Geschichte Englands: Band 1 Band bis zum Jahre 1603 9783486776898, 9783486776881


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German Pages 428 [432] Year 1949

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Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Kartenskizzen
Einleitung
ERSTES BUCH Völkermischung. Von den ältesten Zeiten bis zur normannischen Eroberung
Überschau
I. Die ersten Bewohner. Iberer und Kelten (bis 50 v. Chr G.) .
II. Die römische Zeit (50 v. Chr. G. bis 400 n. Chr. G.)
III. Die ersten Einfälle der Germanen und die angelsächsische Eroberung (400—600)
IV. Neuer Einfluß vom Mittelmeer her. Die Wiederkehr des Christentums (500-800)
V. Die zweite germanische Einwanderungswelle. Die Ansiedlung der Wikinger und ihre Folgen (800—1000)
VI. Die Zustände im angelsächsischen England. Das Vordringen des Feudalismus. Knuts nordisches Seereich (1016—1035)
VII. Die normannische Eroberung bis zur Schlacht bei Hastings (1042 bis 1066)
VIII. Der Abschluß der normannischen Eroberung und der Neubau des Staates. Könige: Wilhelm I. (1066—1087); Wilhelm II. (der Rote) (1087—1100); Heinrich 1. (1100—1135)
ZWEITES BUCH. Daß Werden des englischen Volkes. Von der normannischen Eroberung bis zur Reformation.
Überschau
I. Stefan von Blois (1135—1154). Unordnung im Lande. Das Wiedererstarken der könielichen Macht. Heinrich II. (1154—1189). Ritter und Hörige. Die Wirtschaft des Dorfes
II. Die weitere Regierung Heinrichs 11. Die Zisterzienser in Nordengland. Thomas Becket. Die königlichen Gerichtshöfe, Common Law und Geschworenengericht
III. Richard I. (1189—1199) und die Kreuzziige. Hubert Walter. Die Mittelklassen. Aus dem Feudalismus erwächst ein Verfassmurslebrn. Johann (1199—1216) und die Magna Charta. Heinrich III. (1216—1272) und Simon von Montfort
IV. Der körperschaftliche Sinn des Mittelalters. Universitäten. Bettelorden. .luden. Recht und Rechtssrelehrte. Das Parlament unter Eduard I. (1272—1307). Das Unterhaus. Die Friedensrichter
V. Kelten und Angelsachsen. Vergebliche Versuche zur Einigung der britischen Inseln. Irland. Wales. Schottland
VI. Der Hundertjährige Krieg (1340—1453). Ursachen und Wirkungen. Die Geburt des Nationalbewußtseins. Bogensotiiiwen und Freibauern. Englische Sprache und englischer Patriotismus
VII. Der schwarze Tod. Das Aufhören der Leibeigenschaft ind der freie Arbeitsmarkt. Der Bauernaufstand von 1381. Kirche und Laien. Wycliffe und die Lollarden
VIII. Das Parlament von Eduard III. bis zu Heinrich VI. (1327—1461). Adelskämpfe. Englisches Leben im späteren Mittelalter. Die Hosenkriege (1455—1485). Die Könige aus dem Hause York
DRITTES BUCH. England unter den Tudors. Renaissance und Reformation. Die Anfänge der englischen Seemacht.
Überschau.
I. Heinrich VII. (1485—1509) und Heinrich VIII. (1509—1547). Der Regierungsapparat der Tudors. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Tuchmacherei, Armengesetze und Landwirtschaft
II. Wiederaufflackern des Lollardismus. Die Gelehrten der . Renaissance. Kardinal Wolsey und das europäische Gleichgewicht. Die Entdeckungen. Die Cabots. Heinrich VIII. begründet die königliche Kriegsflotte
III. Heinrich VIH. und die Durchführung der Reformation mit Hilfe des Parlaments
IV. Protestantisches und katholisches Zwischenspiel. Eduard VI. (1547 bis 1553) und Maria die Katholische (1553—1558)
V. Charakter und Politik der Königin Elisabeth (1558—1603). Die neue Kirchenordnung. Spanien und Frankreich. Die Reformation in Schottland. Maria Stuart. Die ,,Erhebung der Earls" und das Ende des Feudalismus in England
VI. Die Anfänge der englischen Seemacht
VII. Das große Zeitalter der Königin Elisabeth. Wales und Irland. Die Religion. Die Grenzen der Freiheit. Die Bibel. Dichtkunst und Musik Lehrlingswesen und Zustände im Gewerbe. Landadel und Parlament
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Geschichte Englands: Band 1 Band bis zum Jahre 1603
 9783486776898, 9783486776881

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GESCHICHTE

DER

VÖLKER

UND

TREVELYAN • G E S C H I C H T E

STAATEN

ENGLANDS

G E O R G E MACAULAY TREVELYAN

GESCHICHTE ENGLANDS 1. B A N D BIS ZUM JAHRE

1603

4. A U F L A G E 1 9 4 9

L E I B N I Z VERLAG

MÜNCHEN

BISHER R . O L D E N B O U R G VERLAG

2 B ä n d e mi t 36 K a r t e n • 4. A u f l . 1949 • 12.-16. T a u s e n d M i l i t a r y G o v e r n m e n t I n f o r m a t i o n Control License No. US-E179. Titel d e s englischen O r i g i n a l w e r k e s : History

of

E n g l a n d , 10. A u f l a g e . London

1934,

L o n j r m a n s . Green & Co. Die Ü b e r s e t z u n g b e s o r g t e P r o f . Dr. E d m u n d J e r u s a l e m . C o p y r i g h t 1936 by E . O l d e n b o u r g V e r l a g . München. Zum S a t * w u r d e K o r p u s Büxenstein-Antiqua verwendet. Gedruckt und

gebunden

bei

R. O l d e n b o u r g ,

Graphische

B e t r i e b e G. m. b. H., M ü n c h e n

Inhaltsverzeichnis Seite 1

Einleitung E r s t e s Buch. V ö l k e r m i s c h u n g . Von den ä l t e s t e n bis zur n o r m a n n i s c h e n Eroberung.

Zeiten

Überschau I. Die ersten Bewohner. Iberer und Kelten (bis 50 v. Chr G.) . . . II. Die römische Zeit (50 v. Chr. G. bis 400 n. Chr. G.) III. Die ersten Einfälle der Germanen und die angelsächsische Eroberung (400—600) IV. Neuer Einfluß vom Mittelmeer her. Die Wiederkehr des Christentums (500-800) V. Die zweite germanische Einwanderungswelle. Die Ansiedlung d e r Wikinger und ihre Folgen (800—1000) VI. Die Zustände im angelsächsischen England. Das Vordringen d e s Feudalismus. Knuts nordisches Seereich (1016—1035) VII. Die normannische Eroberung bis zur Schlacht bei Hastings (1042 bis 1066) VIII. Der Abschluß der normannischen Eroberung und der Neubau des Staates. Könige: Wilhelm I. (1066—1087); Wilhelm II. (der Rote) (1087—1100); Heinrich 1. (1100—1135) Z w e i t e s Buch. Das W e r d e n des e n g l i s c h e n Volkes. der n o r m a n n i s c h e n E r o b e r u n g bis zur R e f o r m a t i o n

5 6 18 34 55 78 98 115 132

Von usw.

Überschau I. Stefan von Blois (1135—1154). Unordnung im Lande. Das Wiedererstarken der könielichen Macht. Heinrich II. (1154—1189). Ritter und Hörige. Die Wirtschaft des Dorfes II. Die weitere Regierung Heinrichs 11. Die Zisterzienser in Nordengland. Thomas Becket. Die königlichen Gerichtshöfe, Common Law und Geschworenengericht III. Richard I. (1189—11!)9) und die Kreuzziige. Hubert Walter. Die Mittelklassen. Aus dem Feudalismus erwächst ein Verfassmurslebrn. J o h a n n (1199—1216) und die Magna Charta. Heinrich III. (1216—1272) und Simon von Montfort IV. Der körperschaftliche Sinn des Mittelalters. Universitäten. Bettelorden. .luden. Recht und Rechtssrelehrte. Das Parlament unter Eduard I. (1272—1307). Das Unterhaus. Die Friedensrichter . . . V. Kelten und Angelsachsen. Vergebliche Versuche zur Einigung d e r britischen Inseln. Irland. Wales. Schottland

151 156 172

182 200 224

VI

Inhaltsverzeichnis Seite

VI. Der Hundertjährige Krieg (1340—1453). Ursachen und Wirkungen. Die Geburt des Nationalbewußtseins. Bogensotiiiwen und Freibauern. Englische Sprache und englischer Patriotismus . . . . VII. Der schwarze Tod. Das Aufhören der Leibeigenschaft ind der freie Arbeitsmarkt. Der Bauernaufstand von 1381. Kirche und Laien. Wycliffe und die Lollarden VII!. Das Parlament von Eduard III. bis zu Heinrich VI. (1327—1461). Adelskämpfe. Englisches Leben im späteren Mittelalter. Die Hosenkriege (1455—1485). Die Könige aus dem Hause York D r i t t e s B u c h . E n g l a n d u n t e r d e n T u d o r s (1485—1603). R e n a i s s a n c e und R e f o r m a t i o n . D i e A n f ä n g e der e n g l i s c h e n S e e m a c h t . Überschau I. Heinrich VII. (1485—1509) und Heinrich VIII. (1509—1547). Der Regierungsapparat der Tudors. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Tuchmacherei, Armengesetze und Landwirtschaft . . II. Wiederaufflackern des Lollardismus. Die Gelehrten der . Renaissance. Kardinal Wolsey und das europäische Gleichgewicht. Die Entdeckungen. Die Cabots. Heinrich VIII. begründet die königliche Kriegsflotte HI. Heinrich VIH. und die Durchführung der Reformation mit Hilfe des Parlaments IV. Protestantisches und katholisches Zwischenspiel. Eduard VI. (1547 bis 1553) und Maria die Katholische (1553—1558) V. Charakter und Politik der Königin Elisabeth (1558—1603). Die neue Kirchenordnung. Spanien und Frankreich. Die Reformation in Schottland. Maria Stuart. Die ,,Erhebung der Earls" und das Ende des Feudalismus in England VI. Die Anfänge der englischen Seemacht VII. Das große Zeitalter der Königin Elisabeth. Wales und Irland. Die Religion. Die Grenzen der Freiheit. Die Bibel. Dichtkunst und Musik Lehrlingswesen und Zustände im Gewerbe. Landadel und Parlament

Stammtafeln: 1. Die Thronwerber von 1066 2. Die Nachkommen Wilhelms des Eroberers und die Ansprüche der Angevinen 3. Die Nachkommen Heinrichs VII. und die Ansprüche der Stuarts

248 264 280

299 305

322 333 349

362 379

402

128 157 375

Verzeichnis

der

Kartenskizzen Seite

1. 2. 8. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Britannien zur Zeit der Iberer Britannien in der keltischen und römischen Zeit Das Römische Reich Die abendländische Christenheit um 1100 Der Untergang des römischen Britannien England zur Zeit der sieben Königreiche Schottland und Nordengland im frühen Mittelalter

13 23 29 30 37 48 64

Die Fahrten der Wikinger 86 England, Schottland und Irland zur Zeit der Wikingereinfälle . . . 88 u. 89 Die englischen Earldoms vor der normannischen Eroberung 125 Das Reich der Angevinen 161 169 Schematisches Bild eines englischen Dorfes im Mittelalter Irland gegen Ende des Mittelalters 229 Wales im Mittelalter 234

15. Schottland und Nordengland im Mittelalter 16. Frankreich in den ersten Jahrzehnten des Hundertjährigen Krieges . .

240 253

17. 18. 19. 20.

258 289 314 330

Frankreich zu Beginn des 15. Jahrhunderts England im 15. Jahrhundert Die Grafschaften Englands und Wales' zur Zeit der Tudors Europa zur Zeit Heinrichs VIIL

21. Die Welt zur Zeit Elisabeths 22. Europa zur Zeit Elisabeths 23. Spanische und holländische Niederlande

381 385 395

Einleitung. Die Geschichte der menschlichen Kultur reicht in unserem L a n d e weit zurück; ihre Anfänge liegen lange vor der Regierung König Alfred3. A b e r erst mit der Epoche Elisabeths setzt die E n t w i c k l u n g zur Weltm a c h t ein. Ein Blick auf die K a r t e erklärt dies: Während alle alten K a r t e n , ob sie nun im antiken Alexandrien oder in mittelalterlichen K l ö s t e r n gezeichnet wurden, Britannien im äußersten Nordwesten der bekannten Erde zeigen, rückt die Entdeckung Amerikas und des Seew e g e s nach Ostindien unser Land in den Mittelpunkt des Seeverkehrs. D i e Bewohner der Insel erfassen rasch die Bedeutung ihrer veränderten geographischen Weltlage und wissen daraus Nutzen zu ziehen: im Zeitalter der Stuarts wird England zum Mittelpunkt des jungen überseeischen Handels', dem ein blühendes Bank- und Gewerbewesen den notwendigen R ü c k h a l t bietet. Bald führt, im Vaterlande Newtons, die moderne Naturwissenschaft zur V e r w e n d u n g von Maschinen und damit zur industriellen Revolution, die von hier aus ihren Siegeszug über die Erde antritt. Mittlerweile hatte England den Norden Amerikas in Besitz genommen und ihm eine Rechtsordnung gegeben. Nach dem Abfall der Vereinigten S t a a t e n baut es sich in ausgedehnten, über die ganze Erde zerstreuten Gebieten ein neues Reich. Gewaltige geistige Errungenschaften begleiten diesen A u f s t i e g Englands zur wirtschaftlichen Vormacht. Trotz Beda und Roger Bacon, C h a u c e r und W y c l i f f e ist der Anteil Englands an der Wissenschaft und Literatur des Mittelalters gering, verglichen mit der Fülle geistiger S c h ö p f u n g e n in dem Zeitalter, an dessen A n f a n g Shakespeare steht. Renaissance und Reformation, Erweiterung des Gesichtskreises und Bej a h u n g der Persönlichkeit entsprachen dem Geist der britischen Rasse und scheinen die schlummernden K r ä f t e des Landes g e w e c k t zu haben. L o n d o n wird mit einem Schlage zum Mittelpunkt der plötzlich so g r o ß gewordenen Erde. Auf dem Gebiet der Politik im engeren Sinn ist England berühmt a l s „Mutter der Parlamente". A u s den natürlichen Anlagen der Bev ö l k e r u n g entwickelt das Land im L a u f e der Jahrhunderte eine Ordn u n g , die dreierlei verband, w a s anderen Völkern oft unvereinbar Trevelyan, England

1

Einleitung. 2 echien: straffe Verwaltung, öffentliche Kontrolle und persönliche Freiheit. Die Anfänge des Parlaments und des englischen Gemeinen Rechts (Common Law) finden wir bereits im Mittelalter, aber erst der endgültige Sieg des Parlaments über die königliche Gewalt im 17. Jahrhundert sichert jenen beiden die überragende Stellung, die sie heute in der ganzen englisch sprechenden Welt genießen. Schon im Mittelalter wird der Absolutismus auf weltlichem Gebiet abgelehnt und die Teilung der Gewalten durchgeführt. Dazu kommt ein ausgeprägter Sinn f ü r genossenschaftliches Leben: gewählte Vertreter wahren die Interessen der Zünfte und Gilden. So entspricht das Parlament dem Geist des Mittelalters, aber erst die Erhöhung seiner Macht in den Tagen der Tudor, Stuart und des Hauses Hannover, sein Widerstand gegen die politischen Theorien des römischen Rechts, das im ganzen übrigen Europa Eingang fand, und die Übertragung der parlamentarischen Einrichtungen auf Amerika und Australien haben die politische Entwicklung Englands ganz anders gestaltet als die des Kontinents. In Frankreich und Spanien gab es eine ganze Anzahl von ständischen und parlamentarischen Körperschaften, aber diese verstanden es nicht, sich den veränderten Bedingungen einer neuen Zeit anzupassen. Daher folgt dem Feudalismus bei den romanischen Völkern die absolute Monarchie als politischer Ausdruck der Epoche: bei Macchiavelli ist der Fürst die Verkörperung der Nation. England hat sich als einziger unter den großen Nationalstaaten diese Auffassung nicht zu eigen gemacht, sondern die Flut des Absolutismus zurückgedämmt und eine Regierungsform geschaffen, in der ein Debattierklub gewählter Männer mit Erfolg ein Weltreich in Krieg und Frieden zu lenken vermochte. In den zahlreichen wirtschaftlichen und militärischen Kämpfen mit äußeren Feinden, die den Zeitraum von 1689 bis 1815 erfüllen, bewiesen Englands Waren, Schiffe und Heere, daß parlamentarische Freiheit den nationalen Willen wirksamer und erfolgreicher zur Geltung bringen kann als der Absolutismus. Auch die neueste Zeit, die mit der industriellen Revolution anhebt, hat dieses Urteil nicht revidieren müssen. Im 19. Jahrhundert werden die parlamentarischen Einrichtungen im demokratischen Sinn weitergebildet und vor schwere Aufgaben gestellt. Es gilt, den vielfachen neuen Ansprüchen gerecht zu werden, die sich aus dem verwickelten sozialen Leben eines Industriestaates ergeben. Außerdem stellt das ausgedehnte und ständig wachsende Weltreich eine unendliche Reihe von Problemen, die, wenn auch für den Augenblick gelöst, meist nach kurzer Zeit in etwas veränderter Form wiederkehren, da ja das moderne Wirtschaftsleben die politischen Verhältnisse

Einleitung.

