anfange der Bauernkolonisation 3. Die Entwicklung feudaler Produktionsverhältnisse 4. Die sibirische Verwaltung 5. Der Klassenkampf 6. Die Anfänge der Erforschung Sibiriens Kapitel II Die Entwicklung des Kapitalismus in Sibirien 1. Die Entwicklung der Industrie und des Handels 2. Die Umsiedlungen. Veränderungen in der Landwirtschaft 3. Revolutionäre Ideen und Reformversuche 4. Dekabristen in Sibirien 5. Politische Verbannung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Oblastniki Kapitel III Imperialistische Interessen an Sibirien 1. Der Bau der Großen Sibirischen Eisenbahn 2. Sozialökonomische Veränderungen 3. Entstehung der Arbeiterbewegung. Die große Kraftprobe 4. Von den Ereignissen an der Lena bis zum Sturz der Selbstherrschaft . . .

VII VIII 1

17 17 23 30 35 38 42

51 53 61 69 74 81

86 87 91 104 115

V

Kapitel IV Die Errichtung der Sowjetmacht 1. Sieg der Oktoberrevolution 2. Erste Maßnahmen der Sowjetmacht 3. Intervention und Bürgerkrieg 4. Die Fernöstliche Republik

122 122 130 137 153

Kapitel V Das große Experiment 1. Die Umgestaltung der sibirischen Wirtschaft 2. Die sibirischen Völker nach der Oktoberrevolution 3. Die Kriegsjahre 1941-1945

160 160 177 190

Kapitel VI Auf dem Wege zum Industriegiganten 1. Die Jahre nach dem Krieg. Der Aufschwung 2. Schwerpunkte der industriellen Erschließung 3. D i e B A M

198 198 203 212

Zeittafel

224

Register

229

VI

Vorbemerkung

Die Darstellung umfaßt den Geschichtsverlauf seit der Eingliederung Sibiriens in das Russische Reich; Rückgriffe auf die Zeit davor erfolgen nur, um Erscheinungen der ethnischen und sozialen Geschichte neuerer Zeit zu verdeutlichen. Es war mir nicht möglich, den neuesten Stand der Entwicklung im abschließenden Kapitel zu berücksichtigen. Die Fakten kann der Leser ohne Mühe aus den Dokumenten des letzten Parteitages der KPdSU entnehmen. Mir ging es lediglich darum, Tendenzen und Probleme zu zeigen, deren Wirkung ich als dauerhaft einschätze. Das Buch stützt sich vorwiegend auf Forschungsarbeiten der Kollegen des Instituts für Geschichte, der Philologie und der Philosophie an der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Die Konsultationen und Anregungen, die ich in diesem Institut sowie in seiner Filiale in Jakutsk und im Institut für Ethnographie in Moskau erhielt, waren mir eine unentbehrliche Hilfe. Dem Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R bin ich für die Arbeitsmöglichkeiten und die Studienreisen zu Dank verpflichtet; meinen Arbeitskollegen aus dem Bereich Allgemeine Geschichte danke ich für ständig kritisches und wohlwollendes Interesse an meiner Arbeit. Frau Steinitz, Dr. Sauer und das Bildarchiv des Zentralen Hauses der DSF unterstützten mich bei der Beschaffüng des Bildmaterials. Die Gutachter Prof. G. Rosenfeld und Dr. G. Voigt halfen in der letzten Etappe der Arbeit mit ihren Anregungen. Besonders danke ich Frau Dr. E. Hausotter und Frau S. Windorf, deren Interesse an meinem Manuskript mir sehr wichtig war. Frau Ch. Schölzel stellte das Register zusammen und hat wesentlich dazu beigetragen, die Transkription zu vereinheitlichen. L. Thomas

VII

Russische Maße und Gewichte

1 Werst = 1,067 km 1 Desjatine = 1,092 ha 1 Pud = 16,38 kg 1 Pfund = 409,5 g 1 Arschin = 71 cm

VIII

Einführung

Im Herbst des Jahres 1582 eroberten Kosaken unter Führung ihres Atamans Jermak die Hauptstadt des Sibirischen Reiches Sibir (Isker). Dieser Sieg war ausschlaggebend für die Eingliederung des gesamten Territoriums vom Ural bis zum Stillen Ozean in das Russische Reich. Nach der Oktoberrevolution wurde dieses Gebiet in zwei administrative Regionen — Sibirien und sowjetischer Ferner Osten — unterteilt. Seitdem wird das Wort „Sibirien" in doppeltem Sinne gebraucht : als Bezeichnung für das gesamte Territorium sowie für das Gebiet ohne den sowjetischen Fernen Osten. Im vorliegenden Buch wird in der Regel der weiter gefaßte Begriff benutzt. In den Kapiteln, die die Zeit nach 1917 behandeln, ließ sich jedoch die Unterscheidung zwischen Sibirien und dem sowjetischen Fernen Osten aus inhaltlichen und quellenbedingten Gründen nicht vermeiden. Sibirien gehört heute zur Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Es umfaßt die Autonomen Sowjetrepubliken Jakutien, Tuwa und Burjatien, die Regionen Altai und Krasnojarsk sowie die Gebiete Tjumen, Kurgan, Omsk, Nowosibirsk, Tomsk, Kemerowo, Irkutsk und Tschita. In den einzelnen Regionen und Gebieten existieren Nationale Kreise: der Aginsker Burjatische Nationalkreis im Gebiet Tschita; der Taimyr- und der Ewenkenkreis in der Region Krasnojarsk; der Nationalkreis der Chanten und Mansen und der Jamal-Nenzen im Gebiet Tjumen; der Ust-Ordynsker Burjatische Nationalkreis im Gebiet Irkutsk. Außerdem bestehen zwei Autonome Gebiete: Gorno-Altai in der Altai-Region und Chakassien in der Region Krasnojarsk. Die Gebiete Primorje, Chabarowsk, Amur, Kamtschatka, Magadan, Sachalin gehören zum sowjetischen Fernen Osten. Der Korjakische Nationalkreis zählt zum Gebiet Kamtschatka, der TschuktschenNationalkreis zum Gebiet Magadan. Einen Teil des Gebietes Chabarowsk nimmt das Jüdische Autonome Gebiet ein. 1

Geographisch wird das sibirische Territorium in einen West-, einen Mittel- und einen Ostteil untergliedert. Westsibirien ist ein flaches Tiefland von etwa 3 Mill. km 2 , das vom Ural bis zum Jenissei reicht. Die wasserreichen Ströme Ob und Irtysch — zusammen über 5570 km lang — durchschneiden ein versumpftes, überwiegend aus Nadelhölzern bestehendes Waldgebiet. Östlich des über 4000 km langen Jenissei erstreckt sich bis zur Lena das Mittelsibirische Bergland mit einer durchschnittlichen Höhe von 300 bis 500 m. Es geht im Norden zur Taimyrhalbinsel in Flachland über, während im Süden das Angaraplateau bis zu 1200 m ansteigt. Auf der wilden Angara kommt man zum tiefsten See der Erde — dem Baikalsee. Von der 4270 km langen Lena zieht sich bis zur Tschuktschenhalbinsel und zur Beringstraße das stark gegliederte, von Hochgebirgen unterbrochene ostsibirische Bergland hin. Die Gebiete am Beringmeer, die Halbinsel Kamtschatka, die Küste vom Ochotskischen bis zum Japanischen Meer einschließlich der Insel Sachalin und der Kurilen gehören zum Fernen Osten, der im Süden vom 2850 km langen Amur begrenzt wird. Sibirien liegt in drei verschiedenen Klimazonen: der gemäßigten, der subpolaren und der polaren. In Südsibirien herrscht gemäßigtes Klima mit vier ausgeprägten Jahreszeiten und einer Vegetationsperiode, die günstige Bedingungen für die Landwirtschaft bietet. Von Mai bis August scheint die Sonne in Nowosibirsk 1116, in Omsk 1128 und in Barnaul 1154 Stunden durchschnittlich. In Moskau dagegen nur 951 und in Kislowodsk im Nordkaukasus nur 843 Stunden. Südsibirien gehört daher zu den wichtigsten landwirtschaftlichen Gebieten der Sowjetunion. Auch die Industrie konzentriert sich, gemessen am gesamten Territorium Sibiriens, hier. Es ist die am dichtesten besiedelte Region, in der die meisten sibirischen Großstädte liegen. Die planmäßige ökonomische Entwicklung des südlichen Sibiriens und der weitere Ausbau der kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen dienen auch dem Ziel, hier eine Basis für die Erschließung des Nordens zu schaffen. Der sibirische Süden ist in gleicher Weise Ausgangspunkt für die Entwicklung des Nordens, wie es einst der Ural für die Erschließung der südwestsibirischen Industriegebiete war. Der sibirische Norden zeichnet sich durch ein außerordentlich hartes Klima aus. Dauerfrostböden, Sumpfgebiete, lange schneereiche Winter mit äußerst niedrigen Temperaturen, stürmische Polarwinde erschweren die Arbeits- und Lebensbedingungen. Nicht umsonst ist 2

die riesige Region im Nordosten das am schwächsten besiedelte Gebiet ganz Sibiriens. Der Nahe Norden, d. h. die im subpolaren Einflußbereich liegenden Gebiete zwischen dem 60. und 64. Breitengrad, wird inzwischen industriell erschlossen. Das Programm für den wirtschaftlichen Aufbau dieser Gebiete berücksichtigt auch die Schwierigkeiten, die bisher einer stärkeren Besiedlung dieser Territorien entgegenwirkten. So werden u. a. Flächen erfaßt, die sich für die Entwicklung der Landwirtschaft eignen. 2,5 Mill. ha Ackerland wurden registriert, das gegenwärtig praktisch noch ungenutzt ist. Auch die polaren Gebiete des Hohen Nordens, nördlich vom 64. Breitengrad bis zur Polarmeerküste, werden wegen ihrer seltenen Naturschätze, die in den menschenleeren Tundraebenen verborgen liegen, immer interessanter. Einige wichtige Objekte sind inzwischen schon entstanden. Norilsk, Igarka und Dudinka sind Pionierstädte des sibirischen Hohen Nordens. Die komplexe Erschließung dieser Gebiete gehört noch zu den bevorstehenden Aufgaben. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Sibiriens zum Zeitpunkt seiner Eingliederung in das Russische Reich war vielfältig. Die nordasiatische Arktis und die subarktischen Gebiete wurden vor allem von den sogenannten kleinen Völkern des Nordens besiedelt. Schwere Lebensbedingungen und die Entfernung von den Zentren der Zivilisation führten dazu, daß bei ihnen archaische Formen des gesellschaftlichen Lebens über längere Zeiträume erhalten blieben. Zu dieser Gruppe werden auch einige im Fernen Osten (Amurgebiet) lebende Stämme und Völker gezählt, deren Entwicklung ähnlich verlief. Sie unterschieden sich wesentlich nach sprachlichen Merkmalen. Über die Herkunft einiger Sprachen besteht auch heute noch keine endgültige Klarheit. Ihre Gesellschaftsordnung entsprach den für die Urgemeinschaft typischen Verhältnissen. Es waren zum Teil, wie bei den Itelmenen und bei den Jukagiren, die Bedingungen des Matriarchats, während die Giljaken und Ewenken an der patriarchalischen Sippenordnung festhielten. Jagd und Fischfang lieferten ihnen das Lebensnotwendige. Die meisten südsibirischen Völker dagegen — die Altaier, Chakassen, Tuwiner, Burjaten, Tataren u. a. — lebten unter günstigeren Bedingungen. Die Natur war hier menschenfreundlicher, und die Zentren der Zivilisation lagen näher. Diese Völker betrieben bereits Ackerbau und Viehzucht, und es entstanden bei ihnen frühe Formen von Klas3

senbeziehungen. Dasselbe Entwicklungsmuster galt auch für die weiter nördlich lebenden Jakuten. Das hier skizzierte Nord-Süd-Schema liegt auch dem 1956 erschienenen Übersichtswerk sowjetischer Ethnographen über die sibirischen Völker zugrunde. 1 Allerdings handelt es sich hier nur um ein Grundmuster, dessen Gültigkeit mit zwei wesentlichen Einschränkungen versehen werden muß. Die erste bezieht sich auf die Tatsache, daß es sich bei den genannten ethnischen Gruppen fast ausschließlich um nomadisierende Gemeinschaften handelte, deren Siedlungsgrenzen fließend waren. Zweitens kommt hinzu, daß die Geschichte Sibiriens im 16. Jh. nicht isoliert von der vorangegangenen Entwicklung sowohl in Zentralasien als auch im benachbarten Europa gesehen werden kann. Ende des 3. Jh. v. u. Z. entstand in Zentralasien ein Großreich des nomadisierenden Turkvolkes der Hunnen, dessen Plünderungszüge nicht nur dem benachbarten China zu schaffen machten, sondern auch die Existenz und Entwicklung vieler Völker Asiens und Europas stark beeinflußten. In den Einflußbereich dieses Reiches gerieten mehrere sibirische Stämme aus Transbaikalien und dem Altai. Eine Serie von Niederlagen im Kampf gegen China und andere Gegner führte schließlich seit 73 u. Z. zur Auflösung des Hunnenreiches. Ein Teil der Hunnenstämme zog nach Westen, wo sie noch Jahrhunderte später, unter Attila, von sich reden machten. In Sibirien entstanden inzwischen die ersten Staaten der fernöstlichen Stämme am Amur und an der Pazifikküste. Es waren die tungusischen Staaten Bohai und Djin sowie das mongolische Staatengebilde Liao. 2 Schon im 6. Jh. u. Z. drangen erneut türkische Stämme vor, deren Einfluß von ganz Zentralasien bis nach Südsibirien reichte. Das letzte Turkvolk, das sich vom Jenissei aus auf dem großen Territorium Zentralasiens zwischen dem 9. und 10. Jh. behauptete, waren die Kirgisen. Danach setzten sich langsam die mongolischen Stämme durch, die sich dann Anfang des 13. Jh. unter Dschingis-Chan zum mächtigen mongolischen Weltreich vereinigten. Ihre Eroberungszüge führten zu Verwüstungen, zur Versklavung und Vernichtung ganzer Kulturvölker. Die Herrschaft der Goldenen Horde hinterließ nicht nur in 1 2

4

Narody Sibiri, Moskau-Leningrad 1956. Vgl. Istorija Sibiri s drevnejsich vremen do nasich dnej v pjati tomach. Bd. I (Drevnjaja Sibir), Leningrad 1968, S. 307—352 (im folgenden: Istorija Sibiri).

Sibirien Spuren. Es war insgesamt ein Einschnitt in der Geschichte Asiens und Osteuropas. Der Ethnograph Wilhelm Radloff, der diese Zeit anhand zeitgenössischer Quellen zu verfolgen versuchte, schrieb: „Es entstand in Hochasien der frühere Zustand der Zersplitterung in Horden, die durch fortwährende Fehde ihrer Häuptlinge immer mehr geschwächt wurden, so daß sie zu völliger Ohnmacht herabsanken und jener Zustand der Verwilderung herbeigeführt wurde, dem der völlige Mangel an historischen Daten in dieser Zeit zuzuschreiben ist. Die Geschichte des inneren Zustandes fehlt vollkommen . . . Wir wissen nur, daß bis zum XVII. Jahrhundert das ganze Hochland von Asien, vom mittleren Amur bis zum Iii, unter der Herrschaft der Mongolen sich befand." 3 lene Mongolen gehörten allerdings nicht mehr der gefürchteten Goldenen Horde an. Diese zerfiel infolge innerer Instabilität und der Befreiungskämpfe unterdrückter Völker, wobei die Niederlage auf dem Kulikowo Polje im Jahr 1380, die der Enkel Dschingis-Chans von den vereinigten russischen Truppen unter Dmitri Donskoi einstecken mußte, einen entscheidenden Wendepunkt bildete. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jh. fielen Choresm, Kasan, die Krim und Astrachan von der Goldenen Horde ab und bildeten selbständige Chanate. Eines der Nachfolgereiche der Goldenen Horde, das Chanat Sibir, soll etwas näher betrachtet werden, da es bei der Angliederung Sibiriens an Rußland eine besondere Rolle spielte. Das Sibirische Reich entstand gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Es erstreckte sich über das ganze Gebiet des mittleren Irtysch, westlich reichte es bis zum mittleren Lauf der Tura, nördlich bis zur Einmündung des Irtysch in den Ob, südlich etwa bis zum Fluß Om und östlich hinter die BarabaSteppe bis zum linken Ufer des Ob. Die herrschende Schicht bildeten an der Tura, am Tobol und am Irtysch siedelnde Tataren, die vermutlich vom Süden her am Irtysch entlang eingedrungen waren. Sie unterwarfen zum Teil die Stämme der Chanten (Ostjaken) und einige südsibirische Turkstämme. Hinsichtlich seiner Tradition und seiner Aggressivität erinnerte das Sibirische Reich an die gefürchteten Mongolenreiche vergangener Zeiten. Ein interessantes Zeugnis dafür bieten die Heldenlieder der sibirischen Tataren aus den Zeiten ihrer Unterwerfung durch die Russen:

3

Radloff W., Aus Sibirien. Lose Blätter aus meinem Tagebuche. Bd. 1,2. Ausgabe, Leipzig 1893, S. 142 f.

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„Fraget ihr nach meiner Herkunft, Zogen aus vom Tschingis-Kan, Kamen dann zum Käräl-Flusse, Schlugen dort das Käräl-Volk, Ritten in das Land der Krym Und eroberten die Krymstadt. Da erzählt von Astrachan man, Sei von rothem Stein umgeben, Habe starke Eisenthore, Und wir nahmen Astrachan. Da erzählte man uns wieder, Zyngaly sei eine Kaufstadt, Töne stets dort lautes Schreien Von Kamelen, die hindurchziehen. Zogen drauf nach Zyngaly Und eroberten die Stadt uns. Von dort gingen nach Tjumen wir, Haben auch Tjumen erobert. Von dort gingen nach Iskär wir, Közü Kan, des Asimät Sohn, Stießen wir vom goldenen Throne Und vertrieben ihn von hier." 4 So glatt, wie in diesem Heldenlied besungen, verlief jedoch die Geschichte des Tatarenreiches keineswegs. Vor allem die Vertreibung von Közü Kan (Chan Kutschum) führte letztlich zur Vernichtung ihres Reiches. Kutschum stammte aus der mächtigen ScheibanidenDynastie, die an der Gründung des Sibirischen Reiches mitbeteiligt war. Als er in den sechziger Jahren des 16. Jh. den Thron des Herrschers des Sibirischen Reiches Jediger bedrohte, bat dieser den russischen Zaren um Unterstützung. Die Hilfe wurde versprochen. Jediger mußte sich dafür verpflichten, 1000 Zobelpelze jährlich an Moskau zu liefern. Kutschum dachte nicht daran, seine Eroberungspläne aufzugeben. Die Zeit für einen neuen Angriff auf Isker erschien ihm günstig, als die Truppen des Zaren im Livländischen Krieg und im Kampf gegen die Krimtataren eingesetzt waren. Im Jahre 1563 nutzte er die für ihn günstige Situation und zerschlug die auf sich allein gestellten Truppen Jedigers. Kutschum erklärte sich zum Chan des Sibirischen Reiches. Er fühlte sich stark genug, die Verpflichtungen 4

6

Ebenda, S. 158.

seines Vorgängers nicht einzuhalten. Mehr noch, seine Truppen unternahmen oft Angriffe auf die anliegenden russischen Gebiete. Diese Politik mußte um so abenteuerlicher erscheinen, da Kutschums Stellung innerhalb des Sibirischen Reiches keineswegs unangefochten war. Widerstand gegen ihn regte sich vor allem, weil er versuchte, unter seinen heidnischen Untertanen den Islam einzuführen, und dabei auch vor Gewaltmaßnahmen nicht zurückschreckte. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn der erfolgreiche Feldzug des russischen Kosakenatamans Jermak, von dem noch die Rede sein wird, in dem bereits zitierten Heldenlied mit Sympathie erwähnt wird. Die Schlacht vor den Toren der Hauptstadt des Sibirischen Reiches Isker wird so dargestellt: „Jarmak rüstete sich zum Kriege, Als der Mond am Himmel leuchtete, Unsere Heere hat vernichtet Jarmaks hohle Eisenwaffe. Da wir nun im blutigen Kampfe Mit Jarmak uns da gemessen, Hat Jarmak doch recht behalten." 5 Jermaks Feldzug stand am Beginn der Eingliederung Sibiriens in das Russische Reich. Dieser Prozeß war kompliziert und vielschichtig. W. Radioff betonte zu Recht, daß das Schwert bei der Unterwerfung Sibiriens unter das russische Zepter nicht die ausschlaggebende Rolle spielte. Erst die darauffolgende Bauernkolonisation, die Pflug und Egge nach Sibirien brachte, schuf die Grundlage für feste Bindungen. Auch die wissenschaftliche Erschließung Sibiriens war in ihren Anfangen eng mit der Kolonisation verbunden. Von Anbeginn an bestimmten zwei Tendenzen den Charakter der Sibirienforschung: das Land wissenschaftlich zu erschließen, um es intensiver ausbeuten zu können; das Land und das Volk kennenzulernen, um ihnen besser helfen zu können. Der Beweggrund der Zarenregierung für die Entsendung von Abgesandten und vor allem für die Finanzierung von Expeditionen nach Sibirien waren stets die Kolonisierung des Landes, die Ausbeutung seiner Naturschätze und seiner Völker, die Eroberung der weiten Gebiete. Aber diejenigen, die im Auftrage des Staates unter schwierigsten Bedingungen, nicht selten unter Einsatz ihres 5

Ebenda. S. 160. 7

Lebens die Entdeckungsreisen in das weite unwegsame Land unternahmen, hatten nicht selten andere, mitunter auch illusorische Vorstellungen über das Ziel, dem die von ihnen gewonnenen Kenntnisse dienen sollten. An der Erforschung Sibiriens beteiligten sich auch, vor allem im 19. Jh., die demokratisch gesinnten Vertreter der Intelligenz, die hier als Verbannte lebten. Neben Russen waren es auch immer wieder Vertreter anderer europäischer Nationen, die unter das Joch des Zaren gerieten. Sie dienten der Wissenschaft, weil sie an den Zusammenhang zwischen Erkenntnisfortschritt und sozialem Fortschritt glaubten. Die unterschiedlichen Zielstellungen bei der Erforschung Sibiriens brachten Wissenschaftler nicht selten in Gewissenskonflikte. Wie sehr ihre Interessen und Motive zu denen des Staates im Gegensatz standen, mußten sie vor allem dann erfahren, wenn die Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse aus Gründen der „Staatsraison" verhindert wurde. Tagebücher, Aufzeichnungen, Karten und Zeichnungen kamen unter Verschluß, während ihre Autoren mit der Zeit in Vergessenheit gerieten. Die Anfänge der Sibirienforschung sind mit den Namen russischer und ausländischer Wissenschaftler verbunden. Als erster ausländischer Gelehrter bereiste Daniel Gottlieb Messserschmidt im Auftrag des Zaren Peter I. in den Jahren 1720 bis 1727 die sibirischen Weiten. Der Mediziner aus Halle bereitete sich lange und gründlich auf diese Reise vor. Der Reiseplan Messerschmidts lag 1720 der Pariser Akademie der Wissenschaften zur Einsicht vor. Diese schätzte das Unternehmen, das botanische, zoologische, mineralogische, medizinische, sprachwissenschaftliche, historische, archäologische und ethnologische Untersuchungen umfaßte, als außerordentlich wichtig ein. Das nach der Bedeutung und dem vorgesehenen Arbeitsaufwand grandiose Forschungsprogramm enthielt u. a. die Auflage, ein Reisejournal in Form eines Tagebuchs zu führen. Diesen Auftrag erfüllte Messerschmidt mit beispielhafter Gewissenhaftigkeit. Doch wie wertvoll der „Schatz" war, den Messerschmidt von seiner Reise mitbrachte, erfuhr die Welt erst 250 Jahre später. Die Fülle des wertvollen Materials wurde im Ergebnis einer umfangreichen gemeinsamen Arbeit von Historikern der D D R und der UdSSR der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 6 Messerschmidt traf Ende 1719 in Tobolsk ein. Im Laufe des fol6

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Messerschmidt, D. G., Forschungsreise durch Sibirien 1720—1727, in Verbindung mit zahlreichen Fachgelehrten herausgegeben von E. Winter, G. Uschmann und G. Jarosch, Teile 1 bis 5, Berlin 1962—1977.

genden Jahres bereitete er seine Expedition gründlich vor, unternahm kleinere Reisen in die Umgebung und sah sich nach geeigneten Reisebegleitern um. In Tobolsk lebte eine Gruppe schwedischer Kriegsgefangener, von denen einige sich mit Sibirien und seiner Geschichte beschäftigten. Dazu zählte vor allem Kapitän Tabbert (Strahlenberg), der bei den Vorbereitungsarbeiten sehr nützlich war und Messerschmidt auch auf dem ersten Teil der Reise begleitete. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die körperlichen Strapazen, die Gefahren, die Einsamkeit und Abgeschiedenheit von der Welt vorzustellen, denen ein Reisender ausgesetzt war, der Anfang des 18. Jh. die Weiten Sibiriens durchquerte. Die Tagebucheintragungen berichten auch darüber, daß der Arzt Messerschmidt auf seiner langen Reise nicht nur, wie es sein Auftrag war, seltene und epidemische Krankheiten behandelte und beschrieb, sondern oft genug auch bei „gewöhnlichen" Krankheiten seiner ärztlichen Pflicht nachkam. 7 Nach ertragreicher und anstrengender Reise kehrte Messerschmidt im März 1727 nach Petersburg zurück. Sein sehnlichster Wunsch war, die von ihm gesammelten Materialien so schnell wie möglich zu bearbeiten und der wissenschaftlichen Welt zugänglich zu machen. Doch die politische Situation war für Messerschmidt ungünstig. Sein großer Auftraggeber war tot, und den Nachfolger schien anderes zu interessieren, als sich um das Schicksal der von Peter I. begonnenen Projekte zu kümmern. Messerschmidt beeilte sich, nach Deutschland zu kommen, u. a. in der Hoffnung, dort sein Vorhaben voranzutreiben. Doch bevor er Petersburg verlassen konnte, mußte er das Versprechen abgeben, „über Forschungsergebnisse aus Sibirien Stillschweigen zu bewahren und über seine Reise nichts ohne Bewilligung der Petersburger Akademie zu veröffentlichen" 8 . Er hielt sich an diese Zusage. Teile seines Reiseberichtes konnte Tabbert in Schweden veröffentlichen. Einiges nutzten die Wissenschafter, die nach ihm im Auftrage der Petersburger Akademie Sibirien bereisten. Ähnlich wie Messerschmidt und viele andere europäische Gelehrte ging 1727 G. F. Müller nach Petersburg, um auf Grund eines Vertrages für die Petersburger Akademie zu arbeiten. Sein Arbeitsgebiet war von Anfang an sehr vielfältig. Als ihm und zwei anderen Profes7

8

2

Vgl. Winter, E., Figurovskij, N. A., Einleitung, in: Messerschmidt, D. G., Forschungsreise . . ., Teil 1, Berlin 1962, S. 8. Ebenda, S. 15. Thomas, Sibirien

9

soren das Angebot gemacht wurde, sich an der Zweiten KamtschatkaExpedition zu beteiligen, zögerte Müller keine Sekunde. Die Instruktionen für die Reise, die er selbst ausarbeitete, zeigen, daß sein Interesse in erster Linie der Geschichte, der Ethnographie und der Sprache der sibirischen Völker galt. 9 Unter Leitung Müllers wurde die Akademische Abteilung der Zweiten Kamtschatka-Expedition gebildet. Ihr gehörten die Professoren J. G. Gmelin und Delisle de la Croyere, die Studenten Krascheninnikow, Gorlanow, Tretjakow, L. Iwanow und Popow, die Landvermesser Krassilnikow, A. Iwanow, Tschetin und Uschakow, der Dolmetscher Jachontow sowie die Zeichner Barkan und Lursenius an. (Später kamen die Adjunkten G. W. Steller und Fischer sowie der Zeichner und Dolmetscher Lindenau hinzu.) Die Gruppe verließ im August 1733 Petersburg. Ihre Marschroute führte von Jekaterinburg über Tobolsk, Tara, Omsk, Shelesinsk, Ust-Kamenogorsk, Kolywan, Kusnezk, Tomsk, Jenisseisk, Krasnojarsk, Kansk, Udinsk, Irkutsk, Selenginsk, Kjachta, Tschita, Nertschinsk, Ilimsk, Ust-Kut nach Jakutsk, wo sie im Frühherbst 1736 ankam. Die großen Beschwernisse der Reise vermochten nicht, den Blick für die ungewohnte Schönheit der Natur zu trüben. „Wir kamen in ein Blumenparadies mehrenteils noch ganz unbekannter Kräuter, in einen Tiergarten, wo wir die seltensten Tiere von Asien versammelt vor uns fanden, in ein Antiquitäten-Cabinet alter heidnischer Gräber und darin verwahrter mancherlei Merkwürdigkeiten — mit einem Worte in Gegenden, die zum Nutzen der gelehrten Wissenschaftler noch nicht bereist waren." 1 0 Diese von Müller jahrzehnte später niedergeschriebenen Eindrücke sind Zeugnis seiner ursprünglichen Entdeckerfreude. Müller bewältigte ein umfangreiches Arbeitspensum. Er entwickelte sich während der Expedition zu einem erfahrenen Kenner der Geschichte und Geographie Sibiriens. In Jakutsk arbeitete er längere Zeit im örtlichen Archiv und verfaßte auf der Grundlage der dort gefundenen Materialien zwei größere Arbeiten: eine Abhandlung über die Frage der nördlichen Durchfahrt, in der die Reise des Ko-

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Vgl. Müller,G. F., Istorija Sibiri. Bd. I. Moskau-Leningrad 1937, Beilagen, S. 460f. Der Titel der ersten, 1750 erschienenen Ausgabe „Opisanie sibirskogo carstva" wurde von Müller nicht autorisiert. Die erste deutsche Ausgabe hieß „Sibirische Geschichte" (St. Petersburg 1761 — 1763). Zit. nach Hoffmann, P., Gerhard Friedrich Müller — Die Bedeutung seiner geographischen Arbeiten für das Rußlandbild des 18. Jahrhunderts (Dissertation), Berlin 1959, S. 39.

saken Deshnjow, der 1648 als erster das Nordkap umschiffte, und andere Fahrten auf dem Eismeer erwähnt werden, und eine Beschreibung von Kamtschatka und seiner Umgebung, die neben Archivmaterialien auch die mündlichen Überlieferungen Jakutsker Einwohner mit einbezog. Die letztere Arbeit diente als Grundlage für die Untersuchungen des nach Kamtschatka entsandten Krascheninnikow. 11 Zu dieser Zeit war Müller bereits erkrankt und wollte deshalb ohne Verzug den letzten Teil seiner Reise in Angriff nehmen. Er bat daher die Akademie um die Benennung eines Wissenschaftlers, der seine Arbeit in Jakutsk fortsetzen könnte. Sein Nachfolger, Adjunkt Fischer, traf erst 1740 in Sibirien ein. Müller, der sich inzwischen schon auf der Rückreise befand, traf Fischer in Surgut und übergab ihm ausführliche Instruktionen. Wie sich später herausstellte, war Fischer keineswegs der geeignete Mann, die mit viel Eifer, Sachkenntnis und Engagement betriebenen Studien Müllers fortzuführen. Auf dem letzten Reiseabschnitt widmeten sich Müller und Gmelin der Besichtigung und Beschreibung verschiedener Bergwerke im Uralgebiet. Sie besuchten Turinsk, Werchoturje und Solikamsk. Im Februar 1743 kehrte Müller über Wologda nach Petersburg zurück. Nach eigenen Berechnungen hatte er während seiner zehnjährigen Reise 31362 Werst (40000 km) zurückgelegt. 12 In dieser Zeit arbeitete Müller in 20 sibirischen Archiven und sammelte in Form von Abschriften und Auszügen ein außerordentlich umfangreiches und wertvolles Aktenmaterial aus dem 16., 17. und 18. Jh. Zu seiner Sammlung gehörten einige russische Letopis (Handschriften), darunter die sehr wertvolle Remesowletopis sowie Handschriften anderer Völker aus derselben Zeit. Er beschrieb die Folklore vieler sibirischer Völker, deren Sitten und Gebiäuche. Eine Kollektion von Gegenständen aus alten Grabstätten sowie eine Sammlung von Nationaltrachten verschiedener Völker gehörten ebenfalls zum Ertrag der Reise. Nur einen Teil des mitgebrachten Materials konnte Müller selbst in seinen Publikationen auswerten. In die Geschichte der Erforschung Sibiriens ist er sowohl als ein leidenschaftlicher und gewissenhafter Sammler und Systematiker von Akten und Materialien, die er so vor der Vernichtung rettete und späteren Forschergenerationen zur Verfügung stellte, als auch als Autor der ausführ11

Vgl. Andreev,

A. Ja., Trudy, G. F. Millera o Sibiri, in: Miller, G. F., Istorija

Sibiri, Bd. I, S. 69 f. 12

2*

Vgl. Hoffmann,

a. a. O., S. 63.

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liehen, leider von ihm nicht zu Ende geführten „Geschichte Sibiriens" und zahlreicher historischer und geographischer Arbeiten eingegangen. „In Müller haben wir es nicht einfach mit einem Materialiensammler zu tun. Vor uns steht ein großer Forscher, der neue Wege im Dickicht der feudalen Wissenschaft offenlegte. Mehr noch, Müller hat nicht nur den sibirischen Stoff mit den bürgerlichen Methoden der Geschichtsforschung, die mit der nichtkritischen Haltung zu historischen Quellen brachen, bearbeitet; er gehörte selbst zu den großen Schöpfern dieser neuen Methoden . . ," 1 3 Diese Einschätzung des Werkes von G. F. Müller stammt von einem der bedeutendsten sowjetischen Spezialisten auf dem Gebiet der Geschichte Sibiriens, S. W. Bachruschin. Das Historikerkollektiv des neu entstandenen Instituts für Geschichte, Philologie und Philosophie der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ging 2 Jahrhunderte nach Müllers „Geschichte Sibiriens" daran, in einem 5bändigen Werk eine zusammenfassende Geschichte Sibiriens niederzuschreiben. Geschichtsforscher aus Tomsk, Irkutsk, Kemerowo, Jakutsk, Ulan-Ude, Wladiwostok, Barnaul, Abakan, aber auch aus Moskau und Leningrad nahmen an der Verwirklichung dieses Vorhabens teil. Die innerhalb kurzer Zeit fertiggestellte „Geschichte Sibiriens", die 1968/69 erschien, fand sowohl in der UdSSR als auch im Ausland Anerkennung. Bis heute konzentriert sich die Forschung auf Schwerpunkte, die in der „Geschichte Sibiriens" erläutert oder vorerst nur angedeutet werden konnten: die Wechselbeziehung zwischen dem Zentrum und den Randgebieten des Landes; zwischen den Völkern Sibiriens und anderen Völkern, die das Land besiedelten, vor allem dem russischen Volk: das Allgemeingültige und das Besondere in der Geschichte Sibiriens. Das sind die großen methodologischen Probleme, die in verschiedenen Geschichtsetappen untersucht werden. Große Erfolge brachten die archäologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte. Das 1960/61 gegründete Sibirische Zentrum der Wissenschaft setzte die Arbeit der Leningrader Abteilung des Instituts für Archäologie der sowjetischen Akademie der Wissenschaften fort. Es finden Ausgrabungen auf den Territorien Sibiriens und des sowjetischen Fernen Ostens, Zentralasiens (Mongolei) und anderer benachbarter Länder zur Klärung archäologischer Probleme des Pa13

Bachrusin, S. V., G. F. Miller kak istorik Sibiri, in: Miller, G. F., Istorija Sibiri, Bd. I, S. 39.

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läolithikums und des Neolithikums statt. Drei Gesichtspunkte, unter denen diese Forschungen durchgeführt werden, finden nicht nur bei den Archäologen reges Interesse. Von großer Aktualität ist erstens die Frage nach dem Zeitpunkt der Besiedlung Sibiriens. Bis Anfang der sechziger Jahre war man noch der Auffassung, daß Nordasien erst vor 20000 bis 25000 Jahren besiedelt wurde. Die Ausgrabungen im Altai-Gebiet und in der Nähe des projektierten Seja-Kraftwerkes brachten jedoch eine sensationelle Korrektur. Nach der Auswertung der Funde kam man zu dem Ergebnis, daß die ersten Menschen bereits vor etwa 150000 bis 200000 Jahren hier gelebt hatten. Die Frage, woher und auf welchem Weg sie nach Nordasien gelangten, muß mit dieser Entdeckung völlig neu beantwortet werden. Der zweite Gesichtspunkt hängt mit der These von der ständigen Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft zusammen. Wenn die Fortschrittstheorie auch für die Entwicklung in Nord- bzw. Ostasien gilt, wie erklären sich dann die krassen Rückschritte bzw. die lang andauernden Stillstandszeiten in der Geschichte der Völker dieses Kontinents? Die Ausgrabungen von Malta und Buret in der Nähe von Irkutsk haben gezeigt, daß hier vor 20000 bis 25000 Jahren Menschen lebten, die eine auf hohem Niveau stehende Kultur besaßen. Skulpturen und Schnitzereien von Tieren, Schlangen und Vögeln, Statuetten von Frauen in meisterhafter Ausführung versetzten die Forscher in Erstaunen. Was bewirkte, daß diese relativ hoch entwickelte, bereits zum Teil seßhafte Gemeinschaft von Jägern in den nächsten Generationen wieder zu Nomaden wurde, die ihre festen Häuser verließen und die Kunstfertigkeiten ihrer Vorfahren gänzlich vergaßen? Detaillierte Untersuchungen der äußeren Naturbedingungen werden — wie archäologische Forschungen in anderen Gegenden Sibiriens zeigen — die Beantwortung dieser Frage ermöglichen. Diese Annahme wird durch andere Ausgrabungen, beispielsweise durch die Funde von Rostowkinskoje und Saums in Westsibirien bestätigt. In den am Rand der Taiga liegenden Orten müssen vor fast 4000 Jahren Menschen gelebt haben, die Waffen und Geräte aus Bronze herstellten und sich hauptsächlich von Hackbau und Rinderzucht ernährten, während Jagd und Fischfang nur eine nebensächliche Rolle spielten. Als sich aber vor etwa 400 Jahren die ersten Kosakentrupps in diesen Gegenden niederließen, lebten hier nur Stämme, die sich von der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von Früchten ernährten. Weder Ackerbau noch Metallherstellung waren ihnen bekannt. Die Ursache für diese rückläufige Entwicklung stellten die Archäologen 13

in Zusammenarbeit mit Klimatologen und Paläobotanikern fest. Sie fanden heraus, daß etwa im letzten Viertel des 2. Jahrtausends v. u. Z. in diesem Gebiet eine zeitweilige spürbare Erwärmung stattfand, die eine Verschiebung der Grenze zwischen Taiga und Steppe um rund 500 km nach Norden zur Folge hatte. Diese klimatische Veränderung bildete die Grundlage für die Entstehung einer Kultur der Ackerbaustämme in dieser Region. Die folgende Abkühlung und das Vordringen der Taiga führten zur Abwanderung vieler Stämme in klimatisch günstigere Gebiete und zum Übergang vom Ackerbau zur nomadischen Viehzucht. Die archäologischen Forschungen führten in diesem wie auch in anderen Fällen zu neuen Fragestellungen und zur Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen. Der dritte Gesichtspunkt hängt mit dem Beitrag der Archäologie zur Erforschung der ethnischen Geschichte Sibiriens und der benachbarten Gebiete anderer Länder zusammen. Im Jahre 1964 wurde bei Ausgrabungen in der Nähe des von Nanaiern bewohnten Dorfes Kondon eine interessante Frauenskulptur aus der Steinzeit gefunden. Im Unterschied zu vergleichbaren aus Europa und Mittelasien, die die weiblichen Fruchtbarkeitsmerkmale übertrieben darstellten, galt bei dem Werk des Künstlers, der vor 4000 bis 5000 Jahren am Amur lebte, dem Gesicht der Frau die größte Aufmerksamkeit. In Zusammenarbeit mit Ethnographen konnte man mit Sicherheit feststellen, daß es sich bei dem Porträt um eine nanaische Frau handelte. Die Form der Verzierungen auf Birkenrinde und auf Keramikgefaßen bestätigte gleichzeitig die Vermutung, daß die Nanaier schon vor 4000 bis 5000 Jahren Gebiete besiedelten, in denen sie noch heute wohnen. 14 Die spektakulären Erfolge der sibirischen Archäologie haben verschiedene Ursachen. Neben der reichen Tradition dieser Disziplin, die durch das Sibirische Zentrum der Wissenschaft fortgeführt wird, wirkt sich vor allem die in den letzten 2 bis 3 Jahrzehnten forcierte industrielle Erschließung Sibiriens unmittelbar auf die Planung und Finanzierung archäologischer Arbeiten aus. Bevor die großen Wasserkraftwerke, Staudämme oder Industriekomplexe errichtet werden, haben die Archäologen die Möglichkeit, Ausgrabungen durchzuführen oder bei den notwendigen Erdarbeiten eventuelle Funde sicherzustellen. So war es an der Angara, am Amur, in Ust-Ilimsk, am Jenissei und an der BAM-Trasse. Ein Teil der so geborgenen archäologi-

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14

Vgl. Auf den Spuren der Vorfahren, in: horizont, Berlin, Nr. 24, 1976, S. 29.

sehen und ethnographischen Materialien befindet sich im Nowosibirsker Museum für Geschichte und Kultur Sibiriens. Mit Funden anderer Art beschäftigt sich das 1965 in Nowosibirsk gegründete Zentrum für archäographische Forschungen. Mitarbeiter dieses Zentrums reisen in die entlegensten Gegenden Sibiriens und sammeln alte Hand- und Druckschriften. Im Jahre 1972 entdeckten sie im Gebiet Tjumen eine große Privatsammlung alter Drucke, darunter einige westslawische Schriften, die registriert und den staatlichen Archiven übergeben wurden. Allein bis 1974 trug das Zentrum für archäographische Forschungen insgesamt 33 Handschriften und 175 Drucke zusammen, von denen die ältesten aus dem 15. Jh. stammen. 15 Die moderne sibirische Geschichtsschreibung knüpft bewußt an die humanistischen Traditionen der alten Sibirienforschung an. Zugleich übernimmt sie Untersuchungsmethoden und -ergebnisse neuerer Wissenschaftszweige, um vor allem Problemen der Geschichte des 20. Jh. gerecht zu werden. Fragenkomplexe der Kulturrevolution, der Entwicklung sibirischer Völker und der sozialökonomischen Umgestaltung Sibiriens in den letzten Jahrzehnten stehen zur Zeit im Mittelpunkt der Tätigkeit der Nowosibirischen Forschungsstätte.

15

Vgl. Archeografija i istoenikovedenie Sibiri, Novosibirsk 1975; Okladnikov, A. P., Izucenie istorii v Sibirskom otdelenii A N SSSR, in: Voprosy istorii, H. 6, 1975, S. 51 f.

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KAPITEL I

Der Anschluß Sibiriens an das Russische Reich

1. Kosaken jenseits des Ural Ende des 15./Anfang des 16. Jh. waren die politischen und ökonomischen Voraussetzungen für die Bildung eines zentralisierten russischen Feudalstaates herangereift. Unter Führung Moskaus wurden in erbitterten Kämpfen mit den einzelnen Fürstentümern die feudale Zersplitterung überwunden und damit günstige Voraussetzungen für die weitere Entwicklung geschaffen.1 Iwaji III. (1462—1505) und Wassili III. (1505—1533) vollendeten den Zusammenschluß der russischen Länder im wesentlichen. Als Folge dieser Entwicklung bildete sich der multinationale Charakter des Russischen Reiches heraus. Der Anschluß Sibiriens prägte im Laufe der Geschichte die Entwicklung des sich formierenden Feudalstaates entscheidend mit. Das Vordringen russischer Kaufleute hinter den Ural wird bereits in der Nowgoroder Chronik aus dem Jahre 1377 erwähnt. Sie berichtet von der Reise des Gjurata Rogowitsch in das Jugraland und nach Samojad — Gebiete hinter dem Ural, die nach den dort ansässigen Völkern benannt wurden. 2 Auch andere Quellen bestätigen die Existenz von Handelsbeziehungen zwischen Nowgorod und den Stämmen im Nordwesten Sibiriens. Es war vor allem der Zobelpelz, der die russischen Kaufleute anlockte. Die Strapazen und Gefahren der Reise hinter den „steinernen Gürtel", wie der Ural genannt wurde, nahm man in Kauf, denn die Pelze waren auf den Märkten Westeuropas und in Byzanz sehr gefragt und erzielten hohe Gewinne. Etwa zu dieser Zeit gab es auch die ersten Versuche, Asien über das Polarmeer zu erreichen. Holzboote mit 40 bis 60 Mann Besatzung 1 2

Vgl. Tichomirov, M. N., Rossija v XVI stoletii, Moskau 1962, S. 15. Es handelt sich um Ugren und Samojeden. Andere Quellen erwähnen Aleksandr Abakumovic und Stepan Ljapa, die im Jahre 1364 von ihrer Reise zur ObMündung zurückkehrten. Vgl. Gramoty Velikogo Novgorada i Pskova, Moskau-Leningrad 1949, S. 9—20. 17

überquerten das Weiße Meer und das Eismeer und erreichten die Ob-Mündung. Von Teilnehmern dieser wagemutigen Expeditionen sind Beschreibungen der Eismeerküste und der Inseln Waigatsch und Nowaja Semlja überliefert. Den Spuren der Seeleute folgte bald Militär, das im Auftrag der Nowgoroder Kaufleute den Besitzanspruch auf die fremden Gebiete sichern sollte. An den Ufern der Flüsse Pinega, Petschora und Wytschegda wurden die ersten russischen Festungen gebaut. Als Nowgorod 1478 seine Unabhängigkeit verlor, gingen auch die von ihm erorberten Gebiete an das Moskauer Fürstentum über. Der schwere nördliche Seeweg schränkte die Handelsverbindungen mit den Gebieten hinter dem Ural stark ein. Der kürzere und gefahrlosere südliche Landweg war aber vorerst für die russischen Kaufleute versperrt. Erst der erfolgreiche Feldzug Iwans IV. gegen das Kasaner Reich im Jahre 1552 und dessen Anschluß an Rußland machten den südlichen Weg nach Sibirien frei. Damit begann die systematische Erschließung und Eroberung Sibiriens, die in mehreren Etappen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen verlief. In den überlieferten Handschriften aus jener Zeit und in der umfangreichen Literatur wird das reguläre Vordringen russischer Kosakentruppen nach Sibirien mit dem Hause Stroganow und vor allem mit dem Namen des Kosakenführers Jermak in Beziehung gebracht, wobei die Rolle des Letztgenannten sehr umstritten war und ist. Über Jermaks Feldzug nach Sibirien existieren zahlreiche Legenden und Lieder. Einer der ersten Historiker Sibiriens, Remesow, rückte Jermak in die Nähe eines Heiligen. Entsprechend tendenziös sind seine Schilderungen. Mit der Stärkung der absolutistischen Monarchie in Rußland übernahm die offizielle Geschichtsschreibung die Funktion, den Taten der russischen Monarchen, vor allem den von ihnen bzw. den in ihrem Namen unternommenen Feldzügen, nachträglich Glanz zu verleihen. So wurde Jermak als Held im Dienste des Zaren dargestellt. Die demokratischen Vertreter der russischen Aufklärung wie Radischtschew und Slowzow dagegen bemühten sich um eine sachliche und umfassende Beurteilung der Ereignisse und der Rolle Jermaks. Der heutige Forschungsstand erlaubt es, die in der historischen Literatur immer wieder aufgegriffene Version auszuschließen, daß der Kosakenataman Jermak den Feldzug gegen das mächtige Sibirische Reich aus eigenem Antrieb unternommen hat. Es ist nachzuweisen, daß sich bei diesem Unternehmen die Interessen der einflußreichen Kaufmannsfamilie Stroganow mit den abenteuerlichen Plänen Jermaks kreuzten. 18

Der Aufstieg der Familie Stroganow begann im 15. Jahrhundert/ Vor allem die Gewinne aus dem Handel und der Salzförderung im Uralgebiet ließen sie schnell zu den reichsten und einflußreichsten Familien des Landes werden. Die Gunst des Zaren sicherten sie sich, indem sie z. B. Truppen für den Livländischen Krieg stellten und ausrüsteten. Der Zar wußte solche Hilfe zu lohnen und sicherte sich seinerseits diese Geldquelle durch Landgeschenke an die Familie Stroganow. Die neuen Besitztümer, direkt an der Grenze zum Sibirischen Reich gelegen, brachten jedoch nicht nur Vorteile für das Haus Stroganow. Der Herrscher des Sibirischen Reiches Kutschum sorgte mit seinen Überfällen ständig für Unruhe. Als 1578 Jermak in dieser Gegend auftauchte, rüsteten die Stroganows gerade Truppen aus. Diese sollten nicht nur gegen Kutschum, sondern auch gegen das kleine Volk der Mansen eingesetzt werden, das sich gegen die unmenschliche Ausbeutung durch die Stroganows wehrte. Jermaks Kosaken, die zuvor das mittlere Wolga-Gebiet unsicher gemacht hatten, waren auf der Flucht vor Soldaten des Zaren, die ihnen das Handwerk legen sollten. Die Stroganows, zunächst durch das Auftauchen dieses wilden Haufens erschreckt, übernahmen aber dann die Einquartierung und Verpflegung der Kosaken, und das sicherlich nicht nur aus Angst, daß die ungebetenen Gäste sich ihren Teil sonst selbst nehmen würden. Vielmehr verfolgte man damit das Ziel, den erfahrenen Jermak für den Kampf gegen Kutschum zu gewinnen. Jermak, einerseits durch den geschilderten Reichtum Sibiriens angelockt, andererseits aber auch zufrieden, mit seinen wilden Gesellen neuen Abenteuern entgegenzugehen, ging auf das Angebot ein. 1579 brach er an der Spitze seiner Kosakenabteilung in das unbekannte Land auf. Die Kämpfe seiner Kosakenabteilung, die Schläue und das militärische Geschick ihres Führers sind in Überlieferungen festgehalten. Diese wurden vermutlich kurz nach Beendigung des Feldzuges von einem leibeigenen Schreiber des Hauses Stroganow verfaßt. 4 Die entscheidende Schlacht gegen Kutschum fand im Herbst 1582 vor den Toren der Hauptstadt des Sibirischen Reiches Isker statt. Die Festung Isker war an einer sehr günstigen Stelle angelegt worden. Auf der einen Seite schützte sie ein Fluß, zu den anderen Seiten fiel das Gelände in eine Talebene ab, die durch drei Wälle gesichert 3

4

Vgl. Vvedenskij, A. A., D o m Stroganovych v XVI—XVII vv., Moskau 1962, S. 4, 58 f. Vgl. Stroganovskaja Ietopis' nach Tolstovs Handschrift, in: Sibirskie letopisi, Sankt Petersburg 1907.

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wurde. Noch Ende des 19. Jahrhunderts waren ihre Überreste zu sehen.5 Nach heftigem Kampf, der mit einer vernichtenden Niederlage Kutschums endete, besetzte Jermak mit seinen knapp 500 überlebenden Kosaken die Ffestung. Kutschum konnte fliehen. Seine Hilfstruppen, die aus Chanten und Mansen bestanden, ergaben sich den Kosaken und leisteten den Treueid. Am frühen Morgen des 26. Oktober wehte Jermaks Fahne über der Hauptstadt des Sibirischen Reiches. Sein Vertrauter, Iwan Kolzo, wurde mit 50 Kosaken nach Moskau geschickt, um dem Zaren eine „Urkunde" zu überreichen und ihn zu bitten, Sibirien „unter seine hohe Zarenhand" zu nehmen. Welche Vorteile das neu eroberte Gebiet versprach, sollten die mitgeführten Geschenke deutlich machen: 2400 Zobelpelze, 20 schwarze Fuchspelze und 50 Biberpelze. Die Nachricht vom siegreichen Kampf um Isker und die reichen Gaben verfehlten ihre Wirkung auf Iwan IV. nicht. Er verzieh den Kosaken ihre früheren Beutezüge. Jermak wurde geehrt und beschenkt. Auch die Stroganows gingen nicht leer aus. Sie erhielten neue Besitztümer und wurden vom Zoll befreit, zumindest für den Handel in ihren Städten. Mit dem Sieg Jermaks war der Friede in diesem Gebiet aber noch lange nicht gesichert. Immer wieder versuchten die sibirischen Tataren, das Land zurückzuerobern. In einem dieser Gefechte ftel im Jahre 1584 auch Jermak. Die nach seinem Tod verlorengegangenen Gebiete eroberten Truppen des Zaren bis zum Jahre 1591 wieder zurück. Im Sommer 1598 wurde Kutschum endgültig geschlagen. Mit der Niederlage Kutschums und dem Fall der Hauptstadt Isker begann jedoch erst die Eroberung Sibiriens. Das Sibirische Reich umfaßte ja nur den westlichen Teil dieses riesigen, schwach besiedelten Landes. Das Interesse an sibirischen Pelzen, derentwegen schon die ersten wagemutigen Reisen hinter den Ural unternommen wurden, trieb jetzt die den Kosaken nachfolgenden Kaufleute immer weiter nach Osten. Der Zobelpelz wurde zur „neuen Ikone der russischen Staatsmänner, Industriellen und Handelsleute" 6 . In verhältnismäßig kurzer Zeit durchquerten Pelzhändler das riesige Territorium in verschiedenen Richtungen. War dieses Vordringen in die Tiefe des Landes auch nicht planmäßig und vielen Unsicherheiten ausgesetzt, so überrascht dennoch- das Tempo dieser ersten Kolonisationswelle. Ende des 16. Jh. entstanden die ersten russischen Festungen und befestigten Siedlungen in Westsibirien, meist an Flußläufen. 5 6

Vgl. Radioff, W„ Aus Sibirien, S. 144 f. Sinkar'ev. L. E., Sibir' otkuda ona posla i kuda ona idet, Irkutsk 1974, S. 55.

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Die erste russische Stadt in Sibirien war Tjumen, die 1586 gegründet wurde. Nacheinander entstanden mehrere Festungen an Irtysch und Ob: Tobolsk (1587), Berjosow (1593), Tara (1594), Surgut (1594), Narym (1596). Aus ihnen entwickelten sich bald Städte, von denen die meisten noch heute existieren. Typisch für die Art ihrer Entstehung ist die Gründungsgeschichte der Stadt Tomsk. Der Fürst der Tomsker Tataren fühlte sich von den benachbarten Mongolen- und Kirgisenstämmen bedroht. Er wandte sich an den Zaren Boris Godunow mit der Bitte, eine russische Festung am Fluß Tom zu errichten. So entstand 1604 die Festung Tomsk, bei deren Bau die Russen von Tataren und Chanten-Stämmen unterstützt wurden. Das Vordringen nach Ostsibirien begann vom Norden, genauer gesagt vom Jenissei aus. Russische und ausländische Kaufleute hatten schon in der zweiten Hälfte des 16. Jh. versucht, von der Obmündung aus, den Nebenfluß Tas entlang, den Jenissei zu erreichen. Der Pelzhandel mit den hier ansässigen Stämmen entwickelte sich relativ friedlich. Die Nachricht von den guten Geschäften in dieser Gegend ließ die russische Regierung bald aktiv werden. Im Sommer des Jahres 1600 schickte der Zar 150 „Dienstleute" (slushilye ljudi) in das Mündungsgebiet des Ob. Ein Jahr später gründeten diese hinter dem Polarkreis am Fluß Tas die Stadt Mangaseja. 7 Sie wurde sehr schnell Handelsund Verwaltungszentrum des Gebietes. Die hier siedelnden Stämme wurden verpflichtet, eine Steuer an den Zaren zu zahlen, die sich Jassak nannte und überwiegend in Pelzen zu zahlen war. Seinen raschen Aufstieg verdankte Mangaseja dem Zugang zum Karsker Meer und dem reichen Zobeljagdgebiet. Auf dem Dauerfrostboden entstand ein mächtiges Kremlgebäude mit 5 Türmen, 3 Kirchen und dem Gasthaus. Die Stadt bestand aus etwa 500 Häusern und zählte ca. 1500 Einwohner. Hier überwinterten bis zu 1000 Handelsleute, um im Frühling, zum Beginn der Pelzablieferung, am Ort zu sein. Zu den russischen Festungen dieser Zeit gehörten auch Dienstgebäude, wo die sibirischen Stämme den Jassak abzuliefern hatten. Dicht daneben lagen meist Gefängnisse, in denen man unter strenger Bewachung Geiseln dieser Stämme festhielt. Dieses System der Jassakeintreibung mit Hilfe der Geiselnahme nannte man Amanat. Das Wohl der Geiseln hing von der rechtzeitigen Ablieferung von Pelzen durch ihre Stämme ab. Die Höhe des Jassak war nicht überall gleich. Im Gebiet von Werchoturje (Ural) z. B. mußte jeder Mann 10 Pelze im Jahr 7

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. II, S. 42 ff.; Belov, M. E., Mangazeja, Leningrad 1969.

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an den Zaren abliefern. Doch in der Praxis waren die Abgaben meist höher. Die Dienstleute und die Bürgermeister (Wojewoden) verlangten nicht selten auch zu ihren Gunsten Abgaben. Auf dem Markt von Mangaseja trafen sich Kaufleute aus Moskau, Jaroslawl, Wologda, Nishni Nowgorod. Ausländische Kaufleute, besonders aus England, versuchten, direkte Kontakte mit sibirischen Pelzhändlern herzustellen. Als der russischen Regierung die Kontrolle über den Pelzhandel entglitt und die Gewinne nicht mehr nur in die eigene Kasse flössen, sperrte sie 1627 den Seeweg nach Mangaseja für russische und westeuropäische Kaufleute. Damit war die Stadt zum Untergang verurteilt. Als dann in den Wäldern um Mangaseja der Zobel ohnehin rar wurde, richtete sich das Interesse verstärkt auf den sibirischen Osten. Immer wieder tauchten unter den Kosaken phantastische Gerüchte auf, daß es östlich vom Jenissei einen Fluß gäbe, der noch schöner und größer sei als der Jenissei selbst. Die Einheimischen, die diese Nachricht zuerst verbreiteten, nannten den Fluß „Jeluene". Die Russen sprachen das fremd klingende Wort auf ihre Art aus: Lena. In den zwanziger Jahren des 17. Jh. erschienen die ersten Russen an der Lena. Vermutlich hat ein Kosakentrupp unter Pantelej Penda (oder Pjanda) dabei eine Rolle gespielt. Er entdeckte auch den verhältnismäßig bequemen und sicheren Weg von der oberen Lena zur Angara. 8 Dieser Weg wurde in den nächsten zwei Jahrhunderten für die Versorgung der schwer zugänglichen Gebiete Jakutiens und des Hohen Nordens lebenswichtig. Im Jahre 1633 fertigte der Wojewode von Mangaseja, Andrej Palizyn, für den Zaren die erste Karte von der Lena und den angrenzenden Gebieten an. Mit dieser Karte schickte er einen Plan, wie seiner Meinung nach dieses Land am besten zu nutzen sei. Er schlug unter anderem vor, den Ackerbau entlang der Lena einzuführen, um die Versorgung der russischen Bevölkerung zu sichern. Die Anregung fand Gehör bei der Moskauer Regierung. Bereits die ersten Gouverneure von Jakutsk erhielten den Auftrag, zu prüfen, ob die Gegend für den Ackerbau geeignet sei. Kosakentruppen und Dienstleute des Zaren durchwanderten in den dreißiger und vierziger Jahren des 17. Jh. alle großen Flußgebiete Ostsibiriens. Festungen wie Bratsk an der Angara, Ilim u. a. wurden errichtet. Als Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahre die Trup8

Vgl. Polevoj,

B. P., N o v o e o Pjande, in: Ekonomika, upravlenie i kul'tura

Sibiri X V I — X I X vv., Novosibirsk 1966, S. 284.

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pen von Iwan Moskwitin, Wassili Pojarkow, Jerofej Chabarow und Michail Staduchin den Stillen Ozean erreichten, war der Anschluß Sibiriens an das Russische Reich vollzogen. Die rasche Eroberung dieses riesigen Landes mit geringem militärischem Aufwand war nur möglich, weil der Widerstand der einheimischen Völker und Stämme verhältnismäßig schwach war. Erst die Härte der Jassakabgaben und der Machtmißbrauch durch Vertreter der Zarenadministration weckten den Widerstand. Die Angliederung Sibiriens an Rußland wurde durch den erbitterten Kampf einheimischer Stämme untereinander noch beschleunigt. Sie waren in vielen Fällen schnell bereit, sich dem Zaren unterzuordnen, wenn ihnen dafür Schutz durch die russischen Behörden zugesichert wurde. Der Handel mit den Kosaken, die keineswegs nur Wodka und billigen Schmuck mitbrachten, sondern auch Waffen und Werkzeuge anboten, wirkte ebenfalls verlockend. Alle diese Gründe führten dazu, daß die Angliederung Sibiriens an Rußland sich rasch und ohne großen Widerstand der Einheimischen vollzog. Für die Völker Sibiriens bedeutete die Angliederung an den russischen Feudalstaat einen grundlegenden Wendepunkt in ihrer Geschichte, die von nun an fest mit der Rußlands verbunden war. Diese Entwicklung gab den Völkern Sibiriens einerseits die Möglichkeit, die jahrhundertelange ökonomische und politische Stagnation zu überwinden, zwang sie aber andererseits unter das Joch des Zarismus.

2. Die Anfange der Bauernkolonisation Die ersten Kolonisten Sibiriens, Regierungstruppen und Kaufleute, bereiteten den Weg für die Bauernkolonisation, die über ein Jahrhundert andauerte und die feste Eingliederung Sibiriens in das Russische Reich zur Folge hatte. Die zum Teil spontane, zum Teil gelenkte oder erzwungene Übersiedlung von Bauern in die Gebiete hinter dem Ural führte zu sozialen, ökonomischen und ethnischen Veränderungen, die die Geschichte Sibiriens und seiner Bevölkerung entscheidend mitprägten. Die Übersiedlung der Bauern aus dem europäischen Teil Rußlands setzte schon Ende des 16. Jh. ein. Zunächst relativ unbedeutend, erreichte sie schon im 17. Jh. einen beträchtlichen Umfang, zumindest für Westsibirien. Nach amtlichen Dokumenten der Jahre 1698/99 zählte man in den sibirischen Städten 11637 Beamte und Dienstleute, 2535 Handwerker und Händler (possadskije ljudi) und etwa 23

pen von Iwan Moskwitin, Wassili Pojarkow, Jerofej Chabarow und Michail Staduchin den Stillen Ozean erreichten, war der Anschluß Sibiriens an das Russische Reich vollzogen. Die rasche Eroberung dieses riesigen Landes mit geringem militärischem Aufwand war nur möglich, weil der Widerstand der einheimischen Völker und Stämme verhältnismäßig schwach war. Erst die Härte der Jassakabgaben und der Machtmißbrauch durch Vertreter der Zarenadministration weckten den Widerstand. Die Angliederung Sibiriens an Rußland wurde durch den erbitterten Kampf einheimischer Stämme untereinander noch beschleunigt. Sie waren in vielen Fällen schnell bereit, sich dem Zaren unterzuordnen, wenn ihnen dafür Schutz durch die russischen Behörden zugesichert wurde. Der Handel mit den Kosaken, die keineswegs nur Wodka und billigen Schmuck mitbrachten, sondern auch Waffen und Werkzeuge anboten, wirkte ebenfalls verlockend. Alle diese Gründe führten dazu, daß die Angliederung Sibiriens an Rußland sich rasch und ohne großen Widerstand der Einheimischen vollzog. Für die Völker Sibiriens bedeutete die Angliederung an den russischen Feudalstaat einen grundlegenden Wendepunkt in ihrer Geschichte, die von nun an fest mit der Rußlands verbunden war. Diese Entwicklung gab den Völkern Sibiriens einerseits die Möglichkeit, die jahrhundertelange ökonomische und politische Stagnation zu überwinden, zwang sie aber andererseits unter das Joch des Zarismus.

2. Die Anfange der Bauernkolonisation Die ersten Kolonisten Sibiriens, Regierungstruppen und Kaufleute, bereiteten den Weg für die Bauernkolonisation, die über ein Jahrhundert andauerte und die feste Eingliederung Sibiriens in das Russische Reich zur Folge hatte. Die zum Teil spontane, zum Teil gelenkte oder erzwungene Übersiedlung von Bauern in die Gebiete hinter dem Ural führte zu sozialen, ökonomischen und ethnischen Veränderungen, die die Geschichte Sibiriens und seiner Bevölkerung entscheidend mitprägten. Die Übersiedlung der Bauern aus dem europäischen Teil Rußlands setzte schon Ende des 16. Jh. ein. Zunächst relativ unbedeutend, erreichte sie schon im 17. Jh. einen beträchtlichen Umfang, zumindest für Westsibirien. Nach amtlichen Dokumenten der Jahre 1698/99 zählte man in den sibirischen Städten 11637 Beamte und Dienstleute, 2535 Handwerker und Händler (possadskije ljudi) und etwa 23

11000 Bauern.9 Die Bedeutung der Bauern für die Erschließung Sibiriens war jedoch größer, als es in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt. Während sich die beiden anderen Schichten über das ganze Land zerstreuten, konzentrierten sich die Bauern zu dieser Zeit in den für den Ackerbau geeigneten Gegenden Westsibiriens, etwa in der Umgebung der Städte Tobolsk, Tjumen, Werchoturje und Tura. Für die zweite Welle der Kolonisation ist der Anteil der Bauern gegenüber dem der Kosaken und Handelsleute nur schwer zu bestimmen. Bis heute ist diese Etappe vorwiegend unter Berücksichtigung amtlicher Regierungsmaßnahmen erforscht worden, während der zahlenmäßig große Anteil der spontan übergesiedelten Bauern nur geschätzt werden kann. 10 An der Förderung des Ackerbaus in Sibirien zeigte die Regierung großes Interesse. Auf die Dauer war es unmöglich, die Versorgung der Kosaken und Handelsleute, aber auch der immer zahlreicheren Beamten mit Nahrungsmitteln aus dem europäischen Teil des Reiches zu sichern. Das eingeführte Brot war teuer und reichte außerdem nicht aus. Mitunter blieben die Brotlieferungen für Jahre aus. Die Kolonisation Sibiriens vollzog sich in drei Formen: 1. Umsiedlung durch Verfügung (Ukas) des Zaren; 2. Verbannung; 3. freiwillige Umsiedlung, vor allem aus den benachbarten europäischen Gebieten.11 Die Umsiedlung durch Ukas wurde nur in der ersten Zeit praktiziert. Schon in den dreißiger Jahren des 17. Jh. zeigte sich, daß diese Maßnahme nicht die erwarteten Ergebnisse brachte. Die zwangsweise umgesiedelten Bauern wurden meist mit den neuen Bedingungen nicht fertig. Oft siedelte man sie erneut um, wenn sie am ersten Ort nicht Fuß fassen konnten. Diese Form der Umsiedlung wurde daher bald durch die Werbung Freiwilliger ersetzt. Als Werber traten vorwiegend die Agenten der sibirischen Administration auf. Aber auch diese Maßnahme hatte zuerst nicht den erwarteten Erfolg. Erst als ein System von Vergünstigungen ausgearbeitet wurde, stieg allmählich die Zahl der Interessenten. Die Umsiedler aus dem europäischen Teil Rußlands verpflichteten sich zu regelmäßigen Abgaben 9

Vgl. Sunkov,

V. /., Ocerki po istorii kolonizacii Sibiri v XVII — nacale XVIII

vekov, Moskau-Leningrad 1964, S. 5. 10

Vgl. Kolesnikov,

A. D., S. V. Bachrusin o formach kolonizacii, in: Voprosy

istorii Sibiri dosovetskogo perioda (Bachrusinskie ctenija 1969), Novosibirsk 1973, S. 166—181. 11

Vgl. Sunkov, a.a.O., S. 13.

24

und Dienstleistungen an den Zaren. Dafür erhielten sie kostenlos Boden, eine einmalige, meist finanzielle Unterstützung, Kredite sowie weitere Vergünstigungen. Sie wurden beispielsweise für die erste Zeit von den Arbeitsverpflichtungen gegenüber dem Staat befreit. Dadurch konnte ein Umsiedler eher mit den Schwierigkeiten fertig werden, die die ungewohnten klimatischen Bedingungen, die Entfernung von den großen Handelszentren und die Unsicherheit des Neubeginns mit sich brachten. Diese Form der Umsiedlung setzte sich immer mehr durch und führte in Sibirien zur Gründung der sogenannten „Zarendörfer". Als der größte Bedarf an Arbeitskräften für die Landwirtschaft Westsibiriens gedeckt war, wurde auch der Umfang der Vergünstigungen reduziert, bis sie gegen Ende des 17. Jh. für diese Gegend ganz gestrichen wurden. Eine für Sibirien typische Quelle billiger Arbeitskräfte war von Anfang an die Verbannung. Sibirien bot sich wegen seiner Weite und Unwegsamkeit als ein großes Gefängnis an, in das man Verbrecher aller Art, vor allem aber die politischen Gegner des zaristischen Regimes einsperren konnte. Die Verbannung politischer Gegner im 19. und zu Beginn des 20. Jh. war weit über die Grenzen Rußlands hinaus bekannt und berüchtigt. Weniger bekannt ist, daß bereits Ende des 16. Jh. die ersten Verbannten in Sibirien eintrafen. Nach unvollständigen Angaben sind zwischen 1593 und 1654 etwa 1500 „Diebe" — unter dieser Bezeichnung faßte man sowohl Politische als auch Kriminelle zusammen — nach Sibirien verbannt worden. Die Bezeichnung „Staatsverbrecher" wurde 1649 eingeführt. Zu den ersten „politisch Verbannten" gehörte die Glocke der Stadt Uglitsch. Sie hatte nach der Ermordung des Zarewitsch Dmitri geläutet. Dieses Verbrechen wurde mit der Verbannung nach Sibirien bestraft. Sie wurde nach Tobolsk geschleppt, wo sie über 300 Jahre blieb, bis endlich 1892 die „Begnadigung" ausgesprochen wurde. Die Stadt Berjosow im Nordural wurde vor allem durch die Insassen ihres Gefängnisses bekannt. 12 Der erste Verbannte kam 1724 nach Berjosow. Es war Fürst Menschikow, der Vertraute Peters I., der nach dem Tod des Zaren den Intrigen und dem Machtkampf gegen die Fürsten Dolgorukow zum Opfer fiel. Zusammen mit der Nachricht von der Begnadigung Menschikows (sie kam für ihn zu spät, er starb 1729 und wurde am Ufer der Soswa begraben) kamen die näch12

3

Vgl. Minenko, N. A., Uzniki Berezovskogo ostroga, in: Ssylka i katorga v Sibiri (XVIII — nacalo XX v.), Novosibirsk 1975, S. 59—71. Thomas, Sibirien

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sten prominenten Verbannten: Es waren die Fürsten Dolgorukow. So ging es weiter. 1742 wurde Graf Ostermann durch Biron nach Berjosow verbannt. Bald darauf mußte Biron selbst dieses Schicksal erfahren. Auf diese Weise erfuhren die Bewohner vieler sibirischer Orte unmittelbar von den Intrigen und Machtkämpfen am Zarenhof. Der Eindruck von der Vergänglichkeit der Macht blieb nicht ohne Auswirkung auf das Bewußtsein der Bevölkerung. Sehr früh wurde eine zumindest skeptische Einstellung zu den Mächtigen und zur Kirche, die die Idee der Stabilität und der Heiligkeit der Obrigkeit zu ihren Dogmen machte, geweckt. Die Masse der Verbannten jedoch bestand auch schon zu dieser Zeit nicht aus Adligen. In den Perioden der Verschärfung des Klassenkampfes und der Bauernaufstände im europäischen Rußland wurde die Verbannung nach Sibirien zielstrebig als Mittel gegen den Aufruhr eingesetzt. In der Verfügung vom 15. Juli 1729 wurde sie als Strafe für flüchtige Leibeigene und Soldaten angeordnet. 13 Im Jahre 1753 folgte der Ukas, daß die Todesstrafe durch Verbannung nach Sibirien ersetzt werden konnte. Danach stieg die Zahl der Verbannten jährlich auf bis zu 10000 an. Gegen Ende der fünfziger Jahre stand der Senat vor dem Problem, für die ostsibirischen Silberbergwerke von Nertschinsk Arbeitskräfte bereitzustellen. Nach längeren Debatten wurde am 13. Dezember 1760 durch Ukas festgelegt, daß die Gutsbesitzer die Ausrüstung von Rekruten, zu der sie verpflichtet waren, durch die Verbannung derselben Anzahl Leibeigener nach Sibirien ersetzen konnten. 14 In der Praxis bedeutete das, Kranke und für den Militärdienst Untaugliche sowie Unbequeme und Aufrührer für die Umsiedlung nach Sibirien auszuwählen. Oft wurden diese von ihren Familienangehörigen getrennt und waren, wenn es sich um Kranke handelte, praktisch zum Tode verurteilt, da sie unter den harten klimatischen Bedingungen und den Entbehrungen kaum Überlebenschancen hatten.15 In Nertschinsk kam es schon im ersten Jahr zu großen Schwierigkeiten. Die Stadt war auf die Masse der ankommenden Verbannten in 13

14

15

26

Vgl. Kolesnikov, A. D., Ssylka i zaselenie Sibiri, in: Ssylka i katorga, a.a.O., S. 38 f. Vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperi (PSZ), Bd. XV, N 11166, S. 582. Vgl. PSZ, Bd. XVII, N 123311, S. 10.

keiner Weise vorbereitet. Nur das energische Eingreifen des sibirischen Gouverneurs F. I. Soimonow verhinderte eine Katastrophe. In mehreren Schreiben unterrichtete er die Regierung über die unmenschlichen Zustände und die Zahl der Todesfälle. Schließlich konnte er die Moskauer Behörden davon überzeugen, daß es auch wirtschaftlich günstiger wäre, die Verbannten in Westsibirien anzusiedeln. Bereits 1763 siedelten entlang des Irtysch über 1100 Verbannte. Die Verbannung war aber insgesamt gesehen nicht die wichtigste Form der Kolonisation Westsibiriens. Den Hauptstrom bildeten die freiwilligen Kolonisten. Die Haltung der Regierung zur freiwilligen Kolonisation war widerspruchsvoll. Neben verarmten freien Bauern waren es zum großen Teil Leibeigene, die in der Flucht nach Sibirien den einzigen Ausweg aus ihrem Elend sahen. Flüchtige gab es auch zu früheren Zeiten, aber die Erfolgsaussichten waren angesichts der energischen und gründlichen Suchaktionen sehr gering. Jetzt aber boten sich für eine Flucht hinter den Ural gute Möglichkeiten, da die am Aufschwung der Landwirtschaft in diesen Gegenden interessierte Regierung die Verfolgung der geflüchteten Leibeigenen nur halbherzig unterstützte. Die Flucht vor der feudalen Unterdrückung nahm Mitte des 17. Jahrhunderts enorme Ausmaße an. 1699 lebten in ganz Sibirien etwa 25000 russische Familien, davon arbeiteten rund 10000 in der Landwirtschaft. Die meisten davon waren freiwillig gekommen. Nach einer Zählung von 1710 lebten allein im Tobolsker Gebiet 41000 Männer, darunter nicht weniger als 30000 Bauern. 16 In der zweiten Hälfte des 17. Jh. begann die zaristische Regierung — wenn auch erfolglos — , gegen die Massenflucht von Leibeigenen vorzugehen. So ordnete sie an, daß die sibirischen Behörden keine Flüchtlinge mehr aufnehmen durften. Sie wurden verpflichtet, diese an ihre Gutsbesitzer zurückzuschicken.17 Diese Praxis wurde jedoch kaum angewandt. Die konkreten Bedingungen der Machtausübung in Sibirien einerseits und das unverminderte Interesse an Arbeitskräften andererseits verhinderten eine wirksame Durchführung dieser Anordnung. Einige wesentliche Abweichungen zeigte die Bauernkolonisation in den östlichen Gebieten Sibiriens, in denen sich die freiwillige bäuerliche Besiedlung erst später durchzusetzen begann. Angaben von

16 17

Vgl. Sunkov, a.a.O., S. 45. Vgl. ebenda, S. 52.

27

A. N. Kopylow 18 für das Gebiet am Jenissei belegen, daß die Verbannung zunächst die Hauptquelle für Arbeitskräfte in der Landwirtschaft war. Die ersten in Dokumenten registrierten 20 Bauernfamilien am Jenissei kamen aus Tobolsk und wurden 1621 weiter nach Osten verbannt. Zwischen 1621 und 1630 kamen weitere 62-Familien in dieses Gebiet. Davon waren 30 verbannt worden, 23 wurden durch Ukas hier angesiedelt, und nur 9 waren freiwillig gekommen. Dieses Verhältnis blieb bis in die vierziger Jahre ungefähr gleich. Danach wuchs die Zahl der freiwilligen Umsiedler sehr rasch an. Das machte es den Behörden möglich, Verbannte noch weiter nach Osten zu schicken, in Gegenden, in die freiwillig zu dieser Zeit noch kein Bauer ging: nach Jakutien, die Ilimsker Festung, nach Irkutsk. Im Laufe der weiteren Entwicklung entstanden in Sibirien zwar umfangreiche, doch zahlenmäßig geringe und voneinander weit entfernte Zentren der Landwirtschaft. Diese Situation hat später die besondere Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der sibirischen Landwirtschaft mit beeinflußt. Das Fehlen eines zusammenhängenden Marktes und die damit verbundenen Absatzschwierigkeiten wurden zu einem der Haupthindernisse für die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion. Es entstanden fünf große landwirtschaftliche Zentren in Sibirien. Das älteste war das Gebiet am Ural zwischen Werchoturje, Tobolsk, Tjumen und Turinsk. Anfang des 18. Jh. konzentrierten sich hier 75 Prozent aller sibirischen Bauernhöfe. Danach entstanden die Gebiete um Tomsk-Kusnezk, am Jenissei, an der Angara und am Ilim. Die beiden östlichen landwirtschaftlichen Zentren an der Lena und am Amur bildeten sich wesentlich später heraus. Die ersten Bauern mußten unter harten und ungewohnten Bedingungen arbeiten. Viel Energie, Fleiß, Hartnäckigkeit und Geschick waren notwendig, um im Kampf gegen Frost, Überschwemmungen und Dürre letzten Endes den Sieg davonzutragen. Die in Rußland gesammelten Erfahrungen konnten unter den neuen Bedingungen nur selten angewandt werden. Die Anpassung gelang nicht gleich und nicht allen. Man kann nur ahnen, welche Tragödien sich hinter den nüchternen amtlichen Berichten jener Zeit verbergen, welche harten Schläge die Naturgewalten den Bauern zufügten. Die umgesiedelten Bauern begannen zunächst, für den Ackerbau geeigneten Boden zu suchen. Dabei wurden sie von den örtlichen sibi18

Vgl. Kopylov,A. N., Russkie na Enissee v XVII veke. Zemledelie, promyslennost' i torgovye svjazi Enissejskogo uezda, Novosibirsk 1965, S. 38 f.

28

rischen Behörden unterstützt. Schon im 17. Jh. wurden Versuche unternommen, die für die Landwirtschaft geeigneten Regionen zu erfassen und die Beschaffenheit des Bodens und die klimatischen Bedingungen festzuhalten. Für jeden Bauern wurde dann der „eigene" Boden sowie der, den er zugunsten des Zaren bearbeiten mußte, abgesteckt. Im Laufe der Zeit gelangte die Zuweisung von Land praktisch in die Hände der Dorfgemeinde (Obschtschina), die in Sibirien besondere Bedeutung erlangte. Bei der Zuteilung eines Grundstückes hatte die Dorfgemeinde darauf zu achten, daß die einheimischen Jägerstämme nicht aus ihren angestammten Gebieten verdrängt wurden. Die Regierung war daran interessiert, daß die sibirischen Völker durch die Ansiedlung russischer Bauern an der Jagd nicht gehindert wurden. Denn die Pelzablieferungen waren nur dann garantiert, wenn zwischen den Bauern und der einheimischen Bevölkerung Friede herrschte. Auch die Bauern waren in vielerlei Hinsicht auf die sibirischen Völker angewiesen und mieden Konflikte mit ihnen. Es fiel auch nicht schwer, auf einem Gebiet von über 10 Mill. km2, das von 236000 Menschen bewohnt wurde, zusätzlich für 11400 Bauernhöfe Platz zu finden. Konflikte, die mitunter trotzdem entstanden, änderten nichts an dem Gesamtbild. Nachdem der Boden ausgesucht und vermessen war, kam für die Bauern die vielleicht schwerste Arbeit — seine Urbarmachung. Mit einer Probesaat sammelte man erste Erfahrungen und konnte entscheiden, welche Agrokulturen auf dem sibirischen Boden am besten gediehen. Wurden zunächst von den Bauern alle aus der russischen Heimat bekannten Kulturen angepflanzt, reduzierte sich mit der Zeit die Auswahl auf einige „sichere" Pflanzen wie Roggen, Hafer und Gerste. Später trat der Weizen an die erste Stelle. Auch die Anbaumethoden wurden allmählich den Bedingungen des Neulandes angepaßt. Die Größe der sibirischen Dörfer war in dieser Zeit unterschiedlich. Während in Westsibirien relativ früh größere Dörfer entstanden, blieben in den östlichen Gebieten die Einzelgehöfte typisch. Hier war es fast unmöglich, mit den einfachen technischen Geräten der Taiga größere Landstücke abzuringen. Die durchschnittliche Größe des von einem Bauern bearbeiteten Feldes verringerte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts. Hatte er Anfang des Jahrhunderts noch 5 bis 7 Desjatinen Land, so besaß er gegen Ende nur noch 1,5 bis 3 Desjatinen Land. Diese Entwicklung wurde durch die Tatsache verursacht, daß die feudalen Lasten für die Bauern im Laufe der Zeit proportional zur Größe ihres Grundstückes wuchsen. Sie verzichteten deshalb auf eine 29

Ausdehnung ihres Besitzes oder verringerten ihn, um sich höhere Abgaben zu ersparen.

3. Die Entwicklung feudaler Produktionsverhältnisse Die seit dem 17. Jh. in Sibirien bestehenden bzw. sich entwickelnden Produktions- und Eigentumsverhältnisse waren vielfältig. Den Grundtyp bildeten wie in ganz Rußland die feudalen Produktionsverhältnisse. Allerdings traten diese jenseits des Urals in abgewandelter Form auf, wobei sich darin die Besonderheiten der Erschließung Sibiriens auswirkten. So gab es in Sibirien bis auf wenige Ausnahmen keinen privaten Großgrundbesitz. Rechtlich gehörte der ganze Boden hinter dem Ural dem Zaren. Er war der Souverän. Die Tatsache, daß die Krone juristischer Eigentümer des gesamten Bodens war, bildete die Grundlage für die Entstehung eines Systems feudaler Produktionsverhältnisse, das als „Staatsfeudalismus" bezeichnet wird. Das Feudalsystem im europäischen Teil Rußlands basierte dagegen mit Ausnahme der Pomorje-Gebiete auf dem Großgrundbesitz und der leibeigenen Abhängigkeit der Bauern von den Feudalherren. Elemente des Staatsfeudalismus waren aber auch hier anzutreffen. Beim Bau von Petersburg, dem verstärkten Flottenausbau unter Peter I. und vor allem bei der Errichtung und Instandhaltung der Berg- und Hüttenwerke im Ural wurden Staatsbauern herangezogen, die hier ihren Frondienst leisteten. Diese Maßnahmen waren jedoch nicht die Regel. Während in Zentralrußland die Leibeigenschaftsrechte der Gutsbesitzer gestärkt und juristisch verankert wurden, setzte sich in Sibirien das System des Staatsfeudalismus durch. Für die Bauern in beiden Teilen des Landes bedeutete dies nur, daß sie unterschiedlichen Formen feudaler Ausbeutung ausgesetzt waren. Bereits die ersten sibirischen Kolonisten, die sich mit der Umsiedlung eine entscheidende Lockerung des feudalen Drucks erhofft hatten, bekamen die Auswirkungen des Staatsfeudalismus zu spüren. Die erste Feudalrente war die sogenannte Desjatina, ein Frondienst auf dem Boden des „Herrn" (in diesem Falle des Zaren), dessen Umfang von der Größe des dem Bauern zur Nutzung übergebenen Bodens abhängig war. Daneben gab es eine Reihe anderer Steuern und Abgaben, die von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich waren. Der Frondienst zugunsten des Zaren bedeutete für den sibirischen Bauern, daß seine Lage rechtlich der der Leibeigenen im europäischen Rußland ähnelte. Dokumen30

Ausdehnung ihres Besitzes oder verringerten ihn, um sich höhere Abgaben zu ersparen.