3

fortwährend umgestaltet. Parlamentarische Einrichtungen in den weißen Kolonien und das ehrliche Streben, Stämme, die zur Selbstverwaltung noch nicht reif sind, gerecht zu regieren, haben diese merkwürdige Vereinigung von Völkern bis heute zusammengehalten. Die letzten 400 J a h r e sind also die wichtigsten unserer Geschichte, ob wir nun wirtschaftlichen Fortschritt und nationale Expansion, politische und soziale Entwicklung oder Wissenschaft und Dichtung ins Auge fassen. Trotzdem habe ich kein Bedenken getragen, ein Drittel dieses Buches der Zeit vor 1500 zu widmen. Denn in diesen Jahrhunderten verschmelzen die bewaffneten Scharen, die sich von den frühesten Zeiten bis lOüü nach Britannien ergossen hatten, zu einer Einheit. Die nationale Eigenart, die sich unter den Nachfolgern Wilhelms des Eroberers und unter den Plantagenets herausbildete, befähigte die 5 Millionen Untertanen der Königin Elisabeth dazu, die glänzenden Möglichkeiten auszunützen, die ihnen die Entdeckungen und die geistigen Errungenschaften der Zeit boten. Als die Stunde schlug, waren die Menschen bereit. Englands Schicksal ist immer vom Meer aus gestaltet worden; schon in grauer Vorzeit führten seine Häfen und Flußmündungen den Seemann landeinwärts. Lange bevor Britannien den Anspruch erheben konnte, „die Wogen zu beherrschen", war es der See Untertan und sein Geschick bestimmten die Schiffer, die die Flut an seine Ufer trug. Immer neue Wellen kriegerischer Ansiedler drangen ins Land, Iberer und Kelten, Sachsen und Dänen, vorgeschichtliche und phönizische Kaufleute, römische und normannische Zwingherren. Die tatkräftigsten Seefahrer, Bauern und Kaufleute kamen übers Meer her und ließen sich hier nieder oder prägten den früheren Bewohnern ihre geistige Eigenart auf. Während die Ostküste West- und Nordgermanen anzog, drangen vom Süden her auf dem Wege über Frankreich die Einflüsse der Mittelmeerkultur ins Land. Der größte Teil der Bevölkerung, die wesentlichsten Züge des Charakters und der Sprache sind germanisch; der romanische Einschlag bildet die Sprache weiter, verfeinert die Kultur und stärkt die staatsbildenden Kräfte. Die normannische Eroberung lockert die Beziehungen zu Skandinavien, die unter Knut sehr eng gewesen waren. Ein paar hundert J a h r e lang herrscht ein französisch sprechender Adel und ein Latein sprechender Klerus über die germanische Bevölkerung der Insel. Es ist ein merkwürdiges Spiel der Geschichte, daß im englischen Volk gerade unter dieser Fremdherrschaft ein ausgesprochenes Nationalgefühl entstand und daß sich damals jene staatlichen Einrichtungen entwickelten, die von denen des gleichzeitigen Italien oder Frankreich so verschieden waren. Schon unter den Zeitgenossen C'haucers und Wycliffes, zur Zeit l»

4

Einleitung.

des unglückseligen 100 jährigen Krieges gibt es ein ausgesprochen englisches Volkstum, das weit reicher entwickelt ist als das der alten Sachsen. Die Flut der Zeiten hatte die verschiedensten Elemente der Rasse, des Charakters und der Kultur an Englands Küste gespült, die im Inselklima zu einer harmonischen Einheit verschmolzen und gereift waren. In der Reformation entläßt das mündig gewordene England seine lateinischen Lehrmeister, ohne die enge Verbindung mit den skandinavischen und deutschen Ländern wieder aufzunehmen. Britannien ist eine Welt für sich geworden. An diesem Wendepunkt in Englands kultureller und politischer Entwicklung, als es die Verbindung mit dem Festland allmählich löste, kam die Union mit Schottland zustande, während gleichzeitig der Ozean die Inselbewohner in die entferntesten Winkel der neu entdeckten Welt trug. Der Herrschaft über das Meer, das den Engländer 300 Jahre lang als Entdecker, Kaufmann und Siedler an alle Küsten der Erde geführt bat, verdankt er diö Vielseitigkeit der Erfahrung und den Weitblick, die ihn ebenso kennzeichnen wie die insulare Eigenart. In der Frühzeit heißt die Beziehung Britanniens zum Meer: Leiden und Empfangen, in der Neuzeit: Herrschen und Erobern. Beides zusammen gibt den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte Englands.

ERSTES BUCH Völkermischung. V o n d e n ä l t e s t e n Z e i t e n b i s zur n o r m a n n i s c h e n E r o b e r u n g . Überschau. Es ist allgemein bekannt, daß das englische Volk aus einer Blutmischung hervorgegangen ist. Wie, wann und warum diese zustande kam, soll in diesem ersten Buch gezeigt werden. Es sei gleich bemerkt, daß das Einströmen der Völker^ von denen die heutigen Bewohner unserer Insel abstammen, im großen und ganzen mit der normannischen Eroberung abschließt. Mit diesem Ereignis, das weniger rassenmäßige als soziale und kulturelle Bedeutung hat. sind die gewaltsamen Einwanderungen zu Ende. Nach der Schlacht bei Hastings (106(5) gibt es nur mehr ein allmähliches friedliches Eindringen fremder Handwerker und Arbeiter — Flamen, Hugenotten, Iren und andere. Das Land kommt zur Ruhe. Ein kriegerischer Einfall in England war vor der normannischen Eroberung besonders leicht, nachher besonders schwer. Der Grund ist einleuchtend. Ein Volk, das in einem wuhlorganisierten Staat geeinigt war und über eine entsprechende Seemacht verfügte, konnte sich im Schutze des Kanals auch so gewaltigen Streitkräften gegenüber sichern, wie sie Philipp II. von Spanien, Ludwig XIV. oder Napoleon an der gegenüberliegenden Küste sammelten. Es hat wohl Zeiten gegeben, in denen ein von außen kommendes Heer in England willkommen war wie das Heinrichs VII. (1485) oder Wilhelms von Oranien (1H8S), aber der Versuch eines feindlichen Einfalls, der sich gegen den britischen Staat als Ganzes richtete, konnte, dank dem schützenden Meere, nie den geringsten Erfolg haben. Vor der normannischen Eroberung war das ganz anders. Es gab lange Zeit weder einen Staat noch eine Flotte, die Furcht erregen konnten. Selbst in den Tagen Alfreds des Großen und Harolds war man dieser Aufgabe nicht gewachsen. Mi" Ausnahme der Zeit, da römische Galeeren und Legionen die Insel schützten, war sie aus geographischen und anderen Gründen feindlichen Einfällen besonders ausgesetzt.

6

Die ersten Bewohner.

Die Rassenmischung vollzieht sich im Laufe eines Jahrtausends und endet mit der normannischen Eroberung. Spärliche Quellen berichten uns über diese Zeit, und für die Erforschung der vorhergehenden J a h r t a u s e n d e sind wir ganz auf vorgeschichtliche Funde angewiesen. Die Zeit der Kelten, Sachsen und Dänen gleicht dem Kampf Macbeths auf der Hexenheide. Geister umschweben uns, Hörner tönen im Nebel, wild wüten Kampf und Mord. Riesenhafte Gestalten, meist Krieger, treten für Augenblicke aus dem Dunkel hervor. Aber es scheint auch Pflüger zu geben, die den jungfräulichen Boden umbrechen, und wir hören das Krachen fallender VValdbäume. Ringsherum wogt das Meer u n d a n unser Ohr dringen die Rufe landender Seeleute. I. Die ersten Bewohner. Iberer und Kelten.

E s ist nicht meine Absicht, die großen geologischen Veränderungen zu beschreiben, die Britannien erfuhr, bevor es eine Insel war, die Vulkane, das Aufsteigen und Versinken von Gebirgen, die tropischen Sümpfe, in denen die Kohlenwälder wuchsen, oder den allmählichen Aufbau der Kreidehügel unter der Oberfläche des Meeres. Ich will auch nicht versuchen, die verschiedenen Rassen primitiver .Jäger, vom „Piltdown-Menschen" angefangen, die während der Zwischeneiszeit durch das Land gezogen sein mögen, voneinander zu unterscheiden. Es war wahrscheinlich im großen Frühling Nordeuropas nach der Eiszeit, daß zum erstenmal ein Wesen den Boden Britanniens betrat, das unzweifelh a f t der G a t t u n g Mensch angehörte. Diese ersten Einwanderer kamen von Süden über die Landbrücke, indem sie dem Rückzug des Eises nach Norden folgten. Mit ihnen oder kurz vor ihnen kamen unsere Tiere, Vögel, Blumen und Bäume. Die Menschen lebten von der Jagd auf Mammut, Wildpferd und Renntier und vermischten sich jedenfalls mit späteren Ankömmlingen. Die heutigen Kreideklippen von Dover und Calais gehörten damals noch zu einer zusammenhängenden Hügelkette. Die gewaltige Themse mündete in den Niederrhein, der sich nordwärts durch ebenes Sumpfland wand, das heute unter den Wellen der Nordsee verschwunden ist. Auf der Doggerbank fördert der Bagger Mammutund Renntierknochen zutage. Die Gletscher der letzten Eiszeit hatten den Boden kahl gescheuert. Nach ihrem Rückzug begann unsere heutige Pflanzen- und Tierwelt das Land zu erfüllen. Es sind im großen und ganzen die Pflanzen und Tiere Nordeuropas, mit Ausnahme des Schneehuhns, das wir bloß auf den britischen Inseln finden. Irland wurde noch vor dem Durchbruch des

Das Land.

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Kanals von England abgetrennt und ist deshalb ärmer an Säugetieren, Reptilien und Pflanzen. Die Insel Britannien haben wir uns nun durch viele Jahrhunderte als einen Urwald. vorzustellen, zu dessen feuchtem Moosboden kein Sonnenstrahl dringt, während Millionen von Vögeln die Baumkronen bevölkern. Ganz wenige in Felle gehüllte Jäger schleichen mit ihren Steinäxten durch das Dunkel. Sie sind der Schrecken ihrer vierfüßigen Mitwelt und leben selbst in ständiger Furcht. Ein Blick auf die K0 und 400 wieder aufgenommen haben, sicher ist aber, daß sie seit Beginn des neuen Jahrhunderts in größeren Massen und mit steigender Kühnheit auftraten. Das staatliche G e f ü g e der Insel hatten die Picten und Scoten zertrümmert, die römische Verwaltung war völlig zusammengebrochen, statt der Generale verteidigten lebenstüchtige christliche Missionare, wie z. B. der hl. Germanus, die Insel. All das sahen die Angelsachsen auf ihren erfolgreichen Raubzügen. Da mag wohl nach der Heimkehr in der Halle des Führers beim fröhlichen Trunk manch hitziges W o r t gefallen sein. Warum — so fragten sich diese bäuerlichen Seeräuber — nehmen wir immer bloß das. was wir wegführen können? So erkannten sie die Gunst der veränderten Bedingungen und faßten den Gedanken der dauernden Besetzung dieses warmen, wohlbewässerten Landes mit seinen reichen Äckern, saftigen W e i d e n und wildreichen Eichenwäldern. Obwohl wir es nicht mit voller Sicherheit behaupten können, dürfen wir doch annehmen, daß die angelsächsische Eroberung im allgemeinen in zwei Etappen vor sich gegangen ist. Da ein beträchtlicher Widerstand zu erwarten und ein großes Zerstörungswerk zu vollbringen war, sind, wie schon erwähnt, jedenfalls zuerst Kriegerscharen ohne W e i b e r und Kinder eingebrochen, die die Insel auf den Flüssen und Straßen rasch durchzogen. Sie schlugen den Gegner in offener Feldschlacht, erstürmten die befestigten Lager und Städte, brannten Ortschaften und Landhäuser nieder. Sie erschlugen oder vertrieben die romanisierten Briten und jagten die Haufen ihrer keltischen Konkurrenten aus Caledonien und Irland gegen Westen davon. Diesen siegreichen K r i e g e r n folgten dann ihre Familien, wohl zusammen mit dem minder kriegstüchtigen T e i l der männlichen Bauernbevölkerung, die nun in dem fast leeren L a n d e ihr neues Heim fanden. Denn ebenso wie die dänische Besiedlung der Tnsel in den T a g e n K ö n i g Alfreds, so hatte auch die angelsächsische Eroberung ihre z w e i Seiten und eine von beiden außer acht zu lassen hieße die Eigenart der germanischen Besetzung Britanniens verkennen. Beide, Angelsachsen und Dänen, waren blutdürstige Seeräuber, die mit Lust eine höhere Zivilisation zerstörten. A b e r sie waren auch Ackerbauer, die das neue Land besiedeln und selbst bestellen wollten, und zwar nicht als Ausbeuter und Sklavenhalter, sondern als ehrbare Landwirte. Wären sie nicht Barbaren gewesen, so hätten sie die römische Zivilisation nicht vernichtet; wären sie keine richtigen Bauern gewesen, dann hätten sie jene nicht schließlich durch etwas Besseres ersetzt.

Das Vordringen der Angelsachsen.