3. Die Entwicklung feudaler Produktionsverhältnisse Die seit dem 17. Jh. in Sibirien bestehenden bzw. sich entwickelnden Produktions- und Eigentumsverhältnisse waren vielfältig. Den Grundtyp bildeten wie in ganz Rußland die feudalen Produktionsverhältnisse. Allerdings traten diese jenseits des Urals in abgewandelter Form auf, wobei sich darin die Besonderheiten der Erschließung Sibiriens auswirkten. So gab es in Sibirien bis auf wenige Ausnahmen keinen privaten Großgrundbesitz. Rechtlich gehörte der ganze Boden hinter dem Ural dem Zaren. Er war der Souverän. Die Tatsache, daß die Krone juristischer Eigentümer des gesamten Bodens war, bildete die Grundlage für die Entstehung eines Systems feudaler Produktionsverhältnisse, das als „Staatsfeudalismus" bezeichnet wird. Das Feudalsystem im europäischen Teil Rußlands basierte dagegen mit Ausnahme der Pomorje-Gebiete auf dem Großgrundbesitz und der leibeigenen Abhängigkeit der Bauern von den Feudalherren. Elemente des Staatsfeudalismus waren aber auch hier anzutreffen. Beim Bau von Petersburg, dem verstärkten Flottenausbau unter Peter I. und vor allem bei der Errichtung und Instandhaltung der Berg- und Hüttenwerke im Ural wurden Staatsbauern herangezogen, die hier ihren Frondienst leisteten. Diese Maßnahmen waren jedoch nicht die Regel. Während in Zentralrußland die Leibeigenschaftsrechte der Gutsbesitzer gestärkt und juristisch verankert wurden, setzte sich in Sibirien das System des Staatsfeudalismus durch. Für die Bauern in beiden Teilen des Landes bedeutete dies nur, daß sie unterschiedlichen Formen feudaler Ausbeutung ausgesetzt waren. Bereits die ersten sibirischen Kolonisten, die sich mit der Umsiedlung eine entscheidende Lockerung des feudalen Drucks erhofft hatten, bekamen die Auswirkungen des Staatsfeudalismus zu spüren. Die erste Feudalrente war die sogenannte Desjatina, ein Frondienst auf dem Boden des „Herrn" (in diesem Falle des Zaren), dessen Umfang von der Größe des dem Bauern zur Nutzung übergebenen Bodens abhängig war. Daneben gab es eine Reihe anderer Steuern und Abgaben, die von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich waren. Der Frondienst zugunsten des Zaren bedeutete für den sibirischen Bauern, daß seine Lage rechtlich der der Leibeigenen im europäischen Rußland ähnelte. Dokumen30

te aus der ersten Zeit der Bauernkolonisation Sibiriens stützten lange Zeit die in der Literatur vorherrschende These, daß die Leibeigenschaft direkt in Sibirien eingeführt wurde. Neuere Forschungsergebnisse, vor allem die von W. A. Aleksandrow, widerlegen jedoch diese Meinung. Aleksandrow berücksichtigte nicht nur die gesetzlichen Bestimmungen, sondern untersuchte auch ihre praktische Anwendung. 19 Die örtlichen Behörden waren angehalten, streng darauf zu achten, daß der Frondienst zugunsten des Zaren geleistet wurde. Der Bauer konnte sich jedoch aus dieser Abhängigkeit befreien, er mußte nur dafür sorgen, daß ein anderer diese Pflichten übernahm. Gewöhnlich geschah dies durch den Verkauf des eigenen Grundstücks. Der Käufer übernahm damit auch die Verpflichtungen, die an seine Nutzung gebunden waren. Diese Praxis wurde seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. auch formell anerkannt. 20 Dieser Zustand unterschied sich wesentlich von dem in Zentralrußland bis zur Reform von 1861 herrschenden Verhältnis der persönlichen, außerökonomischen Abhängigkeit der Bauern von ihrem Herrn, also vom Gutsbesitzer. Die Leibeigenschaft war in der Gesetzgebung des Landes verankert und wirkte sich hemmend auf die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung Rußlands aus. Die Abschaffung der Leibeigenschaft zählte daher seit Ende des 18. Jh. zu den Forderungen der meisten oppositionellen Bewegungen in Rußland. Die Tatsache, daß Sibirien diese regressive Entwicklung nicht kannte, gehört zu den Vorteilen für die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse dieser in anderer Hinsicht so benachteiligten Region. Die in der Landwirtschaft tätigen Staatsbauern konnten in der Regel relativ selbständig wirtschaften und über den Boden verfügen. Diese Tendenz wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jh. noch verstärkt, als die Desjatina durch einen Grundzins ersetzt wurde. Anders waren die Verhältnisse bei dem Teil der Staatsbauern, die in den meist der Krone gehörenden Bergwerken arbeiten mußten. Mit der Entwicklung der Hüttenindustrie im Altai, am Jenissei und in Transbaikalien wuchs die Zahl der Bauern, die ihren Frondienst für den Zaren in den Betrieben zu leisten hatten. 1761 wurden alle Bauern des Tomsker und Kusnezker Gebietes den Werken der Krone 19

20

Vgl. Aleksandrov, V. A., Russkoe naselenie Sibiri XVII — nacala XVIII v., Moskau 1964, S. 202f., 215. Vgl. Aleksandrov, V. A., Osobennosti feodal'nogo porjadka v Sibiri (XVII v.), in: Voprosy istorii, H. 8, 1973, S. 44 f. 31

(kabinetskije predprijatija) überschrieben. Laut offizieller Statistik gab es 1762 knapp 40000 „Kabinettsbauern" 21 , die sich im Altai konzentrierten. Eine wichtige Rolle spielte in der sibirischen Landwirtschaft die Dorfgemeinde. 22 Sie existierte seit dem 17. Jh., erlebte ihre volle Entfaltung aber erst zwei Jahrhunderte später. 23 Zwei Gründe waren für das besondere Gewicht der sibirischen Gemeinde ausschlaggebend : die äußerst schweren Naturbedingungen, mit denen die Umsiedler fertig werden mußten, und die Bedrohung durch äußere Feinde. Überfalle von Stämmen aus dem Süden waren noch bis ins 18. Jh. nicht selten. Die Schwierigkeiten und Risiken der landwirtschaftlichen Erschließung führten mitunter zu einer gemeinsamen Bodenbearbeitung, während die kollektive Nutzung der Weiden, Wälder und Seen sowie der gemeinschaftliche Bau von Mühlen allgemein üblich waren. Die Gemeinde regelte alle sich aus dieser Praxis ergebenden Fragen und Probleme selbst. Sie griff in Streitigkeiten bei der Bodenverteilung ein und übernahm nicht selten Funktionen bei der Meuereintreibung. Sie regelte das bäuerliche Leben und wurde oft auch juristisch als Interessenvertreterin eines Dorfes oder mehrerer Dörfer anerkannt. Kam es beispielsweise zu Auseinandersetzungen mit Klöstern über die Bodennutzung, vertrat die Gemeinde die Interessen der betreffenden Dörfer. 24 Widersprüche, die der russischen Dorfgemeinde insgesamt eigen waren, trafen auch auf die sibirische zu. Sie war ein Instrument der herrschenden Klasse bei der Steuereintreibung und der Verwaltung der Dörfer; zugleich aber wies sie Züge einer demokratischen Bauernorganisation mit Elementen der Selbstverwaltung auf. Die stabilisierende, aber auch konservierende Rolle der sibirischen Gemeinde prägte spürbar die Entwicklung des Dorfes und wirkte auch noch nach der Revolution weiter. Aus der Art der Eigentumsverhältnisse resultierte auch die völlig andere soziale Herkunft des Adels in Sibirien, der in seiner Mehrheit aus den Reihen der Dienstleute stammte. Der Adelstitel war gewöhn-

21

22

23

24

32

Vgl. Zidkov, G. P., Kabinetskoe zemlevladenie (1747—1917 gg.), Novosibirsk 1973, S. 103. Vgl. Krest'janskaja obscina v Sibiri XVII — nacala XX v. Sammelband, hg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von L. Gorjuskin, Novosibirsk 1977. Vgl. Bojarsinova, S. Ja., Zemel'nye soobscestva v Sibiri v XVII — nacale XVIII v., in: Krest'janskaja obscina v Sibiri. . ., S. 14—32. Vgl. Gromyko, M. M., Trudovye tradicii russkich krest'jan Sibiri (XVIII — pervaja polovina XIX v.), Novosibirsk 1975, S. 304 f.

lieh weder vererbbar noch mit Bodenbesitz verbunden. Der Weg vom verliehenen zum erblichen Adel führte über den Armeedienst oder über eine Position in der östlichen Verwaltung. Die ökonomische Unsicherheit bzw. die Abhängigkeit vom Staat und von den Vorgesetzten band den sibirischen Adel fest an den bürokratischen Apparat des absolutistischen Rußlands. 25 Ungenügende Kontrolle und Willkür bei der Machtausübung waren von Anfang an für das Verwaltungssystem Sibiriens charakteristisch. Die in Sibirien bestehenden Eigentumsverhältnisse entsprachen nicht immer völlig den juristisch fixierten Normen und Regeln. Das traf besonders auf den Klosterbesitz zu. Im Laufe des 17. Jh. waren hier über 30 Klöster gegründet worden. Die Haltung der Regierung gegenüber den sibirischen Klöstern war zwiespältig. Einerseits rechnete sie auf die Hilfe der Kirche bei der Eingliederung der einheimischen Bevölkerung in die Gesellschaft, andererseits war sie darauf bedacht, die ökonomische Macht der Kirche in Grenzen zu halten. Die Gründung der Klöster in Sibirien wurde von ihr streng überwacht, soweit es bei den Entfernungen möglich war. Es kam mitunter vor, daß Klöster, die sich den Boden einfach angeeignet hatten, über Jahrzehnte illegal bestanden. Um das Land zu bestellen, wandten die Klöster dasselbe System wie die Regierung an. Sie gaben den Bauern Land, die als Gegenleistung Frondienste zu verrichten hatten. Anfang des 18. Jh. gehörten den sibirischen Klöstern 1082 Bauernhöfe. 26 Bei aller Bedeutung der Bauernkolonisation für die Erschließung Sibiriens darf nicht die Tatsache außer acht gelassen werden, daß für die Eroberung Sibiriens nicht das landwirtschaftliche Potential, sondern der Pelzreichtum des Landes ausschlaggebend war. Die Regierung war in ihrer Sibirienpolitik stets darauf bedacht, diesen Reichtum mit möglichst geringem Aufwand auszuschöpfen. Dieses Interesse bestimmte die Haltung gegenüber der einheimischen Bevölkerung und die Entscheidung, den Boden in den Händen des Staates zu belassen. Bei ihren Pelzgeschäften ging die zaristische Regierung äußerst brutal vor. Die bereits erwähnte Praxis des Amanats, d. h. die Eintreibung der Pelzsteuer mit Hilfe der Geiselnahme, gehörte zu solchen unmenschlichen Formen.

25

26

Vgl. Gromyko, M. M., K charakteristike sibirskogo dvorjanstva XVIII v., in: Russkoe naselenie P o m o r ' j a i Sibiri, M o s k a u 1973, S. 350—363. Vgl. Sunkov, V. /., Ocerki po istorii zemledelija Sibiri (XVII v.), M o s k a u 1956, S. 368-374.

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Der Jassak, meist als Pelzsteuer erhalten, spielte in der Geschichte der Völker Sibiriens in jener Zeit eine große Rolle. Gegen Mitte des 17. Jh. existierte bereits ein kompliziertes Steuersystem, das von der Regierung ausgearbeitet und von der sibirischen Verwaltung mehr oder minder unterschiedlich angewandt wurde. Die Abweichungen von der Vorschrift nahmen in der Regel mit der Entfernung von der Metropole zu. Im Jahre 1970 legten jakutische Historiker drei Bände „Materialien zur Geschichte Jakutiens im 17. Jahrhundert" vor, in denen u. a. die ersten Steuerbücher aus Jakutien veröffentlicht wurden. 27 Die Dokumente geben Auskunft über die Methoden und Ziele der Politik der zaristischen Truppen in den weit entlegenen Gebieten Sibiriens. Während am Anfang die Pelzeintreibung ziemlich sporadisch und nur bei den größeren Stämmen („kleinen Fürstentümern") möglich war, setzte sich die Jassakeintreibung gegen 1630 mit Hilfe des Militärs bis in die zentralen Gebiete Jakutiens durch. Die Höhe des Jassak schwankte auch hier zwischen 2 bis 15 Zobelfellen, die jährlich von einer Familie abgeliefert werden mußten. Im Jahre 1642 kam in die Eintreibung des Jassak ein gewisses System, nachdem der Wojewode Golowin eine allgemeine Zählung der Bevölkerung und des Viehbestandes angeordnet hatte. Die Höhe des zu zahlenden Jassak richtete sich nach der Anzahl der Familienmitglieder und der Größe des Viehbestandes. Neben dieser offiziellen Steuer gab es noch die halboffizielle zugunsten des Wojewoden, die regelmäßig zu Geburtstagen und zahlreichen anderen Gedenk- und Feiertagen eingetrieben wurde. Außerdem kam es oft genug vor, daß die Steuereintreiber Pelze für sich zurückbehielten. Hinweise darüber geben einige Dokumente über Gerichtsverfahren gegen unvorsichtige oder besonders habgierige Beamte, die in der erwähnten Veröffentlichung enthalten sind. Schulden bei der Zahlung des Jassak wurden mit der Beschlagnahme des Viehs bestraft. Die einheimische Bevölkerung versuchte sich gegen dieses Ausbeutungssystem zu wehren. Bekannt sind mehrere Aufstände der Einwohner Jakutiens. Eine weitere Form des Widerstandes war das Übersiedeln ganzer Stämme in weit entlegene, schwer erreichbare polare Gebiete Jakutiens. Dabei gingen oft viele Stammesmitglieder an Hunger und an den Härten des Klimas zugrunde. Die Sorge um das Pelzgeschäft veranlaßte die zaristische Regierung, in diese Entwicklung einzugreifen. Die erwähnte Doku27

Vgl. Materialy po istorii Jakutii XVII veka (Dokumenty jassaenogo sbora), Bd. 1 - 3 , Moskau 1970.

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mentensammlung enthält einen Brief aus dem Jahre 1649, den die Moskauer Zentralverwaltung für Sibirien an den Wojewoden von Jakutsk richtete und in dem befohlen wurde, die „Jakuten zu schützen" 28 . Es wurde u. a. angeordnet, den Mord an Einheimischen, die den Jassak zu zahlen hatten, hart zu bestrafen. Verboten wurde auch, aus den Jassakzahlern Leibeigene zu machen. Die Sicherung der Pelzablieferungen beeinflußte auch die Religionspolitik der Moskauer Regierung in Jakutien. Grundsätzlich war man an eine Christianisierung der eroberten Gebiete interessiert. Diesem Bestreben entsprach die Verfügung des Zaren, die „bekehrten" Heiden vom Jassak zu befreien. Nachdem sich jedoch in Jakutien immer mehr Familien taufen ließen, mußte sich diese Politik negativ auf das profitable Pelzgeschäft auswirken. Der Zar ließ daher eine Reihe von Maßnahmen einführen, die die Taufe für die Einheimischen erschwerte, ja sie geradezu davon abhalten sollte. Als besonders wirksam erwies sich die Praxis, die Neugetauften sofort zum Militärdienst zu verpflichten. Dies geschah zu einer Zeit, als die Zarenregierung sich zur Verfechterin des „rechten Glaubens" aufspielte und die der Ketzerei Verdächtigen streng bestrafte und u. a. nach Sibirien verbannte ! Ähnlich wie in Jakutien gestaltete die Regierung ihre Politik gegenüber den anderen sibirischen Völkern. Diese war ihrem Wesen nach Kolonialpolitik, die auf Eroberung, Ausbeutung der Naturschätze und Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung ausgerichtet war.

4. Die sibirische Verwaltung Im 17. Jh. wurde in Sibirien der staatliche Verwaltungsapparat verstärkt zentralisiert und damit der Machtanspruch und die Autorität des Zaren gesichert. Rechtswidrigkeit und Willkür, typische Merkmale für die Arbeit des Staatsapparates im feudalen Rußland, waren in der sibirischen Verwaltung besonders ausgeprägt. Ende des 16. Jh. hatte man die Moskauer Zentralämter (Prikasy) ausgebaut, die teils nach Sachgebieten, teils nach dem Territorialprinzip gegliedert waren. Das Land wurde in Distrikte (Uesde) aufgeteilt, an deren Spitze ein Wojewode, meist ein Vertreter der Bojaren stand. Seit 1599 unterstand Sibirien dem Prikas des Kasaner 28

Vgl. ebenda, Bd. 1, S. XLVI. 35

mentensammlung enthält einen Brief aus dem Jahre 1649, den die Moskauer Zentralverwaltung für Sibirien an den Wojewoden von Jakutsk richtete und in dem befohlen wurde, die „Jakuten zu schützen" 28 . Es wurde u. a. angeordnet, den Mord an Einheimischen, die den Jassak zu zahlen hatten, hart zu bestrafen. Verboten wurde auch, aus den Jassakzahlern Leibeigene zu machen. Die Sicherung der Pelzablieferungen beeinflußte auch die Religionspolitik der Moskauer Regierung in Jakutien. Grundsätzlich war man an eine Christianisierung der eroberten Gebiete interessiert. Diesem Bestreben entsprach die Verfügung des Zaren, die „bekehrten" Heiden vom Jassak zu befreien. Nachdem sich jedoch in Jakutien immer mehr Familien taufen ließen, mußte sich diese Politik negativ auf das profitable Pelzgeschäft auswirken. Der Zar ließ daher eine Reihe von Maßnahmen einführen, die die Taufe für die Einheimischen erschwerte, ja sie geradezu davon abhalten sollte. Als besonders wirksam erwies sich die Praxis, die Neugetauften sofort zum Militärdienst zu verpflichten. Dies geschah zu einer Zeit, als die Zarenregierung sich zur Verfechterin des „rechten Glaubens" aufspielte und die der Ketzerei Verdächtigen streng bestrafte und u. a. nach Sibirien verbannte ! Ähnlich wie in Jakutien gestaltete die Regierung ihre Politik gegenüber den anderen sibirischen Völkern. Diese war ihrem Wesen nach Kolonialpolitik, die auf Eroberung, Ausbeutung der Naturschätze und Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung ausgerichtet war.

4. Die sibirische Verwaltung Im 17. Jh. wurde in Sibirien der staatliche Verwaltungsapparat verstärkt zentralisiert und damit der Machtanspruch und die Autorität des Zaren gesichert. Rechtswidrigkeit und Willkür, typische Merkmale für die Arbeit des Staatsapparates im feudalen Rußland, waren in der sibirischen Verwaltung besonders ausgeprägt. Ende des 16. Jh. hatte man die Moskauer Zentralämter (Prikasy) ausgebaut, die teils nach Sachgebieten, teils nach dem Territorialprinzip gegliedert waren. Das Land wurde in Distrikte (Uesde) aufgeteilt, an deren Spitze ein Wojewode, meist ein Vertreter der Bojaren stand. Seit 1599 unterstand Sibirien dem Prikas des Kasaner 28

Vgl. ebenda, Bd. 1, S. XLVI. 35

Hofes, der für alle Ostprovinzen des Landes zuständig war. Da sich das Territorium ständig vergrößerte, war der Kasaner Prikas bald mit dieser Aufgabe überfordert. Daher wurde 1637 in Moskau eine neue Zentralbehörde gegründet: der Sibirische Prikas. Zu seinem ersten Vorsteher wurde Fürst Boris Lykow ernannt. Der Sibirische Prikas verfügte über große Vollmachten. In seine Zuständigkeit fielen Fragen der inneren Verwaltung, der Zoll- und Militärangelegenheiten sowie die Regelung der Beziehungen zu China und zu den mongolischen und kalmykischen Fürstentümern. Über den Sibirischen Prikas gingen alle Pelzlieferungen aus Sibirien. Hier wurde die Qualität der Pelze eingeschätzt und ihre weitere Verarbeitung bestimmt. Der Pelzhandel in Rußland sowie der mit dem Ausland wurde von Kaufleuten abgewickelt, die zum Prikas gehörten. Die Anzahl der sibirischen Distrikte erhöhte sich mit dem Anschluß neuer Gebiete ständig. Um die Verwaltung der immer weiter östlich liegenden und schwer erreichbaren Gebiete zu erleichtern, strebte die Regierung schon sehr früh danach, ein Verwaltungszentrum in Sibirien selbst zu errichten. Die Regierung erwartete von der sibirischen Verwaltung vor allem, daß diese die wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete gewährleistete. Sie kontrollierte deshalb jenen Teil der sibirischen Administration relativ streng, der die Steuern bei der einheimischen Bevölkerung eintrieb. Die Jassakeintreibung gehörte zu den wichtigsten Pflichten der Wojewoden und war gleichzeitig für sie eine der Hauptquellen persönlicher Bereicherung. Eine weitere wichtige Aufgabe der sibirischen Verwaltung war die Kontrolle des Handels. In den ersten Jahren nach der Eroberung befreite die Regierung Kaufleute, die nach Sibirien reisten, von jeglicher Steuer. Nachdem sich die Handelsbeziehungen mit Sibirien und mit den südöstlichen Nachbarn normalisiert hatten, führte die Regierung Zollabgaben für die russischen und mittelasiatischen Kaufleute ein. Sie wurden zu einer wichtigen Einnahmequelle des Zaren. Der Zarenerlaß von 1597 legte die Höhe des sibirischen Zolls fest, der ein Zehntel des Wertes der ein- oder ausgeführten Waren betrug. Die Organisation und Kontrolle des Zollwesens gehörte zu den schriftlich festgelegten Pflichten jedes Wojewoden. Anfang des 17. Jh. entstanden die ersten Zollämter in Werchoturje, Tobolsk, Tjumen, Surgut, Tara, Berjosow und Mangaseja. Neben dem „Zehnten" wurden für Transitwaren zusätzliche Abgaben festgelegt. Dieses System der Zollverwaltung wurde bis Ende des 17. Jh. beibehalten. Die Herausbildung eines gesamtrussischen Marktes seit Mitte des 36

17. Jh. machte eine Zollreform erforderlich, die dem Handel innerhalb des Landes bessere Bedingungen bot. Die Regierung zögerte zunächst, auch den sibirischen Zoll abzuschaffen, da sie sich damit einer wichtigen Geldquelle beraubte. Erst Anfang der achtziger Jahre entschloß man sich, die Zollreform allmählich auf Sibirien auszudehnen. Das hing mit der veränderten Handelskonjunktur zusammen. Die Regierung war stärker als bisher an der Intensivierung des Handels mit China interessiert und daher bereit, die veralteten Zollgesetze zu ändern. Ein anderer wesentlicher Grund war der starke Rückgang des Pelzhandels. Damit die sibirischen Behörden den ständig wachsenden Aufgaben gerecht werden konnten und ihnen die Verwaltung der immer weiter östlich liegenden und schwer erreichbaren neuen Gebiete erleichtert wurde, machte sich der Aufbau eines Verwaltungszentrums in Sibirien selbst erforderlich. Unter Peter I. wurde die Verwaltung Zentralrußlands und Sibiriens reorganisiert. Zu den 8 Gouvernements, die 1708 gebildet wurden, gehörte auch das Gouvernement Sibirien mit dem Zentrum Tobolsk. Der Sibirische Prikas verlor seine Bedeutung und erhielt den Status einer Moskauer Kanzlei des Sibirischen Gouvernements. Die 1587 erbaute Stadt Tobolsk bot sich als Verwaltungszentrum an, da sie lange vor der Gründung eines Sibirischen Gouvernements die Rolle eines Vermittlers zwischen Moskau und den einzelnen Distrikten Sibiriens übernommen hatte und über großen Einfluß verfügte. „Nicht selten stellte der Tobolsker Wojewode in den Augen der Sibirjaken den Zaren im fernen Rußland in den Schatten.."29 Neben den erwähnten Gründen machte sich eine Verwaltungsreform auch erforderlich, um den Aufbau und die Arbeitsweise des zaristischen Machtapparates zu verbessern und den Bedingungen des gewaltigen Reiches besser anzupassen. Das durch Korruption ausgehöhlte alte Verwaltungssystem zeigte seine Schwächen um so deutlicher. je weiter von Moskau entfernt es arbeitete. Um die ungesetzlichen Praktiken an Ort und Stelle zu unterbinden, wurden sogenannte Untersuchungskommissionen eingeführt. 30 In den dreißiger bis sechziger Jahren des 18. Jh. gehörte die Arbeit dieser Untersuchungs29

30

Bachrusin, S. V., Voevody tobol'skogo razrjada v XVII v., Moskau 1955, S. 253 ff. Vgl. Rafienko, L. S., Sledstvennye komissii v Sibiri v 30—60 godach XVIII v., in: Osvoenie Sibiri v epochu feodalizma (XVIII—XIX vv.), Novosibirsk 1968, S. 136-164. 37

kommssionen zum Alltag der sibirischen Verwaltung. Sie wurden meist nach einer Anzeige vom Senat, vom Kabinett oder von den örtlichen Kanzleien einberufen und entsprechend auch diesen Behörden unterstellt. Ihre Arbeit erstreckte sich manchmal über Jahre, die längste Untersuchung dauerte 20 Jahre und kostete den Staat 71683 Rubel. 31 Die aufgedeckten Gesetzesübertretungen waren mitunter so schwerwiegend, daß in mehreren Fällen Todesurteile verhängt wurden, so 1721 gegen den ersten sibirischen Statthalter, Fürst M. Gagarin, wegen schweren Amtsmißbrauchs. Ein Jahr später wurde der Irkutsker Wojewode Rakitin hingerichtet, und 1736 endete die Untersuchung gegen den Irkutsker Vizegouverneur A. Sholokow mit dem Todesurteil. Diese Einzelfalle harter Bestrafung hatten zwar eine abschreckende Wirkung, änderten jedoch insgesamt nichts an den Praktiken der sibirischen Verwaltung. Der bekannte russische Revolutionär und Theoretiker des Anarchismus P. Kropotkin, der rund 150 Jahre später das sibirische Verwaltungssystem beschrieb, sah die Wurzel des Übels in den Zuständen, „die in der weit entfernten Metropole" herrschten. Die Beamten in Sibirien, urteilte er, stellen zu allererst nicht die Frage, wie nützlich dies oder jenes für das Gebiet sei; sie überlegen zuerst, was die Vorgesetzten oben sagen werden.32

5. Der Klassenkampf Sibirien war nicht nur jahrhundertelang ein Gefängnis für Aufrührer gegen den Zaren und gegen die Regierung, Sibirien hatte auch seine eigenen Klassenkämpfe. Die sozialen Widersprüche, die das Russische Reich erschütterten, wirkten in anderer Form, aber mit der gleichen Schärfe auch in Sibirien und führten zu Aufständen und Meutereien. Eine besondere Form des antifeudalen Protestes in Sibirien war, der feudalen Ausbeutung durch Umsiedeln in entlegene Gebiete zu entkommen. Mitte des 17. Jh. nahm die auf solche Weise entstandene Migrationsbewegung im Baikalgebiet Massencharakter an. Im Jahre 1655 brach ein Kosakenaufstand in der Festung Wercholensk aus. Die Aufständischen beschlossen, ins Amurgebiet umzusiedeln. Bei der Vorbereitung dieser Aktion, an der sich etwa 300 Menschen beteiligten, wirkten neben Kosaken auch Jassakleute, Bauern und Händ31 32

38

Vgl. ebenda, S. 140. Vgl. Kropotkin, P., Zapiski revoljucionera, Bd. I, S. 191 f.

kommssionen zum Alltag der sibirischen Verwaltung. Sie wurden meist nach einer Anzeige vom Senat, vom Kabinett oder von den örtlichen Kanzleien einberufen und entsprechend auch diesen Behörden unterstellt. Ihre Arbeit erstreckte sich manchmal über Jahre, die längste Untersuchung dauerte 20 Jahre und kostete den Staat 71683 Rubel. 31 Die aufgedeckten Gesetzesübertretungen waren mitunter so schwerwiegend, daß in mehreren Fällen Todesurteile verhängt wurden, so 1721 gegen den ersten sibirischen Statthalter, Fürst M. Gagarin, wegen schweren Amtsmißbrauchs. Ein Jahr später wurde der Irkutsker Wojewode Rakitin hingerichtet, und 1736 endete die Untersuchung gegen den Irkutsker Vizegouverneur A. Sholokow mit dem Todesurteil. Diese Einzelfalle harter Bestrafung hatten zwar eine abschreckende Wirkung, änderten jedoch insgesamt nichts an den Praktiken der sibirischen Verwaltung. Der bekannte russische Revolutionär und Theoretiker des Anarchismus P. Kropotkin, der rund 150 Jahre später das sibirische Verwaltungssystem beschrieb, sah die Wurzel des Übels in den Zuständen, „die in der weit entfernten Metropole" herrschten. Die Beamten in Sibirien, urteilte er, stellen zu allererst nicht die Frage, wie nützlich dies oder jenes für das Gebiet sei; sie überlegen zuerst, was die Vorgesetzten oben sagen werden.32

5. Der Klassenkampf Sibirien war nicht nur jahrhundertelang ein Gefängnis für Aufrührer gegen den Zaren und gegen die Regierung, Sibirien hatte auch seine eigenen Klassenkämpfe. Die sozialen Widersprüche, die das Russische Reich erschütterten, wirkten in anderer Form, aber mit der gleichen Schärfe auch in Sibirien und führten zu Aufständen und Meutereien. Eine besondere Form des antifeudalen Protestes in Sibirien war, der feudalen Ausbeutung durch Umsiedeln in entlegene Gebiete zu entkommen. Mitte des 17. Jh. nahm die auf solche Weise entstandene Migrationsbewegung im Baikalgebiet Massencharakter an. Im Jahre 1655 brach ein Kosakenaufstand in der Festung Wercholensk aus. Die Aufständischen beschlossen, ins Amurgebiet umzusiedeln. Bei der Vorbereitung dieser Aktion, an der sich etwa 300 Menschen beteiligten, wirkten neben Kosaken auch Jassakleute, Bauern und Händ31 32

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Vgl. ebenda, S. 140. Vgl. Kropotkin, P., Zapiski revoljucionera, Bd. I, S. 191 f.

ler mit. Auf dem Weg nach Daurien (Amurgebiet) schlössen sich dem Zug immer mehr Unzufriedene an, die weiter östlich einen neuen Anfang versuchen wollten. Diese zunächst spontan entstandenen Protestäußerungen wurden im weiteren Verlauf durch das Wirken des Popen Awwakum entscheidend beeinflußt.33 Der ehemalige Hofgeistliche Awwakum war Wortführer der innerhalb der orthodoxen Kirche bestehenden Opposition, Raskol genannt. Der Protest der Raskolniki (Altgläubigen) richtete sich gegen die vom Patriarchen Nikon in den fünfziger Jahren des 17. Jh. durchgeführten Reformen des kirchlichen Zeremoniells. Ging es bei diesen Auseinandersetzungen innerhalb der Geistlichkeit vor allem um die Sicherung von Einflußsphären, so weckte der Widerstand der Raskolniki bei den Volksmassen die Hoffnung, mit Hilfe der kirchlichen Opposition ein neues Leben nach den Prinzipien christlicher Gleichheit und Brüderlichkeit aufbauen zu können. Diese Stimmung nutzte Awwakum in seinen aufrührerischen Predigten geschickt aus. Seine Verbannung nach Sibirien stärkte die hier vorhandene Protestbewegung, die sich meist in kirchlichem Gewand zeigte.34 Die offizielle Haltung gegenüber den Altgläubigen Sibiriens war widerspruchsvoll und änderte sich mit dem Wechsel der Regierungen. Einerseits war die Regierung an der raschen Besiedlung der sibirischen Provinzen, wohin die Raskolniki flüchteten, interessiert, andererseits stand diese Haltung im Widerspruch zur offiziellen Staatsideologie und zu der Notwendigkeit, die Interessen der Großgrundbesitzer im europäischen Teil Rußlands zu schützen. Die religiösen Momente der Protestbewegung in Sibirien führten dazu, daß Kirche und Staat sich gleichermaßen an ihrer Bekämpfung beteiligten. „Der Glaube, der dem Volk am meisten zugänglich ist, dient ihm als Vorwand für einen rein politischen Kampf. Das Volk begreift es selbst nicht und ist fest davon überzeugt, nur für den Glauben zu handeln; dabei aber interpretiert es so seine Dogmen, daß es unter diesen Fahnen zum Freiheitskämpfer wird.. . Das Volk war so unterdrückt. . ., daß ihm nichts mehr übrigblieb, als alles stehen zu lassen und in die Wälder zu flüchten. Man kann nur staunen, daß nicht ganz Rußland vor dieser Ordnung in die Wälder geflüchtet war." 35

33 34

35

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. II, S. 145. Vgl. Pokrovskij N. N., Antifeodal'nyj protest uralo-sibirskich krest'janstaroobrjadcev v X V I I I v., Novosibirsk 1974. Ebenda, S. 6.

39

Zu einem Höhepunkt des politischen Protestes unter Führung der Altgläubigen kam es 1722 in der westsibirischen Garnisonsstadt Tara. Was dort geschah, war nicht nur für diese Zeit überraschend kühn. Die ganze Stadt mit der Kosakengarnison und der naheliegenden Dorfgemeinde lehnte es ab, den Treueid auf den Thronfolger zu leisten. Diese „Meuterei" hatte ihre Vorgeschichte. Die Haltung des nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert herrschenden Peter I. gegenüber den Altgläubigen war widerspruchsvoll, brachte aber letzten Endes eine Verschlechterung ihrer Lage. Zu Beginn seiner Regierungszeit hatte er die Altgläubigen formell zugelassen. Jedenfalls sind so die beiden Ukase von 1716 auszulegen, die eine Registrierung der Altgläubigen anordneten, um sie mit doppelten Steuern zu belasten. Diese Einnahmen sollten zur Förderung der Industrie im Norden des Landes, im Ural und in Sibirien verwandt werden, gleichzeitig aber die Raskolbewegung zum Erliegen bringen. 1721/22 begannen die Regierungsbehörden in Sibirien mit der Registrierung der Raskolanhänger. Diese Maßnahme traf mit dem Anwachsen eschatologischer Stimmungen im Volk zusammen, die eine besondere Form des religiösen antifeudalen Protestes darstellten. Die Versuche, die doppelte Steuer für die Altgläubigen einzuführen, stießen auf erbitterten Widerstand. Man rief zum Kampf gegen den Antichristen-Zaren auf, der sie ins soziale Elend stürzen würde, und prophezeite den nahen Weltuntergang. Die Aufforderung zum Treueid auf den Thronfolger war der letzte Anlaß zum Ausbruch der Protestbewegung. Im Februar 1722 hatte Peter I. in einem Ukas seinen Nachfolger bestimmt, ohne dessen Namen der Öffentlichkeit bekanntzugeben. Am 17. Mai, dem Tag, an dem die Bevölkerung den Eid auf den unbekannten Thronfolger leisten sollte, wurde in Tara ein Brief verbreitet, der Gründe für eine Verweigerung des Eids anführte. Verfasser waren Raskolniki. Der Brief, den 228 Einwohner unterschrieben hatten, wurde dem Kommandanten von Tara, Glebowski, übergeben. Dieser befahl, ihn öffentlich zu verlesen. Die überlieferten Dokumente sagen aus, daß die gesamte Bevölkerung von Tara den Eid verweigerte. Dieser einmütige Protest schreckte die sibirischen Behörden auf und zwang sie zu schärfsten Strafmaßnahmen. Es schien zwar unmöglich, die ganze Stadt hinrichten zu lassen, doch in der Praxis nahm die Vergeltung ein Ausmaß an, das diesem Ziel nahe kam. Die erste Strafabteilung in Tobolsk zählte etwa 600 Mann. Zwei Wochen nach diesen Ereignissen besetzte sie Tara, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Hier, wie auch während der bis 1735 40

dauernden Verfolgung der Flüchtigen forderte die Ideologie der Altgläubigen Tausende Opfer. Nicht kämpfen, sondern leiden, hieß die Devise. Unter „Leiden" verstand man nicht mehr und nicht weniger als die Selbstverbrennung. Verfolgt von den Exekutionstruppen, flüchteten die Einwohner Taras in die umliegenden Wälder und suchten den Tod im Feuer. Die Selbstverbrennungen nahmen in dieser Zeit Massencharakter an. In den Dokumenten ist einmal von 600 Opfern die Rede, in anderen Fällen sind die Zahlen weniger hoch. 36 Zu diesen Opfern kam die ungewöhnlich hohe Zahl der Hingerichteten. Die besondere Strenge und Gründlichkeit der Bestrafung hing damit zusammen, daß Kosakentruppen an der Bewegung beteiligt waren. Diesen Umstand betrachtete die Regierung nicht zu Unrecht als besonders gefahrlich. Mit Ausnahme der Selbstverbrennungen enthielten die Ereignisse in Tara alle wesentlichen Elemente der antifeudalen Bewegung dieser Zeit in Rußland. Die Idee, daß die Unterdrückung, Ungerechtigkeit und die Leiden der Bauern damit zusammenhängen, daß ein „falscher" Zar, ein „Antichrist" die Macht übernommen habe und daß daher nicht mehr nach Recht und Sitte regiert werde, tauchte in dieser oder jener Form immer wieder auf. So im Aufstand unter der Führung von Stepan Rasin als auch in der größten antifeudalen Erhebung in Rußland, dem Bauernkrieg von 1773 bis 1775 unter Jemeljan Pugatschow. Der rund 50 Jahre nach der Erhebung in Tara ausbrechende Bauernkrieg, der großen Widerhall in den östlichen Provinzen des Zarenreiches fand, war weit besser organisiert, hatte klarere Zielstellungen und erreichte ein wesentlich größeres Ausmaß. An ihm beteiligten sich in starkem Maße auch Bauern, die ihren Frondienst in den Fabriken leisten mußten. Die sozialen Widersprüche, die zu diesem Aufstand führten, wirkten auch auf andere Schichten der Bevölkerung und nahmen an Schärfe zu. 1773 trafen die ersten verbannten ieilnehmer des Bauernkrieges in Irkutsk ein. Die Nachricht von den Erfolgen des „Bauernzaren" Pugatschow gab den unmittelbaren Anstoß zu Erhebungen in den westsibirischen Gebieten. In Jalutorowsk, Tjumen, Tura und anderen Orten kam es 1773/74 zu einer Reihe von Bauernaufständen. Die Vorstellung von einem „besseren Zaren" spielte auch hier eine Rolle. Bezeichnend dafür war der Aufstand unter Führung des Kosaken Grigori Rjabow, der unter Pugatschow gekämpft hatte und nach Nertschinsk verbannt wurde.

36

Ebenda, S. 54 f.

4

Thomas, Sibirien

41

Nach seiner Flucht 1773 stellte er sich an die Spitze eines Bauernaufstandes und nannte sich Peter III. Die Niederschlagung der Bauernarmee von Pugatschow im Mai 1774 wirkte sich auch auf die Kämpfe in Sibirien aus. Zwar mußte Generalmajor Skalon noch im Oktober 1774 aus Tscheljabinsk melden, daß das „Pugatschow-Gift" noch nicht verschwunden sei und daß die Zuverlässigkeit der Bauern, vor allem die der in den Fabriken beschäftigten, sehr zweifelhaft sei37, doch für eine breite Unterstützung von Pugatschow gab es in Sibirien keine Grundlage mehr. Ausmaß und Schärfe des Klassenkampfes blieben in Sibirien aus den schon erwähnten Gründen hinter denen im europäischen Teil Rußlands zurück. Dies galt auch für die spätere Zeit.

6. Die Anfange der Erforschung Sibiriens Die eingangs erwähnten Anfange der Geschichtsschreibung Sibiriens bildeten einen Bestandteil seiner systematischen Erforschung, die unter Peter I. begann. Informationen über Sibirien hatte man schon zu Beginn der russischen Kolonisation Ende des 16. Jh. zu sammeln begonnen. Die Wojewoden wurden von der Regierung verpflichtet, über die Verkehrswege, über Bodenschätze, über den Pelzreichtum, über die Bedingungen für den Ackerbau sowie über die Bevölkerung und ihre Lebensweise Auskunft zu geben. Mit Hilfe der „tolmatschi", der Dolmetscher, wurden die einheimischen Völker befragt. Die wichtigsten Unterlagen schickte man nach Moskau. Besonders dringlich war die Erweiterung der geographischen Kenntnisse. Die nach Osten vordringenden Kosakenabteilungen erkundeten vor allem die Wasserwege. Mitte des 17. Jh. kannte man alle großen Ströme Sibiriens. 1648 gelang es Semjon Deshnjow und Fedot Popow, das Nordostende Asiens zu umfahren. Aus jener Zeit stammen auch die ersten geographischen Zeichnungen von Sibirien. Die erste vollständige Karte Sibiriens vom Ural bis zum Pazifik wurde 1667 angefertigt.38 Drei Jahrzehnte später erwarben sich Vater und Sohn Remesow große Verdienste bei der kartographischen Erschließung Sibiriens. Die Remesows hinterließen eine Fülle geographischer

37 38

42

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. II, S. 319 ff. Vgl. ebenda, S. 157.

Nach seiner Flucht 1773 stellte er sich an die Spitze eines Bauernaufstandes und nannte sich Peter III. Die Niederschlagung der Bauernarmee von Pugatschow im Mai 1774 wirkte sich auch auf die Kämpfe in Sibirien aus. Zwar mußte Generalmajor Skalon noch im Oktober 1774 aus Tscheljabinsk melden, daß das „Pugatschow-Gift" noch nicht verschwunden sei und daß die Zuverlässigkeit der Bauern, vor allem die der in den Fabriken beschäftigten, sehr zweifelhaft sei37, doch für eine breite Unterstützung von Pugatschow gab es in Sibirien keine Grundlage mehr. Ausmaß und Schärfe des Klassenkampfes blieben in Sibirien aus den schon erwähnten Gründen hinter denen im europäischen Teil Rußlands zurück. Dies galt auch für die spätere Zeit.

6. Die Anfange der Erforschung Sibiriens Die eingangs erwähnten Anfange der Geschichtsschreibung Sibiriens bildeten einen Bestandteil seiner systematischen Erforschung, die unter Peter I. begann. Informationen über Sibirien hatte man schon zu Beginn der russischen Kolonisation Ende des 16. Jh. zu sammeln begonnen. Die Wojewoden wurden von der Regierung verpflichtet, über die Verkehrswege, über Bodenschätze, über den Pelzreichtum, über die Bedingungen für den Ackerbau sowie über die Bevölkerung und ihre Lebensweise Auskunft zu geben. Mit Hilfe der „tolmatschi", der Dolmetscher, wurden die einheimischen Völker befragt. Die wichtigsten Unterlagen schickte man nach Moskau. Besonders dringlich war die Erweiterung der geographischen Kenntnisse. Die nach Osten vordringenden Kosakenabteilungen erkundeten vor allem die Wasserwege. Mitte des 17. Jh. kannte man alle großen Ströme Sibiriens. 1648 gelang es Semjon Deshnjow und Fedot Popow, das Nordostende Asiens zu umfahren. Aus jener Zeit stammen auch die ersten geographischen Zeichnungen von Sibirien. Die erste vollständige Karte Sibiriens vom Ural bis zum Pazifik wurde 1667 angefertigt.38 Drei Jahrzehnte später erwarben sich Vater und Sohn Remesow große Verdienste bei der kartographischen Erschließung Sibiriens. Die Remesows hinterließen eine Fülle geographischer

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Vgl. Istorija Sibiri, Bd. II, S. 319 ff. Vgl. ebenda, S. 157.

Zeichnungen, die bis heute von Historikern, Geographen, Ethnographen, Archäologen und Philologen ausgewertet werden.39 Gegen Ende des 16. Jh. erschienen auch im Ausland die ersten Berichte über Sibirien. Das wachsende Interesse an dieser Region war vor allem mit der Hoffnung verknüpft, auf dem Landweg durch Sibirien, Indien und China zu erreichen. Besonders bekannt und bis heute von Interesse ist das Buch des holländischen Geographen N. A. Witsen über die Nord- und Ost-Tatarie — so bezeichnete Witsen Sibirien einschließlich der angrenzenden Gebiete — , das drei Auflagen bekam. Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre des 17. Jh. veröffentlichte Witsen in Westeuropa die erste Karte Sibiriens, auf der die von russischen Reisenden und Landfahrern (semleprochodzy) erworbenen Kenntnisse berücksichtigt waren. Im Jahre 1692 trat der neue russische Botschafter in China, der Däne Isbrandt Ides, seine erste Reise durch Sibirien nach China an. Als Reiseführer benutzte er Witsens Karte. Unterwegs nahm er notwendige Korrekturen vor. Doch auch die verbesserte Karte Witsens enthielt noch viele Ungenauigkeiten. Die Aufgabe, eine präzise Karte Sibiriens anzufertigen, blieb nach wie vor dringend. Wie stark das Interesse an Sibirien in jener Zeit gestiegen war, zeigt der im Jahre 1719 erschienene zweite Teil des „Robinson Crusoe". Daniel Defoe läßt seinen Helden u. a. mit einer Karawane vom Amur nach Tobolsk reisen.40 Die Bücher von Witsen und Isbrandt gaben vermutlich die Vorlage für die Beschreibung Defoes. Sein Buch ist ein interessantes Zeugnis dafür, welche Kenntnisse und Vorstellungen zu dieser Zeit das Bild Sibiriens in den westeuropäischen Ländern bestimmten. Während der Regierungszeit Peters I. bekam, wie bereits erwähnt, die Erforschung Sibiriens neue Impulse. Der neue Zar, weltoffen und voller Initiativen, beeinflußte in starkem Maße die Entwicklung der Wissenschaften. Bekannt ist sein Anteil an der Gründung der russischen Akademie der Wissenschaften. Weniger bekannt ist, daß er zahlreiche wissenschaftliche Expeditionen anregte. Ein umfangreiches, bis heute leider noch nicht vollständig erschlossenes Material zur Geschichte, Geographie, Ethnographie und Linguistik Sibiriens lieferten die beiden sogenannten Kamtschatka-Expeditionen, an denen 39

Vgl. Kopylov,

A. N., Polevoj, B. P., Zemleprochodcy XVII v. i izucenie Sibiri,

in: Osvoenie Sibiri v epochu feodalizma (XVII—XIX vv.), Novosibirsk 1968, S. 22 f. 40



Vgl. Alekseev,

M. P„ Sibir' v romane D e f o , Irkutsk 1928.

43

sich erfahrene russische und ausländische Wissenschaftler beteiligten. Im Jahre 1718 verfügte der Zar die Entsendung mehrerer Expeditionen nach Sibirien. Sie sollten die Frage einer möglichen Landverbindung zwischen Asien und Amerika klären und erkunden, ob man auf dem Fluß Irtysch nach Indien gelangen könne. Indien, so hieß es, sei reich an Gold. Wer den Zaren bei diesen Projekten beraten hat, ist bis heute ungeklärt. Es sind mehrere Quellen bekannt, aus denen die Anregungen gekommen sein könnten. Der Zar unterhielt zu dieser Zeit einen aufschlußreichen Briefwechsel mit Leibniz; 1717 führte er längere Gespräche mit Vertretern der Pariser Akademie der Wissenschaften.41 Auch in Rußland selbst gab es zu dieser Zeit sachkundige Berater. 1713 lagen die sogenannten „Propositionen" vonFjodor S. Saltykow auf dem Tisch des Zaren. Sie enthielten u. a. den Vorschlag, von der Mündung der Flüsse Dwina, Ob, Lena und Jenissei Expeditionen zur Erforschung des nördlichen Seewegs nach Japan und China auszuschicken. Die im Januar 1719 vom Senat beschlossene Expedition unter der Leitung der Geodäten Lushin und Jewreinow konnte zwar nicht die Frage beantworten, die den Zaren vordringlich interessierte, ob und wo Asien mit Amerika zusammenstieß. Dafür aber wurden auf der von den beiden Reisenden angefertigten Karte zum erstenmal die Kurileninseln genannt. 42 Die Frage nach dem Verbindungsweg zwischen Asien und Amerika beschäftigte Peter I. bis an sein Lebensende. Drei Wochen vor seinem Tode, am 6. Januar 1725, ernannte er Bering zum Leiter einer Expedition, die als Erste Kamtschatka-Expedition in die Geschichte einging. Vitus Bering war gebürtiger Däne, der zu dieser Zeit bereits ungefähr 20 Jahre in russischen Diensten stand. Das beständige Interesse des Zaren an dieser Problematik war nicht ganz so absurd, wie es auf den ersten Blick scheint. Zwar war die Frage einer Landverbindung zwischen Asien und Amerika im Grunde schon negativ beantwortet, aber es fehlten konkrete Beweise, Beschreibungen oder Zeichnungen, mit denen man das Phantastische vom Glaubwürdigen hätte scheiden können. Die Bering-Expedition sollte die fehlenden Beweise erbringen. Erst mit der Gewißheit, daß es einen Seeweg zwischen den 41

Vgl. Andreev,

A. /., Ocerki po istocnikovedeniju Sibiri, vypusk vtoroj XVIII

vek (pervaja polovina), Moskau-Leningrad 1965, S. 14 f.; Okladnikov,

A. P.,

Nacalo Akademii i pervye ee dela, in: Sibirskie ogni, H. 8, 1975, S. 136 f. 42

44

Vgl. Andreev, a.a.O., S. 16 f.

beiden Kontinenten entlang gab, konnte man die Pläne eines nördlichen Handelsweges nach Südostasien realisieren. Die Teilnehmer der Ersten Kamtschatka-Expedition verließen Petersburg Ende Januar/Anfang Februar 1725, kurze Zeit nach dem Tod Peters I. Außer Bering gehörten der Expedition u. a. die Leutnants Aleksej Tschirikow und Martin Spanberg an. Im Sommer 1727 unternahmen beide erstmals den Versuch, von der Südspitze Kamtschatkas nach Norden, an der Tschuktschen-Halbinsel vorbei, vorzustoßen. Sie kehrten auf Berings Befehl zurück, ohne die Westspitze Alaskas gesehen zu haben. Bering selbst unternahm 1729, nachdem er in Nishnekamtschatsk überwintert hatte, einen erneuten Versuch, die Westküste Nordamerikas zu erreichen. Auch diesmal hatte er keinen Erfolg: Am 1. März 1730, nach über 5 Jahren, kehrten die Expeditionsteilnehmer nach Petersburg zurück. Sie hatten ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllen können. Sie brachten jedoch Erkenntnisse und Erfahrungen von ihrer Expedition mit, die den nächsten Forschungsunternehmungen die Aufgabe wesentlich erleichterte.43 Bereits 3 Jahre später wurde die Große Nord- oder Zweite Kamtschatka-Expedition (1733—1743) gestartet. 44 Sie brachte eine wesentliche Erweiterung der geographischen Kenntnisse über Sibirien. Vier Nordabteilungen untersuchten die Eismeerküste von Archangelsk aus ostwärts. Unter der Leitung von Murawjow und Pawlow (später Malygin und Shuratow) durchforschte die 1. Abteilung in den Jahren 1734 bis 1737 die Küste von Archangelsk bis zur Ob-Mündung. Die 2. Abteilung unter Owzyn arbeitete zur selben Zeit zwischen der Ob- und der Jenissei-Mündung. Die 3. Abteilung, die von Prontschischtschew und Tscheljuskin geleitet wurde, operierte von der Lena-Mündung aus in Richtung Westen, mit dem Ziel, den Jenissei zu erreichen. Prontschischtschew und seine Frau starben auf dieser Reise. Zwei Grabsteine auf der Halbinsel Taimyr erinnern noch heute an ihr tragisches Schicksal. Die 4. Abteilung forschte östlich der Lena. Unter der Leitung von Lassenius, später von Laptjew, erreichte sie die nordöstliche Spitze des Kontinents. Alle vier Abteilungen trugen umfangreiches und wertvolles Material zusammen und leisteten einen großen Beitrag zur Lösung des schwierigen Problems der Polarseefahrt. Einen Höhepunkt der Zweiten Kamtschatka-Expedition bildete zwei43

44

Vgl. Hoffmann, P., Die Erforschung Kamcatkas. Zur ersten Bering-Expedition 1725 bis 1729, in: horizont, Nr. 25, 1976, S. 29. Vgl. Istorija Sibiri, Bd. II, S. 345 f.

45

feilos die Fahrt zur amerikanischen Nordwestküste. In der Geschichte dieser Fahrt ist auch heute noch vieles umstritten. Das betrifft vor allem die Einschätzung der Leistung Berings und somit die Frage, ob es gerechtfertigt ist, die Verdienste der Expedition ihm allein zuzuschreiben. Sicher ist, daß die beiden Schiffe „St. Peter" und „St. Paul" unter dem Kommando von Bering und Tschirikow am 4. Juni 1741 den Hafen von Petropawlowsk verließen und die Westküste Nordamerikas südlich von Alaska erreichten. Die „St. Peter" warf am 16. Juli vor der unbekannten Küste Anker und trat am selben Tag noch die Rückreise nach Kamtschatka an. Von starkem Surm überrascht, strandete Berings Schiff an jener Insel, die später seinen Namen erhielt. Die ganze Mannschaft mußte hier überwintern. Bering, erschöpft von den Strapazen der Reise, erlag seinen Krankheiten. Der überlebende Teil der Mannschaft erreichte Kamtschatka erst Ende August 1742. Die „St. Paul" hatte die amerikanische Küste bereits einen Tag früher erreicht. Man fand eine schützende Bucht, wo Tschirikow eine Schaluppe ins Wasser ließ. Unter dem Kommando des Steuermanns Dementjew wurde sie ans Ufer geschickt. Die Instruktion für die Mannschaft lautete, einen Ankerplatz für das Paketboot zu suchen und dann an Land zu gehen. Sie sollten mit der einheimischen Bevölkerung Kontakt aufnehmen, nach dem Namen des Landes fragen, wer es beherrschte und wieviele Einwohner es zählte. Dementjew erhielt außerdem den Auftrag, auf die Vegetation und die Fruchtbarkeit des Bodens zu achten und zu erkunden, ob kostbare Steine und Erze, besonders Silbererze, zu vermuten waren. Dementjew und seine Leute kehrten jedoch von ihrer Erkundungsreise nicht zurück. Auch weitere, nach ihnen ausgeschickte Ruderboote blieben verschollen. Am 26. Juli befahl Tschirikow die Rückreise. Die „St. Paul" erreichte Petropawlowsk am 11. Oktober 1741 ohne Zwischenfalle. In die Geschichte der Wissenschaften ging auch die sogenannte Akademische Abteilung der Zweiten Kamtschatka-Expedition unter der Leitung des Historikers G. F. Müller ein, die die Untersuchung der Natur und der Bodenschätze, die Erforschung der Geschichte und der Ethnographie Sibiriens zur Aufgabe hatte. Auf ihre Arbeit wurde bereits eingegangen. Die Tatsache, daß die Expedition im Auftrag des Staates durchgeführt wurde und an ihr eine Reihe ausländischer Wissenschaftler teilnahm, brachte Nachteile bei der Auswertung ihrer Ergebnisse mit sich. Vor Antritt der Reise mußten sich alle Beteiligten verpflichten, die Resultate ihrer Forschungen streng geheim zu halten. Vor allem durfte 46

von den Forschungsmaterialien nichts im Ausland veröffentlicht werden. Nur in einem Falle wurde dieses Verbot durchbrochen. J. G. Gmelin, der zusammen mit Müller Sibirien bereiste, kehrte nach Deutschland zurück und veröffentlichte bereits in den Jahren 1747 bis 1769 vier Bände über die Flora Sibiriens, in denen er 1178 sibirische Pflanzenarten beschreibt.45 Es war für seine Zeit, nach Meinung der Fachleute, die vollständigste und gründlichste Arbeit über die sibirische Flora. Nicht auf alle bedeutenden Teilnehmer dieser Expedition kann hier eingegangen werden. Der Name des Dolmetschers Jakob Lindenau muß jedoch aus mehreren Gründen erwähnt werden. Zum einen, weil dieser Name bisher zu oft übergangen wurde, zum anderen, weil Lindenau wichtige Materialien hinterlassen hat, die bisher noch nicht vollständig ausgewertet wurden; schließlich und nicht zuletzt war dieser Mann ein Enthusiast der Sibirienforschung, der er sein ganzes Leben widmete. Über die Biographie Lindenaus ist wenig bekannt. Zwei von S. M. Troizki im Jahre 1973 veröffentlichte Dokumente aus dem Archiv enthalten einige Angaben über ihn.46 J. Lindenau war schwedischer Herkunft. 1732 gründete er eine Schule in Petersburg. 1739 trat er in die Dienste der russischen Akademie der Wissenschaften und übernahm die Aufgaben eines Dolmetschers in der Zweiten KamtschatkaExpedition, der er offiziell bis 1746 angehörte. Nur zu Beginn der Reise beschränkte sich seine Tätigkeit auf Übersetzungsdienste. Die Aufgaben der Expedition interessierten ihn so sehr, daß er bald begann, seine Beobachtungen aufzuschreiben. Dabei richtete sich seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Ethnographie und auf die Sprachen der sibirischen Völker. Gegen Ende der Expedition war aus dem Dolmetscher ein selbständig arbeitendes Expeditionsmitglied geworden 47 Zusammen mit J. G. Fischer, der für den erkrankten Müller aus Petersburg nachreiste, sollte Lindenau die Reise nach Kamtschatka fortsetzen. Da Fischer, dessen wissenschaftlicher Eifer offenbar nicht sondetlich groß war, sich nicht sehr beeilte, verließ Lindenau am 27. Juli 1741 allein Jakutsk, um auf dem Landwege Ochotsk zu erreichen. Mitte September kam er dort an. Sein Reisebericht enthält 45

46

47

Gmelin, I. G., Flora sibirica, sive historia plantarum Sibiriae, Bd. 1—4, Petropoli 1747-1769. Vgl. Troickij, S. M., Sibirskaja administracija, prilozenija Nr. 1, 2, in: Voprosy istorii Sibiri dosovetskogo perioda, Novosibirsk 1973, S. 316 f. Vgl. Andreev, a.a.O., S. 286 ff., 306 f.

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wichtige geographische Angaben und Beobachtungen über die Lebensweise der einheimischen Völker in diesem Teil Jakutiens. Fast 5 Jahre hielt sich Lindenau in diesem Gebiet auf und mußte die gestellten Forschungsaufgaben allein bewältigen, da sein Vorgesetzter Fischer nie in Ochotsk ankam. Dieser wurde nach einem längeren Aufenthalt in Jakutsk nach Petersburg zurückgeschickt, da er sich für die vorgesehene Arbeit als ungeeignet erwies. Lindenau unternahm zahlreiche Reisen in die nähere und weitere Umgebung von Ochotsk und fertigte Landkarten und ausführliche Reisebeschreibungen an, in denen er über die Sitten und Bräuche der Völker, über ihre Wirtschaft und Administration berichtete. Im August 1746 kehrte Lindenau nach Petersburg zurück. Von seinen Arbeiten hatte er bereits vier vorausgeschickt. Sechs weitere mit einem Umfang von etwa 365 Seiten führte er mit sich. Kurze Zeit später lieferte er noch einmal sechs Abhandlungen. 48 Ein Jahr später war Lindenau schon wieder nach Sibirien unterwegs, diesmal im Auftrag des Sibirischen Prikas, in dessen Provinzkanzlei er nunmehr beschäftigt war. Über diese Zeit seines Lebens bis zum Tod im Jahre 1795 gibt es nur sehr wenige Angäben, die vor allem in dem Buch von W. Lagus über den Naturwissenschaftler Laxmann enthalten sind.49 Im Jahre 1785 schickte Laxmann einen Brief an die Akademie, in dem er um materielle Unterstützung für den 87jährigen Lindenau, der ihm bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten sehr geholfen hatte, bat. Ein zweites Gesuch aus dem Jahre 1790 blieb ebenso wie das erste ohne Erfolg. Lindenau verbrachte seine letzten Jahre in der Nähe von Irkutsk. Er lebte in einer kleinen Holzhütte und litt unter materieller Not. Von der Welt völlig vergessen, starb er im hohen Alter von 95 Jahren. Er fiel einem Hausbrand zum Opfer; mit ihm verbrannten auch seine Aufzeichnungen aus den achtziger und neunziger Jahren. Auch der Name eines anderen Wissenschaftlers darf nicht vergessen werden, der als einer der wenigen Teilnehmer der Expedition die Halbinsel Kamtschatka erreichte, sie erforschte und beschrieb — Stepan Krascheninnikow. Er war noch Student, als er sich der Zweiten Kamtschatka-Expedition anschloß. Unter Anleitung von Müller 48

49

48

Der größte Teil der Aufzeichnungen Lindenaus befindet sich heute in Archiven von Moskau, Leningrad und Jakutsk. Nur ein Bruchteil dieser Manuskripte ist bisher veröffentlicht. Lagus, W., Erik Laxmann. Ego zizn, putesestvija, issledovanija i perepiska, St. Petersburg 1890.

und Gmelin eignete er sich rasch umfangreiche Kenntnisse an, so daß ihm bald selbständige Aufgaben übertragen wurden. 1737 organisierte und leitete er die Weiterreise der Expedition von Jakutsk nach Kamtschatka. In diesem Kamtschatka-Unternehmen, das er bis 1741 allein führte, stützte er sich auf die ausführlichen Instruktionen von Müller. Krascheninnikow erforschte die Natur der Halbinsel, die Sitten und Bräuche der Völker, ihre Geschichte und Kultur. Die Ergebnisse seiner Reise sind in der 1756, ein Jahr nach seinem Tod, erschienenen zweibändigen „Beschreibung des Landes Kamtschatka" enthalten, die bis heute als Musterbeispiel einer komplexen landeskundlichen Monographie eingeschätzt wird. 50 Ein anderer Teilnehmer der Expedition, G. W. Steller, veröffentlichte zur selben Zeit eine wertvolle Beschreibung amerikanischer Inseln und Kamtschatkas. 51 Parallel zur Arbeit der Akademischen Abteilung der KamtschatkaExpedition, jedoch nicht mit ihr koordiniert, verliefen die Sibirienstudien des bedeutenden russischen Wissenschaftlers und Staatsmannes W. N. Tatischtschew. 52 Das Material für seine „Allgemeine geographische Beschreibung ganz Sibiriens" sammelte er mit Hilfe von Fragebogen, die er 1734 an sibirische Städte verschickte und in denen er 92 Fragen zur Geographie, Ethnographie, Archäologie und Geschichte Sibiriens stellte. Das auf diese Weise gewonnene Material, das Tatischtschew leider nur zum Teil in seinen Werken verarbeitete, ergänzte und korrigierte zum Teil die Ergebnisse der akademischen Forschung. Tatischtschew bediente sich bei seinen Forschungen einer Methode, die vor ihm schon F. Kirilow für die Geschichtsforschung angewandt hatte. Aber er arbeitete sehr sorgfaltig an der Vervollkommnung dieser Methode. Seine Fragebogen erlaubten ihm, ein abgesichertes und zuverlässiges Material zu verwenden. Das Fragebogensystem war in jener Zeit in der russischen Wissenschaft eine häufig angewandte Methode. Neben Tatischtschew und Müller leistete auch Michail Lomonossow, dessen Name am Anfang der russischen Wissenschafts50

Vgl. Kraseninnikov,

51

Vgl. Steller, G. W., D e bestiis marinis. N o w i commentarii Academiae Scientia-

S. P., Opisanie zemli Kamcatki, Moskau-Leningrad 1949.

rum imp. Petropolitanae, t. II, Petropoli 1751 (deutsch: Ausführliche Beschreibung von sonderbaren Meerestieren, Halle 1753); ders.,

Beschreibung

vom Lande Kamtschatka, Frankfurt-Leipzig 1774. 52

Vgl. Grau, C., Der Wirtschaftsorganisator, Staatsmann und Wissenschaftler Vasilij N . Tatiscev ( 1 6 8 6 - 1 7 5 0 ) , Berlin 1963.

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geschichte steht und der sich große Verdienste bei der Organisation der russischen Akademie erwarb, einen Beitrag zur Vervollkommnung dieser soziologischen Untersuchungsmethode. Der Beitrag Lomonossows zur Erforschung Sibiriens erstreckte sich vor allem auf die Geographie und Geologie dieses Gebietes. Er beschäftigte sich mit dem Problem des Dauerfrostbodens, schrieb über den nördlichen Seeweg nach Indien und organisierte zwei Expeditionen in die Polargebiete. Eine spezielle Abhandlung von ihm beschäftigt sich mit der Entstehung von Eisbergen.53 In den sechziger und siebziger Jahren des 18. Jh. setzten die Expeditionen von P. S. Pallas, I. P. Falk, 1.1. Georgi und 1.1. Lepjochin die Erforschung Sibiriens fort. Vier Jahre lang erforschte Pallas die Gebiete Ost- und Westsibiriens, den Altai und Transbaikalien. 54 W. F. Sujew, Teilnehmer dieser Expedition, reiste bis zur Ob-Mündung und sammelte ethnographisches Material über die Chanten und Mansen. Eine vom Senat Ende des 18. Jh. angeregte Expedition nach Nordostsibirien erforschte unter der Leitung von J. Billings und G. A. Sarytschew vor allem die Tschuktschen-Halbinsel.55 Im Ergebnis der im 18. Jh. durchgeführten Forschungsreisen entstand ein Sibirienbild, das in der folgenden Zeit nur wenig verändert werden mußte. Die Erforschung der „weißen Wüste" ging weiter und brachte zwar noch bedeutende, doch keineswegs mehr sensationelle Ergebnisse. Im 19. Jh. ging es um die Vertiefung der gesicherten Kenntnisse sowie um ihre Nutzung bei der wirtschaftlichen Entwicklung und Ausbeutung dieses Gebietes.

53

Vgl. Kopylov,

A. N., Obrazovanie Akademii nauk i ekspedicionnye raboty v

Sibiri XVIII v., in: Izvestija Sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obsc. nauk, vypusk 2, H. 6, 1974, S. 4 ff. 54

Vgl. Jenseits des Steinernen Tores. Entdeckungsreisen deutscher Forscher durch Sibirien im 18. und 19. Jahrhundert, ausgewählt und eingeleitet von Herbert Scurla, Berlin 1963.

55

Billings, / . , Reise nach den nördlichen Gegenden von Russisch-Asien und Amerika unter dem Commodore Joseph Billings in den Jahren 1785 bis 1794. Aus Originalpapieren verfaßt von Martin Sauer. Aus dem Englischen von M. C. Sprengel, Weimar 1803. Den ursprünglich englisch geschriebenen Reisebericht Billings' übersetzte G. A. Sarycev ins Russische: Putesestvie kap. Billingsa cerez Cukotskuju zemlju ot Berlingova proliva d o Nizne-Kol'ymskogo ostroga i plavanie kapitana Galla na sudne Orle po Severovostocnomu okeanu v 1791 godu, s prilozeniem slovarja dvenadcati narecij dikich narodov, St. Petersburg 1811.

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KAPITEL I I

Die Entwicklung des Kapitalismus in Sibirien

Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse setzten sich in Rußland nur langsam durch. Die Leibeigenschaft, die die Masse der russischen Bauern rechtlich den Sklaven gleichsetzte, wirkte sich verhängnisvoll auf alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens aus. Die außerökonomische Abhängigkeit der Bauern von ihren Gutsherren verhinderte, daß der Leibeigene über seine Arbeitskraft frei verfügen konnte. Es fehlte somit eine Grundbedingung für die kapitalistische Produktion, nämlich die freie Arbeitskraft. Dieser Umstand wirkte sich hemmend auf die Entwicklung der Produktivkräfte sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie aus. Die Abschaffung der Leibeigenschaft wurde von den progressiv denkenden Menschen Rußlands schon seit Ende des 18. Jh. als dringend notwendig erkannt und seit dem immer wieder gefordert. Doch die mit dem Zaren und seinem Hof ökonomisch und politisch eng verbundene Klasse der Großgrundbesitzer schreckte vor Veränderungen dieses Systems zurück. Das hatte nicht nur für die innere Entwicklung Rußlands Auswirkungen. Das zaristische Regime, das die Interessen einer historisch überlebten Klasse vertrat, war auch in seiner Außenpolitik reaktionär und wurde gegen Mitte des 19. Jh. zum „Gendarmen Europas". Als schließlich 1861 die lang ersehnten Reformen, die die Abschaffung der Leibeigenschaft zum Hauptinhalt hatten, erlassen wurden, war eine wesentliche Voraussetzung für die beschleunigte Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Rußland geschaffen. Gleichzeitig waren die Reformen aber deutlich von den Klasseninteressen ihrer Urheber, der Gutsbesitzer, geprägt. Starke Überreste der Fronwirtschaft und andere Überbleibsel der Leibeigenschaft sowie die Verelendung und Ruinierung der armen Bauernschaft — das waren die Folgen des „junkerlichen" Weges der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. 51

Als Lenin im Jahre 1899 die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland analysierte, befaßte er sich mit der Frage, wie sich der Prozeß der Herausbildung des kapitalistischen Marktes in Rußland vollzog. Er stellte fest, daß dieser Prozeß zwei Seiten hatte: „die Entwicklung des Kapitalismus in die Tiefe, d. h. weiteres Wachstum der kapitalistischen Landwirtschaft und der kapitalistischen Industrie auf einem gegebenen, bestimmten und in sich geschlossenen Territorium, und die Entwicklung des Kapitalismus in die Breite, d. h. Ausdehnung der Herrschaftssphäre des Kapitalismus auf neue Territorien" 1 . Diese zwei Seiten stellte Lenin nicht einfach nebeneinander, er untersuchte auch ihre Wechselwirkung: „Die Entwicklung des Kapitalismus in die Tiefe wird auf dem alten, längst besiedelten Territorium durch die Kolonisation der Randgebiete verzögert. Die Lösung der dem Kapitalismus eigenen und von ihm erzeugten Widersprüche wird dadurch zeitweilig hinausgeschoben, daß sich der Kapitalismus leicht in die Breite entwickeln kann." 2 Als eine solche Verzögerung der Lösung des Widerspruchs betrachtete Lenin z. B. die Möglichkeit für den Fabrikanten, Absatzmärkte in den Randgebieten zu suchen, sowie auch die für den Bauern bestehende Möglichkeit umzusiedeln. Im Gegensatz zu bürgerlichen Historikern, die die Ausdehnung Rußlands nach Osten vordergründig als Expansion und Machtstreben interpretieren, das dem europäischen Rußland die aktivsten Kräfte raubte 3 , erkannte Lenin die langfristige Wirkung dieses Prozesses, daß nämlich „eine solche Verzögerung im Wachstum des Kapitalismus gleichbedeutend damit ist, daß sich ein um so stärkeres und breiteres Wachstum des Kapitalismus in nächster Zukunft vorbereitet" 4 . Für Sibirien bedeutete die Reform von 1861 einen großen Einschnitt. Mit etwa 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung war die Zahl der leibeigenen Bauern in Sibirien zwar sehr gering ; daneben gab es jedoch eine Gruppe von ungefähr 200000 Leibeigenen, die in den der Krone gehörenden Betrieben und Bergwerken von Nertschinsk und im Altaigebiet arbeiteten. Ganze Dörfer wurden den Betrieben zugeschrieben und die Bauern vorwiegend zur Arbeit im Bergbau zwangsverpflich-

1

Lenin, W. /., Werke, Bd. 3, Berlin 1968, S. 615.

2

Ebenda.

3

Vgl. Mehnert,

K., Vorwort zu: Otto Hoetzsch, Rußland in Asien. Geschichte

einer Expansion, Stuttgart 1966, S. 12. 4

52

Lenin, IV. /., Werke, Bd. 3, S. 616.

tet 5 . Der Erlaß vom 8. März 1861 schaffte diese Zwangsverpflichtungen ab. Allerdings wurde die persönliche Abhängigkeit durch die ökonomische ersetzt, denn eine zusätzliche Steuer von 6 Rubel pro Person und Jahr wurde den Bauern aufgebürdet. Sichtbar wird die Schwere dieser Last, wenn man erfahrt, daß die Gesetzgeber von der Annahme ausgingen, daß der Bauernhof eines ehemaligen Leibeigenen etwas mehr als 13 Rubel im Jahr erbringen würde. Somit brachte die Reform also auch für diesen Teil der Bauernschaft keine unmittelbare Verbesserung ihrer Lage. Sie gab aber den Anstoß für die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in diesen Teilen des Landes.

1. Die Entwicklung der Industrie und des Handels Das koloniale Wesen der zaristischen Sibirienpolitik äußerte sich besonders deutlich in der Phase der industriellen Entwicklung dieses Gebietes. Die geologische Erforschung Sibiriens war Anfang des 19. Jh. schon so weit fortgeschritten, daß man über den außergewöhnlichen Reichtum der dort vorhandenen Bodenschätze Kenntnis hatte. Bestimmte bisher der Pelzhandel das Interesse an Sibirien, so rückte jetzt allmählich der Bergbau in den Vordergrund. Unverändert blieben jedoch die Methoden und Ziele der Ausbeutung: Ohne Rücksicht auf die Entwicklung Sibiriens wurden diejenigen Naturreichtümer aus dem Land gepreßt, mit denen am leichtesten Profit zu erzielen war. Und zum besten Geschäft in Sibirien wurde Anfang des 19. Jh. die Goldförderung; sie überstieg um vieles die Gewinne am Pelzhandel. Die in Sibirien gewonnenen Mengen von Gold und Silber hatten einen Wert von mehreren Hundert Mill. Rubeln und spielten eine entscheidende Rolle im Prozeß der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in Rußland. 6 Die Suche nach sibirischem Gold begann schon im 17. Jh., unmittelbar nach dem Anschluß Sibiriens an Rußland. Hinweise auf Goldvorkommen gaben die Legenden der einheimischen Völker und Gold5

6

Borodavkin. A. P., Korjagin, B. G., Krestjanskaja reforma v Zapadnoj Sibiri, in: Voprosy istorii Sibiri, vypusk 8, Tomsk 1974, S. 25—38. Vgl. Rabinovic, G. Ch., Promyslennyj perevorot i ego financirovanie v zolotopromyslennosti Enissejskoj gubernii v konce XIX — nacale XX vv., in: K izuceniju ekonomiki Enissejskoj gubernii konca XIX — nacala XX vv., Krasnojarsk 1962.

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und Silberfunde in alten Grabstätten. Vorerst jedoch blieb die Suche nach dem kostbaren Metall erfolglos. Bis Mitte des 18. Jh. wurde Gold nur in den Bergwerken im Ural gefördert. Erst als diese Vorräte spürbar geringer wurden, sah sich der Staat veranlaßt, sein Monopol auf die Goldsuche und -förderung in Sibirien aufzugeben. Seit 1812 wurden Konzessionen auch an Privatpersonen vergeben. Es dauerte noch etwa 15 Jahre, bis die Kaufleute Popow den ersten Erfolg vermelden konnten. Auf ihrer zunächst erfolglosen Suche nach Goldfeldern kamen sie in die Gegend des Kusnezker Alatau. Hier erfuhren sie, daß ein verbannter Bauer namens Jegor Lesnoi am Birikjul-Fluß Gold förderte. Die beiden Kaufleute nutzten die von Lesnoi entdeckten Vorkommen und gründeten das erste Unternehmen zur Goldförderung in Sibirien. Im Jahre 1829, das als Anfangsjahr des Goldgeschäfts gilt, betrug die ganze Ausbeute nur 1 Pud 10 Pfund (etwas über 200 Kilogramm). Aber sie wuchs in den darauffolgenden Jahren sehr schnell an.7 Fast gleichzeitig mit der privaten Goldförderung begannen auch die ersten staatlichen Gruben im Altai zu fördern. Später kamen die Goldfelder um Nertschinsk hinzu. Die 1838 in Betrieb genommene Grube von Kara wurde bald zur größten Goldquelle der Krone. Der Anteil dieser Gruben an der gesamten Goldförderung in Sibirien war jedoch nicht groß und überstieg nie 10 Prozent. Es überwog eindeutig die private Goldförderung. Gerüchte über märchenhafte Goldfunde und über die riesenhaften Profite der ersten Goldunternehmer zogen immer neue Goldsucher, mit und ohne Kapital, an. Sibirien wurde vom „Goldfieber" erfaßt. Viele Kaufleute zogen sich vom Handel zurück und legten ihr Geld im Goldgeschäft an. Dieser Vorgang war charakteristisch für die kapitalistische Entwicklung im Rußland der dreißiger bis fünfziger Jahre. 1841 zählte die sibirische Goldindustrie 326 Unternehmer; bis 1861 stieg ihre Zahl auf 1125 an. Die ungewöhnlich hohen Gewinne (sie betrugen in den vierziger Jahren in der Regel 800 bis 850 Prozent) erklären sich u. a. daraus, daß Sträflinge und Verbannte die schwere Arbeit in den Goldgruben verrichteten und dafür nur wenig Lohn erhielten. Sträflinge mußten während der Arbeit Fußfesseln tragen. Die Investitionen waren gering und die Technik äußerst primitiv. Die eigentliche Schwerarbeit, das Abtragen der über dem goldhaltigen Sand liegenden Lehm- und Kiesschicht, mußten die Arbeiter mit Brecheisen, Spaten und ähnlich einfachen Arbeitsgeräten verrichten. Auf kleinen Tragen wurden der Lehm und 7

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. II, S. 394 ff.

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der Kies in der Nähe der Grube aufgeschüttet. Hatte man die goldhaltige Schicht erreicht, mußte auf die gleiche beschwerliche Weise der goldhaltige Sand in Tragen zur Spülmaschine gebracht werden. Mit Wasser vermischt, wurde er in einem Eisentrichter durchgerüttelt, um das Gold vom tauben Gestein zu trennen. Die Mechanisierung dieses Arbeitsvorganges setzte sehr langsam ein und erfolgte zuerst in den Privatunternehmen. Die staatlichen Gruben, in denen überwiegend Sträflinge die schwere Arbeit verrichteten, waren wegen der geringen Lohnkosten an einer Mechanisierung der Arbeit wenig interessiert. Insgesamt betrug die sibirische Goldausbeute in den ersten 30 Jahren (bis 1860) 23 506 Pud 7 Pfund reines Gold. Damit stand Rußland in den dreißiger bis fünfziger Jahren an der Spitze der Goldproduzenten in der Welt. Es förderte 1831 bis 1840 35,2 Prozent, 1841 bis 1850 39,3 Prozent des gesamten Goldes in der Welt. 8 Diese Spitzenstellung konnte jedoch nur kurze Zeit gehalten werden. Die Goldvorkommen in Kalifornien (entdeckt 1848) und in Australien (entdeckt 1851) versetzten die USA und Großbritannien in die Lage, Rußland schon in den fünfziger Jahren auf den dritten Platz zu verweisen. Nach den Reformen von 1861 vollzogen sich in der gesamten Bergbauindustrie Sibiriens Veränderungen. Die geringe Mechanisierung und der Einsatz von Sträflingen und Verbannten als Arbeitskräfte drückten die Arbeitsproduktivität auf ein äußerst niedriges Niveau. Das wirkte sich vor allem überall dort besonders aus, wo die Bodenschätze nicht dicht unter der Erde lagen, ihr Vorkommen gering war und ihre Förderung schwieriger wurde. Die private Goldindustrie paßte sich den veränderten Bedingungen an. Die schwere Arbeit des Goldwaschens wurde zum Teil mechanisiert. An einer Reihe von Gruben entstanden Eisenbahnlinien. In den neunziger Jahren wurden in der Nähe von Gruben im Altai und ah der Lena die ersten Wasserkraftwerke gebaut. Der erzeugte Strom diente zur Mechanisierung des Bergbaues. Nach der Reform veränderte sich auch die Zusammensetzung der Beschäftigten in den privaten Betrieben. Der Anteil der Lohnarbeiter stieg an. Der Goldbergbau beschäftigte den größten Teil der Lohnarbeiter Sibiriens. Es handelte sich meistens um Saisonarbeiter, die nur während der Sommermonate beschäftigt wurden. Die Fluktuation war hier daher besonders stark. Anders sah es in den meisten staatlichen Bergbauunternehmen aus. Diese konnten auf die Dauer nicht mit den privaten kapitalistischen 8

Vgl. ebenda, S. 397.

55

Betrieben konkurrieren. Die Produktion der Edelmetall- und Bleiwerke im Altai und in Nertschinsk ging unaufhaltsam zurück. Die Methode der extensiven Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe Sibiriens, die im Goldbergbau lange Zeit dominierte, wurde auch im Kohlebergbau angewandt. Zwischen der Entdeckung der ersten Steinkohlenvorkommen in Sibirien im 18. Jh. und der industriellen Verwertung lag eine große Zeitspanne. In den zwanziger Jahren des 19. Jh. wurden erste Versuche zur Nutzung von Steinkohle in den metallurgischen Werken im Altai durchgeführt. Es dauerte aber noch einige Zeit, ehe die Steinkohle die Holzkohle verdrängte. Als in den vierziger Jahren Geologen ein umfangreiches Steinkohlenvorkommen in der Umgebung von Kusnezk entdeckten, entsandte man aus Petersburg zwar eine Expertenkommission, doch das Interesse an der industriellen Erschließung und Nutzung der entdeckten Vorräte blieb im 19. Jh. äußerst gering.9 Die Entwicklung des Bergbaus wies alle typischen Merkmale des Kapitalismus in Sibirien auf: langsamere Entwicklung der Produktivkräfte als im europäischen Rußland; geringere Mechanisierung; Einfluß der vor allem in der verarbeitenden Industrie stark verbreiteten wirtschaftlichen Vielschichtigkeit (mnogoukladnost). Noch in stärkerem Maße als die Wirtschaft im europäischen Teil Rußlands wurde die Sibiriens im 19. Jh. von allen Formen der industriellen Produktion — von der Hausindustrie bis zu kapitalistischen Fabrikunternehmen — geprägt.10 Entsprechend langsam bildete sich das Industrieproletariat heraus. Vor der Reform von 1861 beschäftigten die Industrie9

10

56

Vgl. ebenda, S. 402 f. Die intensive Förderung anderer Bodenschätze, z. B. Graphit, widerlegt keineswegs diese allgemeine Tendenz. Im Gegenteil: Die Entdeckung eines Graphitvorkommens Anfang der vierziger Jahre in der Nähe von Botogol geschah unter günstigen Vorzeichen. Sehr bald hatte sich nämlich herausgestellt, daß die Erschließung dieser Fundstätte große Gewinne versprach, und es fand sich ein französischer Kaufmann namens Alibert, der 1847 die Genehmigung für die Förderung von Graphit aus Botogol bekam. Der geschickte Unternehmer wurde bald zum hauptsächlichen Graphitlieferanten für die bekannte Faber-Fabrik bei Nürnberg. Die Erfolge des französischen Kaufmanns spielten sicherlich eine wichtige Rolle für das Interesse sibirischer Kaufleute an weiteren Graphitfunden. 1859—1863 wurden Graphitfundstätten im Jenisseisker Gouvernement entdeckt. Sehr bald erhielten Fabriken in Perm und Petersburg, aber auch in London, Hamburg und Würzburg große Lieferungen sibirischen Graphits bester Qualität. Vgl. Bocanova, G. A., Obrabatyvajuscaja promyslennost' Zapadnoj Sibiri konec XIX - nacalo XX v., Novosibirsk 1978.

betriebe über 90000 Menschen. Die Mehrzahl davon war für die Arbeiten in den der Krone gehörenden Bergwerken zwangsverpflichtet. Freie Lohnarbeiter machten nur 37 Prozent der Gesamtzahl der Beschäftigten aus. Nach der Reform verließen viele der Zwangsverpflichteten die Betriebe. Die Zahl der Lohnarbeiter stieg merklich erst in den neunziger Jahren wieder an, als der Bau der sibirischen Eisenbahn in Angriff genommen wurde. Nach Angaben der 1897/98 in Rußland durchgeführten Volkszählung betrug die Zahl der Lohnempfanger in Sibirien insgesamt fast 400000. Sie verteilten sich folgendermaßen nach Wirtschaftszweigen: Tabelle 1 Landwirtschaft Fischerei und Jagdwirtschaft Wald- und Forstwirtschaft Baugewerbe Industrie Transport und Verkehr Tagelöhner und ungelernte Arbeiter Dienstboten u. ä.