43

Hauptsächlich auf den Flüssen, die damals tiefer und besser schiffb a r waren als heute, sind die Engländer in das Innere des Landes vorgedrungen'), das von nun an ihren Namen tragen sollte. Auf ihren ungedeckten Schiffen von geringem T i e f g a n g , in denen sie so kühn über die Nordsee gefahren waren, konnten sie weit flußaufwärts rudern, tief ins Innere des Landes hinein. Dort ließen sie das Schiff auf einer Insel des Marschlandes zurück und sicherten es durch rasch a u f g e f ü h r tes Pfahlwerk, zu dem der nahe Wald das Ilolz lieferte. Oder eine W a c h e blieb beim Schiff zurück, während die ans Ufer gesetzte Kriegerschar mit Feuer und Schwert durch das Land zog. So machten es, wie wir wissen, die dänischen Eindringlinge zu König Alfreds Zeiten u n d die Angelsachsen verfuhren wohl ähnlich. Wie die ältesten Reste bezeugen, siedelte die neue B e v ö l k e r u n g zunächst an den Flüssen, aber auch die römischen Straßen müssen die E r o b e r u n g des Landes wesentlich beschleunigt haben. Wie lebendig stehen sie vor unseren Augen, diese Krieger, wie sie auf der gepflasterten Kunststraße dahinziehen, schwer beladen mit Beute, aber um so leichter bewaffnet. Lachend freuen sie sich ihres Glückes. Da erspähen sie abseits der Straße hinter Bäumen eine Villa. Bald schlagen die Flammen empor, der dick g e f ü t t e r t e Fasan, den die Römer als Schmuck d e r Terrassen eingeführt hatten, erschrickt über das Geschrei der wilden Seeleute und trippelt davon, in den Wald. Dort wird er zum J a g d v o g e l verwildern, der während langer Wechsel voller J a h r h u n d e r t e im Leben d e r vornehmen Gesellschaft eine große Rolle spielen sollte. Man darf wohl sagen, d a ß diese Sachsen, wie sie zum erstenmal auf der Bühne der Geschichte a u f t r e t e n , ebenso wie ihre N a c h k o m m e n treffliche Kämpfer, aber keine richtigen Soldaten waren. J e d e r hatte seinen Speer und seinen hölzernen Schild, einige noch ein Schwert, ganz wenige einen Helm, vielleicht einer von tausend den Kettenpanzer (vgl. oben S. 39 Anm.). So haben sie die Insel erobert. Man möchte g l a u b e n , d a ß die romanisierten Briten ihnen mit allen Künsten d e r römischen K r i e g f ü h r u n g hätten entgegentreten können, also mit einem wohlgeübten, schwergerüsteten Fußvolk, mit Pfeil und Schleuder, mit Reiterei. Wir wissen nicht, ob die Verteidiger des Landes nach römischer oder nach altkeltischer Weise k ä m p f t e n , als ihr s a g e n h a f t e r König A r t h u r sie gegen die heidnischen Seeräuber des Nordmeeres in die Schlacht führte. Aber in welcher Art immer sich die Briten geschlagen haben mögen, sie unterlagen den schlichten Fußsoldaten, die ohne Kasernendisziplin, ohne schwere Rüstung, ohne Pfeil und Schleuder, ') Die SItcston angelsächsischen Gräherstätten liegen fast ttüe au einem schiffbaren Fluß oder an direkten Nebenflüssen eines solchen.

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Die angelsächsische Eroberung. 400 bis 600 n. Chr. 6.

aber mit überwältigender, unbändiger Kraft anstürmten. Dabei genossen die Verteidiger noch den Vorteil stark befestigter Lager, zahlreicher, schwer ersteigbarer, mit Pfahlwerk verstärkter Erdwerke, von den mauerbewehrten römischen Städten ganz zu schweigen. Aber all das brach zusammen vor dem Anprall dieses leicht bewaffneten barbarischen Heeres. In der Blütezeit der römischen Herrschaft war, wie bereits hervorgehoben wurde (s. oben S. 31), kein Teil der Zivilbevölkerung zu bewaffnetem Selbstschutz erzogen worden. Im Gegensatz zum ritterlichen Feudalherrn des Mittelalters war der römische Großgrundbesitzer kein Kriegsmann, er hatte weder ein bewaffnetes Gefolge noch eine feste Burg. Viele Städte besaßen wohl großartige steinerne Mauern, aber den Bewohnern lag, im Gegensatz zur Bürgerwehr späterer Zeiten, das Waffenhandwerk fern. Die römische Welt war der mittelalterlichen kulturell sicher überlegen, aber sie war viel weniger fähig, sich selbständig mit den Waffen in der Hand zu verteidigen, wenn Zentralregierung und Berufsheer versagten. Erst die feudale Gesellschaftsordnung, die allmählich aus den Wirrnissen der germanischen Eroberung erwuchs, hat diesen Mangel beseitigt. Die neueste Ansicht über die sächsische Eroberung meint, daß nicht kleine Gruppen bestimmte Gebiete erobert und sich dort gleich niedergelassen haben, sondern daß ein richtiges Heer, das viele solcher Scharen vorübergehend unter gemeinsamem Oberbefehl vereinigte, das Land bezwungen und verwüstet hat. Wir wissen, daß die Dänen zur Zeit König Alfreds so vorgegangen sind, deshalb muß es aber bei den Angelsachsen nicht unbedingt ebenso gewesen sein. Gildas, der unklare,, weinerliche britische Darsteller dieser traurigen Ereignisse, der um 540, also reichlich 100 Jahre nach dem Beginn der Eroberung schrieb, scheint allerdings zu glauben, daß die Eroberer rasch durch die ganze Insel bis zum Meere im Westen vorgestoßen und dann, nach gründlichem Zerstörungswerk, wieder in östlicher Richtung abgezogen seien. Wenn dies wirklich in der Mitte und gegen Ende des 5. Jahrhunderts so geschah, ließe sich damit die Tatsache erklären, daß römische Städte und Landhäuser in Mittelengland und im mittleren Westen längst zerstört waren, ehe die englischen Eroberer sich dort endgültig niederließen. Archäologische Forschungen haben bewiesen, daß z. B. die Stadt Bath, lange bevor Sachsen dort wohnten, eine Trümmerstätte war. In ihren eleganten Badeanlagen wuchs das Schilf und Wasservögel nisteten darin. Dagegen meldet die freilich wenig verläßliche angelsächsische Chronik, daß die Angelsachsen Bath i. J. 577 endgültig eroberten. Jener eben geschilderte Zustand des völligen Verfalls mußte damals schon jähr-

Vormarsch und Rückzug?

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«ehntelang gedauert haben. Diese Widersprüche sind leicht aufzuklären, wenn man annimmt, daß zuerst ein starkes Heer die ganze Insel verheerend durchzog, ohne aber zunächst festen Fuß zu fassen. Mittelengland war bekanntlich auch in der Römerzeit sehr dünn bevölkert, nun mag es eine Zeitlang Niemandsland gewesen sein, ein Gebiet der Zerstörung, in dem die römische Zivilisation zwar vernichtet war, das aber von den Sachsen noch nicht in Anspruch genommen wurde. Nach dieser Ansicht hätte also das englische Heer nach dem ersten großen Vormarsch den Westen wieder verlassen und sich in seine Teile aufgelöst. Jeder dieser Teile habe nun in der Ebene des Ostens ein Königreich gegründet und sich der Siedlung, dem Familienleben und der Landwirtschaft gewidmet. Diese Anschauung vom Vormarsch und Rückzug des großen Heeres stützt sich auf die dänische Analogie, das hysterische Gejammer des Gildas und auf die sichere Tatsache der Verheerung eines sehr großen Gebietes in früher Zeit. Man kann diese Theorie weder als bewiesen noch als widerlegt bezeichnen und sie hat heute mehr Anhänger als die ältere Ansicht, wie sie in Greens klassischem Werke niedergelegt ist, dem die angelsächsische Chronik mit ihrer viel späteren Überlieferung und ihren gelegentlichen Erfindungen als Hauptquelle dient1). Nach dieser Ansicht ist sowohl die Zerstörung wie der Wiederaufbau das Werk kleiner englischer Trupps, von denen jeder für sich vorging. Die beiden Ansichten sind nicht völlig unvereinbar, vielleicht enthält jede einen Teil der Wahrheit. Im Laufe der Eroberung der Insel vom Firth of Förth bis zum Kanal kann sich so manches ereignet haben. Aber es ist jedenfalls richtig zu betonen, daß wir nichts Sicheres darüber wissen. Ob nun die eindringenden Scharen stärker oder schwächer waren, ob sie einheitlich oder getrennt vorgegangen sind, sicher ist, daß die Verheerung des Landes ganz ungeheuerlich war. Hören wir, wie sie im Gedächtnis der überlebenden wallisischen Christenheit haften blieb, mit den Worten des Mönches Gildas: „ M i t furchtbarer Gewalt ward jede menschliche Siedlung dem Erdboden gleichgemacht. Zusammen mit den Vorständen ihrer Kirchnn fielen die Bewohner, ganz gleich, ob Mönch oder Laie. Allenthalben sah man Schwerter blitzen und rings süngelten die Flammen empor. Schrecklich war es zu sehen, wie in den Straßen «lies durcheinander lag: Turmgiebel, die man aus ihrem Gebälk gerissen hatte, Quadern der hohen Mauern, heilige Altäre, verstümmelte Menschgnleiber, mit gräßlichen Klumpen geronnenen Blutes bedeckt, als wären sie in einer grausigen l ) Die angelsächsische Chronik wurde auf Befehl K ö n i g Alfreds (871—901) begonnen und ist eine ausgezeichnete Quelle für die Däneneinfälle und die Zeit nachher, die die verschiedenen Verfasser der Chronik als Zeitgenossen miterlebten. A b e r für die angelsächsische Eroberung vierhundert Jahre früher hat sie geringen W e r t .

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Weinpresse zermalmt worden. Wer das nackte Leben rettet«, (loh in die B e r g e ; dort wurden sie wieder gefangen lind haufenweise abgeschlachtet. Manche trieb der Hunger für immer in die Sklaverei des F e i n d e s . . . Andere trugen ihren J a m mer übers Meer hinüber."

Die römischen S t ä d t e und Landhäuser wurden also fast durchwegs zerstört, denn die ersten angelsächsischen Einwanderer waren keine S t ä d t e r . Sie verkauften zwar Sklaven nach dem Festland, sonst alter hatten sie kein Interesse für den Handel. Sohald sie im Innern des L a n d e s guten Ackerboden gefunden hatten, entfremdeten sie sich überhaupt bald dem Meere. Die höchste Form der Zivilisation, die ihnen vorschwebte, war die große bäuerliche Dorfgemeinde, in der man den Boden nach dem offenen Feld-System gemeinsam bestellte. Das wurde die Grundlage für den Aufbau der neuen englischen Gesellschaftsordnung. Wenn sie sich irgendwo niedergelassen hatten, bauten sich die einzelnen Familien sofort Blockhäuser rund um die geräumige Halle des Führers. Der Länge nach in die Hälfte gespaltene Stämme, die nebeneinander in die Erde getrieben wurden, bildeten die Mauern, denn es g a b Bauholz in Überfluß und die Angelsachsen hielten auf solide Arbeit'). S o hatten auch in der alten Heimat die Häuser ausgesehen und sie wollten den vertrauten Reiz und Duft des Eichenholzes nicht missen, obwohl ihnen doch die schönsten Villen und Stadthäuser, mit allem ,,modernen K o m f o r t " ausgestattet, zur Verfügung gestanden wären, sobald sie die Leichen der früheren Besitzer bestattet hatten. Uaverfield, der angesehenste Fachmann auf diesem Gebiete, stellt fest, „es sei kein Fall bekannt, d a ß Angelsachsen in einem römischen Landhaus gewohnt hätten*)". Es mag sein, daß im Laufe der Zeit noch einige Ausgrabungen g e m a c h t werden, die zeigen, daß das doch hie und d a vorgekommen ist, aber es war sicher nicht oft der Fall. Und ebenso wie mit den Landhäusern steht es mit den Städten. Die neuen Einwanderer wollten nicht zwischen Steinmauern leben und duldeten dort auch niemand andern. Aber einige dieser Punkte waren durch ihre L a g e und als Knotenpunkte der unverwüstlichen Römerstraßen so ') Erst später, als das Bauholz spärlicher wurde, begann man Häuser aus ,.Halhhol7." zu bauen, d. h. man begnügte sich mit einem hölzernen Gerüst, das mit billigerem Material ausgefüllt wurde. *) Hav^rtield, Hornau Ocoupation, 1924, p. 274. Die folgende Bemerkung von Cvril Fox. Cambridge Region, S . 282 f., steht zwar zu Haverfields Behauptung nicht in direktem Widerspruch, schwächt sie aber immerhin etwas ab. Fox sagt: „Jin Gebiet von Cambridge liegen angelsächsische Wohnstätten Uber römischen Bauten. In mehreren Dörfern der Umgebung von Cambridge finden wir römische Iläuser mitten in der angelsächsischen Siedlung oder unmittelbar neben ihr. Das ist allerdings vielleicht eine Folge zwingender wirtschaftlicher Umstände und nicht der Beweis filr irgendeine Kontinuität."

Angelsächsische Siedlung.

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wichtig geworden, daß sie nicht auf die Dauer verlassen bleiben konnten. Chester, Bath, Canterbury wurden im Laufe der Zeit wieder besiedelt) Loiidou, Lincoln und Yurk waren vielleicht niemals ganz unbewohnt, aber sie waren bestimmt Generationen hindurch kleine Orte ohne jede Bedeutung. Sowie jedoch wieder die Entwicklung zu einem höher organisierten Leben einsetzte, blühten London, Cambridge und andere Orte, die an den Kreuzungspunkten der Römerstraßen und zugleich an wichtigen Fluliübergängen lagen, bald wieder auf. An solchen von der Natur bevorzugten Stellen kounten die Barbaren das Werk der Römer nicht vollkommen auslöschen. Aber Silchester, Wropeter, Verulamium und viele andere Orte blieben für alle Zeiten aufgegeben. St. Albans liegt, wie schon erwähnt, fast einen Kilometer von Verulamium entfernt, am anderen Ufer des Flusses. Es sieht ganz so aus, als ob man die alte Stätte absichtlich h ä t t e meiden wollen. Fortwährend werden Landhäuser und ganze S t ä d t e an Stellen ausgegraben, die jetzt von Äckern, Weideland oder Heide eingenommen sind. Römische Ruinen waren wohl damals jähr* bundertelang ein ebenso häufiger Anblick im Lande wie tausend J a h r e später unter den Stuarts die zerstörten Klöster mit ihren eingestürzten Dächern. Bei T a g dienten jene bisweilen als Steinbruch, des nachts aber belebte sie wohl die Phantasie des angelsächsischen Bauern mit den bösen Geistern des Volkes, das seine Vorfahren vernichtet hatten. Die Angst davor, daß, eingehüllt in ihre blutigen Togen, die Toten auferstehen könnten, mag einer der Gründe gewesen sein, warum die alten Wohnstätten der Römer nicht wieder besiedelt wurden. Im Laufe des 6. Jahrhunderts ebbte die erste und wildeste Flut der Zerstörung allmählich ab. Die Westhälfte Englands blieb in der Iland der Kelten, obwohl auch dort weite Gebiete grausam verwüstet worden waren. Im Osten entstand von Bernicia in Nurthumberland bis nach Wessex im Süden eine zusammenhängende Kette selbständiger Königreiche. Ihre Grenzen wechselten jahrhundertelang kaleidoskopartig, aber ihre Namen leben noch heute in Grafschaften des Südostens, wie Essex, Sussex und Kent, weiter. Diese frühenglischen Königreiche führten gelegentlich Kriege gegeneinander und gegen die wilden Walliser'), die ihrerseits untereinander ständig im Kampfe lagen. Wenn wir Gildas glauben dürfen, wurden die Romano-Briten der Zeit König Arthurs oft durch die Bosheit und die ewigen Händel ihrer Häuptlinge den Feinden ausgeliefert. ') Diesen Namen, den wir von nun an oft verwenden, gaben die Sachsen den einheimischen Stämmen, die sie nach Strathclyde, Wales und auf die Haibiusel Devon zurückdrängten. Vgl. die Karte S. 48.

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Karte 12. Schematisches Bild eines englischen Dorfes im Mittelalter.

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älter als die Kunst des feinen Webens. Ein großer Teil der bäuerlichen Kleidung bestand aus roh gegerbten Häuten. Wenn hie und da doch etwas gekauft werden mußte, so lieferte es der benachbarte Marktflecken, der selbst nicht viel mehr als ein Bauerndorf war. Bloß die Bewohner des Herrenhauses gingen weiter weg, um ihre Einkäufe zu besorgen, und förderten so den Handel der Städte und der seefahrenden Kaufleute. Zur Zeit Heinrichs II. war das Wohnhaus des Grundherrn, ob es nun Abtei, Burg oder herrschaftliches Schloß hieß, in der Regel ein steinerner Bau. Aber die Behausung des Hörigen war noch immer eine elende Hütte, ohne Kamin oder Glasfenster, oft ohne andere Öffnung als die Türe. Als Baustoff dienten gespaltene Baumstämme, die nach altsächsischer Weise nebeneinander aufgestellt wurden. Wo der Holzreichtum nicht mehr so groß war, baute man „halbhölzerne" Mauern mit einem Gerippe aus Eichenholz, das mit Lehm ausgefüllt wurde. Die Kunst des Ziegelbrennens war mit den Römern untergegangen. Das Dach deckte man mit Stroh oder Rasen. Ein kleiner Obst- und Gemüsegarten oder ein Hof umgab das Haus des leibeigenen Bauern, auch wenn es an der Dorfstraße lag. Im Westen, Norden und in den waldreichen Gebieten waren die Hütten oft zu kleinen Weilern von zwei, drei oder auch mehr Wirtschaften vereinigt, und jede kleine Wirtschaft hatte ihr abgegrenztes Grundstück, das manchmal mit einer dauerhaften Einfriedung umzäunt war (vgl. oben S. 16 f. und Anm.). Aber in den fruchtbaren Landesteilen des östlichen und mittleren England herrschte das große Dorf mit 200—500 Seelen vor, das rund um Kirche und Herrenhaus angelegt und von der Feldmark umgeben war. Dieses „offene" oder „gemeinsame" Feld war nicht, wie heute, durch Hecken schachbrettartig zerlegt, sondern es zerfiel in Hunderte kleiner Streifen, die durch Grasraine oder Fußpfade voneinander getrennt waren, jeder Streifen ein Acre (4000 m1) oder ein halbes Acre groß. Es muß so ausgesehen haben wie eine Gruppe von Kleingärten unserer Zeit, aber in großartigem Maßstab, und alles war mit Getreide bestanden. Diese Streifen waren die Einheiten des Ackerbesitzes. Das Eigentum jedes Bauern, gleichgültig ob frei oder hörig, lag in der Feldmark zerstreut und bestand aus einer Anzahl solcher voneinander getrennter Streifen, mindestens aus einem. Die durchschnittliche Größe eines Besitzes war 30 Streifen. Ein Teil des Herrenlandes lag manchmal in geschlossener Fläche außerhalb der Dorfflur, das übrige war in die Bauernfelder eingestreut.

Die Landwirtschaft.

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Herr, Freibauer und Höriger waren unbedingt an den Anbauplan der Dorfgemeinschaft gebunden. Die gemeinsame Flur bestand aus drei riesigen Feldern, an denen jeder Dorfgenosse seinen größeren oder kleineren Anteil hatte. Eines dieser drei Felder lag abwechselnd brach und diente als Viehweide, auf dem zweiten war Wintersaat (Weizen oder Roggen) angebaut, auf dem dritten Sommergetreide (Gerste oder Hafer). Das bestellte Feld wurde gewöhnlich eingezäunt. Diese Wirtschaftsform hemmte den Unternehmungsgeist des einzelnen und damit den Fortschritt der Landwirtschaft, aber sie herrschte in manchen der fruchtbarsten Gegenden Englands vom frühen Mittelalter, lange vor der normannischen Eroberung, bis zu den großen Veränderungen des 18. J a h r hunderts. Fortschritte gab es hauptsächlich in dem Teil des Herrenlandes, der von der gemeinen Mark abgetrennt war. Manchmal war dieses Land an Bauern verpachtet. Abseits der Felder lag die Wiese, womöglich unten am Bach. Hier gewann man gemeinsam das Heu, hier weidete das Vieh des ganzen Dorfes, alles nach festen Regeln und Vorschriften, deren Einhaltung das Gutsgericht streng überwachte. Am Bach oder an einem eigens angelegten Arm lag die Mühle, die gewöhnlich dem Grundherrn gehörte. E r konnte seine Leibeigenen dazu verhalten, ihr Getreide dort um einen von ihm festgesetzten Preis mahlen zu lassen, der mitunter so hoch war, daß das Recht, daheim eine Handmühle verwenden zu dürfen, als seltenes Vorrecht heiß angestrebt wurde. Windmühlen kannte das mittelalterliche England kaum. Die erste soll nach Richard Löwenherz' Kreuzzug aus dem Orient eingeführt worden sein. Man sieht, daß das englische Dorf keine kommunistische Gesellschaft, auch keine Dorfgemeinschaft im engeren Sinne war. Für die Betätigung des einzelnen blieb allerdings wenig Raum. Der Gutsbezirk vereinigte eine Anzahl von Grundeigentümern, zu denen auch der Herr gehörte. Die Größe des Besitzes und die gegenseitigen Beziehungen waren sehr verschieden, aber alle waren voneinander abhängig und bei der althergebrachten Zusammenarbeit aufeinander angewiesen. Barzahlung, Vertragsfreiheit, Wechsel der Arbeit waren Ausnahmen. Außerhalb der Felder lag das Ödland, die Moore, Heiden, Wälder, die einst die ganze Insel bedeckt hatten und noch immer mehr als die Hälfte einnahmen. Die sächsischen Bahnbrecher waren in den Wald eingedrungen und hatten ihn allenthalben mit ihren Hütten durchsetzt. Im Lauf der englischen Geschichte wird von Geschlecht zu Geschlecht der Bereich von Heide, Sumpf und Wald immer mehr eingeengt. Neue Weiler und Wirtschaften wachsen aus dem Boden, die Dorfflur dehnt sich aus und vervielfältigt sich und schließlich müssen

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sogar die jagdfreudigen Könige ein Waldrecht nach dem andern aufgeben. Im 18. Jahrhundert war das Ödland, das eine Gemeinde von der anderen trennte, auf ein paar ungenutzte Dorfwiesen zusammengeschmolzen und zu allerletzt, während der Einfriedungen im 18. und 19. Jahrhundert, verschwanden die noch übrig gebliebenen gemeinsamen Weiden und Wiesen so schnell, daß sehr häufig jedes Stückchen Land zwischen einem Dorf und dem nächsten heute zum Schachbrett heckenumstandener Felder geworden ist. So haben die Gemeinden im Laufe der Zeit das ganze Ödland und die gewaltigen Wälder verschlungen.

n. Die weitere Regierung Heinrichs II. Die Zisterzienser in Nordengland. Thomas Becket. Die königlichen Gerichtshöfe. Common Law und Geschworenengericht. König Heinrich II. 1154—1189.

Wir haben im vorigen Kapitel die voll ausgebildete Gutsherrschaft geschildert, obwohl manche Züge erst später in Erscheinung traten. So wurden schriftliche Aufzeichnungen beim Gutsgericht erst unter Heinrich III. üblich und gleichzeitig kamen wissenschaftliche Abhandlungen über Landwirtschaft und Gutsverwaltung in Umlauf. Die Ritter, die nun nicht mehr zu Felde zogen, begannen für ihren Besitz die Rechnungslegung und Buchhaltung nachzuahmen, mit denen sie die königlichen Richter, Sheriffs und Finanzbeamten in unliebsamer Weise vertraut gemacht hatten. Andere Lehrmeister fanden sie an den Verwaltern der geistlichen Herrschaften, besonders den Zisterzienserklöstern. Die ersten englischen Zisterziensermönche lebten in puritanischer Strenge, und während der Regierungen Stefans und Heinrichs II. wurden für sie mit Begeisterung Klöster gestiftet und ausgestattet. Aber die Mönche des Ordens übten, im Gegensatz zu den Bettelmönchen des nächsten Jahrhunderts, nur kurze Zeit einen sittlichen und geistigen Einfluß auf das Volk. Dafür wiesen sie den Weg zu besserer Landwirtschaft, insbesondere zur Wollerzeugung für die flandrischen Weber. Wenn man gelegentlich das England der Plantagenets das „Australien des Mittelalters" genannt hat, so waren die Mönche die ersten „Squatters". Die berühmten Klöster in den tief eingeschnittenen waldigen Tälern der Grafschaft York begannen damit, die Öde Wildnis Nordenglands und Schottlands in Schafweiden zu verwandeln. Ganz allmählich, so daß der Verlauf nicht beobachtet, daher auch nicht aufgezeichnet werden konnte, vernichteten die knabbernden Schafe das Dickicht junger Eichen und Birken, das seit unvordenklichen Zeiten in

Die Zisterzienser.

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den öden Sümpfen des Nordens wucherte, und übrig blieb das grüne Weideland. Die Zisterzienser stifteten durch ihre wirtschaftlichen Verbesserungen vielleicht ebensoviel Gutes wie durch ihre sonstige Tätigkeit. Gut und Böse sind hier schwer zu scheiden, denn der Orden war bei den Zeitgenossen wegen seiner sprichwörtlichen Habgier verhaßt, die die Mönche zu Quälereien, Fälschungen und Bedrückung verleitete, sie aber auch dazu brachte, früher als andere Grundherren Bücher zu führen und die Schafzucht zu pflegen. Wenn wir einmal den Standpunkt annehmen, daß Mönche, die sich von der Welt und ihrem Treiben abgekehrt haben, ebensogut Reichtum erwerben dürfen wie andere Leute, die an die eigene Tugend geringere Ansprüche stellen, dann muß man den ersten Zisterziensern dasselbe Maß von Lob und Tadel zubilligen wie den weltlichen Herren des 16. und 18. Jahrhunderts, die zur Erhöhung des Ertrages die Bauern von ihrem Boden vertrieben. Viele der neuen Gründungen unterstanden nicht den englischen Bischöfen, sondern bloß den eigenen Äbten und dem Papst. Das war zu allen Zeiten für die Kirche ein zweifelhaftes Vorrecht und hat schließlich den Verfall der englischen Klöster beschleunigt. Aber manche Abteien waren der bischöflichen Gerichtsbarkeit unterstellt und aus den Berichten über die bischöflichen Visitationen können wir uns über die vielumstrittenen Fragen des englischen Klosterwesens am ehesten ein Urteil bilden. In diesem Zusammenhang gehört ein Geschichtchen, das Giraldus Cambrensis (Gerald von Barri) in s/einem boshaften speculum ecclesiae (Kirchenspiegel) erzählt: Als Heinrich II. eines Tages von der Jagd heimritt, fielen ihm Prior und Mönche von St. Swithin in Winchester zu Füßen und baten ihn unter Tränen, er möge sie doch vor ihrem Bischof schützen, der ihnen drei von den dreizehn Gängen ihrer Mahlzeit einstellen wolle. „Bei Gott", sagte der König, „schaut euch diese Mönche an. Bei ihrem Geheul dachte ich, ihr Kloster sei niedergebrannt, und jetzt kommen sie mit so etwas daher. Den Bischof soll der Teufel holen, wenn er ihnen mehr als die drei Gänge läßt; bin doch ich an meiner königlichen Tafel damit vollauf zufrieden." Ob nun diese Geschichte wahr ist oder nicht, so lehren uns viele ähnliche Erfindungen, Scherze und Anekdoten, daß die Meinung des Volkes von der Heiligkeit des Klosterlebens im 12. Jahrhundert nicht viel besser war als zur Zeit Chaucers. Aber in jenen frühen Zeiten, da es weder Universitäten noch Geschichtsforscher, Schreiber oder Drucker aus dem Laienstande gab, erwarben sich manche Klöster große Verdienste als Mittelpunkte der Gelehrsamkeit und als Heimstätten von Chronisten und Künstlern der

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Heiniich II. 1154—1189.

Feder. Carlyles Held, der edle Abt Samson Ton St. Edmondsbury hielt seine Mönche in strengerer Zucht als sein Zeitgenosse von St. Swithin. Aber die Skandale von Evesham während der Regierung Richards und Johanns zeigen, wie leicht die Häupter von Klöstern ihre selbstherrliche Macht mißbrauchen konnten und wie wenig manche von ihnen ihrer Aufgabe gewachsen waren. Es gab ebenso große Unterschiede unter den Abteien wie unter den weltlichen Gutsherrschaften. Es ist ebenso gefährlich, die Zustände zu idealisieren, wie oberflächlich darüber abzuurteilen. Das galt damals wie heute. Bei der Entscheidung über die angemessene Zahl der Gänge in klösterlichen Refektorien, aber auch in wichtigeren Rechtsfragen hätte sich Heinrich mit den Bischöfen, die er selbst ernannt hatte, sehr gut vertragen, wenn er nicht den denkwürdigen Irrtum begangen hätte, seinen Freund und Kanzler Thomas Becket zum Erzbischof von Canterbury zu ernennen. Aus dem königlichen Dienst entlassen, fühlte sich der neue Primas bloß als Vertreter der Kirche und des Papstes. Es befriedigte seine kämpferische Natur, dem Bunde von König, Adel und einer wachsenden Zahl von Bischöfen fast allein zu trotzen (1162). Die Stimmung von Volk und Kirche war geteilt, aber im ganzen neigte sie mehr dem König zu, denn Becket war gewalttätig und in seiner Politik schwankend. Als eines Tages Heinrich seinem Groll gegen den Primas in heftigen Worten Luft machte, veranlaßte dies unglückseligerweise vier seiner Ritter, sich vom Hof heimlich zu entfernen und den Feind des Königs in der Kathedrale von Canterbury zu ermorden (1170). Die Empörung über diese Schreckenstat kostete den Staat wichtige Rechte, die er erst in der Reformation wiedergewann. Die Verehrung des heiligen Märtyrers Thomas blieb 300 Jahre lang in England überaus volkstümlich. W i e Chaucer ritten viele Zehntausende nach Canterbury, um am Grabe des Heiligen zu beten. Es war einem anderen machtvollen König vorbehalten, in einer ganz anderen Zeit den heiligen Schrein zu Pulver zerreiben zu lassen (1538). Der Sohn der Reformation wollte damit nicht nur einen Mittelpunkt der Reliquienverehrung vernichten, sondern ¡auch das Denkmal des großen Triumphes der Kirche über den König und die königliche Gesetzgebung. Der Punkt, in dem Heinrich n . dem Toten erlag, betraf die Frage der straffälligen Geistlichen. In den Beschlüssen von Clarendon (1164), in denen eine große Versammlung von Baronen und Prälaten die Grenzen zwischen Staat und Kirche festlegte, hatte der König folgendes durchgesetzt: Ein Geistlicher, der ein schweres Verbrechen begangen hat, soll zuerst vor dem weltlichen Gericht angeklagt und dann dem

Thomas Becket. Geistliche Gerichtsbarkeit.