139 300 3 300 11500 27800 61700 16600 67900 70000

Lohnempfänger Lohnempfänger Lohnempfänger Lohnempfänger Lohnempfänger Lohnempfänger Lohnempfänger Lohnempfänger

(Istorija Sibiri s drevnejsich vremen do nasich dnej v pjati tomach, Bd. III, Leningrad 1968, S. 50)

Diese offizielle Statistik widerspiegelte jedoch die tatsächliche Lage auf dem sibirischen Arbeitsmarkt nur sehr ungenau. Die Zahl der Arbeiter war nicht konstant, sondern schwankte innerhalb der einzelnen Gruppen beträchtlich. Das lag vor allem daran, daß in den Betrieben, in denen der größte Teil der Industriearbeiter beschäftigt war, meist nur Saisonarbeiter vermittelt wurden. Ein anderer Grund waren die Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Arbeit in den Gruben und Bergwerken war meistens nicht nur gesundheitsschädigend, sondern oft lebensgefährlich. Die Zahl der Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang war sehr hoch. 182 tödliche Unfälle gab es beispielsweise allein im Altai in den Jahren 1884 bis 1886. Aber auch unter „normalen" Bedingungen reichten 5 bis 6 Jahre, um als Krüppel den Betrieb zu verlassen. Gewöhnlich arbeitete man in diesen Betrieben nur so lange, bis die größte materielle Not gelindert war, wollte man nicht seine Gesundheit aufs Spiel setzen. Es blieb immer noch die Hoffnung, als Goldsucher eines Tages sein Glück aus der Erde zu graben. Auf der Suche nach dieser Fata Morgana durchwanderten 5

Thomas, Sibirien

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viele Sibirien, gingen von einer Grube zur anderen, litten Hunger, Not, Einsamkeit und Kälte. Wenn die Zahl solcher Wanderarbeiter auch nicht überschätzt werden darf — sie wurde gegen Ende des Jahrhunderts ständig geringer —, so zog doch mit ihnen der „Geist" des Abenteuerlichen noch lange durch das Land. Auch der Handel spielte bei der Entwicklung des Kapitalismus in Sibirien eine wesentliche Rolle. Die wichtigsten Handelswege nach und durch Sibirien hatten sich vom 17. bis zum Anfang des 18. Jh. herausgebildet. Der Bevölkerungszuwachs und die beginnende wirtschaftliche Erschließung Sibiriens führten zwar zu einer Steigerung des Handelsumsatzes, aber das Warensortiment blieb fast unverändert. Ein gewisser Wandel zeichnete sich seit Mitte des 19. Jh. ab. Ausschlaggebend dafür waren die Goldförderung in Sibirien und die Entwicklung der Textil- und metallverarbeitenden Industrie im europäischen Rußland. Spürbar wuchs auch die Nachfrage nach einigen landwirtschaftlichen Produkten, die in größerem Maße als bisher auf den Jahrmärkten gehandelt wurden. Jahrmärkte spielten im sibirischen Handel bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. eine entscheidende Rolle. 1852 wurden in ganz Sibirien 1581 Genehmigungen für den Handel vergeben, 1171 davon an Kaufleute, 410 an Bauern, für die der Handel zur Hauptbeschäftigung wurde. Großhandelskaufleute mit beträchtlichem Kapital belieferten die Jahrmärkte von Irbit, Nishni Nowgorod und Moskau. Die Einzelhändler bekamen die Waren meist auf Kredit mit hohen Zinsforderungen. Die Kredite zahlte man entweder mit Geld oder, was nicht selten vorkam, mit Waren aus Sibirien zurück. Pelze, Gold und andere Edelmetalle waren besonders gefragt. Regelmäßige Jahrmärkte veranstalteten die meisten sibirischen Großstädte: Irbit, Tobolsk, Tjumen, Jenisseisk, Irkutsk, Werchneudinsk, Jakutsk, Anui u. a. Oft hielten auch Dörfer ihre regelmäßigen Jahrmärkte ab. Im Jahre 1852 fanden z. B. allein in Ostsibirien 93 Jahrmärkte statt. Der Gesamtwert der dort angebotenen Waren betrug über 2 Mill. Rubel; verkauft wurden Waren für knapp 1 Mill. Rubel. Diese Form des Handels prägte den Charakter der meisten sibirischen Städte, die in erster Linie Handelszentren waren. Da die Industrie hier nur schwach entwickelt war, hing ihr Schicksal weitgehend von der Handels- und Verkehrssituation ab. Ebenso wie schon zwei Jahrhunderte zuvor das legendäre Mangaseja waren auch später die sibirischen Städte von den Launen des Kaufmannsglücks abhängig. Zu den größten Handelsstädten an der Grenze zwischen Europa und Asien zählte noch Mitte des 19. Jh. Irbit. Bis zu 10000 58

Kaufleute aus dem Ural und aus Sibirien reisten zu den Irbiter Jahrmärkten an. Im Jahre 1885 erreichte der Wert der hier angebotenen Waren die Rekordsumme von 69 Mill. Rubel, der Umsatz die maximale Höhe von 65,7 Mill. Rubel. Danach verlor Irbit sehr rasch seine Rolle als größtes europäisches Handelstor nach Sibirien, da die Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke bis Tjumen die direkte Beförderung der Waren nach Westsibirien erlaubte. Auch die Transporte auf dem Seewege nahmen zu. Tjumen übernahm unter diesen neuen Verkehrsbedingungen nunmehr die Rolle des Umschlagplatzes für die nach Sibirien bestimmten Waren, bis einige Jahre später der Bau der Transsibirischen Magistrale eine neue Lage schuf. Eine charakteristische Figur des sibirischen Handels war der Wucherer. Das Wuchersystem bildete sich auch hier als Begleiterscheinung der unzureichenden Entwicklung des Kapitalismus heraus. Wie überall an der ökonomisch schwach entwickelten Peripherie Rußlands war der Warenumsatz nur mit Hilfe von langfristigen Krediten möglich. Das ganze System des Kaufs und Verkaufs funktionierte nur mittels Kapitalanleihen. Das Netz der Kreditinstitutionen in Sibirien war jedoch sehr unzureichend. Die wenigen erst im Entstehen begriffenen Banken orientierten sich nur auf die solide Kaufmannskundschaft. In Irkutsk existierte z. B. die Medwednikow-Bank, die für 6 Prozent Zinsen im Jahr an ihre Kundschaft, die fast ausschließlich aus soliden Irkutsker Kaufleuten bestand, Geld auslieh. Der gesamte Umsatz der Bank wuchs zwischen 1851 und 1874 von 0,3 auf 6,8 Mill. Rubel. Die Gesellschaftsbank in Tomsk hatte einen Umsatz von etwa 66 Mill. Rubel jährlich. In Tobolsk wurde 1868 eine Gesellschaftsbank eröffnet, deren Kapital innerhalb von 7 Jahren um mehr als das Dreifache zunahm. Insgesamt gab es in Westsibirien in den siebziger und achtziger Jahren 11 Banken. In den Dörfern jedoch herrschte uneingeschränkt das Wuchersystem, das besonders in Geschäften mit der nichtrussischen Bevölkerung blühte. Dieser Wucher brachte einige Jägerstämme an den Rand ihrer Existenz, so daß schon 1819 die sibirische Administration eingreifen mußte. Mit einem Erlaß versuchte sie allerdings erfolglos gegen die Wucherer vorzugehen. Durch Sibirien lief auch ein beträchtlicher Teil des Außenhandels Rußlands. Über den sogenannten Sibirischen Zollbezirk, dessen Hauptpunkte die Städte Petropawlowsk, Semipalatinsk und Omsk waren, ging der Handel mit den Ländern Mittelasiens sowie mit China und der Mongolei. Eine besondere Rolle spielte der Handel mit China über Ostsibirien, vorwiegend über Kjachta. 5'

59

„Kjachta, das auf der Grenzlinie zwischen der Mongolei und Sibirien liegt, scheint auf den ersten Blick nichts weiter als ein großes, wohlhabendes Dorf zu sein . . . Nichtsdestoweniger passieren Kjachta auf dem Weg von oder nach der Mongolei jährlich russische und chinesische Waren im Wert von 20 bis 30 Mill. Rubel (10 bis 15 Millionen Dollar). Fast der gesamte berühmte Karawanentee, der in Rußland getrunken wird, kommt in Karawanen über die Mongolei aus Nordchina, erreicht über Kjachta das Zarenreich und wird, nachdem er sorgfaltig umgepackt und in ungegerbte Häute eingenäht worden ist, quer durch Sibirien . . . nach St. Petersburg, Moskau oder auf die große Jahresmesse von Nishni Nowgorod gebracht. Über Kjachta wurden nach Rußland auch Seide, Krepp und andere speziell chinesische Erzeugnisse e i n g e f ü h r t . . . In das chinesische Kaiserreich wurden hauptsächlich russische Industriewaren, Hirschhorn zu Heilzwecken, Ginsengwurzeln, Pelze und Edelmetall in Gestalt russischer, englischer und amerikanischer Münzen ausgeführt. Selbst die Silberdollars der Vereinigten Staaten nehmen ihren Weg in das b l u m e n reich' durch Sibirien. Unter den russischen Handelsleuten in Kjachta gibt es sehr wohlhabende Männer, von denen einige aus ihren geschäftlichen Unternehmungen im allgemeinen und aus dem Teehandel im besonderen ein jährliches Einkommen von 75000 bis 150000 Dollar erzielen." 11 Der bekannte amerikanische Sibirienreisende George Kennan schrieb seine Eindrücke über Kjachta zu einer Zeit, als das Monopol der Stadt im russisch-chinesischen Handel bereits gebrochen war. Den höchsten Aufschwung hatte die Stadt zu Beginn des 19. Jh. erlebt. Durch Kjachta ging zu jener Zeit der wichtigste und zukunftsträchtigste Teil des russischen Außenhandels. Obwohl der Export Rußlands in Richtung Osten nur 10 Prozent des gesamten Außenhandels ausmachte, ist seine Bedeutung weit höher einzuschätzen, da es sich hierbei, im Unterschied zum übrigen Außenhandel, vorwiegend um den Absatz von Industriewaren (und nicht von Rohstoffen) handelte. Kjachtas Bedeutung als Umschlagplatz sank erst, als den russischen Kaufleuten ab 1854 erlaubt wurde, mit China direkt Handel zu treiben. Russische Kaufleute brachten ihre Waren nun selbst über die Grenze nach China und kauften dort Tee ein. Seit 1863 entstanden russische Teefabriken und Handelskontore für den Teehandel direkt auf chinesischem Boden. Im Jahre 1861 hatte Kjachta eine weitere Einschränkung seines Handelsmonopols hinnehmen müs11

60

Kennan, G.,. . . und der Z a r ist weit. Sibirien 1885, Berlin 1975, S. 419f.

sen. Die Regierung bestimmte eine 50 Werst breite Zone an der Grenze für den zollfreien Handel. Der Zoll wurde aus Kjachta nach Irkutsk verlagert. Es verlor damit endgültig seine Monopolstellung und blieb nur noch für den Teehandel von Bedeutung.12 In den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jh. wurden auch Versuche unternommen, den direkten Handel mit Westeuropa von Sibirien aus zu organisieren. Dabei gab es verschiedene Varianten. Englische und dänische, später auch deutsche Handelsunternehmen versuchten, den Seeweg über das Nördliche Eismeer in die Ob- bzw. Jenissei-Mündungen für sich zu erschließen.13 Versuche, feste Handelsbeziehungen auf diesem Wege in Gang zu bringen, scheiterten jedoch nicht nur an technischen Problemen, sondern vor allem an der ablehnenden Haltung der russischen Handelsbourgeoisie, die das Vordringen der Ausländer nach Sibirien aus Konkurrenzgründen zu verhindern suchte. Mehr Erfolg hatten die ausländischen Handelsfirmen, die ihr Glück im Fernen Osten versuchten. Vor allem über Wladiwostok kamen Waren in großem Umfang aus europäischen Staaten, aus Japan und den USA. In den Jahren von 1887 bis 1889 betrug der Gesamtwert dieser Waren jährlich weit über 5 Mill. Rubel; 30 Prozent davon kamen aus Deutschland. Die Entwicklung des Handels stimulierte die Ware-Geld-Beziehungen in Sibirien und förderte damit das weitere Vordringen kapitalistischer Verhältnisse in Industrie und Landwirtschaft. Allerdings blieben Tempo und Intensität dieser Entwicklung in Sibirien vorerst weit hinter denen des europäischen Rußlands zurück.

2. Die Umsiedlungen. Veränderungen in der Landwirtschaft Für das bevölkerungsarme Sibirien hatte die Übersiedlung von Bewohnern benachbarter Gegenden stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Übersiedlung aus dem europäischen Teil Rußlands verlief in 12

13

Vgl. Wolff, H., Alte und neue Wege des Weltverkehrs in und durch Sibirien, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1955, H. 1, S. 6, 12 f. Das Interesse am Handel über das Nördliche Eismeer bildete auch den Hintergrund der Expedition des Schweden Nordenskjöld. Die finanzielle Unterstützung der Durchfahrt sicherte der ostsibirische Handelsmann Sibirjakov. Auf dem Schiff Vega gelang ihm 1878/79 die nordöstliche Durchfahrt, wenn auch mit Überwinterung. 61

sen. Die Regierung bestimmte eine 50 Werst breite Zone an der Grenze für den zollfreien Handel. Der Zoll wurde aus Kjachta nach Irkutsk verlagert. Es verlor damit endgültig seine Monopolstellung und blieb nur noch für den Teehandel von Bedeutung.12 In den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jh. wurden auch Versuche unternommen, den direkten Handel mit Westeuropa von Sibirien aus zu organisieren. Dabei gab es verschiedene Varianten. Englische und dänische, später auch deutsche Handelsunternehmen versuchten, den Seeweg über das Nördliche Eismeer in die Ob- bzw. Jenissei-Mündungen für sich zu erschließen.13 Versuche, feste Handelsbeziehungen auf diesem Wege in Gang zu bringen, scheiterten jedoch nicht nur an technischen Problemen, sondern vor allem an der ablehnenden Haltung der russischen Handelsbourgeoisie, die das Vordringen der Ausländer nach Sibirien aus Konkurrenzgründen zu verhindern suchte. Mehr Erfolg hatten die ausländischen Handelsfirmen, die ihr Glück im Fernen Osten versuchten. Vor allem über Wladiwostok kamen Waren in großem Umfang aus europäischen Staaten, aus Japan und den USA. In den Jahren von 1887 bis 1889 betrug der Gesamtwert dieser Waren jährlich weit über 5 Mill. Rubel; 30 Prozent davon kamen aus Deutschland. Die Entwicklung des Handels stimulierte die Ware-Geld-Beziehungen in Sibirien und förderte damit das weitere Vordringen kapitalistischer Verhältnisse in Industrie und Landwirtschaft. Allerdings blieben Tempo und Intensität dieser Entwicklung in Sibirien vorerst weit hinter denen des europäischen Rußlands zurück.

2. Die Umsiedlungen. Veränderungen in der Landwirtschaft Für das bevölkerungsarme Sibirien hatte die Übersiedlung von Bewohnern benachbarter Gegenden stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Übersiedlung aus dem europäischen Teil Rußlands verlief in 12

13

Vgl. Wolff, H., Alte und neue Wege des Weltverkehrs in und durch Sibirien, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1955, H. 1, S. 6, 12 f. Das Interesse am Handel über das Nördliche Eismeer bildete auch den Hintergrund der Expedition des Schweden Nordenskjöld. Die finanzielle Unterstützung der Durchfahrt sicherte der ostsibirische Handelsmann Sibirjakov. Auf dem Schiff Vega gelang ihm 1878/79 die nordöstliche Durchfahrt, wenn auch mit Überwinterung. 61

Wellen, sie war von mehreren Faktoren, nicht zuletzt von der Bevölkerungspolitik der Regierung abhängig. Aber erst die Transsibirische Eisenbahn, die Ende der neunziger Jahre des 19. Jh. fertiggestellt wurde, bot die Voraussetzung für eine Massenumsiedlung hinter /den Ural. Bereits vorher hatte die Übersiedlung nach Sibirien schon merklich zugenommen. Einen Einschnitt bildeten die Reformen von 1861 mit der Abschaffung der Leibeigenschaft. Bis dahin war die Politik des Zaren gegenüber den Umsiedlern zwar widersprüchlich und inkonsequent, doch letzten Endes den Interessen der Großgrundbesitzer verpflichtet. Daran änderte sich zunächst auch nach 1861 nicht viel. Nach wie vor war die herrschende Klasse daran interessiert, die Zahl der Bauern im europäischen Teil Rußlands konstant zu halten. Allerdings besaßen die Gutsbesitzer nicht mehr das Recht, die Bauern zum Verbleiben in ihren Dörfern zu zwingen. Für einige Gebiete mußte die Regierung aber die Umsiedlung fördern. Aus staatspolitischen Gründen begünstigte sie in den sechziger Jahren die Besiedlung der Grenzgebiete des Fernen Ostens. 1865 wurde die Übersiedlung in Gebiete des Altai, die der Krone gehörten, aktiv unterstützt. Es waren zwar zuerst nur Einzelregelungen, doch der wachsende Bedarf der entstehenden kapitalistischen Wirtschaft an freien Arbeitskräften hatte zur Folge, daß schon in den achtziger Jahren die offizielle Politik gegenüber den Übersiedlungen immer durchlässiger wurde. Das 1889 angenommene Gesetz, das die Übersiedlungspraxis regelte, sah im Falle der offiziellen Genehmigung der Übersiedlung Kredite und Vergünstigungen für den Betreffenden vor. 14 Allerdings war es nach wie vor nicht einfach, eine offizielle Erlaubnis zu bekommen. Die meisten Umsiedler kamen ohne offizielle Erlaubnis nach Sibirien; sie konnten demzufolge auch nicht mit Krediten rechnen. Das Risiko, alles zu verlieren, war in solchen Fällen besonders groß. Die Zahl der Umsiedler nach Sibirien in der Zeit zwischen 1861 und der Fertigstellung der ersten Abschnitte der Transsibirischen Eisenbahn läßt sich nicht genau feststellen. Die systematische Registrierung der aus dem europäischen Rußland eintreffenden Bauern begann erst 1885. L. Gorjuschkin und andere Autoren geben für die Jahre von 1885 bis 1895 470000 Übersiedler an. 15 Fast die Hälfte davon blieb 14

15

Vgl. Zidkov, G. P., Pereselenceskaja politika Kabineta v 1865—1905 g., in: Voprosy istorii Sibiri dosovetskogo perioda, Novosibirsk 1973. Vgl. Gorjuskin, L. M., Sibirskoe krestjanstvo na rubeze dvuch vekov, konec XIX — nacalo XX, Novosibirsk 1967, S. 67.

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in Westsibirien, wobei die fruchtbaren Gegenden im Altai besondere Anziehungskraft ausübten. Diese Zahlen, die anhand der offiziellen Statistik aus jener Zeit errechnet wurden, geben nur eine ungefähre Vorstellung vom Ausmaß der Übersiedlungen. Da die meisten Bauern illegal nach Sibierien kamen, waren die örtlichen Behörden oft nicht in der Lage, ihren vorgesetzten Dienststellen genaue Angaben zu übermitteln. Es kam vor, daß über Jahre hinweg neu gegründete Siedlungen von den Steuerbeamten nicht entdeckt wurden. Die soziale Zusammensetzung der Bauern, die sich zur Übersiedlung entschlossen, war relativ einheitlich. Zumeist handelte es sich um Mittelbauern, die in den Heimatdörfern mit ihrem geringen Besitz recht und schlecht durchs Jahr kamen und ständig befürchten mußten, in die Dorfarmut abzusinken. Sie verkauften ihr Hab und Gut, um die nötigen Mittel für die Übersiedlung zusammenzubekommen. Ein wenn auch geringer Besitz war Voraussetzung, um die Kosten für den langen Weg und für den ersten Winter in der neuen Umgebung tragen zu können. Die Bauern verließen ihre Heimatorte im Frühjahr, um die Strecke bis zum Bestimmungsort während der warmen Jahreszeiten zu bewältigen. Meistens versammelten sie sich in Gruppen von je 40 bis 50 Familien. Sie übernachteten im Freien, ließen das Vieh, vor allem die Pferde, die sie meistens mitnahmen, frei weiden. Pro Tag bewältigten sie durchschnittlich 35 bis 40 km und kamen gewöhnlich, je nach Entfernung des Ortes, zwischen Mai und Oktober in Sibirien an. In der Regel versuchten sie, sich schon länger bestehenden großen Dörfern anzuschließen. Dort bestand die Möglichkeit, Wohnung, Arbeit und Nahrung bis zur ersten eigenen Ernte und bis zum Bau eines eigenen Hauses zu bekommen. Doch nicht immer waren die „Neuen" in solchen Dörfern gern gesehen. Nicht selten verlangte die Gemeinde große Summen für das Recht, bei ihnen zu bleiben. Manchmal jagte man die Übersiedler einfach weg, so daß ihnen nichts weiter übrigblieb, als eigene Siedlungen zu gründen. Solche neuen Dörfer entstanden vor allem in Westsibirien.16 Sie wurden immer seltener, je weiter die Umsiedler nach Osten kamen. In einer besonders schwierigen Situation befanden sich die Übersiedler, die bis in die Amur- und Küstengebiete des Fernen Ostens zogen. Der Weg dorthin war in der Regel während eines Sommers nicht zu bewältigen. Das Überwintern unterwegs, zumeist in Irkutsk, kostete 16

Auf solch ein Dorf geht die Entstehung der Stadt Novosibirsk zurück. Vgl. Gorjuskin, L. M., Bocanova, G. A., Cepljaev, L. N., Novosibirsk v istoriceskom proslom, Novosibirsk 1978, S. 32 ff.

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der Mehrzahl von ihnen das letzte Geld. Später versuchte man, die Umsiedler auf dem Seewege in das Amurgebiet zu transportieren. Das erleichterte ihre Lage etwas. Aber auch hier war vieles schwerer als in anderen Teilen Sibiriens. Siedlungen mußten erst gegründet werden, und die Nähe der Grenze brachte besondere Unsicherheit mit sich. Die große Entfernung verstärkte das Gefühl, von der gewohnten Welt abgeschnitten zu sein. Erst in der nächsten Generation gelang in der Regel die Anpassung. Auch zu Beginn der kapitalistischen Phase der Bauernkolonisation war der Anteil der unfreiwilligen Kolonisation vor allem nach Ostsibirien nach wie vor groß. Der Zuwachs der bäuerlichen russischen Bevölkerung in den zentralen, für die Landwirtschaft geeigneten Gebieten Jakutiens erfolgte ausschließlich durch Verbannung. Es entstanden mitten in den von Jakuten besiedelten Gebieten der mittleren Lena und des Wiljui russische Siedlungen, deren Bevölkerung sich sehr stark an die jakutischen Sitten (Lebensweise, Baustil, Kleidung usw.) anpaßte. Nicht selten kam es sogar vor, daß diese russischen Bauern die jakutische Spache übernahmen. Noch heute findet man in der Nähe von Jakutsk russische Dörfer, deren Einwohner untereinander jakutisch sprechen. Der Einfluß der Umsiedler auf die Entwicklung Sibiriens war vielschichtig. Sie brachten einige bis dahin hier unbekannte Getreidesorten sowie neue Methoden der Bodenbearbeitung und der Wirtschaftsführung in die sibirischen Dörfer. Darüber hinaus beschleunigten die Umsiedler die Entwicklung des Kapitalismus im sibirischen Dorf. Sie waren billige Arbeitskräfte und gleichzeitig Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte und trugen ganz wesentlich zur Differenzierung der bäuerlichen Bevölkerung bei. Es kam zwar vor, daß Umsiedler die Anfangsschwierigkeiten überwanden, große und stabile Wirtschaften gründeten und dann zu wohlhabenden Bauern aufstiegen. Doch in den ersten Jahren waren sie fast alle als Landarbeiter tätig. Viele blieben für immer auf dieser unteren sozialen Stufe der Landbevölkerung. Nahezu aussichtslos, aus dem Armen- und Bettlerdasein herauszukommen, war es für den Teil der Bauern, der nach Sibirien verbannt wurde. Er bildete den festen Bestandteil der sibirischen Dorfarmut und war eine ständige Quelle für billige Arbeitskräfte. In den Jahren zwischen 1858 und 1897 hatte sich die Bevölkerung Sibiriens fast verdoppelt, sie wuchs von 2936000 auf 5760000. 17 Am

17

64

Istorija Sibiri, Bd. III, S. 27.

schnellsten nahm die Bevölkerung in den Gegenden zu, die an der Hauptader des Umsiedlerstroms lagen. Im Jahre 1893 erschienen in Irkutsk „Materialien zur Untersuchung der Bodennutzung und der wirtschaftlichen Verhältnisse der Landbevölkerung der Gouvernements Irkutsk und Jenisseisk". Sie enthielten u. a. Gruppentabellen der Bauern- und Siedlerwirtschaften in 4 Bezirken des Gouvernements Jenisseisk, die W. I. Lenin als Bestätigung der These über die Auflösung der Bauernschaft nach der Reform benutzte. Er stellte anhand der Materialien fest, daß die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Differenzierung innerhalb der Bauernschaft auch für Sibirien zutraf. In diesem Gouvernement, das zu den typischen landwirtschaftlichen Gebieten Sibiriens zählte, gab es 3 Gruppen von Bauern, die hinsichtlich der Größe des Ackerlandes, der Zahl der Pferde und der Anzahl der von ihnen beschäftigten Lohnarbeiter unterschieden wurden. Ende des 19. Jh. gehörten im Durchschnitt 47,6 Prozent zur unteren (bis zu 5 Desjatinen Ackerland und 2 Pferde), 31,2 Prozent zur mittleren (5 bis 15 Desjatinen Ackerland und 3 bis 4 Pferde) und 21,2 Prozent zur oberen Gruppe. Abweichungen gab es nur im Verhältnis zwischen den 3 Gruppen (im Tomsker Gouvernement z. B. war die untere Gruppe mit 56 Prozent wesentlich größer) und im Grad der Verarmung innerhalb der unteren Gruppe. In einigen Kreisen des Tomsker Gouvernements hatte bis zu ein Viertel der Höfe gar kein Ackerland. Am anderen Ende der Skala befand sich die Dorfbourgeoisie. Einzelne Großbauern in der Nähe von Irkutsk besaßen bis zu 300 Desjatinen Ackerland. Auf Viehzucht spezialisierten sich die Kulaken hinter dem Baikal. Wenn es sich, wie im Falle des Kosaken Schestakow, um einen Besitz von 3864 Pferden, 642 Rindern, 394 Kamelen, 17127 Schafen und 55 Ziegen handelte, so konnte hier schon nicht mehr von einem Bauern gesprochen werden, sondern von einem Dorfkapitalisten, der außerdem jährlich 46 Knechte beschäftigte.18 Bei der vergleichenden Untersuchung der Eigentumsverhältnisse in der russischen Landwirtschaft stieß W. I. Lenin sehr bald auf Besonderheiten, die für Sibirien typisch waren. Neben dem schon erwähnten Umstand, daß hier Großgrundbesitz fast völlig fehlte, gab es eine andere wichtige Abweichung. Während im europäischen Rußland die Forderung nach Neuaufteilung des Bodens die Agrarbewegungen und die Agrarprogramme jener Zeit beherrschte, fehlte 18

Ebenda, S. 38 f.

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sie in Sibirien fast völlig. „Die Sache ist die", schrieb Lenin, „daß in Sibirien eben die Bedingungen fehlen, die diese Regel geschaffen haben, es gibt hier kein obligatorisches und ausgleichendes' Anteilland, kein ausgebildetes Privateigentum an Grund und Boden. Der wohlhabende Bauer kauft und pachtet kein Land, er nimmt es einfach in Besitz (so war es wenigstens bisher); Pachtung und Verpachtung tragen eher den Charakter nachbarlicher Austauschakte . .," 1 9 In der zweiten Hälfte des 19. Jh. gehörte Sibirien zu den wenigen Gebieten Rußlands, in denen die Inbesitznahme des Bodens noch sehr verbreitet war. Diese Praxis, die aus den besonderen Bedingungen der Bodennutzung erwuchs, sah meistens folgendermaßen aus: Solange ein Bauer einen bestimmten Teil des Gemeindebodens bearbeitete, wurde dieser ihm zugeschrieben. Erst nachdem die Felder eine bestimmte, von der Dorfgemeinde festgelegte Zeit unbestellt blieben, wurden sie frei und konnten von einem anderen Bauern übernommen werden. Die Dorfgemeinde spielte dabei die regulierende Rolle, da sie über den Boden verfügte. Diese Praxis existierte allerdings nicht überall. Sie war vor allem in den landwirtschaftlichen Gebieten Westsibiriens verbreitet. Weiter im Osten, wo es noch genug freies Land gab, wurde die Inbesitznahme neuen Bodens in der Regel nur durch die Möglichkeiten des Bauern eingeschränkt, den Boden auch zu bestellen. Da nur die wohlhabenden Bauern sich die Erweiterung ihrer Felder leisten konnten, führte dies überall zur Differenzierung der Bauernschaft. Die zunächst vorhandene Möglichkeit der uneingeschränkten Bodenbeschaffung wurde wenig genutzt, solange die sibirische Landwirtschaft vorwiegend den Charakter einer Naturalwirtschaft hatte und nicht in erster Linie für den Markt produzierte. Das änderte sich mit dem Übergang einiger wichtiger Zweige der Landwirtschaft zur Marktproduktion. Am deutlichsten war diese Veränderung in der Viehwirtschaft Westsibiriens zu beobachten, wo eine Spezialisierung auf bestimmte Molkereiprodukte erfolgte. Lenin schenkte diesen Prozessen bei der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland besondere Beachtung: „Der Umfang der Butter- und Käseerzeugung hat gerade deshalb besondere Bedeutung, weil er von einer völligen Umwälzung in der Landwirtschaft zeugt; diese wird zur Unternehmerwirtschaft und bricht mit der Routine. Der Kapitalismus unterwirft sich eins der Produkte der Landwirtschaft, und diesem Hauptprodukt werden alle anderen Sei19

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Lenin, W.

/., Werke, Bd. 3, S. 116.

ten der Wirtschaft angepaßt." 20 Während im europäischen Rußland, vor allem in den Gebieten um Moskau und Petersburg sich die für eine kapitalistisch produzierende Landwirtschaft typische Spezialisierung schon durchgesetzt hatte, steckte Sibirien noch in den Anfangen. Mehrere Umstände hatten sich hier hemmend auf diese Entwicklung ausgewirkt. Vor allem war es schwierig, in größeren Mengen über den Eigenbedarf hinaus produzierte Butter in der näheren Umgebung zu verkaufen. Die Bauern mußten sich auf weit von den Produktionsstätten entfernt liegende Märkte orientieren. Das damit verbundene Transportproblem wurde zum größten Hindernis für ein gutes Geschäft. Vorerst fand die sibirische Butter nur selten den Weg auf die europäischen Märkte. Nur von dem verhältnismäßig billigen Butterschmalz wurden jährlich etwa 300000 bis 350000 Pud in erster Linie nach Deutschland und in die Türkei exportiert. Nicht viel anders sah es mit der Getreideproduktion für den Markt aus. Sibiriens Landwirtschaft konzentrierte sich vor allem auf den Weizenanbau. In Westsibirien wurden etwa 40 Prozent Weizen, 35 Prozent Hafer und 15 Prozent Roggen ganz Sibiriens angebaut. Der Anteil von Roggen war in Ostsibirien höher, am größten wohl in den Gebieten hinter dem Baikal, wo er fast die Hälfte der gesamten Getreideernte ausmachte. Die Produktion für den Markt stieg nach dem Bau der Eisenbahnstrecke Tjumen/Jekaterinburg spürbar an. Die Angaben darüber sind sehr unterschiedlich und mitunter stark übertrieben. So wurde für die neunziger Jahre die Marktproduktion an Getreide vom Departement für Handel in Sibirien mit 40 Prozent des gesamten Getreideanbaus Rußlands angegeben. Diese Zahl zweifelten schon zeitgenössische Historiker an. Hier hatte man offensichtlich nicht Durchschnittswerte ausgerechnet, sondern Erträge aus den Jahren zugrunde gelegt, in denen ertragreiche Ernten in Sibirien mit besonders schlechten Ernten im europäischen Rußland zusammenfielen. In der Zeit der Mißernten im Wolgagebiet betrug die Ausfuhr d^s sibirischen Getreides nach Rußland etwa 10 bis 13 Mill. Pud. Diese für die neunziger Jahre gültige Zahl stimmte allerdings schon 1901/1902 nichr mehr, da infolge der schlechten Ernte in Sibirien 17 Mill. Pud Getreide aus dem europäischen Rußland eingeführt werden mußten. 21 Insgesamt jedoch kann man in der zweiten Hälfte des 19. Jh. von einem raschen Wandel der Naturalwirtschaft auf dem Land zu einer kapitalistischen Warenwirtschaft sprechen. Dieser 20 21

Ebenda, S. 267. Gorjuskin, a.a.O., S. 75 f.

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Eindruck wird noch verstärkt, wenn man neben der Landwirtschaft auch die ländliche gewerbliche Tätigkeit berücksichtigt. Mit der Ablösung der Naturalwirtschaft entwickelten sich verschiedene Zweige der Rohstoffbearbeitung (z. B. die Lederverarbeitung, das Böttchergewerbe, die Seilerei, Kürschnerei, Filzwalkerei usw.) zu besonderen Zweigen der Hausindustrie (Kustargewerbe).22 Das Kustargewerbe war in den einzelnen Gebieten Sibiriens unterschiedlich entwickelt. In den meisten Gewerben standen Lohnarbeit und Warenproduktion erst am Anfang. Bis zum Bau der Eisenbahn war das Fuhrgewerbe für die sibirischen Bauern die wichtigste Nebenerwerbsquelle. Der Last- und Personentransport durch Sibirien vollzog sich hauptsächlich auf zwei Wegen: entweder auf dem Wasserweg oder mittels Pferdefuhrwerken. Die Beförderung auf dem Wasserweg wurde Mitte des 19. Jh. völlig umgestellt. Im Jahre 1838 baute der Tjumener Kaufmann Tjufin den ersten sibirischen Dampfer, der 1843 seine Jungfernfahrt mit einer Fracht nach Tobolsk unternahm. Die regelmäßige Dampfschiffahrt wurde auf dem Ob in den vierziger Jahren, auf dem Jenissei im Jahre 1863 aufgenommen. Die Einführung der Dampfschiffahrt führte jedoch nicht zu einer Beeinträchtigung des traditionellen Pferdefuhrgewerbes. Im Gegenteil, der Verkehr auf der Großen Sibirischen Landstraße, die vom Ural bis Irkutsk und Nishneudinsk reichte, hatte wesentlich zugenommen. Der schon erwähnte George Kennan, der Mitte der achtziger Jahre diese Straße benutzte, schrieb von „langen Reihen beladener Wagen, die von der sibirischen Grenze her Jekaterinburg zustreben. Diese Wagenzüge oder Obosen sind charakteristisch für fäst alle Gegenden, durch welche die Große Sibirische Straße führt. Es sind kleine, vierrädrige, einspännige Fahrzeuge, schwer und klobig gebaut, mit Produkten vollgepackt und mit groben Matten überdeckt. . . Jedes Pferd ist durch ein langes Halfter an den vorausfahrenden Wagen gespannt, so daß ein Troß von 50 bis 100 Obosen eine durchgehende Karawane von einer viertel bis zu einer halben Länge bildet. Wir begegneten in weniger als zwei Stunden 538 beladenen Wagen, und ich zählte 1445 im Verlauf unseres ersten Reisetages" 23 . Die Große Sibirische Landstraße beeinflußte das Leben der in ihrer Nähe liegenden Dörfer in verschiedener Hinsicht. Die Bauern stellten Pferde zur Verfügung; für die Strecke zwischen zwei Stationen er22 23

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Vgl. Bocanova, a.a.O., S. 31 ff. Kennan, a.a.O., S. 70 f.

hielten sie pro Pferd etwa 25 bis 40 Kopeken; sie dienten als Kutscher ; sie verkauften Lebensmittel an Reisende oder reparierten Wagen. Wohlhabende Bauern konnten es sich leisten, Herbergen zu unterhalten, was als einträgliches Geschäft galt. Der Prozeß der kapitalistischen Differenzierung der Bauernschaft war in diesen Dörfern weit fortgeschritten. An der Großen Sibirischen Landstraße lebten in der Regel sowohl die reichsten als auch die ärmsten Bauern der Umgebung. Die Entwicklung der Landwirtschaft zur warenproduzierenden, von Unternehmern betriebenen Wirtschaft, ein Prozeß, der im europäischen Rußland nach der Reform zur vollen Entfaltung kam, setzte sich auch in Sibirien durch. Die „Abgeschlossenheit des hinterwäldlerischen Dörflers" 2 4 war auch hier schon erschüttert, wenn auch noch bei weitem nicht überwunden. 3. Revolutionäre Ideen u n d R e f o r m versuche Das Jahrhundert, das den Sieg des Kapitalismus in Rußland brachte, stand im Zeichen der Großen Französischen Revolution. Der Einfluß ihrer Ideen auf Rußland ist unbestritten. Kennt man die Zustände im zaristischen Rußland, das nichts mehr fürchtete als revolutionäre Veränderungen der bestehenden Ordnung und sich deshalb auf die Seite der französischen Monarchie schlug, so erklärt sich die Tatsache, daß die Ideen der Revolution auf die russische Gesellschaft nicht sofort und massiv, dafür aber besonders nachhaltig wirkten. Alexander Radischtschew war der erste russische Revolutionär, dessen Ansichten von den Ereignissen in Frankreich mitgeprägt wurden. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1790, der wegen der Zensur als Brief an einen Tobolsker Freund getarnt war, warnt er, nicht zu große Hoffnungen auf den Zaren zu setzen. Es sei nicht zu erwarten, daß der Zar auch nur auf einen Teil seiner Macht freiwillig verzichten würde. Wenig später sollte er auf dem Weg in die siebenjährige sibirische Verbannung Tobolsk selbst kennenlernen. Während eines Zwischenaufenthaltes machte er interessante Studien über das Leben dieser sibirischen Stadt. Der Autor der „Reise von Petersburg nach Moskau" wirkte anregend auf den progressiven Teil der freilich nicht sehr zahlreichen Tobolsker Intelligenz. 25 Der Fall Radischtschew ist 24 25

Lenin, W. /., Werke, Bd. 3, S. 316. Vgl. Trusova, Z. N., K voprosu ob idejnom vlijanii A. A. Radisceva na toboFskich vol'nodumcev, in: Voprosy istorii Sibiri dosovetskogo perioda, Novosibirsk 1969, S. 205—218; Tatarincev, A. T., Radiscev v Sibiri, Moskau 1977.

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hielten sie pro Pferd etwa 25 bis 40 Kopeken; sie dienten als Kutscher ; sie verkauften Lebensmittel an Reisende oder reparierten Wagen. Wohlhabende Bauern konnten es sich leisten, Herbergen zu unterhalten, was als einträgliches Geschäft galt. Der Prozeß der kapitalistischen Differenzierung der Bauernschaft war in diesen Dörfern weit fortgeschritten. An der Großen Sibirischen Landstraße lebten in der Regel sowohl die reichsten als auch die ärmsten Bauern der Umgebung. Die Entwicklung der Landwirtschaft zur warenproduzierenden, von Unternehmern betriebenen Wirtschaft, ein Prozeß, der im europäischen Rußland nach der Reform zur vollen Entfaltung kam, setzte sich auch in Sibirien durch. Die „Abgeschlossenheit des hinterwäldlerischen Dörflers" 2 4 war auch hier schon erschüttert, wenn auch noch bei weitem nicht überwunden. 3. Revolutionäre Ideen u n d R e f o r m versuche Das Jahrhundert, das den Sieg des Kapitalismus in Rußland brachte, stand im Zeichen der Großen Französischen Revolution. Der Einfluß ihrer Ideen auf Rußland ist unbestritten. Kennt man die Zustände im zaristischen Rußland, das nichts mehr fürchtete als revolutionäre Veränderungen der bestehenden Ordnung und sich deshalb auf die Seite der französischen Monarchie schlug, so erklärt sich die Tatsache, daß die Ideen der Revolution auf die russische Gesellschaft nicht sofort und massiv, dafür aber besonders nachhaltig wirkten. Alexander Radischtschew war der erste russische Revolutionär, dessen Ansichten von den Ereignissen in Frankreich mitgeprägt wurden. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1790, der wegen der Zensur als Brief an einen Tobolsker Freund getarnt war, warnt er, nicht zu große Hoffnungen auf den Zaren zu setzen. Es sei nicht zu erwarten, daß der Zar auch nur auf einen Teil seiner Macht freiwillig verzichten würde. Wenig später sollte er auf dem Weg in die siebenjährige sibirische Verbannung Tobolsk selbst kennenlernen. Während eines Zwischenaufenthaltes machte er interessante Studien über das Leben dieser sibirischen Stadt. Der Autor der „Reise von Petersburg nach Moskau" wirkte anregend auf den progressiven Teil der freilich nicht sehr zahlreichen Tobolsker Intelligenz. 25 Der Fall Radischtschew ist 24 25

Lenin, W. /., Werke, Bd. 3, S. 316. Vgl. Trusova, Z. N., K voprosu ob idejnom vlijanii A. A. Radisceva na toboFskich vol'nodumcev, in: Voprosy istorii Sibiri dosovetskogo perioda, Novosibirsk 1969, S. 205—218; Tatarincev, A. T., Radiscev v Sibiri, Moskau 1977.

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ein typisches Beispiel, auf welchem Wege Sibirien relativ schnell Nachrichten über revolutionäre Bewegungen und Ideen erreichten. Es war kein Zufall, daß einige Monate nach dem Aufenthalt Radischtschews in Tobolsk in der Kathedrale der Stadt aufrührerische Predigten gehalten wurden. In der Predigt anläßlich der Vermählung des Thronfolgers Alexander am 10. November 1793 hieß es: „Das Schweigen des Volkes ist ein erzwungenes Schweigen, es dauert an, bis die Unzufriedenheiten, die allmählich die Geduld der Gesellschaft reizen, es durchbrechen. Es ist wahr, daß die Ruhe vom Gehorsam herrührt; aber der Weg vom Gehorsam bis zur Eintracht ist genauso weit wie vom Sklaven bis zum Bürger. Also", schlußfolgerte der Autor der Predigt P. A. Slowzow weiter, „wenn das Schweigen ein Zeichen der Unterdrückung ist, was bedeuten solche Monarchien? Es sind gewaltige Grabstätten, in denen unglückliche Leichen eingeschlossen sind." 26 Diese Predigt kannte bald die ganze Stadt. Auch in Petersburg erfuhr man sehr schnell von diesem Vorfall. Slowzow, ein Absolvent der Petersburger Geistlichen Akademie, wurde sofort nach Petersburg gerufen und zu einem Zwangsaufenthalt im Valaam-Kloster verurteilt. Erst der Tod der Zarin Katharina II. brachte Slowzow wie auch Radischtschew die ersehnte Befreiung aus der Verbannung. Ein starker Anstoß zur politischen und geistigen Aktivität innerhalb der russischen Gesellschaft ging von dem Krieg gegen Napoleon aus. Auf welche Weise der siegreiche Feldzug quer durch Europa auf seine Teilnehmer wirkte, ist schon oft beschrieben worden. 27 Die patriotische Begeisterung, die den Sieg ermöglichte und die nach dem Erfolg weiter zunahm, war nur eine dieser Auswirkungen. Der Krieg verschärfte die inneren Widersprüche des Landes und legte sie bloß. Das jede ökonomische und politische Entwicklung hemmende Wesen der Leibeigenschaft wurde offensichtlich. „Der Krieg dauerte noch an, als die heimkehrenden Krieger zum erstenmal das Murren unter das Volk trugen. ,Wir haben unser Blut vergossen', sagten sie, ,doch nun zwingt man uns wieder in die Fron. Wir haben das Vaterland von einem Tyrannen befreit, doch nun werden wir aufs neue von unseren Herren tyrannisiert'." 28 26

Slovcov, P. A., Istoriceskoe obozrenie Sibiri, Bd. I, St. Petersburg 1886, S. 6.

27

Vgl. Predtecenskij, A. V., Ocerki obscestvenno-politiceskoj istorii Rossii v pervoj cetverti XIX veka, Moskau-Leningrad 1957. Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, hg. v. Gerhard Dudek, Leipzig 1975, S. 302.

28

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Die Anstrengungen des Krieges gingen auch an Sibirien nicht spurlos vorbei. Sibirien stellte 7 Regimenter und 2 Batterien; davon beteiligten sich 5 Regimenter erfolgreich an der entscheidenden Schlacht bei Borodino. Das Sibirische Dragonerregiment zählte nach der Schlacht nur noch 3 Offiziere und 125 Soldaten, über die Hälfte der Tomsker und Tobolsker Regimenter blieben auf dem Schlachtfeld. Schweren Belastungen war auch die sibirische Wirtschaft ausgesetzt. Die Besetzung der westlichen Territorien des Reiches durch die feindlichen Truppen führte zur Massenflucht in Richtung Osten. Das brachte für Sibirien in den Jahren 1811 bis 1815 einen unerwarteten Bevölkerungszuwachs von fast 30 Prozent. Entsprechend wuchs der Bedarf an Lebensmitteln, und das um so mehr, als gleichzeitig der größte Teil der Lebensmittellieferungen aus dem europäischen Rußland eingestellt wurde. Besonders in den nördlichen Gebieten Sibiriens, die von der Broteinfuhr abhängig waren, entstand eine katastrophale Lage. Der Hungertod unter den Ostjaken, Tungusen und Russen war in den Jahren von 1810 bis 1816 keine Seltenheit. All das führte zu Unruhen in verschiedenen Orten West- und Ostsibiriens (1812 in Ischim; 1813 in den Bergwerken von Kolywan). Besondere Beachtung verdient die im Frühjahr 1814 in Tomsk aufgedeckte Verschwörung, an der sich neben polnischen Kriegsgefangenen auch 23 Verbannte, vorwiegend Bauern und Kleinbürger, beteiligten. Die Verschwörer, die die Machtergreifung zuerst in Tomsk, dann in den zentralen Gouvernements planten, verfaßten, offensichtlich unter dem Einfluß der Französischen Revolution, ein Manifest. Es enthielt u. a. folgende Forderungen: Beseitigung des Leibeigenschaftssystems; Gleichheit aller vor dem Gesetz; Wählbarkeit der Gerichte; völlige Freiheit des Handels bzw. Beseitigung der Zölle und Handelsprivilegien; Glaubensfreiheit und Freiheit der Versammlungen und der Theateraufführungen. Besonders kritisch war die Lage in Ostsibirien. Die objektiven wie auch die durch das zentrale Verwaltungs- und Wirtschaftssystem verursachten Schwierigkeiten wurden durch den systematischen Machtmißbrauch der örtlichen Behörden, mit den Gouverneuren an der Spitze, vergrößert. Der 1806 zum Generalgouverneur von Sibirien ernannte I. Pestel glaubte, seinem Ideal der Ordnung nahezukommen, indem er alle Bürger streng bestrafte, die es wagten, irgendeine Beschwerde gegen die Behörden vorzubringen. Wie weit die Willkür des Gouverneurs ging, erfuhr der Nachfolger von Pestel, der bekannte Reformer M. M. Speranski. Auf seiner Revisionsreise durch das ihm unterstellte Gebiet erfuhr er in Nishneudinsk, daß der örtliche 71

Polizeivorsteher angeordnet hatte, Tinte und Papier bei allen Einwohnern zu requirieren, um sie daran zu hindern, Beschwerden einzureichen. Es stellte sich heraus, daß dieser „eifrige" Beamte Grund genug für seine Vorsichtsmaßnahmen hatte: Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden über 138000 Rubel sowie zahlreiche Wert-, Gold- und Silbergegenstände, die unrechtmäßig in seinen Besitz gelangt waren, beschlagnahmt. 29 Speranskis Ernennung zum Generalgouverneur von Sibirien hatte eine bemerkenswerte Vorgeschichte. Dieser Mann „aus dem Volke" — sein Vater war Dorfprediger — machte eine Blitzkarriere. 1803 wurde er zum Direktor des Departements für Innere Angelegenheiten ernannt. Bis 1808 avancierte er zum engsten Vertrauten des Zaren. „Erster und Einziger Minister des Reiches" nannten ihn seine Zeitgenossen, unter denen er viele Feinde hatte. Seine Pläne zur staatlichen Umgestaltung Rußlands, die er 1809 veröffentlichte und die die Umwandlung des Landes in eine konstitutionelle Monarchie zum Inhalt hatten, stießen auf den harten Widerstand des konservativen Flügels. Die Sympathien Speranskis für Frankreich wurden von den Reformgegnern zum Anlaß genommen, ihn des Verrats der nationalen Interessen zu beschuldigen. Im Ergebnis einer Untersuchung, die keinerlei kompromittierende Beweise erbrachte, wurde er aller Ämter enthoben und verbannt, zuerst nach Nishni Nowgorod, dann nach Perm. Die 1819 erfolgte Ernennung zum Generalgouverneur von Sibirien, dazu noch mit außerordentlichen Vollmachten, beendete formell seine Verbannungszeit. Der für seinen Tatendrang bekannte Staatsmann sollte nun, weit von der Hauptstadt entfernt, die zerrüttete und korrupte sibirische Verwaltung reformieren. Vom Standpunkt der Regierung hatte diese Ernennung mehrere Vorzüge: Sie hielt den unbequemen Mann für längere Zeit vom Hofe fern und stellte ihn vor eine Aufgabe, die so gut wie unlösbar war. Die Revision, mit der Speranski seine neue Tätigkeit begann, machte ihm klar, daß eine Veränderung der Zustände nicht durch die Bestrafung Hunderter Beamter, sondern nur durch grundsätzliche Reformen möglich war. Zuerst begann er mit der Reformierung des Handelssystems. Die Einführung des „freien Handels" war von weittragender Bedeutung. Sie sollte verhindern, daß die örtlichen Behörden an der Vergabe von Handelsgenehmigungen, z. B. für Getreide, verdienten. Gleichzeitig sollte das Interesse der Bauern an der Produktion für den 29

Vgl. Komilov, 1974, S. 149.

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V., Speranskij v Sibiri, in: Sibirskie ogni, Novosibirsk, H. 4,

Markt erhöht und der Handel belebt werden. Die Bedeutung der Handelsreform wurde jedoch dadurch beeinträchtigt, daß es unter den gegebenen Verhältnissen nicht gelang, die Einhaltung der neuen Festlegungen zu garantieren. Diesem Zweck sollte die 1822 erlassene Verwaltungsreform dienen. Sibirien wurde in 2 Generalgouvernements mit den Zentren Tobolsk (ab 1839 Omsk) und Irkutsk aufgeteilt. Die Vollmachten eines Generalgouverneurs waren nach wie vor umfangreich und seine Tätigkeit praktisch kaum kontrollierbar. Die durch die Reform gebildeten Räte konnten kaum eine beratende oder gar revidierende Funktion ausüben, da sie aus Beamten zusammengesetzt waren, die dem Gouverneur unterstanden. In Petersburg wurden alle Angelegenheiten Sibiriens dem im Jahre 1821 gegründeten Sibirischen Komitee unterstellt. Wie gering die Möglichkeit von Veränderungen im Rahmen des bestehenden Systems war, zeigte sich besonders in dem Teil des Reformprogramms, der sich mit der Revision des Verbannungssystems befaßte. G. Batenkow, der zu den fortschrittlichen Mitarbeitern Speranskis gehörte und u. a. die Aufgabe hatte, diesen Teil der Reform auszuarbeiten, mußte sehr bald erkennen, daß unter den Bedingungen der zaristischen Selbstherrschaft nur geringe Korrekturen möglich waren. Die Reise zum Verbannungsort gehörte zu den härtesten Prüfungen für die Verurteilten. Viele starben unterwegs an Erschöpfung, Krankheit oder an den Folgen der Mißhandlungen. Batenkow schlug die Einteilung der unvorstellbar langen Strecke in 61 Abschnitte vor. Damit war die Tagesstrecke festgelegt, an deren Ende jeweils Baracken für die Übernachtung der Verbannten eingerichtet werden sollten. In Tobolsk bzw. später Tjumen wurden die zur Deportation vorgesehenen Personen registriert und in Gruppen eingeteilt. Nach der Art der Straftat wurden sie in 4 Kategorien klassifiziert: 1. Katorshniki, d. h. Sträflinge mit Zwangsarbeit; 2. Posselenzy oder Strafkolonisten; 3. Ssylnyje oder einfach Verbannte; 4. Freiwillige, d. h. Familienmitglieder der Verurteilten, die diesen freiwillig nach Sibirien folgten. Die ersten beiden Gruppen, die lebenslänglich in Sibirien blieben, mußten den Weg zu den Bestimmungsorten in Fesseln zurücklegen. Politische Deliquenten bildeten keine eigene Kategorie, sondern wurden wie Kriminelle behandelt. Etwas spürbarere Fortschritte brachte die Sibirische Reform den einheimischen Völkern. Das von Batenkow erarbeitete Statut über die Verwaltung der sibirischen Völker (Ustaw ob inorodzach) basierte auf der Erkenntnis, daß die offizielle Politik gegenüber diesen 6

Thomas, Sibirien

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Völkern für ihre Weiterentwicklung nicht ausreichte. Das Statut förderte deshalb Kontakte zwischen ihnen und der russischen Bevölkerung. Eine Reihe von Maßnahmen regelte die Selbstverwaltung. Lehranstalten für die Kinder der „Jassakleute" wurden eingerichtet; das war für die damaligen Verhältnisse ein großer Fortschritt. Das Statut sollte, nach Meinung seines Autors, nur der erste Schritt einer ganzen Reihe von Maßnahmen zur Umgestaltung des Lebens dieser Völker sein. Für jedes Volk sah Batenkow die sogenannten Steppengesetze vor, die die nationalen Besonderheiten berücksichtigen sollten. Doch es zeigte sich sehr bald, daß alle Hoffnungen dem auf der Selbstherrschaft beruhenden Verwaltungssystem demokratische Züge zu verleihen, Utopie blieben. Die Tätigkeit der „Reformer" blieb in der Geschichte der sibirischen Verwaltung eine Episode; sie hinterließ kaum Spuren. Sie ist jedoch als Zeichen der Zeit zu werten, als Ausdruck der vielfältigen Bewegungen in der fortschrittlichen Öffentlichkeit Rußlands, die sich mit unterschiedlichen Mitteln um eine Lösung der herangereiften sozialpolitischen Probleme bemühte.

4. Dekabristen in Sibirien

Noch bevor die Zeit der Reformversuche in Vergessenheit zu geraten drohte, wurde die Bevölkerung Sibiriens Zeuge und Nutznießer von Ereignissen, mit denen eigentlich die Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands einsetzte. Die revolutionäre Erhebung vom 14. Dezember 1825, die als „Dekabristenaufstand" in die Geschichte einging, war, nach Einschätzung eines seiner Teilnehmer, „der erste Versuch einer politischen Revolution in Rußland", an dem sich vorwiegend Vertreter des Adels beteiligten. Ihr Programm enthielt u. a. die Abschaffung der Selbstherrschaft und des Leibeigenensystems und war dem Gedankengut der Aufklärung und den Ideen der Französischen Revolution verpflichtet. Die Ziele und Vorstellungen der Dekabristen wurden in mehreren Schriften und programmatischen Dokumenten formuliert, von denen die „Russkaja Prawda" von P. Pestel und die „Konstitution" von N. Murawjow besonderen Einfluß auf die Mitglieder beider Geheimbunde der Dekabristen, die miteinander in Verbindung standen, ausübten. W. I. Lenin, der die Bedeutung der „repu74

Völkern für ihre Weiterentwicklung nicht ausreichte. Das Statut förderte deshalb Kontakte zwischen ihnen und der russischen Bevölkerung. Eine Reihe von Maßnahmen regelte die Selbstverwaltung. Lehranstalten für die Kinder der „Jassakleute" wurden eingerichtet; das war für die damaligen Verhältnisse ein großer Fortschritt. Das Statut sollte, nach Meinung seines Autors, nur der erste Schritt einer ganzen Reihe von Maßnahmen zur Umgestaltung des Lebens dieser Völker sein. Für jedes Volk sah Batenkow die sogenannten Steppengesetze vor, die die nationalen Besonderheiten berücksichtigen sollten. Doch es zeigte sich sehr bald, daß alle Hoffnungen dem auf der Selbstherrschaft beruhenden Verwaltungssystem demokratische Züge zu verleihen, Utopie blieben. Die Tätigkeit der „Reformer" blieb in der Geschichte der sibirischen Verwaltung eine Episode; sie hinterließ kaum Spuren. Sie ist jedoch als Zeichen der Zeit zu werten, als Ausdruck der vielfältigen Bewegungen in der fortschrittlichen Öffentlichkeit Rußlands, die sich mit unterschiedlichen Mitteln um eine Lösung der herangereiften sozialpolitischen Probleme bemühte.

4. Dekabristen in Sibirien

Noch bevor die Zeit der Reformversuche in Vergessenheit zu geraten drohte, wurde die Bevölkerung Sibiriens Zeuge und Nutznießer von Ereignissen, mit denen eigentlich die Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands einsetzte. Die revolutionäre Erhebung vom 14. Dezember 1825, die als „Dekabristenaufstand" in die Geschichte einging, war, nach Einschätzung eines seiner Teilnehmer, „der erste Versuch einer politischen Revolution in Rußland", an dem sich vorwiegend Vertreter des Adels beteiligten. Ihr Programm enthielt u. a. die Abschaffung der Selbstherrschaft und des Leibeigenensystems und war dem Gedankengut der Aufklärung und den Ideen der Französischen Revolution verpflichtet. Die Ziele und Vorstellungen der Dekabristen wurden in mehreren Schriften und programmatischen Dokumenten formuliert, von denen die „Russkaja Prawda" von P. Pestel und die „Konstitution" von N. Murawjow besonderen Einfluß auf die Mitglieder beider Geheimbunde der Dekabristen, die miteinander in Verbindung standen, ausübten. W. I. Lenin, der die Bedeutung der „repu74

blikanischen Ideen der Dekabristen" sehr hoch einschätzte, wies auf die verhängnisvolle Schwäche der Bewegung hin — auf die Kluft, die zwischen ihnen und den Volksmassen lag. Sie fürchteten sich vor einer Volkserhebung, aber sie wollten eine Regierung, die die Interessen des Volkes und nicht nur des Adels vertrat. Ihre in vielem utopischen Vorstellungen waren durch ein für den russischen Adel ungewöhnliches Demokratieverständnis gekennzeichnet, was den reaktionären Grafen Rastoptschin zu der Bemerkung veranlaßte: „Gewöhnlich machen Schuster eine Revolution, um Herren zu werden; hier machten Herren eine Revolution, um wie Schuster zu werden." 3 0 Der Aufstand, der am Tag der Thronbesteigung Nikolaus' I. begann, wurde in kurzer Zeit blutig niedergeschlagen. Es folgten Massenverhaftungen, Untersuchungen, ein langer Prozeß, in dem 579 Personen vor Gericht gestellt wurden, und schließlich grausame Urteile und ihre Vollstreckung. Von den Anführern des Aufstandes wurden 5 hingerichtet, über 120 andere zu 2 bis 20 Jahren Verbannung und Strafarbeit nach Sibirien verurteilt. Nicht weniger schwer war das Schicksal derer, die man zu Kerkerhaft verurteilte. Der Zar, der sich selbst um die „angemessene" Bestrafung der Angeklagten kümmerte, zeigte sich erfinderisch in der Wahl der Strafe. Ein Beispiel dafür war das Schicksal des schon erwähnten G. Batenkow. Der sibirische Reformpolitiker kam 1821 mit SperansTci nach Petersburg und schloß sich den Dekabristen an. Als Mitglied des Nordbundes der Dekabristen beteiligte er sich am Aufstand. Der Zar hielt es nicht für angebracht, den aus Sibirien stammenden und mit dieser Region besonders vertrauten Aufrührer in seine Heimat zu verbannen. So kam es, daß Batenkow erst 1846 wieder nach Sibirien zurückkehren konnte. Die Zwischenzeit verbrachte er in Kerkerhaft, zuerst 3 Jahre auf den Alandinseln, dann 18 Jahre in der berüchtigten AlexanderKasematte der Peter-Pauls-Festung. 31 Die erste, 8 Mann starke Gruppe der nach Sibirien verbannten Dekabristen war 37 Tage in Fußfesseln nach Irkutsk unterwegs. In Irkutsk wurden sie vom Vizegouverneur Gorlow empfangen. Gorlow, ein ehemaliger Freund von Batenkow, versuchte nach seinen Kräften, die Lage der Verurteilten erträglicher zu gestalten. Dafür wurde er 30 31

Vgl. Die Delcihristen. Dichtungen und Dokumente, a.a.O, S. 478. Vgl. Balandin, S., Dekabrist G. S. Baten'kov — inzener — stroitel', in: Izvestija sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obscestvennych nauk, Novosibirsk, H. 11, 1975, S. 94ff. 75

wegen Nichteinhaltung der Instruktionen des Zaren vor Gericht gestellt, während man die Sträflinge in die Bergwerke von Nertschinsk verlegte. Sie mußten im Blagodatsker Bergwerk unter Tage arbeiten. Die Ketten wurden ihnen nicht abgenommen. Der Arbeitstag dauerte von 5 Uhr früh bis 11 Uhr abends. Den Rest des Tages verbrachten sie in kleinen, dunklen, übel riechenden Gefängniszellen — dem Hunger, der Erschöpfung und dem Ungeziefer ausgeliefert. Die nächste, wesentlich größere Gruppe erreichte Sibirien etwa 1 Jahr später. Es war beabsichtigt, die Dekabristen getrennt von den Einwohnern und den übrigen Verbannten, in völliger Isolierung zu halten. Da jedoch keine geeigneten Gefängnisse existierten, wurden die „gefährlichen Staatsverbrecher" im Gefängnis von Tschita untergebracht, wo sie bis 1830 blieben. Neben der schweren körperlichen Belastung, der viele Dekabristen nicht gewachsen waren, litten sie vor allem an der Isolierung und der Trennung von der Familie, an der moralischen Erniedrigung und der grausamen Behandlung durch die Bewacher. Einen großen Auftrieb gab ihnen der Entschluß einiger Frauen, ihren Männern in die Verbannung zu folgen. Die Fürstinnen E. Trubezkaja und M. Wolkonskaja kamen als erste in Blagodatsk an. Dieser Schritt war vom Zaren nicht ohne Grund als eine Herausforderung gedeutet worden. Daher hatte man versucht, durch Drohungen, Erpressungen und Überredungsversuche die Reise der Frauen zu verhindern. Doch vergeblich. Ihre Ankunft in den Verbannungsorten stellte die Verbindung mit der Außenwelt wieder her. A. Murawjowa nahm das Risiko einer Gefängnisstrafe auf sich, um den Eingekerkerten ein Gedicht von A. Puschkin an seinen Freund, den Dekabristen Puschtschin, zu überbringen. Die Antwort, verfaßt vom Dichter A. Odojewski, widerspiegelte die Stimmung seiner Kerkergenossen: „Als der Alarmruf deiner Lieder zu uns gedrungen, riefen wir nach Waffen, neu ermutigt wieder, doch lagen wir in Ketten hier. Sei ruhig, Barde, auch in Ketten erheben lächelnd wir das Haupt, die Freiheit hat man uns geraubt, doch unseren Geist kann man nicht töten. Was wir gewagt, wird nicht vergehn, aus Funken werden Flammen schlagen, erleuchtet wird das Volk aufstehn und unsre Fahne vorwärts tragen. 76

Aus jeder Kette wird ein Schwert. Hell wird die Freiheitsfackel brennen, der Zaren Thron, er wird zerstört! Froh wird das Volk aufatmen können." 32 Dieses Gedicht, das Jahrzehnte später als Anregung für den Titel und als Motto der marxistischen Zeitung „Iskra" diente, zeigt, daß die meisten Dekabristen ihrer Überzeugung treu geblieben waren. Nach einem mißglückten Fluchtversuch wurden sie 1830 in ein neues Gefängnis überführt, wo sie von den Ortseinwohnern und voneinander isoliert gehalten wurden. Erst 1831 gelang es den Familienangehörigen durchzusetzen, daß die Verbannten, deren Frauen nachgekommen waren, in der Nähe des Gefängnisses, in der „Damenstraße", wie man diese kleine Siedlung nannte, wohnen durften. Noch während der Zeit in Tschita begannen die Dekabristen ihr später berühmt gewordenes „Artel" zu gründen. Es handelte sich um eine Art Kommune mit einer wählbaren Verwaltung und mit gleichmäßiger Verteilung der Lebensmittel unter ihren Mitgliedern. Hier entstand auch die „Kerkerakademie", in der man diskutierte, sich weiterbildete, die Erfahrungen und spärlichen Informationen, die man aus der Hauptstadt erhielt, austauschte. 33 In der Kasematte von Tschita stritten die Dekabristen über den Anteil jedes einzelnen an dem Aufstand, über das Verhalten während der Untersuchungshaft, aber auch über die Ursachen der Niederlage und über das weitere Schicksal der von ihnen entfachten Bewegung. Nachdem das ursprünglich verhängte Verbot, den Sträflingen Zeitungen, Bücher, Papier und Schreibgeräte zuzustellen, aufgehoben war, begannen sie, intensiv neuere Literatur sowie russische und ausländische Zeitschriften zu lesen. Das zeigt den Lebensmut der Dekabristen in die Verbannung und ist auch deshalb erwähnenswert, weil hier der Ursprung einer später fast zur Norm gewordenen Erscheinung lag: der kollektiven und individuellen Selbstbildung der politischen Verbannten im zaristischen Rußland. Die „Akademie" der Dekabristen ist, nach Meinung von M. Netschkina, eine gesellschaftliche Erscheinung, die für däs geistige Leben Rußlands in den dreißiger Jahren des 19. Jh. charakteristisch war. 34 32

Vgl. Fürstin Maria

33

Vgl. Ajsenberg,

Wolkonskaja,

Erinnerungen, Berlin 1978, S. 30, 149.

A., „Katorznaja akademija" dekabristov, in: Voprosy istorii,

H. 9, 1971, S. 209 ff. 34

Vgl. Neckina,

M. V., Dvizenie dekabristov, Bd. II, Moskau 1955, S. 443 f.

77

Aus den von Dekabristen und ihren Familienangehörigen hinterlassenen Dokumenten und Briefen läßt sich die Entwicklung ihrer Ansichten verfolgen. So enthalten viele Briefe Appelle an den Zaren, denn der Glaube an den Monarchen war noch nicht völlig geschwunden. „In der Überzeugung, daß Sie, Majestät, die Wahrheit lieben, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen die historische Entwicklung des Freidenkertums. . . darzulegen. Denn es ist die Pflicht eines Untertanen, seinem Monarchen ohne Schönfärberei die Wahrheit zu sagen", so beginnt der Brief des Dekabristen A. Bestushew-Marlinski an den Zaren, in dem er die Mißstände schildert, die ihn und seine Kameraden zum Aufstand veranlaßten. „Das Murren des Volkes", heißt es weiter in dem Brief, „und die Mißstände drohten zu einer blutigen Revolution zu werden. Deshalb faßten die Gesellschaften den Entschluß, das größere Übel durch das kleinere abzuwenden und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in Aktion zu treten." 35 Nach den Erfahrungen in der Verbannung, den Diskussionen über das entscheidende Ereignis ihres Lebens korrigierten die Dekabristen ihre Einstellung zur Rolle des Volkes in der Revolution. „Man kann das Banner der Freiheit nicht erheben, ohne die Truppen oder das Volk hinter sich zu wissen, (selbst) wenn letzteres noch nichts davon versteht." Mit diesen Worten schloß M. Wolkonskaja ihre „Erinnerungen", die das Fazit über die Geschichte des Dekabristenaufstandes ziehen.36 Während der Gefangniszeit, besonders aber später in der Verbannung, suchten die Dekabristen nach Möglichkeiten, Kontakte nicht nur mit in der Heimat zurückgelassenen Verwandten und Freunden, sondern auch untereinander durch Briefwechsel zu halten. Das war nicht einfach, denn ihre Briefe unterlagen einer besonderen Zensur. Für die Kontrolle ihrer brieflichen Kontakte existierte ein besonderer, stark verzweigter Apparat, an dessen Spitze der Zar persönlich stand. Eine am 12. November 1826 beschlossene Verfügung bestimmte, daß die ganze für die „Staatsverbrecher" bestimmte Korrespondenz von den örtlichen Gouverneuren durchgesehen werden mußte. Die „verdächtigen" Briefe, d. h. solche, deren Inhalt „die Aufmerksamkeit der Regierung" verdiente, mußten an die berüchtigte Dritte Abteilung Seiner Majestät höchsteigener Kanzlei geschickt werden. 37 35 36 37

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Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, a.a.O., S. 303. Fürstin Maria Wolkonskaja, a.a.O., S. 123. Vgl. Retunskij, V. F., Ssyl'nye dekabristy i carskaja cenzura, in: Izvestija sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, a.a.O., H. 11, 1975, S. 98-109.

Die Dekabristen, denen diese Zensurbestimmungen bekannt waren, versuchten sie zu umgehen. Unter den Ortseinwohnern fanden sich gewöhnlich sehr bald Sympathisierende, die bereit waren, ihren Namen für die Korrespondenz der Verurteilten herzugeben. Mitunter waren darunter auch Vertreter der zaristischen Macht, manchmal sogar solche, die die Dekabristen zu überwachen hatten. Doch das waren Ausnahmen. Die meisten der zur Bewachung herangezogenen Beamten handelten eher zu eifrig. Nach einer am 6. Januar 1850 erlassenen Anweisung des Gouverneurs von Westsibirien sollten die „Staatsverbrecher" davon in Kenntnis gesetzt werden, daß sie in Zukunft ihre Briefe, mit ihren Namen und Titeln versehen, der Polizei oder persönlich dem Gouverneur zur Durchsicht zuzustellen hätten. Kurz darauf landeten in der Kanzlei des Zaren die ersten Briefe von Dekabristen, die sie mit dem Vermerk „vom Staatsverbrecher" abgeschickt hatten. Die Verfügung der übereifrigen sibirischen Beamten wurde sofort außer Kraft gesetzt, da die Regierung an einer breiten Publizität des Dekabristenaufstandes kein Interesse hatte. Wichtiger war für sie zu dieser Zeit, die ganze Angelegenheit soweit wie möglich in Vergessenheit geraten zu lassen. Wenn das nicht gelang, so war es das Verdienst der Dekabristen selbst und ihrer Freunde im In- und Ausland. Den Zwangsaufenthalt in Sibirien nutzten die Dekabristen, um sich Kenntnisse über das Land, über seine Geschichte und über die Möglichkeiten seiner weiteren Entwicklung zu verschaffen. Ihre Ansichten faßten sie in einem Programm zusammen, mit dessen Verwirklichung sie auf einigen Gebieten bereits selbst begannen. Das Programm enthielt sowohl allgemein politische Forderungen (Beseitigung des Kolonialjochs; Entwicklung der sibirischen Selbstverwaltung; Reformen der Verwaltung und der Gerichte) als auch Vorstellungen über die Förderung der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels. Interessant waren Vorschläge zur Verbesserung der Verkehrsverbindungen. Dazu gehörten das Projekt einer Handelsflotte im Stillen Ozean, der Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Perm und Tjumen und die Entwicklung eines Verkehrsnetzes unter Ausnutzung der sibirischen Flüsse. Eine vordringliche Aufgabe sahen die Dekabristen in der Aufklärungs- und Bildungstätigkeit unter der sibirischen Bevölkerung. Der Beitrag, den sie auf diesem Gebiet leisteten, war sehr wichtig. Über Jahrzehnte befanden sich in der sibirischen Verbannung Vertreter des gebildetsten Teiles des russischen Adels jener Zeit. Sie sahen in der Verbreitung von Kenntnissen eine der wichtigsten Aufgaben, die im Einklang mit ihrer demokratischen Gesinnung 79

stand. Die Unterrichtstätigkeit — von Privatstunden bis zur Errichtung von Schulen und der Abfassung von Lehrbüchern — war für viele Dekabristen eine Hauptbeschäftigung. Besonders aktiv auf dem Gebiet der Pädagogik war I. Jakuschkin. In Jalutorowsk, wo er nach seiner Sträflingszeit angesiedelt wurde, gründete er mit Hilfe der örtlichen Intelligenz Schulen für Jungen und für Mädchen. In den Fächern Erdkunde und russische Geschichte unterrichtete er nach eigenen Lehrbüchern. Die „Dekabristenschulen" entstanden in den entferntesten sibirischen Provinzen. M. Murawjow-Apostol, der nach Wiljuisk in Jakutien verbannt war, führte in der Jurte, in der er wohnte, den Unterricht durch. Diese Arbeit blieb nicht ohne Einfluß auf die sibirische Bevölkerung. Das belegen zahlreiche Zeugnisse von Vertretern der fortschrittlichen sibirischen Intelligenz, die ihre Bildung und ihren kritischen Geist dem Einfluß ihrer Lehrer — der Dekabristen — zu verdanken hatten. Die Behörden erkannten sehr schnell die von der „harmlosen pädagogischen Tätigkeit der „Staatsverbrecher" ausgehende Gefahr. Sie versuchten, durch Verbote, durch Schließung der Schulen, durch peinliche Kontrolle des Unterrichts diesem Einfluß entgegenzuwirken. Aber nicht immer gelang es, Beweise gegen die allgemein sehr geachteten Verbannten vorzulegen. „Ich darf nicht unbemerkt lassen, daß die unter polizeilicher Aufsicht wegen der Ereignisse vom 14. Dezember 1825 stehenden Personen, geachtet wegen der sittlichen Vorzüge ihrer Erziehung in den Gesellschaften, in denen sie leben, . . . den zweitrangigen Vertretern der Macht einen besonderen Respekt einflößen . . ," 38 , hieß es in einem Brief des Gouverneurs von Tobolsk an seinen Vorgesetzten. Verurteilt zur politischen Tatenlosigkeit, suchten die Dekabristen auf dem Wege der Bildung und der Aufklärung, der Selbstbildung und der wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet der sibirischen Geschichte, der Völker- und Naturkunde ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Mehr konnten sie nicht tun, weiter konnten sie unter den gegebenen Umständen nicht gehen. Die Hoffnung auf eine revolutionäre Erhebung im Reich mußten sie begraben. Als sie die Nachricht von der polnischen Revolution 1830/31 erreichte, schöpften sie für kurze Zeit neue Hoffnungen. Odojewski gab die Stimmung dieser Tage in seinem Gedicht „Bei der Nachricht von der polnischen Revolution" wider:

38

80

Vgl. Ssylka i katorga v Sibiri (XVIII -

nacalo X X v.), Novosibirsk 1975, S. 75.

„Da war nicht einer, der nicht gleich erwacht vom fernen Donnerhall der Weichselschlacht, wo Polen auch für Rußlands Freiheit stritten. JaT keiner hörte je gleichmütig, kalt die Totenklage, die den Opfern galt, die auch für uns den Tod erlitten." 39 Die Hoffnungen zerschlugen sich endgültig, als die ersten verbannten polnischen Revolutionäre nach Sibirien kamen. Ihr Leben in der Verbannung, ihre Versuche, den Kampf hier weiterzuführen, ihre Solidarität mit den russischen verbannten Revolutionären, schließlich ihr Beitrag zur Erforschung der sibirischen Natur bilden ein besonderes Kapitel der mannigfachen Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen, die von polnischen und sowjetischen Historikern ausführlich erforscht und beschrieben wurden. 40

5. Politische Verbannung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Oblastniki Die Geschichte der politischen Verbannung nach Sibirien widerspiegelt den Prozeß der Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland. Sie ist eng mit der Geschichte der Revolution verbunden. An der Zahl und der sozialen Herkunft der Verbannten läßt sich die Veränderung der klassenmäßigen Zusammensetzung und der zahlenmäßigen Stärke der revolutionären Bewegung verfolgen. Nach dem Dekabristenaufstand kündigte sich mit der Verbannung der Petraschewzen im Jahre 1849 die zweite Etappe der revolutionären Bewegung an. Zu den Verbannten gehörte u. a. der Schriftsteller F. Dostojewski, der 4 Jahre im Omsker Zuchthaus verbrachte. Anschließend schickte man ihn nach Semipalatinsk, wo er bis 1859 als Soldat in der Stadtgarnison diente. Die Zustände im Omsker Zuchthaus beschrieb er mit peinlicher Genauigkeit in den „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus". Dostojewski begann die Arbeit an den „Aufzeichnungen" 39

Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, a.a.O., S. 101.

40

Vgl. Bazylow,

L., Siberia, Warschau 1975; Koval', S. F., Polskie ssyl'nye i naro-

dovol'ceskie organizacii v Vostocnoj Sibiri v 1879—1882 godach, in: Ssylka i obscestvenno-politiceskaja zizn' v Sibiri, Novosibirsk 1978, S. 160—174.

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„Da war nicht einer, der nicht gleich erwacht vom fernen Donnerhall der Weichselschlacht, wo Polen auch für Rußlands Freiheit stritten. JaT keiner hörte je gleichmütig, kalt die Totenklage, die den Opfern galt, die auch für uns den Tod erlitten." 39 Die Hoffnungen zerschlugen sich endgültig, als die ersten verbannten polnischen Revolutionäre nach Sibirien kamen. Ihr Leben in der Verbannung, ihre Versuche, den Kampf hier weiterzuführen, ihre Solidarität mit den russischen verbannten Revolutionären, schließlich ihr Beitrag zur Erforschung der sibirischen Natur bilden ein besonderes Kapitel der mannigfachen Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen, die von polnischen und sowjetischen Historikern ausführlich erforscht und beschrieben wurden. 40

5. Politische Verbannung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Oblastniki Die Geschichte der politischen Verbannung nach Sibirien widerspiegelt den Prozeß der Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland. Sie ist eng mit der Geschichte der Revolution verbunden. An der Zahl und der sozialen Herkunft der Verbannten läßt sich die Veränderung der klassenmäßigen Zusammensetzung und der zahlenmäßigen Stärke der revolutionären Bewegung verfolgen. Nach dem Dekabristenaufstand kündigte sich mit der Verbannung der Petraschewzen im Jahre 1849 die zweite Etappe der revolutionären Bewegung an. Zu den Verbannten gehörte u. a. der Schriftsteller F. Dostojewski, der 4 Jahre im Omsker Zuchthaus verbrachte. Anschließend schickte man ihn nach Semipalatinsk, wo er bis 1859 als Soldat in der Stadtgarnison diente. Die Zustände im Omsker Zuchthaus beschrieb er mit peinlicher Genauigkeit in den „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus". Dostojewski begann die Arbeit an den „Aufzeichnungen" 39

Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, a.a.O., S. 101.

40

Vgl. Bazylow,

L., Siberia, Warschau 1975; Koval', S. F., Polskie ssyl'nye i naro-

dovol'ceskie organizacii v Vostocnoj Sibiri v 1879—1882 godach, in: Ssylka i obscestvenno-politiceskaja zizn' v Sibiri, Novosibirsk 1978, S. 160—174.

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im Lazarett des Gefängnisses und beendete sie im wesentlichen noch während seiner Semipalatinsker Zeit.41 Nikolai Tschernyschewski, ein führender Ideologe der revolutionärdemokratischen Bewegung, verbrachte 19 Jahre in sibirischen Zuchthäusern und in der Verbannung. Seine Bewachung war besonders streng, nachdem die Polizeibehörden den Verdacht geschöpft hatten, daß er gefahrliche Kontakte zu den polnischen politischen Verbannten unterhielt. Seine Gesinnungsfreunde im In- und Ausland, u. a. Herzen und Ogarjow, versuchten mehrmals, Tschernyschewski zur Flucht zu verhelfen. Doch diese mißlungenen Versuche verschlechterten nur die Bedingungen seiner Haft. In der jakutischen Stadt Wiljuisk, wo er 12 Jahre festgehalten wurde, wachte die Polizei besonders darüber, daß seine Isolation nicht durchbrochen wurde. Selbst auf der 35 Tage dauernden Reise aus der sibirischen Verbannung wurde jeder Kontakt des gefährlichen „Staatsverbrechers" unterbunden. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. regte sich unter den politisch Verbannten immer mehr der Widerstand. Die Formen des Kampfes waren sehr unterschiedlich, sie reichten von verzweifelten, mitunter im Alleingang unternommenen Fluchtversuchen bis zu organisierten bewaffneten Erhebungen. Zu den zweifellos bedeutendsten Erhebungen gegen die Staatsgewalt in Sibirien zählte der Krugobaikalsker Aufstand im Sommer 1866. Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1863 kamen über 22000 Teilnehmer in die Verbannung. Die Idee, die Befreiung aus der Verbannung durch einen vorbereiteten Aufstand zu erkämpfen, entstand schon Ende 1863. Die polnischen Revolutionäre betrachteten diesen Kampf, den sie gemeinsam mit den russischen „Politischen" und im Kontakt mit den illegalen revolutionären Gruppen im europäischen Rußland vorbereiteten, als die Fortsetzung der Befreiungsbewegung, der sie sich in der Heimat verschrieben hatten. Die Vorbereitung des Aufstandes war sehr breit angelegt. In verschiedenen sibirischen Städten, u. a. in Tobolsk, Omsk, Tomsk, Irkutsk, existierten illegale russisch-polnische Gruppen, die mit Hilfe der örtlichen Bevölkerung vielfache Aktivitäten entwickelten. Sie organisierten Fluchtversuche, besorgten den Flüchtlingen Papiere, unterhielten Kontakte mit den Truppen der Armee, besorgten Waffen und arbeiteten an der Abfassung und Popularisierung ihres Programms zur Errichtung einer demokratischen Ordnung in Rußland und in Polen. Ursprünglich war geplant, den Auf41

82

Vgl. Gromyko, M. M., in: Ssylka i katorga v Sibiri, a.a.O., S. 131-152.

stand in Irkutsk am 5. Mai 1866, dem Jahrestag der polnischen Verfassung, zu beginnen. Dieser Plan mußte jedoch wegen der plötzlichen Verhaftung der Leitung der Irkutsker Gruppe geändert werden. Der Aufstand begann am 25. Juni am Baikalsee, in der Nähe des Ortes Kultuk, wo 50 politische Sträflinge bei Straßenarbeiten an der Krugobaikalsker Straße eingesetzt waren. Es gelang ihnen, die Wachen zu entwaffnen und zur nächsten Poststation vorzustoßen. Die Nachricht über den Aufstand erreichte jedoch sehr schnell die Regierungstruppen. 3 Kosakenabteilungen und 3 Infanterieregimenter wurden zur Niederschlagung der sich inzwischen ausbreitenden Unruhen eingesetzt. Der erste Zusammenstoß mit den Kosaken ereignete sich schon am 28. Juni, 3 Tage nach dem Beginn des Aufstandes. Es zeigte sich sehr bald, daß Widerstand zwecklos war. Und dennoch dauerte es noch fast einen Monat, bis am 25. Juli die letzte Gruppe der Aufständischen zerschlagen war. Der Prozeß gegen die Führer des Aufstandes, die am 15. November erschossen wurden, erregte Aufsehen im Lande und über die Grenzen Rußlands hinaus. Berichte über den Aufstand erschienen in einigen Petersburger Zeitungen. Unter den Berichterstattern befand sich u. a. der junge Fürst Peter Kropotkin, dessen später gefaßter Entschluß, sein Leben dem Kampf gegen die Selbstherrschaft zu widmen, durch diese Eindrücke mitbestimmt wurde. Auch nach der grausamen Niederschlagung des Krugobaikalsker Aufstandes war der Widerstand der Verbannten gegen die Staatsgewalt nicht gebrochen. 42 Die Bereitschaft der politischen Verbannten zum Widerstand, aber auch das Ausmaß der im Staate herrschenden Willkür, demonstrierten die Zwischenfälle bei der Thronbesteigung Alexanders III. Sämtliche nach Westsibirien durch Verwaltungsakt verbannten Personen wurden durch den Innenminister aufgefordert, dem neuen Zaren Treue zu schwören. Da eine große Anzahl der Verbannten den Eid verweigerte, wurden sie von Westsibirien nach Ostsibirien, meistens ins Jakutsker Gebiet, verlegt. Zu den Betroffenen gehörte u. a. der bekannte Schriftsteller Wladimir Korolenko, der später seine Verbannungszeit in der „Geschichte meines Zeitgenossen" ausführlich beschrieb.43 Die Verbannung durch Verwaltungsakt, die seit Mitte des 19 Jh. für etwa die Hälfte der politischen Verbannten zutraf, gehörte 42

43

Vgl. Kovar, S. F., Pol'skie ssyl'nye posle krugobajkal'skogo vosstanija 1866 g., in: Ssylka i katorga v Sibiri, a.a.O., S. 153—159. Korolenko, V. G., Istorija moego sovremenika, Bd. 3—4, Leningrad 1976.

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zu den seltsamsten Justizpraktiken des Staates. Es handelte sich um das Recht der Ausweisung einer unerwünschten Person aus einem Gebiet in ein anderes ohne Einhaltung üblicher juristischer Bestimmungen. Die Dauer einer solchen Verbannung ohne Gerichtsverfahren betrug zuerst bis zu 5 Jahren, wurde aber 1888 durch die „Durchführungsbestimmungen für die Polizeiaufsicht" auf 10 Jahre verlängert. Diese Form der politischen Verbannung traf einen nicht geringen Teil der demokratisch gesinnten russischen Intelligenz. „Sie sind Männer und Frauen, die unter anderen Verhältnissen ihrem Vaterland vielleicht wertvolle Dienste erweisen könnten . . . Wenn solche Männer in . . . Verbannung leben, statt daheim im Dienst des Staates zu wirken — um so schlimmer für den Staat." 4 4 Diese Überlegungen bewegten nicht nur die ausländischen Beobachter, sondern in noch viel stärkerem Maße die sibirischen Einwohner. Der Einfluß der politischen Verbannten auf die sibirische Bevölkerung verstärkte sich besonders seit den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Dieser Einfluß zeigte sich oft ganz direkt. Er äußerte sich in Aktionen, die gemeinsam und auf Initiative der verbannten revolutionären Demokraten zustande kamen. In den achtziger Jahren war dieser Einfluß auf die Jugend von Tomsk so stark, daß 1887, kurz vor der Eröffnung der Universität, angeordnet wurde, den größten Teil der politisch Verbannten aus der Stadt auszusiedeln. Diese Maßnahme drückte die Furcht der Behörden vor dem Einfluß der politisch Verbannten aus, die sie für die Unruhen in Sibirien verantwortlich machten. Doch schon seit Anfang der sechziger Jahre bildeten sich in Sibirien Gruppierungen demokratischer Intelligenz, die eine direkte Verbindung zu den revolutionären Gruppen im Zentrum Rußlands unterhielten. Die Zirkel der sibirischen Studenten in Petersburg („Sibirjaken") gehörten in den sechziger Jahren zu den bekannten Kreisen der demokratischen Volkstümler. Neben ihrem theoretischen Studium sozialer Fragen wirkten sie propagandistisch unter den Arbeitern. Besondere Ausbreitung erfuhr zu jener Zeit die Bewegung der sibirischen Oblastniki (abgeleitet von Oblast = Gebiet). Sie entstand zuerst unter der Führung der Organisation „Land und Freiheit" (Semlja i wolja), was vor allem die große programmatische Anlehnung an die Organisation der Narodniki beweist. Zu den wichtigsten programmatischen Punkten der Oblastniki gehörte die Forderung nach Abtrennung Sibiriens vom zaristischen Rußland. Zu Beginn jedoch äußerte sich der Kampf um die Verwirklichung 44

84

Kennan, a.a.O., S. 208, 257.

dieser Forderung in der Propagierung allgemein fortschrittlicher Aktionen gegen den Zarismus. Ein marxistisches Alternativprogramm auf russischem Boden existierte zu der Zeit noch nicht. Ähnlich wie die Volkstümler durchlebten die Oblastniki seit den achtziger Jahren eine Entwicklung von der revolutionär-demokratischen zur liberalen Gesinnung. Einen Einschnitt in diesem Differenzierungsprozeß bildeten Veranstaltungen anläßlich des 300jährigen Jubiläums des Anschlusses Sibiriens an Rußland. Als Ideologe der Oblastniki trat zu dieser Zeit der progressive Wissenschaftler N. M. Jadrinzew hervor. Etwa gleichzeitig begann die Herausbildung einer Strömung innerhalb der Bewegung, die sich, im Gegensatz zu den Anhängern von Jadrinzew, nicht auf die breitesten Schichten der sibirischen Bevölkerung, sondern vorwiegend auf die sibirische Bourgeoisie orientierte. Die Verwandlung in eine bürgerlich-liberale Bewegung mit starken nationalistischen Tendenzen vollzog sich um die Jahrhundertwende, u. a. unter dem Einfluß der Revolution von 1905/07,45 Das zaristische Selbstherrschaftssystem, die Willkür der Beamten des bürokratischen Verwaltungsapparates, die Verstärkung der kapitalistischen Ausbeutung bei Beibehaltung feudaler Überreste — all das bot immer wieder und in verstärktem Maße Anlaß für Unruhen und Erhebungen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz. Auf der Grundlage des breiten demokratischen Kampfes wirkten revolutionäre Organisationen und Gruppen unterschiedlichster Prägung. Dabei war das politische Leben in Sibirien stets eng mit der revolutionären Bewegung im Zentrum des Landes verknüpft. Die politische Verbannung spielte hier eine Vermittlerrolle. Zu einem der wichtigsten Prozesse am Ende des 19. Jh. wurde die Entstehung der proletarischen Bewegung auf sibirischem Boden. 45

Vgl. Silovskij, M. V., Nekotorye voprosy istorii sibirskogo oblastrucestva v period pod'ema pervoj russkoj revoljucii, in: Ssylka i obscestvenno-politiceskaja zizn' v Sibiri (XVIII — nacalo XX v.), Novosibirsk 1978.