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geistlichen Gericht zum Prozeß übergeben werden. Wenn ihn seine Oberen schuldig gesprochen und der Priesterwürde für verlustig erklärt haben, dann sollen ihn königliche Beamte wieder vor das weltliche Gericht bringen, das das Urteil fällt und die Strafe vollzieht. So, meinte der König, entspreche es dem alten Brauche und so sei es auch mit dem Kirchenrecht vereinbar. Er verlangte nicht, daß weltliche Gerichte über geweihte Männer Recht sprechen. Vielen Geistlichen schien dies ein annehmbarer Ausgleich. Becket blieb eine Zeitlang ruhig, dann aber verwarf er die Beschlüsse von Clarendon. Er besiegelte seine Strenge mit dem Märtyrertod und bewirkte dadurch den Sieg des kirchlichen Standpunktes. In Hinkunft hatten nicht nur Mönche und Pfarrgeistliche, die einen Einbruch, Raub oder Totschlag begangen hatten, wenigstens beim erstenmal keine ernste Strafe zu fürchten; dieses Vorrecht bezog sich vielmehr auf alle Gebildeten und die große Zahl der Knechte und niederen Bediensteten geistlicher Anstalten und später auf jeden, der so tat, als ob er lesen und schreiben könnte. Es war nur zu leicht, die niederen Weihen zu erlangen, und die Anziehungskraft solcher Begünstigungen auf minderwertige Menschen war groß. „Eines der ärgsten übel des späteren Mittelalters", sagt Maitland, „waren die Vorrechte des Klerus." Wenn auch Heinrichs Wutausbruch und die verruchte Tat seiner Ritter geistliche Verbrecher noch 300 Jahre lang schützte, so gelang es Heinrich dafür auf anderen Gebieten, den Wirkungskreis der weltlichen Gerichte gegenüber den Ansprüchen der geistlichen Macht zu erweitern. Unter der schwachen Regierung Stefans hatte die Kirche auf natürliche und gerechte Weise ihre Stellung und ihr Ansehen erhöht. Vom Festland kamen die großen Forderungen des Papsttums und so drohten nun die kirchlichen Gerichte, vieles an sich zu ziehen, was ihnen nicht zukam. Heinrich dämmte diese Flut ab. Das Vorrecht des Klerus, das er zugestehen mußte, bezog sich nur auf die schweren Verbrechen. Bei kleineren Vergehen und in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die aus Verträgen oder leichten Vergehen entsprangen, mußten die Geistlichen, zum Ärger des hohen Klerus, als Beklagte vor dem weltlichen Gericht erscheinen. Vor allem aber wurde festgesetzt, daß die Vergebung kirchlicher Pfründen ein weltliches Recht sei, und daß Streitfragen über kirchliche Einkünfte vor den weltlichen Gerichten zu verhandeln seien. Dieser Sieg des bürgerlichen über das kirchliche Recht setzte auch der Macht des Papstes über die englische Kirche Grenzen. In Fällen, die vor den geistlichen Gerichten anhängig waren, konnte man nach Rom berufen und der Papst pflegte schwebende Verfahren einzustellen und vor ein

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römisches Gericht oder vor ein von ihm selbst bestelltes englisches Gericht zu ziehen. Die englische Kirche konnte dagegen nichts tun, denn die Gesetzlichkeit des Vorgangs war unbestreitbar: in geistlichen Fragen war die Kirche dem Papst unterworfen. Die einzige Möglichkeit, sie vor dem Papst zu schützen, bestand darin, daß man die Grenzen des geistlichen Bereichs enger zog und so die Kirche zwang, bei der weltlichen Gewalt, d. h. vor dem königlichen Gericht, ihre Zuflucht zu suchen. Durch sein entschiedenes Auftreten in der Frage der Pfründenbesetzung verhinderte Heinrich, daß die Verleihung einträglicher geistlicher Posten im Wege der kirchlichen Gerichte an den päpstlichen Stuhl überging. Aber auch unter diesen Umständen führten die Päpste Besetzungen im voraus durch, d. h. sie vergaben noch unerledigte Stellen, und zwar größtenteils an italienische Geistliche. Der Kampf zwischen dem Papst und den Patronen englischer Pfründen, die der König manchmal unterstützte und manchmal preisgab, dauerte jahrhundertelang und führte unter den späteren Plantagenetß zu den sogenannten PraemunireStatuten (s. unten S. 277 Anm.) und anderen papstfeindlichen Beschlüssen des Parlaments, die alle der ferneren endgültigen Lösung unter den Tudors vorarbeiteten. Das bedeutungsvollste der vielen Geschenke, die England Heinrich II. verdankt, war die Reform des englischen Rechtes. Das neue von ihm eingeführte Gerichtsverfahren sollte das staatliche und gesellschaftliche Leben Englands für alle Zukunft formen und allen englisch sprechenden Völkern „in ungeborenen Staaten und unbekannten Mundarten" bestimmte Denkgewohnheiten aufprägen. Denn die Fülle an Macht und Geltungsbereich, die er den zentralen königlichen Gerichtshöfen und ihren reisenden Boten in den Grafschaften verlieh, ermöglichte die rasche Entwicklung des englischen Common Law, des Gemeinen Rechtes, als einer volkstümlichen Schöpfung, die dem ganzen Lande gemeinsam war, während bisher im Grafschafts- und Hundertschaftsgericht und den zahllosen privaten Rechtsstellen die verschiedensten Gewohnheitsrechte gegolten hatten. Die Gemeindegerichte in der Grafschaft und Hundertschaft, die Träger des öffentlichen Lebens im alten anglo-dänischen Staate, wären niemals taugliche Werkzeuge eines allgemeinen Rechts geworden. Denn das waren Gerichtshöfe der Mittelschichten des Adels, die zu wenig Macht und Ansehen genossen, um den weltlichen und geistlichen Gerichten der Barone und Prälaten ihre Gerechtsame entwinden zu können.

Das englische Common Law.

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Die R i t t e r und Freisassen, die in der G r a f s c h a f t richteten, w a r e n auch selbst mit den verschiedenen örtlichen Gewohnheitsrechten zu eng verk n ü p f t , ihr Geist war ferner zu ungeschult und beschränkt, als dr.ß sie aus der Erleuchtung des eigenen Denkens eine neue, allenglische Rechtswissenschaft hätten schaffen können. Denn selbst die Vorsitzenden Sheriffs waren nicht, wie die königlichen Richter, in einer großen zentralen Schule ausgebildet. Wenn die Nation ein Gemeines Recht erhalten sollte, so mußte es einer einzigen Quelle entspringen u n d diese k o n n t e n u r die königliche Curia sein (vgl. oben S. 140 f.). Heinrich II. hatte selbst im Ausland die Rechte studiert und besaß die Gabe, die richtigen Männer zu wählen. So setzte er ein berühmtes Kollegium königlicher Richter zusammen, teils Geistliche, teils Angehörige der adeligen Kriegerklasse wie Glanvill selbst. Diese Männer und ihre geistigen Nachkommen unter den folgenden Herrschern bildeten im Verfahren der zentralen königlichen Gerichte das Gemeine Recht (Common Law) aus. Und dieselben Männer kamen als w a n d e r n d e Richter (Justices of Eyre, J . of Assize) in die entlegensten Winkel des Landes, verbreiteten dort das Gemeine Recht noch in seinem Entstehen, lehrten die neuen Grundsätze u n d m a c h t e n d a s ganze L a n d mit dem neuen Verfahren v e r t r a u t . Das Common Law, der große ererbte Besitz der englisch r e d e n d e n Völker, h a t diese in ihren Denkgewohnheiten scharf von der Welt römischer Überlieferung geschieden. Trotzdem w a r dieses Recht eine Folge der normannischen Eroberung. Die J u r i s t e n , die es in der Zeit v o n Heinrich II. bis auf Eduard III. ausbildeten, dachten und sprachen französisch und schrieben lateinisch. „Wie k ö n n t e man auch n u r einen Satz juristischen Inhalts schreiben", sagt Maitland, „ohne W ö r t e r anzuwenden wie debt (Schuld), contract (Vertrag), heir (Erbe), trespass (Übertretung), p a y (zahlen), money (Geld), court (Gerichtshof), j u d g e (Richter), j u r y (Schwurgericht). Sie alle sind aus dem Französischen in unsere Sprache gekommen. In all den weltumspannenden Ländern, in denen englisches Recht herrscht, huldigt man täglich dem Geiste Wilhelms von der Normandie und Heinrichs von A n j o u . " Das Gemeine Recht hat nur wenig aus den anglo-dänischen Gesetzbüchern und Gewohnheitsrechten übernommen, die mit ihrem g r a u s a m e n Verfahren, ihrem Reinigungseid und dem Wergeid einer ü b e r w u n d e n e n E n t w i c k l u n g s s t u f e angehörten. Dagegen enthält es gewisse Bestimmungen des damals in ganz E u r o p a herrschenden Feudalrechts, besonders solche über Grundbesitzverhältnisse. Aber das bevorzugte Studium der Gelehrten des 12. J a h r h u n d e r t s galt dem bürgerlichen Recht der alten römischen Kaiser und dem Kirchenrecht, das g e r a d e damals in der

Trerelyan, England

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Heinrich II. 1154-1189.

Ausbildung begriffen war. Diese beiden römischen Rechte dienten sachlich und wissenschaftlich den Männern als Vorbild, die das ganz anders beschaffene englische Recht schufen. Zwischen 1150 und 1250 lockten die Universitäten von Bologna und Paris, an denen die „beiden Rechte" am besten studiert werden konnten, Hunderte von jungen englischen Geistlichen, Rechtsgelehrten, Archidiakonen (Leiter der niederen bischöflichen Gerichte) über das Meer. Sie kehrten zum Leidwesen ihrer Landsleute als italianisierte Engländer zurück, mit fremden Lastern, aber auch mit neuartigem juristischem Wissen. An der Universität Oxford blühten schon bei ihrem Entstehen die Schulen des bürgerlichen und kanonischen Rechtes. So drängt sich nun die Frage auf: Wieso blieb das englische Recht so bodenständig und frei, trotz der mächtigen Einwirkung dieser fremden Gedankenwelt im entscheidenden Jahrhundert seines Werdens? Die großen Grundherrn, die bereits konservative Engländer waren, sahen jedenfalls mit scheelen Augen auf dieses römische bürgerliche Recht als eine fremde Schöpfung, die das absolute Königtum begünstigte, und im Streit mit Becket hatten sie gezeigt, daß sie die kirchlichen Gerichte nicht liebten. Die königlichen Juristen mußten auf diese Gefühle, die übrigens teilweise ihre eigenen waren, Rücksicht nehmen. Sie holten deshalb aus den Büchern des römischen und kanonischen Rechtes nur methodische und geistige Anregungen sowie einige allgemeine Grundsätze, lehnten aber den positiven Inhalt ab. Das englische Common Law wurde nicht ein dem Codex Justinianus nachgeahmtes Gesetzbuch, sondern ein Gewirr von Rechtsfällen, älteren und neueren Entscheidungen, in dem sich nur zünftige Juristen zurechtfinden konnten. Unter den ersten Plantagenets begann die königliche curia ihre Arbeiten auf Unterausschüsse zu verteilen, von denen jeder allmählich ein bestimmtes Gebiet übernahm und ein besonderes Verfahren entwickelte, wie es das Finanzamt (Exchequer) schon unter Heinrich I. begonnen hatte. Ein Richterkollegium, das später als Gerichtshof für Zivilsachen (Court of Common Pleas) bekannt geworden ist, erhielt während der Regierung König Johanns zur Bequemlichkeit der Parteien einen ständigen Sitz in Westminster, wo sich auch das Finanzamt befand, und so erhielt England eine Hauptstadt. Parteien, die andere Rechtsfälle bei der königlichen Kurie anhängig hatten, mußten dem König auf seinen Fahrten kreuz und quer durch das Land folgen. Die königlichen Gerichte waren zunächst mehr richterliche Ausschüsse der curia als Gerichtshöfe im heutigen Sinn. Aber sie und die Wanderrichter in den Grafschaften bildeten immerhin ein regelrechtes Verfahren aus,

Königliche Gerichte.

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so daß sich eine Kasuistik ergab, eine Anzahl schon beurteilter Fälle, aus denen sich das englische Common Law bildete. Das Verfahren, wie es Heinrich II. in seinen schriftlichen Erlässen (writs) angeordnet hatte, ermöglichte den Untertanen, die verschiedensten Prozesse vor die königlichen Gerichte statt vor die örtlichen und privaten Instanzen zu bringen. Der König konnte damals ganz nach freiem Willen schriftliche Erlässe herausgeben, die eine wichtige und reiche Quelle des englischen Rechtes bilden. Erst in der Zeit Heinrich III. und Simons von Montfort, als die königliche Macht bereits durch eine Art Verfassung beschränkt war, bestimmte man die erlaubten Arten königlicher Erlässe und setzte damit dem Recht des Königs, neue zu erlassen, gewisse Grenzen. Aber damals waren die königlichen Gerichte bereits im Begriffe, die ordentlichen Gerichte des Landes zu werden. Teils durch schriftliche Erlässe (writs), teils durch Verfügungen (assizes), d. s. königliche Dekrete, die in einer assize, einer Versammlung angesehener Männer, erlassen wurden, schufen die Herrscher von Heinrich II. bis auf Heinrich in. neue Verbesserungen, neue Arten des Prozesses und neue Verfahren, zum Nachteil der adeligen und kirchlichen Gerichte. Eine andere Gesetzgebung, in unserem Sinne des Wortes, gab es nicht. Durch solche Verordnungen bot Heinrich n . den Untertanen die Möglichkeit, in den königlichen Gerichten andere und bessere Arten des Verfahrens zu finden. Er entzog damit tatsächlich den feudalen Gerichten den größten Teil ihrer Rechtsprechung in Angelegenheiten der Besitzverhältnisse und hielt so den Schild über kleine Grundeigentümer, deren Besitz der größere Nachbar begehrte1). Durch diese Gesetzgebung im Verordnungswege führte Heinrich II. zu gleicher Zeit das Geschworenengericht ein. Der barbarische angelsächsische Reinigungseid, in dem der Mann sein Recht dadurch bewies, daß er seine Freunde und Verwandten in genügender Zahl mitbrachte und sie schwören ließ, daß sie seinem Eid glaubten; die abergläubische Probe des heißen Eisens, die ursprünglich heidnisch war, aber vom Christentum übernommen wurde; das vom normannischen Krieger besonders bevorzugte, bei den Engländern ') Die Verordnungen über widerrechtliche Besitzergreifung (Novel Disseisin, 1166) und über den Tod des Erblassers (Mort d'Ancestor) schützten den Besitzer und seinen Erben gegen unberechtigte Vertreibung. Die Große Verordnung (Grand Assize, 1179) regelt Eigentumsprozesse und die Verordnung über die letzte Gewährung der Rechtswohltat (Assize of Darrein Presentment) Streitigkeiten über Pfründen. All das erweiterte die königliche Gerichtsbarkeit bedeutend. 12*

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Heinrich EL 1154—1189.

aber stets unbeliebte Gottesgericht des Zweikampfes, bei dem die Gegner mit uralten Waffen aus Holz oder Horn aufeinander loshieben, bis einer geneigt war, das entscheidende „Besiegt" zu rufen: das alles waren Verfahren, die ebensooft zu Unrecht wie zu Recht führten und sehr häufig mit einem ungerechten Urteil auf Verstümmelung oder Tod endeten. Wenn wir auf diese unermeßlichen Leiden der Menschen zurückblicken, so entsetzt uns der Gedanke, daß das vernunftgemäße Suchen der Wahrheit vor Gericht erst ein Luxus der modernen Gesittung ist. Unentwickelte Völker haben es kaum in Angriff genommen. Im mittelalterlichen England tat Heinrich II. den ersten Schritt in dieser Richtung, indem er an Stelle der veralteten Verfahren die Anfänge des Geschwumenüeriohts setzte. Das Geschwornensericht, das damals eingeführt wurde, bestand nicht, wie heute, aus Personen, die vereidigt sind, um die Aussagen zu hören und das Urteil zu fällen. Heinrichs Geschworene waren selbst Tatzeugen und das war schon ein großer Fortschritt, da die Gerichte bisher nur allzu selten Zeugen herangezogen hatten. Heinrichs „Große Verordnung" (etwa 1179) gab dem Mann, dessen Recht auf einen Grundbesitz bestritten wurde, die Wahl frei, statt des Gottesurteils durch Zweikampf die Entscheidung eines Geschworenengerichtes zu verlangen. Wenn er sich dafür entschied, so hatten zwölf Nachbarn, die über die Tatsachen Bescheid wußten, vor den königlichen Richtern zu bezeugen, auf wessen Seite das bessere Recht sei. Eine andere Art von Geschwornengericht, die Jury of Presentment or Accusation oder das Gericht der direkten Anklage, wurde durch die Verordnungen von Clarendon (1166) und Northampton (1176) eingesetzt. Zwölf vereidigte Männer aus jeder Hundertschaft hatten dem Gericht diejenigen ihrer Nachbarn vorzuführen, die ein Verbrechen begangen hatten. Wie die Geschwornen der Großen Verordnung waren auch diese nicht Richter über die Tat, sondern Zeugen der Tat. Mindestens kannten sie den Ruf des Angeklagten. Ihre Anklage unterwarf den Beschuldigten dem Gottesgericht. Wenn dieses zu seinen Gunsten entschied, so entging er zwar dem Galgen, wurde aber aus dem Königreich verbannt. Als das lateranische Konzil 1215 das längst in Verruf geratene Gottesurteil aufhob, indem es den Geistlichen verbot, den Mummenschanz der Feuerprobe zu leiten, war in England der Weg frei zur weiteren Entwicklung des Geschwornenwesens. Im Laufe des späteren Mittelalters wurden aus den vereidigten Zeugen allmählich Richter über die Tat selbst. Im 15. Jahrhundert arbeitete das Geschwornengericht im großen und ganzen so wie heute. Die Engländer rühmten sich seiner schon damals, und der Oberrichter Forstescue stellte

Geschworn engerichte. Kostspielige Rechtspflege.

Igt

e» voll Stolz in Gegensatz zu dem französischen Verfahren mit 6einer ausgiebigen Anwendung der Folter'). Heinrichs neues Rechtsverfahren war volkstümlich und eifrig bogehrt. In einer Gesellschaft, die erst ganz langsam der Barbarei entwuchs, waren Grausamkeit, Gewalttat und Unterdrückung alltägliche Erscheinungen und die königlichen Erlässe boten dem Wehrlosen zumindest gelegentlich Schutz und Hilfe. Das königliche Gericht h a t t e allerdings auch eine weniger anziehende Seite. Es war nämlich ein Mittel zur Füllung der stets geldbedürftigen königlichen Kasse. Nicht nur der selbstlose Wunsch, dem Volk eine gute Rechtspflege zu sichern, trieb Heinrich II. dazu, den Bereich seiner einträglichen Gerichtshöfe zu erweitern. Seine Nachfolger Richard, Johann und Heinrich IIL nahmen ein noch geringeres Interesse an der Gerechtigkeit, d a f ü r ein um so größeres am Gelde und suchten daher alle das königliche Gerichtswesen auszudehnen. Die Richter sorgten mit ebensolchem Eifer für die königlichen Einkünfte wie für den Landfrieden. Es waren eben die beiden Seiten desselben Vorgangs. Besonders erpresserisch, ungeheuerlich und daher verhaßt war seit Heinrich III. das Verfahren der „General Eyre". Da wurde ein königlicher Kommissär in solch eine unglückliche Grafschaft geschickt, um die ganze rechtliche und geldliche Gebarung der Richter und Freischöffen seit dem letzten Wandergericht (Eyre), das vielleicht vor sieben oder noch mehr Jahren stattgefunden hatte, zu überprüfen und für jedes geringfügige Versehen schwere Geldstrafen herauszupressen. 1323 flohen die Leute von Cornwall mit Weib und Kind in die Sümpfe und Wälder, um der gefürchteten Untersuchung zu entgehen. Während der R-egierung Eduards III. hörten die General Eyre, teilweise wegen ihrer Unbeliebtheit, auf und die wandernden Richter erhielten seitdem geringere Vollmachten. Die königliche Gerichtsbarkeit war unter den ersten Plantagenets zweifellos ein mächtiger Hebel des Fortschrittes. Aber uneingeschränktes Lob kann man ihr ebensowenig zollen wie anderem Menschenwerk. Heinrich II. war ein Despot, aber wie seine Namensvettern aus dem Hause Tudor lebte er in einer Zeit, in der das Volk vor allem eine •) Die Geschworneneinrichtnng, wie die K ö n i g e und Richter sie z u r Zeit d e r P l a n t a g e n e t s schufen, wurde angeregt durch die Methode, die die normannischen K ö n i g e bei der Feststellung d e s Gemeindebesitzes gelegentlich der D o m e s d a y A u f n a h m e und ähnlicher Untersuchungen anwendeten. Aber auch d a s anglod ä a i s e h e Gewohnheitsrecht kannte bereits zur Zeit Ethelreds eine Einrichtung, die Biit der Jury of P r e s e n t m e n t Heinrichs II. eine auffallende Ähnlichkeit h a t t e (vgl.

•ben S. 95).

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Kreuzzüge. Yerfassungskämpfe. 1190—1270.

kraftvolle Regierung wünschte. Und gleich jenen war er ein Despot, der das Gesetz achtete, seinem Volk vertraute, der kein stehendes Heer hielt, sondern seine Untertanen gern in Waffen sah, was verhaßte Tyrannen gewöhnlich nicht wagen. Die Waffenverordnung von 1181 ordnete bis ins einzelne an, welche Schutz- und Trutzwaffen der Mann jedes Standes, bis hinunter zum letzten Freibauern und Handwerker, im Notfall für den königlichen Dienst bereit halten müsse. Es war eine ihrer Absicht nach adelsfeindliche Maßregel, die uns rückblicken läßt auf das alte sächsische Aufgebot (fyrd) und vorwärts auf das neue, werdende England. Es bleibt das Verdienst Heinrichs von Anjou, daß der Gesetzlosigkeit im Staate bereits im Frühschein unserer Geschichte ein Ende gesetzt wurde, anstatt auf der Höhe des Mittags, wie das das Schicksal der feudalen Staaten auf dem Festlande sein sollte. Und es ist ihm zu danken, daß „der Friede des Königs" durch ein volkstümliches Recht erzielt wurde, das, im Gegensatz zu den unmittelbar dem römischen Recht nachgeahmten Gesetzgebungen, das Recht selbst als Richtschnur nahm und nicht den Willen des Herrschers. III. Richard I. und die Kreuzzüge. Hubert Walter. Die Mittelklassen. Aus dem Feudalismus erwächst ein Verfassungsleben. Johann und die Magna Carta. Heinrich i n . und Simon von Montfort. Könige: Richard I. 1189—1199. Johann 1199—1216. Heinrich III. 1216—1272.

Im 9. und 10. Jahrhundert bedrohten Feinde die europäische Christenheit von Osten, Süden und Norden her. Europa war nicht Angreifer sondern angegriffen, nicht Forscher sondern Forschungsgebiet. Wenn seine Feinde es nach Karl dem Großen nicht geradezu am Leben bedrohten, so bemühten sie sich immerhin, es vom Meer, von der Herrschaft über die eigenen Küsten abzusperren und damit von den Möglichkeiten des Handels und der Ausweitung über die Welt, die wir als Bestimmung der europäischen Völker empfinden. Im Norden waren die heidnischen Wikinger die Herren des Meeres und der Küsten, im Süden stand der größte Teil Spaniens und Siziliens unter arabischer Herrschaft, auf dem Mittelmeer begegneten einander die Schiffe der Moslems und der Wikinger. Von der unteren Donau stießen die heidnischen Magyaren in das Herz Deutschlands und in die lombardische Ebene vor. Zur See und zu Lande war Westeuropa nach allen Seiten hin abgesperrt, sogar von Konstantinopel, dem Herzen der östlichen Christenheit und Kultur.

Das Abendland im Angriff.

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Im 11. und 12. Jahrhundert trat ein Umschwung ein. Die langsame Wiedereroberung Spaniens von Norden her begann, Normannen verdrängten die Sarazenen aus Sizilien. Die Wikinger wurden zurückgeworfen oder bekehrt, ihre großartige Kraft begegnet uns wieder in den normannischen Kriegern und Staatsmännern, die zu Vorkämpfern des christlichen Rittertums werden. Auch die Magyaren nahmen die Taufe und ihr Königreich Ungarn öffnete den Kreuzheeren den Landweg nach den Balkanländern, dem byzantinischen Reich und weiter nach Kleinasien und dem Heiligen Land (s. die Karte S. 30). Die Herrschaft zur See ging in die Hände der italienischen Republiken Genua und Venedig über, die infolgedessen die Beförderung der Kreuzfahrer nach dem Morgenland übernehmen konnten. Dieser glänzende Aufschwung des Abendlandes war im wesentlichen ein Werk des Feudalismus. Trotz ihrer Fehler erschien die christliche feudale Gesellschaftsordnung den Wikingern und Magyaren als etwas Überlegenes und wurde daher von ihnen angenommen. Sie hatte auch dem Vordringen des Islam Halt geboten. Wenn das feudale Ritterheer mit der eingelegten schweren Lanze angriff, so konnte nichts dem Anprall widerstehen. Das Fußvolk hatte nun, bis zum Aufkommen der englischen Bogenschützen, keinen Wert mehr. Im 12. und 13. Jahrhundert brachten Verbesserungen in der Kunst des Burgenbaues dem grundbesitzenden Adel eine weitere Erhöhung seiner militärischen Macht. Richards berühmtes Schloß Gaillard an der Seine und die Festungen der Kreuzfahrer im Osten waren weit stärker als die Wall- und Pallisadenbauten, mit denen einst die Normannen das eben eroberte England niederhielten. Sie waren auch stärker als die viereckigen Zwingburgen, von denen die Wirren während der Regierung König Stefans ausgingen. Das Hauptstück im neuen Festungsbau war die lange Kurtine, d. h. eine Mauer, der in regelmäßigen Zwischenräumen Verteidigungstürme aufgesetzt waren. Innerhalb der Mauer liegt ein einziger großer Burghof. Derartige Burgen sind noch in Conway, Carnarvon und Harlech, den Stützpunkten der Plantagenets in Wales, erhalten, ebenso in Bodiam Castle nördlich von Hastings. Unter diesen veränderten Umständen und mit dieser überlegenen Kriegskunst mußte das erstarkte Selbstvertrauen der feudalen Christenheit nach äußerer Machterweiterung streben. Die Kreuzzüge befriedigten zugleich die Sehnsucht des frommen Sinns und die Begierde nach Kampf, Entdeckung und Beute. Sie entsprangen nicht dem politischen Willen nationaler Staatsmänner, sondern dem Geist des fahrenden Ritters, der charakteristischen Gestalt im wirklichen Leben der Zeit. In den

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Kreuzzüge. Verfassungskämpfe. 1190—1270.

Kreuzzügen haben die unruhigen und lebensvollen Völker des neuen E u r o p a zum erstenmal ihre K r ä f t e nach außen hin geregt und das sollte nun nicht mehr aufhören, bis sie sich die Erde unterworfen h a t t e n . Eis w a r der alte Wikingergeist, aber sein Stoß richtete sich nicht mehr landeinwärts gegen die Lebensadern Europas, sondern hinaus gegen die asiatischen Nachbarn. Auf den wiedergeöffneten W e g e n längs der Donau und über das Mittelmeer wandten sich diese abenteuerlustigen K r ä f t e , die dereinst den Atlantischen und Stillen Ozean überqueren sollten, nun nach Südosten. England, in seiner Nordwestecke, blieb zuerst zurück. Einzelne englische Ritter nahmen lange Zeit an den Kreuzzügen teil, aber die Bewegung wurde niemals nationales Unternehmen und nationale Überlieferung wie in Frankreich. Der Grund ist k l a r : F r a n k r e i c h h a t eine Mittelmeerküste, England nicht. Daher h a t t e England so g u t wie keinen Anteil am ersten, dem erfolgreichsten Kreuzzug (1095—1099), in dem Gottfried von Bouillon J e r u s a l e m befreite und in Syrien fränkische S t a a t e n errichtete. Im dritten Kreuzzug (1190—1193), der diese größtenteils an Sultan Saladin verlorengegangenen Gebiete wiedererobern sollte, g e w a n n König Richard Löwenherz persönlichen Ruhm als größter der fahrenden Ritter. Er nahm eine Anzahl abenteuerlustiger Engländer mit, aber nicht den Kern des hohen Adels. Dieser blieb zu Hause, um das Reich in der Abwesenheit des Königs zu verwalten. Im niedern Volke war die innere Teilnahme am dritten Kreuzzug gerade g r o ß g e n u g , um zu ein p a a i schrecklichen Judenmetzeleien zu führen. Aber mittelbar war die W i r k u n g der Kreuzzüge auf England sehr groß, denn sie erweiterten und bereicherten den Gesichtskreis der mittelalterlichen Christenheit und damit auch Englands. Sie brachten viele besonders fähige Männer der erst halb entwickelten abendländischen Gesellschaft in f r u c h t b a r e Berührung mit dem Handel, der Kunst, den Kenntnissen und der Forschung des Ostens. Sowohl der feindliche Sarazene wie der v e r b ü n d e t e Byzantiner waren Erben älterer und reicherer Kulturen. Selbst die neue Kunst des Festungsbaus wurde s t a r k durch die Schlösser beeinflußt, die die Kreuzfahrer in Asien kennen lernten. Die F r a n k e n legten in Syrien Niederlassungen und Hafenplätze an, die den Handel zwischen den beiden Erdteilen mächtig anregten. Die Kreuzzüge hoben Venedig, den wichtigsten Vermittler dieses Handels, auf den Gipfel seines Ruhms und Reichtums. Sie machten es dem Venezianer Marco Polo und vielen italienischen Kaufleuten und Missionaren möglich, bis in das Herz Asiens, bisweilen sogar bis an die chinesische K ü s t e vorzudringen. E u r o p a und damit auch E n g l a n d

Folgen der Kreuzzüge. Richard Löwenherz.

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wurde mit Luxuswaren überschwemmt, die aus dem Osten eingeführt oder ihm nachgeahmt waren. Die wachsenden geistigen Interessen des Westens fanden in den Universitäten und in ketzerischen Lehren ihren Ausdruck; sie standen gleichfalls unter dem starken Einfluß östlicher Philosophie und Naturwissenschaft. Das reiche, bunte Leben des späteren Mittelalters, die Welt Dantes und Chaucers wäre undenkbar, wenn Europa in der Abgeschlossenheit der früheren Zeit verharrt hätte. Das waren die Errungenschaften, die Europa aus dem Osten heimbrachte. Der glühende Eifer der Kreuzfahrer wurde weder mit der dauernden Befreiung des Hl. Grabes belohnt noch mit der brüderlichen Einigkeit des christlichen Abendlandes, deren Unmöglichkeit gerade die Geschichte der Kreuzzüge beweist. Ebensowenig fand das byzantinische Reich, das wirkliche Bollwerk christlicher Kultur gegen den Islam, dauernde Hilfe, im Gegenteil, die Kreuzfahrer verrieten es 1203 zu selbstsüchtigen Zwecken. Was Mut und Blut der Kreuzfahrer in Wirklichkeit für die Nachwelt erkämpfte, das war das Aufblühen von Handel, Gewerbe und Luxus, die Freude am Schauen und Hören, der Stolz des Denkens, die Anfänge der Naturwissenschaft, kurz lauter Dinge, von denen ein Peter von Amiens und andere Eiferer, die in der Einfalt ihres Herzens das Kreuz predigten, nichts hätten wissen wollen. Als König von England war Richard (1189—1199) nachlässig, aber volkstümlich. Ein richtiger fahrender Ritter, war er fast nie im Lande. Als er auf den langen Kreuzzug ging, traf er Vorkehrungen für die Verwaltung des Landes, deren Störung durch seinen Bruder Johann fast von vornherein sicher war. Denn er legte in die Hand dieses Mannes, der bereits ein überwiesener Verräter und Taugenichts war, ein halbes Dutzend Grafschaften, die weder an die königliche Kasse irgend etwas zu leisten hatten noch der königlichen Gerichtsbarkeit unterworfen waren. Aber die unmittelbare königliche Verwaltung, wie Heinrich II. sie ausgebaut hatte, hatte schon so tiefe Wurzeln gefaßt, daß auch eine Empörung Johanns gegen seinen abwesenden Bruder den Staat nicht zu erschüttern vermochte (1193—1194). Richard hatte gerade Hubert Walter zum Erzbischof von Canterbury und zum Justiciarius oder obersten Kronbeamten ernannt. Mit Hilfe der adeligen Beamtenschaft und des Bürgermeisters (Mayors) und der Bürger von London schlug Hubert den Aufstand Johanns nieder. Er bewirkte auch die Befreiung Richards aus dem österreichischen Gefängnis, in das ihn seine Kreuzzuggefährten auf der Heimreise geworfen hatten. Der König belohnte Englands Treue mit neuen Geldforderungen und ging dann gleich wieder zum Kampf um sein angevinisches Erbe außer Landes,

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Kreuzzüge. Verfassungskämpfe. 1190—1270.

um nicht wieder zurückzukehren. Fünf Jahre später (1199) empfing er die Todeswunde im Kampf mit einem unbedeutenden Vasallen vor den Mauern einer kleinen Festung. Der tatsächliche Herr Englands war Hubert Walter, und er führte seine Sache besser, als es Richard vermocht hätte. Er hielt nicht nur den Landfrieden aufrecht, sondern er machte den Anfang mit einer neuen Politik, der Politik des Vertrauens zu den Mittelklassen in Stadt und Land, und arbeitete damit den großen Veränderungen unter den nächsten zwei Herrschern wesentlich vor. Vielleicht mit Ausnahme von London und einem oder zwei anderen Orten waren die englischen Städte, auch wenn sie an den Stellen einstiger Römersiedlungen lagen, nicht die unmittelbaren Nachfolger römischer Munizipien wie die Städte Frankreichs und Italiens. Sie waren größtenteils während der sächsischen Zeit aus Dörfern oder Festungen zu Marktplätzen emporgewachsen (vgl. oben S. 97) und standen dahe'r im 12. Jahrhundert unter grundherrlicher, also geistlicher, weltlicher oder königlicher Verwaltung. Es begann nun die Zeit ihrer Loslösung von dieser Oberhoheit, die sich am raschesten auf königlichem Besitz vollzog. Die Politik Heinrichs n . hatte sicher die städtische Selbständigkeit ebensowenig fördern wollen wie die feudale. Beide waren ihm als Eingriffe in die unmittelbare Macht der Krone gleich verdächtig. Wenn wir aber aus den Taten Hubert Walters einen Schluß auf seine Gesinnung ziehen dürfen, so hatte dieser weise Prälat und Staatsmann begriffen, daß feudale Vorrechte die Macht des Staates schwächen, das Wachstum der Städte ihr aber förderlich ist. Er verlieh mehreren Gemeinden urkundlich das Recht, sich durch gewählte Beamte selbst zu verwalten. Das altenglische Wort „Alderman" und das französische „Mayor" spiegeln den doppelten Ursprung der mittelalterlichen Stadtfreiheit wieder. Hubert scheint allerdings, wie vor ihm Heinrich II., die besondere Macht gefürchtet zu haben, die die Bürger Londons aus ihrem Reichtum, ihrer Zahl und der geographischen Lage ihrer Stadt schöpften. Trotzdem haben sie sich während der durch Johanns Winkelzüge hervorgerufenen Unruhen ein für allemal das Recht gesichert, ihren Mayor zu wählen. Diese Bezeichnung erscheint damit in England zum erstenmal. Als Johann König geworden war, fuhr er fort, den Städten die Unabhängigkeit für hohe Summen zu verkaufen. Hubert Walter stellte ferner die Mittelklasse auf eine sehr beachtenswerte Weise in den Dienst der Grafschaftsverwaltung. Der kluge Justiciarius zog den ländlichen Kleinadel, die Ritter, die auf ihren Schlössern

Hubert Walter. Die Städte. „Coroners".