KAPITEL I I I

Imperialistische Interessen an Sibirien

Mit dem Eintritt Rußlands in das letzte Stadium der kapitalistischen Entwicklung geriet Sibirien in das Blickfeld imperialistischer Interessen. Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn stand am Anfang dieser Entwicklung und hatte tiefgreifende ökonomische und soziale Folgen für das Land. Die Transsib wurde zur Lebensader Sibiriens, auf ihren Gleisen rollte russisches und ausländisches Kapital ins Land, kamen 4 Mill. Umsiedler aus den europäischen Teilen Rußlands. Auf der Suche nach Boden und nach Arbeit drangen diese Bauernfamilien in sibirische Dörfer ein und beschleunigten die soziale Differenzierung der Bauernschaft. Nur wenigen dieser 4 Mill. gelang es, in der neuen Umgebung heimisch zu werden. Über die Hälfte kehrte enttäuscht und verarmt wieder nach Europa zurück. Doch die Folgen dieser Stolypinschen Umsiedlerwelle für den sozialen Differenzierungsprozeß in der zahlenmäßig stärksten Klasse der sibirischen Gesellschaft waren unumkehrbar. Als Anfang des Jahrhunderts der russisch-japanische Krieg ausbrach, wurden auf den Gleisen der Transsib Soldaten und Kriegsmaterial an die Front befördert. Dieser erste von Rußland geführte imperialistische Krieg bezog Sibirien unmittelbar in die strategischen Überlegungen der zaristischen Außenpolitik ein. Als die imperialistischen Großmächte 10 Jahre später den ersten Weltkrieg entfesselten, war Sibirien nicht nur Hinterland der Westfront, sondern auch der westliche Landeplatz des Verbündeten Amerika. In 2 Jahrzehnten imperialistischer Herrschaft erlebte Sibirien einen gewaltigen Aufschwung der sozialen Kämpfe. Die sibirische Arbeiterklasse beteiligte sich aktiv an der Revolution von 1905/07; sie kündigte 1912 mit den Ereignissen an der Lena den Beginn des neuen revolutionären Aufschwungs in ganz Rußland an, der über langwierige und harte Kämpfe zum Sturz der Selbstherrschaft und schließlich zum Sieg der sozialistischen Revolution führte. 86

1. Der Bau der Großen Sibirischen Eisenbahn Lange vor dem Bau der Transsib gab es überzeugende Argumente für den Bau einer Eisenbahnlinie vom Ural bis zum Stillen Ozean. Die ersten Pläne gehen bis in die Anfange des russischen Eisenbahnbaues zurück. Allein aus dem Jahre 1857 sind 3 Projekte bekannt: ein russisches, ein englisches und ein amerikanisches.1 Das Interesse an einer Eisenbahnverbindung für die Entwicklung des Handels und der Industrie Sibiriens vermischte sich mit den Erwartungen der Industrie und Baufirmen, zu einem einträglichen Geschäft zu kommen. Daß der Entschluß zum Bau der Transsib dann endgültig im Februar 1891 gefaßt wurde, hing vor allem mit wirtschaftlichen und militärstrategischen Überlegungen zusammen. Sibirische Industrielle und Kaufleute bedrängten die Regierung seit langem in dieser Angelegenheit; aber auch zahlreiche Fabrikanten, Bankiers und Kaufleute aus dem europäischen Rußland versprachen sich sehr viel von einer Transsibirischen Magistrale, deren Bau besonders von der „Gesellschaft zur Förderung der Russischen Industrie und des Handels" und von den Industriellen des Urals unterstützt wurde. Die gesamte russische metallurgische Industrie wartete auf Staatsaufträge zur Lieferung der Eisenbahnschienen. Die Regierung verband mit dem Bau der Transsib die Hoffnung, Probleme der sibirischen Agrarwirtschaft besser lösen zu können. Noch gewichtiger jedoch waren außenpolitische Überlegungen: Die Notwendigkeit, im Fernen Osten ökonomisch und militärpolitisch Fuß zu fassen, wurde immer dringlicher. Hier, wo die Interessen der alten Kolonialmächte dem Expansionsdrang junger, imperialistischer Länder ausgesetzt waren, kämpfte Rußland um die Erhaltung bzw. um die Ausweitung seiner Einflußsphäre. Die Eisenbahnverbindung bis zum Stillen Ozean sollte die Chancen des russischen Imperialismus in dieser Auseinandersetzung erhöhen. Innerhalb der zaristischen Regierung gehörte Finanzminister S. J. Witte zu den einflußreichsten und energischsten Befürwortern der Transsib. In seiner sogenannten „Friedenspolitik" im Fernen Osten war die Eisenbahn ein wichtiges Kettenglied. Die Gesamtkosten für die 8000 km 1

Vgl. Borzunov, V. F., Die kapitalistischen Großmächte und der Bau der Transsibirischen Eisenbahn in den fünfziger bis achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in:. Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 7, 1963, S. 145-170. 87

lange Eisenbahnstrecke von Tscheljabinsk bis Wladiwostok, die der Staat übernahm, wurden auf 350 Mill. Rubel geschätzt. In Wirklichkeit betrugen sie über 1 Mrd. Rubel. Am 19. Mai 1891 fand in Wladiwostok die festliche Grundsteinlegung für die Große Transsibirische Magistrale statt. Daß die Bauarbeiten am östlichen Teil der Strecke begannen, dürfte mit strategischen Überlegungen der Regierung zusammenhängen. Schon 1894 wurde die Strecke Wladiwostok — Iman (404 km) als erste Linie in Betrieb genommen. Fast zur selben Zeit begannen die Arbeiten am westlichen Abschnitt der Strecke; sie gingen jedoch zuerst sehr schleppend voran, da die Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen waren. Es fehlte vor allem an Baumaterialien und Arbeitskräften. 1891 waren an der ganzen Strecke insgesamt nur 9600 Arbeiter beschäftigt. Doch die Arbeitslosigkeit und die Verelendung des Dorfproletariats im europäischen Rußland trugen dazu bei, dieses Problem verhältnismäßig schnell zu lösen. Die Zahl der Arbeiter an der Transsib stieg in den Jahren 1895/96, als die Bauarbeiten ihren Höhepunkt erreichten, auf 84000 bis 89000 an. 2 Die nationale Zusammensetzung der Bauarbeiter war sehr vielfältig. Nur 29 Prozent waren Sibirier, der Rest kam aus anderen Teilen Rußlands bzw. aus dem Ausland (China, Korea, Japan). Am Ussuri-Abschnitt z. B. waren viele Chinesen beschäftigt. Sie stellten hier sogar das Hauptkontingent der Bauarbeiter. 1897 waren 16,6 Prozent der Bauarbeiter an der Transsib Chinesen. Eine bemerkenswerte Gruppe bildeten mit 7,4 Prozent die Verbannten. Ihr Einfluß auf die Bewußtseinsentwicklung der Arbeiter, die unter extrem schwierigen Bedingungen für außergewöhnlich niedrige Löhne ihre Arbeitskraft verkaufen mußten, war von großer Bedeutung. Der Arbeitstag betrug 16 bis 18 Stunden. Ohne die den harten klimatischen Verhältnissen entsprechende Arbeitskleidung mußten die Bauarbeiter mit den primitivsten Arbeitsgeräten ein gigantisches Werk aufbauen. Bis zum Jahre 1903 wurden über 12 Mill. Schwellen und Gleise von über 1 Mill. t Gesamtgewicht gelegt, über 100 Mill. m 3 Erdreich transportiert, knapp 100 km Brücken und Tunnel gebaut. Das Tempo war enorm: Im Durchschnitt konnten pro Jahr 650 km Gleis fertiggestellt werden. Im Jahre 1896 wurde der westsibirische Streckenabschnitt von Tscheljabinsk bis Krasnojarsk in Betrieb genommen, 3 Jahre später der Abschnitt bis zum Baikal. Über 2

Vgl. Borzunov, V. F., Rabocie Sibirskoj zeleznodoroznoj magistrali 1891 — 1904, in: Istorija SSSR, H. 4, 1959, S. 117.

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den Baikalsee transportierte man zuerst die Züge mit Hilfe einer als Eisbrecher ausgerüsteten Fähre, die innerhalb von 3 Stunden 28 beladene Waggons und 670 Passagiere übersetzen konnte. Der Fährbetrieb wurde erst nach Fertigstellung der Krugobaikalsker Eisenbahn im Jahre 1905, die das letzte noch fehlende Kettenglied der 8000 km langen Strecke bildete, eingestellt. Die Leistungsfähigkeit der Transsib war nicht groß. Die eingleisige Strecke war für 3 bis 4 Zugpaare am Tage berechnet. Das zweite Gleis wurde erst in den dreißiger Jahren gebaut, gleichzeitig erfolgten weitere Modernisierungen und Erweiterungen. Auch die Streckenführung war nicht nach dem Prinzip des größten Nutzeffekts gewählt worden. Die Variante, die Eisenbahnlinie zum nördlichen Ufer des Baikalsees zu führen, wurde schon damals, 70 Jahre vor der BAM, ernsthaft diskutiert. Sie bot viele eindeutige Vorteile: Die Strecke war wesentlich kürzer, und vor allem hätte sie den Zugang zu den reichen Bodenschätzen des südlichen Jakutiens ermöglicht. Sie hatte allerdings einen entscheidenden Nachteil, der den Streit schließlich zugunsten der südlichen Variante entschied — die äußerst harten Naturbedingungen, die die Arbeit erschwerten. Dennoch war der Jubel, den in Sibirien die Fertigstellung der Transsib auslöste, durchaus begründet. Die Stimmung unter den sibirischen Patrioten widerspiegelt der Artikel einer Irkutsker Zeitung vom 16. August 1898: „Vollendet! . . . In der Stille der hiesigen, von der Kultur bis jetzt fast unberührten Berge, Steppengebiete und Wälder erklang heute zum ersten Mal das Pfeifen einer Lokomotive. Das alte Sibirien tritt zurück, vor uns entsteht etwas Neues . . . Fast jedem stellt sich die Frage: ,Was wird nun?'" 3 Die Zeitungen, und zwar nicht nur in Sibirien, waren voll von zum Teil übertriebenen und überschwenglichen Kommentaren zu diesem wichtigen Ereignis. Sibiriens Zeitungen zitierten häufig ausländische Pressestimmen. Die Meinung eines anonymen französischen Schriftstellers, der Bau der Transsib sei ein Ereignis von gleicher Tragweite wie etwa die Entdeckung Amerikas, wurde in mehreren Zeitungen abgedruckt und auch noch Jahrzehnte später gern wiedergegeben.4 Den entscheidenden Wert der Transsib erfaßte einer ihrer ersten Passagiere, W. I. Lenin. Auf dem Wege in die sibirische Verbannung berichtete er in einem Brief an seine Mutter, daß er, nachdem er die ganze 3 4

7

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. III, S. 179. Vgl. Sabler, S. V., Sosnovski, I. V., Sibirskaja zeleznaja doroga v ee proslom i nastojascem, St. Petersburg 1903, S. 443. Thomas. Sibirien

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Strecke der westsibirischen Eisenbahn von Tscheljabinsk bis Kriwoschtschjokowo (heute eine Eisenbahnstation vor Nowosibirsk) kennengelernt hatte, zum Überqueren des Ob den Pferdewagen nehmen mußte, da die Eisenbahnbrücke zwar schon fertig, doch noch nicht in Betrieb war. Von der Station Ob bis Krasnojarsk konnte er aber wieder die noch provisorisch eingerichtete Eisenbahn benutzen. „ . . . die ,Große Sibirische Eisenbahn' (groß nicht nur in ihrer Länge, sondern auch im maßlosen Raub von Staatsgeldern durch die Bauunternehmer und in der maßlosen Ausbeutung der Arbeiter, die sie erbauten) erschloß Sibirien". Lenin führt die Transsib als ein Beispiel für die ökonomische Expansion des europäischen Kapitals nach Asien an. „Der Bau riesiger Eisenbahnlinien, die Erweiterung des Weltmarktes und die Entwicklung des Handels — all das verursachte eine unerwartete Belebung der Industrie, das Entstehen neuer Betriebe, eine wilde Jagd nach Absatzmärkten, eine Jagd nach Profiten, die Gründung neuer Gesellschaften . . ." 5 Das Interesse des in- und ausländischen Kapitals an Sibirien war Anfang des Jahrhunderts enorm. Davon zeugen z. B. zahlreiche weitere Pläne für den Eisenbahnbau, die nach Fertigstellung der Transsib diskutiert wurden. Ein phantastisches Projekt amerikanischer Unternehmer beschäftigte die Gemüter bis zum Jahre 1906, d. h. bis zu seiner endgültigen Ablehnung. Es ging um die Herstellung einer Eisenbahnverbindung zwischen Alaska und Sibirien, wobei ein gewaltiger Tunnel unter der Beringstraße vorgesehen war. Die russische Regierung erkannte die damit verbundene Gefahr des wachsenden amerikanischen wirtschaftlichen Einflusses im Nordosten des Landes. Der Bau einer solchen Eisenbahnverbindung hätte zwar einen positiven Einfluß auf die Entwicklung der riesigen Gebiete um den Polarkreis ausgeübt, aber auch letzten Endes ihre Verwandlung in amerikanische Kolonien bedeutet. So entschloß sich die zaristische Regierung, das Bauprojekt abzulehnen, womit für sie auch die Frage der Entwicklung dieser Gebiete erledigt war. Wesentlich realistischer sahen die Unternehmungen aus, die die sibirischen Gewässer stärker als bisher für den Transport nutzen wollten. Kurz vor dem ersten Weltkrieg lenkte eine Expedition, die im August 1913 ihre Arbeit aufgenommen hatte, erneut die Aufmerksamkeit auf die seit langem bestehenden Pläne, Sibirien von Europa aus über das Karsker Meer und die Jenisseimündung zu erreichen. Die Expedition ging auf Initiative der „Sibirischen Aktiengesell5

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Lenin, W. /., Werke, Bd. 5, S. 83 f.

schaft der Dampferunternehmen, der Industrie und des Handels" zurück, an der norwegisches, englisches und russisches Kapital beteiligt war. Der sibirische Goldunternehmer S. W. Wostrotin und der russische Botschafter in Norwegen, I. G. Loris-Melikow, beteiligten sich an dieser Fahrt. Doch daß diese Expedition in die Geschichte einging, war ausschließlich einem weiteren Teilnehmer zuzuschreiben — dem bekannten Polarforscher Fridtjof Nansen, der eine Beschreibung dieser Fahrt hinterlassen hat, in der er auch auf den Stand und die Perspektiven der Entwicklung Sibiriens einging. 6 Unmittelbare Folgen hatte die Expedition nicht. Die Zeiten änderten sich inzwischen, und die europäischen Regierungen waren nun für Jahre damit beschäftigt, ihren erbitterten Konkurrenzkampf mit militärischen Mitteln fortzusetzen. Die verkehrsmäßige Erschließung Sibiriens hatte mit dem Bau der Transsib ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Alle weiteren Pläne und Versuche gerieten für immer bzw. für lange Zeit in Vergessenheit.

2. Sozialökonomische Veränderungen Der Zeitpunkt, zu dem Sibirien ins Blickfeld imperialistischer Interessen geriet, fallt mit dem Bau der Transsib zusammen. Diese zeitliche Übereinstimmung ist nicht zufallig. Die Entscheidung über den Beginn dieses riesigen Bauvorhabens war erst dann gefallen, als die Ausbeutung Sibiriens nur mit Hilfe dieser Eisenbahnverbindung weiterhin gesichert werden konnte. Die Transsib war somit ein Produkt der imperialistischen Entwicklung und sollte helfen, Sibirien endgültig zum Kolonialgebiet Rußlands zu machen. Diesem Ziel dienten sowohl die Politik der Industrie- und Finanzmächtigen des Reiches als auch die Steuer-, Tarif- und Bevölkerungspolitik der zaristischen Regierung. Die bewußt angestrebte und eingeschlagene wirtschaftliche Entwicklung, die Sibirien zu einem bloßen Lieferanten von Rohstoffen und Produkten der Landwirtschaft machte, wirkte sich besonders verhängnisvoll aus, weil es sich um ein Gebiet handelte, in dem ähnlich wie in den meisten Randgebieten Rußlands die Industrie erst spät und sehr zögernd Fuß gefaßt hatte. „Unsere Industrie wie überhaupt die gesamte Volkswirtschaft Rußlands entwickelte und entwickelt sich kapitalistisch. Das ist unbestreitbar . . . Aber sich auf 6

T

Vgl. Nansen, F., V stranu buduscego. Velikij Severnyj put' iz Evropy v Sibiri cerez Karskoe more, Magadan 1969.

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schaft der Dampferunternehmen, der Industrie und des Handels" zurück, an der norwegisches, englisches und russisches Kapital beteiligt war. Der sibirische Goldunternehmer S. W. Wostrotin und der russische Botschafter in Norwegen, I. G. Loris-Melikow, beteiligten sich an dieser Fahrt. Doch daß diese Expedition in die Geschichte einging, war ausschließlich einem weiteren Teilnehmer zuzuschreiben — dem bekannten Polarforscher Fridtjof Nansen, der eine Beschreibung dieser Fahrt hinterlassen hat, in der er auch auf den Stand und die Perspektiven der Entwicklung Sibiriens einging. 6 Unmittelbare Folgen hatte die Expedition nicht. Die Zeiten änderten sich inzwischen, und die europäischen Regierungen waren nun für Jahre damit beschäftigt, ihren erbitterten Konkurrenzkampf mit militärischen Mitteln fortzusetzen. Die verkehrsmäßige Erschließung Sibiriens hatte mit dem Bau der Transsib ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Alle weiteren Pläne und Versuche gerieten für immer bzw. für lange Zeit in Vergessenheit.

2. Sozialökonomische Veränderungen Der Zeitpunkt, zu dem Sibirien ins Blickfeld imperialistischer Interessen geriet, fallt mit dem Bau der Transsib zusammen. Diese zeitliche Übereinstimmung ist nicht zufallig. Die Entscheidung über den Beginn dieses riesigen Bauvorhabens war erst dann gefallen, als die Ausbeutung Sibiriens nur mit Hilfe dieser Eisenbahnverbindung weiterhin gesichert werden konnte. Die Transsib war somit ein Produkt der imperialistischen Entwicklung und sollte helfen, Sibirien endgültig zum Kolonialgebiet Rußlands zu machen. Diesem Ziel dienten sowohl die Politik der Industrie- und Finanzmächtigen des Reiches als auch die Steuer-, Tarif- und Bevölkerungspolitik der zaristischen Regierung. Die bewußt angestrebte und eingeschlagene wirtschaftliche Entwicklung, die Sibirien zu einem bloßen Lieferanten von Rohstoffen und Produkten der Landwirtschaft machte, wirkte sich besonders verhängnisvoll aus, weil es sich um ein Gebiet handelte, in dem ähnlich wie in den meisten Randgebieten Rußlands die Industrie erst spät und sehr zögernd Fuß gefaßt hatte. „Unsere Industrie wie überhaupt die gesamte Volkswirtschaft Rußlands entwickelte und entwickelt sich kapitalistisch. Das ist unbestreitbar . . . Aber sich auf 6

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Vgl. Nansen, F., V stranu buduscego. Velikij Severnyj put' iz Evropy v Sibiri cerez Karskoe more, Magadan 1969.

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Angaben über die Entwicklung' und auf selbstzufrieden-prahlerische Hinweise wie: »erhöht sich um soundsoviel Prozent' zu beschränken, heißt die Augen zu verschließen vor der unglaublichen Rückständigkeit der Armut Rußlands, die diese Angaben erkennen lassen." 7 Diese Feststellung W. I. Lenins, die er 1913 auf das ganze Land bezogen hatte, traf auf Sibirien in besonderem Maße zu. Zwar stieg die Zahl der Dampfmaschinen in den 25 Jahren vor der Oktoberrevolution um das 15-bis 20fache in ganz Rußland, doch in Sibirien, einschließlich Turkestan, standen im Jahr 1892 ganze 269 Maschinen mit einer Gesamtkapazität von 2111 PS. 8 Einige Fortschritte gab es seit der Jahrhundertwende auf dem Gebiet der Mechanisierung der Produktionsprozesse. Etwa zur selben Zeit wie im Petersburger Industriegebiet begann man z. B. im sibirischen Bergbau die Elektroenergie in der Produktion anzuwenden. Allerdings handelte es sich hier nur um einzelne Industriezweige. Insgesamt lag der Grad der Mechanisierung der Produktionsprozesse in Sibirien wesentlich niedriger als im Landesdurchschnitt. Eine Ursache dafür war das Fehlen eines eigenen Maschinenbaus. Die völlige Abhängigkeit vom europäischen Rußland bzw. vom kapitalistischen Ausland führte dazu, daß durch Transportkosten und Zollabgaben der Preis für die Maschinen in der Regel doppelt so hoch war wie auf dem europäischen Markt. Die Auswirkungen des Eisenbahnbaus auf die sibirische Industrie waren selbst in den Industriezweigen, die Rohstoffe produzierten, nicht immer positiv. Die sibirische Metallurgie erlebte beispielsweise nur am Anfang, d. h. noch während des Baus der Eisenbahn, einen Aufschwung. Doch schon 1899 mußten die ersten 2 metallurgischen Betriebe im Irkutsker Gouvernement schließen, 2 weitere waren gezwungen, die Produktion zu drosseln. Die sibirische Metallurgie hielt der Konkurrenz der moderneren Fabriken im Ural nicht stand und war bis 1914 nicht nur vom gesamtrussischen, sondern auch vom sibirischen Markt verschwunden. Auch der Eintritt Rußlands in den Krieg 1914 vermochte nichts an der Situation zu ändern: Die günstigen staatlichen Aufträge fielen in der Regel den mächtigen Konkurrenten vom Ural und Donbass in die Hände. Aus ähnlichen Gründen stagnierte die Produktion im sibirischen Kohlebergbau. Nachdem der Bau der Transsib der sibirischen Kohle1 8

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Lenin, W. /., Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 590. Vgl. Zolnikov, D. M., Rabocee dvizenie v Sibiri v 1917 g., Novosibirsk 1969, S. 33.

)2

Produktion zuerst einen großen Auftrieb gegeben hatte — die Kohleförderung, die hier bis über 90 Prozent den Bedarf der Eisenbahn deckte, war in den ersten 13 Jahren des 20. Jh. um das 8,7fache gestiegen9 —, stieß die sibirische Kohleindustrie auf Absatzschwierigkeiten, sobald ihre Produktion den Bedarf der sibirischen Eisenbahn überstieg. Das mächtige Syndikat „Produgol", das die gesamte Kohleindustrie des Donbass beherrschte, erwies sich als ein zu starker Konkurrent für die sibirische Kohle, die den europäischen Markt nicht erobern konnte. Anders sah es im Goldbergbau aus. Nach dem Bau der Transsib floß europäisches Kapital zuerst in diesen Industriezweig. Aktiengesellschaften, oft mit ausländischer Beteiligung, entstanden in großer Zahl. Mitte der neunziger Jahre wurde die „Russische Gesellschaft der Goldindustrie" gegründet, eine der ersten großen Aktiengesellschaften dieses Zweiges. Unter diesem Firmenschild agierten ein Bankenkonsortium mit der St. Petersburger Internationalen Bank an der Spitze sowie einige einflußreiche Industrielle und Finanziers. Das Aktienkapital dieser Gesellschaft war verhältnismäßig hoch: Es betrug 7,5 Mill. Rubel. Die Aktivität dieser Monopolvereinigung konzentrierte sich sehr bald auf den Kauf von Boden bzw. von Aktien kleinerer sibirischer Goldunternehmen. Erfaßt vom Goldfieber, stürzte sie sich in Geschäfte, ohne die Gewinnchancen genau zu prüfen. Boden wurde aufgekauft, ohne vorher seine geologische Beschaffenheit untersucht zu haben. Nicht selten stellte sich erst später heraus, daß dort überhaupt kein Gold zu finden war bzw. daß die Förderung wesentlich größere Investitionen erforderte, als die Gesellschaft zu bewilligen bereit war. Gegen 1900 überstiegen die Ausgaben der Gesellschaft das Grundkapital um 1 Mill. Rubel. Der Gefahr des Bankrotts konnte man gerade noch entgehen, aber die führende Rolle in der Goldindustrie des Landes mußte die Gesellschaft an andere mit ihr konkurrierende Monopolvereinigungen abtreten. Den Rang des bedeutendsten Goldunternehmens Sibiriens eroberte sich die 1896 gegründete russisch-englische Aktiengesellschaft „Lensoloto", die zu 74,5 Prozent von der mächtigen englischen Finanzgruppe beherrscht wurde, die in Jakutien unter dem Firmenschild „Lena-Goldfields" enorme Profite erzielte. Mit Unterstützung der Staatsbank entwickelte sich „Lensoloto" in kurzer Zeit zu einer großen monopolistischen Vereinigung mit über 10000 Be9

Vgl. Moskovskij, A. S., Promyslennoe osvoenie Sibiri v period stroitelstva socializma (1917-1939), Novosibirsk 1975, S. 19.

93

schäftigten und 16,5 Mill. Rubel Grundkapital. In ihren Händen lag vor dem ersten Weltkrieg über ein Drittel der gesamten Goldförderung des Landes. Eine eigene Reederei und eine Eisenbahn von 94 km Streckenlänge ermöglichten es dieser Gesellschaft, den ganzen Handel in der Umgebung ihrer Goldfelder zu monopolisieren, so daß 1914/15 der Reingewinn des Unternehmens 15 Prozent des Grundkapitals betrug. 10 Die Tätigkeit der „Lensoloto" war für die Wirtschaftsstrategie der neu entstandenen Monopolvereinigungen in Sibirien bezeichnend. Es ging ihnen nicht um den technischen Fortschritt bzw. um die ökonomische Erschließung des Landes. Um Konkurrenten auszuschalten, kaufte beispielsweise „Lensoloto" riesige Gebiete mit Goldvorkommen, ließ diese aber ungenutzt liegen, während die Förderung nur auf kleinen Flächen betrieben wurde, wo das Gold beinahe an der Oberfläche lag. Zusätzliche Ausgaben für die Mechanisierung wurden vermieden, was letzten Endes zur Reduzierung der Goldproduktion führte. Allein „Lensoloto" hatte 1916 einen Produktionsrückgang von 205 Pud, d. h. von etwa 20 Prozent ihrer Gesamtproduktion des Vorjahres. 11 Die Höhe des ausländischen Kapitals, das in den sibirischen Bergbau investiert wurde, betrug insgesamt 50 Mill. Rubel. Diese Angabe kann nur als Richtzahl gewertet werden, denn die Verschmelzung des ausländischen mit dem russischen Kapital in den meisten Aktiengesellschaften verwischt das Bild bzw. macht es unmöglich, genauere statistische Aussagen zu erhalten. Unter den ausländischen Firmen und Banken waren die englischen führend. Besonders aktiv beteiligte sich das englische Kapital an Goldunternehmen, aber auch die verarbeitende Industrie (Holzindustrie, Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte) geriet sehr stark unter den Einfluß englischrussischer bzw. mitunter auch englisch-amerikanischer Gesellschaften. Das deutsche Kapital stand in Sibirien deutlich hinter dem englischen zurück. Bekannt sind einige größere Bergbauunternehmen und Handelsfirmen im Fernen Osten, die von deutschen Gesellschaften kontrolliert wurden, doch ist es hier noch schwieriger, die Grenze zu russischen Unternehmen zu ziehen. Das hängt damit zusammen, daß in vielen Fällen die deutschen Unternehmer ständig in Rußland lebten und sich durch ihre doppelte Staatsangehörigkeit auch juristisch tarnen konnten. Dieser Umstand machte es ihnen möglich,

10 11

94

Vgl. Livsin, Ja. /., Monopolii v ekonomike Rossii, Moskau 1961, S. 59 -60. Vgl. Zolnikov, a.a.O., S. 39.

auch nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, den Einfluß auf einige kriegswichtige Industriezweige Rußlands nicht gänzlich zu verlieren. Die Aktivitäten ausländischer Monopole lassen sich insgesamt schlecht miteinander vergleichen, weil ihr Betätigungsfeld und ihr Vorgehen sehr unterschiedlich waren. Während sich z. B. in der verarbeitenden Industrie Sibiriens kaum französische Finnen engagierten, war die Beteiligung des französischen Finanzkapitals vor allem bei der Kohleförderung beträchtlich. Den tatsächlichen Umfang französischer Wirtschaftsinteressen in Sibirien kann man erst ermessen, wenn man berücksichtigt, daß Rußland Anfang des Jahrhunderts an der Spitze im französischen Kapitalexport stand. 1902 ging etwa ein Viertel des französischen Kapitalexports nach Rußland. Allerdings war Frankreichs Einfluß auf das Wirtschaftsleben Rußlands für Uneingeweihte weniger sichtbar, da er sich vorwiegend über Staatsanleihen und nicht durch Unternehmen und Investitionen vollzog. Deutschland und die USA kämpften jahrelang verbissen um Konzessionen für den Bau der Eisenbahn, doch blieben alle Bemühungen erfolglos, da die zaristische Regierung sich äußerst zurückhaltend gegenüber der direkten Beteiligung ausländischer Firmen und Banken am Eisenbahnbau verhielt; sie bevorzugte den Abschluß von Staatsanleihen wohl nicht allein aus ökonomischen, sondern aus außenpolitischen Gründen, wohl aber auch aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Der Bau der Eisenbahn trug dazu bei, daß auch die sibirische Landwirtschaft relativ schnell in die kapitalistische Entwicklung einbezogen wurde. Eine besondere Rolle spielten dabei Massenumsiedlungen, die, vor allem im Rahmen der Stolypinschen Reformen, zur Lösung der Agrarkrise beitragen sollten. Durch die Umsiedler vergrößerte sich die Bevölkerung Sibiriens vor dem ersten Weltkrieg um 4 Mill. Auf einen so plötzlichen Zuwachs war das Land nicht vorbereitet. Der Zustrom an Arbeitskräften brachte neue Probleme. W. I. Lenin erklärte, nachdem die ersten Auswirkungen der Umsiedlungen sichtbar wurden, daß dieser Weg nicht geeignet sei, Rußland aus der Agrarkrise herauszuführen: „Die verarmten, verelendeten, ausgehungerten Massen dieses Zentrums . . . stürzten sich auf die Umsiedlung . . . und — stellten schließlich die 60 Prozent Rückkehrer . . . Die ,neue' Agrarpolitik, die einen Landstrich Rußlands nach dem anderen, die Bauern eines Bezirks nach dem anderen ruiniert, macht allmählich allen Bauern klar, daß die wirkliche Rettung nicht hier liegt." 12 12

Lenin, W. /., Werke, Bd. 19, S. 72 f.

95

Diese Umsiedlerwelle hatte jedoch ihre Folgen. Sie trug zur sozialen Differenzierung der bäuerlichen Bevölkerung bei und förderte den Warencharakter der landwirtschaftlichen Produktion. „. . . der rückständigste Grundbesitz, das unkultivierteste Dorf — aber fortgeschrittenster Industrie- und Finanzkapitalismus" 13 — diese widerspruchsvolle Entwicklung in der Landwirtschaft Rußlands am Anfang des 20. Jh. vollzog sich auch in Sibirien. Während sich einerseits halbfeudale Überreste auf dem Dorf hielten und den besonders räuberischen Charakter der kapitalistischen Ausbeutung förderten, wirkte andererseits bereits Monopolkapital über den Handel und das Kreditsystem auf die sibirische Landwirtschaft ein. Der deutlichste Beweis für diesen Einfluß war die zunehmende Spezialisierung auf Butter- und Getreideproduktion für den Export. Überraschend schnell, innerhalb von nur 10 bis 15 Jahren, entwickelte sich Westsibirien zum größten Butterproduzenten des Landes. Noch 1894 exportierte Sibirien Butter für knapp 4000 Rubel, 1912 dagegen betrugen die Einnahmen für die exportierte Butter schon 67 Mill. Rubel. Der Export sibirischer Butter brachte zu dieser Zeit mehr Gewinn als die durchschnittliche Jahresproduktion der sibirischen Goldindustrie. 14 Diese Spezialisierung innerhalb der Landwirtschaft führte zur Mechanisierung zumindest einiger Produktionszweige. Tatsächlich stieg die Ausrüstung mit Maschinen um 1914 sprunghaft an. Ein Viertel aller in Rußland verkauften landwirtschaftlichen Maschinen ging nach Sibirien, wobei ihr Absatz fast ausschließlich in den Händen ausländischer Monopolvereinigungen lag. Hinter dieser Zahl, die auf die verhältnismäßig hohe Mechanisierung der Landwirtschaft vor allem in Westsibirien hinweist, verbergen sich zwei bemerkenswerte Erscheinungen. Zum einen war die Ausrüstung mit Maschinen sehr unterschiedlich. Die meisten Bauernhöfe besaßen keine dem damaligen technischen Niveau entsprechenden Maschinen. Dagegen war die technische Ausrüstung der relativ zahlreichen Kulakenwirtschaften um vieles besser. Zum anderen war selbst in den Kulakenwirtschaften der relativ hohe Mechanisierungsgrad noch kein Zeichen für die Intensivierung der Landwirtschaft. Im Gegenteil, die maschinelle Bodenbearbeitung erlaubte es, Brachland zu erschließen, anstatt den schon genutzten Boden nach den Erkenntnissen des intensiven Ackerbaus zu kultivieren. 13 14

96

Lenin, W. /., Werke, Bd. 13. S. 449. Vgl. Gorjuskin, L. M., Socialno-ekonomiceskie predposylki socialisticeskoj revoljucii v sibirskoj derevne, Novosibirsk 1962, S. 63.

Noch einschneidender als für die Industrie und Landwirtschaft waren die direkten Auswirkungen des Eisenbahnbaus für den sibirischen Handel. Die Transsibirische Eisenbahn veränderte seine Organisationsstruktur von Grund auf. Die für Sibirien typischen Jahrmärkte und das verzweigte Maklersystem wurden nach und nach durch direkte, reguläre Handelsbeziehungen zwischen den einzelnen Gebieten ersetzt. Besonders groß war der Aufschwung des innersibirischen Handels: Der Umsatz verdreifachte sich innerhalb von 10 Jahren und erreichte 1910/11 150 Mill. Rubel. 15 Daneben wuchs auch der über Sibirien hinausgehende Handel stark an; der Umsatz stieg von 8 bis 10 Mill. Rubel Ende des 19. Jh. auf 134 Mill. Rubel im Jahre 1907! Dieser gewaltige Sprung erklärt sich in erster Linie daraus, daß die sibirische Landwirtschaft sehr rasch den Ubergang zum vorwiegend warenproduzierenden Wirtschaftszweig vollzogen hatte, nachdem der Absatz ihrer Produkte mit dem Bau der Eisenbahn relativ gesichert war. 90 Prozent der oben genannten Gesamtsumme entfielen auf landwirtschaftliche Produkte. Ein Teil der aus Sibirien ausgeführten Butter, des Getreides, der Eier usw. ging in andere Gebiete Rußlands, ein fast ebenso großer Teil jedoch wurde ins Ausland exportiert. Die eindeutige Ausrichtung des sibirischen Handels auf landwirtschaftliche Produkte entsprach auch der Struktur des russischen Exports in diesen Jahren. Vor dem ersten Weltkrieg stand Rußland an erster Stelle der getreideexportierenden Länder und ließ mit über 35 Prozent des Weltgetreideexports seine Konkurrenten weit hinter sich. An zweiter Stelle folgte Argentinien mit 15 Prozent, an dritter die USA mit 10 Prozent. 16 Der Aufschwung des sibirischen Handels wurde begleitet und gefördert von der raschen Einbeziehung Sibiriens in das gesamtrussische Finanzsystem. Innerhalb kurzer Zeit richteten die meisten wichtigen Banken zahlreiche Filialen in Sibirien ein. Bis zum Jahr 1910 arbeiteten von der Staatsbank 19, von der Sibirischen Handelsbank 19, von der Russisch-Asiatischen Bank 15, von der Russischen Außenhandelsbank 9, von der Russischen Industrie- und Handelsbank 3 und von der Wolga-Kama-Bank 4 Filialen in Sibirien.17 Starke Positionen im Handel eroberte sich auch das ausländische Kapital, das gleichermaßen von Osten und von Westen nach Sibirien eindrang. Begünstigt und angelockt durch die im Fernen Osten bis 1909 geltende 15 16 17

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. III, S. 190. Vgl. Mezdunarodnaja torgovlja, Moskau 1954, S. 182 f. Vgl. Istorija Sibiri, Bd. III, S. 192.

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Gebührenermäßigung (System des porto-franko), entwickelten die Agenten der ausländischen Handels- und Finanzunternehmen eine rege Aktivität ifi dieser Region. 1904 waren durch ihre Konsularund Handelsagenten 10 Staaten in Wladiwostok vertreten, darunter die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Japanische Kaufleute überfluteten die Stadt, ihre legalen und halblegalen Geschäfte wurden allerdings 1904 durch den Ausbruch des russischjapanischen Krieges unterbrochen. Vom Westen her drang das europäische Handelskapital Anfang des Jahrhunderts vor allem in das Buttergeschäft ein. Dänische, englische, deutsche Firmen entstanden in Westsibirien in rascher Folge. Im Jahre 1901 gab es allein in Omsk 14 ausländische Firmen, die sich ausschließlich mit dem Butterexport befaßten. Die wirtschaftliche Entwicklung brachte auch Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur Sibiriens. Innerhalb von 2 Jahrzehnten entstanden 30 neue Städte, darunter Nowonikolajewsk (heute Nowosibirsk), die sehr rasch in die Reihe der Großstädte vorrückten. Alte sibirische Städte wie Tjumen, Omsk, Krasnojarsk u. a. verii iderten ihr Antlitz, das vom Aufschwung der Wirtschaft und des Handels bestimmt wurde. Dagegen gerieten Städte wie Tobolsk, Surgut und Beresow, die abseits von der Eisenbahn lagen, für Jahrzehnte beinahe in völlige Vergessenheit. 1914 machten die Stadtbewohner einen Anteil von über 11,9 Prozent an der Gesamtbevölkerung Sibiriens aus, das bedeutete einen Zuwachs von über 3 Prozent innerhalb von 17 Jahren. Allerdings sagt dieser in der „Geschichte Sibiriens" angeführte prozentuale Vergleich zu wenig über die Veränderungen in der sibirischen Bevölkerung jener Zeit aus. Die städtische Bevölkerung vergrößerte sich von 358000 im Jahre 1897 auf 1,111 Mill. im Jahre 1914, d. h. um etwa das 3fache. Die relativ geringe Veränderung im Verhältnis zwischen der ländlichen und der städtischen Bevölkerung erklärt sich daraus, daß die Umsiedlungsaktion aus anderen Teilen Rußlands auch zum Anwachsen der ländlichen Bevölkerung von 5,341 Mill. im Jahre 1897 auf 9,151 Mill. im Jahre 1914 führte. Das Zuwachstempo der städtischen Bevölkerung war in den 17 Jahren doppelt so hoch wie das der ländlichen Bevölkerung — diese Angaben demonstrieren deutlich den Trend der Bevölkerungsentwicklung in Sibirien vor 1917.18 Die klassenmäßige Zusammensetzung der sibirischen Bevölkerung 18

98

Gorjuskin, L. M., Agrarnye otnosenija v Sibiri perioda imperializma (1900— 1917), Novosibirsk 1976, S. 135, 144 f.

unterlag bis 1917 ebenfalls großen Veränderungen. Es bildete sich vor allem eine relativ (gemessen an gesamtrussischen Verhältnissen) starke Arbeiterklasse heraus. Am Vorabend der Oktoberrevolution waren in den wichtigsten Industriezweigen Sibiriens 300000 Lohnarbeiter beschäftigt. Die Gesamtzahl der Lohnarbeiter, einschließlich der Beschäftigten in der Landwirtschaft und im Handwerk, betrug schätzungsweise 900000. Die Zusammensetzung des sibirischen Proletariats widerspiegelt die Bedeutung der einzelnen Industriezweige. So bildeten den größten und bedeutendsten Teil der Arbeiterklasse die Eisenbahner (zusammen mit anderen Transportarbeitern — etwa 120000). Über 80000 arbeiteten im Bergbau, 70000 in der verarbeitenden Industrie und 25000 in der Bauindustrie. Der Anteil der qualifizierten Facharbeiter, die bekanntlich eine führende Rolle im Prozeß der Organisierung der Arbeiterklasse spielten, war vor dem ersten Weltkrieg bei den Eisenbahnern am höchsten. Durch Krieg und Mobilmachung wurde jedoch ein bedeutender Teil der Facharbeiter abgezogen. Der Bedarf an Eisenbahnarbeitern wurde bis 1916 zu knapp 50 Prozent mit unqualifizierten Arbeitskräften, die fast ausschließich aus der Bauernschaft kamen, gedeckt. Der Krieg beeinflußte auch die nationale Zusammensetzung der sibirischen Arbeiterklasse. Sie war schon vor dem Kriege recht vielschichtig. Bei der Eisenbahn betrug der Anteil der nationalen Minderheiten bis zu 10 Prozent. Es waren vor allem Polen, Tataren, Litauer, Letten und Deutsche. In der Goldindustrie Westsibiriens waren viele Tataren und Kasachen beschäftigt, während in Ostsibirien in derselben Branche Ausländer aus dem benachbarten China und Korea auf Vertragsbasis arbeiteten. Ihr Anteil betrug z. B. im Lenagebiet bis zu 50 Prozent. Seit Anfang 1916 kam eine neue Gruppe zu den Arbeitern nichtrussischer Nationalität hinzu: Es waren zwangsverpflichtete Vertreter der sibirischen Völkerschaften und der Völker Mittelasiens. In einigen kriegswichtigen Betrieben betrug ihre Zahl Anfang 1917 bis zu 75 Prozent. Schließlich müssen noch die Kriegsgefangenen erwähnt werden, die seit 1915 verstärkt in der Industrie und in der Landwirtschaft Sibiriens arbeiten mußten. Nach Angaben der Hauptverwaltung des Generalstabes der russischen Armee befanden sich Ende 1917 in Sibirien über 250000 Kriegsgefangene. Daß am Vorabend der Revolution für ein Territorium von 10 Mill. km 2 nur 300000 Arbeiter gezählt wurden, läßt auf eine ungenügende Konzentration des Proletariats schließen. Eine genaue 99

Analyse der Aufteilung der Industriearbeiter nach Gebieten und Betrieben brachte jedoch andere Erkenntnisse. Für die Eisenbahnarbeiter traf die globale Feststellung über die geringe Konzentration des sibirischen Proletariats nicht zu. Sie waren an den wichtigsten Eisenbahnknotenpunkten konzentriert; darüber hinaus bestanden enge Verbindungen zu anderen Berufsgruppen. Während der revolutionären Erhebungen wurden die großen Städte an der Transsib-Strecke Zentren des Aufstandes, die auch untereinander in Verbindung standen. Diese Erkenntnisse brachte u. a. die Revolution von 1905/07. An der Transsib lagen sich nicht nur die wichtigsten Verwaltungszentren, in denen die verarbeitende Industrie konzentriert war, sondern auch die 3 größten Gebiete der Kohleförderung — der Kusbass, Tscheremchowo und die Transbaikalregion. Daraus ergab sich ein relativ hoher Grad der Konzentration des Proletariats. Das wirkte sich vorteilhaft bei der Organisierung der Arbeiter aus und begünstigte die Durchführung revolutionärer Aktionen. Das ausländische und das aus Zentralrußland stammende Monopolkapital hatte in Sibirien starke Positionen erobert. Die sibirische Großbourgeoisie verschmolz im Laufe der Entwicklung mit dem russischen Finanz- und Monopolkapital. Sibirische Großunternehmer wie z. B. Wtorow, Stachejew u. a. besaßen führende Stellungen in den zentralrussischen Monopolvereinigungen. Häufiger allerdings waren Moskauer und Petersburger Firmen und Banken an sibirischen Unternehmen beteiligt. Diese enge Verschmelzung drückte sich politisch darin aus, daß in Sibirien und im europäischen Teil Rußlands dieselben Parteien existierten. Einen besonderen Einfluß auf die bürgerliche, kleinbürgerliche und sogar zum Teil auf die proletarische Masse der sibirischen Bevölkerung hatte jene Strömung innerhalb der Bourgeoisie, die vorgab, die besonderen Interessen Sibiriens zu vertreten: die Oblastniki. Ihre revolutionär-demokratische Entwicklungsphase hatten sie um die Jahrhundertwende hinter sich gelassen. Mit der separatistischen Forderung „Sibirien den Sibiriern" reihten sie sich in die bürgerlichnationalistische Welle ein, die in den Randgebieten des Landes als Alternative zur internationalistisch orientierten Arbeiterbewegung immer mehr Verbreitung fand. Ihre Verbindungen zu nationalistischen Organisationen in anderen Teilen des Landes sowie die Tatsache, daß über die Ziele der Oblastniki selbst in Kreisen der demokratischen Intelligenz und der Arbeiterklasse Illusionen bestanden, machten sie zu einer beachtlichen konterrevolutionären Potenz. Das zeigte sich gleich nach der Februarrevolution. 100

Charakteristisch für die sibirische Bourgeoisie war der hohe Anteil der Dorfbourgeoisie, der sich zum einen aus dem hohen Anteil der Dorfbevölkerung (über 80 Prozent) an der Gesamtbevölkerungszahl ergab. Zum anderen war die Dorfbourgeoisie in den sibirischen Dörfern zahlreicher vertreten als im Landesdurchschnitt. Etwa 18 Prozent der Landbevölkerung zählten zur Dorfbourgeoisie. In absoluten Zahlen ausgedrückt waren das im Jahr 1914 über 1,5 Mill. Bauern. Wenn auch ihr Einfluß bei weitem nicht ihrer zahlenmäßigen Stärke entsprach, so besaß sie zumindest auf dem Lande eine nicht zu unterschätzende Position. Die konterrevolutionäre Rolle, die das sibirische Kulakentum noch Jahre nach der Revolution spielte, muß auch im Zusammenhang mit seiner zahlenmäßigen Stärke gesehen werden. 19 Die Differenzierung innerhalb der größten Klasse der sibirischen Gesellschaft, der Bauernschaft, wurde schon in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von W. I. Lenin während der Verbannung beobachtet und in seinem Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" analysiert. Die 20 darauffolgenden Jahre brachten eine eindeutige Kräftepolarisierung innerhalb der Bauernschaft. Eine Besonderheit Sibiriens bestand nicht nur in der Stärke der Dorfbourgeoisie, sondern auch im geringeren Anteil der armen Bauernschaft. Gorjuschkin kam nach Untersuchungen im Altai, im Transbaikalgebiet und im Tomsker Gouvernement zu den für Sibirien typischen Prozentzahlen: 18 Prozent Dorfbourgeoisie, 32 Prozent Mittelbauern, 50 Prozent Dorfarmut 20 . Die entsprechenden Zahlen für ganz Rußland vor der Revolution lauteten: 15 Prozent Dorfbourgeoisie, 20 Prozent Mittelbauern, 65 Prozent Dorfarmut. 21 Dies bestätigt zwar die These, daß die sibirische Bauernschaft insgesamt wohlhabender war als die des zentralen Rußlands. Doch sagen die Durchschnittszahlen noch wenig über die innerhalb des Gesamtbildes verborgenen Extreme aus. Die Zahl der ackerlosen Bauern war in den Gouvernements besonders groß, in die der Hauptstrom der Umsiedler gelenkt wurde. Umsiedler und Verbannte bildeten auch schon Ende des 19. Jh. die wichtigste Quelle des Landproletariats. Als dann die Übersiedlungen zur Massenerscheinung wurden, spitzte sich die Situation weiter zu. Die Massenverelendung machte die si19

Vgl. Guscin, N, Ja., Sibirskaia derevnja na puti k socializmu, Novosibirsk

20

Vgl. Gorjuskin, L. M., Agrarnye otnosenija vSibiriperiodaimperializma(1900—

1973, S. 34 f. 1917), Novosibirsk 1976, S. 172 ff. 21

Vgl. Narodnoe chozjaistvo SSSR. Statisticeskij sbornik, Moskau 1956, S. 98.

101

birische Dorfarmut vorübergehend für Parolen der Sozialrevolutionäre empfanglich. Die nebelhafte Forderung nach „Boden und Freiheit" wirkte vor allem wegen des in ihr enthaltenen spontanen Elements. Objektiv jedoch bildete die 4 bis 5 Mill. starke sibirische Dorfarmut die Reserve für die sozialistische Umgestaltung auf dem Lande. Wie im ganzen Land spielte auch in Sibirien die Intelligenz im politischen und kulturellen Geschehen eine bestimmende Rolle. Ihr Einfluß war um so bemerkenswerter, wenn man die zahlenmäßige Stärke dieser Schicht mit der Rußlands vergleicht. Nach den Angaben der Volkszählung von 1897, bei der die Intelligenz unter dem Begriff „Selbständige Bevölkerung" ausgewiesen wurde, betrug deren Anteil an der Gesamtbevölkerung Rußlands lediglich 2,7 Prozent. Sie gliederte sich in 3 Gruppen, wobei die größte Gruppe (50,8 Prozent) die sogenannte Beamtenintelligenz vereinigte, die in der Verwaltung und im Staatsapparat tätig war. Die zweite Gruppe (36,3 Prozent) umfaßte Geistes- und Kulturschaffende. Die in der materiellen Produktion beschäftigte Intelligenz bildete mit 12,9 Prozent die kleinste Gruppe. 22 Diese Zahlen galten mit einigen Korrekturen auch für Sibirien, wobei der bereits für ganz Rußland zu geringe Anteil der Intelligenz an der Gesamtbevölkerung für das unterentwickelte Sibirien noch deutlicher gewesen sein dürfte. Demgegenüber nahm die sibirische Intelligenz nach der Jahrhundertwende im Landesmaßstab zahlenmäßig am meisten zu. Hinweise auf die schnelle quantitative Entwicklung der Intelligenzschicht in Sibirien kann man den Untersuchungen entnehmen, die sich mit der Kultur jener Zeit beschäftigen. 23 Die Erfordernisse der kapitalistischen Entwicklung machten es notwendig, das äußerst niedrige Bildungsniveau der sibirischen Bevölkerung zu heben. Die bereits erwähnte Volkszählung aus dem Jahre 1897 ergab, daß 87,6 Prozent der sibirischen Bevölkerung Analphabeten waren. Die Zahl der Schulen erhöhte sich zwar Ende des 19. Jh., doch wenn in den 20 Jahren bis 1908 insgesamt 3890 Schulen in ganz Sibirien eröffnet wurden, so war damit der Bildungsnotstand bei weitem nicht überwunden. Mit den neuen Schulen ergab sich ein anderes 22

23

Vgl. Soskin, V. L., Politiceskie pozicii sibirskoj intelligencii v period Oktjabr'skoj socialisticeskoj revoljucii, in: Izvestija Sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, Nr. 11, vypusk 3, 1967, S. 102 f. Vgl. Samachov, F. F., Skola Zapadnoj Sibiri mezdu dvumja burzuazno-demokraticeskimi revoljucijami (1907—1917gg.), Tomsk 1966; Prosvescenie i kul'tura v Sibiri vo vtoroj polovine XIX — nacale XX v., in: Istorija Sibiri, Bd. III, S. 366 ff.

102

Problem, das schnell gelöst werden mußte: das Fehlen einer pädagogisch ausgebildeten Intelligenz. Die ersten 3 pädagogischen Fachschulen entstanden in Sibirien erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die vierte kam 1892 dazu. Echte Fortschritte in der Lehrerausbildung wurden erst nach der Jahrhundertwende erreicht. Fast in allen größeren Städten Sibiriens enstanden pädagogische Fachschulen und Lehrerbildungsinstitute. Im Jahre 1888 begann der Lehrbetrieb an der Tomsker Universität, der ersten in Sibirien. Ihre Eröffnung war ein wichtiges Ereignis im sibirischen kulturellen Leben. Zwar gab es in den ersten 10 Jahren nur eine Fakultät, nämlich die medizinische, die juristische folgte erst 1898, dennoch war die Bedeutung der Tomsker Universität von Anfang an sehr groß, da sich ihre Tätigkeit nicht allein auf die Ausbildung von Fachspezialisten beschränkte. Die Universität entstand dank der Initiative der progressiven Intelligenz und stand von Anfang an im Mittelpunkt der geistigen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen jener Zeit. Ihren Ruf als ein Zentrum der sibirischen Hochschulbildung baute die Stadt Tomsk Anfang des 20. Jh. weiter aus. Der Eröffnung der Technologischen Hochschule im Jahre 1900 wurde von offizieller Seite kaum Widerstand entgegengesetzt. Dagegen fand die Forderung nach einer Hochschulbildungsstätte für Frauen lange kein Verständnis. Die 1906 erteilte Genehmigung, daß auch Frauen die Tomsker Universität fakultativ besuchen durften, wurde 2 Jahre später wieder rückgängig gemacht. Erst Ende 1910 wurden an der Universität Hochschulkurse für Frauen eröffnet. Außer Tomsk besaß nur noch Wladiwostok seit 1898 eine Hochschule. Es handelte sich um das Orientalische Institut, dessen Absolventen nach dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn und nach der Aktivierung der zaristischen Politik im Fernen Osten ein breites Betätigungsfeld fanden. Über die politische Haltung der Intelligenz, vor allem im Hinblick auf die anwachsende revolutionäre Arbeiterbewegung, kann man sich nur indirekt ein Urteil bilden. Die im Vergleich zum europäischen Rußland demokratischere soziale Basis der sibirischen Intelligenz (der hohe Anteil der Volksschullehrer, die meist bäuerlicher bzw. kleinbürgerlicher Herkunft waren) brachte es mit sich, daß sie in ihrer Lebensweise und in ihren Anschauungen mit dem Volk eng verbunden war und seine Sorgen teilte. Einen großen revolutionierenden Einfluß auf die Intelligenz übten die politisch Verbannten aus. Sie hatten bedeutenden Anteil an der wissenschaftlichen Erforschung Sibiriens und traten darüber hinaus sowohl als Vermittler zwischen der Intelligenz 103

und den revolutionär gesinnten Arbeitern als auch als Propagandisten der marxistischen Ideen in Kreisen der Lehrer, der Studenten, der Ärzte und der Ingenieure Sibiriens auf. Eine andere Ursache für die oppositionelle Haltung unter der Intelligenz war die offizielle Kultur- und Bildungspolitik der Regierung. Jede Neuerung auf diesem Gebiet, jede Initiative, jedes Projekt einer neuen Bildungsstätte stieß auf den Widerstand des Staatsapparates. Als Gründe wurden meist Schwierigkeiten bei der Finanzierung solcher Projekte angegeben. Der wahre Grund lag jedoch in der grundsätzlich negativen Einstellung der Regierung gegenüber jeder Weiterbildung der Bevölkerung. Die Finanzierung neuer Einrichtungen konnte die Regierung kaum beunruhigen, da sie in vielen Fällen von privaten Förderern übernommen wurde. Erst nach vielen Auseinandersetzungen wurde z. B. der Bau der Tomsker Universität, der zum erheblichen Teil durch den Goldunternehmer Zibulski und den Polarforscher A. Sibirjakow finanziert wurde, gestattet. Am ehesten duldete man die Erhöhung der Studienplätze für naturwissenschaftliche und technische Fächer. Als jedoch 1907 der Antrag auf Eröffnung einer historisch-philologischen Fakultät in Tomsk an das Ministerium für Volksbildung eingereicht wurde, lehnte man ihn als „unzeitgemäß und unerwünscht" ab. In einer solchen Atmosphäre war es nicht verwunderlich, wenn scharfe Kritik an der Regierungspolitik aus den Kreisen der Intelligenz kam. Viele fanden den Weg zum revolutionären Marxismus und leisteten der sibirischen Arbeiterbewegung wertvolle Dienste. Allerdings war das nicht der einzige Weg, den die oppositionell gestimmte sibirische Intelligenz wählte. Der Einfluß der Oblastniki war gerade in diesen Kreisen beträchtlich und stabil.

3. Entstehung der Arbeiterbewegung. Die große Kraftprobe In der Zeit, in der sich das Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung nach Rußland verlagerte, in der sich mit der Gründung der bolschewistischen Partei eine neue Etappe der russischen Arbeiterbewegung ankündigte, blieb auch Sibirien nicht abseits dieser Geschehnisse. Die Anfänge der Arbeiterbewegung kündigten sich hier in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit Streikaktionen an. Zuerst waren es ausschließlich Bergarbeiter, die sich an den Streiks in verschiedenen sibirischen Regionen beteiligten. Der Bau der Transsib änderte die Situation auch in dieser Hinsicht. Schon während des Streckenbaus bewiesen die 104

und den revolutionär gesinnten Arbeitern als auch als Propagandisten der marxistischen Ideen in Kreisen der Lehrer, der Studenten, der Ärzte und der Ingenieure Sibiriens auf. Eine andere Ursache für die oppositionelle Haltung unter der Intelligenz war die offizielle Kultur- und Bildungspolitik der Regierung. Jede Neuerung auf diesem Gebiet, jede Initiative, jedes Projekt einer neuen Bildungsstätte stieß auf den Widerstand des Staatsapparates. Als Gründe wurden meist Schwierigkeiten bei der Finanzierung solcher Projekte angegeben. Der wahre Grund lag jedoch in der grundsätzlich negativen Einstellung der Regierung gegenüber jeder Weiterbildung der Bevölkerung. Die Finanzierung neuer Einrichtungen konnte die Regierung kaum beunruhigen, da sie in vielen Fällen von privaten Förderern übernommen wurde. Erst nach vielen Auseinandersetzungen wurde z. B. der Bau der Tomsker Universität, der zum erheblichen Teil durch den Goldunternehmer Zibulski und den Polarforscher A. Sibirjakow finanziert wurde, gestattet. Am ehesten duldete man die Erhöhung der Studienplätze für naturwissenschaftliche und technische Fächer. Als jedoch 1907 der Antrag auf Eröffnung einer historisch-philologischen Fakultät in Tomsk an das Ministerium für Volksbildung eingereicht wurde, lehnte man ihn als „unzeitgemäß und unerwünscht" ab. In einer solchen Atmosphäre war es nicht verwunderlich, wenn scharfe Kritik an der Regierungspolitik aus den Kreisen der Intelligenz kam. Viele fanden den Weg zum revolutionären Marxismus und leisteten der sibirischen Arbeiterbewegung wertvolle Dienste. Allerdings war das nicht der einzige Weg, den die oppositionell gestimmte sibirische Intelligenz wählte. Der Einfluß der Oblastniki war gerade in diesen Kreisen beträchtlich und stabil.

3. Entstehung der Arbeiterbewegung. Die große Kraftprobe In der Zeit, in der sich das Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung nach Rußland verlagerte, in der sich mit der Gründung der bolschewistischen Partei eine neue Etappe der russischen Arbeiterbewegung ankündigte, blieb auch Sibirien nicht abseits dieser Geschehnisse. Die Anfänge der Arbeiterbewegung kündigten sich hier in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit Streikaktionen an. Zuerst waren es ausschließlich Bergarbeiter, die sich an den Streiks in verschiedenen sibirischen Regionen beteiligten. Der Bau der Transsib änderte die Situation auch in dieser Hinsicht. Schon während des Streckenbaus bewiesen die 104

Eisenbahner, daß sie den Kampf gegen Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit entschlossen aufnahmen. Die Streiks der Erbauer der Transsib, die seit Mitte der neunziger Jahre zur „ersten und wichtigsten Frage" für die örtlichen Ordnungshüter wurden, veranlaßten im Jahre 1897 das Innenministerium zur Ausarbeitung eines ganzen Systems von Maßnahmen zur Bekämpfung der Streikbewegung in Sibirien. Neu waren nicht nur Umfang und Zusammensetzung der Streikbewegung. Wie im europäischen Rußland zeigte sich auch hier der Einfluß sozialdemokratischer Gruppen und marxistischer Zirkel auf den Kampf der Arbeiter. Der erste dreitägige Streik in Sibirien anläßlich des 1. Mai 1900 kam im Kusbass unter Einfluß der örtlichen sozialdemokratischen Gruppen und der politisch Verbannten zustande. Nicht nur für die Arbeiterbewegung bedeutete diese Verbindung eine Wende, sondern auch für die sozialdemokratischen Gruppen selbst. Die Entwicklung der einzelnen, voneinander isolierten Zirkel zum Studium des Marxismus zu Organisationen, die Kontakte zur Arbeiterbewegung suchten und fanden, dauerte lange und war um die Jahrhundertwende noch keineswegs abgeschlossen. Die Fortschritte aber, die bis dahin erzielt wurden, hingen nicht zuletzt mit der unermüdlichen Tätigkeit der politisch Verbannten, die die erste Generation der sibirischen Sozialdemokraten erzogen hatten, zusammen. Die lange Reihe der politisch Verbannten der neuen marxistischen Richtung führten die Mitglieder der von Plechanow geführten Gruppe „Befreiung der Arbeit" an — L. Deitsch, G. Gukowski, S. Rainitsch. Ihnen folgten die Leiter der ersten sozialdemokratischen Organisationen der Industriezentren Rußlands M. Brusnew, L. Krassin, M. Mandelschtam (Ljadow) sowie die führenden polnischen Sozialdemokraten M. Wojnicz, F. Kon, W. Weselowski und F. Dzierzynski. Von 1897 bis 1900 befand sich W. I. Lenin in sibirischer Verbannung. 24 Er wurde im Dezember 1895 zusammen mit anderen Mitbegründern des „Kampfbundes für die Befreiung der Arbeiterklasse" verhaftet, verbrachte über 1 Jahr im Gefängnis und kam anschließend, Anfang März 1897, in Krasnojarsk an, wo man für ihn nach etwa 2 Monaten das Dorf Schuschenskoje im Kreis Minussinsk zum Verbannungsort bestimmte. N. K. Krupskaja folgte ihm in dieses 500

24

Vgl. Lenin, W. /., Sibirskaja ssylka. Po vospominanijam i dokumentam, hg. von A. I. Ivanskij, Moskau 1975.

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Thomas, Sibirien

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Werst von der Eisenbahn entfernte, abgelegene Dorf nach. Lenin entfaltete in der Verbannung eine rege theoretische und praktische Tätigkeit. Hier entstanden über 30 seiner Arbeiten, darunter „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", „Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" und „Unser Programm". Zwei Probleme standen im Mittelpunkt seiner Tätigkeit: die Analyse der kapitalistischen Entwicklung in Rußland (eine Aufgabe, die er vor allem in der „Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" anhand umfangreicher, u. a. auch sibirischer Materialien und Statistiken gelöst hat) und der Plan für die Bildung einer gesamtrussischen marxistischen Arbeiterpartei. Ende 1897 schrieb Lenin die Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", in der er die Erfahrungen des Petersburger Kampfbundes verallgemeinerte. Darin formulierte er die bekannte These, daß es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung geben kann. In der Broschüre begründete er die These von der untrennbaren Verbindung des demokratischen Kampfes mit dem Kampf gegen den Zarismus und äußerte sich zur Haltung der Arbeiterpartei zu den anderen, nichtproletatischen Klassen und Parteien in der demokratischen Revolution. In dem verlassenen sibirischen Dorf wurde die Idee einer gesamtrussischen revolutionären Zeitung geboren, wurden die Methoden ihrer Verbreitung, die Art der Publikationen durchdacht, die Stützpunkte vorbereitet. Der eigene illegale Briefwechsel mit mehr als 40 Adressaten, darunter mit Genossen, die in anderen sibirischen Orten in Verbannung lebten, half Erfahrungen zu sammeln, die später für die Verbreitung der „Iskra" genutzt wurden. Lenin interessierte sich auch für die Tätigkeit der örtlichen sozialdemokratischen Zirkel. Unter seinem Einfluß entstand ein solcher Zirkel in Krasnojarsk. Es war durchaus nicht einfach, diese Verbindungen unter den Bedingungen polizeilicher Aufsicht aufrechtzuerhalten. Für ein paar Reisen nach Krasnojarsk konnte die zahnärztliche Behandlung als Vorwand dienen; dann aber mußte man immer neue Vorwände erfinden. Im Jahre 1899 schrieb Lenin den Artikel „Unsere nächste Aufgabe", in dem er die Notwendigkeit der Schaffung der Partei betonte. Die Krasnojarsker Erfahrungen dienten ihm u. a. als Material für die Einschätzung der Situation. Er schrieb: „Die lokale sozialdemokratische Arbeit hat bei uns bereits einen recht hohen Entwicklungsstand erreicht. Die Saat der sozialdemokratischen Ideen ist schon überall in Rußland ausgestreut; Arbeiterflugblätter — diese erste Form der sozialdemokratischen Literatur — sind bereits allen russi106

sehen Arbeitern, von Petersburg bis Krasnojarsk und vom Kaukasus bis zum Ural, bekannt. Was uns jetzt fehlt, ist eben die Zusammenfassung dieser gesamten lokalen Arbeit zur Arbeit einer einzigen Partei." 25 Im Sommer 1899 sammelte sich eine starke Gruppe verbannter Revolutionäre im Minussinsker Kreis. Darunter befanden sich einige, die später zum Kern der revolutionären Partei gehörten, was nicht zuletzt auf die Kontakte mit Lenin während der Verbannung zurückzuführen ist: G. M. Krshishanowski, W. K. Kurnatowski, F. W. Lengnik, das Ehepaar Lepeschinski, N. N. Pamin u. a. So war, als Lenin am 29. Januar 1900 Sibirien verließ, ein festes Fundament für die Propagierung marxistischer Ideen gelegt. Um die Jahrhundertwende existierten fast in jeder sibirischen Großstadt marxistische Zirkel bzw. Organisationen. Der Boden für ihre Entstehung wurde durch die Tätigkeit der verbannten Narodniki, die die Impulse für das Studium marxistischer Literatur gegeben hatten, vorbereitet.26 Aus dem Bedürfnis nach Kontakten und Unterstützung erwuchs der Plan, alle vorhandenen marxistischen Kräfte Sibiriens zusammenzuschließen.27 Auf Initiative Tomsker Sozialdemokraten wurde im Sommer 1901 die programmatische Erklärung „Vom Sibirischen Bund der Sozialdemokraten" ausgearbeitet, in 300 Exemplaren gedruckt und unter den Arbeitern von Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk und Omsk verbreitet. Der Leitung der neu entstandenen Organisation, die sich „Sibirischer Bund der Sozialdemokraten" nannte, gehörten Vertreter aus Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk sowie verbannte Sozialdemokraten an. Als seine Aufgabe betrachtete der Bund die Entwicklung des Klassenbewußtseins der sibirischen Arbeiter, die Propagierung der Ideen des Kampfes für politische Freiheit und Sozialismus. Wichtig für den Standort dieser Organisation war die im Programm geäußerte Absicht, engste Kontakte zur gesamtrussischen Partei herzustellen, sobald sich eine solche endgültig formierte. Die Erklärung druckte die Leninsche „Iskra" vollständig ab. Im Kommentar der „Iskra" wurde die Gründung dieses Bundes begrüßt. Gleichzeitig warnte die „Iskra"-Redaktion vor separatisti25 26

27

Lenin, W. /.. Werke, Bd. 4, S. 210. Vgl. Andreev, V. M., Rasprostranenie marksistskoj literatury i nelegal'naja dejatel'nost' ssylnych revoljucionerov-narodnikov, in: Ssylka i katorga v Sibiri, a.a.O., S. 1 9 1 - 2 0 7 . Vgl. Naucitel', M. V., Pervyj irkutskij social-demokrat, in: Ssylka i katorga v Sibiri, a.a.O., S. 208—222.

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sehen Tendenzen, nämlich vor der Absicht, den gesamten Parteiapparat, einschließlich eines eigenen Parteiorgans, gesondert aufzubauen, anstatt die vorhandenen Kräfte für die gesamtrussische Organisation zu verwenden. Der „Iskra"-Kommentar spürte den wunden Punkt in der Programmerklärung des „Sibirischen Bundes" auf, der sofort zur Streitfrage zwischen zwei Strömungen der sibirischen Sozialdemokraten wurde. Die eine solidarisierte sich in Grundfragen mit der Leninschen „Iskra" und vertrat die Linie der gesamtrussischen revolutionären Sozialdemokratie. Die andere stand unter dem Einfluß der Ideen der Oblastniki und teilte ihre Inkonsequenzen und Illusionen hinsichtlich eines separaten Weges Sibiriens, wobei sie bei den Menschewiki Unterstützung suchte. Der Ausgang der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Strömungen wurde nicht zuletzt durch den Einfluß mitbestimmt, den die „Iskra" sehr rasch in Sibirien gewann. Ursprünglich geriet die Zeitung Lenins mehr oder weniger zufallig in die Hände der sibirischen Marxisten. Später, als der Einfluß der „Iskra"-Strömung in Sibirien anwuchs und sie Anhänger in den einzelnen Organisationen hatte, entwickelten sich feste Verbindungen. Eine große Rolle spielten dabei G. M. Krshishanowski und Lenins Schwester A. I. Uljanowa-Jelisarowa. Sie verbrachte Ende 1902 einige Monate in Tomsk und half bei der Organisierung der dortigen „Iskra"-Gruppe. Sibirische Marxisten wurden bald zu ständigen Korrespondenten der „Iskra". Den sibirischen Ereignissen widmete die „Iskra" insgesamt 54 Artikel. 28 Gegen Anfang des Jahres 1903 bestand in den sibirischen Organisationen die einmütige Bereitschaft, bei der Bildung der marxistischen revolutionären Arbeiterpartei Rußlands im Leninschen Sinne mitzuarbeiten. Das brachte der „Sibirische Bund" im Januar 1903 in einer Erklärung zum Ausdruck, in der er sich uneingeschränkt auf die Seite der „Iskra"-Richtung stellte. Noch deutlicher zeigte sich diese Haltung auf der I. Konferenz des „Sibirischen Bundes" im Juli 1903 in Irkutsk. In der Resolution über den Plan des Parteiaufbaus wurde die Notwendigkeit unterstrichen, das Schwergewicht der Arbeit „von den örtlichen Interessen auf die gesamtrussischen" zu verlagern. Der „Sibirische Bund" erklärte sich zu einer provisorischen Organisation, die nur bis zur endgültigen Bildung der gesamtrussischen Partei existieren sollte. Die Konferenz war von großer Bedeutung nicht allein für Sibirien, sondern für die gesamte russische sozialdemokratische 28

Vgl. Sibirskie korrespondencii v leninskuju „Iskru", Irkutsk 1951; K., 24 dekabrja 1900, Moskau 1977.

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Tarnovskij,

Bewegung, da sie am Vorabend des II. Parteitages der SDAPR in Grundfragen für die Politik auftrat, die die Bolschewiki auf dem Parteitag erfolgreich vertraten. Allerdings war der ideologische Klärungsprozeß auch innerhalb der sibirischen Sozialdemokratie noch nicht abgeschlossen. Die erste große Bewährungsprobe für die sibirische Arbeiterbewegung kam mit der Revolution von 1905/07. Über die Ereignisse am 9. Januar 1905 vor dem Petersburger Winterpalais, die unter der Bezeichnung „Blutsonntag" in die Geschichte eingegangen sind, sollte das Volk im Lande nach der Absicht der zaristischen Zensur nichts erfahren. Es gelang ihr jedoch nicht zu verhindern, daß die Nachrichten über die Erschießung der Demonstranten sehr rasch im In- als auch im Ausland bekannt wurden. Aus Flugblättern, die von den örtlichen Komitees der SDAPR verbreitet wurden, erfuhr die Bevölkerung des Landes sowohl den Inhalt der Bittschrift an den Zaren als auch den Text des Briefes der 457 Petersburger Schriftsteller, Journalisten und Publizisten „An die Offiziere der russischen Armee, die sich an dem Blutbad vom 9. Januar nicht beteiligten". Wie das ganze Land, antwortete Sibirien ebenfalls mit einer Proteststreikwelle auf die Nachrichten aus Petersburg. „In Rußland ist Revolution!" lautete die Überschrift eines Flugblattes, das am 16. Januar von der Krasnojarsker Organisation der SDAPR herausgebracht wurde. Darin wurde die Krasnojarsker Arbeiterschaft aufgerufen, die Arbeit niederzulegen und den Streik zu erklären. Es wurde empfohlen, die Eisenbahnzüge anzuhalten und in Kontakt mit den Soldaten zu treten. Der Streik begann am 17. Januar. Die Forderungen, welche die Krasnojarsker Arbeiter dem Gouverneur unterbreiteten, waren zwar rein ökonomischer Natur, doch der Anlaß und die Atmosphäre des Streiks verliehen diesen Forderungen politischen Charakter: Es war ein Protest gegen die Selbstherrschaftsordnung. Bezeichnend für das Klima dieser Wochen und Monate war, daß alle Versammlungen, auch die ohne direkten politischen Anlaß, zu einer Manifestation gegen die Regierung genutzt wurden. Die Liberalen veranstalteten im Januar in vielen sibirischen Städten Banketts aus Anlaß des 150. Jubiläums der Moskauer Universität. Revolutionäre Arbeiter und Studenten, die an solchen Banketten teilnahmen, nutzten diese für revolutionäre Meetings. In Tomsk z. B. eröffnete G. M. Potanin ein Bankett. In seiner Rede kündigte er Zeiten an, in denen eine echte Redefreiheit herrschen werde. Danach ge109

dachte die Versammlung „der Opfer des offenen Kampfes gegen die Regierung für die Befreiung der Heimat" 29 . Die revolutionäre Stimmung steigerte sich, als etwa 200 organisierte Arbeiter und Studenten im Saal erschienen. Es wurde eine Resolution angenommen, die zum Generalstreik an der Transsibirischen Eisenbahn und zum Sturz der Selbstherrschaft durch einen Volksaufstand aufrief. Die erste Streikwelle dauerte den ganzen Januar an und erfaßte außer Krasnojarsk und Tomsk noch weitere 9 Orte. Schon in dieser Phase wurde mit den Vorbereitungen für den Generalstreik an der gesamten Transsibirischen Eisenbahn begonnen. Besonders wichtig nahmen die Bolschewiki die Agitation unter den Soldaten, die für den russischjapanischen Krieg mobilisiert worden waren. Die Flugblätter, die man in den Waggons verteilte, enthielten den Aufruf, nicht an die Front zu fahren, sondern sich mit den Arbeitern im Kampf gegen den Zarismus zu vereinigen. Besonders seit dem Frühsommer 1905 wurde die Orientierung auf den Generalstreik, die auch der III. Parteitag der Bolschewiki gegeben hatte, ernst genommen. Eine wichtige Zwischenetappe bei der Mobilisierung der Massen für diese Aufgabe bildete der Eisenbahnerstreik. Er begann am 21. Juli in Tschita, wo die Arbeiter der Eisenbahnwerkhallen die Arbeit niederlegten. Es ging dabei zunächst um ökonomische Forderungen. Sechs Tage später jedoch wurden in einer Versammlung, an der mehr als 1000 Arbeiter teilnahmen, bereits politische Forderungen gestellt. Die Teilnehmer beschlossen, gegen den Krieg und die Zarenregierung zu kämpfen 30 , und wählten ein Streikkomitee, dem auch Vertreter der SDAPR angehörten. Der Streik dauerte bis zum 9. August. Inzwischen waren die Arbeiter anderer sibirischer Eisenbahnknotenpunkte dem Beispiel ihrer Kollegen in Tschita gefolgt. Der Streik breitete sich wellenartig entlang der Transsib aus. Darin äußerte sich zugleich aber auch seine Schwäche, seine beschränkte Wirksamkeit. Noch war es nicht gelungen, die ganze Eisenbahnstrecke zumindest für kurze Zeit völlig lahmzulegen. Doch die Erfahrung war lehrreich und wurde in kommenden Kämpfen genutzt. Im Oktober begann im ganzen Lande der Generalstreik, nachdem am 7. Oktober die Arbeiter und Angestellten der Strecke Moskau—Ka29 30

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. III, S. 253. Wie schwerwiegend diese Anrufe waren, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß Rußland zu dieser Zeit den Krieg gegen Japan führte, in dem Sibirien schon wegen seiner geographischen Lage eine wichtige strategische Rolle spielte.

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san in den politischen Streik getreten waren. Ihnen folgten die Werktätigen von mehr als 40 Eisenbahnlinien des Landes. Insgesamt schlössen sich 750000 Eisenbahnarbeiter der Aktion an. Andere Industriezweige folgten. Der Post- und Telegrafendienst wurde stillgelegt. Am 13. Oktober schlössen sich die Eisenbahner von Krasnojarsk, Taiga, Tomsk, am 14. die von Tschita, Werchneudinsk und Irkutsk dem allgemeinen Streik an. Bis zum 17. Oktober waren fast alle Städte, Stationen und Arbeitersiedlungen an der sibirischen Eisenbahn vom Streik erfaßt. Die politische Aufklärungsarbeit erreichte in diesen Tagen einen nie dagewesenen Umfang. In Krasnojarsk wurden im Monat Oktober über 43 000 Flugblätter verteilt. Fast täglich erschien das „Streikbulletin". Ähnlich intensiv war die Massenagitation in anderen Städten. Bekanntlich versuchte die Zarenregierung den Streik mit dem Manifest vom 17. Oktober abzuwürgen. Darin versprach der Zar, dem Volk demokratische Freiheiten zu „schenken", der Duma gesetzgeberische Funktionen zu verleihen, das allgemeine Wahlrecht einzuführen usw. Die Zugeständnisse, zu denen der Zar gezwungen war, enthielten auch eine Amnestie für politische Gefangene und Verbannte. Für Sibirien, dem größten Gefängnis Rußlands, hatte diese Verordnung besondere Bedeutung. Die entlassenen politischen Gefangenen schlössen sich sofort dem Kampf an. Lenins Kampfgefährte, der Revolutionär I. W. Babuschkin, der wegen Verbreitung der „Iskra" und anderer Aktivitäten 1903 für 5 Jahre nach Werchojansk verbannt worden war, begab sich nach seiner Amnestierung sofort nach Irkutsk. Dort trat er der Irkutsker bolschewistischen Organisation bei und beteiligte sich aktiv an der Organisierung des Streiks. Wie Babuschkin handelten auch andere verbannte Revolutionäre. Die Bereitschaft zu Zugeständnissen war aber nur eine Seite der Taktik der zaristischen Regierung. Gleichzeitig nutzten sie den Terror der monarchistischen Organisation der Schwarzhunderter zur Bekämpfung der Revolution. Eine Welle organisierter Pogrome erfaßte das ganze Land — von den polnischen Provinzen bis zum Fernen Osten. Zusammen mit der Polizei wurden die Schwarzhunderter auch in sibirischen revolutionären Zentren gegen Demonstranten und Steikende eingesetzt. Besonders brutal gingen sie in Tomsk vor. Der Pogrom begann bereits an dem Tag, an dem das Zarenmanifest bekannt wurde — am 18. Oktober —, und dauerte 5 Tage. Morde, Brandstiftungen, Erschießungen friedlicher Passanten — das waren die Mittel, die diese Bande mit Genehmigung des Tomsker Gouver111

neurs und mit dem Segen von Erzpriester Makari gegen die Revolution einsetzte. Die Arbeiterklasse antwortete darauf mit der Bildung von Kampfgruppen zur Verteidigung und zum Schutz der Revolution. Sie traf verstärkte Vorbereitungen zum bewaffneten Aufstand. Die Kampfgruppen waren unter diesen Bedingungen nicht nur Mittel der Selbstverteidigung; mit ihrer Hilfe erfolgte auch die Mobilisierung und Vorbereitung der Kräfte für den geplanten Aufstand. Der Generalstreik war am 24. Oktober beendet. An diesem Tag begann wieder der regelmäßige Zugverkehr der Transsib. Während des Streiks waren nur Soldaten aus der Mandschurei nach Europa befördert worden, deren Ankunft in den Zentren der Revolution die Zarenregierung fürchtete und hinauszuzögern versuchte. Doch das sibirische Proletariat bereitete sich auf neue entscheidende Auseinandersetzungen vor. Unruhen unter den in Sibirien stationierten Truppen bestärkten die Entschlossenheit, den Kampf weiterzuführen. Für den Verlauf und den Ausgang der bevorstehenden Kämpfe war der Charakter der im November 1905 in Sibirien erstmals gegründeten Sowjets von großer Bedeutung. Dort, wo es unter dem Einfluß der Bolschewiki gelungen war, diese Organisationen zu machtausübenden Organen zu machen, wurde der Aufstand Ende 1905 zur echten Kraftprobe der revolutionären Arbeiterbewegung. Dank der entschlossenen Tätigkeit der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten sind die sogenannten Republiken von Krasnojarsk und Tschita in die Geschichte der Revolution von 1905 eingegangen. Tschita gehörte den Stützpunkten der revolutionären Bewegung in Ostsibirien. Der Einfluß des bolschewistischen Komitees der SDAPR war entlang der Transbaikaleisenbahn bis in die Mandschurei zu spüren. Besonders große Wirkung erzielte die Partei unter den Eisenbahnern. Mit ihrer Hilfe wurden die Soldaten und Kosaken der Stadtgarnison in die bolschewistische Propaganda miteinbezogen. Die Vorbereitung zum bewaffneten Aufstand wurde gründlich und vielseitig durchgeführt. Allein im November/Dezember wurden 200000 Flugblätter gedruckt, in denen die Aufgaben des revolutionären Kampfes in ganz Rußland und in Sibirien erläutert sowie Fragen der Strategie und Taktik der SDAPR besprochen wurden. Die Flugblätter wurden zuerst in 3 „enteigneten" Privatdruckereien, später in der staatlichen Druckerei der Gouvernementsverwaltung gedruckt. Zugleich sorgten die Kampfgruppen und die revolutionären Soldaten für die notwendige Selbstbewaffnung, indem sie die Waffenlager der Armee ausräumten. Die gut bewaffneten Arbeiter und Sol112

daten konnten dann ohne Widerstand die Macht den gewählten Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten übergeben. Zu den ersten Maßnahmen des Sowjets gehörten die Befreiung der politischen Gefangenen, die Proklamierung der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, die Einführung des Achtstundenarbeitstages sowie die Bildung einer Volksmiliz zum Schutz der Ordnung in der Stadt. Am 9. Januar 1906, am ersten Jahrestag des Blutbades in Petersburg, fanden Meetings und Demonstrationen in Tschita und in den nahegelegenen Städten und Eisenbahnknotenpunkten statt. Dies waren die letzten Massendemonstrationen in der kurzen Geschichte der „Republik von Tschita". Von Westen und Osten näherten sich bereits Strafexpeditionen der aufrührerischen Stadt. Zur Niederwerfung der „Republik" im fernen Sibirien schickte die Zarenregierung gleich 2 Strafexpeditionen, eine aus Moskau unter der Leitung von General Meller-Zakomelski, die andere aus der Mandschurei mit Baron Rennenkampf an der Spitze. Meldungen über den blutigen Terror beider Expeditionen, die unterwegs entlang der Eisenbahn in fast jedem Ort Erschießungen vornahmen, erreichten Tschita noch vor ihrem Eintreffen. Am 12. Januar wütete die Strafexpedition von General Meller-Zakomelski auf der Station Ilanskaja, am 18. Januar wurden 6 Revolutionäre auf der Station Mysowaja erschossen. Unter ihnen befand sich auch I. W. Babuschkin. Am 22. Januar standen beide Strafexpeditionen vor der Stadt. Die Arbeiter von Tschita versuchten, den Widerstand zu organisieren, doch die Stadt war isoliert. Die Erschießungen der Revolutionäre im Baikalgebiet dauerten 4 Monate. Mit der Niederschlagung der „Republik von Tschita", wie auch vorher der „Krasnojarsker Republik", war der Höhepunkt der Revolution überschritten. Lenin schätzte die Rolle solcher „Republiken" in der Revolution hoch ein, wenn er auch ihre Kurzlebigkeit und Isoliertheit sah: „Manche Städte in Rußland erlebten in jenen Tagen die Epoche der verschiedenen lokalen und ganz kleinen .Republiken', als die Regierungsgewalt abgesetzt wurde und der Arbeiterdelegiertenrat wirklich als neue Staatsmacht funktionierte. Leider waren es zu kurze Perioden und zu schwache, zu isolierte, Siege'." 31 Diese Feststellung traf Lenin in einem Vortrag, den er im Januar 1917, einen Monat vor der Februarrevolution, vor Vertretern der schweizerischen Arbeiterjugend im Züricher Volkshaus hielt. Auf die Lehren der Revolution von 1905/07 ist er in der Zeit zwischen den beiden Re31

Lenin, W. /., Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 256.

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volutionen sehr oft eingegangen; er hat sie analysiert und daraus Schlußfolgerungen für den weiteren Kampf gezogen. Wie für das ganze Rußland war auch für Sibirien das Erwachen der Massen „zum politischen Bewußtsein und zu revolutionärem Kampfe" das geschichtlich Bedeutendste der Ereignisse Anfang des Jahres 1905, während der Generalstreik im Oktober und die bewaffneten Aufstände „den Höhepunkt der aufsteigenden Linie" der Revolution darstellten.32 Im Feuer der Revolution entstanden die Sowjets, die die Rolle einer provisorischen revolutionären Regierung, wenn auch nur für kurze Zeit, spielten. Ein besonderes Problem in Sibirien während der Revolution war die Frage des Bündnisses mit der Bauernschaft. Historiker Sibiriens betrachten die revolutionären Ereignisse 1905/07 als Beginn der Verwirklichung dieses Bündnisses. Der mobilisierende Einfluß der Arbeiterbewegung auf die Bauenschaft zeigte sich vor allem in der Tatsache, daß die meisten Bauernbewegungen in Sibirien — im Altai-, Baikalund Jenisseigebiet — im Unterschied zum übrigen Zarenreich bereits im Dezember 1905, also während des Höhepunktes der Arbeiterbewegung, stattfanden. Allerdings war die Bauernbewegung in Sibirien insgesamt wesentlich schwächer als im europäischen Rußland, wo sie sich besonders gegen die Überreste der feudalen Verhältnisse richtete.33 Für den weiteren Verlauf des Klassenkampfes und der Auseinandersetzung um die Macht zwischen Februar und Oktober 1917 war die Auswertung der Haltung der Bourgeoisie in der Revolution 1905/07 von besonderer Bedeutung. Die zaristische Selbstherrschaft hatte sich in den Augen der sibirischen Arbeiter entlarvt, und auch die Kirche hatte, nachdem ihr Bündnis mit dem Zaren offensichtlich geworden war, stark an Einfluß verloren. 34 Doch die konterrevolutionäre Rolle der Bourgeoisie war vielen Arbeitern noch unklar geblieben. Die revolutionäre Welle im Zarenreich ging auch über die Grenzen des Landes hinaus. So wurde z. B. Sibirien zu einem wichtigen Vermittler der Ideen der russischen Revolution für die Länder Asiens, vor allem 32

Ebenda, S. 245, 255.

33

Vgl. Gorjuskin, L. M., Ob uslovijach i formach osuscestvlenija sojuza rabocego klassa s krestjanstvom v Sibiri na burzuazno-demokraticeskom etape revoljucii, in: Izvestija sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, H. 6, vyp. 3, 1976, S. 5 1 - 6 3 . Vgl. Bakaev, Ju. N., Ateizm rabocich Sibiri v gody pervoj russkoj revolucii, in: ebenda, S. 75—81.

34

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für China und die Mongolei.35 Enge Verbindungen zwischen dem russischen Fernen Osten sowie der Mongolei und China und inbesondere die Tatsache, daß chinesische und mongolische Arbeiter an der Eisenbahn und im Bergbau beschäftigt waren, erklärten die Schnelligkeit, mit der sich die Nachricht über den Ausbruch der Revolution in Rußland in diesen Ländern verbreitete. Doch die vorhandenen Kenntnisse der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in den asiatischen Ländern reichten nicht aus, um die Grundprobleme der Rolle des Proletariats und seiner Partei in der Revolution schon voll zu erfassen.36 Diese Einschränkung ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß mit der Revolution 1905/07 die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen im Zeitalter des Imperialismus auch in Osteuropa und Asien begonnen hatte.

4. Von den Ereignissen an der Lena bis zum Sturz der Selbstherrschaft „Erst die Beruhigung, dann die Reformen" 37 — das war das Konzept von P. A. Stolypin, der 4 Jahre an der Spitze der Regierung für die Politik des konterrevolutionären Terrors nach der Revolution 1905/07 maßgeblich verantwortlich war. Die „Beruhigung" allerdings erlebte Stolypin nicht mehr. Er wurde 1911 ermordet. Doch das folgende Jahr schien die von den russischen Reaktionären ersehnte „Ruhe" zu bringen: Die Statistik weist für Januar 1912 eine außergewöhnlich niedrige Zahl von Streiks aus. Lediglich 21 wurden in diesem Monat im ganzen Land registriert. Auch im Februar blieb diese Zahl konstant. Zwar waren unter den bestreikten Betrieben wieder die Putilow-Werke, doch der revolutionäre Geist ihrer Arbeiter war so bekannt, daß Streiks hier keineswegs überraschten. In den anderen Fällen aber handelte es sich um Unruhen in der Provinz, z. B. unter den Goldgräbern der „Lensoloto", die irgendwo im Westen Jakutiens die Qualität des Fleisches, das sie vorgesetzt bekamen, zu beanstanden hatten. Diese mächtige russisch-englische monopo35

36

37

Vgl. Seresevskij, B. M., Lenin o vlijanii revoljucii 1905—1907 gg. na Kitaj, in: ebenda, S. 71—74. Vgl. z. B. Krymov, A. G., Obscestvennaja mysl' i ideologiceskaja bor'ba v Kitae (1900—1917gg.), Moskau 1972. Vgl. Sacillo, K. F., Stolypin, in: Istoriceskaja enciklopedija, Bd. 13, Moskau 1971, S. 843.

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für China und die Mongolei.35 Enge Verbindungen zwischen dem russischen Fernen Osten sowie der Mongolei und China und inbesondere die Tatsache, daß chinesische und mongolische Arbeiter an der Eisenbahn und im Bergbau beschäftigt waren, erklärten die Schnelligkeit, mit der sich die Nachricht über den Ausbruch der Revolution in Rußland in diesen Ländern verbreitete. Doch die vorhandenen Kenntnisse der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in den asiatischen Ländern reichten nicht aus, um die Grundprobleme der Rolle des Proletariats und seiner Partei in der Revolution schon voll zu erfassen.36 Diese Einschränkung ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß mit der Revolution 1905/07 die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen im Zeitalter des Imperialismus auch in Osteuropa und Asien begonnen hatte.

4. Von den Ereignissen an der Lena bis zum Sturz der Selbstherrschaft „Erst die Beruhigung, dann die Reformen" 37 — das war das Konzept von P. A. Stolypin, der 4 Jahre an der Spitze der Regierung für die Politik des konterrevolutionären Terrors nach der Revolution 1905/07 maßgeblich verantwortlich war. Die „Beruhigung" allerdings erlebte Stolypin nicht mehr. Er wurde 1911 ermordet. Doch das folgende Jahr schien die von den russischen Reaktionären ersehnte „Ruhe" zu bringen: Die Statistik weist für Januar 1912 eine außergewöhnlich niedrige Zahl von Streiks aus. Lediglich 21 wurden in diesem Monat im ganzen Land registriert. Auch im Februar blieb diese Zahl konstant. Zwar waren unter den bestreikten Betrieben wieder die Putilow-Werke, doch der revolutionäre Geist ihrer Arbeiter war so bekannt, daß Streiks hier keineswegs überraschten. In den anderen Fällen aber handelte es sich um Unruhen in der Provinz, z. B. unter den Goldgräbern der „Lensoloto", die irgendwo im Westen Jakutiens die Qualität des Fleisches, das sie vorgesetzt bekamen, zu beanstanden hatten. Diese mächtige russisch-englische monopo35

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Vgl. Seresevskij, B. M., Lenin o vlijanii revoljucii 1905—1907 gg. na Kitaj, in: ebenda, S. 71—74. Vgl. z. B. Krymov, A. G., Obscestvennaja mysl' i ideologiceskaja bor'ba v Kitae (1900—1917gg.), Moskau 1972. Vgl. Sacillo, K. F., Stolypin, in: Istoriceskaja enciklopedija, Bd. 13, Moskau 1971, S. 843.

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listische Vereinigung gehörte zwar zu den größten Goldproduzenten der Welt und zählte Mitglieder der Zarenfamilie und Minister zu ihren Aktionären, doch man hatte schließlich Mittel, um die Unruhen zu bekämpfen. Als aber nach fast 2 Monaten der Streik nicht nur beendet war, sondern sich auf alle Betriebe der „Lensoloto" ausgeweitet hatte, griff die Polizei zu dem „bewährten" Mittel der Erschießung friedlicher Demonstranten. 270 Arbeiter wurden erschossen, 250 verletzt.38 Die Antwort auf die Erschießungen an der Lena erfolgte unerwartet rasch und heftig. Bereits 3 Tage später fanden die ersten Protestmeetings in Petersburg statt. Die Streiks, an denen sich im April 300000 Arbeiter im ganzen Land beteiligten, waren noch nicht abgeklungen, als der Aufruf der Bolschewiki „Nieder mit der Zarenregierung" zur Losung der Massendemonstrationen wurde, die anläßlich des 1. Mai in 50 Gouvernements des Landes stattfanden. Das war der Beginn eines neuen revolutionären Aufschwungs, an dem die Arbeiter Sibiriens aktiv beteiligt waren. Zwischen April und Dezember 1912 fanden 20 Streiks der Bergarbeiter Sibiriens statt. Die Eisenbahner gehörten erneut zu den Initiatoren der Streikbewegung. Die ersten Eisenbahnerstreiks begannen noch im April und erfaßten zunächst nur die private Bodaibo-Eisenbahn, die zum „Lensoloto"-Konzern gehörte. Bereits ab Juni jedoch waren Streiks und Unruhen an der Transsibirischen Eisenbahn an der Tagesordnung. Der neue revolutionäre Aufschwung brachte keine Wiederholung der Ereignisse von 1905/07. Zu den Erfahrungen der Revolution kamen Lehren hinzu, die die Arbeiterklasse und ihre Partei während der schweren Zeiten der Reaktion gesammelt hatten. Die Führung der in der Illegalität arbeitenden Partei befand sich zu jener Zeit zum großen Teil in der Emigration, während fast das ganze Russische Büro des ZK der SDAPR in sibirischer Verbannung war. Die ZK-Mitglieder J. M. Swerdlow, J. W. Stalin, S. S. Spandarjan, W. G. Nogin, F. I. Goloschtschekin, D. M. Schwarzmann und die Kandidatin des ZK J. D. Stassowa setzten ihre Arbeit unter den schwierigen Bedingungen der sibirischen Verbannung fort. Von Narym, Jakutsk, Jenisseisk und anderen Verbannungsstätten aus unterhielten sie Kontakte nicht nur mit den Parteiorganisationen des ganzen Landes, sondern auch mit Lenin und anderen Mitgliedern der Parteiführung, die im Ausland leben mußten. Kontakte zur örtlichen Arbeiterbewe38

Vgl. Lebedev, M. /., Vospominanija o lenskich sobytijach. 1912 goda. Moskau 1962.

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gung waren unter den Bedingungen der polizeilichen Überwachung nicht einfach. Doch wären ohne sie die Verbindungen zum Zentrum nicht möglich gewesen. Das Risiko dieser Kontakte mußte jedoch in vertretbaren Grenzen bleiben. Das Verbindungssystem funktionierte gut. Als Beispiel dafür kann ein Ereignis aus späterer Zeit dienen: Die erste Resolution der Zimmerwalder Linken gelangte an das Petersburger Parteikomitee über Jenisseisk. Lenin schickte sie von der Schweiz aus in einem Brief an G. I. Petrowski, der sich in Jenisseisk in Verbannung befand. 39 Ohne solche Kontakte wäre es auch nicht möglich gewesen, 3 Tage nach den Ereignissen an der Lena eine Protestaktion unter den Arbeitern von Petersburg zu organisieren. Ein anderer Umstand, der die Situation von 1912 von der während der Revolution 1905/07 unterschied, war die Arbeit der „Prawda", der ersten legalen Zeitung des revolutionären russischen Proletariats. Sie war auf Initiative W. I. Lenins und auf Beschluß der VI. Konferenz der SDAPR im April 1912 entstanden, und die Berichterstattung über die Lena-Ereignisse gehörte zu ihren ersten Aufgaben. Mit Hilfe der „Prawda" wurde eine ständige Verbindung zwischen sibirischen Organisationen und den zentralen Organen der Partei hergestellt. Schon im ersten Halbjahr veröffentlichten die sibirischen „Prawdisten" über 300 Korrespondenzen. 40 Unter den Aufsätzen aus Sibirien befanden sich viele Berichte über die Lebensbedingungen der politisch Verbannten. Diese Artikel machten die Öffentlichkeit auf eine besonders grausame Seite der zaristischen Justizpraxis aufmerksam. Der Einfluß der verbannten Bolschewiki auf die sibirische Arbeiterbewegung war sehr umfangreich und wichtig für den politischen Klärungsprozeß. Allerdings wäre es falsch, den Grad der revolutionären Reife in den sibirischen Organisationen mit dem Bewußtseinsstand und dem politischen Gewicht der verbannten Revolutionäre gleichzusetzen. Die Entstehung und Entwicklung der sibirischen Arbeiterbewegung wies Besonderheiten auf, die mit dem allgemeinen sozialen Entwicklungsniveau des Gebietes zusammenhingen. Einzelne Etappen des Reifeprozesses der Bewegung konnten nicht übersprungen werden. Eine Schwäche der sibirischen Arbeiterbewegung lag darin begründet, daß in vielen sibirischen Grundorganisationen der SDAPR die organisatorische Trennung von den Menschewiki nicht vollzogen wurde. Das führte zu Umwegen, Inkonsequenzen,

39 40

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. III, S. 450. Vgl. Sosnovskaja, L. P., Pis'ma v leninskuju „Pravdu", in: Ssylka i katorga S. 275-293. 117

später auch zu Niederlagen in der Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie, als es um die Machtergreifung ging. Die nächste große Prüfung für alle Klassen und Parteien Rußlands, für alle Strömungen in der internationalen Arbeiterbewegung kam mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Der imperialistische Weltkrieg, an dem sich insgesamt 33 Staaten beteiligten und in dem Rußland 2,3 Mill. Gefallene zu beklagen hatte, wurde von einem Chauvinismus begleitet, der nicht nur die Bourgeoisie und die Gutsbesitzer, sondern auch die bürgerliche Intelligenz, Teile der Bauernschaft und des Kleinbürgertums und sogar einige Schichten der Arbeiterklasse ergriff. Für die „Verteidigung des Vaterlandes" traten die politischen Parteien aller Richtungen, von den Schwarzhundertern bis zu den Sozialrevolutionären, ein. Die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze traten als einzige konsequent gegen den Krieg auf, sie orientierten auf die „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg". Wie für ganz Rußland brachte der Krieg auch für Sibirien außerordentliche Belastungen. Das Transportwesen hielt den erhöhten Anforderungen nicht stand, was zu Versorgungsproblemen in der Industrie und ab 1916 zu Lebensmittelknappheit vor allem in den Nortigebieten führte. Sie traf zuerst und am meisten das Proletariat. In einer komplizierten Lage befanden sich die Dörfer, aus denen bis zu 50 Prozent der arbeitsfähigen Männer eingezogen worden waren. Die Antikriegspropaganda der Bolschewiki fand unter diesen Bedingungen selbst bei den Bevölkerungsschichten Gehör, die bisher nur schwer zu erreichen waren. Nach zeitweiligem Rückgang stieg die Streikbewegung wieder an. Sie trug immer deutlicher politischen Charakter. Großen Einfluß hatte ein im Sommer 1916 ausgebrochener Aufstand in Mittelasien, der gegen das zaristische Kolonialsystem gerichtet war. Eine interessante Episode aus der Tätigkeit der politisch Verbannten in Sibirien war die Gründung des sogenannten „Militärsozialistischen Bundes". Als die Zarenregierung sich gezwungen sah, die allgemeine Mobilmachung auch auf politisch Verbannte auszudehnen, nutzten die Bolschewiki von Narym die Gelegenheit, in der Armee eine illegale revolutionäre Organisation zu bilden. Der Kern der Organisation mit N. N. Jakowlew und W. M. Kossarew an der Spitze, wurde im September 1916 gegründet. Der „Bund" begann seine Arbeit innerhalb der Tomsker Garnison. Ihm schlössen sich alle an, die bereit und gewillt waren, gegen den Krieg und die Selbstherrschaft zu kämpfen; darunter war auch ein Teil der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Anfang 1917 zählte der „Bund" mindestens 200 Mit118

glieder; er hatte Verbindungen zu anderen sibirischen Städten, aber auch nach Moskau und Petrograd. In Tomsk befand sich eine illegale Druckerei. Die von Bolschewiki verfaßten Flugblätter wurden in Nowonikolajewsk, Atschinsk, Krasnojarsk und Irkutsk verbreitet. Im Februar gelang es der Polizei, die Spur des „Bundes" zu finden. Gegen die Führer wurde ein Prozeß vorbereitet. Doch dazu kam es nicht — die Februarrevolution brach aus. Als ein Ergebnis der Arbeit des „Bundes" kann man die Tatsache werten, daß 70000 Soldaten der Tomsker Garnison zu den ersten gehörten, die gleich nach der Nachricht über die Ereignisse in Petrograd der zaristischen Regierung den Gehorsam verweigerten und auf die Seite der Revolution übergingen.41 Die Nachricht von dem Sturz der Monarchie erreichte Sibirien auf telegraphischem Wege Anfang März 1917. Die Februarrevolution bedeutete einen Einschnitt, dessen Tiefe für das langsam dahinlebende Sibirien vielleicht nur mit dem Bau der Transsib verglichen werden kann. Wie in ganz Rußland, wirkte der Sturz des Zaren revolutionierender auf die Massen, als alle durch die bürgerliche Provisorische Regierung eingeführten Veränderungen, die für Sibirien ohnehin rein formellen Charakter trugen. Die Gouverneure der Provinzen wurden durch Regierungskommissare ersetzt, die Polizei hieß nunmehr Miliz usw. Neu entstanden die sogenannten Ausschüsse für Öffentliche Ordnung, die sich fast überall zu Machtorganen der Bourgeoisie und damit zu Kontrahenten der Sowjets entwickelten. Die Unzufriedenheit mit der neuen Macht zeigte sich zuerst dort, wo Kräfte vorhanden waren, die die bürgerliche Politik der Provisorischen Regierung und die ihrer lokalen Vertreter durchschauten. Die Bolschewiki Sibiriens leisteten vor allem unter den Arbeitern und unter den Soldaten der Garnisonen in Omsk, Irkutsk und im Amurgebiet große Aufklärungsarbeit. Unter schwierigen Bedingungen erfüllten sie die Aufgabe, die Massen für den Kampf um die Arbeitermacht zu mobilisieren. Besonders erschwerend wirkte sich der Umstand aus, daß in vielen Parteiorganisationen die organisatorische Abtrennung von den reformistischen Kräften nicht vollzogen war. Eine ständige Verbindung mit der Petersburger Zentrale und Klarheit in den Fragen der Weiterführung der Revolution kamen erst nach der Aprilkonferenz der SDAPR(B) zustande. Das ZK leistete seit dieser Zeit der sibirischen Parteiorganisation regelmäßig Hilfe und hielt mit ihr enge Verbindung. Dabei spielten die Kontakte, die einige führende Bolschewiki während der Zeit der Verbannung mit den sibirischen Ar41

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. III, S. 452 f.

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beiterführern geknüpft hatten, eine wichtige Rolle. Zurückgekehrt aus der Verbannung, kümmerten sich S. Ordshonikidse, J. Swerdlow, J. Jaroslawski, W. Kuibyschew und viele andere um den Verlauf der revolutionären Entwicklung in Sibirien. W. I. Lenin führte mehrere Gespräche mit sibirischen Revolutionären, in denen er auf die Abtrennung von den Menschewiki drängte. 42 Die ersten Konflikte mit der neuen bürgerlichen Regierung wurden zu organisierten Aktionen erweitert und hatten eine mobilisierende Wirkung. Im März und April begann eine Welle von Demonstrationen und Versammlungen in Industriegebieten und Städten Sibiriens, auf denen Resolutionen und Forderungen nach sofortiger Beendigung des Krieges angenommen wurden. 43 Unter den sozialen Fragen hatte im Frühjahr 1917 die demokratische Forderung nach der Einführung bzw. Einhaltung des Achtstundentages den Vorrang. Daneben spielten Probleme eine große Rolle, die mit der wachsenden Lebensmittelknappheit und den Preissteigerungen zusammenhingen. Mit Hilfe der Gewerkschaften und der Sowjets war es in den Tomsker, Jenisseisker und Irkutsker Gouvernements gelungen, 60 Kollektivverträge, die die Kontrolle der Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Arbeiter festlegten, abzuschließen. Die revolutionäre schöpferische Tätigkeit der Volksmassen zeigte sich am deutlichsten in der Bildung und in der Tätigkeit der Sowjets. Im Laufe des ersten Monats nach der Februarrevolution entstanden in Sibirien 69 Sowjets, davon 32 Sowjets der Arbeiterdeputierten, 22 Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und 2 Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten. 44 Der Prozeß der Bildung der Sowjets dauerte, nachdem er während des Vormarsches der Konterrevolution im Juli/August ins Stocken geraten war, im Herbst weiter an. Der Schwerpunkt lag jetzt bei der Gründung von Bauernsowjets und bei der Vereinigung der Bauernsowjets mit den Arbeiter- und Soldatenräten. Für die Tätigkeit der sibirischen Sowjets kann in vollem Umfang Lenins Hinweis gelten, daß es in der Provinz mitunter besser gelungen war, die Sowjets als machtausübende Organe zu nutzen, als im Zentrum, wo der organisierte Widerstand der Bourgeoisie stärker war. 45 42 43 44

45

Lenin, W. /., Werke, Bd. 24, S. 3 1 4 - 3 1 6 . Vgl. Safronov, V., Oktjabr' v Sibiri, Krasnojarsk 1962, S. 242. Vgl. Zol'nikov, D. M., Rabocee dvizenie v Sibiri v 1917 g., Novosibirsk 1969, S. 132 f. Lenin, W. /., Werke, Bd. 24, S. 245 f.

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Die von den Bolschewiki geleiteten Sowjets beschränkten ihre Tätigkeit nicht auf örtliche Fragen. Sie suchten und fanden Wege der Vereinigung ihrer Kräfte im Kampf gegen die Konterrevolution. Die ersten Vereinigungsversuche fanden schon während der Niederschlagung des Kornilowputsches statt. Die rasche Bolschewisierung der Sowjets im Herbst 1917 ermöglichte es, für Oktober den Ersten Gesamtsibirischen Sowjetkongreß nach Irkutsk einzuberufen. Irkutsk wurde nicht zufällig zum Tagungsort gewählt. Die Kräfte der Konterrevolution waren hier konzentriert, und man beabsichtigte mit dem vom Kongreß gewählten Organ der Arbeitermacht ein Gegengewicht zu schaffen und die Positionen der Irkutsker Bolschewiki zu stärken. Der Kongreß, der unter Führung der Bolschewiki stand, wählte das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets Sibiriens, das legendäre Zentrosibir, das eine hervorragende Rolle bei der Errichtung der Arbeitermacht in ganz Sibirien spielte. Zum Vorsitzenden des Zentrosibir wurde der Bolschewik B. S. Schumjazki gewählt. Die Bildung der Sowjets, dieser „schon fertigen Organisationsformen der Bewegung", hatte in Sibirien mit seiner relativ schwachen proletarischen Basis außerordentliche Bedeutung für den Sieg der sozialistischen Revolution.

9

Thomas, Sibirien

KAPITEL I V

Die Errichtung der Sowjetmacht

1. Sieg der Oktoberrevolution „Sibirien war bis zur Revolution eine ökonomisch schwach entwikkelte Region mit sehr geringer Bevölkerungsdichte, mit Kleinindustrie z. T. auf der Basis der Heimarbeit. Die Arbeiterklasse war zahlenmäßig schwach. . .Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung waren B a u e r n . . . " 1 Diese Charakteristik des vorrevolutionären Sibiriens ist fast in jedem Nachschlagewerk zu finden. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf ökonomische und soziale Aspekte, die zwar insgesamt auf Rußland zutrafen, für Sibirien jedoch in noch weit größerem Maße bestimmend waren. Deshalb machten sich hier tiefgreifende Umgestaltungen im Bündnis mit den revolutionären Kräften im europäischen Rußland besonders notwendig. Die über dreihundertjährige Zugehörigkeit Sibiriens zum Russischen Reich hatte zur Herausbildung einiger Besonderheiten geführt, deren Berücksichtigung bei der Darstellung des Kampfes um die Sowjetmacht in Sibirien unerläßlich ist. Die außerordentlich geringe Bevölkerungsdichte bestimmte zu einem erheblichen Teil die Art der Beziehungen zwischen den hier ansässigen Völkern. Die sozialökonomischen Unterschiede zwischen der zu 90 Prozent russischen Bevölkerung — bzw. ukrainischen, belorussischen und anderen Bevölkerungsgruppen, die aus verschiedenen Teilen Rußlands übergesiedelt waren — und den sibirischen Völkern, die auf einer viel niedrigeren Entwicklungsstufe standen, wurden durch die Isoliertheit der einzelnen Völker konserviert und wirkten hemmend auf den Verlauf und das Tempo der revolutionären Umgestaltung. Die nationale Befreiungsbewegung der Völker Sibiriens, die sich gegen die zaristische Unterdrückung richtete und mit der Arbeiterbewegung verbündet war, gehörte zu den wichtigsten 1

Sibirien, in: Lexikon der Großen Sozialistischen Oktoverrevolution, Leipzig 1976, S. 275 f.

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Besonderheiten des Kampfes um die Sowjetmacht in diesen Regionen. Auch die historische Entwicklung der Bauernschaft in Sibirien und ihre damalige Situation unterschieden sich von denen der Bauern im europäischen Rußland. Die 9 Mill. Bauern Sibiriens kannten keine Leibeigenschaftsverhältnisse. Die direkte ökonomische Abhängigkeit vom Zaren und von der Regierung (Kabinettboden) lenkte ihren Kampf unmittelbar gegen den Monarchen. Deshalb spielte der Sturz der Selbstherrschaft im Februar 1917 für sie eine größere Rolle als für die Bauern im europäischen Rußland. Nicht zuletzt führte der Einfluß der Partei der Sozialrevolutionäre unter der Bauernschaft dazu, daß die Illusionen über die Politik der Provisorischen Regierung hier länger anhielten. Die Basis des Bündnisses in der sozialistischen Revolution war für die sibirischen Bolschewiki demzufolge das Antikriegsprogramm und erst in zweiter Linie das Programm zur Lösung der Agrarfrage. Eine nicht zu unterschätzende Rolle in den Ereignissen der Jahre 1917 bis 1922 spielten die über eine halbe Million sibirischer Kosaken. Von den 12 im Jahre 1917 existierenden Kosakenverbänden befanden sich 5 in Sibirien: die sibirischen (Westsibirien)-, Amur-, Transbaikal-, Ussuri- und Jenissei-Kosaken. Der älteste, der Sibirische Kosakenverband bestarid seit 1808. Am Vorabend der Oktoberrevolution umfaßte er 11500 Kosaken, die in militärischen Einheiten dienten. Hinzu kamen über 150000 Familienangehörige. Die Residenz des Atamans, der gleichzeitig Generalgouverneur des Steppengebiets und Kommandant des Militärbezirks war, befand sich in Omsk. Für das Kräfteverhältnis in Sibirien hatte dieser Umstand nicht geringe Bedeutung. Von der Entscheidung der Kosaken für oder gegen die Revolution hing hier sehr viel ab. Besondere Probleme widerspiegelt auch die Entwicklung der Taktik der sibirischen Bolschewiki am Vorabend der Revolution. Sie arbeiteten lange Zeit in gemeinsamen Organisationen mit den Menschewiki und grenzten sich erst im September/Oktober 1917 von ihnen ab. Diese späte Trennung hat sich nach Einschätzung Lenins hemmend auf die Revolutionierung der Massen ausgewirkt und verhindert, daß hinreichend Klarheit über die Ziele der Bolschewiki herrschte. Das zeigte sich u. a. in den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung im November 1917. Die Bolschewiki erhielten in Sibirien insgesamt nur 10 Prozent der Stimmen, während auf die Sozialrevolutionäre 75 Prozent entfielen. (Im Landesdurchschnitt erreichten die Bolschewiki 24 Prozent und die Sozialrevolutionäre 40,4 Prozent 9'

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aller abgegebenen Stimmen.2) Diese Zahlen, die keineswegs mehr das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen beiden Parteien widerspiegelten, sind aber insofern bezeichnend, als sie den Abstand Sibiriens vom übrigen Rußland am Vorabend der Revolution deutlich machen. In den letzten Wochen vor der Oktoberrevolution wuchs jedoch der Einfluß der bolschewistischen Parteiorganisationen beträchtlich. So gingen im Oktober die Sowjets von Barnaul, Irkutsk, Krasnojarsk, Tobolsk, Tomsk und anderen Städten zu den Bolschewiki über. Die Errichtung der Sowjetmacht war abhängig vom örtlichen Kräfteverhältnis und erfolgte deshalb in den einzelnen Gebieten Sibiriens zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Während in den Industriegebieten und den größeren Städten entlang der Transsib die Machtübernahme durch die bolschewistischen Sowjets bis Anfang 1918 abgeschlossen war, dauerte dieser Prozeß auf dem Lande und in den nationalen Regionen bis zum Sommer 1918. Die Nachricht über die Ereignisse in Petrograd erreichte z. B. relativ schnell (innerhalb von 2 bis 3 Tagen) die meisten Gouvernementsstädte, wurde aber mitunter wochenlang nicht weitergeleitet, wenn sie, wie z. B. in Jakutsk, in die Hände reaktionärer Vetreter der nationalistischen Machtorgane geriet.3 Es war also nicht allein die territoriale Entfernung, sondern vor allem die jeweilige Klassensituation für den Zeitpunkt der Errichtung der Sowjetmacht ausschlaggebend. Die erste Stadt in Sibirien, in der die Sowjetmacht errichtet wurde, war Krasnojarsk (29. Oktober 1917).4 Etwas länger, weil mit größeren Kämpfen verbunden, dauerte die Auseinandersetzung um die Macht in Omsk und Tomsk, wo die Kräfte der westsibirischen Konterrevolution konzentriert waren. In Omsk gab es eine starke Schicht der Handelsbourgeoisie; hier befanden sich 2 Unteroffiziersschulen, die Spitze der Kosakentruppen und der Stab des Militärbezirks. Diese Kräfte bildeten gleich nach dem Petrograder Aufstand einen konterrevolutionären „Bund zur Rettung des Vaterlandes, der Freiheit und der Ordnung", der Anfang November einen Putschversuch 2

Vgl. Marat, C. S., Rabocie, soldaty i matrosy golosujut za Lenina, in: Voprosy istorii KPSS, H. 11,1968; zur Einschätzung der Konstituierenden Versammlung vgl. auch Geschichte der U d S S R Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1976, S. 240 f.

3

Vgl. Selechova,R. V., Bor'ba za sovetskuju vlast' na severe Jakutii v 1917—1925 gg., Jakutsk 1972, S. 65 ff. Daten werden nach dem jeweils gültigen Kalender angegeben.

4

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unternahm. Doch das entschlossene Handeln der Omsker Bolschewiki, die in kurzer Zeit eine Rote Garde von 3000 Mann der Konterrevolution entgegenstellen konnten, führte Mitte November zur Errichtung der Sowjetmacht in Omsk. 5 Die Taktik der sibirischen Bourgeoisie zeigte sich am deutlichsten im Verhalten der Oblastniki. Sie traten schnell und organisiert der Revolution entgegen. Zum Stützpunkt der Oblastniki wurde zuerst Tomsk, wo am 7. Dezember, einen Tag nach der Machtübernahme durch die Sowjets, der Außerordentliche Kongreß der Oblastniki zusammentrat. Die Kongreßteilnehmer lehnten die Anerkennung der Sowjetmacht ab und appellierten an die Bevölkerung Sibiriens, nur die vor dem 24. Oktober 1917, d. h. vor dem Sieg der sozialistischen Revolution, angenommenen Gesetze anzuerkennen. Für die vom Kongreß vertretene Linie war bezeichnend, daß er sich an die nationalistische ukrainische Regierung mit dem Vorschlag wandte, gemeinsam zu handeln. Der Kongreß wählte den „Provisorischen Sibirischen Gebietssowjet", der seine „politischen Emissäre" in anderen sibirischen Städten einzusetzen begann. Bevollmächtigte der Oblastniki wurden in die Ukraine, nach Kirgisien und Turkestan geschickt, um Verbindungen mit den bürgerlich-nationalistischen Kreisen aufzunehmen. Die Formierung der Konterrevolution drückte sich auch in der regen Tätigkeit des Militärrates aus, an dessen Spitze der Kosakenataman Sotnikow stand. Der Militärrat sammelte verschiedene antibolschewistische Organisationen um sich und gründete konspirative Kommissariate in allen Großstädten Sibiriens. Ihre Aufgabe bestand in der Bildung konterrevolutionärer militärischer Einheiten. Die breite konterrevolutionäre Tätigkeit der Oblastniki war durch das zögernde Vorgehen des Tomsker Sowjets begünstigt worden. Er distanzierte sich zwar von den Oblastniki, unternahm aber lange Zeit keine entscheidenden Schritte gegen diese Bewegung. Erst als Zentrosibir und die Sowjets anderer Städte die Auflösung der für Anfang Januar einberufenen „Sibirischen Duma" der Oblastniki verlangten, griff auch der Tomsker Sowjet ein. Die Mehrzahl der aktiven Funktionäre der Oblastniki wurde verhaftet; aber diejenigen, die der Verhaftung entkamen, gaben noch nicht auf. Sie gründeten die „Provisorische Regierung des Autonomen Sibiriens" (auch „Provisorische Sibirische Regierung" genannt), an deren Spitze sich der 5

Vgl. Omskie bolseviki v period Oktjabrskoj revoljucii i uprocnenija Sovetskoi vlasti. Sbornik dokumentov, Omsk 1958, S. 81—85.

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rechte Sozialrevolutionär P. J. Derber stellte. Über Tschita mußte Derber mit seinen .Ministern in die chinesische Stadt Harbin fliehen, wo sie auf einen günstigen Zeitpunkt für die Rückkehr warteten. Ein Teil der „Sibirischen Duma" blieb illegal in Tomsk. Doch zeigten die Ereignisse des Januar 1918 zuerst einmal, daß sie ihre konterrevolutionären Pläne aus eigener Kraft nicht verwirklichen konnten. Die Errichtung der Sowjetmacht in Ostsibirien hing entscheidend von der Lage in Irkutsk ab. Die Machtübernahme durch die Sowjets vollzog sich hier zunächst reibungslos. Der Vereinigte Sowjet der Arbeiterund Soldatendeputierten, auf dessen Initiative Anfang November die Rote Garde und das Revolutionäre Militärkomitee gebildet wurden, übernahm am 19. November die Macht in Irkutsk. Zu seinen ersten Maßnahmen gehörte der Erlaß über die Auflösung der Junkerschulen, in denen die neue Macht eine wichtige Stütze der Konterrevolution sah. Die folgenden Ereignisse bestätigten diese Annahme. Mit Unterstützung der in Irkutsk ansässigen ausländischen Konsularvertretungen ging die Konterrevolution am 8. Dezember zum Gegenangriff über. Die militärische Hauptkraft bildeten die Junker. Sie stellten die Verbindung mit der „Sibirischen Duma" in Tomsk her und hofften auf die Unterstützung der Amur- und Transbaikalkosaken. Ihre Rechnung ging jedoch nicht auf. Die Rotgardisten aus Krasnojarsk, AtschiAsk und Kansk kamen den Verteidigern des Weißen Hauses, der Residenz der Irkutsker Sowjetmacht, zu Hilfe. Innerhalb von 8 Tagen wurde diese konterrevolutionäre Erhebung niedergeschlagen.6 Der Ausgang des Kampfes in Irkutsk erleichterte die Machtübernahme in anderen ostsibirischen Städten wie in Tscheremchowo und Nishneudinsk und im Gebiet der Goldgruben an der Lena. Etwa zur selben Zeit wurde mit der Machtübernahme der Bolschewiki in Wladiwostok und Chabarowsk die Lage im Fernen Osten entschieden. Die zwiespältige Haltung der sibirischen Kosaken gegenüber der Revolution zeigte sich deutlich bei den Ereignissen im Amur- und Transbaikalgebiet. Die soziale Differenzierung, die sich am Vorabend der Revolution im sibirischen Dorf vollzogen hatte, traf auch die relativ privilegierte Schicht der Kosaken. In den Kosakendörfern war es zu einer Polarisierung zwischen Reichen und Armen gekommen. Das jeweilige Vermögen entschied mit darüber, auf welcher Seite jeder in den revolutionären Auseinandersetzungen stand. Die militärische Führung der Kosaken des Amurgebietes wurde zur Stütze 6

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. IV, S. 54 f.

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der Sozialrevolutionäre. Der Ataman Gamow unterstützte Ende Dezember 1917 die Bildung eines „Bundes sibirischer Föderalisten", der sich das Ziel stellte, alle Bürger des „Großen Sibiriens" im Kampf um volle Autonomie des Landes zu sammeln. Es gelang jedoch nicht, die gesamte Kosakenschaft zu einer konterrevolutionären Kraft zu vereinigen. Während der Ataman Gamow mit Hilfe der Kulaken und der japanischen Imperialisten vergeblich die Macht der Bolschewiki zu stürzen versuchte, entschied sich die Kosakenarmut für die Sowjetmacht. Revolutionäre Kosakenregimenter trugen dazu bei, die Sowjetmacht in Transbaikalien zu errichten. Mitentscheidend für den Übertritt der Kosakenarmut auf die Seite der neuen Macht war der Beschluß des Rates der Volkskommissare der RSFSR, die Militärpflicht für die Kosaken abzuschaffen. 7 Eine wesentliche Veränderung der Situation zugunsten der Kräfte der Revolution in Sibirien trat mit der Errichtung der Sowjetmacht auf dem Lande ein. Dieser Prozeß begann sehr zögernd. Da zunächst nur sehr vage Vorstellungen darüber bestanden, was in Rußland und in den sibirischen Städten vor sich ging, verhielten sich die Bauern bis etwa Anfang 1918 passiv. Der Umschwung setzte erst im Frühjahr ein und wurde sowohl durch die Ereignisse in Petrograd als auch durch den Sieg der Sowjetmacht in den sibirischen Städten beeinflußt. Die Anerkennung der Sowjetmacht durch den Kongreß der Sowjets der Bauerndeputierten spielte in der Argumentation der Bolschewiki unter den Bauern eine große Rolle. Der Einfluß der Sozialrevolutionäre ging, nachdem die Haltung des Bauernkongresses bekannt wurde, merklich zurück. Besonders günstig wirkte sich der Einfluß der demobilisierten Frontsoldaten und der Soldaten der sibirischen Garnisonen aus. Allein die Tatsache der Demobilisierung nahm viele für die neue Macht ein und brachte Klarheit über ihre Ziele.8 Dennoch zeigten die folgenden Jahre, daß die Entscheidung der Mehrheit der sibirischen Dorfbevölkerung bis zum Sommer 1918 für die Sowjetmacht noch nicht das Ende des Kampfes bedeutete. Die Tatsache jedoch, daß die Arbeiter- und-Bauern-Macht im Jahre 1918 auf dem überwiegenden Teil des sibirischen Territoriums die Möglichkeit hatte, durch konkrete Maßnahmen ihre politischen und sozialen 7 8

Ebenda, S. 56. Gorjuskin, L. M., Pretvorenie v zizn Dekreta o Zemle v sapadnoj Sibiri v konce 1917 — pervoj polovine 1918 g., in: Krestjanstvo i sel'skoe chozjajstvo Sibiri v 1917—1961 gg., Novosibirsk 1965, S. 15, 19.

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Ziele zu propagieren und zu demonstrieren, war für den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen außerordentlich wichtig. Doch der endgültige Umschwung der sibirischen Bauernschaft zugunsten der Sowjetmacht vollzog sich erst in der Folge der Erfahrungen, die sie während des Bürgerkrieges sammelten. Ein besonderes Kapitel war die Errichtung der Sowjetmacht in den nationalen Gebieten. Der sozialökonomische Entwicklungsstand in diesen Landesteilen zeichnete sich durch mehr oder weniger unreife vorkapitalistische Verhältnisse aus, eine Arbeiterklasse fehlte fast völlig. Eine große Rolle spielte hier, vor allem nach der Februarrevolution, die feudal-nationalistische Oberschicht, die bei den Völkern unterschiedlich hieß: Toyonen, Noyonen, Bais oder einfach Kulaken. Sozialdemokratische Organisationen entstanden in einigen dieser Gebiete vorwiegend unter dem Einfluß politisch Verbannter. Diese (in Jakutien waren es z. B. G. Petrowski, J. Jaroslawski, S. Ordshonikidse u. a.) leisteten eine erfolgreiche propagandistische Arbeit unter der Bevölkerung, und es gelang ihnen beispielsweise, Teile der jakutischen studentischen und arbeitenden Jugend für die revolutionäre Bewegung zu gewinnen. Im Oktober 1917 zeigten sich jedoch die von den Oblastniki unterstützten Nationalisten an vielen Orten besser für den Augenblick vorbereitet. Im Altaigebiet entstand die sogenannte „Karakorumskaja Uprawa", eine nationalistische Vereinigung, die ihren Namen zu Ehren von Dschingis-Chan trug und die Abtrennung von Rußland zum Hauptpunkt ihres Programms machte. In Burjatien herrschte im Oktober 1917 ein nationalistisches Komitee, das die Interessen der Kulaken und der nationalistisch gesinnten Intelligenz vertrat. Die Nationalisten Jakutiens lehnten es ab, die Sowjetregierung anzuerkennen. Sie gründeten die konterrevolutionäre Organisation „Vereinigte Demokratie", der rechte Sozialrevolutionäre, Föderalisten, Vertreter der reaktionären Stadtduma usw. angehörten. Sie sabotierten die Durchführung von Maßnahmen der Sowjetregierung wie z. B. die Abschaffung des zaristischen Steuersystems, die Bodenreform und hier besonders die Aufteilung des Bodens der reichen Toyonen. Die Kräfte, die die Sowjetregierung offen bekämpften, waren zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr stark genug, um den Umschwung der Stimmung in der Bevölkerung zugunsten der Sowjetmacht aufzuhalten. Ein Beispiel dafür war die Anerkennung der Sowjetmacht in Burjatien im April 1918, nachdem der Inhalt der „Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands" bekannt wurde. 128

In den Randgebieten Sibiriens aber änderte sich einige Wochen später die Situation zuungunsten der Sowjetmacht. Die Klassenauseinandersetzungen in den entlegenen nationalen Gebieten Sibiriens wurden vor allem durch einen Umstand erschwert: Sie waren Sammelbecken konterrevolutionärer Kräfte, die man aus den von der Sowjetmacht beherrschten Gebieten vertrieben hatte. In den nördlichen und östlichen Randgebieten wollten sie die weitere Entwicklung abwarten. Unterstützt von diesen Kräften, konnten die Nationalisten dieser Gebiete ihren zähen Widerstand gegen die Sowjetmacht länger durchhalten. Einen solch langwierigen und opferreichen Verlauf haben z. B. die Kämpfe in Jakutien angenommen. 9 Den jakutischen Kommunisten schickte Zentrosibir eine Abteilung Rotgardisten zu Hilfe, die nach schweren Kämpfen in der Taiga am 1. Juli 1918 Jakutsk besetzte und die Macht des Jakutischen Sowjets errichten half. Zu diesem Zeitpunkt aber war Sibirien schon zu einem der Hauptschauplätze des Bürgerkrieges und der Intervention geworden. Die Sowjetmacht in Jakutien war von Anfang an von der RSFSR abgeschnitten und hielt nur 34 Tage der weißgardistischen Umkreisung stand. Um so höher ist die Tatsache zu bewerten, daß es dem Jakutsker Sowjet gelungen war, eine Reihe von Maßnahmen durchzuführen bzw. einzuleiten wie die Kontrolle über die Banken und das Finanzwesen, die Einführung des staatlichen Pelzhandelsmonopols, die Einführung stabiler Lebensmittelpreise, Gesetze gegen die Spekulation, eine Agrargesetzgebung u. a. 10 Abgeschnitten vom Zentrum, ohne Aussicht auf baldige Unterstützung, hatten die jakutischen Kommunisten in der kurzen Zeit begonnen, ein Programm zu verwirklichen, das in den Grundzügen dem großen Programm der sozialistischen Revolution entsprach. Diese Politik war für die Gewinnung der Massen angesichts der bevorstehenden Kämpfe mitentscheidend. Einen schweren Kampf hatten auch die Anhänger der Sowjetmacht im Altaigebiet durchzustehen. Die Unterstützung der Rotgardisten aus Blisk reichte in den Auseinandersetzungen mit der „Karakorumskaja Uprawa" nicht aus. Die Sowjetmacht wurde hier erst im Dezember 1919, nach dem Sieg über Koltschak und seine nationalistischen Verbündeten errichtet. 11 9 10 11

Istorija Jakutskoi ASSR, Bd. III, Sovetskaja Jakutija, Moskau 1963, S. 19 ff. Seiecho va, R. V., a.a.O., S. 68. Vgl. Potapov, L, P., Ocerki po istorii altaicev, Moskau-Leningrad 1953, S. 389f.

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Noch länger dauerte das Ringen um die Errichtung der Sowjetmacht in Tuwa, einem Gebiet an der russisch-mongolischen Grenze, das erst 1914 Protektorat Rußlands geworden war. In der Stadt Belozarsk, dem Zentrum des vorwiegend von Tuwinern besiedelten Gebietes, bildete sich am 8. Januar 1918 mit Unterstützung der Minussinsker Bolschewiki ein Stadtsowjet. Er wurde jedoch von den konterrevolutionär gesinnten örtlichen Kosakentruppen zerschlagen und seine Mitglieder verhaftet. 2 Monate später erreichte eine Rotgardistenabteilung aus Minussinsk das ferne Tuwa. Der Leiter der Abteilung, I., Safjanow, beherrschte die Sprache der Tuwiner und sollte ihnen die Politik der neuen Macht erläutern. Er erklärte der Bevölkerung, daß sie nach der Befreiung vom zaristischen Joch nun selbst über das weitere Schicksal des Gebietes bestimmen könne. Der mit Hilfe der Minussinsker Rotgardisten wiedereingesetzte Sowjet fiel schon im Mai einer neuen Verschwörung der örtlichen Kulaken und Goldgrubenbesitzer zum Opfer. Die Nationalisten versuchten Feindschaft gegen die russische Bevölkerung zu schüren, um so die Tuwiner vom Einfluß der Ideen der Revolution fernzuhalten. In dieser angespannten Situation kam am 18. Juni 1918 ein Vertrag zwischen Vertretern der russischen und der Tuwiner-Bevölkerung zustande, nach dem Tuwa zu einem freien Land erklärt wurde. Das koloniale Joch des Zarismus wurde liquidiert und das Leninsche Prinzip der Selbstbestimmung verwirklicht. Doch die mit der Sowjetregierung begonnene neue sozialökonomische Entwicklung wurde durch den Bürgerkrieg und die Intervention unterbrochen. In den zwanziger und dreißiger Jahren durchlief Tuwa eine komplizierte Entwicklung. Der 1918 abgeschlossene Vertrag trug dazu bei, daß sich freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion immer weiter entwickelten. Einen erfolgreichen Abschluß fand dieser Prozeß im Jahre 1944 mit dem Anschluß Tuwas an die Sowjetunion. 12

2. Erste Maßnahmen der Sowjetmacht Die kurze Zeit zwischen der Errichtung der Sowjetmacht und dem Beginn des Bürgerkrieges und der Intervention war für den Ausgang des Existenzkampfes, den das Land fast 5 Jahre lang führte, von entscheidender Bedeutung. In Sibirien war die Zeit, die der Sowjet12

Vgl. Istorija Tuvy, Bd. 1—2, Moskau 1964.

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Noch länger dauerte das Ringen um die Errichtung der Sowjetmacht in Tuwa, einem Gebiet an der russisch-mongolischen Grenze, das erst 1914 Protektorat Rußlands geworden war. In der Stadt Belozarsk, dem Zentrum des vorwiegend von Tuwinern besiedelten Gebietes, bildete sich am 8. Januar 1918 mit Unterstützung der Minussinsker Bolschewiki ein Stadtsowjet. Er wurde jedoch von den konterrevolutionär gesinnten örtlichen Kosakentruppen zerschlagen und seine Mitglieder verhaftet. 2 Monate später erreichte eine Rotgardistenabteilung aus Minussinsk das ferne Tuwa. Der Leiter der Abteilung, I., Safjanow, beherrschte die Sprache der Tuwiner und sollte ihnen die Politik der neuen Macht erläutern. Er erklärte der Bevölkerung, daß sie nach der Befreiung vom zaristischen Joch nun selbst über das weitere Schicksal des Gebietes bestimmen könne. Der mit Hilfe der Minussinsker Rotgardisten wiedereingesetzte Sowjet fiel schon im Mai einer neuen Verschwörung der örtlichen Kulaken und Goldgrubenbesitzer zum Opfer. Die Nationalisten versuchten Feindschaft gegen die russische Bevölkerung zu schüren, um so die Tuwiner vom Einfluß der Ideen der Revolution fernzuhalten. In dieser angespannten Situation kam am 18. Juni 1918 ein Vertrag zwischen Vertretern der russischen und der Tuwiner-Bevölkerung zustande, nach dem Tuwa zu einem freien Land erklärt wurde. Das koloniale Joch des Zarismus wurde liquidiert und das Leninsche Prinzip der Selbstbestimmung verwirklicht. Doch die mit der Sowjetregierung begonnene neue sozialökonomische Entwicklung wurde durch den Bürgerkrieg und die Intervention unterbrochen. In den zwanziger und dreißiger Jahren durchlief Tuwa eine komplizierte Entwicklung. Der 1918 abgeschlossene Vertrag trug dazu bei, daß sich freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion immer weiter entwickelten. Einen erfolgreichen Abschluß fand dieser Prozeß im Jahre 1944 mit dem Anschluß Tuwas an die Sowjetunion. 12

2. Erste Maßnahmen der Sowjetmacht Die kurze Zeit zwischen der Errichtung der Sowjetmacht und dem Beginn des Bürgerkrieges und der Intervention war für den Ausgang des Existenzkampfes, den das Land fast 5 Jahre lang führte, von entscheidender Bedeutung. In Sibirien war die Zeit, die der Sowjet12

Vgl. Istorija Tuvy, Bd. 1—2, Moskau 1964.

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macht zur Verfügung stand, meist noch kürzer bemessen und außerdem von zahlreichen konterrevolutionären Putschversuchen unterbrochen. Die dringendste Aufgabe bestand im Aufbau eines neuen Machtapparates. Der Ausbau der Sowjets zu funktionsfähigen Machtorganen war keineswegs nur eine formale Aufgabe. Angesichts der angespannten Situation und der Unmenge an Arbeit hatte das Zentrosibir sehr weitgehende Vollmachten. 13 Es hielt ständig die Verbindung mit dem Zentrum der Revolution aufrecht. Anfangs hatte diese „Sibirische Regierung" nicht einmal einen eigenen Apparat. Das Präsidium, bestehend aus 3 Personen, berief regelmäßig alle 2 Wochen Plenartagungen des Sowjets ein und erledigte außerdem die laufende Arbeit. Ein- bis zweimal in der Woche erschienen die „Nachrichten des Zentrosibir", des ersten Organs der Sowjetmacht in Sibirien. Ihre Verteilung war denkbar einfach organisiert: Ein Mitglied der Exekutive übernahm die Aufgabe, die Zeitung zur Post zu tragen, da kein Bote zur Verfügung stand. Dieser Arbeitsweise lagen zum Teil extreme Auffassungen von einer demokratischen Verwaltung zugrunde. Daneben zeigten sich auch Erscheinungen, in denen kleinbürgerliche separatistische Ansichten zum Ausdruck kamen. Das äußerte sich beispielsweise in der Umbenennung einzelner Gebietssowjets in „Rat der Volkskommissare". Nicht selten war das auf den Einfluß kleinbürgerlicher Parteien in den Sowjets zurückzuführen, deren Bestrebungen dahin gingen, separatistische Stimmungen anzufachen. So versuchten z. B. die Anarchisten und Sozialrevolutionäre des Kamensker Sowjets, die Getreideablieferungen in den europäischen Teil Rußlands zu sabotieren. Die damit verbundenen Absichten verbargen sie hinter der Forderung nach der Bildung einer „Kamensker Föderativen Republik". Es war wichtig, eine prinzipielle Klärung der Frage nach der Form der Eingliederung Sibiriens in den Sowjetstaat herbeizuführen. Die Gefahr von Überspitzungen äußerte sich selbst in einigen Beschlüssen des II. Gesamtsibirischen Sowjetkongresses, der Ende Februar 1918 in Irkutsk tagte. Die Bolschewiki bildeten dort die Mehrheit und faßten wichtige Beschlüsse zur weiteren sozialistischen Umgestaltung Sibiriens. Die Idee des proletarischen Internationalismus war in vielen Details wie auch in der großen Linie des Kongresses zu spüren. So wurden W. I. Lenin und Karl Liebknecht zu Ehrenvorsitzenden ge13

Vgl. Agalakov, 184 ff.

V. T., Sovety Sibiri (1917—1918 gg.), Novosibirsk 1978, S.

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wählt. Liebknecht wurde nicht zufällig ausgesucht, es war die Zeit der Diskussionen um den Brester Frieden. Gleichzeitig aber wurden Beschlüsse angenommen, die separatistische Tendenzen begünstigten. So wählte der Kongreß ein Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, das selbständig außenpolitische Entscheidungen treffen sollte. Lenins schnelles und taktvolles Eingreifen wurde notwendig. In einem Eiltelegramm vom 13. April teilte er mit, daß der Rat der Volkskommissare die Notwendigkeit eines Kommissariats für Auswärtige Angelegenheiten beim Zentrosibir nicht einsehen könne. Lenin wies auf die Gefahren einer sogenannten Selbständigkeit Sibiriens angesichts der drohenden Annexion vom Osten hin. 14 Das Präsidium des Zentrosibir und in erster Linie sein Vorsitzender N. N. Jakowlew korrigierten daraufhin diese Entscheidung. G. S. Weinbaum, der vom Kongreß für den Posten des Kommissars für Auswärtige Angelegenheiten gewählt worden war, ernannte man zum Bevollmächtigten Vertreter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der RSFSR in Sibirien. Das Hauptaugenmerk der jungen Sowjetmacht in Sibirien galt der Abwehr der konterrevolutionären Gefahr. Zu Beginn des Sommers 1918 geriet Sibirien immer mehr in den Mittelpunkt der internationalen imperialistischen Verschwörung. Im Baikalgebiet operierten die Banden des Atamans Semjonow, im Fernen Osten wirkten mehrere konterrevolutionäre Regierungen, deren Tätigkeit nach der Landung japanischer Truppen in Wladiwostok am 5. April 1918 zu einer ernsthaften Gefahr für die Sowjetmacht wurde. Die Sowjetregierung erklärte für das gesamte Gebiet vom Ural bis Wladiwostok den Belagerungszustand. Auf Lenins Anweisung traf Zentrosibir Maßnahmen zur Verteidigung Sibiriens. Aus Wladiwostok wurden sofort wertvolle Güter in Richtung Westen abtransportiert. Um die Ausrüstung mit Waffen zu verbessern, erhielt das Sibirische Militärkommissariat von der Regierung 20 Mill. Rubel. 15 Die Hilfe für die sibirische Wirtschaft war nicht weniger dringend und kompliziert. Die Aufgabe, den ökonomischen Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, die Krise und den Produktionsrückgang aufzuhalten, mußte unter Bedingungen gelöst werden, die durch die fehlende Erfahrung der Arbeiter bei der Leitung der Produktion einerseits und durch den hartnäckigen Widerstand der Bourgeoisie andererseits zusätzlich erschwert wurden. 14

15

Vgl. Lenin, V. /., Leninskij sbornik, Bd. XXXIV, Moskau-Leningrad 1 9 4 2 - 4 3 , S. 22. Vgl. Istorija Sibiri, Bd. IV, S. 71.

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Die sozialistische Umgestaltung in der Wirtschaft nahm ihren Anfang mit der Einführung der Arbeiterkontrolle über die Herstellung und Verteilung der Produkte. Wie in ganz Rußland, hatten die Arbeiter auch in Sibirien schon vor der Oktoberrevolution mit der Einführung der Arbeiterkontrolle begonnen. Im März/April 1917 wurde sie, zum Teil spontan, in vielen Betrieben des Bergbaus und bei der Eisenbahn eingeführt. 16 Als dann die Provisorische Regierung die Rückgabe der von den Arbeitern übernommenen Betriebe an die Fabrikbesitzer anordnete, wurde das Betrugsmanöver der bürgerlichen Regierung offensichtlich.17 Die Arbeiter erkannten, daß nur durch Änderung der Machtverhältnisse eine Änderung der Produktionsverhältnisse auf die Dauer möglich war. Nach der Oktoberrevolution wurde zunächst die Arbeiterkontrolle zum wichtigsten Mittel im Kampf gegen die Sabotage der Unternehmer, zum ersten Schritt auf dem Wege der Vergesellschaftung der Industrie. Die Arbeiter stützten sich dabei auf das Dekret der Sowjetregierung vom 14. (27.) November 1917: die „Verordnung über die Arbeiterkontrolle". Die Organe der Arbeiterkontrolle waren mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet. Sie hatten das Recht, die Arbeitsnorm festzulegen, auf die Höhe der Selbstkosten der Produktion einzuwirken, den Geschäftsverkehr der Leitung und der Angestellten zu kontrollieren usw. Der Widerstand der Unternehmer war zu erwarten, und er nahm mitunter sehr gefahrliche Formen an. Ebenso wie im europäischen Rußland, versuchten die sibirischen Unternehmer Betriebe zu schließen oder die Produktion zu sabotieren, indem sie z. B. die Materialanlieferungen störten. Die Banken weigerten sich, den Betrieben, die unter Kontrolle der Arbeiter standen, Geld auszuzahlen. Der Kampf gegen die Sabotage der Bourgeoisie wurde zur Hauptaufgabe der Arbeiterkontrolle. Daneben bemühte sie sich um die Verbesserung der Arbeitsdisziplin und um die Steigerung der Produktivität. Mit der Verwirklichung der Arbeiterkontrolle wurde das Proletariat an die Aufgabe der Verstaatlichung der privaten Unternehmen herangeführt. Die Nationalisierung der Banken, des Transportwesens und der Industrie verlief in Sibirien sowohl auf Anweisung aus der Parteizentrale, d. h. in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Sowjetregierung, als auch auf Initiative der örtlichen Machtorgane. Am 16 17

Vgl. ZoTnikov, D. M., Rabocee dvizenie . . ., a.a.O., S. 194 ff. Ebenda, S. 300.

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14. Dezember 1917 wurde das Dekret über die Nationalisierung der Privatbanken und über die Errichtung der Staatsbank der Sowjetrepublik angenommen. 18 Kurze Zeit später beriefen die Verwalter der Filialen der Russisch-Asiatischen und der Sibirischen Handelsbank eine Sitzung ein, auf der sie bekanntgaben, daß sie die Sowjetmacht nicht anerkennen und beabsichtigen, auf Beschlüsse der Konstituierenden Versammlung zu warten. 19 Die Haltung der Bankiers zwang die Vertreter der Sowjetmacht, die Nationalisierung der Geldinstitute zu beschleunigen. Nachdem im Januar 1918 die beiden genannten Filialen und die Abteilung der Bank der Gesellschaft für gegenseitigen Kredit nationalisiert wurden, folgten die Tomsker Abteilung der Staatsbank, alle Privatbanken von Irkutsk, Barnaul und anderen Städten, die auf Beschluß der jeweiligen Gebietsexekutivorgane enteignet wurden. Damit konnte die Position der sibirischen Bourgeoisie entscheidend geschwächt werden. Die nächste wichtige Etappe bildete die Nationalisierung der Eisenbahn* und Wassertransportunternehmen. Die. staatliche Transsibirische Magistrale ging zusammen mit den dazu gehörenden Betrieben gleich nach der Oktoberrevolution in die Hände des neuen Staates über. Aber die Sabotage der alten Verwaltung führte Mitte Dezember 1917 zu einer ernsten Krise, deren Überwindung für den Sowjetstaat lebensnotwendig war. Allein im Tomsker Abschnitt standen 502 Waggons mit Lebensmitteln, die im hungernden Petrograd und in Moskau sehnsüchtig erwartet wurden. Eine rasche Änderung der Lage konnte nur durch außerordentliche Maßnahmen herbeigeführt werden. Mit Unterstützung der Gewerkschaft begannen die Sowjets, die Verwaltung der Transsib zu reorganisieren. Der Widerstand der höheren Beamten machte es unmöglich, ihnen die Leitung der Eisenbahn zu überlassen. An einigen Abschnitten übernahmen die Gewerkschaftskomitees die Verwaltung. Im März 1918 ging schließlich die Leitung aller sibirischen Eisenbahnlinien in die Hände der „Sowjets der Eisenbahnerdeputierten" über, die auf Beschluß des Allrussischen Außerordentlichen Eisenbahnerkongresses, der im Januar stattfand, gewählt wurden. Die Nationalisierung der Wassertransportunternehmen, die parallel dazu verlief, war für Sibirien besonders wichtig, da etwa ein Drittel 18

19

Vgl. Direktivy KPSS i Sovetskogo pravitelstva po chozjajstvennym voprosam, Bd. 1, Moskau 1957, S. 30. Vgl. Moskovskij, A. S., Promyslennoe osvoenie Sibiri v period stroitelstva socializma (1917—1937), Novosibirsk 1975, S. 44 ff.

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des gesamten Frachtumsatzes nach wie vor auf dem Wasserwege bewältigt wurde. Über 300 Dampfer und etwa 850 Lastkähne verkehrten vor der Revolution auf den größten Flüssen Sibiriens: Ob, Jenissei, Lena, und auf dem Baikalsee. Die Übernahme der Privatindustrie durch den Staat erforderte sorgfaltige Vorbereitungen. Schließlich ging es nicht nur darum, die ökonomische Macht der Bourgeoisie durch diese Maßnahme zu erschüttern, sondern zugleich auch darum, die weitere reibungslose Produktion zu sichern. Mit besonderer Sorgfalt und Umsicht wurden die Nationalisierungsmaßnahmen in der Kohleindustrie (es ging vor allem um die Michelson-Gruben in Anshero-Sudshensk und um den mächtigen Kohlekonzern „Kopikus") und in den größten Goldunternehmen durchgeführt. Die Enteignung von „Lensoloto" z. B. war durch die Tätigkeit einer speziellen Kommission vorbereitet worden. Gleich nach der Enteignung erhielten die Werke von der Sowjetregierung einen Kredit von 20 Mill. Rubel, mit dem die bei der Reorganisation auftretenden Schwierigkeiten überbrückt werden sollten. 20 Nicht immer verlief diese Umgestaltung glatt und ohne Überspitzungen. Versuchen, anarchistische Vorstellungen in der Praxis durchzusetzen, mußte wiederholt begegnet werden. Die Kohlegruben von Tscheremchowo z. B. wurden auf Beschluß der Arbeiter „sozialisiert", d. h. den Arbeitern übergeben. An die Spitze der neuen Verwaltung stellten sich kleinbürgerliche Anarchistengruppen, die zuerst die Gehälter für sich und die Belegschaft erhöhten. Um dabei rentabel zu bleiben, wurden Preise für die Kohle festgelegt, die weit über dem Durchschnitt lagen. Die dadurch entstandene kritische Situation konnte mit Hilfe der Irkutsker Bolschewiki, die im Betrieb eine umfangreiche Aufklärungsarbeit durchführten, beseitigt werden. In abgeschwächter Form äußerte sich dieselbe anarchistische Tendenz bei der Konfiskation der Kleinbetriebe. In Omsk z. B. betraf das die Hefefabrik, die Konditoreifabriken und kleinere Warenhäuser. Der Beschluß der Sowjetregierung vom 16. Februar 1918, der die Zuständigkeiten für die Konfiskation der Großbetriebe und die Auswahl der Kleinbetriebe festlegte, spielte eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung solcher Tendenzen. Die gewaltige Arbeit, die bei der revolutionären Umgestaltung der

20

Ebenda, S. 47.

135

Wirtschaft geleistet werden mußte, stand von Anfang an im Zeichen beginnender Planungstätigkeit. Schon in den ersten Monaten der Sowjetmacht griff man die Idee auf, ein neues industrielles Zentrum auf der Grundlage der Naturschätze des Urals und des Kusbass zu schaffen. Der Allrussische Rat für Volkswirtschaft bildete ein Komitee, das den Plan zur Entwicklung des Rayons Ural — Kusnezk ausarbeiten sollte. Auf Vorschlag Lenins wurde eine Geologengruppe unter der Leitung von A. A. Gapejew ins Kusnezker Gebiet entsandt. Zur selben Zeit begann die „Gesellschaft der sibirischen Ingenieure" an einem einheitlichen Plan zur Entwicklung der Kohleund Eisenindustrie zu arbeiten. Vieles in diesen ersten Plänen hat sich später als überholt erwiesen, einiges war von Anfang an illusorisch, andere Ideen und Hinweise behielten ihren Wert auch noch nach Jahrzehnten. Entscheidend jedoch war zunächst einmal die Tatsache, daß in diesen ersten Monaten des relativ friedlichen Aufbaus überhaupt begonnen wurde, die Entwicklung der wichtigsten Industriezweige zu planen. Auf dem Lande ging es in den ersten Monaten um die Verwirklichung des Dekrets über den Boden. Diese Maßnahme, die das Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft im ganzen Lande festigte, war in Sibirien von geringerer Bedeutung als in Rußland. Die Umverteilung des Bodens brachte in einigen Gebieten Vorteile für die arme Bauernschaft. Doch selbst nach großzügigster Schätzung vergrößerte sich der in den Händen der Bauern befindliche Bodenanteil lediglich um 8 bis 9 Prozent. Im Unterschied dazu waren es in Zentralrußland bis zu 50 Prozent. 21 „Wir konnten den Bauern in Sibirien nicht das geben, was die Revolution den Bauern in Rußland gegeben hatte. In Sibirien erhielt die Bauernschaft kein Gutsbesitzerland, weil es dort keines gab, und darum waren sie eher geneigt, den Weißgardisten Glauben zu schenken." 22 Lenin wies damit auf einen wichtigen Umstand hin, der die abwartende Einstellung der armen Bauernschaft Sibiriens gegenüber der Sowjetmacht erklärte. Hinzu kam, daß der Anteil der Kulaken und der Mittelbauern im sibirischen Dorf relativ hoch war. Sie besaßen große Getreidevorräte und verknüpften deren Herausgabe mit Bedingungen, die deutlich in der Stellungnahme der Leitung des Ver-

21

22

Vgl. Guscin, N. Ja., Sibirskaja derevnja na puti k socializmu, Novosibirsk 1973, S. 39, 41. Lenin, IV. /., Werke, Bd. 30, S. 118.

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bandes der Sibirischen Kooperativen zum Ausdruck kamen: „Erst wenn Lenin abtritt, geben wir das Getreide heraus." 23 In dem „Kreuzzug" nach Lebensmitteln, der von der Partei organisiert wurde, um die Hungersnot in Petrograd, Moskau und in den europäischen Industriegebieten zu bekämpfen, bildete Sibirien einen Schwerpunkt. In den ersten 3 Monaten wurden aus Westsibirien 14 Mill. Pud Getreide abtransportiert. Als dann im Frühjahr 1918 die reichsten Getreidegebiete des Landes — die Ukraine und der Nordkaukasus — von der Konterrevolution besetzt wurden, mußte Sibirien fast die gesamte Lebensmittelversorgung sichern. Im März/April verließen täglich 240 Waggons mit Getreide die westsibirischen Eisenbahnstationen. Für die sibirischen Bolschewiki war es keineswegs einfach, diese Aufgabe zu bewältigen. Die wohlhabenden Bauern versuchten ihre Vorräte zurückzuhalten. Sie weigerten sich, vom Staat festgelegte Preise zu akzeptieren. Doch das Land brauchte Brot. Um den von der Dorfbourgeoisie organisierten Widerstand zu brechen, beschloß die Anfang Mai 1918 tagende Parteikonferenz der Bolschewiki Westsibiriens, Agitatoren und spezielle Arbeitergruppen aufs Land zu schicken und die Dorfarmut gegen die Kulaken zu mobilisieren. Doch die beginnende Offensive der weißgardistischen Konterrevolution verhinderte die Verwirklichung dieser Maßnahmen.

3. Intervention und Bürgerkrieg Die Absicht der äußeren und inneren Konterrevolution, die Sowjetmacht durch eine Reihe abgestimmter militärischer und diplomatischer Aktionen zu stürzen, machte ab Februar 1918 die Verteidigung des ersten sozialistischen Staates zur wichtigsten politischen Frage. Während bis zu diesem Zeitpunkt vom deutschen Imperialismus, der der Sowjetmacht den räuberischen Brester Frieden aufgezwungen hatte, die größte Gefahr ausging, legten die Ereignisse des Frühjahrs 1918 auch die aggressiven Absichten der Ententemächte bloß. Im März landeten britische, französische und amerikanische Interventionstruppen in Murmansk und 5 Monate später in Archangelsk. Am 5. April gingen in Wladiwostok japanische

23

Poznanskij, S. 39.

10

Thomas, Sibirien

V. S., V. I. Lenin i Sovjety Sibiri (1917—1918), Novosibirsk 1977,

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bandes der Sibirischen Kooperativen zum Ausdruck kamen: „Erst wenn Lenin abtritt, geben wir das Getreide heraus." 23 In dem „Kreuzzug" nach Lebensmitteln, der von der Partei organisiert wurde, um die Hungersnot in Petrograd, Moskau und in den europäischen Industriegebieten zu bekämpfen, bildete Sibirien einen Schwerpunkt. In den ersten 3 Monaten wurden aus Westsibirien 14 Mill. Pud Getreide abtransportiert. Als dann im Frühjahr 1918 die reichsten Getreidegebiete des Landes — die Ukraine und der Nordkaukasus — von der Konterrevolution besetzt wurden, mußte Sibirien fast die gesamte Lebensmittelversorgung sichern. Im März/April verließen täglich 240 Waggons mit Getreide die westsibirischen Eisenbahnstationen. Für die sibirischen Bolschewiki war es keineswegs einfach, diese Aufgabe zu bewältigen. Die wohlhabenden Bauern versuchten ihre Vorräte zurückzuhalten. Sie weigerten sich, vom Staat festgelegte Preise zu akzeptieren. Doch das Land brauchte Brot. Um den von der Dorfbourgeoisie organisierten Widerstand zu brechen, beschloß die Anfang Mai 1918 tagende Parteikonferenz der Bolschewiki Westsibiriens, Agitatoren und spezielle Arbeitergruppen aufs Land zu schicken und die Dorfarmut gegen die Kulaken zu mobilisieren. Doch die beginnende Offensive der weißgardistischen Konterrevolution verhinderte die Verwirklichung dieser Maßnahmen.

3. Intervention und Bürgerkrieg Die Absicht der äußeren und inneren Konterrevolution, die Sowjetmacht durch eine Reihe abgestimmter militärischer und diplomatischer Aktionen zu stürzen, machte ab Februar 1918 die Verteidigung des ersten sozialistischen Staates zur wichtigsten politischen Frage. Während bis zu diesem Zeitpunkt vom deutschen Imperialismus, der der Sowjetmacht den räuberischen Brester Frieden aufgezwungen hatte, die größte Gefahr ausging, legten die Ereignisse des Frühjahrs 1918 auch die aggressiven Absichten der Ententemächte bloß. Im März landeten britische, französische und amerikanische Interventionstruppen in Murmansk und 5 Monate später in Archangelsk. Am 5. April gingen in Wladiwostok japanische

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Thomas, Sibirien

V. S., V. I. Lenin i Sovjety Sibiri (1917—1918), Novosibirsk 1977,

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Verbände an Land, Ende Juli folgten ihnen amerikanische Truppen. „Wir sind wieder in einen Krieg hineingeraten", stellte Lenin am 28. Juli fest. „Wir befinden uns im Krieg, und dieser Krieg ist nicht nur ein Bürgerkrieg gegen die Kulaken, die Gutsbesitzer und die Kapitalisten, die sich gegen uns vereinigt haben — nein, jetzt tritt uns schon der englisch-französische Imperialismus entgegen." 24 Dieser Krieg war vorher sorgfaltig geplant. In den inzwischen veröffentlichten Dokumenten aus jener Zeit finden sich zahlreiche Beweise dafür. Aus ihnen geht hervor, daß Vertreter der Regierungen Englands, Frankreichs, Italiens, der USA und Japans sich schon im März 1918 sowohl über die Notwendigkeit einer offenen Unterstützung der inneren Konterrevolution einig waren, als auch über die Wege, auf denen sie verwirklicht werden sollte. Sibirien spielte in diesen Plänen eine wesentliche Rolle. Für die innere Konterrevolution war Sibirien vor allem deswegen interessant, weil sie glaubte, hier eher und fester Fuß fassen zu können. Die „Freiwilligenarmee" des Generals Kornilow, die seit Anfang Januar 1918 ein monarchistisch orientiertes, aber mit demokratischen Phrasen verbrämtes Programm für ihre Umsturzpläne besaß, entsandte einen ihrer Generäle (V. E. Flug) sofort mit diesem Papier nach Sibirien. Seine Aufgabe bestand darin, das Programm zu popularisieren und die sibirischen Weißgardisten für die Idee der Schaffung einer einheitlichen antibolschewistischen Front zu gewinnen.25 Etwa zur selben Zeit bekundeten auch die ausländischen Verbündeten der russischen Konterrevolution ihr Interesse an Sibirien. Zu Beginn des Jahres 1918 begab sich J. Pichon als Vertreter der französischen Militärmission in Rußland dorthin. Anfang April erschien er in der französischen Mission in Peking und bat um Unterstützung bei der Absendung seines Berichts nach Paris. Der Rapport, den man in der französischen Hauptstadt sehnlichst erwartete, enthielt Angaben über die Stärke der konterrevolutionären Kräfte in Sibirien sowie Ratschläge, die man im Falle einer Intervention berücksichtigen sollte. Major Pichon hielt es für sehr wichtig, den demokratischen Schein beim Vorgehen der Verbündeten in Sibirien zu wahren. Er machte aber auch auf die Zerwürfnisse zwischen den einzelnen russischen konterrevolutionären Gruppierungen aufmerksam. Zynisch stellte er abschließend fest: „ . . . Ohne uns kann heute niemand in 24 25

Lenin, W. /., Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 15. Vgl. Polikarpov, V. D., Prolog grazdanskoj voiny v Rossii, Oktober 1917 — Februar 1918, Moskau 1976, S. 377.

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Sibirien etwas erreichen. Das ist ein Axiom . . . Auf unserer Seite ist die Macht und das Geld': das sind die besten Argumente, mit deren Hilfe man alles erreichen kann . . ." 2 6 Sibirien spielte in den Plänen der Interventen nicht nur wegen der dort sich sammelnden starken konterrevolutionären Kräfte eine wichtige Rolle. Die Beweggründe und Argumente für die Einmischung in die Angelegenheiten des Sowjetstaates waren in allen beteiligten imperialistischen Ländern unterschiedlich. Es ging ihnen erstens um die Vernichtung des Bolschewismus und damit zweitens um die Sicherung und den Ausbau der eigenen Profitquellen in Rußland. Während über den ersten Punkt weitgehend Einigung zwischen den Ententemächten bestand und ein abgestimmtes Vorgehen angestrebt wurde, war im zweiten Punkt keine Übereinstimmung möglich, denn die Konkurrenz untereinander war stärker als die Angst, die russischen Einflußsphären gänzlich zu verlieren. Mehr noch, das Bestreben, die anderen Konkurrenten auszuschalten, führte sogar zum Paktieren mit der Sowjetmacht, wie es im Falle der USA und Japans später zu sehen sein wird. Im Vergleich zu den europäischen Partnern, die, wie z. B. Frankreich, ihre Absichten, beim Sturz der Sowjetmacht Hilfe zu leisten, offen zugaben, befanden sich die USA in einer schwierigen Situation. Am 8. Januar 1918 verkündete der USA-Präsident Wilson seine berühmten 14 Punkte, ein Musterstück politischer Demagogie. Die Abschaffung der Geheimdiplomatie, das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, Verbot der Annexion — das waren Punkte, deren Übereinstimmung mit den Prinzipien des Leninschen Friedensdekretes über die wahren Ziele der USA in Europa und in der Welt hinwegtäuschen sollten. Von den Vertretern der traditionellen Isolationspolitik in den eigenen Reihen bekämpft, bemühten sich die Anhänger Wilsons, im ausgehungerten und kriegsmüden Europa Fuß zu fassen. Um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Sowjetlandes zu begründen, mußte man Argumente finden, die nicht im offenen Widerspruch zur bisher proklamierten Politik standen. Die USA-Regierung mußte dabei die großen Sympathien, die der Oktoberrevolution von den amerikanischen Arbeitern und von Kreisen der linken Intellektuellen entgegengebracht wurden, berücksichtigen. Es gelang ihr, diese Sympathien auszunutzen und viele Amerikaner zur Fortführung des Krieges gegen Deutschland mit dem Argument zu bewegen, das Kaiserreich bedrohe die russische Re26

10»

Iz istorii grazdanskoj voiny v SSSR. Dokumente und Materialien, Bd. I, S. 12 f.

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volution. Nach Abschluß des Brester Gewaltfriedens, der den räuberischen Charakter des deutschen Imperialismus besonders anschaulich demonstrierte, klang diese Argumentation überzeugend.27 Zur Rechtfertigung des Eingreifens im Fernen Osten vor der eigenen und der Weltöffentlichkeit wurde die Legende von der „Ostfront in Sibirien" erfunden. Seit Anfang 1918 erschienen in der Presse der Ententemächte immer wieder alarmierende Meldungen, daß der sibirischen Eisenbahn Gefahr von den deutschen und österreichungarisdien Kriegsgefangenen drohe, die angeblich im Auftrage ihrer Regierungen Vorbereitungen trafen, von der Magistrale Besitz zu ergreifen. Um die Haltlosigkeit dieser hartnäckig sich wiederholenden Gerüchte zu beweisen, lud die Sowjetregierung verschiedene Vertreter der Militärmissionen der Ententemächte nach Sibirien ein. Im März 1918 wurde z. B. der Militärattache der amerikanischen Botschaft in China, Walter Drisdell, zum „Studium der Kriegsgefangenenfrage" nach Sibirien entsandt. In seinem Bericht hieß es: „Von Wladiwostok bis zur chinesischen Grenze gibt es keine bewaffneten Kriegsgefangenen. Alle Kriegsgefangenen werden von den Russen streng bewacht." 28 Doch die Version von der „Ostfront in Sibirien" bestand weiter. Sie wurde um so intensiver verbreitet, je mehr die Interventionspläne für Sibirien Gestalt annahmen. Über die wahren Ziele geben zwei unterschiedliche Quellen Auskunft. So berichtet eine russische Emigrantenzeitung über ein Treffen in Peking zwischen den Bevollmächtigten der russischen Konterrevolution und alliierten Vertretern, auf dem beschlossen wurde, „Amerika als Einflußsphäre die transsibirische Bahn zu übergeben und es dafür als Gegenleistung zu verpflichten, England günstige Betätigungsmöglichkeiten im Goldschürfungsgebiet Jakutsk—Witim einzuräumen". Etwa zur selben Zeit, am 23. Februar 1918, richtete der USA-Generalkonsul in Moskau, Sommers, eine Depesche an Staatssekretär Lansing. In dem nüchternen Text des Telegramms hieß es u. a.: „Erneut möchte ich die Aufmerksamkeit des Ministeriums nachdrücklich auf die Notwendigkeit eines schnellen und energischen Vorgehens der Verbündeten in Sibirien lenken. Es ist

27

28

Vgl. Rüge, IV., USA und die Große Sozialistische Oktoberrevolution, in: Die USA und Europa 1917—45. Studien zur Geschichte der Beziehungen zwischen der USA und Europa von der GSOR bis zum Ende des II. Weltkrieges, Berlin 1975, S. 22. Zit. nach Stein, B. E., Die „russische Frage" auf der Pariser Friedenskonferenz 1919-1920, Leipzig 1953, S. 42.

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unbedingt erforderlich, daß die Vereinigten Staaten sofort mit den Operationen entlang der sibirischen Bahnlinie beginnen . . ." Es sei notwendig, schrieb er weiter, jenseits des Urals eine provisorische russische Regierung zu bilden, die die unmittelbare Unterstützung der Verbündeten erhalten würde; damit wäre „das Odium einer ausländischen Intervention" vermieden.29 Als jedoch einige Wochen nach den Japanern die amerikanischen Truppen in Wladiwostok landeten, mußte als Begründung doch die „Ostfront"legende dienen. Im Aufruf des Oberkommandos der Alliierten in Wladiwostok hieß es: „In Anbetracht der Gefahr, die Wladiwostok und den am Ort befindlichen Streitkräften der Verbündeten durch offene oder geheime Aktionen von österreichischen und deutschen Kriegsgefangenen oder von Spionen und Emissären droht, wird die Stadt und ihre Umgebung hiermit zeitweilig unter den Schutz der verbündeten Mächte gestellt."30 Diese durch keinerlei Fakten begründete Version, derzufolge die USA über 10000 km von Europa entfernt ihre Truppen landen ließen, um Deutschland zu bekämpfen, hielt sich in der amerikanischen Historiographie außerordentlich zäh. Bis heute wird sie in Publikationen, die sich mit den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen beschäftigen, als Begründung für die offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines um seine Freiheit kämpfenden Staates angeführt. 31 Die Politik der USA-Regierung im Fernen Osten erscheint allerdings logischer, wenn man sie unter dem Aspekt der amerikanisch-japanischen Gegensätze betrachtet. Beide Mächte traten sich bekanntlich nicht nur in Rußland als Rivalen gegenüber. Sie konnten deshalb ihre ganzen Kräfte nicht nur an einen Konfliktherd binden. Im Falle der Intervention in Sowjetrußland führte dies dazu, daß es beide Länder tunlichst vermieden, allzu tief ins Landesinnere vorzudringen. Die notwendige Sicherung des Nachschubs hätte einen zu großen Kräfteeinsatz erfordert. „Damals", schrieb Lenin 1920 zurückblickend, „wären wir sicher von den Japanern in wenigen Wochen besiegt worden, wenn es eine zweispurige Eisenbahnlinie gegeben hätte und wenn die Amerikaner mit Transportmitteln ausgeholfen hätten. Uns rettete der Umstand, daß Japan, das dabei war, China zu verschlingen, nicht durch ganz Sibi29 30 31

Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 45. Vgl. Svetacaev, M. /., Koncepcii burzuaznoj istoriografii o vossozdanii vostocnego fronta v Sibiri v 1918 godu, in: Voprosy istorii, H. 2, 1977, S. 20—37.

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rien nach dem Westen marschieren konnte, während es Amerika im Rücken hatte, und nicht für Amerika die Kastanien aus dem Feuer holen wollte." 32 Doch zunächst spitzte sich die Lage zu, da es den Interventen, die an verschiedenen „Enden" des Landes operierten, gelang, die Meuterei des tschechoslowakischen Korps in ihre Handlungen einzubeziehen. Das während des ersten Weltkrieges aus österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen gebildete Korps umfaßte etwa 60000 Soldaten und Offiziere. Es bezog nach der Oktoberrevolution anfanglich eine neutrale Position, die sich aber unter dem Einfluß rechter Sozialrevolutionäre und im Ergebnis des Brester Friedens wandelte. Die Führung des Korps hatte sowohl Kontakt zu den verschiedenen weißgardistischen Zentren als auch zu den Interventen. Auf Grund einer Vereinbarung mit der Sowjetregierung sollte das Korps über Wladiwostok nach Europa zurückgeführt werden. Seit Ende März 1918 befand es sich entlang der Transsib auf dem Wege nach Osten. In dieser Situation löste die Leitung des Korps Ende Mai die Erhebung gegen die Sowjetmacht aus. Sie fiel mit weißgardistischen Aufständen im Wolgagebiet und in Sibirien zusammen. Die Meuterei, die mit den Interventionstruppen der Entente und den russischen konterrevolutionären Kräften abgestimmt war, begann gleichzeitig an verschiedenen Orten. Die Verteilung der Konterrevolutionäre entlang der Transsib führte zu ihrem schnellen Sieg an vielen Orten Sibiriens. Fast ohne Kämpfe wurden Mariinsk, Nowonikolajewsk, Tomsk und andere Städte besetzt. Schwere Kämpfe fanden in Omsk statt. Die Omsker Bolschewiki, denen es gelungen war, die Arbeiter schnell zur Verteidigung der Sowjetmacht zu mobilisieren, bildeten einen Westsibirischen Operativstab, der die Leitung der Verteidigung übernahm. Das tschechoslowakische Korps griff die Stadt von Westen und Osten her an. Die schweren Kämpfe dauerten einige Tage und brachten hohe Verluste für beide Seiten. P. Uspenski, Führer der Omsker Roten Garde, fiel im Kampf. Am 7. Juni besetzten die von Weißgardisten unterstützten Tschechoslowaken die Stadt. Unerwartet war für den Kommandeur der tschecheslowakischen Truppen in Sibirien, General Gaida, der starke Widerstand. Die Arbeiterformationen aus Anshero-Sudshensk, Atschinsk, Bogotol bildeten die legendäre Marinsker Front und kämpften bis zu letzten Patrone gegen den militärisch stark überlegenen Gegner. Am 18. Juli fielen Krasnöjarsk und Atschinsk. 32

Lenin, W. /., Werke, Bd. 31, S. 443 f.