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friedlich der Landwirtschaft nachgingen, immer mehr zur Verwaltung der Grafschaften heran. Hier sehen wir die deutlichen Anfänge des England eigentümlichen Verwaltungssystems, in dem die Krone zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung in weitem Maße auf die freiwillige Mitarbeit des Adels der Gegend angewiesen ist. Der König hängt nicht ganz vom Sheriff und den Richtern oder von einer zentralisierten Beamtenschaft ab, wie sie später auf dem Festland entstand. Diese neue Politik kam zu ihrer vollen Entwicklung in den Friedensrichtern der späteren Zeit. Während der Regierung Richards I. versahen die Adeligen ihre Aufgaben noch nicht unter diesem Namen, wohl aber wurden sie bereits damals, wenn nicht schon früher, verhalten, als „Coroners" (Kronbeamte, Kronrichter) die gerichtlichen und finanziellen Rechte des Königs in der Grafschaft wahrzunehmen. Dieser Dienst erfolgte nicht immer freiwillig, es war vielmehr eine der Leistungen des mittelalterlichen Königtums, die Engländer zwangsweise an die Selbstverwaltung zu gewöhnen. Die Ritter der Grafschaft dienten der Krone als nützliche Kontrolle des Sheriffs, den König und Volk des häufigen Mißbrauchs seiner großen Macht verdächtigten. Die Bestellung der Coroners behielt Hubert Walter nicht selbst in der Hand, doch legte er sie auch nicht in die Hand des Sheriffs. Er verfügte, daß diejenigen, für deren Prozesse das Grafschaftsgericht zuständig war, also die kleinen Adeligen, vier Männer aus ihrer Mitte zu diesem Amte wählen. Nach demselben Grundsatz befahl er, daß die Geschworenen nicht mehr, wie ehedem, vom Sheriff, sondern von einem Ausschuß von vier Rittern namhaft zu machen seien, die ihrerseits vom Grafschaftsgericht zu wählen waren (1194—1198). Die Selbstverwaltung der Grafschaft besorgen also nicht die großen Barone, sondern der niedere Adel und wir finden hier bereits den Grundsatz der Vertretung auf Grund einer Wahl. So kam am Ende des 12. Jahrhunderts in England eine ländliche Mittelklasse empor, die an die Durchführung öffentlicher Aufgaben gewöhnt war. Sobald diese örtliche Betätigung des Kleinadels und die Idee der Vertretung auf die höhere Stufe eines nationalen Parlaments gehoben wurde, ergaben sich gewaltige Folgen für England und für die Welt. Während der Regierung König Johanns (1199—1216) ging der feudale Widerstand der Barone gegen die übergroßen Forderungen des Königs allmählich in einen Verfassungskampf über, der auch alle anderen Klassen der Freien ergriff. Durch seine unumschränkte Macht hatte das Königtum das Land mit der Idee eines Gemeinen Rechts (Common Law) vertraut gemacht. Während der Regierung Johanns

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Kreuzzüge. Verfassungskämpfe. 1190—1370.

nnd seines Nachfolgers Heinrichs III. begann man den Begriff des Rechts genauer in dem Sinn zu formulieren, daß es sein eigenes, von der königlichen Gewalt ganz abgesondertes Leben habe, daß es etwa« ü b e r dem König Stehendes sei, nach dem dieser sich in seiner Regierung richten müsse. Was wir heute „konstitutionelle Ideen" nennen, erwuchs langsam aber beständig im Lauf des 13. Jahrhunderts. Die englische Verfassung ist ein Kind aus der Ehe des Feudalismus mit dem Common Law. Denn der Feudalismus ist der Widerpart des Despotismus. Er kann zur Tyrannei, auch zur Gesetzlosigkeit entarten, aber niemals zum Despotismus. Denn er ist ein System des ausgebildeten Gleichgewichts bestimmter Rechte und Pflichten, an denen der König und die verschiedenen Inhaber von Grund und Boden ihren fest umrissenen Anteil haben. Die Barone und Ritter stehen auf Grund feudalen Rechts und Brauchs im Schutz des Königs. Wenn er von ihnen Dienste, Hilfe oder Leistungen über das gewohnte Maß in Anspruch nahm, so leisteten sie ihm, gestützt auf das feudale Recht, Widerstand. Das war der Ausgangspunkt der Bewegung, die zur Verfassung und zum Parlament führte. Der König fand es bequemer, statt jeden Streitfall mit jedem Adeligen einzeln auszutragen, mit ihnen zu einem gemeinsamen Abkommen im Rat oder im Parlament zu gelangen. Noch in einem anderen Sinn war das englische Verfassungsleben feudalen Ursprungs. Der Widerstand gegen den königlichen Despotismus des 13. Jahrhunderts war deshalb erfolgreich, weil der feudale Adel, im Gegensatz zu den Grundbesitzern späterer Zeiten, noch bis zu einem gewissen Grade eine Kriegerklasse war. Wenn auch, wie wir gesehen haben, viele von ihnen nicht mehr an den richtigen Krieg gewöhnt waren, so hatten sie doch alle ihre Kettenpanzer und ihre Streitrosse, manche waren auf einer Kreuzfahrt gewesen, viele lebten in ständigem Geplänkel mit ihren wallisischen und schottischen Nachbarn. Das war es, was den Baronen der Magna Carta und den Anhängern Simons von Montfort die Möglichkeit gab, gegen den König zu kämpfen. Darum konnten die Barone Bohun und Bigot auf die Drohungen Eduards I. so selbstbewußt antworten: „Bei Gott, Herr König, wir werden weder gehen noch hängen." Sir John Eliot hätte es nie wagen können, Karl I. ßo zu antworten; Pym und Cromwell mußten erst durch eine Revolution die bewaffnete Macht schaffen, die die Parlamentarier des Mittelalter» selbstverständlich und gesetzlich besaßen. Johann hatte alle Eigenschaften, um einen verfassungsmäßige« Widerstand heraufzubeschwören. Er war falsch, selbstsüchtig und grau-

KOnig and AdeL

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u m , wie zum Gegenstand des Hasses geschaffen. Seine Absichten verfolgte er hartnäckig und mit taktischem Geschick, aber er besaß keinen politischen Weitblick. Er beugte das feudale Recht und mißbrauchte die trefflichen Staatseinrichtungen, um von allen Klassen seiner Untertanen, von Geistlichen und Weltlichen, Armen und Reichen, Bürgerlichen und Adeligen Geld zu erpressen, und vergeudete es dann in ungeschickten, erfolgiosen Versuchen, sein angevinischea Erbe gegen die steigende Macht der capetingischen Könige von Frankreich zu verteidigen. 1204 ging die Normandie an Frankreich verloren und zehn J a h r e später scheiterte Johanns Plan, sie durch einen großen europäischen Bund gegen Frankreich wiederzugewinnen, an der Niederlage seiner deutschen Verbündeten bei Bouvines (1214). Diese Ereignisse sowie der langwierige Streit mit dem Papste, der zur Verhängung des Interdikts über England führte, bildeten das Vorspiel zur Magna Carta. Johanns Ansehen war erschüttert und die Macht, die die Könige von England einst aus ihren auswärtigen Besitzungen gezogen hatten, war zu ihrer großen Schwäche geworden. Die Schlacht von Bouvines verhalf England zu einer Verfassung und sicherte gleichzeitig die Wiedervereinigung Frankreichs unter der Herrschaft Philipp Augusts. Der sangesfrohe französische Hof, die Universität und die Bauhütten von Paris waren der kulturelle Mittelpunkt des ritterlichen Europas der Kreuzzüge. Es war natürlich, daß dieser Hof nach Bouvines auch der politische Mittelpunkt des feudalen Frankreich wurde. Aber es gelang dort nicht, die königliche Macht durch solche Verwaltungseinrichtungen zu stärken, wie sie die Plantagenets in England geschaffen hatten, und die französische Monarchie sollte deshalb in den Tagen von Crecy und Azincourt durch den englischen Angriff von außen und den Verrat der Großen im Innern noch einmal einen schweren Niedergang erleben. Inzwischen war im 13. J a h r h u n d e r t der festländische Besitz der englischen Könige auf ein vernünftiges Maß zusammengeschrumpft. Das angevinische Reich bestand nicht mehr, aber sie hielten doch noch die Gascogne mit dem Hafen von Bordeaux, der Anreiz zum Handel mit dem Kontinent bot und billigen, vortrefflichen Wein nach England lieferte, so daß Met und Bier vom Tisch der englischen Mittelklasse verschwanden. Damit hörten auch die rührenden Bemühungen unserer Väter auf, unter einem sonnenlosen Himmel Trauben zu ziehen. Aber die Verbindung mit der Gascogne war nicht so eng wie einst die Beziehung zur Normand'e, als so viele Barone Besitz und Verwandte auf beiden Seiten des Kanals hatten. Während der eineinviertel J a h r hunderte zwischen dem Verlust der Normandie und dem Hundert-

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Kreuzzüge. Verfassungskämpfe. 1190—1270.

jährigen Krieg sprachen die englischen Könige, Barone und Ritter zwar noch ein elendes Französisch, aber am Herzen lagen ihnen nur mehr die Angelegenheiten Englands, die Beziehungen zu Wales und Schottland, die Entwicklung des Rechts und des Parlaments. Diese Besinnung auf den insularen Standpunkt hat das Land davor bewahrt, sein Schicksal an das Frankreichs zu ketten. Hätte sich das England des 13. Jahrhunderts der Verteidigung des angevinischen Reiches gegen Frankreich gewidmet, so wären die Gedanken und Kräfte seiner Führer von den nationalen Interessen und inneren Fragen abgelenkt worden. Als Eduard IH. 1337 an die Wiedereroberung Frankreichs schritt, da hatte das englische Recht schon feste nationale Formen angenommen, das Parlament war auf dem besten Wege zu demselben Ziel und das englische Volk war sich seiner Eigenart bewußt. Der erste große Schritt auf dem Wege zur Verfassung war die Magna Carta (1215). Unter den bewaffneten Baronen, die sie dem König Johann auf Runnymede abtrotzten, war, soweit wir wissen, keine bedeutende Persönlichkeit. Nur ihr Bundesgenosse, der Erzbischof Stefan Langton, besaß geistige und sittliche Größe. Seine Haltung ist um so höher anzuschlagen, als er dadurch in Gegensatz zu den Wünschen des großen Papstes Innozenz III. geriet, der Johann zum Dank für seine politische Unterwerfung (1213) in allen Wechselfällen des Kampfes gegen seine Untertanen zu helfen suchte und die Magna Carta für null und nichtig erklärte. Wenn wir noch beachten, daß Stefan Langton seine Wahl zum Erzbischof von Canterbury der päpstlichen Unterstützung verdankte, so scheint uns seine feste politische Haltung besonders bemerkenswert. Die Barone handelten selbstsüchtig und klassenbewußt, freilich nicht mehr und nicht weniger als die englischen Klassen und Parteien, die in späteren Zeiten „unspre liebe Verfassung" weiter entwickelt haben, indem sie große Forderungen stellten und sich schließlich zu einem praktischen Mittelweg bereit fanden. Jene Barone hätten sicherlich kräftig geflucht, wenn ihnen jemand mit den idealisierten falschen Auslegungen der Magna Carta aus der Zeit der Stuarts oder der George gekommen wäre, so z. B., daß Artikel 39 für den letzten Hörigen den Prozeß vor Geschworenen verlange und daß nach Artikel 12 und 14 sämtliche Steuern durch ein nationales Parlament zu bewilligen seien. Die damaligen Forderungen waren weit begrenzter und praktischer und gerade darum haben sie eine Bewegung mit Erfolg eingeleitet, die schließlich zu solch ungeahnten Freiheiten für alle führte. Die Barone hatten sich vereinigt, um den König vom Mißbrauch gewisser Zwischenfälle im Lehensverhältnis und von übermäßigen,

Die Magna Carta.

191 dem Herkommen widersprechenden Forderungen an sie abzubringen. Man hat von einer „Pächterbewegung" der unterdrückten Adelsklasse gegen ihren Grundherrn, den König, gesprochen, wozu aber zu sagen ist, daß die Barone die widerrechtlichen Forderungen des Königs größtenteils nach unten weitergaben. Die Barone wünschten auch der fortwährenden Einschränkung ihrer Gerichtshoheit einen Riegel vorzuschieben. Denn der König zog im Wege schriftlicher Erlässe einen Fall nach dem andern vor sein Gericht. Uns scheint die erste Forderung berechtigter als die zweite. Wenn wir aber die Lage im ganzen überblicken, so war es bereits Zeit, die Allmacht des Königs zu zügeln oder die der Nation an ihre Stelle zu setzen. Und bloß die Barone konnten eine solche Bewegung zum Ziel führen. Stefan Langton war ein erleuchteter Führer seiner adeligen Bundesgenossen. Doch wurden diese auch ohne ihn durch die Umstände auf den Weg des Fortschritts gewiesen. Denn die Kraft des Staatsapparats der Plantagenets schloß eine Rückkehr zum reinen Feudalismus aus und die Barone dachten gar nicht daran1. Sie wollten durchaus nicht das Werk Heinrichs II. zertrümmern, denn dieses war ein Teil ihrer selbst und des Lebens der Nation geworden. Sie wußten, daß das unzerstörbar sei, und wünschten nur eine Form öffentlicher Kontrolle. Sie wollten nicht, daß die Herrschaft über den Staatsapparat in der Hand eines Einzigen liege. Bis in den Anfang des 12. Jahrhunderts war das Streben des Adels darauf gerichtet, daß sich jeder einzelne seine persönliche Unabhängigkeit und seine privaten Freiheiten erhalte, d. h., daß sein Gebiet dem Bereiche der königlichen Beamten entzogen bleibe. In Schottland und auf dem Festlande war es noch so. Aber seit Heinrich II. konnte man in England an solche Zustände nicht einmal mehr denken. Die neue englische Adelspolitik, die durch die Magna Carta besiegelt wird, geht darauf aus, allgemeine Freiheiten zu erlangen und den König durch das Gemeine Recht, durch Adelsversammlungen und durch den Bund mit anderen Bevölkerungsklassen zu überwachen. Wenn die Barone das berühmte Zugeständnis erlangten, daß kein außerordentliches „Schildgeld oder eine andere Leistung in unserem Königreiche auferlegt werden darf, außer durch den allgemeinen Rat unseres Königreichs", „und ebenso soll es gehalten werden mit Leistungen der Stadt London", so setzten sie genau fest, daß der „allgemeine Rat" eine streng feudale Versammlung der großen Lehensträger zu sein habe. Nichtsdestoweniger taten sie damit einen Schritt in der Richtung auf parlamentarische Grundsätze und die Regel „keine Steuer ohne Volksvertretung". Es war ein kleiner Schritt, aber er war der erste, und auf den ersten Schritt kommt es an.