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Bis September dauerte der unmittelbar vom Zentrosibir geleitete Widerstandskampf in Ostsibirien. Das tschechoslowakische Korps wurde hier von den weißgardistischen Semjonowbanden unterstützt. Nachdem Ende Juni die Welle der konterrevolutionären Aufstände Wladiwostok erreicht hatte, konzentrierten sich die Kämpfe an der Ussuribahnstrecke. Ihr Ausgang wurde endgültig entschieden, als im August reguläre Truppen aus Japan, den USA und England eingesetzt wurden. Bis zum Herbst 1918 hatte die Konterrevolution nahezu ganz Sibirien erobert. Die Kommunisten gingen in die Illegalität, die Reste der rotgardistischen Truppen zogen sich in die Taiga zurück und bereiteten sich auf den Partisanenkrieg vor. In dieser ersten Etappe des Bürgerkrieges in Sibirien verlor die Revolution Tausende Kämpfer, darunter viele Arbeiter aus anderen Ländern, die in den internationalen Abteilungen gemeinsam mit russischen Arbeitern die Sowjetmacht verteidigten. Unter ihnen waren Ungarn, Deutsche, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Polen, Serben, Chinesen und Koreaner. Die Bildung der internationalen Abteilungen begann auf Beschluß der Konferenz der sibirischen Internationalisten, die im April 1918 in Irkutsk stattfand. In Omsk wurden 2 solcher Abteilungen gebildet; eine entstand in Tomsk. Im Kampf gegen die weißgardistischen Semjonowbanden, aber auch gegen die tschechoslowakischen Legionäre setzten diese Internationalisten ihr Leben für die Sache der Weltrevolution ein. Die mit fremder Hilfe errungenen militärischen Siege sollten nun der Konterrevolution Voraussetzungen für die Restauration der alten Machtverhältnisse schaffen. Die sibirische Bourgeoisie, deren separatistische Pläne durch den Siegeszug der Sowjets im Januar 1918 gescheitert waren, hielt die Situation zur Verwirklichung ihrer Pläne für günstig. Die letzte Tat der separatistischen „Sibirischen Duma", die von den Bolschewiki im Januar 1918 entmachtet worden war, bestand in der Bildung einer konterrevolutionären Regierung mit dem rechten Sozialrevolutionär P. J. Derber an der Spitze. Der größte Teil dieser Regierung, darunter auch ihr Oberhaupt, hatte bald darauf das Land verlassen. Derber tauchte sofort nach dem Putsch des tschechoslowakischen Korps in Wladiwostok auf, um die Führung der „Provisorischen Regierung des Autonomen Sibiriens" zu übernehmen. Er erklärte seine Regierung für ganz Sibirien zuständig. Der andere, kleinere Teil seiner alten Regierung war die ganze Zeit über in Tomsk geblieben. Am 1. Juni erklärten sich ihre Vertreter zu „Bevollmächtigten der Provisorischen Regierung des Autonomen Sibiriens" und bildeten ein sogenanntes „Westsibirisches Emissariat". 143

Dieses „Emissariat" bestand aus Sozialrevolutionären und sollte offensichtlich helfen, den Übergang zur offenen konterrevolutionären Diktatur zu vollziehen. Während seiner Regierungszeit begann die Liquidierung der Maßnahmen und Verordnungen, die von der Sowjetmacht durchgeführt bzw. eingeleitet worden waren. Doch schon am 30. Juni bildete sich in Omsk eine neue „Provisorische Sibirische Regierung", deren Zusammensetzung sich beträchtlich von der Derbers in Wladiwostok unterschied. Ihr Kopf war P. Wologodski, ein unter der sibirischen Reaktion bekannter Vertreter der bürgerlichen Kadettenpartei, die führend an der Entfesselung des Bürgerkrieges beteiligt war. Diese „Provisorische Sibirische Regierung" spielte bei der Vorbereitung der offenen monarchistisch-reaktionären Militärdiktatur eine wichtige Rolle. Es gelang ihr, die Konkurrenz der mehr als ein halbes Dutzend anderer zu jener Zeit entstandenen weißgardistischen „Regierungen" aus dem Feld zu schlagen, da sie sowohl ihrer Zusammensetzung als auch ihrer Politik nach den Vorstellungen ihrer reaktionären in- und ausländischen Auftraggeber am meisten entsprach. Die separatistischen Forderungen wurden allerdings bald fallengelassen, da sie sich als störend erwiesen. Die Pläne der sibirischen Bourgeoisie gingen zu dieser Zeit weit über Sibirien hinaus. Deshalb distanzierte sich diese Regierung, die seit August 1918 an der Spitze der russischen Konterrevolution stand, entschieden von der Oblastnikibewegung. Besonders hartnäckige Vertreter dieser Richtung, wie der Sozialrevolutionär A. Nowoselow, wurden sogar von ihren ehemaligen Bundesgenossen umgebracht. 33 Der reaktionäre Charakter des „sozialen" Programms der „Provisorischen Sibirischen Regierung" kam in den Anfang Juli erlassenen Gesetzen deutlich zum Ausdruck. Er bestand in der Reprivatisierung der Betriebe und des Bodens, in der Abschaffung der Arbeiterkontrolle, dem Verbot von Streiks und der Massenentlassung politisch verdächtiger Arbeiter. Diese unpopulären Maßnahmen wurden mit Hilfe des Militärs durchgesetzt. Schon der geringste Widerstand hatte den Einsatz von Strafexpeditionen zur Folge. Trotzdem gelang es nicht, Unruhen zu vermeiden, die sich überraschenderweise besonders in den Dörfern ausbreiteten. Bis zum Sommer 1918 stand die Bauernschaft in ihrer Mehrheit den Kämpfen um die Macht abwartend gegenüber. Die Hoffnungen, von der neuen Regierung in Ruhe gelassen zu werden, erwiesen sich sehr bald als unbegründet. Die weißgardistischen Machthaber brauchten vor allem Geld, um ihren Apparat aufrechtzuerhal33

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. IV, S. 97.

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ten. Militärische Abteilungen wurden beauftragt, Steuern auf dem Lande nicht nur für das Jahr 1918, sondern auch für die 3 zurückliegenden Jahre einzutreiben. Die Unruhen steigerten sich, als im August, mitten in der Erntezeit, die Mobilmachung der Jahrgänge 1898/99 angeordnet wurde. Eine Welle meist spontaner Aufstände erfaßte im August/September die Gebiete von Tobolsk bis Jenisseisk. Sicherlich wäre es verfrüht, aus diesen Unruhen schon auf den beginnenden Umschwung in der Haltung der Bauernschaft Sibiriens im Bürgerkrieg zu schließen.34 Sie waren eher ein Zeichen der Unzufriedenheit über die die Bauern unmittelbar berührenden Maßnahmen der „Provisorischen Sibirischen Regierung". Sie drückten aber zugleich auch das Verlangen nach einer festeren militärischen Macht aus, eine Stimmung, die Koltschak einige Wochen später bei der Errichtung seiner Diktatur ausnutzte. Vorerst aber konnte die Wologodski-Regierung noch auf Erfolge verweisen, zumindest was die Ausschaltung konkurrierender Machthaber betraf. Im September 1918 gelang es Wologodski auf einer Zusammenkunft in Wladiwostok, die Regierungen von Derber und Chorvat zu liquidieren. Chorvat erhielt den Posten eines Bevollmächtigten der Omsker Regierung im Fernen Osten. Dies waren aber erst vorbereitende Gefechte, denen Ende September 1918 die entscheidende Machtprobe in Ufa folgte. Hier ging es um die Bildung einer „Provisorischen Allrussischen Regierung", die von allen konterrevolutionären Gruppierungen gewählt werden sollte. So entstand das sogenannte Direktorium von Ufa, in dem Wologodski die Sibirische Regierung vertrat. Sein Einfluß in diesem reaktionären Gebilde, dem rechte Sozialrevolutionäre und Kadetten angehörten, erhöhte sich, als der Sitz des Direktoriums nach Omsk verlegt wurde. An der Spitze des am 4. November 1918 gebildeten Ministerrates, in dem der weißgardistische Admiral A. W. Koltschak den Posten des Kriegsministers innehatte, begann er den Umsturz des Direktoriums vorzubereiten. Sein Ziel war die Beseitigung des letzten „demokratisch" verbrämten Machtorgans der Konterrevolution und die Errichtung einer monarchistischen Militärdiktatur. Das plötzliche Auftauchen Koltschaks in Omsk hatte seine Gründe. Der Admiral machte sich bereits Anfang 1917 wegen seiner konterrevolutionären Haltung einen Namen. Nach vielen Dienstjahren als

34

Vgl. Selestov, D. K., O nacale povorota sibirskogo trudovogo krestjanstva v storonu sovetskoj vlasti, in: Istorija SSSR, H. 1, 1962, S. 122—135.

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zaristischer Marineoffizier war er im Juli 1916 zum Befehlshaber der Schwarzmeerflotte ernannt worden. Einige Monate später, als er während der Februarrevolution eine extrem monarchistische Position bezog, mußte er auf Drängen der revolutionären Matrosen nach Petrograd abberufen und später in die USA abgeschoben werden. Doch schon Ende 1917 tauchte er im Fernen Osten auf. Seinen weiteren Einsatz bestimmten nun die Entente-Generäle. Mit ihrer Hilfe organisierte er für die Nacht vom 17. zum 18. November 1918 einen Umsturz. Das „Direktorium" wurde aufgelöst, 2 seiner Mitglieder verhaftet, 2 zum Rücktritt gezwungen. Wologodski, der eine aktive Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung des Putsches gespielt hatte, erhielt den Posten des Vorsitzenden des Ministerrates in der Koltschak-Regierung. Koltschak selbst wurde zum „Obersten Regenten Rußlands" erklärt. Großzügig unterstützte die innere und äußere Konterrevolution den neuen Regenten, auf den sie große Hoffnungen setzte. Allein im Winter 1918/19 erhielt sein Regime von der Entente 500000 bis 600000 Gewehre, 600 Geschütze und ausreichend Munition. Koltschaks finanzielle Lage war äußerst günstig: Ihm stand die Hälfte des russischen Goldschatzes zur Verfügung, der in Kasan in einem Panzerzug dem tschechoslowakischen Korps in die Hände gefallen war. Der Wert des Goldschatzes betrug 651,5 Mill. Rubel. Hinzu kamen noch etwa 100 Mill. Rubel in Banknoten. Im Winter 1919 gelang es schließlich Koltschak, seine offizielle Anerkennung seitens der Regierungen der Entente und der USA als „gesamtrussisches Regierungsoberhaupt" durchzusetzen. Diesem Schritt folgten dann auch die anderen Führer der russischen Konterrevolution, wie Denikin, Judenitsch u. a. Diese Aktion sollte eine stabile Position Koltschaks vortäuschen. Sie hatte anfangs auch die erhoffte Wirkung. Nicht nur die Bourgeoisie des Urals und Sibiriens sowie die aus Zentralrußland geflohenen Gutsbesitzer und Kapitalisten sicherten Koltschak ihre Unterstützung zu. Auch die Kosaken, die städtische Kleinbourgeoisie und nicht zuletzt die Bauern trugen dazu bei, daß der sibirische Regent Anfang 1919 eine Armee von über 30000 Mann besaß. Die Ernüchterung setzte ein, als Koltschak seine politischen Ziele zu verwirklichen begann. Der Boden für seine Sozial- und Innenpolitik war schon von seinen Vorgängern vorbereitet worden, deren Gesetzgebung nicht nur alle Maßnahmen der Sowjetmacht, sondern auch der Provisorischen Regierung außer Kraft gesetzt hatte. Koltschak blieb jedoch dabei nicht stehen. Das Verbot einiger Gewerkschaften, die Abschaffung jeder nationalen Gesetzgebung für kleinere Völker, 146

die Rückkehr zur grausamen sozialen Ausbeutung — alle diese Schritte wurden mit Hilfe brutalen Terrors durchgesetzt. Seinen ausländischen Beschützern gegenüber zeigte sich der Admiral dagegen freigiebig. Große Rohstofflieferungen gingen ins Ausland, kapitalistische Firmen erhielten unter Bedingungen, die Schenkungen gleichkamen, wichtige Konzessionen. Nichts wurde gegen die Spekulanten, die bald die Szene beherrschten, unternommen. Die militärischen Operationen der perfekt ausgerüsteten Armee Koltschaks erfüllten die übertriebenen Erwartungen der Hintermänner jedoch nicht. Der Angriff in Richtung Perm und Wjatka wurde von seiner Armee mit dem Ziel unternommen, sich bei Kotlas mit den im Norden gelandeten Interventionstruppen zu vereinigen. Nach schweren Kämpfen mußte die 3. Armee der sowjetischen Streitkräfte zwar Perm räumen, doch das Ziel der weißgardistischen Offensive wurde nicht erreicht. Die Gegenoffensive der Roten Armee im Januar 1919 führte zur Befreiung von Ufa, Orenburg und Uralsk. Koltschaks Truppen zogen sich nach Osten zurück. Die entscheidenden Kämpfe standen jedoch noch bevor. Seit Ende 1918 vollzogen sich einige Veränderungen in der internationalen Position der Sowjetmacht. Die Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg, aber auch die mächtige revolutionäre Bewegung in Deutschland und Österreich führten zur Schwächung des deutschen Imperialismus. Unter diesen Bedingungen konnte die Sowjetregierung den ihr Anfang des Jahres aufgezwungenen räuberischen Brester Frieden annullieren. Aus Furcht vor einem weiteren Ansteigen der revolutionären Stimmung in ihren Truppen weigerte sich die Regierung Deutschlands, die Forderung der Ententemächte zu erfüllen, deutsche Truppen weiter in den Westgebieten der Sowjetrepublik zu stationieren. Die revolutionäre Bewegung breitete sich auch auf England und Frankreich aus und störte die Interventionspläne beider Länder. Sie verzichteten aber noch keineswegs auf weitere Einmischungen, sondern erweckten vielmehr den Eindruck, als wären sie mehr denn je zur Niederschlagung der Revolution in Rußland entschlossen. So wurden z. B. die im Fernen Osten eingesetzten Interventionstruppen (Anfang 1919 betrug ihre Stärke etwa 150000 Mann) unter ein einheitliches Kommando gestellt. Die endgültige Entscheidung sollte im Frühjahr/Sommer 1919 durch miteinander abgestimmte Aktionen erzwungen werden. Während vom Süden her die Armeen des zaristischen Generals Denikin vorrückten, griffen im Norden die Truppen von General Miller an. Gegen Petrograd wurden zur selben Zeit aus dem Baltikum die weißgardistischen Verbände des Generals 147

Judenitsch, die u. a. von den deutschen „Freikorps" unter General von der Goltz unterstützt wurden, in Marsch gesetzt. Die Offensive der fast 400000 Mann starken Armee Koltschaks leitete die ganze Operation ein und sollte die Vorentscheidung herbeiführen. Der Angriff begann am 3. März 1919 an der gesamten Ostfront auf einer Länge von 2000 km. Innerhalb eines Monats erreichte Koltschaks sibirische Armee die Wolga, besetzte die wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte in diesem Gebiet, unterbrach die Verbindungen der Roten Armee nach Turkestan und bereitete den Durchbruch im Zentrum der Ostfront der Roten Armee vor. Am 11. April 1919 bestätigte das Zentralkomitee der KPR(B) die von Lenin verfaßten „Thesen des ZK der KPR(B) im Zusammenhang mit der Lage an der Ostfront". Alle Reserven sollten mobilisiert, alle verfügbaren Kräfte an die Ostfront verlegt werden, die das zweite Mal zur entscheidenden Front des Bürgerkrieges geworden war. Der Gegenschlag begann am 28. April und wurde von dem hervorragenden Heerführer M. W. Frunse geleitet. In den Kämpfen zeichnete sich besonders die 25. Division unter dem Befehl von W. Tschapajew aus. Die Schläge der Roten Armee zwangen Koltschaks Truppen zum Rückzug. Der Ural wurde Ende Juli befreit. Die Kämpfe gegen den geschlagenen, aber noch lange nicht besiegten Admiral verlagerten sich wieder nach Sibirien. Koltschaks militärische Niederlage mobilisierte auch im Hinterland den Widerstand gegen ihn. Trotz des antibolschewistischen Terrors seiner Vorgänger, der Zerschlagung der kommunistischen Organisationen, der Ermordung Tausender Kommunisten war der Kampf gegen die Konterrevolution zu keiner Zeit völlig gebrochen worden. Dieses Ziel erreichte auch die blutige Militärdiktatur Koltschaks nicht. Der erste große Aufstand der Arbeiter hatte schon im Dezember 1918 in Omsk, der Hauptstadt des Regenten, stattgefunden. Nur das Eingreifen englischer und tschechoslowakischer Truppen verhinderte den Sieg der Aufständischen. Die brutale Niederschlagung der Erhebung sollte als abschreckendes Beispiel dienen; aber schon im Februar brach in Omsk ein neuer Aufstand aus. Durch Massenerschießungen versuchten die Strafexpeditionen die Ruhe wiederherzustellen. Aufstände in Kansk, Ilanskaja, Tomsk und anderen Städten zeugten vom ungebrochenen Willen zum Widerstand gegen die Willkür des weißen Admirals und seiner ausländischen Verbündeten. Wie in den Jahren der zaristischen Herrschaft wurde für die revolutionären Kräfte Sibiriens die Verbindung zur Parteizentrale während des Bürgerkrieges zu einer entscheidenden Frage. Die illegal wirken148

den Parteiorganisationen erhielten trotz großer Schwierigkeiten Informationen und Anweisungen aus dem Zentrum. Allein in der Zeit von Januar bis April 1919 wurden 70 verantwortliche Parteiarbeiter nach Sibirien entsandt, darunter F. I. Goloschtschekin und A. A. Maslennikow. Seit Dezember 1918 existierte beim ZK der KPR(B) das Sibirische Büro des ZK, das die Verbindungen zu den illegalen sibirischen Parteiorganisationen verbessern sollte. Sein besonderes Augenmerk galt der Organisierung der Partisanenbewegung. Der Beschluß des ZK der KPR(B) „Über die sibirischen Partisanenabteilungen" orientierte auf den Zusammenschluß kleinerer Partisanenabteilungen zu größeren militärischen Einheiten, auf die Bildung mächtiger Partisanenarmeen. Unter den sibirischen Partisanenführern taten sich besonders S. G. Laso, P. P. Postyschew, N. A. Kalandaraschwili u. a. hervor. Die Organisierung einer umfangreichen Partisanenbewegung in Sibirien war mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Der Anteil der Arbeiter in den Partisanenverbänden war am Anfang zwar sehr hoch, doch Massencharakter nahm die Bewegung erst an, als sich die vorher überwiegend passiven sibirischen Bauern zum bewaffneten Widerstand gegen das Koltschakregime entschlossen. Zwar war diese veränderte Haltung der Sowjetmacht den Bauern gegenüber keineswegs nur für Sibirien typisch, doch wog die Gewinnung der Mittelbauern hier besonders schwer. Die positive Wende wurde mitbeeinflußt von der Nachricht über Koltschaks Niederlage im Frühjahr 1919. Auf dem VIII. Parteitag der KPR(B) wurde der Übergang von der Politik der Neutralisierung der Mittelbauern zum festen Bündnis mit ihnen hauptsächlich mit solchen Veränderungen begründet. In Westsibirien kämpften Ende Juli etwa 10000 Partisanen, vor allem im Bezirk Tara. Davon waren allerdings nur etwa 2000 bewaffnet. In der Jenisseisker Taiga wurde eine Partisanenrepublik gebildet. Strenge Disziplin und hartes Vorgehen gegen alle anarchistischen Neigungen machten sich jedoch bald notwendig. Unter der Führung der Kommunisten bildeten die Partisanen einen Generalstab der Armee, ein Militärgericht und einen Armeesowjet. Die gut organisierte Partisanenarmee beherrschte nicht nur die Wälder, sondern sie konnte sich bereits im Herbst 1919 auch auf offene Kämpfe einlassen. Am 15. September eroberten die Partisanen Minussinsk und errichteten hier wie auch in anderen Orten die Sowjetmacht. Eine kampfstarke Partisanenbewegung entstand im Transbaikalgebiet und im Fernen Osten. Mit der Herbstoffensive der III. und der V. Armee der sowjetischen Ostfront begann die Schlußphase der 149

Zerschlagung Koltschaks, an der auch die sibirischen Partisanenarmeen maßgeblich beteiligt waren. Die Eroberung von Omsk am 14. November 1919 spielte bei dieser militärischen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Koltschak verlor damit nicht nur einen strategischen Stützpunkt; schon die Tatsache, daß der gefürchtete Aämiral seine Hauptstadt nicht halten konnte, war von nicht zu unterschätzender moralischer Wirkung. Nach dem Sieg bei Omsk lag die weitere Verfolgung und Zerschlagung Koltschaks bei der V. Armee unter dem Kommando von G. Ch. Eiche. Die Weißgardisten verfügten noch immer über starke Kräfte. Im Gebiet Koktschetaw-Akmolinsk operierten die Armeen des weißen Generals Dutow. Vor Tomsk standen die Truppen von General A. N. Pepeljajew, während die Hauptkräfte unter Koltschaks Kommando sich langsam entlang der Transsibirischen Eisenbahn nach Osten zurückzogen. Sie wurden immer noch vom tschechoslowakischen Korps und von den vereinigten Truppen der Interventen unterstützt, doch gestaltete sich ihr Verhältnis zu Koltschak um so gespannter, je weiter die Rote Armee seine geschlagenen Truppen nach Osten jagte. Als die Rote Armee kurz vor Omsk stand, hatten sich die Interventen bereits um einen Ersatz für Koltschaks Regierung bemüht, deren militärisches und politisches Ende man voraussehen konnte. Am 12. November 1919 entstand in Irkutsk das sogenannte Politzentrum, eine antisowjetische Vereinigung, an der verschiedene Parteien und Gruppierungen, von den Menschewiki bis zu den rechten Sozialrevolutionären, beteiligt waren. Das Ziel dieses neuen politischen Gebildes war die Errichtung eines bürgerlich-demokratischen Pufferstaates, der das ganze von den Weißen noch besetzte Territorium umfassen und die bürgerlichen Verhältnisse in Sibirien retten sollte. Schleunigst distanzierte sich das Politzentrum von Koltschaks Aktionen, die es als verbrecherisch bezeichnete. Bald darauf rückte auch das tschechoslowakische Korps von Koltschak ab, dessen Regierung nach Irkutsk übergesiedelt war, um dort mit Unterstützung der Semjonowarmee und der japanischen Interventen festeren Boden unter die Füße zu bekommen. Zusammen mit Koltschak bewegte sich der „Goldzug", dessen Bestand sich inzwischen um mehr als ein Drittel reduziert hatte, nach Osten. Anfang Januar 1920 ließen die Interventen Koltschak endgültig fallen, weil sie hofften, ihren Einfluß in Sibirien mit Hilfe des Politzentrums besser sichern zu können. Seit dem 5. Januar fuhren 2 von tschechischen Weißgardisten bewachte Züge unter den Flaggen der Interventen nach Irkutsk. In dem einen reiste Koltschak, in dem anderen befand sich der Staats150

schätz. In Irkutsk hatten inzwischen die Führer des Politzentrums die Herrschaft übernommen. Koltschak wurde ihnen übergeben und gefangengesetzt. Sein Schicksal war für die Interventen nicht mehr von Interesse. Es ging ihnen nunmehr ausschließlich darum, den Goldschatz in ihre Hände zu bekommen. Um Zeit zu gewinnen, schlugen sie zunächst vor, den Zug gemeinsam von Vertretern der Interventen und der Roten Garde bewachen zu lassen. Aber ihre Versuche, den Zug in Richtung Osten in Bewegung zu setzen, scheiterten. Die Rote Garde erkämpfte sich schließlich die alleinige Bewachung des Panzerzuges. Nach langen Umwegen kam der Goldschatz im Mai 1920 in Kasan an und wurde einer von der Sowjetregierung beauftragten Kommission übergeben. Auch die Tage des Politzentrums waren gezählt. Am 21. Januar 1920 übernahm das Revolutionäre Militärkomitee mit dem Bolschewiken A. A. Schirjamow die Macht in Irkutsk. Seine ersten Maßnahmen galten der Verteidigung der Stadt vor den aus dem Westen herannahenden Resten der Koltschakarmee und den von Osten angreifenden Truppen des weißgardistischen Generals Kappel. Die durch die Niederlagen und Strapazen des Rückzugs demoralisierten Weißgardisten hofften in Irkutsk auf eine kurze Ruhepause und kämpften deshalb mit dem Mut der Verzweiflung. In dieser angespannten Situation wurde das Urteil über Koltschak und seinen letzten Ministerpräsidenten W. N. Pepeljajew gefallt. Das Revolutionäre Militärkomitee ließ am 7. Februar 1920 das Todesurteil über die beiden Führer der sibirischen Konterrevolution vollstrecken. Die Angriffe der Reste der weißen Armeen wurden abgeschlagen. Zusammen mit den Verbündeten flohen sie weiter nach Osten und konzentrierten sich nunmehr im Fernen Osten und entlang der Grenze zur Mongolei. Für den Ausgang der Auseinandersetzungen mit dem Koltschakregime war die Haltung der Völker der nationalen Randgebiete Sibiriens von Wichtigkeit. Nationalistisch gesinnte Kreise in Burjatien, Jakutien und im Altaigebiet hatten zuerst ohne Vorbehalte den Sturz der Sowjetmacht und die Errichtung der Koltschakdiktatur begrüßt. Sie erhofften von der neuen, auf sibirischem Boden etablierten Macht Unterstützung bei der Verwirklichung ihrer separatistischen Pläne. Hinter den politischen Argumenten der Anhänger einer Lostrennung von Rußland verbarg sich meist die Erwartung, verlockende und gewinnbringende Geschäfte mit amerikanischen und japanischen Unternehmern ungestört abwickeln zu können. Aber nicht allein die Profitinteressen bestimmten die nationalistischen Bestre151

bungen der Bourgeoisie. Das parallel zur kapitalistischen Profitgier erwachte nationale Selbstbewußtsein reagierte empfindlich auf jede Mißachtung ethnischer Unterschiede und Besonderheiten. Ernüchternd mußten daher schon die ersten Maßnahmen des Koltschakregimes wirken, die die vorrevolutionäre Gesetzgebung wiederherstellten und alle Errungenschaften der Revolution, u. a. auch das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, beseitigten. Die Forderung burjatischer Nationalisten nach nationaler Selbstverwaltung wurde von Koltschaks Ministern mit der Replik beantwortet: „Auspeitschen sollte man euch!" 35 Die in die nationalen Randgebiete entsandten Vertreter der Koltschakregierung kümmerten sich vorwiegend um die Eintreibung der Steuer für die letzten Jahre und um die Werbung von Jugendlichen für die „Weiße Armee". Beide Maßnahmen riefen sehr bald den Widerstand der Bevölkerung hervor. Die Lebensmittelversorgung dieser entlegenen Gebiete, vor allem der Nordbezirke Jakutiens, funktionierte ohnehin sehr schlecht. Hinzu kam, daß im Sommer 1918 eine Überschwemmungskatastrophe die nördlich gelegene Stadt Werchojansk und ihre Umgebung heimgesucht hatte. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde obdachlos und verlor sowohl alle Lebensmittelvorräte als auch Patronen, Schießpulver, Blei — all das, was sie für die Jagd und für den Schutz vor Raubtieren benötigte.36 Weder die Koltschakregierung, die auf die Hilferufe der vom Hungertod bedrohten Jakuten nicht reagierte, noch ihr Jakutsker Vertreter Solowjow waren imstande, eine wirksame Hilfe zu organisieren. Statt dessen kam im März 1919 ein Ukas von Koltschak heraus, der die Sammlung von Unterwäsche für seine Armee anordnete. Bei Nichterfüllung des festgelegten Solls drohte der Ukas mit Strafen bis zu 3000 Rubel bzw. 3 Monaten Gefängnis. Dieser Befehl rief bei der Bevölkerung offene Empörung hervor. Der Widerstand gegen Koltschak in Jakutien nahm mit der Bildung einer illegalen kommunistischen Partei im Februar 1919 organisierten Charakter an. Die Kommunisten begannen den bewaffneten Aufstand vorzubereiten und sammelten alle mit Koltschak unzufriedenen Gruppen und Schichten um sich. Den Kommunisten schlössen sich ebenfalls in die Illegalität getriebene linke Sozialrevolutionäre und einige Vertreter der bürgerlichen Föderalistenpartei Jakutiens an. Der Aufstand

35 36

Istorija Sibiri, Bd. IV, S. 145. Vgl. Selechova, R. V., Bor'ba za sovetskuju vlast' na severe Jakutii v 1917—1925 g„ Jakutsk 1972, S. 73 f.

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erfolgte in der Nacht zum 15. Dezember 1919. Er brachte den Sturz der konterrevolutionären Diktatur. Die Macht in Jakutsk ging in die Hände des Revolutionären Militärstabes der Roten Armee über, der als Koalitionsorgan der Sowjetmacht Vertreter aller am Aufstand beteiligten Parteien und Gruppierungen vereinigte. Der Stab blieb zwei Monate an der Macht, bis er am 15. März 1920 durch das Provisorische Revolutionskomitee abgelöst wurde. In der Zwischenzeit wurde das ganze Territorium Jakutiens von den Koltschaktruppen gesäubert.37 Eine große Rolle bei der Befreiung Westburjatiens von den Weißgardisten und japanischen Interventen spielte die Partisanenarmee vom Transbaikal. Die Parteiorganisation der Bolschewiki im Gouvernement Irkutsk widmete der nationalen Frage große Aufmerksamkeit. Auch unter illegalen Bedingungen wurde die Propagandaarbeit in burjatischen Siedlungen nicht vergessen. Ab Mitte 1919 entstanden in den burjatischen Ulusen (Dörfern) illegale Gruppen, die nicht nur Kommunisten, sondern auch Vertreter der örtlichen demokratisch gesinnten Intelligenz vereinigten. Zu dieser Zeit entstand auch die erste burjatische Partisanenabteilung unter Führung von P. S. Baltachinow. Bis Ende Januar 1920 wurden die Weißgardisten aus dem größten Teil Westburjatiens vertrieben. Vertreter der Werktätigen der befreiten Gebiete führten in der Zeit vom 25. bis 30. Januar 1920 in der Siedlung Bitschura eine Tagung durch, auf der sie sich für die Wiederherstellung der Sowjetmacht und für die Reorganisierung der Partisanentruppen nach dem Vorbild der regulären Roten Armee aussprachen. Die Versammlung richtete einen Appell an die Truppen der Interventen, Sibirien zu räumen und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Sowjetstaates zu unterlassen. Anfang März war ganz Burjatien befreit.

4. Die Fernöstliche Republik Die besonderen Bedingungen, unter denen der Bürgerkrieg in Sibirien verlief, führten zur Bildung einer Fernöstlichen Republik, eines staatlichen Gebildes, dessen Charakter und dessen Entstehung sehr umstritten sind. Anfang 1920 stand die Rote Armee, die in harten Kämpfen immer weiter nach Osten vordrang und ein von Weißgardisten besetztes Gebiet nach dem anderen befreite, vor dem von japa37

Ebenda, S. 79.

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Thomas, Sibirien

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erfolgte in der Nacht zum 15. Dezember 1919. Er brachte den Sturz der konterrevolutionären Diktatur. Die Macht in Jakutsk ging in die Hände des Revolutionären Militärstabes der Roten Armee über, der als Koalitionsorgan der Sowjetmacht Vertreter aller am Aufstand beteiligten Parteien und Gruppierungen vereinigte. Der Stab blieb zwei Monate an der Macht, bis er am 15. März 1920 durch das Provisorische Revolutionskomitee abgelöst wurde. In der Zwischenzeit wurde das ganze Territorium Jakutiens von den Koltschaktruppen gesäubert.37 Eine große Rolle bei der Befreiung Westburjatiens von den Weißgardisten und japanischen Interventen spielte die Partisanenarmee vom Transbaikal. Die Parteiorganisation der Bolschewiki im Gouvernement Irkutsk widmete der nationalen Frage große Aufmerksamkeit. Auch unter illegalen Bedingungen wurde die Propagandaarbeit in burjatischen Siedlungen nicht vergessen. Ab Mitte 1919 entstanden in den burjatischen Ulusen (Dörfern) illegale Gruppen, die nicht nur Kommunisten, sondern auch Vertreter der örtlichen demokratisch gesinnten Intelligenz vereinigten. Zu dieser Zeit entstand auch die erste burjatische Partisanenabteilung unter Führung von P. S. Baltachinow. Bis Ende Januar 1920 wurden die Weißgardisten aus dem größten Teil Westburjatiens vertrieben. Vertreter der Werktätigen der befreiten Gebiete führten in der Zeit vom 25. bis 30. Januar 1920 in der Siedlung Bitschura eine Tagung durch, auf der sie sich für die Wiederherstellung der Sowjetmacht und für die Reorganisierung der Partisanentruppen nach dem Vorbild der regulären Roten Armee aussprachen. Die Versammlung richtete einen Appell an die Truppen der Interventen, Sibirien zu räumen und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Sowjetstaates zu unterlassen. Anfang März war ganz Burjatien befreit.

4. Die Fernöstliche Republik Die besonderen Bedingungen, unter denen der Bürgerkrieg in Sibirien verlief, führten zur Bildung einer Fernöstlichen Republik, eines staatlichen Gebildes, dessen Charakter und dessen Entstehung sehr umstritten sind. Anfang 1920 stand die Rote Armee, die in harten Kämpfen immer weiter nach Osten vordrang und ein von Weißgardisten besetztes Gebiet nach dem anderen befreite, vor dem von japa37

Ebenda, S. 79.

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Thomas, Sibirien

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nischen Interventen okkupierten Territorium. Es handelte sich um das Gebiet des sowjetischen Fernen Ostens, das etwa 1,5 Mill. km 2 mit knapp 2 Mill. Einwohnern umfaßte. Die durch 2 Jahre harten Existenzkampfes erschöpfte Sowjetrepublik, die zu dieser Zeit das Vordringen der Truppen des konterrevolutionären Generals Wrangel in der Ukraine abwehren mußte, konnte das Risiko eines offenen Krieges gegen Japan nicht eingehen. Es galt, friedliche Wege und Mittel zu finden, um Japan zur Räumung des besetzten Territoriums zu veranlassen. Dabei spielte der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Japan konnte es sich auf die Dauer nicht leisten, zu viel Kraft in die sibirische Affare zu investieren. Sein Hauptaugenmerk galt dem Konkurrenzkampf mit den USA. Es war abzusehen, daß die im sowjetischen Fernen Osten eroberte Position mit der Zeit zu einer ernsthaften Belastung für den gierigen japanischen Imperialismus werden mußte. In dieser Situation wurde die Idee der Bildung eines provisorischen Pufferstaates aufgegriffen. Eine wichtige Garantie für das Gelingen dieses Experiments waren die Stärke des Einflusses der Bolschewiki und der Partisanen in diesen Gebieten sowie die ablehnende Einstellung der Bevölkerung zu den japanischen Okkupanten und ihren weißgardistischen Helfershelfern. Doch der Kampf war damit bei weitem noch nicht entschieden. Im Gegenteil, es sah so aus, daß er nunmehr unter erschwerten und unübersichtlichen Bedingungen weitergeführt werden mußte. Viele Kommunisten, die in allen Etappen des Kampfes gegen die Konterrevolution in Sibirien eine führende Rolle gespielt hatten, hielten die Direktive des Zentrums über die Bildung eines Pufferstaates für falsch. Sie glaubten, daß dieser Beschluß des ZK der RKP(B) aus Mangel an Information entstanden war und beharrten eine Zeitlang auf dessen Korrektur. Zu nah war ihrer Meinung nach der endgültige Sieg, um jetzt noch solche schwerwiegenden Zugeständnisse an den Gegner zu machen. Sergej Laso, der legendäre sibirische Partisanenführer und Revolutionär, gehörte zu einer Gruppe, die diese Entscheidung in Zweifel stellte. Seit den ersten Schlachten des Bürgerkrieges in Sibirien hatte er Schulter an Schulter mit den Internationalisten aus vielen Ländern Europas gekämpft. Ihre Beteiligung an der Verteidigung der Sowjetmacht war für Laso ein Vorzeichen der nahen Weltrevolution. Ende 1919, als er mit der Vorbereitung des Aufstandes im Küstengebiet beschäftigt war, verfaßte Laso Aufrufe an die Arbeiter aller Länder. „Wir", so schrieb er zu jener Zeit, „haben eine ausführliche Information für die kommunistischen Organisationen Amerikas und für den Botschafter der Sowjetregierung Martens zusammengestellt und abgeschickt. Zur 154

Zeit bereiten wir eine Reihe von Materialien für Sowjetrußland vor." 38 Der Gedanke, daß der Sowjetstaat für längere Zeit unter den Bedingungen der kapitalistischen Umkreisung existieren mußte, war ihm und seinen Kampfgefährten fremd; die Einsicht in die Notwendigkeit von Kompromissen gegenüber den imperialistischen Mächten fehlte. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Parteidisziplin begründete er am 3. April 1920 bei der Eröffnung des Sowjets von Wladiwostok die Beschlüsse über die Bildung der Fernöstlichen Republik.39 Es war seine letzte Rede vor diesem Forum. Die japanischen Interventen, die bestrebt waren, noch vor der Gründung des Pufferstaates vollendete Tatsachen zu ihren Gunsten zu schaffen, unternahmen Anfang April an mehreren Orten zugleich bewaffnete Übergriffe, die das Ziel verfolgten, die kommunistischen Organisationen zu zerstören bzw. zu schwächen. Massenverhaftungen und Erschießungen sollten der Bevölkerung Angst einjagen und sie vor der Unterstützung der Kommunisten abschrecken. 2500 Menschen wurden von den Japanern allein in Chabarowsk erschossen bzw. schwer verletzt. In der Nacht vom 5. April fielen die Mitglieder der Militärrates des Küstengebietes S. Laso, W. Sibirzew und A. Luzki den Interventen in die Hände. Sie wurden mit unbekanntem Ziel verschleppt. Erst später erfuhr man, daß Sergej Laso und seine Genossen Ende Mai brutal ermordet wurden: Man hatte sie bei lebendigem Leibe in einem Lokomotivkessel verbrannt. Die Fernöstliche Republik wurde am 6. April 1920 auf einem Kongreß der Werktätigen des Baikalgebietes in Werchneudinsk (heute Ulan-Ude) proklamiert. In der Gründungsdeklaration wurden die Gebiete, die sie umfassen sollte, festgelegt: Transbaikalien, das Amurgebiet, das Küstengebiet (Primorje), Kamtschatka und die Insel Sachalin. Faktisch gehörte jedoch zu ihrem Territorium anfangs nur das Baikalgebiet. Der Kongreß wählte eine Provisorische Regierung, in der Mitglieder der KPR(B) die entscheidende Rolle spielten. An ihrer Spitze stand der Kommunist A. M. Krasnoschtschekow. Am 14. Mai wurde die Fernöstliche Republik von Sowjetrußland anerkannt. Noch vor diesem Akt, der der Fernöstlichen Republik die finanzielle, diplomatische, wirtschaftliche und militärische Hilfe der Sowjetregierung zusicherte, wurde am 29. April dem japanischen Oberkommando ein Abkommen mit der Provisorischen Regierung

38 39

ii

Lazo, S., Vospominanija i dokumenty, Moskau 1974, S. 232. Vgl. ebenda, S. 221 ff.

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abgerungen, in dem die geschaffene Lage vertraglich festgehalten wurde. Die kurze Geschichte der Fernöstlichen Republik weist einige Besonderheiten auf, die es den Historikern später erschwerten, ihren Charakter zu bestimmen. Eine solche Besonderheit bestand darin, daß die Republik während der gesamten Zeit ihrer Existenz darum kämpfte, das ihr zuerkannte Territorium faktisch in Besitz zu nehmen. Und in dem Maße, wie diese Aufgabe erfüllt wurde, verringerte sich die Notwendigkeit ihrer Existenz. Die Schaffung und Stärkung der Revolutionären Volksarmee (RVA), deren erste Truppen sich im April 1920 formierten, spielte daher eine sehr wichtige Rolle. Ihre erste große Bewährung bestand diese Armee bei der Befreiung Transbaikaliens. Das Gebiet war vorübergehend zum Stützpunkt der Semjonowbanden geworden, die sich auf ihrem Rückzug in Tschita festgesetzt hatten. Die gemeinsame Aktion der Truppen der RVA, der Partisanenabteilungen und des illegalen Arbeiterkomitees von Tschita führte am 22. Oktober 1920 zur Befreiung der Stadt. Versuche japanischer Interventen, einen konterrevolutionären „schwarzen Puffer" in diesem Gebiet zustandezubringen, waren damit gescheitert. Die Japaner mußten das Baikalgebiet und Chabarowsk räumen. Einen Monat nach der Befreiung von Tschita mußten die weißgardistischen Truppen und Banden das gesamte Gebiet am Baikal räumen. Es entstanden nunmehr Bedingungen für die Vereinigung aller Gebiete des Fernen Ostens in der Fernöstlichen Republik. Die Konferenz der Vertreter dieser Gebiete, die Ende Oktober/Anfang November in Tschita stattfand, wählte eine neue Regierung der Fernöstlichen Republik, die sich aus Kommunisten und Parteilosen zusammensetzte, und bestimmte als neue Hauptstadt der Republik Tschita. In den darauffolgenden Auseinandersetzungen trat die zweite wesentliche Besonderheit der Fernöstlichen Republik offen zutage — die stärkere Ausnutzung der parlamentarischen Methoden im Kampf um die Macht. Die schon erwähnte Versammlung der Gebietsvertreter beschloß, die endgültige Festlegung der staatsrechtlichen Form der Republik der zu wählenden Konstituierenden Versammlung zu überlassen. In der politisch angespannten Atmosphäre nahm der Wahlkampf, an dem sich neben den Bolschewiki die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und andere kleinbürgerliche und bürgerliche Parteien beteiligten, scharfe Formen an. Die Wahlen wurden vom 9. bis 11. Januar 1921 durchgeführt. Sie demonstrierten deutlich, daß alle Hoffnungen, den Pufferstaat für die Errichtung einer bürgerlichen Diktatur benutzen zu können, begraben werden mußten. In die Kon156

stituierende Versammlung wurden 184 parteilose Bauern (vorwiegend Partisanen), 92 Kommunisten, 18 Sozialrevolutionäre, 14 Menschewiki sowie Vertreter anderer Parteien gewählt. Die Fraktionen der Bauern und der Bolschewiki, die in den Grundfragen übereinstimmende Ansichten vertraten, besaßen 72,6 Prozent aller Mandate. Diese Mehrheit konnte in der vom 12. Februar bis 27. April tagenden Konstituierenden Versammlung ihren Entwurf für die Verfassung der Fernöstlichen Republik durchsetzen. Sie wurde zu einem unabhängigen demokratischen Staat erklärt, in dem die oberste Macht „dem Volke des Fernen Ostens und nur ihm gehört" 40 . In der von der Versammlung gewählten Regierung erhielten die Kommunisten mit dem früheren Regierungschef Krasnoschtschekow an der Spitze die meisten Sitze. Nachdem der Versuch der konterrevolutionären Kräfte, die Konstituierende Versammlung für eine Änderung der Machtverhältnisse zu mißbrauchen, gescheitert war, wurden die Angriffe gegen die Fernöstliche Republik wieder mit militärischen und nunmehr auch verstärkt mit diplomatischen Mitteln geführt. Ende Mai provozierten die japanischen Interventen einen konterrevolutionären Umsturz im Küstengebiet, indem sie die Gebietsverwaltung der Fernöstlichen Republik absetzten. An die Macht gelangte eine bürgerliche Regierung mit den Gebrüdern Merkulow an der Spitze. Zur selben Zeit versuchten die Truppen des weißen Barons Ungern-Sternberg von der Mongolei aus, die Republik zu überfallen und bis zur Transsib vorzustoßen. Zwar gelang es den Truppen der RVA und der Roten Armee zusammen mit den mongolischen revolutionären Truppen, Ungern-Sternberg zurückzuschlagen, doch war die Republik nach wie vor gefährdet. Zu Hilfe kam ihr schließlich der Streit zwischen den USA und Japan, den die Regierung Sowjetrußlands im Interesse der Fernöstlichen Republik geschickt ausnutzte. Als im Sommer 1921 die Regierung der USA ihre Absicht verkündete, die „sibirische Frage" auf die Tagesordnung der Washingtoner Konferenz zu setzen, faßte Japan dies als einen Versuch der USA auf, sich in Angelegenheiten einzumischen, die allein Japan betrafen. Als Anfang Juli eine amerikanische Delegation unter der Leitung des Attachés der Amerikanischen Botschaft in Tokio, in die Fernöstliche Republik reiste und in Tschita ein nichtoffizieller diplomatischer Vertreter der USA, Smith, erschien, 40

Agalakov, V. T., Dal'nevostocnaja respublika, in: Istoriceskaja ènciklopedija, Bd. 4, Moskau 1963, S. 959.

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beschloß Japan, seinem Rivalen zuvorzukommen. 41 In später Nachtstunde erschien der japanische Botschafter in Peking beim Vertreter der Fernöstlichen Republik und schlug ihm vor, unverzüglich Verhandlungen über die Gestaltung normaler Beziehungen aufzunehmen. Diese begannen am 26. August 1921 im chinesischen Hafen Dairen. Die Delegation der Fernöstlichen Republik forderte den sofortigen Abzug der japanischen Truppen und die Teilnahme der Vertreter der Sowjetregierung an den Verhandlungen. Doch es gehörte nicht zu den Absichten der japanischen Verhandlungspartner, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Sie wollten mit den separaten Verhandlungen lediglich Druck auf die Teilnehmer der Washingtoner Konferenz ausüben und im übrigen die Ergebnisse dieser Konferenz abwarten. Die Forderungen, die Japan in Dairen aufstellte, glichen einer diplomatischen Erpressung, der mit einer erneuten militärischen Provokation Nachdruck verliehen werden sollte. Am 30. November 1921 begann die von den Japanern ausgerüstete weißgardistische Armee des Generals Moltschanow ihren Angriff auf die Truppen der RVA. Am 22. Dezember besetzte sie Chabarowsk. In dem nun beginnenden letzten Abschnitt der militärischen Auseinandersetzungen mit den Weißgardisten und Interventen spielte der neu gegründete Militärrat der Republik, dem W. K. Blücher (als Oberkommandierender der RVA), W. I. Burow, M. I. Gubelman, S. M. Seryschew angehörten, eine wichtige Rolle. Die Gegenoffensive der RVA begann im Februar 1922. Die erste entscheidende Schlacht fand am' 12. Februar in der Nähe der stark befestigten Eisenbahnstation Wolotschajewska statt. Die Truppen der Weißgardisten erlitten große Verluste, die für sie um so schmerzlicher waren, daß sie ihre 18 km lange Befestigungskette für unbezwingbar hielten und als das „Verdun des Fernen Ostens" ausgegeben hatten. 42 Am 14. Februar wurde Chabarowsk wieder befreit. Die Tage der Interventen auf dem Boden des russischen Fernen Ostens waren gezählt. In dieser Situation unternahmen sie einen letzten Versuch, ihren Einfluß zu behaupten, indem sie dem ehemaligen General der Koltschak-Armee, Diterichs, zur Macht verhalfen. Doch das war nur noch eine Episode, die ein paar Wochen dauerte. Als die RVA am 9. Oktober die Stadt Spassk befreite, war der Weg nach Wladi-

41

42

Japans Befürchtungen, daß die USA die Absicht hatten, stärker als bisher in das „sibirische Geschäft" einzusteigen, wurden besonders durch Nachrichten über Konzessionsverhandlungen zwischen Lenin und Vertretern der USARegierung genährt. Vgl. Istorija Sibiri, Bd. IV, S. 168.

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wostok frei. Die Japaner mußten die Stadt und das Territorium der Fernöstlichen Republik räumen. Am 25. Oktober 1922 trafen die Truppen der RVA und der Partisanen in Wladiwostok ein. Der Pufferstaat im Fernen Osten hatte damit seine Aufgabe, die Befreiung des Fernen Ostens von den japanischen Interventen, erfüllt. Am 14. November 1922 beschloß die Volksversammlung der Fernöstlichen Republik, die Sowjetmacht auf dem gesamten Territorium der Republik zu errichten. Sie wandte sich an die Regierung der RSFSR mit der Bitte, die Fernöstliche Republik in die RSFSR einzubeziehen. Das Dekret der Sowjetregierung vom 15. November beschloß die Aufnahme. Damit ging zugleich auch die letzte Etappe des Bürgerkriegs in der Geschichte des Sowjetlandes zu Ende. Das ganze Land war von den Interventen und Weißgardisten befreit.

KAPITEL V

Das große Experiment

1. Die Umgestaltung der sibirischen Wirtschaft Die sozialistische Revolution begann mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und ihre Partei. Die Hauptaufgabe der Revolution und die wichtigste Funktion des Staates bestanden darin, all jene sozialen Umgestaltungen durchzuführen, die zur Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Basis notwendig waren. Das große sozialökonomische Experiment des Aufbaus einer sozialistischen Wirtschaft wurde zuerst im Frühjahr 1918 in der bekannten Leninschen Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" begründet. Lenin ging davon aus, daß man die sozialökonomische Basis des Sozialismus nicht mit einem Schlag schaffen könne, sondern daß dazu eine ganze geschichtliche Periode notwendig sei. Hauptpunkte des Plans waren die Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel, die Festigung und Entwicklung der maschinellen Großindustrie und die Leitung der nationalisierten Betriebe. Lenin begründete das Prinzip des demokratischen Zentralismus in der Leitung der Volkswirtschaft und stellte die Aufgabe, die Arbeitsproduktivität ständig zu erhöhen, die Arbeitsdisziplin zu festigen und den sozialistischen Wettbewerb zu entwickeln. Die kommunistische Partei, die Gewerkschaften und die Sowjets der Arbeiterdeputierten wurden aufgerufen, unter den Arbeitern das Bewußtsein zu entwickeln, daß die Arbeiterklasse den Staat organisiere und berufen sei, als führende Kraft der Gesellschaft den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu vollziehen. Diese Grundsätze hatten auch nach der gewaltsamen Unterbrechung des friedlichen Aufbaus durch Bürgerkrieg und Intervention ihre Gültigkeit nicht verloren. Aber die Bedingungen, unter denen diese gewaltigen sozialen und ökonomischen Veränderungen nunmehr vollzogen werden mußten, waren in mancher Hinsicht noch komplizierter geworden. Der Krieg hatte die Wirtschaft zerstört; die Industrieproduktion des Landes erreichte im Jahre 1920 knapp 14 Prozent der 160

des letzten Friedensjahres 1913; das Transportwesen war völlig lahmgelegt; 7 Mill. Menschenleben waren am Ende des Bürgerkrieges zu beklagen, und die Zahl wuchs noch ständig durch Epedemien und Hungersnöte. Zum dringendsten Problem wurde die Lebensmittelversorgung. Im Jahre 1920 konnte nur die Hälfte der Getreidemenge des Jahres 1913 eingebracht werden. Die verheerende Mißernte des darauffolgenden Jahres führte in den zentralen Gebieten des europäischen Teils des Landes zu katastrophalen Zuständen. Der einzige Ausweg aus dieser Lage bestand darin, alle Mittel einzusetzen, um Getreide aus den von den Mißernten weniger betroffenen Gebieten zu bekommen. Sibirien gehörte dazu. Auch hier hatte der Bürgerkrieg Verwüstungen hinterlassen und Menschenopfer gefordert. Etwa 25000 sibirische Bauern waren von den Weißgardisten und Interventen erschossen, erhängt oder auf andere Weise grausam umgebracht worden. 90000 Tote und 200000 Verwundete hatten die sibirischen Dörfer nach diesem Krieg, von dem fast die ganze Bevölkerung betroffen wurde, insgesamt zu beklagen. 56000 Bauernhöfe waren von Koltschaks Banden niedergebrannt, 57000 Rinder weggetrieben worden. Der gesamte Wertverlust wurde später auf eine Summe zwischen 2173,5 und 3641,4 Mill. Goldrubel geschätzt.1 Allerdings waren die Verluste dennoch geringer als im Zentrum des Landes. Im Herbst 1920 wurden die freien Vorräte an Getreide in Sibirien auf etwa 100 Mill. Pud geschätzt. Bis Mitte 1920 unterschieden sich die Bedingungen und die Prinzipien der Arbeit an der „Lebensmittelfront" in Sibirien von denen des übrigen Landes. Die mit der Politik des „Kriegskommunismus" eingeführte Pflichtablieferung des Getreides an den Staat wurde in Sibirien bis dahin nicht praktiziert. Entsprechend dem Beschluß des Sibrevkom (Sibirisches Revolutionskomitee) vom 23. September 1919 wurden die Abgaben des überschüssigen Getreides an den Staat auf völlig freiwilliger Grundlage durch Ankauf organisiert.2 Ein solches Ausnahmeverfahren hatte seine Gründe. Die Befreiung Sibiriens von Koltschak gelang mit Unterstützung der Bauern, die sich aktiv an der Partisanenbewegung beteiligt hatten. Nach der Befreiung war die Stimmung im sibirischen Dorf der Sowjetmacht gegenüber wohlwol1

2

Vgl. Guscin, N. Ja., Sibirskaja derevnja na puti k socializmu, Novosibirsk 1973, S. 58 f.; ders., Razvitie selskochozjajstvennogo proizvodstva v Sibiri (1920—27), in: Problemy istorii sovetskoj sibirskoj derevni, Novosibirsk 1977, S. 75, 78. Vgl. Siskin, V. /., Prodovolstvennaja armija v Sibiri (1920 — nacalo 1921 g.), in: Problemy istorii sovetskoj sibirskoj derevni, a.a.O., S. 30. 161

lend, und es wurde möglich, die Lieferungen an den Staat ohne Zwang zu sichern. Die Ergebnisse waren durchaus ermutigend, etwa 6 Mill. Pud Getreide lieferte Sibirien bis Februar 1920. Bezeichnend war allerdings der Umstand, daß die Kulaken sich in der Regel an dem Getreideverkauf nicht beteiligten. Das Sibrevkom wertete diese Haltung als Zeichen dafür, daß die sibirische Dorfbourgeoisie nur unter dem Druck militärischer Gewalt bereit war, ihre großen Getreidevorräte abzuliefern. Diese Einschätzung sollte sich in den folgenden Jahren bestätigen. Die Zuspitzung der Versorgungslage in den zentralen Gebieten Rußlands führte dazu, daß auf Beschluß des Rates der Volkskommissare vom 1. Juni 1920 Sibirien eine Getreideablieferungspflicht von 110 Mill. Pud für das laufende Jahr auferlegt wurde. Das waren etwa 24 Prozent des für das ganze Land festgelegten Aufkommens. Der gesamte Ernteertrag wurde in Sibirien in jenem Sommer auf 245,3 Mill. Pud geschätzt, während in ganz Rußland 2759 Mill. Pud geerntet wurden. Das bedeutete, daß die Ablieferungspflicht für Sibirien mit 45 Prozent des Ertrages mehr als doppelt so hoch war wie im Landesdurchschnitt (21 Prozent). Es war klar, daß die Auseinandersetzung mit den sibirischen Kulaken nicht mehr hinauszuschieben war. Bis dahin verfügte das Sibrevkom lediglich über einige „Lebensmitteleinheiten". Das waren aus Freiwilligen formierte bewaffnete Abteilungen, die die örtliche Macht bei der Getreidebeschaffung unterstützten, die Speicher überwachten und die Brottransporte begleiteten. Diese Einheiten mußten sich jetzt auf ernstere Auseinandersetzungen vorbereiten. Ihre zahlenmäßige Stärke, ihre Bewaffnung und Ausrüstung mußten wesentlich verbessert werden. Ende Mai 1920 zählten die dem Sibrevkom unterstellten „Lebensmitteleinheiten" weniger als 1000 Mann. Benötigt wurden aber nach vorläufigen Schätzungen 9000 bis 10500 bewaffnete Kämpfer. Auf Beschluß der Sowjetregierung sollten einige tausend Rotarmisten aus den zentralen Gebieten nach Sibirien abkommandiert werden. Ende Juni trafen die ersten 7 Sonderbataillone ein. Ende Juli zählte die sibirische „Lebensmittelarmee" 18 Sonderbataillone und 2 Kavallerieschwadronen. Die Absicht, sie ausschließlich zur Erfüllung des Getreideabgabeplans einzusetzen, konnte jedoch nicht realisiert werden. Eine Welle bewaffneter konterrevolutionärer Erhebungen erfaßte im Sommer 1920 das Altaigebiet, die Semipalatinsker und Tomsker Gouvernements. Große Teile der „Lebensmittelarmee" mußten für den Kampf gegen die Aufständischen mobilisiert werden. Anfang September traf weitere Verstärkung aus dem Zentrum ein, so daß die Gesamtstärke der „Lebensmittelarmee" 162

etwa 11000 Mann betrug. Der relativ frühe Kälteeinbruch in den Herbstmonaten brachte neue unvorhergesehene Schwierigkeiten mit sich, da Kleidung und Schuhwerk der meisten Rotarmisten für den sibirischen Winter völlig ungeeignet waren. Ab Mitte Oktober war deshalb nur ein Drittel der „Lebensmittelarmee" kampfbereit. Die Einsatzbedingungen und die Formen der Arbeit der Rotarmisten in den Dörfern waren sehr unterschiedlich. Nicht selten sicherte allein schon die Anwesenheit der bewaffneten Truppen den ruhigen Verlauf der Pflichtabgaben. Mitunter übernahmen die Rotarmisten die Aufgabe, die neue Ideologie und Kultur zu propagieren. Sie organisierten Klubs und Bücherstuben. Durch Vorträge und Diskussionen versuchten sie, die Politik der Sowjetmacht, deren nächsten Aufgaben und Ziele zu erläutern. Oft fanden sie Anklang. Zumeist jedoch verlief ihr Einsatz keineswegs friedlich. In erster Linie wurden die Einheiten der „Lebensmittelarmee" in Gegenden geschickt, wo Widerstand zu erwarten bzw. bereits im Gange war. Saboteure wurden verhaftet, ihre Getreidevorräte und manchmal ihr Eigentum requiriert. Nicht zufallig richtete sich der Terror der Kulakenbanden besonders oft gegen die Mitglieder der „Lebensmittelabteilungen", deren Einsatz dazu beitrug, daß bis Sommer 1921 67,4 Mill. Pud Getreide Sibirien in Richtung Westen verließen. Das waren zwar nur 61 Prozent des Planes, doch immerhin ein Viertel der in ganz Sowjetrußland aufgebrachten Getreidemenge. Die Abgaben von der wesentlich geringeren Ernte des Dürrejahres 1921 wurden unter veränderten Bedingungen erhoben. Im ganzen Lande trat an die Stelle der Ablieferungspflicht die Naturalsteuer. Für das laufende Jahr (1921/22) wurde die Naturalsteuer wesentlich nied-. riger festgelegt. Das versetzte die Bauern in die Lage, die Überschüsse zu verkaufen. Es handelte sich dabei um eine der ersten wichtigen Maßnahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP). Diese Politik war auf die Herstellung des ökonomischen Bündnisses der Arbeiterklasse mit der werktätigen Bauernschaft gerichtet. Stärker als bisher beinhaltete sie die Ausnutzung des Marktes und der Ware-Geld-Beziehungen, berücksichtigte die materielle Interessiertheit der Werktätigen und sah eine gewisse Zulassung privatkapitalistischen Eigentums vor, unter der Bedingung, daß sich die Kommandohöhen der Volkswirtschaft fest in der Hand des Staates befanden. Der auf dem X. Parteitag der KPdSU angenommene Beschluß über die Einführung der NÖP wurde in einer Situation der gefahrlichen Zuspitzung des Klassenkampfes angenommen. Eine Reihe von Auf163

ständen gegen die Sowjetmacht, dessen größter in Kronstadt angezettelt wurde, zeugten davon. Lenin kennzeichnete diese Lage mit dem kurzen Satz: „Ökonomik im Frühjahr 1921 hat sich in Politik verwandelt: ,Kronstadt'." 3 Der Kronstädter Aufstand war noch in vollem Gange, als der Parteitag einberufen wurde. „Es ist notwendig", erklärte Lenin, als der Beschluß über die NÖP angenommen wurde, „das Beschlossene noch heute abend durch Rundfunk der ganzen Welt mitzuteilen und bekanntzugeben, daß der Parteitag . . . im Prinzip die Ablieferungspflicht durch eine Steuer ersetzt und dadurch dem kleinen Landwirt eine ganze Reihe von Anreizen gibt . . .; daß der Parteitag, indem er diesen Weg beschreitet, das System der Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft korrigiert und die Überzeugung zum Ausdruck bringt, daß auf diesem Wege gefestigte Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft erreicht werden." 4 In Sibirien wurde die Naturalsteuer später als in anderen Gegenden eingeführt, und zwar in einer Höhe von 20 bis 30 Prozent des Ernteertrages. Verglichen mit dem europäischen Teil des Landes war sie doppelt so hoch. Die Arbeit an der sibirischen „Lebensmittelfront" komplizierte sich auch hier durch die Zuspitzung des Klassenkampfes. Etwa 250 Banden, denen insgesamt ca. 20000 Mann angehörten, trieben 1921 in Sibirien ihr Unwesen. Die Aufstände forderten zahlreiche Opfer. Allein im Gebiet Tjumen verloren fast 20000 Bauern in Gefechten und bei Überfallen der Banden ihr Leben. Die festgelegte Naturalsteuer wurde trotz dieser Schwierigkeiten in vollem Umfang abgeliefert. Der Beitrag der sibirischen Bauern zur Bekämpfung der Hungersnot wurde hoch eingeschätzt. In einem Dankschreiben der Regierung, das M. I. Kalinin und A. S. Enukidse unterzeichneten, hieß es, daß Sibirien, das schon während des Bürgerkrieges einen bedeutenden Teil der Last des Kampfes gegen die Konterrevolution auf sich genommen hatte, sich nun nicht weniger aktiv an der Hilfsaktion für die hungernde Bevölkerung der von der Dürre betroffenen Gouvernements beteilige.5 Auch im darauffolgenden Jahr war Sibiriens Anteil an der Getreideversorgung des Landes relativ hoch. Dies war um so bemerkenswerter, als sich seit 1921 deutlich Krisenerscheinungen in der sibirischen Landwirtschaft zeigten. Sie äußerten sich in der Verringerung der Ackerfläche (1921 um 20 Prozent und 1922 um weitere 40 Prozent), 3 4 5

Lenin, W. /., Werke, Bd. 32, S. 339. Ebenda, S. 231 f. Vgl. Guscin, N. Ja., Razvitie selskochozjajstvennogo proizvodstva v Sibiri (1920—27), in: Problemy istorii sovetskoj sibirskoj derevni, a.a.O., S. 84.

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in der rapiden Abnahme der Erträge und besonders in der Verringerung des Viehbestandes. Die Butterproduktion kam fast völlig zum Erliegen; sie betrug nur 10,7 Prozent des Jahres 1913. Die Überwindung der Krise in der Landwirtschaft, die das sibirische Dorf mitunter schwerer traf als das zentralrussische, begann im Jahre 1923. Ein System von Maßnahmen der Sowjetregierung, die im Rahmen der NÖP beschlossen und verwirklicht wurden, trug zum raschen Aufschwung der Landwirtschaft bei. Bis 1926, d. h. 1 Jahr später als in den übrigen Landesteilen, wurde die Wiederherstellungsperiode in der sibirischen Landwirtschaft abgeschlossen. Das Besondere dieser Zeit in der Geschichte des Sowjetstaates bestand darin, daß man im Gegensatz zu anderen Ländern gleichzeitig mit der Wiederherstellung der Wirtschaft neue Produktions- und Lebensweisen einzuführen begann. Auf dem Lande bildete der Leninsche Kooperativplan die Grundlage für mannigfaltige Initiativen. Lenin sah in der Bildung von Genossenschaften den Weg, auf dem die Millionen Kleinproduzenten in den sozialistischen Aufbau einbezogen werden konnten. In einem seiner letzten Artikel betonte er, daß es außerordentlich wichtig sei, umsichtig in dieser Frage vorzugehen und nicht „sofort rein kommunistische Ideen im engsten Sinne des Wortes ins D o r f zu tragen. „Solange bei uns auf dem . . . Lande die materielle Grundlage für den Kommunismus nicht gegeben ist, würde das für den Kommunismus, man kann sagen, schädlich sein, würde das, man kann sagen, verhängnisvoll sein." Der sozialistische Staat müsse alle und besonders die materiellen Voraussetzungen schaffen, um den Bauern die Bildung der Genossenschaften zu erleichtern. Dabei solle die Arbeiterklasse der Bauernschaft unmittelbar Hilfe erweisen. Lenins Genossenschaftsplan war ein Teil des gesamten Planes des sozialistischen Aufbaus, in dem die Umgestaltung der Landwirtschaft parallel mit der Industrialisierung und mit der Kulturrevolution vor sich gehen sollte.6 In der sibirischen Landwirtschaft gab es traditionelle Elemente, die die Einführung von sozialistischen Genossenschaften erleichterten. Besonders wichtig war die Tatsache, daß bereits vor 1917 Erfahrungen mit der Kooperation gemacht wurden. Im Jahre 1913 befanden sich 70 Prozent aller Butterproduktionskooperativen Rußlands in Sibirien.7 Ihre Zahl stieg bis 1917 weiter an und betrug vor der Revolution 6 7

Lenin, W. /.,Werke, Bd. 33, S. 460 f.; S. 451 f. (Zitat). Vgl. Gmein, N. Ja., Sibirskaja derevnja na puti k socializmu, Novosibirsk 1973, S. 68 f.

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1410 Arteis. Die Verbrauchergenossenschaften Sibiriens zählten zu jener Zeit über 1 Mill. Mitglieder. Die revolutionäre Ungeduld, aber auch die Unerfahrenheit der auf dem Lande eingesetzten Arbeiter und Bauern führten u. a. dazu, daß die häufigste Form der Genossenschaft im sibirischen Dorf Anfang der zwanziger Jahre die Kommune wurde, eine Form der Kooperative, für die ein hoher Grad der Vergesellschaftung charakteristisch war. Während im ganzen Land in den Jahren von 1922 bis 1925 10 bis 13 Prozent aller Genossenschaften Kommunen waren, belief sich der Anteil in Sibirien auf 70 Prozent im Jahre 1922, und 3 Jahre später, nachdem die ersten Erfahrungen schon die Unzweckmäßigkeit dieser Form der Vereinigung bewiesen hatten, bestanden immer noch 33,5 Prozent aller Kooperativen in Form von Kommunen weiter. Genauer wäre es allerdings, nicht vom Weiterbestehen, sondern von einer fortwährenden Neubildung zu sprechen, denn Beständigkeit gehörte keineswegs zu den Merkmalen dieser Vereinigungen. Auf der Suche nach der geeigneten Form der Kooperation begannen sich erst ab Mitte der zwanziger Jahre die Kolchosen langsam durchzusetzen. Sie unterschieden sich von den Kommunen nicht nur im Grad der Vergesellschaftung. Nicht weniger wichtig war die Tatsache, daß hier zum ersten Mal geeignetere und wirksamere Prinzipien der Bezahlung angewandt wurden. Die Gleichmacherei der ersten Jahre wurde durch die differenzierte Entlohnung nach Leistung ersetzt. Die Vorteile dieser Wirtschaftsform konnten allerdings vorerst noch nicht überzeugend zur Geltung kommen. Daher ging der Prozeß der Kollektivierung relativ langsam vor sich. Die sibirische Industrie befand sich nach dem Bürgerkrieg in einer geradezu trostlosen Situation. Im August 1921 gab es in Sibirien, ohne den Fernen Osten, 1640 verstaatlichte Unternehmen, von denen der größte Teil völlig oder teilweise stillag. Es fehlte an Rohstoffen, an Brennmaterial und an Finanzmitteln. Der Bedarf Sibiriens an Eisen und Stahl konnte nur zu 2 bis 6 Prozent gedeckt werden.8 Unter diesen Bedingungen beschloß die Regierung, eine Reihe von Betrieben, deren Produktion besonders wichtig war, vorzugsweise zu unterstützen. In Sibirien betraf das vor allem Bergbauunternehmen, Kohlegruben und Goldminen. Außerordentlich kritisch war die Transportsituation. Der größte Teil der Dampflokomotiven und

8

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. IV, a.a.O., S. 190.

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Waggons befand sich in einem kläglichen Zustand. Vor allem aber fehlte Heizmaterial. Am 6. Dezember 1921 teilte das Sibrevkom in einem Telegramm an Lenin mit, daß wegen Kohlemangels der Personentransport für 2 Wochen völlig eingestellt und der Gütertransport eingeschränkt werden müsse.9 In jenem Winter 1921/22, als die hungernde Bevölkerung der Zentralgebiete auf Getreidezüge aus dem Osten wartete, war die Eisenbahnverbindung nach Sibirien wichtiger als je zuvor. Am 5. Januar 1922 begab sich eine Regierungskommission unter Leitung von Felix Dzierzynski nach Sibirien. Sie war mit Sondervollmachten ausgestattet, um das sibirische Transportwesen anzukurbeln und die Lebensmitteltransporte in vollem Umfang zu ermöglichen. Mit Unterstützung der örtlichen Partei- und Staatsorgane gelang es der Kommission, den Zusammenbruch der sibirischen Eisenbahnverbindungen zu verhindern und die Lebensmitteltransporte zu sichern. Ein grundsätzlicher Wandel der angespannten Transportlage konnte allerdings nur im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der wichtigsten Industriezweige erreicht werden. Die Entstehung des Zentrums der sowjetischen Montanindustrie in Sibirien hing mit einem Experiment zusammen, das über den unmittelbaren Anlaß hinaus große Bedeutung besaß. Es handelte sich um die sogenannte Autonome Industrielle Kolonie Kusbass (AIK-Kusbass), eine der größten Hilfsaktionen ausländischer Arbeiter in der sowjetischen Wirtschaft der zwanziger Jahre. Die allgemein als „Solidarität mit Sowjetrußland" bezeichnete Bewegung ausländischer Werktätiger hatte verschiedene Formen angenommen. Die Aktion „Hände weg von Sowjetrußland", die gegen die militärische Aggression gerichtet war, sowie die Lebensmittelsammlungen und Hilfsaktionen, die von der Internationalen Arbeiterhilfe organisiert worden waren, sind allgemein bekannt. Doch es gab noch andere Formen der Beteiligung von Arbeitern und Bauern aus verschiedenen Ländern am Aufbauwerk des jungen Sowjetstaates, nämlich die unmittelbare Mitwirkung an der Wiederherstellung der Wirtschaft nach Revolution und Bürgerkrieg. Dutzende internationaler Kommunen waren in der Landwirtschaft tätig. In der Industrie gehörte die „AIK-Kusbass" zu den wichtigsten Betrieben dieser Art. Die Idee der „AIK-Kusbass" ging von dem holländischen Kommu9

Vgl. ebenda, S. 191. 167

nisten S. J. Rutgers aus. 10 Seit 1899 gehörte Ingenieur Rutgers — einer der Begründer der Kommunistischen Partei Hollands — der sozialdemokratischen Bewegung an. Zu Beginn des ersten Weltkrieges übersiedelte Rutgers in die USA. Hier stellte er sich 1915 an die Spitze der linken „Sozialist Propaganda League" in Boston. Im Auftrage dieser Organisation bzw. mit dem Mandat versehen, die Liga auf allen Konferenzen zu vertreten, reiste Rutgers nach der Oktoberrevolution nach Rußland. Seine Route führte über Sibirien, das er auf diese Weise kennenlernte. Im Jahre 1918 fand seine erste Begegnung mit Lenin statt. Ende 1919 reiste er nach Amsterdam, wo er an der Bildung des Exekutivkomitees der Komintern mitwirkte. Nach einem reichlichen Jahr kehrte er nach Moskau zurück, mit einem Projekt, das die Einbeziehung ausländischer Arbeiter und Spezialisten in den wirtschaftlichen Aufbau Sowjetrußlands zum Inhalt hatte. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand der Gedanke, mit Hilfe ausländischer Arbeiter die Montanindustrie und die Koksproduktion im Kusbass in Gang zu bringen. Der Verwirklichung dieser Idee widmete er die nächsten 6 Jahre seines Lebens. Im Mai 1921 begannen Gespräche, Vereinbarungen, Diskussionen, Sondierungen. Lenin beteiligte sich aktiv daran. Großes Interesse für dieses Projekt zeigte der populäre Führer der amerikanischen Arbeiterbewegung Bill Haywood, der zu jener Zeit illegal nach Sowjetrußland einreiste.11 Ende Juli 1921 begab sich eine siebenköpfige Delegation mit Rutgers an der Spitze nach Sibirien, um sich an Ort und Stelle mit dem Stand und den Bedingungen der Produktion in den Betrieben im Ural und Kusbass vertraut zu machen. Am 9. August fand eine gemeinsame Sitzung des Sibrevkom und des Sibbüros des ZK der KPR(B) statt. Über die „Bedingungen der Übersiedlung amerikanischer Arbeiter nach Kusbass" berichtete der damalige Leiter der ökonomischen Abteilung des Sibrevkom, I. M. Maiski, der später als Diplomat und Historiker bekannt wurde. Auf der Beratung wurde ein „Schema" ausgearbeitet, das bereits die wichtigsten Punkte des späteren Vertrages enthielt. Die von Rutgers entworfenen Pläne gingen weit; er beabsichtigte, mit der Koksproduktion des Kusbass die Versorgung

10

11

Vgl. Trincer, G., Trincer, K., Rutgers, Moskau 1967; Trincer-Rutgers, G. S., Vospominanija o moem otce S. Rutgerse, in: Istoriceskij archiv, 1962, H. 1, S. 215-218. Vgl. Tarle, G. Ja., Druz'ja strany sovetov. Ucastie zarubeznych trudjascichsja v vosstanovlenii narodnogo chozjajstva SSSR v 1920—1925 gg., Moskau 1968, S. 290.

168

des großen metallurgischen Betriebes in Nadeshdinsk (Ural) zu sichern. Der Nadeshdinsker Betrieb seinerseits sollte Traktoren und andere Landwirtschaftsmaschinen für die Kolonie liefern. Die teilweise illusorischen Vorstellungen Rutgers', vor allem im Hinblick auf die Finanzierung und das Ausmaß des ganzen Unternehmens, wurden zum großen Teil im Verlaufe von Beratungen einer Spezialkommission, an deren Spitze W. Kuibyschew stand und an deren Arbeit auch Lenin aktiv teilnahm, korrigiert. Hinweise auf Probleme, die Lenin in diesem Zusammenhang beschäftigten, gibt der von ihm im September 1921 ausgearbeitete Verpflichtungsentwurf der Arbeiter, die sich zur Einreise nach Sowjetrußland entschlossen. Es hieß darin: „1. Wir . . . haften kollektiv dafür, daß nach Rußland nur Menschen fahren, die fähig und bereit sind, bewußt schwere Entbehrungen auf sich zu nehmen, wie sie unvermeidlich mit der Wiederherstellung der Industrie in einem überaus rückständigen und schrecklich zerstörten Lande verbunden sind. 2. Die nach Rußland Fahrenden verpflichten sich, über die kapitalistische Norm hinaus mit maximaler Intensität, mit größter Arbeitsproduktivität und Disziplin zu arbeiten, denn anders ist Rußland nicht in der Lage, den Kapitalismus zu überholen oder ihn auch nur einzuholen. 3. Wir verpflichten uns, ausnahmslos alle Konflikte . . . zur endgültigen Entscheidung der obersten Sowjetmacht Rußlands zu übergeben und gewissenhaft all ihren Entscheidungen Folge zu leisten. 4. Wir verpflichten uns, nicht zu vergessen, daß die hungernden und entkräfteten russischen Arbeiter und Bauern, mit denen wir zu tun haben werden, nervlich aufs äußerste erschöpft sind, und werden ihnen in jeder Weise helfen, damit freundschaftliche Beziehungen hergestellt und Mißtrauen und Neid überwunden werden." 12 Der Vertrag zwischen den Vertretern der amerikanischen Arbeiter der künftigen Kolonie und der Sowjetregierung wurde Ende November 1921 unterschrieben und enthielt 11 Punkte. Einige Monate später begann in den USA eine intensive Werbung für die Solidarität mit Sibirien. Sie wurde vom „Kuzbas-American Organization Committee" geleitet. Artikel über das Projekt wurden in der „New York World", im „Liberator" und im „Worker" veröffentlicht. Es gab verschiedenartige Schwierigkeiten, die zum Teil auf die zu unvorsichtige und wenig realistische Werbung zurückzuführen waren. Fälle, in denen leichtsinnig abgegebene Versprechungen zu Ent12

Lenin, W. /.. Werke, Ergänzungsband 1917—1923, S. 355.

12

Thomas, Sibirien

169

täuschungen und sogar zu Gerichtsprozessen gegen das Komitee führten, wurden von der Gegenpropaganda zur Hetze gegen Sowjetrußland ausgenutzt. Die ersten Arbeiter aus den USA kamen Mitte 1922. Bis September 1922 verließen 458 Menschen, Familienmitglieder mitgerechnet, New York, um in den Kusbass zu fahren. Der größte Teil von ihnen bildete später den Kern der Kolonie, für deren internationalistisches Wesen nicht nur ihr Ziel, sondern auch die Tatsache sprach, daß hier Vertreter von 20 Nationen gemeinsam für den Sozialismus arbeiteten. Im April 1923, d. h. einen Monat nach dem offiziellen Beginn der Tätigkeit der „AIK-Kusbass", gab es 231 Ausländer im Betriebskollektiv, darunter 90 Kommunisten. Unter diesen Arbeitern herrschte eine große Bereitschaft, die notwendige gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung voranzubringen. Gleichzeitig gab es jedoch utopische Vorstellungen von einem baldigen Übergang Rußlands zum Kommunismus. Die Vorzüge der Kolonie machten sich schon Ende 1923 bemerkbar. Mit ihrer Arbeitsproduktivität stand sie bald an der Spitze des Landes. Zum ersten Jahrestag der Gründung der „AIK" wurde die Koksfabrik in Betrieb genommen. Ab Mitte 1924 lieferte sie täglich 15000 Pud Koks an die Metallurgiebetriebe des Urals. Das war ein wichtiger Beitrag zur Errichtung einer zweiten Basis der Montanindustrie Sowjetrußlands. Die Kolonie existierte 3 Jahre und erzielte in dieser Zeit große Erfolge. Mit ihrer Arbeit legte sie einen Grundstein für die Industrialisierung Sibiriens. Unter den harten Bedingungen der Wiederherstellungsperiode zeigten die Arbeiter der „AIK" ihre Bereitschaft, trotz Opfer und Entbehrungen am „russischen Experiment" teilzunehmen. Bis 1926 wurde in der sibirischen Wirtschaft, wie auch im ganzen Land, der Vorkriegsstand im wesentlichen erreicht. Der technische Stand dieser wiederhergestellten Industrie war jedoch äußerst niedrig. In ganz Sibirien gab es 1925 nur 269 Last- und Personenkraftfahrzeuge. Die Hälfte davon war nicht betriebsfähig. Ähnlich sah es auf anderen Gebieten aus. 13 Für Sibirien wie auch für die Sowjetrepubliken in Mittelasien war daher die Industrialisierung dringend notwendig. Das gesellschaftliche Leben Sibiriens und des Fernen Ostens Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre wies einige Besonderheiten auf, die mit 13

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. IV, a.a.O., S. 201.

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der politischen Situation in diesen Gebieten zusammenhingen. Sie äußerten sich z. B. in der Tätigkeit der Sibirischen und Fernöstlichen Büros des ZK der KPR(B) sowie der Revolutionskomitees, die noch während des Bürgerkrieges eingesetzt worden waren. Der Arbeit der beiden Büros des ZK war es zu verdanken, daß die Mehrheit der sibirischen Kommunisten den Übergang zur NÖP richtig verstand und in der Lage war, die Linie des X. Parteitages zu verwirklichen. Die soziale und altersmäßige Zusammensetzung der Mitglieder der sibirischen Parteiorganisationen hatte zur Folge, daß ihre Tätigkeit nicht immer und nicht überall den politischen Anforderungen genügte. Im Jahre 1921 waren drei Viertel aller Mitglieder erst 1 bis 2 Jahre in der KPR(B). Nach der im selben Jahr durchgeführten Parteiüberprüfung verringerte sich die Zahl der Parteimitglieder um 26,2 Prozent. Zusammen mit den Kandidaten betrug die Zahl der Parteimitglieder in Sibirien (ohne den Fernen Osten) über 55000. Nur 1,8 Prozent von ihnen waren vor der Oktoberrevolution 1917 in die Partei eingetreten. Unter diesen Bedingungen war die von Trotzki und seinen Anhängern provozierte Diskussion über die Grundfragen der Entwicklung der Revolution eine besonders ernsthafte Prüfung für die sibirischen Parteiorganisationen. Lenins Tod am 21. Januar 1924 war ein schwerer Verlust für Partei und Staat. Er war in bestimmter Hinsicht eine Zäsur in der Entwicklung der Partei. Lenins „Testament", seine letzten Arbeiten und Briefe, enthielten wichtige Hinweise und boten Lösungen für Grundprobleme des sozialistischen Aufbaus, angefangen von den personellen Fragen bis zu den Problemen der Perspektive des wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus der Sowjetunion und der weltrevolutionären Entwicklung. Seine Sorgen galten der Verwirklichung des Prinzips der kollektiven Führung in der Partei, der Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates und der Festigung des Bündnisses zwischen den Arbeitern und den Bauern. Das Lenin-Aufgebot, das, wie im ganzen Land, auch in Sibirien durchgeführt wurde, brachte eine zahlenmäßige Stärkung der sibirischen Parteiorganisationen um 11400 Mitglieder. Das war besonders wichtig, da im Herbst 1924 Wahlen in den örtlichen Sowjets durchgeführt wurden. Die Wahlkampagne bereitete den Funktionären an manchen Orten beträchtliche Schwierigkeiten. Die immer noch nicht vollständig überwundenen Methoden des „Kriegskommunismus", die sich in der Verletzung der demokratischen Leitungsprinzipien und in der Nichteinhaltung der Gesetze besonders kraß äußerten, wirkten sich negativ bei den Wahlergebnissen aus. Die Wahlbeteiligung betrug in 12»

171

Sibirien im Durchschnitt nur 31,4 Prozent, im Fernen Osten 36,6 Prozent. 14 Das war ein Alarmsignal, und es wurde beachtet. Das ZK-Plenum vom Oktober 1924 entwarf einen Maßnahmeplan, der die Überwindung der Schwächen in der politisch-ideologischen Arbeit unter den Bauern zum Ziel hatte. In den Gegenden, wo die Wahlbeteiligung unter 35 Prozent lag, sollten die Wahlen wiederholt werden. Der neue Wahltermin wurde für Sibirien auf Februar/März 1925 festgelegt. In der Zwischenzeit wurden große Veränderungen eingeleitet, angefangen von der politischen Aufklärungsarbeit bis zur Durchführung einer Verwaltungsreform, die eine andere Zusammensetzung der Wahlkreise zur Folge hatte. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag bei der Wiederholung der Wahlen um 50,2 Prozent. Auch die soziale Zusammensetzung der Gewählten sah günstiger aus: In ihrer überwiegenden Mehrheit, d. h. zu 73 Prozent, waren es Mittelbauern, während der Anteil der Dorfarmut 20, der Angestellten 4 und der Kulaken 3 Prozent betrug. 15 Die Ergebnisse dieser Wahlen zu den örtlichen Sowjets waren angesichts der bevorstehenden Umgestaltung der Landwirtschaft außerordentlich wichtig. Die Festigung des Sowjetsystems machte das Fortbestehen der Revolutionskomitees überflüssig. Gleichzeitig erfolgte in den Jahren 1925/26 eine neue Verwaltungsreform. An die Stelle der Gouvernements traten Bezirke (Okrugs). Die bisherigen 5 sibirischen (ohne Irkutsk) und 4 fernöstlichen Gouvernements wurden zum Sibirischen Krai (Gebiet) mit 16 Bezirken, einem autonomen Gebiet und dem Gebiet Ferner Osten mit 9 Bezirken zusammengefaßt. Diese Gebietsreform diente als Grundlage für die Ausarbeitung des ersten Fünfjahrplanes für das sibirische Territorium, der die sozialistische Industrialisierung einleitete. Die Notwendigkeit der Industrialisierung des Landes war schon vor der Revolution von den Patrioten Sibiriens erkannt worden. Auch die Perspektiven, die aus der wirtschaftlichen Erschließung der sibirischen Naturschätze für die industrielle Entwicklung ganz Rußlands erwachsen mußten, hatte man vorausgesehen und zum Teil sogar schon berechnet. Es war deshalb keineswegs überraschend, daß schon 1920 bei der Ausarbeitung defs GOELRO, des ersten großen Planes zur Wiederherstellung und Entwicklung der Volkswirtschaft, der wirtschaftlichen Erschließung Sibiriens besondere Beachtung beigemessen wurde. Vor allem zwei Projekte hatten im ersten 14 15

Vgl. ebenda, S. 213. Vgl. ebenda, S. 214.

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Fünfjahrplan Sibiriens vorrangige Bedeutung: die intensive geologische Erkundung der Bodenschätze und die Errichtung einer zweiten industriellen Basis auf der Grundlage der Ural-Kusbass-Werke. Diese Vorhaben waren der Grundstein für die weitgehende Rekonstruktion der sibirischen Industrie. Die Orientierung auf die Schwerindustrie bei der bevorstehenden Industrialisierung Sibiriens war bis Ende der zwanziger Jahre Gegenstand breiter Diskussionen, aber auch heftiger Angriffe seitens der trotzkistischen Parteiopposition. Trotzki und seine Anhänger sahen im sogenannten kanadischen Weg, d. h. in der Spezialisierung auf Butter- und Schinkenexport und auf andere landwirtschaftliche Exportprodukte, die Alternative für Sibirien. Sie kritisierten die „Industrieromantiker" und forderten die Konzentrierung aller Kräfte auf die intensive Entwicklung der Milchwirtschaft. 16 Ergebnis der Diskussionen, die zugleich zur Klärung der Frage nach dem weiteren Weg der Entwicklung Sibiriens führten, war der Beschluß des ZK der KPR(B) vom 15. Mai 1930 „Über die Arbeit des Uralmet" und die Festlegung des XVI. Parteitages über die Errichtung einer zweiten Kohle-Metallurgie-Basis hinter dem Ural. In kluger Voraussicht wurde in dem Beschluß festgestellt: „Die Industrialisierung des Landes kann sich zukünftig nicht nur auf die südliche Kohle-Metallurgie-Basis (Donbass — L. T.) stützen. Die Errichtung eines zweiten Kohle-Metallurgie-Zentrums im Osten der UdSSR auf dem Wege der Ausnutzung der überaus reichen Bodenschätze des Urals und Sibiriens wird zur lebensnotwendigen Voraussetzung für die rasche Industrialisierung des Landes." 17 Der erste Fünfjahrplan sah eine wesentliche Steigerung der Kohleproduktion für Sibirien vor. 14 neue Kohlengruben sollten im Kusbass geschaffen, die bestehenden Produktionsstätten rekonstruiert und erweitert werden. Die gesamte sibirische Kohleproduktion sollte sich bis 1933 verdoppeln. Der erste Fünfjahrplan wurde in Sibirien, wie im ganzen Lande, nicht nur erfüllt, sondern bedeutend übererfüllt. Die Kohleförderung wuchs um das 2,7fache. Eine entscheidende Ursache für die erfolgreiche Erfüllung des ersten, wie auch der späteren Fünfjahrpläne der Vorkriegszeit lag in der Entfaltung des sozialistischen Wettbewerbs. 16

17

Vgl. Moskovskij, A. S., Promyslennoe osvoenie Sibiri v period stroitel'stva socializma (1917—1937 gg.), Novosibirsk 1975, S. 135. KPSS v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov, izd. 8, Bd. 4, Moskau 1970, S. 398.

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Die Initiative zur Ausweitung der Wettbewerbsbewegung zu einer Massenbewegung ging von den Arbeitern der Hüttenwerke des Urals und des Kusnezkbeckens aus. Im Jahre 1932 wurde der erste Produktionsabschnitt des Kusnezker Metallurgischen Kombinats fertiggestellt. Zur selben Zeit entstanden große Maschinenbaukombinate in Nowosibirsk, Krasnojarsk und Irkutsk. Das gesamte Bauvorhaben des Ural-Kusnezk-Kombinats wurde im zweiten Fünfjahrplan vollendet. Ein anderer Schwerpunkt der Industrialisierung Sibiriens war die Umgestaltung und Erweiterung der Transportverbindungen. Im Sommer begann der Bau der Turksib, einer Eisenbahnlinie, die das wald-, kohle- und getreidereiche Sibirien mit den Baumwollgebieten Mittelasiens verbinden sollte. Die vorfristige Aufnahme des Durchgangsverkehrs auf der rund 1500 km langen Strecke am 1. Mai 1930 war eine Rekordleistung. Kurz vor dem Kriege wurde ein Baumwollkombinat in Nowosibirsk, dem Endpunkt der Turksib in Sibirien, errichtet. Ein großes Ereignis war schließlich der Bau des zweiten Gleises der Großen Transsibirischen Eisenbahn. Das Vorhaben wurde bis 1936 beendet. Damit wuchs die Rolle Sibiriens und des Fernen Ostens im ökonomischen Leben des Landes wesentlich. Ende der zwanziger Jahre wurden die Verkehrsverbindungen Sibiriens mit anderen Landesteilen um eine technische Neuerung bereichert. Im Jahre 1928 wurde der reguläre Flugdienst zwischen Moskau und Nowosibirsk (3086 km) sowie zwischen Irkutsk und Jakutsk (2040 km) aufgenommen. Verglichen damit, war die Eröffnung städtischer Autobuslinien in Nowosibirsk, Omsk, Tomsk, Krasnojarsk und Irkutsk sicher weniger beeindruckend, jedoch für den Alltag der Bürger dieser Städte von nicht geringere Bedeutung. Wesentliche Fortschritte erreichte man in den dreißiger Jahren bei der weiteren Erschließung und Nutzung der Nordostpassage. An dem 6500 km langen Seeweg von Archangelsk bis zur Beringstraße wurden zahlreiche Wetter- und Überwachungsstationen eingerichtet, um die Gefahren für die Schiffahrtsroute durch das Polarmeer zu verringern. Nachdem der Eisbrecher „Sibirjakow" 1932 die Durchfahrt erstmals ohne Überwinterung schaffte, wurde ab 1935 der regelmäßige Schiffsverkehr in die arktischen Regionen aufgenommen. In den Jahren 1935 bis 1937 transportierte man bereits auf diesem Wege 2455600 t Fracht. Neue Häfen wurden gebaut, so an der Jenisseimündung Dickson. Jakutiens Tor zum Meer wurde der neuerbaute Hafen Tiksi. Der Nördliche Seeweg gewann auch deshalb an Bedeutung, weil Anfang der dreißiger Jahre erste Schritte zur planmäßigen industriellen 174

Erschließung des sibirischen Hohen Nordens unternommen wurden. Diesem Zweck diente die Errichtung von „Spezialtrusts" auf der Halbinsel Taimyr und in Jakutien. Ihre Aufgaben bestanden in der Erkundung und Erschließung der Wasserwege sowie in der Förderung bzw. Organisierung der Fischwirtschaft und im Aufbau von Industriebetrieben, die auf der Grundlage lokaler Rohstoffe produzierten. Gleichzeitig begann die Erschließung des äußersten Nordostens, der Gebiete von Kolyma und Tschukotka. Die vordringlichste und schwierigste Aufgabe bestand hier zunächst darin, unter den Bedingungen des Dauerfrostbodens Straßenverbindungen zwischen den weit voneinander entfernt liegenden Siedlungen herzustellen. 1934 wurde die Errichtung der Bergbausiedlung Norilsk auf der Taimyrhalbinsel beschlossen. Der Grund für diese Entscheidung waren von Geologen entdeckte Vorkommen von Nickel, eines Metalls von wichtiger strategischer Bedeutung. 14000 Einwohner sollten in dieser Siedlung am 69. Breitengrad wohnen. Beim Entwurf des Projekts wurden die extrem schweren Arbeits- und Lebensbedingungen berücksichtigt. Für die Arbeit in Norilsk sollten nur alleinstehende Männer im Alter bis zu 35 Jahren für eine maximale Aufenthaltsdauer von 2 Jahren zugelassen werden; danach sollte ein halbjähriger Sanatoriumsaufenthalt folgen. Es gelang jedoch erst nach dem Krieg, dieses Arbeitsschutzprogramm voll zu verwirklichen. Norilsk, heute die modernste Stadt hinter dem Polarkreis, ist das Produkt der Aufbauleistungen ihrer ersten Einwohner, die große Opfer und Entbehrungen auf sich nehmen mußten. Im Sommer 1942 lieferte Norilsk das erste Nickel, das gerade für den Bau von 25 Panzern reichte. Der Anfang aber war gemacht. Nicht selten werden die zwanziger bis dreißiger Jahre als die Zeit genannt, in der die meisten großen Ideen und Projekte entstanden sind, die heute verwirklicht werden. Das trifft auch auf die Arbeit der Geologen zu, die schon vor dem Krieg die Bedeutung der Bodenschätze Sibiriens nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für die Welt richtig einschätzten. Sie erkannten bereits die Probleme, die ihre Förderung mit sich bringen würde. Mitte der dreißiger Jahre entstanden die Projekte für die Errichtung der großen Wasserkraftwerke an der Angara und am Jenissei. Damit wurde die Perspektive der Entwicklung der Produktivkräfte in Zentralsibirien festgelegt. Zu dieser Zeit faßte man auch die ersten Beschlüsse über den Bau der Baikal-Amur-Magistrale. Die Trasse der BAM auf den Abschnitten Taischet-Ust-Kut und Tynda-Sowgawan wurde im Jahre 1938 festgelegt. Kurz vor dem Krieg begann 175

der Bau der Meridianallinie von der Transsib bis zu den künftigen Knotenpunkten der BAM-Strecke. Das Tempo und die Schwerpunkte der Industrialisierung wurden in Sibirien, wie auch im ganzen Lande, nicht zuletzt von strategischen Überlegungen bestimmt. Die kapitalistische Umkreisung machte sich im Westen wie im Osten des Landes immer wieder bemerkbar. Im Sommer 1929 besetzten chinesische Truppen Tschiang Kai-scheks die Ostchinesische Bahn, die unter gemeinsamer sowjetischer und chinesischer Verwaltung stand. Es entstand eine gefahrliche Situation. Nur der erfolgreiche Einsatz der Besonderen Fernostarmee unter dem Kommando von W. K. Blücher18 führte zur vorläufigen Beilegung des Konflikts. Eine neue Zuspitzung der Lage in diesem Gebiet folgte jedoch schon im September 1931, als japanische Truppen in die Mandschurei einmarschierten. Die angespannte Grenzsituation erforderte von der Sowjetregierung, der wirtschaftlichen Entwicklung des Gebietes im Fernen Osten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht zuletzt deshalb fand die Initiative des Komsomol, eine neue Stadt im Fernen Osten zu errichten, die Unterstützung der Regierung. Diese Stadt, die zu Ehren ihrer Erbauer den Namen Komsomolsk am Amur erhielt, wurde in kürzester Zeit und unter schwierigsten Bedingungen aufgebaut. Im Mai 1932 trafen die ersten Jugendbrigaden am Bauort, in der Nähe des Dorfes Permskoje, ein. 7 Monate später war eine Stadt entstanden, die 1933 bereits 15000 Einwohner zählte. Wie in der ganzen Sowjetunion, begannen auch in Sibirien im Jahre 1929 die durchgängige Kollektivierung der Landwirtschaft und die damit verbundene Liquidierung der Kulakenklasse. In Sibirien, wo die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung besonders stark durch die Bauern geprägt war und die zu liquidierende Klasse der Dorfbourgeoisie zahlenmäßig und ökonomisch immer noch eine Macht darstellte, verlief die Kollektivierung äußerst kompliziert. Bis Ende 1932 gelang es, 50 bis 60 Prozent der Bauernhöfe in Sibirien und im Fernen Osten zu Kolchosen zu vereinigen. Bis 1937 erfaßte die Kolchosbewegung schon 93 Prozent aller Bauernhöfe und 99,6 Prozent des gesamten Ackerlandes. Zu jener Zeit existierten 793 MTS und 481 Staatsgüter (Sowchosen).19 Mit dem Abschluß der durchgehenden Kollektivierung waren allerdings bei weitem noch nicht alle Probleme gelöst. Die landwirtschaftlichen Erträge gingen zurück, die Viehbestände 18

19

Vgl. Kartunova, A. /., V. K. Bljucher v Kitae 1924-1927ge. Dokumente, Moskau 1970. Vgl. Giiscin, N. Ja., Sibirskaja derevnja na puti k socializmu, Novosibirsk 1973.

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verringerten sich. Mißernten wie in den Jahren 1939 und 1940 verschärften diese Probleme. Während von 1925 bis 1928 die Hektarerträge an Getreide in Sibirien bei etwa 8,7 Doppelzentnern lagen, betrugen sie 1940 nur 6 Doppelzentner. 20 Sowohl objektive als auch subjektive Gründe waren dafür verantwortlich. Die neu entstandenen Kolchosen mußten sich wirtschaftlich erst stabilisieren und Erfahrungen sammeln. Dieser schwierige Prozeß ging unter den harten Bedingungen des Krieges, der auch von der Landwirtschaft die Anspannung aller Kräfte verlangte, weiter. Insgesamt brachten die 3 Fünfjahrpläne vor dem Kriege erstaunliche Fortschritte, vor allem bei der industriellen Entwicklung Sibiriens. Im Jahre 1940 wurden hier 3,2 Md. Kilowatt Elektroenergie, 1,536 Mill. t Eisen, fast 2 Mill. t Stahl und 39 Mill. t Kohle produziert. Die industrielle Bedeutung Sibiriens war in kurzer Zeit stark angestiegen.

2. Die sibirischen Völker nach der Oktoberrevolution Zu den Problemen, deren Lösung keinen Aufschub duldete, gehörte die Nationalitätenfrage. Nach der Volkszählung des Jahres 1926 lebten in Sibirien 11 Mill. Menschen. Davon gehörten etwa 800000 zu den über 80 Nationalitäten der sibirischen Urvölker. Diese unterteilten sich in folgende Sprachgruppen: die türkische — Jakuten, Chakassen, Altaier, Schoren, Tuwiner, Tofalaren, sibirische Tataren; die mandschu-tungusische — Ewenken, Ewenen, Negidalzen, Nanaier, Ultschen, Oroken, Orotschen, Udege; die mongolo-burjatische; die samojedische — Nenzen, Nganasanen, Enzen, Selkupen; die ugrische — Chanten und Mansen; die sogenannte paläoasiatische Sprachgruppe, die 3 Untergruppen vereinigte: die tschuktschen-kamtschadalische — Tschuktschen, Itelmenen, Korjaken, Aljutorzen, Kereken, die eskimoaleutische — Eskimos und Aleuten; und die Untergruppe der isolierten Sprachen — Keten, Niwchen, Jukagiren. 21 Sie alle unterschieden sich in ihrer Lebensweise, in ihren äußeren ethnischen Merkmalen, in ihrer zahlenmäßigen Stärke und nicht zuletzt in ihrem sozialökonomischen Entwicklungsniveau. Nachdem die rechtliche Gleichheit aller Völker des ehemaligen Zarenreiches unmittelbar 20

21

Vgl. Problemy istorii sovetskoj sibirskoj derevni (Sammelband), Novosibirsk 1977, S. 94, 188 f. Vgl. Narody Sibiri, Moskau-Leningrad 1956, S. 7 ff.

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verringerten sich. Mißernten wie in den Jahren 1939 und 1940 verschärften diese Probleme. Während von 1925 bis 1928 die Hektarerträge an Getreide in Sibirien bei etwa 8,7 Doppelzentnern lagen, betrugen sie 1940 nur 6 Doppelzentner. 20 Sowohl objektive als auch subjektive Gründe waren dafür verantwortlich. Die neu entstandenen Kolchosen mußten sich wirtschaftlich erst stabilisieren und Erfahrungen sammeln. Dieser schwierige Prozeß ging unter den harten Bedingungen des Krieges, der auch von der Landwirtschaft die Anspannung aller Kräfte verlangte, weiter. Insgesamt brachten die 3 Fünfjahrpläne vor dem Kriege erstaunliche Fortschritte, vor allem bei der industriellen Entwicklung Sibiriens. Im Jahre 1940 wurden hier 3,2 Md. Kilowatt Elektroenergie, 1,536 Mill. t Eisen, fast 2 Mill. t Stahl und 39 Mill. t Kohle produziert. Die industrielle Bedeutung Sibiriens war in kurzer Zeit stark angestiegen.

2. Die sibirischen Völker nach der Oktoberrevolution Zu den Problemen, deren Lösung keinen Aufschub duldete, gehörte die Nationalitätenfrage. Nach der Volkszählung des Jahres 1926 lebten in Sibirien 11 Mill. Menschen. Davon gehörten etwa 800000 zu den über 80 Nationalitäten der sibirischen Urvölker. Diese unterteilten sich in folgende Sprachgruppen: die türkische — Jakuten, Chakassen, Altaier, Schoren, Tuwiner, Tofalaren, sibirische Tataren; die mandschu-tungusische — Ewenken, Ewenen, Negidalzen, Nanaier, Ultschen, Oroken, Orotschen, Udege; die mongolo-burjatische; die samojedische — Nenzen, Nganasanen, Enzen, Selkupen; die ugrische — Chanten und Mansen; die sogenannte paläoasiatische Sprachgruppe, die 3 Untergruppen vereinigte: die tschuktschen-kamtschadalische — Tschuktschen, Itelmenen, Korjaken, Aljutorzen, Kereken, die eskimoaleutische — Eskimos und Aleuten; und die Untergruppe der isolierten Sprachen — Keten, Niwchen, Jukagiren. 21 Sie alle unterschieden sich in ihrer Lebensweise, in ihren äußeren ethnischen Merkmalen, in ihrer zahlenmäßigen Stärke und nicht zuletzt in ihrem sozialökonomischen Entwicklungsniveau. Nachdem die rechtliche Gleichheit aller Völker des ehemaligen Zarenreiches unmittelbar 20

21

Vgl. Problemy istorii sovetskoj sibirskoj derevni (Sammelband), Novosibirsk 1977, S. 94, 188 f. Vgl. Narody Sibiri, Moskau-Leningrad 1956, S. 7 ff.

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nach der Oktoberrevolution vom Sowjetstaat proklamiert wurde, konnte deren Verwirklichung nur dann gelöst werden, wenn für jedes dieser Völker eine seinem Entwicklungsstand entsprechende Perspektive festgelegt wurde. Für ethnische Gemeinschaften, die sich im Stadium der Gentilordnung befanden, mußte ebenso der Weg in den Sozialismus gefunden werden wie für Völkerschaften, bei denen bereits mehr oder weniger entwickelte Feudalverhältnisse herrschten. Neben den Schwierigkeiten, die aus der ökonomischen und kulturellen Rückständigkeit dieser Völker resultierten, gab es Komplikationen, die aus der politischen Situation jener Zeit (Anfang der zwanziger Jahre) herrührten: Der bewaffnete Kampf um die Sowjetmacht war in den meist in den Grenzgebieten liegenden nationalen Regionen immer noch nicht völlig beendet. Mit Unterstützung des fernöstlichen Zentrums der Konterrevolution organisierten beispielsweise im Herbst 1921 die jakutischen Toyonen einen bewaffneten Umsturz und errichteten eine nationalistische Regierung. Diese erklärte die Bekämpfung der Bolschewiki mit Hilfe der anderen antisowjetischen „Gebietsregierungen" zu ihrem Ziel.22 Ihr Sitz befand sich in Tschuraptscha. Ihre konterrevolutionären Banden besetzten große Territorien im Norden Jakutiens und belagerten die Stadt Jakutsk fast 3 Monate. Den zahlenmäßig schwachen Einheiten der jakutischen Kommunisten, die die Stadt tapfer verteidigten, kamen im Sommer 1922 Abteilungen der Roten Armee und Partisanenabteilungen aus Irkutsk zu Hilfe. 23 Es gelang ihnen, die Weißgardisten nach Norden abzudrängen. Für einige Zeit wurde die Stadt Ochotsk zu ihrem Stützpunkt. Die konterrevolutionären Kräfte erhielten von Japan und den USA materielle Unterstützung, die durch emigrierte Kaufleute aus Jakutien organisiert wurde. Gleichzeitig erhielten sie Hilfe von den Truppen des Weißgardisten Pepeljajew im Fernen Osten. All das erschwerte und verzögerte die endgültige Zerschlagung des konterrevolutionären Aufstandes. Erst die Befreiung Wladiwostoks im Oktober 1922 und die Zerschlagung der Armee Pepeljajews durch die Rote Armee stabilisierten die Machtverhältnisse in Jakutien. Auch im Altaigebiet, in Burjatien und Chakassien dauerten die Kämpfe bis Ende 1922 an. In allen genannten Gebieten gehörte das Entfachen 22

23

I. Vsejakutskij ucreditelnyj s-ezd Sovetov (27. 12. 1922—19. 1. 1923). Rezoljucii s-ezda, in: Vsejakutskie s-ezdy Sovetov. Dokumenty i materialy 1922— 1937, Jakutsk 1972, S. 8 f. Vgl. Öemesov, V. N., Strod, Jakutsk 1972, S. 74 ff.

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nationalistischer Stimmungen zu den wichtigsten ideologischen Waffen der Konterrevolution. Sie hatte aus der Niederlage Koltschaks Lehren gezogen, der bekanntlich die nationalen Probleme völlig ignorierte und sich dadurch der Unterstützung nationalistischer Kreise beraubte. Seine Nachfolger suchten diese Fehler zu vermeiden. Für die Sowjetregierung war der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker über ihre nationale Zukunft Bestandteil des revolutionären Programms. Wann und in welcher Form die nationale Autonomie der einzelnen Völker verwirklicht werden konnte, hing von verschiedenen politischen, ökonomischen und strategischen Gesichtspunkten ab. Einige Beispiele mögen die Kontinuität dieser Entwicklung zeigen. Als am 16. Februar 1922 die Autonomie an Jakutien verliehen wurde, wollte man damit die Kräfte unterstützen, die mitten im Kampf um die Sowjetmacht standen. Der Zeitpunkt der Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Jakutien wurde maßgeblich von der Sorge um die Durchsetzung der revolutionären Lösung der nationalen Frage bestimmt. In der Jakutischen ASSR lebten zu dieser Zeit 299500 Menschen, davon waren 80 Prozent Jakuten. Sie bewohnten ein Gebiet von 4 Mill. km 2 . Noch im Verlauf des Jahres 1922 gelang es unter den Bedingungen des offenen bewaffneten Kampfes gegen die Konterrevolution, die Wahlen zu den Orts- und Stadtsowjets sowie die Tagungen der Sowjets durchzuführen. Der günstige Ausgang dieser schwierigen Wahlkampagne war u. a. auf die Unterstützung aus dem Zentrum zurückzuführen. Auf Beschluß des ZK wurden in dem für das ganze Land schweren Hungerjahr 1922 nach Jakutien 176000 Pud Brotgetreide, 200000 Arschin Textilien, Landwirtschaftsmaschinen und Werkzeuge geliefert sowie Geldkredite gewährt.24 Aber die Transportverbindungen waren zum großen Teil unterbrochen, da die wichtigsten Zufahrtsstraßen nach Ochotsk und Ajan noch bis Ende 1923 von den Pepeljajewbanden kontrolliert wurden. Die jakutische Bourgeoisie nutzte diesen Umstand aus und warb für die Aufnahme intensiver Handelsbeziehungen zu den USA und zu Japan. Die alten Vorschläge, Verbindungsstraßen und Häfen an der Ochotsker Küste zu bauen und eine Freihandelszone entlang der Ochotsker Meeresküste einzuführen, wurden wieder hervorgeholt.25 24 25

Ebenda, S. 129. Diese Vorschläge gab es schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Regierung lehnte sie ab, da die Gefahr der amerikanischen und japanischen Konkurrenz

179

Die Entscheidung des jakutischen Volkes gegen eine Abtrennung ihres Landes von Sowjetrußland erfolgte nach den ersten Erfahrungen mit der Politik der Sowjetregierung. Dabei waren die ideologische Aufklärungsarbeit und die ersten Maßnahmen der Kulturrevolution ebenso wichtig wie die großzügige und vielseitige materielle Unterstützung. Auf dem Territorium Burjat-Mongoliens entstanden in den Jahren 1921/22 2 autonome Gebiete: das eine an den Grenzen der RSFSR und das andere auf dem Territorium des Fernöstlichen Pufferstaates. Nach der Auflösung der Fernöstlichen Republik wurde die Vereinigung beider Gebiete angestrebt. Der Beschluß der Sowjetregierung vom 30. Mai 1923 über die Vereinigung beider Gebiete und die Gründung der Burjat-Mongolischen ASSR bildete den Abschluß des Kampfes um die autonome Selbstbestimmung der Burjaten. 26 Im Süden Sibiriens trat die nationalistische Bewegung nach der Zerschlagung der Konterrevolution im Gewand der panturkischen Ideologie auf. Die nationale Intelligenz der Völker Südsibiriens setzte sich in den Jahren 1922 bis 1925 für die Schaffung einer Türkischen Sowjetrepublik ein, der Chakassien, Altai, Schoden und Tuwa angehören sollten. Die Bildung der Tuwiner Volksrepublik im August 1921, die außerhalb der Grenzen der RSFSR lag, bedeutete eine ernsthafte Niederlage für die panturkische Bewegung. Schließlich siegten die Anhänger der Gebietsautonomie, die die Unterstützung der Regierung der Russischen Föderation besaßen. In die Nationalitätenpolitik der Regierung wurden auch die europäischen nationalen Minderheiten, die auf sibirischem Territorium lebten (die sogenannten westlichen nationalen Minderheiten), einbezogen. Im Oktober 1927 wurde ein deutscher Rayonsowjet gebildet, dem 17 von den insgesamt 64 in Sibirien existierenden deutschen Dorfsowjets angehörten. Es gab außerdem 16 lettische, 21 estnische, 312 ukrainische und 50 belorussische Dorfsowjets. Sie verwirklichten ihre nationale Autonomie in den kleinsten, auf dem nationalen Prinzip aufgebauten Einheiten. Die Verleihung der nationalen Autonomie sowie die vielseitige Unterstützung der Völker Sibiriens entsprachen einem Programm, dem die Perspektive des nichtkapitalistischen Weges zum Sozialismus für

26

im Falle der Realisierung dieser Vorschläge für die russischen Interessenvertreter bedrohlich geworden wäre. Vgl. Istorija Jakutskoj ASSR, Bd. III, Moskau 1963, S. 81 f. Vgl. Istorija Burjatskoj ASSR, Bd. II, Ulan-Ude 1959.

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die zurückgebliebenen Völker Rußlands zugrunde lag. Mit dem künftigen Schicksal dieser Völker befaßte sich die Partei bald nach der Revolution. Die Lösung dieser Aufgabe wirkte weit über die Landesgrenzen hinaus, weil damit auch die Zukunft der kolonial unterdrückten Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas angesprochen war. Auf dem II. Kongreß der Komintern erklärte Lenin: „Können wir die Behauptung als richtig anerkennen, daß die zurückgebliebenen Völker . . . das kapitalistische Entwicklungsstadium der Volkswirtschaft unbedingt durchlaufen müssen ? Diese Frage haben wir mit einem Nein beantwortet. Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen eine planmäßige Propaganda treibt und wenn die Sowjetregierungen ihnen mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe kommen, dann ist es falsch anzunehmen, daß das kapitalistische Entwicklungsstadium für die zurückgebliebenen Völker unvermeidlich sei. In allen Kolonien und zurückgebliebenen Ländern müssen wir nicht nur selbständige Kader von Kämpfern und Parteiorganisationen schaffen, nicht nur unverzüglich Propaganda treiben für die Organisierung von Bauernsowjets und sie den vorkapitalistischen Verhältnissen anzupassen suchen, die Kommunistische Internationale muß auch den Leitsatz aufstellen und theoretisch begründen, daß die zurückgebliebenen Länder mit Unterstützung des Proletariats der fortgeschrittensten Länder zur Sowjetordnung . . . gelangen können, ohne das kapitalistische Entwicklungsstadium durchmachen zu müssen. Welche Mittel hierzu erforderlich sind, läßt sich nicht voraussagen. Das wird uns die praktische Erfahrung lehren." 27 Lenin sah in den Sowjets, bei entsprechender Anpassung an die örtlichen sozialen Gegebenheiten, den Schlüssel für die Durchsetzung der neuen Ordnung unter den zurückgebliebenen Völkern. Auf dem X. und XII. Parteitag der KPdSU (B) wurden diese Hinweise konkretisiert und zur Richtschnur der Politik gegenüber den Völkern Sibiriens gemacht. Das unterschiedliche Niveau der sozialökonomischen Entwicklung erforderte ein differenziertes Herangehen an die Lösung der Probleme. Voraussetzung dafür war eine genaue Kenntnis der spezifischen Bedingungen. Die Orientierung auf den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg war sowohl für die Völker zutreffend, die sich, wie die Jakuten, im Stadium der Auflösung der Feudalverhältnisse befanden, als auch für die kleinen Völker des Nordens, bei denen noch die wesentlichen Merkmale der Gentilordnung zu finden waren. Gleichzeitig lebten diese Völker nicht mehr völlig isoliert. 27

Lenin W. /., Werke, Bd. 31, S. 232 f.

181

Ihre lebenswichtigen Kontakte zur „Außenwelt" waren seit Jahrhunderten die der Klassengesellschaft eigenen Beziehungen der Unterordnung, der Abhängigkeit, der Ausbeutung. Die Lage der kleinen Völker des Nordens war nach dem Bürgerkrieg so katastrophal, daß es bei weitem nicht ausreichte, die Steuer abzuschaffen, die auf ihnen jahrhundertelang gelastet hatte. Die Hungersnot — eine ständige Begleiterscheinung im Leben dieser Völker — war inzwischen, nicht zuletzt infolge des Bürgerkrieges, so groß geworden, daß einige dieser Völker vom Aussterben bedroht waren. Als Hilferufe im Jahre 1921 die Regierung erreichten, wurde sofort gehandelt. Für die auf der Halbinsel Kamtschatka lebenden Völker stellte man 500 000 Goldrubel zur Verfügung. An der Hilfsaktion beteiligten sich auch das Sibrevkom und die örtlichen Staatsorgane. Im Jahre 1921 beschloß das Sibrevkom, 200000 Pud Getreide an diese sibirischen Völker zu schicken. 350000 t Lebensmittel und Industriewaren transportierte im Jahre 1923 der Dampfer „Stawropol", der die Route von Wladiwostok nach Kolyma befuhr. Ähnliche Beispiele für die materielle Unterstützung der Völker des Nordens in den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg ließen sich fortführen. In dieser Zeit wurden bereits erste Versuche unternommen, die ökonomische und soziale Rückständigkeit in diesen Gebieten zu verringern. Aber bis zum Jahre 1924 gingen solche Maßnahmen nicht über einzelne ungenügend koordinierte Versuche hinaus. Bis zu diesem Zeitpunkt war der nationale Aufbau in der Sowjetunion im ganzen schon so weit vorangeschritten, daß die meisten Völkerschaften ihre Interessen selbständig im obersten Machtorgan des Staates vertraten. Das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen wurde daher aufgelöst. Die Völker des Hohen Nordens waren jedoch noch nicht in der Lage, ihre nationalen Rechte wahrzunehmen und ihre Interessen selbst zu vertreten. Die Autonomie trug für sie immer noch mehr formellen Charakter. Die Sowjetregierung hielt daher eine Sonderlösung für diese Völker für angebracht. Im Juni 1924 erfolgte die Bildung eines Komitees zur Unterstützung der Völker der Nordgebiete beim Präsidium des Zentralexekutivkomitees der UdSSR, auch Nordkomitee genannt. „Das Ziel des Nordkomitees besteht darin, Bedingungen für die Entfaltung einer organisierten freien Betätigung der Völker der nördlichen Provinzen auf einer neuen politischen und wirtschaftlichen Grundlage zu schaffen" 2 8 , so sah 28

Gurvic, I. S., Principy leninskoj n a c i o n a l ' n o j politiki i primenenie ich na k r a j n e m Severe, in: Osuscestvlenie leninskoj n a c i o n a l ' n o j politiki u n a r o d o v k r a j n e g o Severa, M o s k a u 1971, S. 18.

1*2

der Vorsitzende des Komitees P. G. Smidowitsch, der zugleich Stellvertretender Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der UdSSR war, seine Aufgaben. Die Zusammensetzung des Komitees bot ausreichend Garantie für eine erfolgreiche Tätigkeit; zumindest demonstrierte sie, wie wichtig die Angelegenheiten dieser Völker vom Staat genommen wurden. Neben bekannten und erfahrenen Partei- und Staatsfunktionären wie F. J. Kon, A. W. Lunatscharski, N. A. Semaschko, J. M. Jaroslawski u. a. gehörten dem Gremium Wissenschaftler wie z. B. W. G. Bogoras-Tan, S. A. Buturlin, S. W. Kerzeiii und L. J. Sternberg an, die sich in ihrer Forschung mit der Geschichte und den Perspektiven der kleinen Völker des Nordens auseinandersetzten. Das Nordkomitee spielte in den zwanziger und dreißiger Jahren eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung des Lebens der seiner Fürsorge anvertrauten Völker. Die Schwierigkeiten, die seine Mitarbeiter zu überwinden hatten, waren enorm. Erfahrungen einer ähnlichen Politik existierten nicht. Mittel und Methoden, die an einer Stelle erfolgreich praktiziert wurden, mußten es an einer anderen nicht sein. Nachdem mit den ersten Hilfsmaßnahmen das Überleben dieser Völker gesichert war, wurden als nächster Schritt alle vorher existierenden Steuern und Verpflichtungen, einschließlich der Wehrpflicht, abgeschafft. Bis zum Jahre 1926 errichtete man überall im sibirischen Norden Brotspeicher, um im Falle von Hungersnöten und Naturkatastrophen die Bevölkerung mit dem Notwendigsten versorgen zu können. Diese Speicher bewährten sich sehr bald. Schon im darauffolgenden Jahr wurde mit diesen Vorräten der Notstand in 3 Gebieten beseitigt. Während diese Aktionen, die auf Hilfe und Unterstützung von „außen" hinausliefen, vor allem organisatorische Leistungen und materielle Zuwendungen verlangten, setzten die ersten Maßnahmen, die den staatlichen Aufbau in diesen Gebieten regeln sollten, darüber hinaus gründliche Kenntnisse, Umsicht und Schöpfertum voraus. Die Einführung des Sowjetsystems unter den Bedingungen der modifizierten Gentilordnung und bei zum Teil noch nomadisierenden Völkern erwies sich als sehr schwierig. Die im Jahre 1926 erlassene „Provisorische Verordnung über die Verwaltung der einheimischen Völkerschaften und Stämme der nördlichen Grenzprovinzen der R S F S R " versuchte die Anfang des 19. Jh. eingeführte Form der Gentilverwaltungen zu übernehmen und sie allmählich mit einem neuen Inhalt auszufüllen. Die Übernahme dieses Prinzips für den Aufbau der Sowjets war vor allem in den Gegenden mit vorwiegend nomadisierender Bevölkerung von Vorteil. Die Nachteile lagen in der Gefahr, 183

die Machtausübung in den Händen derer zu belassen, die sie auch schon vor der Revolution besaßen. Deshalb wurde diese alte administrative Einteilung nur dort beibehalten, wo zuerst keine andere Möglichkeit bestand, Sowjets zu errichten. In den Gegenden aber, wo die Bevölkerung seßhaft war, ging der Aufbau der örtlichen Machtorgane von Anfang an nach territorialem Prinzip vor sich. Die Rolle der Sowjets in den entlegenen und isolierten Gebieten des Hohen Nordens war sehr groß. Sie führten nicht nur die ökonomischen und politischen Maßnahmen der Regierung durch, sie übten auch die Gerichtsbarkeit in den ihnen unterstellten Orten aus. Der Beschluß der Regierung vom 1. Juni 1927 verpflichtete die Sowjets der einheimischen Völker des Nordens, nicht nur die Aufklärung über das neue Bürgerrecht zu übernehmen, sondern auch die neue Rechtsordnung zu vertreten und zu verwirklichen.29 Allmählich begann die Sowjetmacht, sich an die komplizierten Probleme der Familienbeziehungen, insbesondere an die Verwirklichung der Rechte der Frauen heranzuwagen. Eine große Schwierigkeit bestand u. a. darin, das bisher praktizierte Gewohnheitsrecht im Verhalten der Menschen zueinander zu überwinden. Die Lösung einer solchen Aufgabe innerhalb einer Generation hatte bis dahin in der Geschichte keine Beispiele. Die erzieherische Wirkung der Tätigkeit der Sowjets wurde dadurch etwas erleichtert, daß die Vereinigung administrativer und gerichtlicher Funktionen in einer Hand den Traditionen des Verwaltungsaufbaus bei diesen Völkern entsprach. Doch das Anknüpfen an Traditionen allein hätte das Vertrauen zur neuen Macht nicht hergestellt, wenn nicht gleichzeitig eine Reihe von ökonomischen und kulturellen Maßnahmen die Völker Sibiriens von ihrer Vertrauenswürdigkeit überzeugt hätte. Die ökonomische Politik der Sowjetmacht paßte sich in diesen Regionen sehr stark den besonderen Bedingungen an. Den Schwerpunkt bildeten hier die Wiederherstellung und die Erweiterung der traditionellen Gewerbe. Jagd, Fischfang und Rentierzucht wurden nach der Einführung des staatlichen Außenhandelsmonopols und der Beseitigung des stark verbreiteten nichtäquivalenten Naturaltauschs zu den hauptsächlichsten Verdienstquellen der Völker des sibirischen Nordens. Der Kooperativhandel übernahm die Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren, Werkzeugen, Arbeitsgeräten und Lebensmitteln. Der private Pelzhandel und der Handel mit Alkohol wurden verboten. Es war nicht einfach, die Einhaltung 29

Sergeev, M. A., Nekapitalisticeskij put' razvitija malych narodov Severa, Moskau-Leningrad 1955, S. 241 f.

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dieser Bestimmungen zu erreichen. Hinzu kam, daß das Alkoholverbot bei den einheimischen Jägern zunächst ein sinkendes Interesse am Pelzverkauf zur Folge hatte. Um so wichtiger war es, dafür zu sorgen, daß ein reichhaltiges Warensortiment durch die neu eingerichteten Kooperationsverkaufsstellen angeboten wurde. Das war keine leicht zu lösende Aufgabe, so daß die örtlichen Vertreter des Nordkomitees und der Sowjets viel Initiative entwickeln mußten. Seit 1927 begannen sich vor allem unter den Fischern und Jägern die gemischten Konsum* und Produktionsgenossenschaften durchzusetzen. Der Schwerpunkt ihrer gemeinsamen Tätigkeit lag allerdings beim Absatz und nicht bei der Produktion. Diese Genossenschaften wurden vom Staat durch Kredite und durch Lieferungen wertvoller Arbeitsgeräte großzügig unterstützt. Es wäre jedoch auch schon für die zwanziger Jahre falsch, in den kleinen Völkern des Nordens nur Hilfeempfanger zu sehen. Gerade in ökonomischer Hinsicht war ihr Beitrag zur Industrialisierung des Landes von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung. Ihre Pelzlieferungen bildeten einen wichtigen Posten in der sowjetischen Ausfuhr. Sie gestatteten, den Import für die zur Industrialisierung des Landes notwendigen Maschinen und Ausrüstungen zu erhöhen. Die Abgeschiedenheit und „weiße Stille" des sibirischen Tundragebiets wurde immer öfter durch Polarexpeditionen gestört. Ihre Aufgabe war es, den Hohen Norden geologisch zu erkunden, seinen Waldbestand sowie den Fisch- und Pelztierreichtum einzuschätzen. Ohne die Hilfe und Mitarbeit der einheimischen Bevölkerung wären sie weniger erfolgreich gewesen. Erste Erfolge wurden auch bei der Überwindung des kulturellen Rückstandes erzielt. Im Grunde genommen handelte es sich dabei zugleich um die Aneignung einer für das ganze Land neuen Kultur. Die Überwindung des Analphabetentums, die in der ganzen Sowjetunion am Anfang der kulturellen Umgestaltung eine wesentliche Rolle spielte, war hier das Grundproblem. So benötigte z. B. das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen im Jahre 1923 für die Tätigkeit in einer Landwirtschaftsausstellung in Moskau einen Chanten, der lesen und schreiben konnte. Man fragte in Tobolsk nach und bekam die Antwort, daß es einen solchen Chanten nicht gäbe.30 Für die Alphabetisierung bestanden vorerst nur die politischen Voraussetzungen, aber noch keineswegs die praktischen Bedingungen. Auch war die Bereitschaft zum Lernen bei diesen Völkern noch un30

13

Vgl. Narody Sibiri, a.a.O., S. 603. Thomas, Sibirien

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genügend vorhanden. Ihre Tätigkeit, an die sie traditionell gebunden waren und die auch für die nächste Zukunft ihr Leben bestimmen würde, verlangte andere Fertigkeiten und Kentnisse. Auch das meist mit dem nationalen Erwachen verbundene Interesse an der eigenen Sprache, Geschichte und kulturellen Tradition konnte hier noch nicht stimulierend wirken, da dieses Nationalgefühl noch zu schwach entwickelt war. Zunächst ging es um das Erlernen der russischen Schrift, da diese Völker keine eigene Schriftsprache kannten. Diesen Umstand hatten vor allem die Schamanen ausgenutzt, die ihre elitäre Stellung durch die Anstrengungen der Sowjetmacht gefährdet sahen. Die Liquidierung des Analphabetentums konnte nur in enger Verbindung mit grundsätzlichen Veränderungen in der Lebensweise erfolgen. Eine Lösung des Problems bot vorübergehend die Errichtung kultureller Stützpunkte (Kultbasa). Ein solcher Stützpunkt bestand in der Regel aus einer Schule mit Internat, einer Poliklinik bzw. einem Krankenhaus, einer Handelsniederlassung und einem Klub. Die Mitarbeiter einer Kultbasa hatten ein breites Wirkungsfeld. Neben ihrem Beruf — meist waren es Lehrer, seltener Ärzte — leisteten sie eine vielfaltige Aufklärungsarbeit, sorgten für die Bereitstellung von Medikamenten und Mitteln gegen Viehseuchen u. a. In den Internatsschulen lernten die Kinder nicht nur das Lesen und Schreiben, sondern auch für sie völlig unbekannte Lebensformen. Das Leben in einem richtigen Haus, der Gebrauch von Möbeln, Tischsitten und sanitäre Gewohnheiten — all das war neu. Erst Anfang der dreißiger Jahre wurde es möglich, die Muttersprache dieser Völker in den Schulen zu unterrichten. Bevor das geschah, waren folgende Schritte notwendig: 1. Die Sprache dieser Völker mußte erforscht werden. Damit brauchte man zwar nicht beim Nullpunkt zu beginnen, doch war der Forschungsstand in den meisten Fällen noch unzureichend. 2. Vorwiegend nationale Kader mußten ausgebildet und befähigt werden, ihre Sprache tiefer zu erforschen und bei der Ausarbeitung der Schrift und der Literatursprache mitzuwirken. 3. Die Schrift (das Alphabet), die Orthographie und die notwendige Terminologie mußten in jeder dieser Sprachen geschaffen werden. 4. Damit die Völker ihre Sprache lernen konnten, mußte man Fibeln und Lehrbücher schreiben und drucken lassen, eine ausreichende Zahl Lehrer ausbilden und nicht zuletzt eine große Anzahl von Schulen und anderen Lehranstalten bauen. 31 31

Vgl. Urbjatova, E. /., Izucenie jazykov i sozdanie pis'mennosti narodov Sibiri, in : Akademija nauki i Sibir', Novosibirsk 1977, S. 107—121.

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Dies konnten aber nur die ersten Schritte sein. Es galt dafür zu sorgen, daß die neuen Leser mehr als nur Fibeln und Lehrbücher zu lesen bekamen. Presse und Literatur in den nationalen Sprachen mußten geschaffen, die wichtigsten Werke der Literatur anderer Völker übersetzt werden. Bei der Erforschung der Sprachen konnte sich die junge sowjetische Wissenschaft auf Ergebnisse und Tradition der Sprach- und Volkskunde der vorrevolutionären Zeit stützen. Seit Ende des 19. Jh. gehörte W. Radioff zu den bedeutendsten Wissenschaftlern auf diesem Gebiet. Im Jahre 1899 regte der Internationale Orientalistenkongreß in Rom die Bildung eines „Russischen Komitees zur Erforschung Mittel- und Ostasiens in geschichtlicher, archäologischer, linguistischer und ethnographischer Hinsicht" an. Das Komitee, das 1903 unter dem Vorsitz von Radioff ins Leben gerufen wurde, nutzte die vom russischen Außenministerium bereitgestellten Mittel für eine intensive Forschungsarbeit. Nach Radioffs Tod im Mai 1918 setzte der sogenannte Radioffkreis beim Museum für Anthropologie und Ethnographie an der russischen Akademie der Wissenschaften die Forschungsarbeiten fort. Bei der Erforschung der Sprache der sibirischen Völker erwarben sich die Gelehrten L. J. Sternberg und W. G. Bogoras besondere Verdienste. Beide kamen als politisch Verbannte Ende des 19. Jh. nach Sibirien. Das Interesse für das Leben und die Sprachen der Völker, mit denen sie in ihrer Verbannung Kontakt hatten, bestimmte seitdem ihr Leben und ihre wissenschaftliche Tätigkeit. Nach der Revolution setzten sich beide Wissenschaftler aktiv für die Unterstützung der Völker des Nordens ein. Sie wurden Mitglieder des Nordkomitees, wobei ihre Tätigkeit in diesem Regierungsorgan sich nicht auf wissenschaftliche Konsultationen beschränkte. Sternbergs Initiative war die starke Einbeziehung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in die Ausarbeitung verschiedener theoretischer und praktischer Fragen der Entwicklung des sozialen Lebens und der Kultur der Völker Sibiriens zu verdanken. Bogoras gehörteu.a. zu den Vätern des Instituts für die Völker des Nordens in Leningrad, einer Lehr- und Forschungsanstalt, deren Tätigkeit von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung von Kadern der nationalen Intelligenz dieser Völker war. Im Jahre 1932 veröffentlichte Bogoras die erste Fibel in tschuktschischer Sprache. Sie war in methodologischer Hinsicht beispielhaft und diente als Muster für die Erarbeitung ähnlicher Lehrbücher für andere Völker. Nachahmenswert war auch die Tatsache, daß der Wissenschaftler mehrere tschuktschische Studenten zur Arbeit an der Fibel herangezogen hatte.

13»

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Fibeln und Lehrbücher sowie wissenschaftlich fundierte Wörterbücher bildeten den Anfang. Ihnen folgte die meist aus dem Russischen übersetzte massenpolitische, populärwissenschaftliche und schöngeistige Literatur. Bis 1934 brachten 5 zentrale Verlage 147 Titel in den 15 Sprachen der Nordvölker heraus. Damit war der erste große Schritt bei der Überwindung des Analphabetentums getan. 32 Diese ersten Erfolge der Kulturrevolution schufen Voraussetzungen für soziale und politische Umgestaltungen bei den Völkern des sibirischen Nordens. Während mit der Errichtung der Nationalen Kreise im Jahre 1930 die wirksamste Form der nationalen Autonomie für diese Völker gefunden wurde, verliefen die Anfang der dreißiger Jahre begonnenen sozialen Umgestaltungen langwieriger und komplizierter. Es ging um die Einführung der Kollektivwirtschaften, zuerst in ihren einfachsten Formen. Am Beginn dieser tiefgreifenden Veränderung stand eine von Wissenschaftlern und Praktikern entfaltete öffentliche Diskussion in der Fachpresse, bei der es vor allem darum ging, rationelle Formen für die Durchführung der Kollektivierung zu finden. Dabei tauchte die Frage auf, ob es möglich und zulässig sei, an bestimmte Überreste der Gentilordnung, etwa die traditionelle Arbeit in Kollektiven oder die gemeinschaftliche Bodennutzung, anzuknüpfen. Gegen den in der Diskussion zugespitzt vorgetragenen Standpunkt, daß jegliche Übernahme alter Traditionen unter den neuen Bedingungen gefahrlich sei, traten die Anhänger einer anderen, nicht weniger extremen Meinung auf. Sie idealisierten solche Traditionen und sahen in ihnen fertige kommunistische Lebensformen. 33 Die Erfahrungen zeigten später die Grenzen beider Standpunkte. Anfangs wurden zwar die Produktionsgenossenschaften auf der Grundlage der vorhandenen Vereinigungen gebildet, bald aber zeigte es sich, daß die Verwendung dieser Formen nur bei grundsätzlicher Erneuerung ihres Inhalts möglich war. Die Entwicklung dem traditionellen Selbstlauf zu überlassen erwies sich als ebenso gefahrlich wie die Verletzung des Prinzips der Freiwilligkeit. Bis 1934 gelang es, 37 Prozent der Wirtschaften in Genossenschaften

32

33

Vgl. Belenkin, 1. F., Razvitie pecati na jazykach narodov Severa, in: Osuscestvlenie leninskoj nacional'noj politiki u narodov Krajnego Severa, a.a.O., S. 117-140. Vgl. Sergeev, M. A., Nekapitalisticeskij put' razvitija malych narodov Severa, a.a.O., S. 326—336; Antropova, V. V., Problema nekapitalisticeskogo puti razvitija narodov Severa v sovetskoj istoriko-etnograficeskoj literature, in: Osuscestvlenie leninskoj. . ., a.a.O., S. 53.

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zu vereinigen; 3 Jahre später war etwa die Hälfte aller Wirtschaften kollektiviert. Besonders langwierig verlief dieser Prozeß bei den nomadisierenden Rentierzüchtern der Tundragebiete. Die extreme Abgeschiedenheit dieser Gebiete und die Tatsache, daß der Übergang zur Seßhaftigkeit noch nicht vollzogen war, erschwerten die Einführung hier weitgehend unbekannter Lebens- und Produktionsformen. Die Probleme der Entwicklung der kleinen Völker Sibiriens wurden hier bewußt relativ breit behandelt, da es sich um besonders komplizierte Prozesse handelte. Die Mehrzahl der nichtrussischen Bevölkerung Sibiriens gehörte jedoch zu Völkern, die auf einer höheren Entwicklungsstufe standen. Bei den Jakuten, Burjaten, Chakassen und anderen Völkern vollzogen sich Prozesse, die man als nationale Selbstverwirklichung unter den Bedingungen der sozialistischen Umgestaltung bezeichnen kann. Dem Bereich der nationalen Eigenarten kam daher besondere Bedeutung zu. Auch der Klassenkampf trat stets in nationalistischem Gewand auf. So versuchten z. B. die nationalistischen Kreise der jakutischen Intelligenz, die von den Toyonen unterstützt wurden, in den Jahren 1927/28 unter der alten Losung „Jakutien den Jakuten!" einen bewaffneten Aufstand zu organisieren.34 Die „Konföderalisten", so nannten sich diese Kreise, nutzten die Widerstände gegen einige fehlerhafte Maßnahmen der Sowjetmacht aus, vor allem aber rechneten sie mit der Unterstützung von außen. Nach der Zerschlagung der Unruheherde wurde die Tätigkeit der Jakutsker Parteiorganisation überprüft und ihr für die Zukunft eine zielgerichtete ideologische Arbeit empfohlen. Die Ende der zwanziger Jahre durchgeführte Bodenreform in ganz Jakutien führte zur Stärkung der ökonomischen Positionen der Klein- und Mittelbauern. Sie schuf günstige Voraussetzungen für die Kollektivierung, die in Jakutien bis 1940 abgeschlossen wurde. Die Entwicklung der Industrie und des Transportwesens, vor allem die Rekonstruktion der Goldbergwerke am Aldan, setzten neue wirtschaftliche Schwerpunkte. Seit 1937 wird Jakutien als eine Agrar-Industrie-Republik bezeichnet. In der Tendenz ähnlich verlief die Entwicklung in den anderen sibirischen autonomen Republiken. Die Maßnahmen der Industrialisierung, die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft und nicht zuletzt die begonnene Kulturrevolution bildeten die Basis für die Entwicklung dieser Völker zu sozialistischen Nationen.

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Vgl. Istorija Jakutskoj ASSR, Bd. III, a.a.O., S. 122-126. 189

3. Die Kriegsjahre 1941 — 1945 Der Große Vaterländische Krieg, der von der UdSSR ungeheure Opfer an Menschen und Material forderte, unterbrach auch den friedlichen Aufbau Sibiriens. Menschen und Technik wurden für die Verteidigung des Vaterlandes eingesetzt. Zusammen mit den anderen Ostgebieten des Landes übernahm Sibirien die Last der Kriegsproduktion, der Versorgung der Front mit Waffen und mit Lebensmitteln. Bedeutend war auch der direkte Einsatz sibirischer Divisionen an verschiedenen Frontabschnitten. Die ersten Kämpfe führten sibirische Einheiten im Herbst 1941 in der Nähe von Moskau — bei Moshaisk und Malojaroslawez; 9 Sibirische Divisionen kamen bei Stalingrad zum Einsatz. Auf weit über 200000, wird die Zahl der dort kämpfenden Sibirier geschätzt. 35 Die Sibirischen Divisionen und Sonderbrigaden formierten sich ausschließlich aus Freiwilligen, während sich die nach der totalen Mobilmachung eingezogenen Wehrpflichtigen auf verschiedene Einheiten verteilten. Die Gesamtzahl aller Mobilisierten läßt sich bisher nicht feststellen. Aufschlußreich ist die soziale und nationale Zusammensetzung der sibirischen Einheiten. Das 6. Sibirische Korps, das aus einer Freiwilligendivision und 4 in verschiedenen Gegenden Sibiriens formierten Sonderbrigaden bestand, zählte insgesamt 38 300 Kämpfer. 44,6 Prozent davon waren Arbeiter, 29,4 Prozent Angestellte und 26 Prozent Kolchosbauern. Die nationale Zusammensetzung war sehr vielfaltig, wenn auch der überwiegende Teil (30693) Russen waren. Ihnen folgten Ukrainer (3892), Belorussen (892), Juden (601), Tataren (513), Kasachen (250), Mordwinen (216), Tschuwaschen (172), Udmurden (36), Burjaten (41), andere Nationalitäten (155).36 Über den Kampfgeist der sibirischen Soldaten wurde schon oft geschrieben. Die Sibirier erfüllten an der Front vorbildlich ihre Pflicht. Allein aus Westsibirien kamen über 1000 Helden der Sowjetunion. 5 Kämpfer erhielten diese Auszeichnung zweimal, einer, der Flieger A. N. Pokryschkin, war dreifacher Held der Sowjetunion. 20 Divisionen aus dem sibirischen Militärkreis erhielten im Laufe der Kriegsjahre die Ehrenbezeichnung „Gardedivision". Allerdings würde es zu weit führen, wenn man dieses Heldentum im 35

36

Vgl. Goroscenko, D. /., Ucastie sibirskich soedinenij v stalingradskoj bitve, in: Narody Sibiri v Velikoj Otecestvennoj vojne, Kyzyl 1973, S. 305. Vgl. Dokucaev, G. A., Rabocij klass Sibiri i Dal'nego Vostoka v gody Velikoj Otecestvennoj vojny, Moskau 1973, S. 284 ff.

190

Krieg zu einer sibirischen Charaktereigenschaft erklären wollte. Der Sieg über den Faschismus war eine Leistung, an der sich die ganze Sowjetunion beteiligte, und zwar sowohl an der Front als auch im Hinterland. Das sibirische Hinterland sicherte zusammen mit anderen Gebieten wie dem Ural, Kasachstan und Mittelasien während der Kriegsjahre die Versorgung der Front mit Waffen und mit Lebensmitteln. Das war eine schwierige Aufgabe, die nur mit außergewöhnlichen Mitteln und durch außergewöhnliche Kraftanstrengung gelöst werden konnte. Die militär-ökonomische Basis der Sowjetunion war bei Ausbruch des Krieges um das 2- bis 2,5fache schwächer als die des faschistischen Deutschlands. Die Dokumente der ersten Kriegstage, vor allem die Direktive der Regierung und des ZK der KPdSU vom 29. Juni 1941, orientierten auf eine rasche Umstellung der Volkswirtschaft nach folgenden Hauptgesichtspunkten: Übergang der Industriebetriebe zur Rüstungsproduktion und Verlagerung der im Westen der UdSSR gelegenen Betriebe zusammen mit ihren Belegschaften nach Osten; Mobilisierung aller Reserven in der Landwirtschaft zur Versorgung der Armee und der städtischen Bevölkerung mit Lebensmitteln; Umstellung des Transportwesens, vor allem Erhöhung der Kapazität der Transsib und Bau neuer Eisenbahnlinien. In den ersten 5 Kriegsmonaten wurden 1523 Industriebetriebe verlegt, davon 322 nach Sibirien. Der überwiegende Teil, nämlich 244 Betriebe, wurde in den 3 westsibirischen Bezirken untergebracht. Ostsibirien und der Ferne Osten waren wegen der großen Entfernungen weniger geeignet. Hierher wurden lediglich 78 Betriebe verlegt, hauptsächlich in die Krasnojarsker und Irkutsker Gebiete sowie nach Burjatien. Der größte Teil der verlagerten Betriebe erreichte zuerst das westlichste sibirische Gebiet. In Omsk und Umgebung wurden 90 Industriebetriebe untergebracht. Zum überwiegenden Teil (56) handelte es sich um Betriebe der metallverarbeitenden Industrie. Die Stadt Omsk, die vor dem Kriege knapp 300000 Einwohner zählte, nahm in den ersten Kriegsmonaten 150000 Menschen auf. Sie mußten für die nächsten Jahre mit Wohnraum versorgt werden.37 Nowosibirsk, schon vor dem Kriege die größte Stadt Sibiriens, beherbergte die meisten verlagerten Betriebe. Im Laufe der Zeit wurden 37

Vgl. ebenda, S. 84 f.

191

es insgesamt 150 Fabriken bzw. größere Betriebsteile. Die Schwierigkeit bestand fast überall nicht nur in der Unterbringung der Betriebe und der Menschen. Große Rüstungsbetriebe mußten ihre Produktion in kürzester Zeit neu aufnehmen. Auf die Produktion dieser Betriebe wurde gewartet, davon hing die Kampffähigkeit der Sowjetarmee ab. Ein typisches Beispiel für die dabei auftretenden Probleme bietet die Inbetriebnahme der Flugzeugproduktion in Nowosibirsk im Februar 1942. Aus 4 verschiedenen Gegenden des europäischen Teils der Sowjetunion mußten 4 Flugzeugwerke mit ihrer verbliebenen Ausrüstung auf einem Betriebsgelände untergebracht werden. In kurzer Zeit legte' man die Belegschaften zusammen und vereinigte den Maschinenbestand. Der bekannte Flugzeugkonstrukteur A. Jakowlew überwachte den Beginn der Produktion. Die ersten 3 „Jaks" verließen das Werk 3 Wochen nach der Ankunft des Moskauer Flugzeugwerkes in Nowosibirsk. Nach weiteren 3 Monaten gelang es, die Produktion auf den alten Stand zu bringen.38 Solche Ergebnisse konnten nur unter riesiger Kraftanspannung erzielt werden. Es fehlten Arbeitskräfte, und die Ausrüstung war meistens ebenfalls unvollständig. Die Verantwortlichen hatten enorme Aufgaben zu lösen, die mit der Unterbringung der Arbeiter und ihrer Familien begannen und beim Suchen nach Ersatzlösungen für fehlende Rohstoffe und Maschinenteile endeten. „Alles für die Front!" — das war nicht nur eine Losung, sondern eine lebensnotwendige Forderung. Im November 1941 beschloß die Sowjetregierung, in kürzester Zeit ein großes Traktorenwerk in Sibirien zu bauen. Das war sehr wichtig, weil zu diesem Zeitpunkt keine Traktoren mehr produziert wurden. Charkow war bereits von den Faschisten besetzt; die Traktorenwerke in Stalingrad und Tscheljabinsk produzierten Panzer statt Traktoren. Doch Sibirien konnte die Aufgabe der Versorgung der Front und des Hinterlandes mit Brot ohne Technik nicht lösen. Für den Bau des Traktorenwerkes wurde Rubzowsk gewählt, eine Eisenbahnstation an der Turksib mit weniger als 40000 Einwohnern. Auf einem freien Platz in der Nähe des Bahnhofs wurden Maschinen abgeladen, die aus Charkow gerettet worden waren. Die fehlende Ausrüstung suchte man mühsam in verschiedenen Städten zusammen — in Stalingrad, Orenburg, Ufa, Petropawlowsk, Tula und anderen Städten. Eine andere Schwierigkeit bestand in der Beschaffung und Unterbringung der Arbeitskräfte. Die evakuierten Arbeiter und ihre Familien konnten nicht alle in den vorhandenen Wohnhäusern unter38

Jakovlev, A.,

192

Cel' zizni (Zapiski avia-konstruktora), Moskau 1968, S. 311.

gebracht werden. Ihren ersten sibirischen Winter mußten viele in Erdhütten verbringen. Die Facharbeiter, die aus Charkow und Stalingrad kamen, bildeten nur den Stamm des künftigen Werkes. Der größte Teil der Belegschaft kam aus den umliegenden Dörfern und aus anderen Gegenden. Besonders groß war in den ersten Monaten der Bedarf an Bauarbeitern. Eine Wasserleitung wurde gelegt, ein Wärmekraftwerk erbaut. Es fehlten Ziegelsteine, sie wurden durch Ssaman ersetzt, ein selbstgefertigtes Baumaterial, das vorwiegend aus Lehmstücken, mit Stroh, Torf und Haaren vermischt, bestand. Der erste Traktor des neu erbauten Altaier Traktorenwerkes wurde im November 1942 fertiggestellt. Bis Ende des Jahres verließen 25 Traktoren das Werk. Trotz aller Schwierigkeiten hatte die Industrieproduktion in Sibirien während der Kriegsjahre einen großen Zuwachs zu verzeichnen. In den 3 Vorkriegsjahren (1937—1940) wuchs der Umfang der Industrieproduktion Sibiriens um 150 Prozent, während er sich in den Jahren 1941 bis 1945 verdoppelte. Die Entwicklung der einzelnen Gebiete verlief ungleichmäßig. An der Spitze stand Omsk mit über 400 Prozent, ihm folgte Nowosibirsk mit etwas unter 400 Prozent. Der Industriezuwachs in ganz Westsibirien betrug 270 Prozent, während er sich in Ostsibirien auf 128 Prozent und im Fernen Osten nur auf 112 Prozent belief.39 Bemerkenswert sind die Angaben über den jeweiligen Anteil Sibiriens an der Produktion des Landes. Über die Rüstungsproduktion fehlen Zahlen. In einzelnen Wirtschaftszweigen sah der Anteil Sibiriens und des Fernen Ostens in Prozent folgendermaßen aus (UdSSR = 100 Prozent): Tabelle 2 1940

1940

1945

in Prozent

in Prozent Eisen Stahl Walzen Steinkohle Elektroenergie

10,3 10,9 10,5 23,5 6,1

17,8 20,9 23,3 45,7 11,5

1945

Traktoren Holzmaterialien Zement Fischfang Butter



24,0 8,8 26,0 keine Angaben

37,0 20,0 13,8 38,4 29,0

(Dokucaev, G. A., Rabocij klass Sibiri i Dal'nego Vostoka v gody Velikoj Otecestvennoj vojny, Moskau 1973, S. 238) 39

Vgl. Dokucaev, a.a.O., S. 193ff.

193

Es wäre noch zu berücksichtigen, daß die Angaben für 1945 nicht den Höchststand darstellten: In der Mitte des Krieges war der sibirische Anteil an der Produktion von Stahl, Kohle und Eisen höher als 1945.40 Hinter diesen Zahlen verbirgt sich ein Problem, das in den Jahren des Krieges und der Zeit danach nur schwer zu lösen war. Es mußten in einer traditionell arbeitskräftearmen Region Wege gefunden werden, der Industrie eine ausreichende Zahl von qualifizierten Arbeitern zur Verfügung zu stellen. Infolge der allgemeinen Mobilmachung verringerte sich die Zahl der Arbeiter und Angestellten in der Volkswirtschaft der Sowjetunion von 31,8 Mill. im ersten Halbjahr 1941 auf 18,4 Mill. im Jahre 1942. Das Jahr 1942 bedeutete den absoluten Tiefpunkt in dieser Entwicklung, u. a. auch deshalb, weil größere Territorien des Landes vom Feind besetzt waren. 1943 begann sich die Zahl der Arbeiter wieder zu erhöhen, so daß gegen Ende des Krieges etwa 87,5 Prozent des Vorkriegsniveaus erreicht wurden. In den 3 letzten Kriegsjahren wurden der Volkswirtschaft der UdSSR 12 Mill. neue Arbeitskräfte zugeführt. 41 Sibirien hatte vor dem Kriege (zusammen mit dem Fernen Osten) eine Bevölkerung von etwa 18,5 Millionen Menschen. Die Zahl der Arbeiter und Angestellten in allen Wirtschaftszweigen betrug 1940 über 3,2 Millionen. Im Jahre 1945 waren es 3,5 Mill., was einen Zuwachs um fast 9 Prozent bedeutete. In der Industrie war der Zuwachs der Beschäftigtenzahl mit 39 Prozent wesentlich höher; in der chemischen Industrie waren gegen Ende des Krieges mehr als doppelt soviel Personen wie vor dem Kriege tätig. Hoch war auch die Beschäftigtenzahl im Maschinenbau, im Bergbau und in der Textilindustrie. Woher kamen die zusätzlichen Arbeitskräfte, die trotz der allgemeinen Mobilmachung eine positive Bilanz ermöglichten? Die evakuierten Männer fielen zahlenmäßig wenig ins Gewicht, da die meisten von ihnen nicht mehr im arbeitsfähigen Alter waren. Die wenigen evakuierten Facharbeiter und Ingenieure, die wegen ihrer Spezialkenntnisse nicht eingezogen worden waren, bildeten den unentbehrlichen Stamm in den kriegswichtigen Betrieben und Institutionen. Die Masse der Arbeiter jedoch war ungelernt. Es waren vor allem sibirische Kolchosbauern, die zur Arbeit im Bergbau und in der Kriegsindustrie verpflichtet wurden. Im schon erwähnten Altaier Traktorenwerk bestand die 40

Vgl. ebenda, S. 238.

41

Vgl. Geschichte der UdSSR von den Anfangen bis zur Gegenwart, Berlin 1976, S. 400 f.

194

Belegschaft im Jahre 1945 zu 95 Prozent aus Bauern und Jugendlichen aus den umliegenden Dörfern. An die Front und in die Industrie gingen aus den Kolchosen Westsibiriens 619200 Männer und Frauen. Die arbeitsfähige Bevölkerung betrug in den sibirischen Kolchosen im Jahre 1944 59,2 Prozent. Die ernste Lage in den Kolchosen veranlaßte das Komitee für Erfassung und Verteilung der Arbeitskräfte, ab Februar 1944 weitere Mobilisierungen der Landbevölkerung für die Arbeit in der Industrie zu untersagen. 42 Im Bergbau, bei Straßenarbeiten und auf den Baustellen waren Arbeitsbataillone (Stroibat) tätig. Sie wurden zum größten Teil aus Wehrpflichtigen, die nicht an der Front eingesetzt wurden, formiert. 1942 waren allein im Nowosibirsker Bauwesen 55 solcher Arbeitskolonnen tätig. In Stalinsk waren 20 Arbeitskolonnen mit einer Gesamtzahl von 10985 Menschen eingesetzt. Als diese Arbeitsreserven erschöpft waren, begann ab 1943 der Einsatz von Arbeitskräften aus Mittelasien. Ihr Anteil z. B. am Straßenbau betrug bis über 50 Prozent aller dort Beschäftigten. 43 Das Problem der Arbeitskräfte konnte in Sibirien wie auch in der ganzen Sowjetunion nur durch die Einbeziehung der Bevölkerungsschichten, die bis dahin nicht in der Produktion tätig waren, gelöst werden. Hausfrauen, Schüler, Studenten und Rentner traten an die Werkbänke und arbeiteten 12 bis 14 Stunden täglich, um die an die Front gegangenen Männer, Väter und Söhne zu ersetzen. Der Anteil der Frauen unter den Arbeitern und Angestellten der UdSSR betrug am Ende des Krieges 55,6 Prozent. In Sibirien wuchs der Anteil der Frauenarbeit folgendermaßen: Tabelle 3 1. 10. 1941

1.4. 1942

1. 10. 1942

1. 2. 1943

1. 1. 1945

43.3%

47,8%

51,8%

53,6%

57,3%

(Dokucaev, G. A., Rabocij klass Sibiri i Dal'nego Vostoka v gody Velikoj Otecestvennoj vojny, Moskau 1973, S. 214) 42

43

Vgl. Panovskij, L. S., Izmenenija v cislennosti kolchosnogo krestjanstva Zapadnoj Sibiri v 1941—45 gg., in: Narody Sibiri v Velikoj Otecestvennoj vojne, a.a.O., S. 215—225. Vgl. Vinokurov, V. Ja., O formach popolnenija kadrov stroitelej v Zapadnoj Sibiri (1941—45), in: Narody Sibiri v Velikoj Otecestvennoj vojne, a.a.O., S. 193 f.

195

Am höchsten war der Anteil der Frauenarbeit im Gesundheitswesen (80,5 Prozent), am niedrigsten im Transport- und Bauwesen. Am Anfang des Krieges waren die Betriebe des Nowosibirsker Mehltrusts „Glawmuka" gezwungen, Veränderungen in der Arbeitsorganisation vorzunehmen. Vor allem mußten die 75 kg schweren Mehlsäcke durch 30 bis 40 kg schwere ersetzt werden. Die Umstellung wurde notwendig, weil von den Lagerarbeitern mehr als ein Drittel Frauen waren. Es gab wohl kaum einen körperlich schweren Beruf, in dem keine Frauen arbeiteten. Es änderte sich auch die altersmäßige Zusammensetzung der Arbeitskräfte. Männliche Jugendliche bis zu 17 Jahren machten am Ende des Krieges 13,9 Prozent der Beschäftigten aus, weibliche 9,9 Prozent. Die Altersgruppe bis 25 Jahre war unter den Männern mit 27,8 Prozent, unter den Frauen mit 41,2 Prozent vertreten. 44 Frauen, Invaliden, Greise und Kinder — das waren auch die Hauptstützen der sibirischen Landwirtschaft. Eine gewisse Auffüllung der Arbeitsreserven war u. a. mit der Umsiedlerwelle aus dem Kaukasus beabsichtigt. Es wurden Bergvölker des Nordkaukasus, aber auch Kalmyken, Inguschen und Karatschajewer nach dem Osten, u. a. auch in die sibirischen Kolchosen umgesiedelt. Sie konnten jedoch in der ungewohnten Umgebung nicht heimisch werden und fielen kaum als zusätzliche Arbeitsreserve ins Gewicht. Die 700 Mill. Pud Getreide, die Sibirien während des Krieges ablieferte, waren unter großen Mühen und Entbehrungen erbracht worden. Im Unterschied zur Industrie, die seit 1943 große Erfolge zu verzeichnen hatte und in einigen Zweigen das Fundament für eine rasche Entwicklung nach dem Kriege schuf, kamen für die Landwirtschaft Sibiriens die schwersten Zeiten erst nach 1943. Ihre Reserven waren erschöpft. Dieser Umstand wirkte sich noch Jahre später aus. Die Versorgung mit Lebensmitteln konnte die Landwirtschaft allein nicht sichern. Zu Hilfe kam der Umstand, daß die sibirischen Städte die Möglichkeit hatten, in ihrem „Hinterland" Kartoffelfelder anzulegen. Die Kartoffel wurde zum Hauptnahrungsmittel. Sogenannte „Landwirtschaftliche Hilfsbetriebe" bestanden bei jeder größeren Fabrik. In Omsk gab es 204 solcher Hilfsbetriebe mit einer Fläche von 31383 ha. In Nowosibirsk betrug die Kartoffelernte der Hilfsbetriebe im Jahre 1944 68 700 t. Zu diesen Erträgen kam noch der private Anbau. Über den Kartoffelverbrauch in Sibirien ermittelte U. Tschernjawski interessante Angaben: Im Jahre 1942 betrug der durchschnittliche Prokopfverbrauch von Kartoffeln bei der städtischen Bevöl44

Vgl. Dokucaev,

196

a.a.O., S. 327, 332.

kerung in der ganzen Sowjetunion 53 kg, in der RSFSR 65 kg. In Sibirien lag er in Omsk bei 111 kg, in Nowosibirsk bei 151 kg, in Kemerowo bei 206 kg.45 Der Beitrag des sibirischen Hinterlandes zur Bewältigung der Kriegsprobleme wurde nicht zuletzt auch von den Wissenschaftlern getragen. Hier zeigte sich deutlicher als auf anderen Gebieten, daß es nicht korrekt wäre, von einem rein „sibirischen" Beitrag zu sprechen. Es ging um die wertvolle Arbeit zahlreicher Forschungseinrichtungen, die zu Beginn des Krieges hinter den Ural verlagert wurden. Die Leitung der Akademie der Wissenschaften befand sich in Swerdlowsk. Im April 1942 wurde eine Kommission zur Mobilisierung der Ressourcen des Urals, Westsibiriens und Kasachstans für die Landesverteidigung konstituiert. An der Spitze der Kommission stand Akademiemitglied W. L. Komarow. Sie organisierte die Arbeit zur Entwicklung neuer Rohstoffe für die chemische und metallurgische Industrie sowie neuer Baumaterialien. Die geologischen Forschungen wurden forciert, neue Waffenarten entwickelt und erprobt. Große und wichtige Arbeit leisteten die Mediziner, die in den zahlreichen in Sibirien untergebrachten Militärhospitälern Dienst taten. Ihren Anstrengungen war es mit zu verdanken, daß mehr als 70 Prozent der Verwundeten nach der Genesung an die Front zurückkehren konnten. Der Vaterländische Krieg der Sowjetunion gegen das faschistische Deutschland endete mit einem überzeugenden Sieg des Sowjetvolkes, das die Hauptlast des Kampfes an der Front und die größten Entbehrungen im Hinterland getragen hatte. Der Anteil des sibirischen Hinterlandes an diesem Sieg wurde von der Sowjetregierung außerordentlich hoch eingeschätzt. Aber während der Krieg in Europa sein Ende gefunden hatte, gingen die Kampfhandlungen gegen den Hauptverbündeten des faschistischen Deutschlands im Fernen Osten, das imperialistische Japan, weiter. Getreu ihren Bündnisverpflichtungen, erklärte die Sowjetregierung am 8. August 1945 Japan den Krieg. Noch im selben Monat zerschlug die Sowjetarmee die japanische Kwantung-Armee und befreite Nordkorea. Im Verlaufe der Kriegshandlungen besetzte die Sowjetarmee Südsachalin und die Kurileninseln. Die letzteren hatte Rußland im Jahre 1875 an Japan abgetreten. Auf gemeinsamen Beschluß der alliierten Mächte wurden beide Territorien der Sowjetunion zurückgegeben. Mit der bedingungslosen Kapitulation Japans am 2. September 1945 war der zweite Weltkrieg beendet. 45

Vgl. Cernjavskij,

U. G., Vojna i prodovol'stvie, Moskau 1964, S. 149.

197

KAPITEL V I

Auf dem Wege zum Industriegiganten

1. Die Jahre nach dem Krieg. Der Aufschwung Die Mai tage 1945 standen im Zeichen des siegreich beendeten opferreichen Krieges. Überall im Lande übernahmen die Menschen zusätzliche Arbeitslasten. Die Leistungen, die zu Ehren des Sieges vollbracht wurden, waren sehr vielfaltig und zeugten von Selbstinitiative. Es ging dabei nicht nur um die besonders notwendige und keineswegs leicht zu erfüllende Verpflichtung, den Produktionsplan zu überbieten. Die Einwohner der ostsibirischen Stadt Kansk pflanzten z. B. zu Ehren des Sieges 4500 Apfelbäume und 12000 Himbeer-, Stachelbeerund andere Sträucher an. In Nowosibirsk wurde am 12. Mai im neu erbauten Opernhaus die Oper „Iwan Sussanin" aufgeführt. In Leningrad nahmen die Druckereien die während des Krieges unterbrochene Herstellung von Lehrbüchern für die Völker der Nordens wieder auf. Die Verfügung der Sowjetregierung vom 1. Juli 1945, die die Wiedereinführung des Jahresurlaubs für alle Werktätigen und die Abschaffung der Zwangsmobilisierungen zur Arbeit in den Industrie- und Baubetrieben zum Inhalt hatte, trug zur Normalisierung des Lebens in den ersten Wochen des Friedens bei. Doch die vom Krieg zugefügten Verluste und Wunden konnten nicht so schnell vergessen werden. Die Schäden des Krieges warfen die Sowjetgesellschaft in ihrer Entwicklung weit zurück. Besonders betroffen waren die von den faschistischen Aggressoren zeitweise besetzten Gebiete, in denen der größte Teil der Werte vernichtet oder geraubt worden war. Doch auch im Hinterland ließ der Krieg tiefe Spuren zurück. Sibirien leistete während der Kriegsjahre Außergewöhnliches. Es lieferte beispielsweise allein über 59000 Militärflugzeuge. Maschinenbau und Metallverarbeitung machten im Jahre 1945 55,4 Prozent der Industrieproduktion Sibiriens und des Fernen Ostens aus. Diese Leistungen waren allerdings mit den letzten Kraftreserven erzielt worden. 198

Nicht allein in der sibirischen Landwirtschaft, die schon gegen Ende des Krieges ernste Schwierigkeiten hatte, sondern auch in der Industrie verlief die Anpassung an die Friedensproduktion aus verschiedenen Gründen kompliziert. Der Umfang der Industrieproduktion sank im Jahre 1946 gegenüber dem Vorjahr um ein Fünftel. Besonders kraß war der Rückgang in Westsibirien. In Omsk betrug er mehr als 30 Prozent.1 Die Zurückführung der Betriebe, der damit verbundene Abgang qualifizierter Arbeitskräfte, die Veränderung der territorialen Kontakte, der Technologie der Produktion und der Arbeitsorganisation, die sich aus der Umstellung auf die Friedensproduktion ergaben, das alles waren nur einige wichtige Gründe für die rückläufige Entwicklung. Nicht unwesentlich war auch die Tatsache, daß die Schwerpunkte der Investitionen im Landesmaßstab in den vom Krieg zerstörten westlichen Gebiete'n lagen. Der sibirische Anteil wurde geringer. Man beschränkte sich vor allem auf die Modernisierung der Industriegebäude sowie auf andere bauliche Veränderungen. Der aktive Teil der Grundfonds, d. h. die technologische Ausrüstung, blieb zunächst fast unverändert. Im Laufe des ersten Nachkriegsjahrfünfts fand das Land Kraft und Mittel, um die gewaltigen Schwierigkeiten zu überwinden. Die Grundlage dafür bildete der am 18. März 1946 vom Obersten Sowjet der UdSSR bestätigte „Vierte Fünfjahrplan zur Wiederherstellung und Weiterentwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR für die Jahre 1946 bis 1950". Die Ergebnisse der industriellen Entwicklung Sibiriens sahen im Jahre 1950 im Vergleich zu 1945 in den einzelnen Industriezweigen folgendermaßen aus: Tabelle 4 Kraftwerke

149,5%

Brennstoffindustrie Holzbeschaffung Baumaterialien Schwarzmetallurgie Buntmetallurgie

166,2% 280,3 % 358,2% 113,7% 193,3%

183,4% Holzverarbeitung Maschinenbau und Metallverarb.109,2% 78,8% Leder- und Schuhindustrie 89,7% Konfektionsindustrie Textilindustrie Lebensmittelindustrie

132,6% 163,7%

(Istorija Sibiri s drevnejsich vremen do nasich dnej v pjati tomach, Bd. V, Leningrad 1968, S. 202) 1

Vgl. Istorija Sibiri, Bd. V (Sibir' v period zaversenija stroitel'stva socializma i perechoda k kommunizmu), Leningrad 1969, S. 191.

199

Trotz der Produktionssteigerung in den meisten Industriezweigen blieb die Gesamtzuwachsrate in Sibirien bei 27,3 Prozent stehen, während sie im Landesdurchschnitt 89 Prozent betrug.2 Die Zurückführung der kriegswichtigen Industriebetriebe und die Umstellung anderer Fabriken der Maschinenbau- und Metallverarbeitungsindustrie auf die Friedensproduktion trug wesentlich zu dieser Differenz bei. Das Stagnieren dieser Produktionszweige war jedoch auch ein deutliches Zeichen dafür, daß Sibirien zu jener Zeit noch nicht imstande war, aus eigener Kraft eine moderne arbeitsintensive Industrie aufzubauen. Dazu fehlten einige Voraussetzungen, die erst in den fünfziger Jahren geschaffen wurden. Unter sehr schwierigen Bedingungen begann die Nachkriegsentwicklung der sibirischen Landwirtschaft. Die arbeitsfähige Bevölkerung war im Vergleich zum letzten Vorkriegsjahr um eine knappe Million zurückgegangen. Nicht selten wurden vor allem die männlichen Arbeitskräfte nur nominell in den Kolchosen geführt. In Wirklichkeit waren sie in anderen Wirtschaftszweigen beschäftigt. Vom Rückgang der Mechanisierung zeugt die Tatsache, daß es im Jahre 1945 in den sibirischen MTS 20000 Traktoren weniger gab als 1940. Die Anbauflächen verringerten sich im gleichen Zeitraum um 25 Prozent. Der Getreideertrag betrug 47 Prozent der keineswegs reichen Ernte des Dürrejahres 1940. Eine deutlich positive Entwicklungstendenz wies nur der Kartoffelanbau auf. 1945 war er um ein Drittel gegenüber 1940 gestiegen. Doch schon im Jahre 1946 konnte die sibirische Landwirtschaft den von einer Mißernte betroffenen europäischen Gebieten zu Hilfe kommen. Eine Steigerung der Getreideproduktion in Westsibirien um 58 Prozent, im Altai sogar um fast 100 Prozent gegenüber dem Vorjahr wurde trotz des kalten, regnerischen Herbstes und der fehlenden Technik erreicht. Bis zum Jahre 1950 gelang es in Sibirien, wie im ganzen Lande, bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Produkten den Vorkriegsstand zu erreichen. Das war eine große Leistung, doch um die Produktivität der Landwirtschaft weiter zu erhöhen, bedurfte es Maßnahmen und Veränderungen, die vorerst der Zukunft vorbehalten blieben. Die neue „Erschließung" Sibiriens, dessen ökonomische Potenzen auch heute noch nicht abzusehen sind, begann Mitte der fünfziger Jahre. Bei aller Kontinuität handelt es sich hier um eine neue Etappe, die aus der veränderten Situation erwuchs und unter neuen Bedingungen begonnen wurde. 2

Vgl. Orlov, B. P., Sibir' segodnja: problemy i resenija, Moskaii 1974, S. 21.

200

Die im Ergebnis der Industrialisierung der dreißiger und vierziger Jahre entstandene Wirtschaftsstruktur war durch folgende wesentliche Merkmale gekennzeichnet: 1. Die führende Stellung in der sibirischen Wirtschaft hatten bis zum Kriege jene Industriezweige inne, die Brenn- und Rohstoffe hauptsächlich für die Bedürfnisse der im europäischen Teil der Sowjetunion konzentrierten Industrieobjekte lieferten. Ihnen galt auch der Hauptanteil der Investitionen. Es war nicht möglich, hier, ähnlich wie in den älteren Industriebezirken des Landes, relativ vielseitige Industriekomplexe zu errichten. Die dem Lande insgesamt für die Industrialisierung zur Verfügung stehenden geringen Mittel und das Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte waren dafür die Hauptursache. 2. Sibirien bezog vor dem Kriege fast alle Maschinen, Transportund Industrieausrüstungen aus anderen Gebieten der Sowjetunion. Aus den europäischen Bezirken kamen auch die meisten Konsumgüter, von Textilien und Schuhen bis zu Lebensmitteln. 3. Die sibirische Industrie konzentrierte sich hauptsächlich entlang der Transsibirischen Eisenbahn und ihrer Abzweigungen. IndustrieInseln, weit von der Transsib entfernt, bildeten eine Ausnahme. Meist handelte es sich dabei um die Förderung seltener Rohstoffe, wie in Norilsk, an der Kolyma und am Aldan. Der im Jahre 1939 gefaßte Beschluß des XVIII. Parteitages der KPdSU, der auf die Errichtung von Zweigbetrieben in den östlichen Gebieten der UdSSR orientiert hatte, eröffnete große Perspektiven für die Entwicklung des Maschinenbaus in Sibirien. Er konnte jedoch vor dem Kriege nicht mehr verwirklicht werden. Sicherlich gab es eine ganze Reihe von Gründen, warum die „zweite Erschließung", wie die neueste Entwicklung in Sibirien mitunter genannt wird, gerade Mitte der fünfziger Jahre einsetzte. Nicht unwesentlich war der Umstand, daß das Problem der Rohstoffsicherung zu jenem Zeitpunkt die Industriemächte der Welt auf neue Weise zu beschäftigen begann. Die Zeiten, da die Wahl zwischen leicht und schwerer zu beschaffenden Rohstoffen noch offenstand, waren nun fast vorbei. Das Interesse an sibirischen Bodenschätzen wurde im Ausland immer nachhaltiger. Auch die veränderte strategische Lage Sibiriens und des Fernen Ostens dürfte bei der Entscheidung über die forcierte ökonomische Stärkung dieser Regionen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Doch ausschlaggebend war wohl die Tatsache, daß die Sowjetunion zum ersten Mal in ihrer damals vierzigjährigen Geschichte ökonomisch imstande war, ein solch aufwendiges Programm in Angriff zu nehmen. 14

Thomas, Sibirien

201

Ab Mitte der fünfziger Jahre wurde die Beschaffung von Arbeitskräften selbst für die bestehenden Industriebetriebe zu einem erstrangigen Problem. Das bedrohliche Arbeitskräftedefizit zeigte sich am deutlichsten im Kohlebergbau. Die Arbeiter wechselten den Beruf oder zogen in Gegenden, wo sie bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vorfanden. Es gab nur eine Möglichkeit, die Arbeitskräftesituation zu verbessern: Günstigere Arbeits- und Lebensbedingungen mußten geschaffen werden, um nicht nur die Abwanderung nach dem Westen der UdSSR zu unterbinden, sondern auch umgekehrt, die industriell schwach entwickelten Gebiete des europäischen Teils zur Arbeitskraftquelle für Sibirien zu machen. Es war daher nicht zufallig, daß die ersten großen Maßnahmen, die am Beginn der industriellen Umgestaltung standen, der Landwirtschaft und der Wissenschaft galten. Zum Ausgangspunkt des Ringens um die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft wurden die Beschlüsse der Plenartagungen des ZK der KPdSU vom September 1953 und Februar/März 1954. Die wesentliche Erhöhung der Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte und die Senkung des Ablieferungssolls der Kolchosen führten dazu, daß das Prinzip der materiellen Interessiertheit auf dem Lande wieder wirksam wurde. Korrekturen des bestehenden Steuersystems wirkten sich günstig auf die Effektivität der individuellen bäuerlichen Nebenwirtschaften aus. Gleichzeitig stellte die Kampagne zur Neulandgewinnung, die im Frühjahr 1954 im ganzen Land begann, die Landwirtschaft in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die im Beschluß des ZK der KPdSU formulierte Aufgabe lautete, in den Jahren 1954/55 mindestens 13 Mill. ha Neuland zu erschließen und auf diesem Boden 1,1 bis 1,2 Md. Pud Getreide zu ernten. 3 Allein in Sibirien sollte etwa ein Viertel des Neulands erschlossen werden. In Richtung Osten bewegten sich Züge mit Freiwilligen, vor allem Jugendlichen und demobilisierten Soldaten. Geldmittel und Technik wurden vorrangig für die Neulandgebiete zur Verfügung gestellt. In den ersten 3 Jahren ging fast ein Drittel aller produzierten Traktoren in diese Regionen. Mit offiziellen Komsomolaufträgen kamen 130000 Jugendliche in die sibirischen Neulandgebiete (Westsibirien, Altai, Krasnojarsker Bezirk). 50000 davon stammten aus anderen sibirischen Gegenden, während 3

Probleme der Neulandgewinnung speziell in Bezug auf Kasachstan sind anschaulich in dem Buch Leonid Iljitsch Breshnews „Neuland. Erinnerungen" (Berlin 1979) dargestellt.

202

der Rest aus dem Zentrum des Landes sowie aus anderen Unionsrepubliken kam. Viele fanden hier eine neue Heimat. In den 5 Jahren bis Ende 1958 wuchs der urbar gemachte Boden in der Sowjetunion um fast 40 Mill. ha; in Sibirien betrug der Zuwachs der Anbaufläche 9,6 Mill. ha. Das Problem bestand nunmehr darin, dauerhafte Ernteerfolge auf dem neugewonnenen Boden zu sichern. Schwierigkeiten zeigten sich sehr bald beim Einbringen der Ernte unter den Bedingungen des kurzen sibirischen Herbstes. Bei den beschränkten Arbeitskräfte- und Technikreserven waren die Erntemonate eine Zeit äußerster Kräfteanspannung. Die städtische Bevölkerung mußte mithelfen ; an die Arbeitsorganisation wurden hohe Anforderungen gestellt. Besondere Erfolge erreichten die Bauern des Altaigebiets. Vor der Neulanderschließung lieferte dieses Gebiet etwa 50 Mill. Pud Getreide pro Jahr an den Staat; nach 1958 wurden 180 Mill. Pud im Jahr erreicht. Insgesamt stieg die durchschnittliche Getreideproduktion der sibirischen Landwirtschaft im Jahrfünft nach der Neulandgewinnung um das l,8fache. Das war eine gute Grundlage für die Verbesserung des Lebensstandards der Werktätigen. Außerdem wurde mit der Aktion der Neulandgewinnung vor allem die Jugend auf die Bedeutung der Arbeit in Sibirien aufmerksam gemacht. Nach mehr als 20 Jahren, seit dem Bau von Komsomolsk am Amur, war es das erste neue Komsomolaufgebot, dem später Bratsk und schließlich die BAM folgten.

2. Schwerpunkte der industriellen Erschließung An der Wende der fünfziger zu den sechziger Jahren stand die Sowjetunion am Beginn einer neuen geschichtlichen Periode. Vielfaltige Bedürfnisse der entwickelten sozialistischen Gesellschaft widerspiegelten sich in den anspruchsvollen Zielen, die in dem auf dem XXII. Parteitag der KPdSU angenommenen Parteiprogramm fixiert wurden. Kennzeichnend für den vom XXV. Parteitag bestätigten zehnten Fünfjahrplan war die Sorge um die Verbesserung der Standortverteilung der Produktivkräfte. Im Mittelpunkt stand das Wachstum des Wirtschaftspotentials der östlichen Landesteile, besonders Sibiriens, für die eine Steigerung der Industrieproduktion um fast 50 Prozent vorgesehen wurde. Mehr als die Hälfte der größten Objekte des zehnten Fünfjahrplanes befanden sich in Sibirien. Es sind die Produktionskomplexe Orenburg, Westsibirien, Sajan, Bratsk-Ust14*

203

der Rest aus dem Zentrum des Landes sowie aus anderen Unionsrepubliken kam. Viele fanden hier eine neue Heimat. In den 5 Jahren bis Ende 1958 wuchs der urbar gemachte Boden in der Sowjetunion um fast 40 Mill. ha; in Sibirien betrug der Zuwachs der Anbaufläche 9,6 Mill. ha. Das Problem bestand nunmehr darin, dauerhafte Ernteerfolge auf dem neugewonnenen Boden zu sichern. Schwierigkeiten zeigten sich sehr bald beim Einbringen der Ernte unter den Bedingungen des kurzen sibirischen Herbstes. Bei den beschränkten Arbeitskräfte- und Technikreserven waren die Erntemonate eine Zeit äußerster Kräfteanspannung. Die städtische Bevölkerung mußte mithelfen ; an die Arbeitsorganisation wurden hohe Anforderungen gestellt. Besondere Erfolge erreichten die Bauern des Altaigebiets. Vor der Neulanderschließung lieferte dieses Gebiet etwa 50 Mill. Pud Getreide pro Jahr an den Staat; nach 1958 wurden 180 Mill. Pud im Jahr erreicht. Insgesamt stieg die durchschnittliche Getreideproduktion der sibirischen Landwirtschaft im Jahrfünft nach der Neulandgewinnung um das l,8fache. Das war eine gute Grundlage für die Verbesserung des Lebensstandards der Werktätigen. Außerdem wurde mit der Aktion der Neulandgewinnung vor allem die Jugend auf die Bedeutung der Arbeit in Sibirien aufmerksam gemacht. Nach mehr als 20 Jahren, seit dem Bau von Komsomolsk am Amur, war es das erste neue Komsomolaufgebot, dem später Bratsk und schließlich die BAM folgten.

2. Schwerpunkte der industriellen Erschließung An der Wende der fünfziger zu den sechziger Jahren stand die Sowjetunion am Beginn einer neuen geschichtlichen Periode. Vielfaltige Bedürfnisse der entwickelten sozialistischen Gesellschaft widerspiegelten sich in den anspruchsvollen Zielen, die in dem auf dem XXII. Parteitag der KPdSU angenommenen Parteiprogramm fixiert wurden. Kennzeichnend für den vom XXV. Parteitag bestätigten zehnten Fünfjahrplan war die Sorge um die Verbesserung der Standortverteilung der Produktivkräfte. Im Mittelpunkt stand das Wachstum des Wirtschaftspotentials der östlichen Landesteile, besonders Sibiriens, für die eine Steigerung der Industrieproduktion um fast 50 Prozent vorgesehen wurde. Mehr als die Hälfte der größten Objekte des zehnten Fünfjahrplanes befanden sich in Sibirien. Es sind die Produktionskomplexe Orenburg, Westsibirien, Sajan, Bratsk-Ust14*

203

Ilimsk, Südjakutien, der erdölchemische Komplex Tobolsk sowie der weitere Ausbau der BAM. Es war von Anfang an klar, daß es sich um kostspielige Vorhaben handelte (vgl. Tabelle 5). Doch die Dringlichkeit dieser Investitionen ergab sich aus weitsichtigen strategischen Überlegungen.

Tabelle 5 Entfernung einzelner Teile des Hohen Nordens von den wirtschaftlich entwickelten Gebieten Sibiriens

1500—2000 km (südliche Gebiete des Unterlaufs des Jenissei, der Südwesten Jakutiens) 2000— 3000 km (Noriisker Gebiet, der Süden Jakutiens und das Gebiet Magadan 3500—4500 km (Mündungsgebiet der Lena, Küste des Beringmeeres) 5000—6000 km (arktische Küste, kontinentale Gebiete von Tschukotsk und Gebiete an der Jana 6500—7500 km (der Norden Jakutiens, das Gebiet an der Chatanga) über 7500 km (das Gebiet am Olenjok)

Verteuerung der Bauarbeiten im Vergleich zum Durchschnitt in der mittleren Zone Sibiriens

2,5—3mal 3—3,5mal 4—5mal

5—6mal

mehr als lOmal

(Prochorov, B. B., Nekotorye podchody k ocenke regional'nych razlicij v uslovijach truda, otdycha i sostojanija zdorov' ja naselenija, in : Izvestija Sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obscestvennych nauk, vyp. 1, H. 1, 1975, S. 41)

Als Ende der fünfziger Jahre die neue Periode der Entwicklung Sibiriens begann, wurden Veränderungen zuerst auf dem Gebiet der Wissenschaftsorganisation sichtbar. Die Wissenschaften spielten bei der Entwicklung der Produktivkräfte, angefangen von der Planung der neuen Vorhaben bis zu ihrer Realisierung, in Sibirien seit der Oktoberrevolution eine bedeutende Rolle. Gleich nach dem Kriege gehörten geologische Untersuchungen neben Forschungen auf dem Gebiet des Bergbaus und neben ökonomisch-geographischen Studien zu den Schwerpunkten der wissenschaftlichen Arbeit. Eine grundlegende Besonderheit dieser Etappe der Wissenschaftsentwicklung in Sibirien, vor allem verglichen mit der nachfolgenden Zeit, bestand in 204

der Orientierung auf die angewandte Forschung mit relativ übersichtlicher Thematik. Das galt auch für die sibirischen Akademieeinrichtungen . Es gab 4 Filialen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR: die Westsibirische, die Ostsibirische, die Fernöstliche und die Jakutsker. In der Regel erfüllten sie spezifische Forschungsaufträge im Rahmen der im Zentrum ausgearbeiteten Programme. Ein typisches Beispiel für die Art der Forschungsarbeiten sibirischer wissenschaftlicher Institutionen war ihre Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung der Aktion zur Neulandgewinnung. Das große Forschungsprogramm, mit dem sich die Wissenschaftler an dieser Arbeit beteiligten, wurde in Moskau von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und von der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften erarbeitet. Die sibirischen Wissenschaftler bekamen Aufgaben, die dem Charakter ihrer Einrichtungen entsprachen. Dabei spielten Organisation, wissenschaftliche Beratung und Überwachung des Fortgangs der Arbeiten eine große Rolle. 4 Bei den Diskussionen über die Perspektiven der Entwicklung der Produktivkräfte Sibiriens halfen vor allem Wirtschaftswissenschaftler. Bereits im Jahre 1947 fand in Irkutsk eine der ersten Konferenzen statt, die Fragen der Entwicklung und Verteilung der Produktivkräfte Sibiriens erörterte. Ihr folgten Regionalberatungen in Krasnojarsk, Irkutsk, Tschita, Ulan-Ude, Jakutsk und Kysyl. Im Jahre 1958 schließlich trafen sich in Irkutsk erneut Wissenschaftler und Fachleute aus Planung und Produktion, um langfristige Entwicklungslinien für die Produktivkräfte Ostsibiriens festzulegen. Materialien dieser Konferenz dienten als Grundlage für die Pläne der folgenden 20 Jahre. 5 Den Schritt in die „große" Wissenschaft vollzog Sibirien im Jahre 1957. Der Beschluß des Ministerrats der UdSSR über die Bildung der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ging u. a. auf die Initiative einiger bedeutender Wissenschaftler zurück. Zu ihnen gehörten der langjährige Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften, Akademiemitglied M. A. Lawrentjew und die Akademiemitglieder S. L. Sobolew, S. A. Christianowitsch und I. N. Wekua. Dem Plan zur Errichtung der Sibirischen Akademieabteilung lag nicht nur die Idee zugrunde, einige Einrichtungen, die sich mit Sibirien beschäftigten, zusammenzuführen. 4

5

Vgl. Kornilov, L. L., Vklad Akademii nauk v osvoenie celinnych i zalesnych zemel', in: Akademija nauk i Sibir' 1917—1957, Novosibirsk 1977, S. 159—168. Vgl. Orlov, a.a.O., S. 33.

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Das Hauptziel war die Errichtung eines Zentrums für die Grundlagenforschung auf einigen ausgewählten Gebieten. Zugleich stellte sich die junge Schwestereinrichtung der Moskauer Akademie die Aufgabe, durch eine enge Verbindung mit der Volkswirtschaft die schnelle Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Ergebnisse in die Produktion zu erreichen und maßgebend an der industriellen Umgestaltung der sibirischen Regionen teilzuhaben. Das dritte wichtige Tätigkeitsfeld sollte die Ausbildung hochqualifizierter wissenschaftlicher Kader sein. Die Entstehung eines Wissenschaftszentrums im 30 km von Nowosibirsk gelegenen Akademgorodok mit zahlreichen Filialen und Zweiginstitutionen in anderen Städten Sibiriens ist schon oft beschrieben worden. Die Struktur der Wissenschaftszentren entsprach dem Anliegen, die Komplexität zur Grundlage der Erforschung sibirischer Ressourcen zu machen. In Nowosibirsk wurden in kurzer Zeit 23 Institute gegründet. Die hier entstandenen großen wissenschaftlichen Kollektive vereinigten in den seltensten Fällen nur Spezialisten einer Disziplin. Philosophen profitierten von Physikern, Wirtschaftswissenschaftler von Mathematikern, Soziologen von Biologen usw. Die sibirische Wissenschaft erzielte seit Anfang der sechziger Jahre eine Reihe von Erfolgen in der Grundlagenforschung. Hier wurden gleichzeitig jedoch auch neue Wege gefunden, die Erkenntnisse der Wissenschaft in die Produktion zu überführen. Die sogenannten SKB (Spezielle Konstruktionsbüros) erlaubten es, eine Zwischenstufe in der Verbindung der Wissenschaft zur Produktion auszuschalten. Über die Grenzen der Sowjetunion hinaus wurden auch die Methoden der Ausbildung von Kadern für die Wissenschaft bekannt. Besonders beachtet wurde das System zur frühzeitigen Erkennung von Begabungen. Die Errichtung von Spezialklassen bzw. Schulen, an denen Physik, Mathematik, Biologie und Chemie auch von Akademiemitgliedern unterrichtet wurden, die Mitarbeit der Akademieinstitute an den Lehrplänen für die Spezialschulen und schließlich die Gründung der Universität im Nowosibirsker Akademgorodok — das sind die wichtigsten Elemente des genannten Systems. Sie bilden die Garantie für die erfolgreiche Lösung auch der dritten Aufgabe, die die Sibirische Abteilung sich bei ihrer Gründung gestellt hat. Jährlich werden etwa 700 Absolventen der Nowosibirsker Universität in die Reihen der sibirischen Wissenschaftler aufgenommen. 20 Jahre nach Gründung der Sibirischen Abteilung vertreten 48 ihrer Forschungseinrichtungen praktisch alle Grundrichtungen der Natur- und 206

Gesellschaftswissenschaften. In den 5 wissenschaftlichen Zentren — in Nowosibirsk, Tomsk, Irkutsk, Ulan-Ude und Jakutsk — und in zahlreichen Stationäreinrichtungen arbeiten fast 35000 Wissenschaftler.6 Die Arbeit der meisten von ihnen ist ein Beitrag zur industriellen Umgestaltung Sibiriens. Das in kurzer Zeit entstandene mächtige wissenschaftliche Potential bildet eine Voraussetzung und einen Bestandteil der wirtschaftlich-sozialen Veränderungen der sibirischen Regionen. Versucht man die Reihenfolge in der Entwicklung der Industrie festzulegen, so steht die Energetik, und darunter vor allem der Bau von Wasserkraftwerken, mit an vorderster Stelle. Mit der Verwirklichung des Angara-Jenissei-Projekts begann Ende der fünfziger Jahre die intensive Industrialisierung Sibiriens. Das Projekt, das auf die Vorkriegspläne von Akademiemitglied I. G. Aleksandrow und der Professoren N. N. Kolossowski und W. M. Malyschew zurückging, sah vor, auf der Basis der örtlichen Ressourcen Ostsibiriens industrielle Komplexe zu schaffen. Das Projekt rangierte in den großen Volkswirtschaftsplänen unter der Bezeichnung „Zweites langfristiges Investitionsprogramm", woraus ersichtlich wird, daß in der Zeit, die zwischen dem Ural-Kusnezker-Vorhaben der dreißiger Jahre und diesem Projekt lag, keine weiteren Unternehmen dieser Größenordnung in Sibirien verwirklicht bzw. geplant wurden. Von diesem Programm, das das Krasnojarsker und das Irkutsker Gebiet zum Schauplatz einer intensiven Industrialisierung machte und Transbaikalien in ihren Wirkungskreis einbezog, wird noch die Rede sein. Hier soll nur erwähnt werden, daß die Errichtung des Irkutsker Wasserkraftwerkes an der Angara im Jahre 1956 zu den ersten Maßnahmen bei der Realisierung des Projektes gehörte. „Die erste Elektrofabrik an der Angara" nannte man das Kraftwerk. 3 Jahre später entstand weiter westlich das Nowosibirsker Kraftwerk. Es besaß eine geringere Kapazität, gehörte aber zusammen mit dem Irkutsker zu den größten Wasserkraftwerken Sibiriens in den fünfziger Jahren. Fast zur selben Zeit entstanden an der Wolga Kraftwerke, deren Kapazität unvergleichlich größer war. So brachte das Wasserkraftwerk von Kuibyschew eine Leistung von 2300 MW, während das in Nowosibirsk nur 400 MW erzeugte. Aber Sibirien 6

Vgl. Marcuk, G., Sibir' — kraj naucnyj, in: Nauka i zizn', H. 2,1977, S. 4; ders., Naucnyj potencial Sibiri. Kurs — effektivnost', in: Izvestija sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obscestvennych nauk, Nr. 11, vyp. 3, 1977, S. 3 - 6 .

207

brauchte nicht mehr lange zu warten, um den Vergleich mit der Weltspitze auf diesem Gebiet aufnehmen zu können. Im Jahre 1961 wurde die erste Turbine des Bratsker Wasserkraftwerkes an der Angara in Gang gesetzt. Ihre Leistung betrug 225 MW, 3 weitere Generatoren folgten. Die Zeit der Rekorde für die sibirische Elektroindustrie brach an. Das Krasnojarsker Kraftwerk am Jenissei, das nur einige Jahre später entstand, brachte die bis dahin größte Leistung in der Welt — 6000 MW. Kraftwerke von diesem Ausmaß brauchen viel Wasser. Das Bratsker „Meer" hat eine Länge von 550 km. Besonders hervorgehoben werden muß die Tatsache, daß der Arbeitskräfteaufwand in Bratsk geringer als der im Weltmaßstab übliche ist. Nur 160 Arbeiter sind im Einsatz, um 1000 MW Strom zu erzeugen.7 Insgesamt sind die Selbstkosten einer kWh in den sibirischen Wasserkraftwerken dreibis fünfmal niedriger als in den Wasserkraftwerken an der Wolga. Auch der Anteil an der Energieproduktion in der UdSSR hat sich trotz des starken Anstiegs im Landesmaßstab deutlich zugunsten Sibiriens verlagert. 1974 betrug er schon 18 Prozent. Dabei waren die im Bau befindlichen Kraftwerke Ust-Ilim und vor allem SajanSchuschenskoje noch nicht berücksichtigt. Das letztere beschäftigt gegenwärtig nicht nur die sibirischen Projektanten. Die geplante Gesamtleistung soll hier 6400 MW betragen. Schon 1978 begann der erste der 10 Generatoren mit einer Weltrekordleistung von 640 MW die Produktion. Man erinnert sich hier oft an die Zeit nach der Revolution. Im Jahre 1924 beschlossen die Bauern des Dorfes Schuschenskoje, das bis dahin nur als Verbannungsort von W. I. Lenin bekannt war, ihrem weltberühmten Verbannten ein Denkmal zu errichten: Man beabsichtigte, ein Wasserkraftwerk am Jenissei zu errichten. Das Land konnte jedoch damals den Bauern von Schuschenskoje nicht helfen. Sie benötigten für das Kraftwerk eine Turbine von 20 kW Leistung, die zu jener Zeit nicht zur Verfügung stand. Gegenwärtig befassen sich mehrere Leningrader Forschungsinstitute und Betriebe mit der Projektierung und der materiell-technischen Sicherstellung des Sajan-Schuschenskojer Territorialen Produktionskomplexes. Es zeigt sich, daß ohne die wissenschaftlich-technische Revolution an die Realisierung einer solchen Aufgabe nicht zu denken wäre. Die Höhe des Staudammes am Dorf Karlowo soll 240 m betragen. 1,5 Mill. m 3 Beton wurden bei der ersten Baustufe des Staudammes schon verbraucht. Das ist ein Sechstel der geplanten Menge. Dfe Ausrüstung des Kraftwerkes kann nicht am Ort produziert wer7

Vgl. Orlov, a.a.O., S. 22 f., 133 ff.

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den. Die Generatoren, sein Herzstück, von denen jeder fast 2000 t wiegt, kommen aus dem einige 1000 km westlich gelegenen Leningrad. Den Transport dieser Giganten zu sichern, war ein Problem für sich. Es wurden spezielle Lastkähne konstruiert, die auf dem Wege über das Nördliche Eismeer bis zur Jenisseimündung und von dort flußaufwärts bis Karlowo die ungewöhnlich schwere und sperrige Fracht transportieren. 8 Das sibirische Energieprogramm war Voraussetzung für die Umstrukturierung der Industrie. In den Vordergrund der Planung rückten Industriezweige, die besonders energieaufwendig, aber zugleich arbeitskräftesparend sind, so diemoderne Aluminiumproduktion und die Metallurgie. Das erste ostsibirische Aluminiumwerk entstand in Schelechowo, in der Nähe von Irkutsk. Als eines der bemerkenswertesten Ereignisse der sibirischen Industrialisierung wird von den Fachleuten die Errichtung des Krasnojarsker Aluminiumkomplexes eingeschätzt. Es ist einer der größten Betriebe dieses Industriezweigs.9 Die Konzentration auf den Bau der Wasserkraftwerke ergab sich aus den natürlichen Bedingungen Sibiriens. Es schien zunächst, als ob der geplante Bedarf an Elektroenergie auch weiterhin durch den Bau von Wasserkraftwerken gesichert werden könnte. Allein das energetische Potential der Angara und des Jenissei erlaubt es, Wasserkraftwerke mit einer Gesamtleistung von etwa 50000 MW zu errichten. Der Energiebedarf Sibiriens könnte damit vorerst befriedigt werden. Die Vorteile dieser Lösung für die Volkswirtschaft liegen auf der Hand, denn die Methode, mit Wasser Strom zu erzeugen, ist relativ billig. Aber sowohl Wissenschaftler als auch Planungsfachleute warnen vor einer weiteren Schwergewichtsverlagerung zugunsten der Ausnutzung der Wasserkraft. Ihre Argumente beziehen sich auf verschiedene Aspekte. Die Beständigkeit der Leistung der Wasserkraftwerke ist begrenzt, da der natürliche Wasserdruck je nach Jahreszeit unterschiedlich ist. Schon deshalb ist es zweckmäßig, das System der Wasserkraftwerke durch andere Energieproduzenten, z. B. Wärmekraftwerke, zu ergänzen. Es kommt hinzu, daß Staudämme Hindernisse für die Schiffahrt darstellen. Auch würden sich Verluste für die Fischwirtschaft einstellen, vor allem bei den wertvollen 8

Vgl. Grigor'ev,

Ju., S vysokim koefficientom uskorenija, Naucnyj most Lenin-

grad-Sibir'; Krylov 9

S. 33—41. Vgl. Nekrasov, 154.

A., Sajanskij potencia!, in: Nauka i zizn', H. 10, 1977,

N. N., Sibir* segodnja i zavtra, in: Sibirskie ogni, 1974, S. 136—

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Lachsfischen. Der Bau von Stauseen ist mit der Verlagerung ganzer Siedlungen verbunden. Wertvolle Wald- und Ackerflächen gehen dabei verloren. Außerdem handelt es sich um Eingriffe in die Natur, die gravierend sind. Die Wissenschaft kann heute noch nicht alle Nachwirkungen solcher Eingriffe voraussagen und warnt daher vor den Folgen, die noch nicht genügend vorausberechenbar sind. Die Perspektivplanung auf diesem Gebiet sieht deshalb eine Schwerpunktverlagerung vor. In Zukunft werden die Wasserkraftwerke nur ein Drittel der Elektroenergie liefern. Die verbleibenden zwei Drittel werden auf der Basis der Kansk-Atschinsker Kohlevorräte produziert. Dafür sind mehrere Kraftwerke mit einer durchschnittlichen Leistung von 6400 MW geplant. Voraussetzung für die Planung dieses riesigen Brennstoff-Energie-Komplexes sind gesicherte Kenntnisse über den Umfang der Kohlevorräte in diesem Gebiet. Vorläufige Angaben erweisen sich als sehr günstig. Man errechnete, daß bei einer Jahresförderung von einer Md.t die Vorräte im Kansk-Atschinsker Kohlebecken mehr als 100 Jahre ausreichen werden. Diese solide Grundlage erlaubt es, weitergehende Gedanken zur rationellen Ausnutzung der Elektroenergie über den sibirischen Rahmen hinaus anzustellen. Sibirien wird auch in Zukunft der Hauptabnehmer der KanskAtschinsker Elektroenergie bleiben. Aber die Wissenschaftler arbeiten gegenwärtig an der dringenden Aufgabe, technische Lösungen für die Errichtung von Energie-„Brücken" und Leitungen zu entwickeln, die es erlauben, den Strom nach Europa und in die mittelasiatischen Republiken zu leiten.10 Das dritte Investitionsprogramm, das zur Zeit verwirklicht wird, befaßt sich mit der Erschließung der Erdöl- und Gasvorkommen in der westsibirischen Ebene. Voraussagen über die reichen Erdölvorräte in Sibirien wurden schon in den dreißiger Jahren gemacht. Die begründete Annahme, in Sibirien Erdöl zu finden, trug Akademiemitglied I. M. Gubkin auf der Vollversammlung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR am 21. Juli 1931 vor. Der Gedanke fand die Unterstützung des Tomsker Professors M. K. Korowin. Heute führen die Namen der beiden Wissenschaftler die lange Liste derer an, die sich um diese volkswirtschaftlich bedeutende Entdeckung verdient gemacht haben. Von der ersten Erdölfontäne in der Nähe des westsibirischen Dorfes Schaim, die 1960 pro Tag 300 m 3 lieferte, bis zur täglichen Produktion von 500000 t vergingen nur 17 Jahre. In dieser Zeit wurden in Westsibirien 150 Erdöl- und Erdgasquellen ent10

Vgl. Energeticeskaja galaktika K A T E K , in: Nauka i zizn', H. 2,1977, S. 2 0 - 2 5 .

210

deckt. Jede dritte Tonne Erdöl im Lande kam 1976 aus Tjumen. Nach den auf dem XXVI. Parteitag angenommenen Hauptrichtungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der UdSSR für die Jahre 1981 — 1985 und für den Zeitraum bis 1990 soll die westsibirische Erdölförderung 385 bis 395 Mill. t und die Erdgasförderung 330 bis 370 Mill. m 3 erreichen.11 Was bedeuten diese Zahlen? Der hohe Verbrauch von Erdöl gehört heute in der Welt zu den Merkmalen und zu den großen Problemen der modernen Wirtschaft. Die Weltförderung des „schwarzen Goldes" hat Mitte der siebziger Jahre schon 2,5 Md. t überschritten. Die nachweisbaren Erdölvorräte betrugen in den kapitalistischen und Entwicklungsländern insgesamt knapp 70 Md. t (Stand von Anfang 1977), davon lagen knapp 50 Md. t im Nahen und Mittleren Osten. Hinzu kommt, daß gerade die größten Erdölverbraucherländer kaum eigene Vorräte besitzen. Das gilt sowohl für Westeuropa als auch für Japan, nur die USA bildeten zu jenem Zeitpunkt noch eine Ausnahme, allerdings in erster Linie im Hinblick auf die laufende Produktion und weniger hinsichtlich der Ölvorräte. Diese weltwirtschaftlichen Aspekte dürften den Entschluß, die Erschließung des westsibirischen Reservoirs intensiv voranzutreiben, beschleunigt haben. Noch gewichtiger waren die Gründe, die mit der Rohstoffsituation der RGW-Länder zusammenhingen. Es handelte sich um keinen leichten Entschluß, wenn man die Probleme bedenkt, die hier gelöst werden müssen. Die westsibirische Ebene ist ein Waldund Sumpfgebiet von reichlich 2 Mill. km 2 . Das Gebiet bei Samotlor, einer der ergiebigsten Erdölgegenden, besteht zu 60 Prozent aus Sümpfen und zu 20 Prozent aus Seen. Die Dauer der Bausaison beschränkt sich auf die 3 bis 4 Wintermonate. Bei Frost um 40 °C werden zwar Sümpfe zu festem Boden, aber die Bedingungen für die Menschen und die Technik sind um so schwieriger. Das zweite Hindernis besteht in der sehr schwachen Besiedlung des größten Teils des Territoriums. Die Entfernung von den Bezirken, die die Versorgung mit Arbeitskräften und mit Lebensmitteln übernehmen konnten, machte bei den fehlenden Straßen das Projekt zu einer teuren und komplizierten Angelegenheit. Erfindergeist und viel Geld waren für den Straßenbau und das Transportwesen nötig. Beim Bau der ersten Autostraße kostete 1 km fast 11

Vgl. Tichonow, N. A., Die Hauptrichtungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der UdSSR für die Jahre 1981 — 1985 und für den Zeitraum bis 1990, Moskau 1981.

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1 Mill. Rubel. Allmählich wurden Möglichkeiten gefunden, den Dauerfrostboden für den Straßenbau zu nutzen. Die Eisstraßen sind um die Hälfte billiger und können schneller gebaut werden. 12 Selbst das phantastisch klingende Luftkissen- bzw. Luftbrückenverfahren findet schon Anwendung. Die Investitionen für die Entwicklung des westsibirischen Komplexes betrugen im neunten Fünfjahrplan fast 13 Md. Rubel; die Kosten des gesamten Vorhabens waren zu jenem Zeitpunkt noch auf 70 bis 90 Md. Rubel geschätzt. Zum Vergleich kann man erwähnen, daß die gesamten Investitionen bei der Errichtung des Ural-Kusnezker Kombinats etwa 4 Md. Rubel betrugen. Der Anteil Westsibiriens an der Erdgasförderung des Landes war dadurch von 12 Prozent in der Mitte der siebziger Jahre bis 36 Prozent im Jahre 1980 gestiegen. Allerdings brachte diese Verlagerung nicht nur Vorteile, sondern verursachte auch zusätzliche Kosten, da der Großteil der industriellen Verbraucher sich in den westlichen Bezirken der UdSSR bzw. hinter ihrer Westgrenze konzentriert. U m aber das Erdgas in solchen Mengen zu transportieren, mußten neue, wesentlich kostspieligere und materialaufwendigere Verfahren entwickelt werden.

3. Die B A M Die Baikal-Amur-Magistrale ist das vierte und zugleich das bekannteste Investitionsprogramm Sibiriens. Die neuere Geschichte der BAM begann Anfang der siebziger Jahre und erhielt das ihr zukommende Gewicht, als sie im Jahre 1974 zur Komsomolbaustelle erklärt wurde. Doch die Idee dieses Projekts ist viel älter. Wie schon erwähnt, entstanden Ende des vorigen Jahrhunderts zwei Varianten der Strekkenführung der Transsib vom Baikal zum Stillen Ozean. Die nördliche Variante bot viele Vorteile, war aber zu jener Zeit technisch nicht zu bewältigen. Die Transsib wurde in der südlichen Variante fertiggestellt. Aber während der Industrialisierung erinnerte man sich dieser Idee wieder. 1932 wurde die Trassenführung festgelegt, die der heutigen weitgehend entspricht. 1938 wurde die „kleine BAM", eine Verbindung von der Station Bam an der Transsib bis Tynda fertiggestellt. Doch während des Krieges mußte man die Schienen wieder entfernen, da sie an der Front dringend benötigt wurden. Die knapp 3200 km lange Strecke von Ust-Kut bis Komsomolsk 12

Vgl. Smal', G. Jo„ Zdanie kompleksa, in: Nauka i zizn', H. 2, 1977, S. 13—17.

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1 Mill. Rubel. Allmählich wurden Möglichkeiten gefunden, den Dauerfrostboden für den Straßenbau zu nutzen. Die Eisstraßen sind um die Hälfte billiger und können schneller gebaut werden. 12 Selbst das phantastisch klingende Luftkissen- bzw. Luftbrückenverfahren findet schon Anwendung. Die Investitionen für die Entwicklung des westsibirischen Komplexes betrugen im neunten Fünfjahrplan fast 13 Md. Rubel; die Kosten des gesamten Vorhabens waren zu jenem Zeitpunkt noch auf 70 bis 90 Md. Rubel geschätzt. Zum Vergleich kann man erwähnen, daß die gesamten Investitionen bei der Errichtung des Ural-Kusnezker Kombinats etwa 4 Md. Rubel betrugen. Der Anteil Westsibiriens an der Erdgasförderung des Landes war dadurch von 12 Prozent in der Mitte der siebziger Jahre bis 36 Prozent im Jahre 1980 gestiegen. Allerdings brachte diese Verlagerung nicht nur Vorteile, sondern verursachte auch zusätzliche Kosten, da der Großteil der industriellen Verbraucher sich in den westlichen Bezirken der UdSSR bzw. hinter ihrer Westgrenze konzentriert. U m aber das Erdgas in solchen Mengen zu transportieren, mußten neue, wesentlich kostspieligere und materialaufwendigere Verfahren entwickelt werden.

3. Die B A M Die Baikal-Amur-Magistrale ist das vierte und zugleich das bekannteste Investitionsprogramm Sibiriens. Die neuere Geschichte der BAM begann Anfang der siebziger Jahre und erhielt das ihr zukommende Gewicht, als sie im Jahre 1974 zur Komsomolbaustelle erklärt wurde. Doch die Idee dieses Projekts ist viel älter. Wie schon erwähnt, entstanden Ende des vorigen Jahrhunderts zwei Varianten der Strekkenführung der Transsib vom Baikal zum Stillen Ozean. Die nördliche Variante bot viele Vorteile, war aber zu jener Zeit technisch nicht zu bewältigen. Die Transsib wurde in der südlichen Variante fertiggestellt. Aber während der Industrialisierung erinnerte man sich dieser Idee wieder. 1932 wurde die Trassenführung festgelegt, die der heutigen weitgehend entspricht. 1938 wurde die „kleine BAM", eine Verbindung von der Station Bam an der Transsib bis Tynda fertiggestellt. Doch während des Krieges mußte man die Schienen wieder entfernen, da sie an der Front dringend benötigt wurden. Die knapp 3200 km lange Strecke von Ust-Kut bis Komsomolsk 12

Vgl. Smal', G. Jo„ Zdanie kompleksa, in: Nauka i zizn', H. 2, 1977, S. 13—17.

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soll im elften Planjahrfünft zum durchgehenden Zugverkehr übergeben werden. Wenn die BAM oft als die Trasse des Jahrhunderts bezeichnet wird, so geschieht das nicht in erster Linie wegen der Geschwindigkeit, mit der die Strecke gebaut wird. Immerhin wurde schon einmal, um.die Jahrhundertwende, eine Eisenbahn in Sibirien fertiggestellt, wobei jährlich im Durchschnitt 650 km Gleis gelegt wurden. 13 Die Pionierrolle des BAM-Projektes ergibt sich aus anderen Umständen, nicht zuletzt aus der Kompliziertheit der natürlichen Bedingungen im Baugelände.14 Die BAM überquert Gebirgsgegenden auf einer Streckenlänge von etwa 500 km, wobei der höchste Punkt bei 2100 m über dem Meeresspiegel liegt. 3200 Baukonstruktionen, auf jedem Kilometer eine, sind zu errichten, darunter 142 Brücken von über 100 m Länge, zahlreiche Tunnel u. a. Das Gebiet liegt in der Zone des Dauerfrostbodens und ist außerdem noch seismisch gefährdet. 600 km Sumpfland sind zu überwinden, Spezialvorrichtungen zum Schutz vor Lawinen sind zu bauen. Bei der Streckenführung entlang der Flüsse ist zu beachten, daß der Wasserstand der ostsibirischen Bergflüsse bis zu 8 m schwankt. Parallel zum Bau der Strecke muß auch der Städtebzw. Siedlungsbau vorangetrieben werden. Und schließlich kommt noch ein wesentliches Problem hinzu, das in letzter Zeit immer mehr Berücksichtigung findet: Unter den klimatischen Verhältnissen des nördlichen Sibiriens können Eingriffe in die Natur katastrophale Folgen haben. Die Verletzung der Erdoberfläche im Dauerfrostboden kann plötzlich zum Tauen des Eisbodens führen. Es bilden sich Schluchten, Erdspalten und Gruben. Der Zersetzungsprozeß verläuft sehr rasch und führt zur Verwüstung riesiger Landschaften. Damit erscheinen auch die religiösen Gebote der eingeborenen Völkerschaften Sibiriens, die Ackerbau in diesen Regionen strengstens untersagten, heute in neuem Licht. Schwere Erosionserscheinungen, deren Folge die Verwüstung großer Weideflächen ist, können durch unsachgemäße Eingriffe in die Erdoberfläche hervorgerufen werden. Doch nicht nur diese Schwierigkeiten, von denen einige nicht allein für die BAM zutreffen, rechtfertigen die besondere Beachtung für dieses Bauvorhaben. Der Bau der Baikal-Amur-Magistrale ist nur ein Teil eines riesigen Programms zur wirtschaftlichen Erschließung einer fast 1,5 Mill. km 2 umfassenden Region. Es geht um ein Kom13 14

Vgl. die Ausführungen im Kapitel IV. Vgl. Köhler, F., Wende, D., Rendezvous mit der BAM. Die UdSSR mit den Augen des Ausländers, Moskau 1976, S. 6, 8.

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plexprogramm, das man bedingt in 4 Grundbestandteile untergliedern kann: 1. den Bau der Magistrale und anderer Eisenbahnobjekte; 2. die Formierung verschiedener Industriezweige; 3. die Schaffung materiell-technischer Voraussetzungen für den Wohlstand der Bevölkerung; 4. die Sicherung des normalen ökologischen Zyklus in diesem Gebiet.15 Um die Bedeutung des ganzen Programms, das meist als BAMKomplex bezeichnet wird, richtig einschätzen zu können, ist es notwendig, sich die Probleme zu vergegenwärtigen, vor denen Sibirien Anfang der siebziger Jahre stand. Große Erfolge gab es vor allem in den für die Industrialisierung entscheidenden Zweigen. Die Struktur der Industrie begann sich zugunsten der Chemie, der Elektroenergetik und der Buntmetallurgie zu verändern. Optimistisch stimmt auch die Tatsache, daß 90 Prozent des Industriezuwachses durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht wurden. Doch umdieerfolgreiche Entwicklung auch für die Zukunft zu sichern, mußte man die Alarmsignale, die gerade aus den erfolgreichen Industriezweigen kamen, beachten. Die Energetik stand in diesem Zusammenhang an erster Stelle und erwies sich als ein Problem, an dessen Lösung auch heute noch gearbeitet wird. Auf der Basis der über 80 großen Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 25000 MW war das Vereinigte Energiesystem Sibiriens entstanden. Man machte sich Gedanken, wie man hier besonders energieintensive Produktionszweige ansiedeln bzw. die Abgabe des überschüssigen Elektrostroms an andere Teile des Landes technisch lösen könnte. Zu dieser Zeit gab es jedoch in Sibirien noch keine überschüssige Energie. Der für die harmonische Entwicklung der Wirtschaft notwendige Vorlauf der Energetik wurde infolge der stürmischen Entwicklung anderer Industriezweige nicht gesichert. Die Folgen der ungenügenden Koordinierung und des Ressortdenkens waren an verschiedenen Stellen zu spüren. Im Transportwesen sah es so aus, daß es zwar eine moderne, in der Arbeitsproduktivität an vorderster Stelle in der Welt stehende ostsibirische Eisenbahn gab, ihre Arbeit jedoch durch die ungenügende Entwicklung der anderen Transportzweige, beispielsweise des Seetransports, erheblich behindert wurde. Das Problem der Disproportionen, der nichtharmonischen Entwicklung, tauchte auch im Zusammenhang mit der Auswertung der 15

Vgl. Sobolev, Ju., Doroga v buduscee, in: Nauka i zizn', H. 3, 1977, S. 29—32.

214

„Lehren von Bratsk", die nach der Fertigstellung des Objekts auf Initiative von Nowosibirsker Wirtschaftswissenschaftlern vorgenommen wurde, auf. Hier sprach man das Hauptproblem an, das die weitere gleichmäßige Steigerung der Produktion zu gefährden drohte: das Problem der negativen Bilanz der Migration. Die Abwanderung in andere Industriegebiete der UdSSR brachte für Sibirien einen negativen Saldo. Während in der UdSSR insgesamt der Bevölkerungszuwachs von 1959 bis 1974 20 Prozent (von 208,8 auf 250,8 Mill.) betrug, waren es in Sibirien nur 16 Prozent. Diese Zahlen sprechen dafür, daß Sibirien mit den traditionellen Industriegebieten der UdSSR noch nicht mithalten kann. Um die Arbeitskräfte in den neuen Gebieten zu halten, sind große volkswirtschaftliche Investitionen zur Sicherung des Wohnungsbaus, zur Errichtung von Dienstleistungsstützpunkten usw. erforderlich. Eine Analyse durch die von der Regierung eingesetzten Kommissionen hat gezeigt, daß viele Unzulänglichkeiten mit dem Mangel an Koordinierung zusammenhängen. Es wurde eine neue Planungsvariante ausgearbeitet, die bei der Erschließung der Gebiete an der BAM erprobt wird. Von den bis dahin gebauten Territorialen Produktionskomplexen (TPK) unterscheiden sich die Bauten an der BAM vor allem dadurch, daß bei ihnen die Generalplanung ganzer Komplexe, von Industrieobjekten bis zu Schulen, Klubs und Polikliniken, in einer Hand liegt. Der Erfolg hängt davon ab, wie weit dieses Prinzip in der Praxis eingehalten wird. Die einzelnen TPK und Knotenpunkte weisen große Unterschiede auf, die sowohl durch den Stand der Erschließung als auch durch die Naturbedingungen und die wirtschaftliche Spezialisierung bedingt sind. Am weitesten erschlossen sind der Bratsk-Ilimsker und der Komsomolsker TPK. Der Komsomolsker TPK liegt am vorläufigen Endpunkt der BAM und ist schon heute ein Zentrum des Maschinenbaus im Fernen Osten. In nächster Zukunft wird sich hier ein Drittel der Bevölkerung der gesamten BAM-Region konzentrieren. Probleme dieses TPK, dessen Mittelpunkt die Stadt Komsomolsk am Amur bildet, die in den dreißiger Jahren entstand, ähneln den Problemen älterer Industriegebiete in anderen Teilen der UdSSR mehr als denen der benachbarten TPK an der BAM. Der Bratsk-Ilimsker TPK dagegen, dessen „Gründerzeiten" noch sehr frisch in Erinnerung sind, besitzt schon heute den weltweiten Ruf eines im ganzen gut gelungenen Bauexperiments. Diese Erfahrungen werden heute studiert, gewürdigt und mit den nötigen Verbesserungen bei neueren Objekten Sibiriens angewandt. 215

Aber auch über die Grenzen Sibiriens hinaus ist das Interesse der Fachwelt groß. Im Jahre 1973 entstand auf Initiative der UdSSR und der USA sowie mit Unterstützung der Akademien der Wissenschaften weiterer 12 Länder ein Internationales Institut für angewandte Systemanalyse mit dem Sitz in Laxenburg bei Wien. Die Hauptrichtungen seiner Tätigkeit sind: Energieprobleme in Gegenwart und Zukunft; Wasserwirtschaft der Erde; Städte- und Gebieteplanung; Industriesysteme; Biomedizin und Klimatologie; Probleme der Wirtschaftsorganisation- und Leitung u. a. All diese Fragen werden anhand der in den verschiedenen Ländern vorliegenden Erfahrungen bei der Verwirklichung der Programme der Umgestaltung größerer Regionen studiert. Im Jahre 1974 stand das in den USA verwirklichte Tennesseeprogramm als erstes zur Debatte. Es handelte sich um die 1933 mit Unterstützung des Präsidenten F. D. Roosevelt gegründete Tennesseetalverwaltung (Tennessee Valley Authority — TVA), deren Zweck ursprünglich die Wasserregulierung und die Sanierung des Stromgebietes des Tennessee war. Für die Realisierung des Projektes wurden Milliardenbeträge aus dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Es wurden 34 Staudämme errichtet. Hauptabnehmer der in den Wasserkraftwerken erzeugten Elektroenergie wurden die Atomkraftwerke in Oak Ridge und Paducah und die Aluminiumhütten in Alcoa. Als Beispiel für die Verwirklichung eines großen Regionalprogramms in der UdSSR wurde für die Konferenz im März 1976 der BratskIlimsker TPK gewählt. In 19 Referaten berichteten Wissenschaftler aus Moskau, Nowosibirsk, Irkutsk und Bratsk über die Besonderheiten des Planungssystems, über die Planung und Leitung dieses TPK in den verschiedenen Stadien der Verwirklichung des Projektes, über die Aspekte, die bei künftigen ähnlichen Vorhaben Anwendung finden sollen. Besonderes Interesse fanden die Berichte sowjetischer Wissenschaftler bei den Vertretern aus Kanada, Japan, Schottland, dem Iran und Polen, die in ihren Ländern vor ähnlichen Problemen der Erschließung schwach entwickelter Regionen stehen.16 An der BAM sind Gebiete wie Komsomolsk am Amur oder Bratsk zur Zeit noch eine Ausnahme. Gegenden, in denen die Eisenbahn erst die Voraussetzungen für Siedlungen und Industrieobjekte schaffen soll, überwiegen. Große Unterschiede existieren zwischen den einzelnen TPK auch in 16

Vgl. Gukov, V. P., Mezdunarodnaja konferencija po opytu formirovanija Bratsko-Ilimskogo T P K , in: Izvestija sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obscestvennych nauk, vyp. 3, H. II, 1976, S. 167—170.

216

klimatischer Hinsicht. Während der südjakutische TPK wohl kaum mit einem wesentlichen Zuwachs der Bevölkerung rechnen kann, da die klimatischen Verhältnisse extrem menschenunfreundlich' sind, wird der nördlich vom Baikalsee entstehende Komplex ausschließlich auf die Entwicklung des Tourismus orientiert. Dieses Gebiet wird ein Bestandteil des projektierten riesigen Nationalparks um den Baikalsee, dessen Errichtung das Verdienst vieler Organisationen, Institute und einzelner Persönlichkeiten ist, die in jahrelangen Diskussionen um die Erhaltung der Natur am Baikalsee gekämpft haben. Die TPK unterscheiden sich auch in ihrer wirtschaftlichen Spezialisierung. Vom Bratsk-Ilimsker TPK war schon die Rede. 2 große Kraftwerke, 1 Aluminiumwerk, Bergbau- und Metallurgiebetriebe, 1 Holzverarbeitungskombinat usw. sind die vorläufige Bilanz der wirtschaftlichen Erschließung. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität ist hier um das 5fache höher als im Landesdurchschnitt. Zum Komplex gehören 4 neue Städte und 6 Siedlungen mit 400000 Bewohnern. Holzindustrie und -Verarbeitung werden in Zukunft das Gesicht des TPK an der oberen Lena bestimmen. Fast 2 Mill. m 3 Holz im Jahr werden allein Ust-Kut und Tajura liefern. Der südjakutische TPK wird vordringlich erschlossen. Hier entsteht ein Zentrum der Kupferindustrie in Udokan. Die Kupfererzvorräte von Udokan gehören zu den reichsten und ergiebigsten in der Welt. In Udokan wird man sich aber nur auf die Förderung des Kupfererzes beschränken müssen. Das Kupferkombinat wird südlicher liegen, in Gegenden, deren klimatische Bedingungen günstiger sind. Weitere Schwerpunkte sind das Wasserkraftwerk an der Seja, das Zentrum der Brennstoffindustrie am Urgal, die Eisenbahnreparaturwerkstätten von Tynda und schließlich das schon erwähnte Zentrum des Maschinenbaus in Komsomolsk am Amur. Diese Aufzählung erhält nur einige große Objekte. Die Baubedingungen sind in der ganzen BAM-Region sehr ungünstig, daher werden nur solche Industrieobjekte geplant und verwirklicht, deren Errichtung von den volkswirtschaftlichen Interessen des ganzen Landes bestimmt wird bzw. die für die BAM lebensnotwendig sind. Zu solchen Lebensproblemen der BAM-Region gehört die Versorgung seiner Bewohner mit landwirtschaftlichen Produkten. Die Fachleute sind der Meinung, daß selbst bei maximal möglicher Steigerung der eigenen landwirtschaftlichen Produktion die BAM-Region sich nur zu 54 Prozent mit Gemüse und zu 20 Prozent mit Milchprodukten versorgen kann. Es muß folglich nach Wegen gesucht werden, um eine feste Kooperation mit den südlichen Gebieten Sibiriens und des Fernen 15

Thomas, Sibirien

217

Ostens für die ausreichende Lebensmittelversorgung zu nutzen. Von der Lösung dieses Problems hängt weitgehend der Erfolg der Bevölkerungspolitik in der BAM-Region ab. Das „Sibirien der Betriebe" in ein „Sibirien der Menschen" zu verwandeln — mit dieser Losung umschrieben Mitte der siebziger Jahre Journalisten das Problem, das angesichts des relativen Bevölkerungsschwundes für die meisten Großbauobjekte von Westsibirien bis zur BAM-Region besonders akut geworden war. Das System der Entlohnung wurde überprüft. Gegenwärtig beträgt der Durchschnittslohn eines Arbeiters in Sibirien und im Norden das 3fache des Verdienstes, den er in anderen Landesteilen bekommen würde. Doch ist die Möglichkeit eines zusätzlichen Verdienstes nur für alleinstehende junge Leute gegeben. Für Verheiratete mit Kleinkindern besteht, solange das Problem der Vollkomfortwohnungen, Kindergärten, Polikliniken u. ä. nicht gelöst ist, immer noch zu wenig Anreiz, in der Nähe von Großbaustellen seßhaft zu werden. Nach Berechnungen der Wirtschaftswissenschaftler ist jede wirtschaftliche Tätigkeit im Norden 2,5 bis 3mal so aufwendig wie in den übrigen Regionen. Unter extrem harten Bedingungen betragen die Kosten sogar das 6- bis lOfache des normalen Aufwandes. Doch das eigentliche Problem ist auf die Dauer nicht der Kostenpunkt. Untersuchungen von Medizinern ergaben, daß für einige Gebiete der Daueraufenthalt von Menschen aus gesundheitlichen Gründen untersagt werden muß. An der BAM gehört beispielsweise fast das ganze Gebiet im südjakutischen TPK dazu. Auch der Norden der westsibirischen Ebene mit seinen reichen Erdöl- und Gasvorkommen wird dazu gerechnet. 17 Um Mißverständnisse auszuschließen, muß noch einmal betont werden, daß jene Gebiete, um die es zur Zeit geht, zwar das Sibirienbild aus erklärlichen Gründen seit eh und je prägten, aber dennoch nicht zu den für ganz Sibirien typischen gehören. In dem neuen, von Wissenschaftlern ausgearbeiteten Schema für die Unterbringung der Bevölkerung werden an den ersten beiden Stellen Städte mit einer Bevölkerungszahl zwischen 250000 und 500000 bzw. ab 750000 aufwärts genannt. Es sind 11 Städte mit insgesamt 6 Mill. Einwohnern. Es handelt sich dabei ohne Ausnahme um alte Städte. Einige von ihnen werden bald ihr 400jähriges Bestehen begehen. Sie liegen in den Gebieten Sibiriens, die ein gesundes Klima haben und alle Möglichkeiten für eine normale wirtschaftliche und soziale Ent17

Vgl. Barojan, O., akad. A M N SSSR, Vrac na stroitel'stve BAMa, in: Nauka i zizn\ H. 3, 1977, S. 4 2 - 4 7 .

218

wicklung bieten. Es sind die Gebiete, mit denen die Erschließung Sibiriens begann. Die geographische Erschließung, die heute mit den Mitteln der wissenschaftlich-technischen Revolution durchgeführt wird, rückt die Grenze weiter nach Norden vor und erreicht Regionen, die bisher kaum ein Mensch betreten hat. Man versucht z. B. den Fortschritt im Transportmittelbau auszunutzen, um die Entfernung zwischen unwirtlichem Arbeitsplatz und menschenfreundlichem Wohnort zu überwinden. Das ist das Prinzip, das den sogenannten Stützpunktstädten und mobilen Siedlungen zugrunde liegt. Der Nowosibirsker Wissenschaftler W. Gukow beschreibt dieses Prinzip folgendermaßen: „Stützpunktstädte mit 30000 bis 130000 Einwohnern, die 40 bis 50 km entfernt von einem Bergbaubetrieb oder einem anderen Betrieb liegen, der Naturschätze gewinnt. Von dort aus wird jede Schicht mit den örtlichen Verkehrsmitteln zum Arbeitsort gebracht. Liegt das Vorkommen weit weg (80 bis 350 km von der Stützpunktstadt), so wird neben dem Vorkommen eine Schichtsiedlung für 400 bis 900 Einwohner errichtet. Dort gibt es hotelartige Wohnheime, eine Kantine sowie Erholungs- und Sportplätze. Für Bewohner dieser Schichtsiedlungen wird der Arbeitstag auf 10 bis 12 Stunden und die Zahl der aufeinanderfolgenden Arbeitstage auf 7 bis 12 verlängert. Dann folgt eine längere Erholung in der Stützpunktstadt. . . Ein solches Schema der Unterbringung der Arbeitskräfte ist in den Ballungsgebieten der Erdöl- und Erdgasvorkommen am mittleren Oblauf verbreitet, wo Surgent, Nishnewartowsk und Jushny Balyk als Stützpunktstädte dienen. Mobile Siedlungen sind in der Regel für die Geologen und Bauleute bestimmt und zählen 3000 bis 5000 Einwohner. Im Unterschied zu den Schichtsiedlungen sollen hier die Menschen das ganze Jahr über wohnen. Solche Orte entstehen dann, wenn es in der Nähe keine Basis- und Stützpunktstädte gibt, so wie beispielsweise an der BAMTrasse." 18 Der andere Aspekt, der beachtet werden muß, ist das Problem der Adaption des menschlichen Organismus. Es geht nicht darum zu prüfen, ob Taiga- und Tundravölker, die in diesen Gegenden zu Hause sind, hier auch weiter leben können. Allein mit ihnen ist aber die industrielle Erschließung der Nordgebiete nicht möglich. Es müssen also Bedingungen geschaffen werden, die zumindest zeitweilig für 18

15*

Gukov, V. P., Städte — maßgeschneidert, in: horizont, Berlin, Nr. 22, 1977, S. 10; vgl. auch Orlov, B. P., Voprosy retrospektivnogo analiza ekonomiceskogo razvitija Sibiri, in: Izvestija sibirskogo. . ., H. 11, 1977, S. 86 ff.

219

Tabelle 6 Zeitliche Dauer verschiedener Lufttemperaturen im Krasnojarsker Krai (in Stunden): Meteorologische Stationen

Kap Tscheljuskin K a p Kosisty Dudinka Igarka Kasazinskoje Krasnojarsk Krutoj povorot

Dauer von Lufttemperaturen unter - 1 0 Grad

—30 Grad

5080 4980 4360 3940 2600 2090 2040

1250 1900 1200 1050 380 220 40

(Prochorov, B. B., Nekotorye podchody k ocenke regional'nych razlicij v uslovijach truda, otdycha i sostojanija zdorov'ja naselenija, in: Izvestija Sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obscestvennych nauk, vyp. 1, H. 1,1975, S. 42)

Menschen, die bis dahin in anderen Breitengraden lebten, verträglich sind. Was die Taiga- und Tundravölker betrifft, so bringt ihnen der neue Industrialisierungsschub zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten, die aber mit tiefgreifenden Umstellungen ihrer Lebensweise verbunden sind. Die moderne Industrie lockt vor allem die Jugend, die traditionellen Gewerbe aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. Doch die Bindungen zur Taiga und zum eigenen Dorf sind noch so stark, daß Konflikte zu erwarten sind. Am besten verläuft die Umstellung dort, wo die Betriebsleitung sich bewußt auf die Eigenart dieser Arbeiter einstellt. Sobald z. B. die Jagdsaison beginnt, gewährt man in vielen Großbetrieben an der BAM den ehemaligen Taigajägern einen mehrwöchigen Urlaub. Sie ziehen meist in ihre Heimatorte und verbringen die Zeit in der Taiga. Damit sind zwar noch nicht alle Probleme gelöst, aber die Berücksichtigung der Besonderheiten der bisherigen Lebensweise scheint ein Weg zu sein, der nicht allein bei den Taigavölkern Erfolg verspricht. Auf neue Weise stellt sich auch das Umweltschutzproblem bei der gegenwärtigen Erschließung Sibiriens. Deutlich wird das beispielsweise am Wasserproblem. In Sibirien befinden sich vier Fünftel der Trinkwasservorräte der Sowjetunion. Die Gesamtlänge der sibiririschen Flüsse beträgt 954000 km. Es gibt hier ungefähr 1100000 220

Seen, die Berggletscher und Firnansammlungen enthalten mehr als 100 Md. t Trinkwasser. Noch vor nicht allzu langer Zeit betrachtete man diesen Wasserreichtum vorwiegend unter der Möglichkeit, die er für die Entwicklung der Industrie bietet. Aber Anfang der siebziger Jahre kamen aus dem Ausland die ersten Alarmsignale. Der Trinkwassermangel wurde als ein akutes Weltproblem erkannt. Trinkwasser wird heute bereits exportiert. Kanada verkauft Wasser an die USA, Norwegen an Holland. In Sibirien setzt sich die neue Einstellung zum Wasser langsam und nicht ohne Konflikte durch. Im Falle des Baikalsees scheint man eine Lösung gefunden zu haben. 1972 unterzeichneten die UdSSR und die USA ein Memorandum über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Das gemeinsame Forschungsprogramm sieht u. a. die Entwicklung einer optimalen Technologie für Reinigungsanlagen vor, die zunächst an den nordamerikanischen großen Seen und am Baikalsee entstehen sollen. Auch das ist nur ein Anfang. Die Industrieentwicklung gerät heute immer mehr in Konflikt mit dem Umweltschutz. Die Gefahr ist aber zumindest schon erkannt. Bis jetzt war viel von Problemen die Rede, mit dem der industrielle Aufschwung in Sibirien verbunden ist, aber auch davon, was dieser Aufschwung für Sibirien bedeutet. Was bringt aber die sibirische Industrialisierung der Sowjetunion, was bringt sie der Welt? In den Jahren von 1961 bis 1975 wuchs der Umfang der Industrieproduktion in Westsibirien um das 3,4fache, in Ostsibirien um das 3,8fache, in der UdSSR insgesamt um das 3,2fache. Dementsprechend erhöhte sich der Anteil Sibiriens von 7,6 Prozent im Jahre 1960 auf 8,3 Prozent im Jahre 1974. Noch wesentlicher ist die Anteilverschiebung in den einzelnen Industriezweigen, die in den letzten Jahren zu Schwerpunkten der sibirischen Produktion geworden sind. Bei der Erdölförderung z. B. erhöhte sich der Anteil von 8,2 Prozent 1970 auf 23,7 Prozent 1974.19 Bis 1990 ist eine beträchtliche Erhöhung des Anteils vor allem östlicher Gebiete am Rohstoffexport der UdSSR geplant. Unter den kapitalistischen Exportpartnern wird voraussichtlich Japan eine besondere Rolle spielen. Schon jetzt beteiligt es sich an der Förderung der jakutischen Steinkohle. Die japanischen Firmen gewährten der UdSSR einen Kredit von 450 Mill. Dollar und lieferten im Rahmen dieses Kreditabkommens Spezialausrüstungen, die der beschleunigten Erschließung der jakutischen Vorkommen von 19

Vgl. Orlov, a.a.O., S. 87f.

221

Tabelle 7 Voraussichtlicher Anteil des BAM-Einzugsgebietes und anderer östlicher Bezirke am Export der UdSSR (in Prozent):

Eisenerz Kohle Holz Holzabfallprodukte Zellulose Asbest

BAM

östliche Bezirke

10 18,5 24,5 6,5 45,5 6,4

keine Angaben keine Angaben 57 31 91 keine Angaben

(Slyk, N. L., O soversenstvovanii mezrajonnych i eksportnych svjazej Dal'nego Vostoka, in: Izvestija Sibirskogo otdelenija Akademii nauk SSSR, serija obscestvennych nauk, vyp. 3, H. 11, 1975, S. 50—57)

Nerjunga dienen. Darüber'hinaus finanziert Japan einige geologische Arbeiten und beteiligt sich an der Industrialisierung der Insel Sachalin.20 Große Potenzen besitzt Sibirien, auch im Rahmen der sozialistischen Integration. Seine Beteiligung an der Verwirklichung des Komplexprogramms der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe verläuft in zwei Hauptrichtungen: 1. Direkte Lieferungen von Erzeugnissen aus der spezialisierten Produktion führender Industriezweige Sibiriens in die RGW-Länder. Es handelt sich dabei in erster Linie um Erzeugnisse der Buntmetallurgie, der Holz- und Holzverarbeitungsindustrie sowie um Produkte der Brennstoff- und Energiekomplexe. In den letzten Jahren erweiterten sich die Exportlieferungen des metallintensiven Maschinenbaus aus Nowosibirsk, Tomsk, Barnaul, Krasnojarsk und Irkutsk. Als Hauptlieferanten treten dabei Großbetriebe auf, die zu den entstehenden TPK Sibiriens gehören, darunter der forstwirtschaftliche Komplex Bratsk, die Aluminiumwerke in Bratsk, Krasnojarsk und Irkutsk, das Norilsker Bergbau- und Eisenhüttenkombinat, die führenden Betriebe der Erdöl- und Erdgasindustrie des TPK Ob-Irtysch und viele andere. 2. Steigerung der Lieferung von Roh- und Brennstoffen durch die Wirtschaftsregionen Sibiriens in den europäischen Teil der UdSSR, 20

Vgl. Sobolev, Ju., a.a.O., S. 30; V interesach SSSR i Japonii, in: Literaturnaja gazeta, v. 12. 2. 1975.

222

die eine notwendige Grundlage für die Erhöhung der entsprechenden Exporte des europäischen Teils der UdSSR in die RGW-Länder bilden. An mehreren RGW-Vorhaben in Sibirien ist auch die DDR beteiligt. Die bekanntesten davon sind der Bau der Erdgasleitung Orenburg — Westgrenze der UdSSR sowie der Aufbau des Zellstoffwerkes in Ust-Ilim. Eine große Rolle spielen die Importe aus Sibirien bei der langfristigen Sicherung der Rohstofflmporte, die von der DDR besonders seit dem IX. Parteitag der SED angestrebt wird.21 Die BAM, die Erschließung der westsibirischen Ebene und andere Projekte sind gewaltige Unternehmen, die erst im Entstehen begriffen sind. Doch schon sind 3 weitere umfangreiche Investitionsprogramme im Gespräch, die den Ausbau der pazifischen Küste, die Erschließung des Hohen Nordens und die Kooperation mit den mittelasiatischen Republiken zum Inhalt haben. Die Erfahrungen der BAM werden sicherlich dazu genutzt, werden sich zum Teil aber auch als bereits überholt erweisen. Die Suche nach neuen Wegen ist ein Merkmal der gegenwärtigen Entwicklung Sibiriens.

21

Vgl. Schürer, G., Die Energie- und Rohstoffbasis unseres Landes stärken, in: Einheit, H. 12, 1978, S. 1249.

Zeittafel

1. Jahrtausend v. u. Z. 3. Jh. v. u. Z. bis 73 u. Z. 11. bis 13. Jh. Anfang des 13. Jh. 2. Hälfte des 14. Jh. 1380

Anfang des 15. Jh. 1552 1579-1584 1598 Ende des 16. Jh.

Anfang des 17. bis Anfang des 18. Jh.

Erste türkische Steppenstaaten auf dem Territorium Sibiriens Herrschaft des Hunnenreiches in Zentralasien Erste Staaten am Amur und an der Pazifikküste Entstehung des Mongolischen Weltreiches unter DschingisChan (Goldene Horde) Beginn des Zerfalls der Goldenen Horde Sieg des russischen Heeres unter Dmitri Donskoi über die Tataro-Mongolen in der Schlacht auf dem Kulikowo-Feld Entstehung des Chanats Sibir Zerschlagung des Chanats Kasan durch den russischen Staat Feldzüge Jermaks jenseits des Ural. Beginn der ersten Etappe der Kolonisation Sibiriens Endgültige Zerschlagung des Chanats Sibir Gründung der ersten westsibirischen Städte durch Kosakentrupps 1586 — Tjumen 1587 - Tobolsk 1593 — Berjosow 1594 — Surgut, Tara 1596 — Narym Angliederung Ostsibiriens an das Russische Reich. Anfange der Bauernkolonisation. Zweite Etappe der Kolonisation Gründung der ostsibirischen 1619 — Jenisseisk 1628 — Krasnojarsk 1630 - Ilimsk

224

Städte 1631 — Bratsk 1632 — Jakutsk 1661 - Irkutsk

1637 1648-1651 1655 1701 1708 Anfang des 18. Jh. 1720-1727 1722 1725-1730 Zwanziger bis neunziger Jahre des 18. Jh. 1733-1743 1773-1775 1819-1822

1825

1849-1855 Fünfziger Jahre des 19. Jh. 1851 1858 1860 1861 1866

1888 1891 1896-1914 1897-1900 U m 1900

Bildung des Sibirischen Prikas Erfolgreiche Umschiffung des Nordostendes von Asien durch den Kosaken Deshnjow Kosakenaufstand in Wercholensk Fertigstellung des „Kartenbuch Sibiriens" von Remezow Bildung eines Sibirischen Gouvernements mit Zentrum in Tobolsk im Ergebnis der Verwaltungsreform Entstehung der ersten metallurgischen Betriebe im Altaigebiet und in Ostsibirien D. G. Messerschmidt bereist Sibirien im Auftrag Peters I. Aufstand in Tara Erste Kamtschatka-Expedition unter der Leitung von Vitus Bering Bauernkolonisation nach dem Südwesten und Süden Sibiriens. Dritte Etappe der Kolonisation Große Nordische Expedition (Zweite Kamtschatka-Expedition) Bauernaufstände u. a. in Jalutorowsk, Tjumen und Tura als Widerhall des Bauernkrieges unter Führung von J. Pugatschow Reformen von M. M. Speranski. Durch einen Erlaß werden die Verhältnisse der Nichtrussen, insbesondere auch die der Nomadenvölker geregelt; die ersten Schulen werden eingerichtet 14. 12. Dekabristenaufstand. Seine Führer werden 1826 hingerichtet, andere Teilnehmer und Anhänger der Bewegung nach Sibirien verbannt Amur-Expedition unter Leitung von G. I. Newelskoi Angliederung des Priamurje-, des Ussurigebietes und der Insel Sachalin an das Russische Reich Gründung der Sibirischen Abteilung bei der Russischen Geographischen Gesellschaft Vertrag von Aigun zwischen Rußland und China Gründung der Stadt Wladiwostok Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Bürgerliche Reformen 25. 6 . - 2 5 . 7. Krugobaikaler Aufstand polnischer und russischer politischer Verbannter Gründung der ersten sibirischen Universität in Tomsk Beginn des Baus der Großen Transsibirischen Eisenbahn von Tscheljabinsk nach Wladiwostok Umsiedlung von mehr als 4 Mill. Bauern aus Zentralrußland nach Sibirien W. I. Lenin in sibirischer Verbannung Entstehung der ersten marxistischen Gruppen in Sibirien

225

Ende 1902/ Anfang 1903 Juli 1903 1904/05 1905/07 1905

Übergang der sibirischen sozialdemokratischen Organisationen auf die Leninsche „Iskra"-Position Erste Konferenz des „Sibirischen Bundes" der S D A P R Russisch-japanischer Krieg Erste bürgerlich-demokratische Revolution in Rußland 13. 8. Friedensvertrag von Portsmouth zwischen Rußland und Japan 1 7 . - 2 4 . 10.

Dezember 1905 bis J a n u a r 1906 April 1912

Generalstreik an der Transsib Bewaffnete Aufstände der Arbeiter in Krasnojarsk und Tschita Blutbad unter den Arbeitern an der Lena. Beginn eines neuen revolutionären Aufschwungs im ganzen Land

August 1914 1917

Beginn des ersten Weltkrieges 27. 2. Bürgerlich-demokratische Februarrevolution 1 6 . - 2 4 . 10. 1. Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. Bildung des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets Sibiriens (Zentrosibir) 25. 10. Bewaffneter Aufstand in Petrograd. Sturz der Diktatur der Bourgeoisie. Errichtung der Diktatur des Proletariats 29. 1 0 . - 2 2 . 12. Errichtung der Sowjetmacht in Krasnojarsk, Wladiwostok, Omsk, T o m s k , Chabarowsk, Irkutsk, Nishneudinsk 2. 11. Deklaration der Rechte der Völker Rußlands 3. 11. A u f r u f der Sowjetregierung „ A n die werktätigen Muselmanen Rußlands und des Ostens"

1918

26. 1. Auflösung der reaktionären Sibirischen D u m a der Oblastniki in Tomsk 1. 2. Einführung des Kalenders neuen Stils 1 6 . - 2 6 . 2. II. Gesamtsibirischer Sowjetkongreß in Irkutsk. N e u e Zusammensetzung des Zentrosibir 5. 4. Landung japanischer Truppen in Wladiwostok. Beginn der ausländischen Intervention im Fernen Osten Ende April Errichtung der Sowjetmacht in Burjatien

226

29. 6. Konterrevolutionärer Umsturz in Wladiwostok 30. 6. Bildung der konterrevolutionären „Provisorischen Sibirischen Regierung" in Omsk 1. 7. Errichtung der Sowjetmacht in Jakutsk 3. 8. Offizielle Erklärung der USA-Regierung über die Teilnahme an der Intervention im Fernen Osten 2 8 . 8.

Konferenz der Vertreter des Partei- und Staatsapparates Sibiriens in Urulga. Auflösung des Zentrosibir und Übergang zu illegalen Kampfmethoden 17/18. 1919

Omsk wird zum Sitz der Koltschakregierung 14.11. Zerschlagung der Koltschaktruppen in Omsk Dezember Errichtung der Sowjetmacht im Altaigebiet 15. 12. Aufstand gegen die Koltschaktruppen in Jakutsk. Befreiung von Irkutsk

1920

1921 1922

1923 1924

15. 3. Machtübernahme durch das Provisorische Revolutionskomitee in Jakutsk 6. 4. Bildung der Fernöstlichen Republik 26. 8. Beginn der Konferenz von Dairen 16.2. Gründung der Jakutischen ASSR 25. 10. Zerschlagung der Truppen der Weißgardisten und Interventen in Wladiwostok 14. 11. Errichtung der Sowjetmacht in der Fernöstlichen Republik 15. 11. Dekret der Sowjetregierung über die Einbeziehung der Fernöstlichen Republik in die RSFSR 30.5. Gründung der Burjat-Mongolischen ASSR Juni Bildung des „Komitees zur Unterstützung der Völkerschaften der nördlichen Randgebiete" (Nordkomitee)

227

1927 - 1 9 3 0 1929 1932 1933 1934 1941 — 1945 1941 — 1942 1942 1945

1946

1954

1956 1957 1960 1961 1971

1974

1976

1981

228

Bau der Turksib Konflikt an der Ostchinesischen Bahn Entstehung der zweiten Kohle-Metallurgie-Basis im Kusbass. Fertigstellung des ersten Produktionsabschnittes Errichtung der Stadt Komsomolsk am Amur Gründung der Stadt Norilsk Großer Vaterländischer Krieg der Sowjetunion Evakuierung von 322 Großbetrieben aus den westlichen Gebieten des Landes nach Sibirien Inbetriebnahme des Altaier Traktorenwerkes 8.8. Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan Ende August Befreiung Nordkoreas von der japanischen imperialistischen Herrschaft 2. 9. Kapitulation Japans 18. 3. Annahme des Gesetzes „Über den Fünfjahrplan zur Wiederherstellung und Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1946—1950" durch den Obersten Sowjet der UdSSR 2. 3. Beschluß des Plenums des Z K der KPdSU „Über die weitere Erhöhung der Getreideproduktion und die Erschließung von Neu- und Brachland" Errichtung des Irkutsker Wasserkraftwerkes an der Angara Gründung der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Nowosibirsk Beginn der Erdölförderung in Westsibirien Inbetriebnahme der ersten Turbine des Bratsker Wasserkraftwerkes 30. 3 . - 9 . 4. XXIV. Parteitag der KPdSU. Annahme der Direktiven für den neunten Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1971-1975 Mai Baubeginn an der Eisenbahnlinie „Baikal-Amur-Magistrale" (BAM) 24. 2 . - 5 . 3. XXV. Parteitag der KPdSU. Bestätigung der „Hauptrichtungen der Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR 1976—1980" Annahme des Dokuments „Die Hauptrichtungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der UdSSR für die Jahre 1981-1985 und für den Zeitraum bis 1990 auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU.

Personenregister*

Aleksandrow, I. G. (Naturwissenschaftler) 207 Aleksandrow, W. A. (Historiker) 31 Alexander III. 70, 83 Asimät 6 Attila 4 Awwakum 39 Babuschkin, I. W. 111,113 Bachruschin, S. W. 12 Baltachinow, P. S. 153 Barkan 10 Batenkow, G. 73—76 Bering, Vitus 44—46, 226 Bestushew-Marlinski, A. 78 Billings, J. 50 Biron, G. 26 Blücher, W. K. 158, 176 Bogoras-Tan, W. G. 183, 187 Brusnew, M. 105 Burow, W. I. 158 Buturlin, S. A. 183 Chabarow, J. 23 Chorvat, L. S. 145 Christianowitsch, S. A. Crusoe, Robinson 43

205

Defoe, D. 43 Deitsch, L. 105 Delisle de la Croyere 10 Dementjew 46 Denikin, A. I. 146—147 Derber, P. J. 126, 1 4 3 - 1 4 5 Deshnjow, S. 11,42,226 Diterichs 158 Dmitri 25 Dolgorukow, A. G. 25—26 Donskoi, D. 5, 225 Dostojewski, F. 81 Drisdell, Walter 140 Dschingis-Chan 4—6, 128, 225 Dutow, A. I. 150 Dzierzynski, F. 105, 167 Eiche, G. Ch. 150 Enukidse, A. S. 164 Falk, I. P. 50 Fischer, J. G. 10-11,47-48 Flug, W. E. 138 Frunse, M. W. 148 Gagarin, M. Gaida, G. P.

38 142

* Die Vornamen bzw. Initialen der im Register aufgenommenen Personen konnten nicht in jedem Fall ermittelt werden. Die Schreibweise der russischen Namen erfolgte in der Steinitzschen Transkription.

229

Gamow, I. M. 127 Gapejew, A. A. 136 Georgi, 1.1. 50 Glebowski 40 Gmelin, J. G. 10—11,47,49 Godunow, Boris 21 Goloschtschekin, F. I. 116, 149 Golowin, P. P. 34 Goltz, v. d. 148 Gorjuschkin, L. 62, 98, 101 Gorlanow 10 Gorlow, N. P. 75 Gubelman, M. I. 158 Gubkin, I. M. 210 Gukow, W. P. 219 Gukowski, G. 105 Haywood, Bill 168 Herzen, A. 82 Isbrandt Ides 43 Iwan III. 17 Iwan IV. 18, 20 Iwanow, A. (Landvermesser) Iwanow, L. (Student) 10

10

Jachontow 10 Jadrinzew, N. M. 85 Jakowlew, A. (Flugzeugkonstrukteur) 192 Jakowlew, N. N. (Revolutionär) 118, 132 Jakuschkin, I. 80 Jaroslawski, J. M. 120, 128, 183 Jediger 6 Jermak 1,7,18-20,225 Jewreinow 44 Judenitsch, N. N. 146, 148 Kalandaraschwili, N. A. Kalinin, M. I. 164 Kappel, W. O. 151 Katharina II. 70 Kennan, George 60, 68 Kerzeiii, S. W. 183

230

149

Kirilow, F. 49 Kolossowski, N. N. 207 Koltschak, A. W. 129, 145-152, 161, 179, 228 Kolzo, I. 20 Komarow, W. L. 197 Kon, F. J. 105, 183 Kopylow, A. N. 28 Kornilow, L. G. 138 Korolenko, W. 83 Korowin, M. K. 210 Kossarew, W. M. 118 Közü Chan s. u. Kutschum Krascheninnikow, S. 10— 11, 48 Krasnoschtschekow, A. M. 155, 157 Krassilnikow 10 Krassin, L. 105 Kropotkin, P. 38, 83 Krshishanowski, G. M. 107—108 Krupskaja, N. K. 105 Kuibyschew, W. 120, 169 Kurnatowski, W. K. 107 Kutschum = Közü Chan 6—7, 19-20 Lagus, W. 48 Lansing, R. 140 Laptjew, D. 45 Laso, S. G. 1 4 9 , 1 5 4 - 1 5 5 Lassenius 45 Lawrentjew, M. A. 205 Laxmann, Erik 48 Leibniz, Gottfried Wilhelm 44 Lengnik, F. W. 107 Lenin, W. I. 52, 6 5 - 6 6 , 75, 8 9 - 9 0 , 92, 95, 101, 105-108, 111, 113 116-118, 120, 123, 130-132, 1 3 6 - 1 3 8 , 141, 148, 160, 1 6 4 - 1 6 5 , 167-169, 171, 181, 208, 226 Lepeschinski (Ehepaar) 107 Lepjochin, 1.1. 50 Lesnoi, J. 54 Liebknecht, Karl 1 3 1 - 1 3 2 Lindenau, Jakob 10, 47—48 Lomonossow, M. W. 49—50

Loris-Melikow, I. G. 91 Lunatscharski, A. W. 183 Lursenius 10 Lushin 44 Luzki, A. N. 155 Lykow, B. 36 Maiski, I. M. 168 Makari 112 Malygin 45 Malyschew, W. M. 207 Mandelschtam, M. 105 Martens, L. K. 154 Maslennikow, A. A. 149 Meller-Zakomelski, A. N. 113 Menschikow, A. D. 25 Merkulow (Gebrüder) 157 Messerschmidt, Daniel Gottlieb 8—9, 226 Miller, E. K. 147 Moltschanow 158 Moskwitin, I. 23 Müller, G. F. 9 - 1 2 , 4 6 - 4 9 Murawjow (Expeditionsleiter) 45 Murawjow, N. (Dekabrist) 74 Murawjow-Apostol, M. (Dekabrist) 80 Murawjowa, A.

76

Nansen, Fridtjof 91 Napoleon 70 Netschkina, M. W. 77 Newelskoi, G. I. 226 Nikolaus I. 75 Nikon 39 Nogin, W. G. 116 Nowoselow, A. 144 Odojewski, A. 76,81 Ogarjow, N. P. 82 Ordshonikidse, S. 120, 128 Ostermann, A. I. 26 Owzyn 45 Palizyn, A. 22 Pallas, P. S. 50

Pamin, N. N. 107 Pawlow 45 Penda (oder Pjanda), P. 22 Pepeljajew, A. N. 150, 178 Pepeljajew, W. N. 151, 179 Pestel, I. (Generalgouverneur) 71 —72 Pestel, P. I. (Dekabrist) 74 Peter I. 8 - 9 , 25, 30, 37, 40, 4 2 - 4 5 , 226 Peter III. s. u. Rjabow, G. Petrowski, G. I. 117,128 Pichon, J. 138 Plechanow, G. W. 105 Pojarkow, W. 23 Pokryschkin, A. N. 190 Popow (Student) 10 Popow, A. u. F. (Kaufleute) 54 Popow, F. (Kosak) 42 Postychew, P. P. 149 Potanin, G. M. 109 Prontschischtschew 45 Pugatschow, J. 41—42,226 Puschkin, A. S. 76 Puschtschin, 1.1. 76 Radischtschew, A. A. 18,69—70 Radioff, Wilhelm 5, 7, 187 Rainitsch, S. 105 Rakitin 38 Rasin, S. 41 Rastoptschin, F. W. 75 Remesow, S. U. 18 Remesow, Vater u. Sohn (Kartographen) 42,226 Rennenkampf, P. K. 113 Rjabow, G. = Peter III. 41—42 Rogowitsch, G. 17 Roosevelt, F. D. 216 Rutgers, S. J. 1 6 8 - 1 6 9 Safjanow, I. G. 130 Saltykow, F. S. 44 Sarytschew, G. A. 50 Schestakow 65 Schirjamow, A. A. 151

231

Schumjazki, B. S. 121 Schwarzmann, D. M. 116 Semaschko, N. A. 183 Semjonow, G. M. 132 Seryschew, S. M. 158 Sholokow, A. 38 Shuratow 45 Sibirjakow, A. 104 Sibirzew, W. 155 Skalon, A. 42 Slowzow, P. A. 18, 70 Smidowitsch, P, G. 183 Smith 157 Sobolew, S. L. 205 Soimonow, F. I. 27 Solowjow 152 Sommers 140 Sotnikow, A. A. 125 Spanberg, Martin 45 Spandarjan, S. S. 116 Speranski, M. M. 7 2 - 7 3 , 75, 226 Stachejew 100 Staduchin, M. 23 Stalin, J. W. 116 Stassowa, E. D. 116 Steller, G. W. 10, 49 Sternberg, L. J. 183, 187 Stolypin, P. A. 86,95,115 Strahlenberg = Tabbert 9 Stroganow 18—20 Sujew, W. F. 50 Swerdlow, J. M. 116,120 Tabbert s. u. Strahlenberg Tatischtschew, W. N. 49

232

Tjufin 68 Tretjakow 10 Troizki, S. M. 47 Trotzki, L. 171, 173 Trubezkaja, E. 76 Tschapajew, W. 148 Tscheljuskin 45 Tschernjawski, U. 196 Tschernyschewski, N. G. 82 Tschetin 10 Tschiang Kai-schek 176 Tschirikow, A. 45—46 Uljanowa-Jelisarowa, A. I. Ungern-Sternberg 157 Uschakow 10 Uspenski, P. 142 Wassili III. 17 Weinbaum, G. S. 132 Wekua, I. N. 205 Weselowski, W. 105 Wilson, T . W . 139 Witsen, N. A. 43 Witte, S. J. 87 Wojnicz, M. 105 Wolkonskaja, M. 76, 78 Wologodski, P. 144-146 Wostrotin, S. W. 91 Wrangel, P. N. 154 Wtorow 100 Zibulski

104

Abb. 1

Der Kreml von Tobolsk, errichtet 1 7 1 4 - 1 7 1 7

Abb. 2

Steppenfahrt

Thomas, Sibirien

Abb. 3 Primitive Methoden der Goldgewinnung in Bodaibo um Jahrhundertwende Abb. 4

Schuschenskoje. Memorial „Lenin in der Verbannung"

die

Abb. 5

Lenins Arbeitsplatz im Museum Sehuschenskoje

Abb. 6

1. Mai 1917 in Wladiwostok

Abb. 7

Stab japanischer Truppen in Wladiwostok 1918

Abb. 8

Sergei Laso — Führer der fernöstlichen Partisanen

A b b . 9 Region Altai 1919. P a r t i s a n e n des D o r f e s S i m o n j e n e b e n der selbstgebauten Kanone A b b . 10 N i e d e r s c h l a g u n g der K o n t e r r e v o l u t i o n — T r o p h ä e n des Sieges über Koltsehak

'iiiumas,

Sibirien

Abb. 11

Koltschakminister vor Gericht

Abb. 12

Burjatische Siedlung 1928

Abb. 13

Ein Chante vor der Sommerbehausung

Abb. 14

Schule in Obdorsk

Abb. 15

Die erste ostjakische Fibel

A b b . 16

E i n w e i h u n g eines n e u e n S t r e c k e n a b s c h n i t t s der T u r k s i b 1929

A b b . 17

Auf einem Kolchosfeld I93(i in Ostsibii ien

Abb. 18

Komsomolsk am Amur 193G

Abb. 19

Komsomolsk am Amur 1968

Abb. 20

Soldaten zweier Generationen

Abb. 21

Medizinische Hochschule Omsk 1954

Abb. 22 Palast der Jungen Pioniere Irkutsk

Abb. 2.'i

Norilsk nach einem Schneesturm

Abb. 24

Der „ K r i e g " - Linolschnitt von E. S. Siwzew 1966

Abb. 25 Kunsttradition und neue K u n s t — Linolschnitt von W. R. Wasiljew 1967

A b b . 2(i

S i e d l u n g T o m p o im N o r d e n J a k u t i e n s 1!H>8

A b b . 27

Die P o s t k o m m t

A b b . 28

Am Fluß Wiljui

Abb. 29

K a m t s c h a t k a — Ein Bad im Winter

Abb. 30

Jakutiens Ballett auf dem I I . Unionswettbewerb in Moskau 1976

A b b . 31

F e s t der R e n t i e r z ü c h t e r

A b b . 32

P e l z w e r k aus J a k u t i e n

Zum forgi Die DDR im gleichen Mm Karaseg wichtigste Eisenbahnen —Eisenbahn im Bau des OQQb Siktgreme OOOC Dauerfrostbodens -rr^tw Sibirien im phyischgeographischen Siagt^r

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Laptew 1736, 1739-W, 17*2 Minin u. Sferlegow 1 7 3 8 , 1 7 3 9 , 1 7 * 0 . Ch. Laptew 1739,17W,17*1,17*2 «

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Tsche/juskin 500 '

17*1,17*1 100 km 1