192

Kreuzzüge. VerfassungsJt&npfe. 1190—1270.

Die Barone von Runnymede brauchten ferner die Unterstützung der anderen Klassen, die Jobann bedrückt und sich entfremdet hatte. Allein wäre der hohe A d e l nicht stark genug gewesen, sich gegen den Sohn Heinrichs I L aufzulehnen. Die Londoner öffneten dem Adelsheer ihre Tore und zogen in voller Rüstung zu Felde, der Klerus lieh seine politische und moralische Unterstützung. Die „liberi homines" oder freien Leute halfen mit ihrer stillen Zustimmung und die Leibeigenen waren eine stumpfe, ganz unbeachtete Masse. Es hätte daher Johann nichts genützt, das Aufgebot aller Freien auf Grund der YVatlenverordnung (Assize of Arms) einzuberufen, wie dies Heinrich II. gegenüber einer Adelsrevolte getan hätte. Das englische Volk stand zum ersten Male auf Seiten des Adels gegen den König und es konnte dies tun, weil es keine Neubelebung der feudalen Wirren zu befürchten hatte. Jede der Klassen, die die Bewegung getragen oder gefördert hatten, fand in den Artikeln der Magna Carta ihren Lohn. In diesem Sinn kann man die Urkunde als nationale Errungenschaft bezeichnen, obwohl keine Forderung im Namen des „ V o l k e s " oder der „ N a t i o n " erhoben wurde, da dieser Begriff für das Gefühl der Menschen noch nichts bedeutete. Schutz gegen übergriffe der königlichen Beamten und das Recht auf billigen und gesetzmäßigen Rechtsgang wurde allen „freien Männern" zugesichert. Dieser Begriff umfaßte 1215 nur einen fest begrenzten Teil der Bevölkerung. Aber die wirtschaftliche und politische Entwicklung der nächsten 300 Jahre machte auch aus den Nachkommen der Hörigen, also aus allen Engländern, „freie Männer" vor dem Gesetz. Einige Artikel der Magna Carta geben dem Gedanken der persönlichen Freiheit Ausdruck, wie man ihn seit damals in England auffaßte. In späteren Jahrhunderten haben Männer, die nicht wußten, was die Leute von 1215 damit meinten, dieses kühne Wort von der persönlichen Freiheit immer wieder betont, und diese ständige Wiederholung hat mächtig dazu beigetragen, den nationalen Charakter zu formen. Ein Artikel lautet: „ K e i n F r e i e r Boll v e r h a f t e t , e i n g e k e r k e r t , seines Besitzes b e r a u b t ,

verbannt

o d e r i r g e n d w i e g e s c h ä d i g t w e r d e n , n o c h wolj/en w i r ihn a n g r e i f e n o d e r

angreifen

lassen, es sei denn

auf

G r u n d rechtmäßigen

Urteils seiner S t a n d e s g e n o s s e n

und

auf G r u n d des G e s e t z e s . "

Viele andere Bestimmungen schieben gesetzlosem und willkürlichem Vorgehen der königlichen Beamten einen Riegel vor, sowohl in Fragen der Wälder als auch auf anderen Gebieten. Wenn man sich derartiges hätte gefallen lassen, so wäre es im Laufe der Zeit zu einer Rechtsüberlieferung gekommen, wie sie das üble Verwaltungsrecht und -verfahren anderer Länder ausgebildet hat.

Nachwirkung der Magna Carta.

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Man empfand die Urkunde als wichtige Errungenschaft, weil sie gegen Übelstände des Augenblicks endgültige und zweckmäßige Abhilfe brachte. Es war viel weniger Allgemeines in ihren Bestimmungen, als spätere Geschlechter annahmen, und doch war es das Abstrakte und Allgemeine an dem Ereignis von Runnymede, das den großen Einfluß auf die Nachwelt übte. Ein König war zur Ordnung gewiesen worden, nicht durch einen Haufen rückschrittlicher Grundherren, sondern durch die Gesamtheit der Bürger unter Führung des Adels. Ein Tyrann wurde verhalten, den Gesetzen zu gehorchen, die er bisher rein willkürlich hatte anwenden und abändern können. Eine Entwicklung war eingeleitet, in deren Verlauf die Macht der Krone in die Hände der Allgemeinheit übergehen sollte. Die Magna Carta war nur für den Augenblick gedacht und hatte keine Ahnung von „allgemeinen Menschenrechten". Sie enthielt im Gegensatz zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung überhaupt keine allgemeinen Grundsätze. Aber aus den oben angeführten Gründen h a t sie auf die Phantasie kommender Geschlechter so tief und nachhaltig gewirkt. Während des ganzen 13. J a h r h u n d e r t s bildet der Kampf um die Magna Carta mit fortwährenden Wiederholungen, Überprüfungen, Verletzungen, Bekräftigungen, den Tummelplatz der Parteien. Dabei werden die feudalen „consilia" (Adelsversammlungen) der Artikel 12 und 14 immer mehr von dem größeren Ideal eines nationalen Parlamentes verdrängt, das sich im 14. J a h r h u n d e r t durchsetzt. Bis dahin beherrscht die Magna Carta das politische Denken. Im 14. und 15. Jahrhundert tritt die Urkunde in den Hintergrund, denn das Ziel scheint erreicht. Das Interesse für das Parlament erfüllt nun die Menschen ähnlich wie einst der Kampf um die Carta. Niemand verlangt von den späteren Schreibern und den ersten Druckern volkstümliche englische Übersetzungen des bedeutsamen Schriftstücks. Zur Zeit der Tudors ist die Carta ganz vergessen, weil sie die Verschiedenheit der Interessen von Fürst und Volk betont, was beide im 16. J a h r hundert entschieden leugneten. Aus Shakespeares „König J o h a n n " sehen wir, daß der Dichter wenig von der Carta wußte und sich noch weniger für sie interessierte, während er die menschliche Tragödie von Richards II. Absetzung und Tod mit rückhaltlosem Freimut schilderte. Als jedoch unter J a k o b I. Fürst und Volk wieder in Gegensatz gerieten, da erlebte die Magna Carta rasch eine glanzvolle Auferstehung. Die Geschichtsforscher und Juristen, die zur Zeit der Stuarts für die Parlamentsrechte eintraten, erschauten im Nebel der Vergangenheit die gewaltige Gestalt der Magna Carta als Göttin der englischen Freiheit. Ihre falsche Auslegung der alten Bestimmungen war f ü r den FortTrevelyan, England

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Kreuzzüge. Verfassungskämpfe. 1190—1270.

schritt sehr fruchtbar, wenn auch die Kenner des Mittelalters heute dazu den Kopf schütteln. Unter der Fahne von Runnymede wurde die Schlacht um Parlament und Recht gegen die Stuarts geschlagen und gewonnen. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter unangefochtener verbriefter Freiheiten und sicher begründeter Rechte, wurde die Magna Carta von Blackstone, Burke und mit ihnen von ganz England als größter aller Freiheitsbriefe gepriesen. Sie war zum heiligen Wahrzeichen des Geistes der Verfassung geworden. Als dann eine bewegtere Zeit anbrach und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Demokratie gegen die alte Ordnung zu Felde zog, da kämpften beide Parteien im Zeichen der Magna Carta. Die Anhänger Pitts rühmten die freie ruhmreiche Verfassung, die in den Zelten von Runnymede entstanden sei und nun von niedrigen Jakobinern und Gleichmachern angegriffen werde. Und ebenso beriefen sich die Radikalen auf Geist und Buchstaben der Urkunde gegen Polizeiwillkür, parteiische Geschworene und Beschränkungen des Wahlrechts. Im Namen der Magna Carta erhob sich Amerika und in der Erinnerung an sie fühlt es sich uns geistig verwandt. Erst unserem nüchternen Zeitalter blieb es überlassen, die Urkunde rein vom geschichtlichen Standpunkt aus zu betrachten. Doch dürfen auch wir nicht vergessen, daß ihre historische Bedeutung nicht nur darin liegt, was die Männer von 1215 mit diesen Artikeln bezweckten, sondern auch in der Wirkung auf die Phantasie der Nachkommen. Die Barone, die von parlamentarischen Einrichtungen nicht die leiseste Vorstellung hatten, konnten nur mit den gröbsten Mitteln die Einhaltung des Vertrages sichern, den sie dem schlauen und geschickten Gegner in seiner augenblicklichen Notlage abgerungen hatten. In einem der Schlußartikel mußte Johann einem revolutionären Ausschuß von 25 Baronen das Recht zugestehen, ihn, wenn er eine der Bestimmungen verletze, „in jeder Weise haftbar zu machen, insbesondere auf unsere Schlösser, Güter und Besitzungen die Hand zu legen und jedes mögliche Zwangsmittel anzuwenden". Nach dem Tage von Runnymede war die Lage so düster wie nur möglich: Johann wurde vom Papst und seinem Legaten gedrängt, den Kreibeitsbrief zurückzunehmen, während die Barone den König von Frankreich um bewaffnete Hilfe angingen. Die Wahl zwischen grausamem Despotismus und fremder Herrschaft ersparte uns jener glückliche Zufall des übermäßigen Genusses von „Pfirsichen und jungem Apfelwein", dem Johann erlag (1216). Sein Tod bot eine letzte Gelegenheit, die Nation auf der Grundlage der Magna Carta zu einigen. Langton vermittelte nun zwischen den Parteien und das Land geharte sich unter der Führung vaterländisch gesinnter Staatsmänner

Die Anfänge Heinrichs III.

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wie William Marshall und Hubert de Burgh um den neunjährigen König Heinrich III. In wenigen Jahren war das Land zur Ruhe gebracht, die Magna Carta wurde mit einigen Veränderungen neu bestätigt, die Franzosen vertrieben, die päpstliche Partei in Schach gehalten. Burgen, die der hohe Adel während des Bürgerkrieges erbaut oder der Krone entfremdet hatte, wurden, oft nach ernster Belagerung, niedergelegt oder wieder vom König übernommen. Während der Minderjährigkeit Heinrichs III. (1216—1227) sah es fast so aus, als ob die alten Wirren wiederkehren sollten, aber ehrenhaftfe und fähige Regenten brachten alles zu einem guten Ende. Sie übten die Macht im Namen des Königs, der von ihr später selbst nicht so guten Gebrauch zu machen verstand. In diesen Jahren stieg das Ansehen des königlichen Rates (Kings Council, Curia Regis), in dessen Namen und Auftrag Marshall und de Burgh während ihrer Regentschaft handelten. Doch war dieser Rat auch damals noch in seiner Zusammensetzung völlig unbestimmt. Heinrich i n . hegte eine so tiefe Verehrung für Eduard den Bekenner, an den er in mancher Hinsicht erinnert, daß er die Kirche, die jener errichtet hatte, niederreißen ließ und ihm zu Ehren um den hoch erhobenen Reliquienschrein die Abtei von Westminster in ihrer heutigen Gestalt erbaute. Heinrichs persönliche Frömmigkeit beeinflußte auch seine politische Haltung und machte ihn zum Werkzeug des päpstlichen Ehrgeizes in England und Europa. Da dem Papst gegenüber der König die einzige Macht war, bei der der Klerus hätte Schutz finden können (s. oben S. 176), so war dieser nun der römischen Habgier wehrlos ausgeliefert. Unzählige Pfründen wurden Italienern und anderen Ausländern durch päpstliche Verfügung zugeschanzt, oft Leuten von üblem Charakter, die in der Regel gar nicht ins Land kamen und fast immer für die Seelsorge in England ungeeignet waren. Einmal belohnte der Papst die Treue der Römer mit der Anwartschaft auf die nächsten 300 Pfründen, die in England erledigt werden würden, während die englische Geistlichkeit zu Zwecken der päpstlichen Politik gegen Kaiser Friedrich H. und andere erbarmungslos besteuert wurde. Diese Erfahrungen erzeugten eine papstfeindliche Strömung im englischen Volke, die immer 6tärker wurde, bis die Reformation ihre Wünsche erfüllte. Früher, vornehmlich nach der normannischen Eroberung, hatten die Engländer als besonders ergebene Diener des Papstes gegolten. Die neu entstandene Abneigung gegen die Kurie wurde auch von vielen Geistlichen geteilt, fand aber bis auf Wycliffe in der kirchlichen Theorie keine Grundlage; 13»

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Kreuzzüge. Verfassungskämpfe. 1190—1270.

doch kam diese Gesinnung gelegentlich in unfreundlichen Akten des Staates deutlich zum Ausdruck. Im Dienste der päpstlichen Politik gestattete Heinrich IH. seinem zweiten Sohn Edmund von Lancaster die Annahme der umstrittenen Krone von Sizilien (1255) und seinem Bruder Richard von Cornwall die Bewerbung um den deutschen Kaiserthron (1257); England sollte in dem einen Fall für die Kosten des Thronstreites, in dem anderen für die [Wahlbestechungen aufkommen. Diese Ansprüche waren vom Standpunkt der englischen Interessen völlig unverständlich und führten zu einer Empörung von Adel und Volk. 30 Jahre, nämlich seit Heinrich III. die Regierung selbst übernommen hatte (1227), dauerte nun diese Mißwirtschaft. Eine Fülle von Unzufriedenheit war angehäuft, die sich schließlich wieder in einem Bürgerkrieg und Verfassungskämpfen entlud (1258—1265). Es war noch immer der „Kampf um die Carta", eine Fortsetzung der Streitigkeiten unter König Johann, aber mit einem wichtigen Unterschied. Unter König Johann war es ein Zweikampf zwischen dem König und dem vom Volk unterstützten Adel. Unter Heinrich III. waren drei Parteien beteiligt, denn die aufsteigende Klasse des niederen Adels, die sogenannten Baccalares oder Bachelors, die in der Lokalverwaltung als Coroners und als Geschworene mitzuarbeiten pflegten, trieben jetzt ihre eigene Politik. Die Selbstsucht der Barone, wie sie in den Verordnungen von Oxford (1258) zutage trat, erregte ihre Unzufriedenheit und sie verlangten und erreichten auch schließlich, daß der hohe Adel ihnen, seinen Vasallen und Pächtern, dieselben Vorrechte gewährte, die er zu seinem Vorteil dem König als obersten Grundherrn abgerungen hatte. Im Streit zwischen königlicher und adeliger Gerichtsbarkeit standen die Bachelors auf Seiten des Königs. Diese Spaltung im Lager des Adels stärkte die Partei Heinrichs III. und sein begabter Sohn Eduard verstand das auszunützen. Aus Abneigung gegen die Bewegung breiterer Schichten schlössen sich viele Barone schließlich dem König an, während die Verfassungs- oder Reformpartei, die weiter der Fahne Simons von Montfort folgte, fast ebenso viele demokratische wie hochadelige Anhänger zählte. Der Kampf ging ähnlich wie der große Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts weniger um Klasseninteressen als um Ideen. Während der letzten Entscheidungen, als Montfort bei Lewes (1264) siegte und im nächsten Jahr bei Evesham unterlag und fiel, bestand seine Partei aus den reformfreundlichen Baronen, den politisch Denkenden aus dem niederen Adel und der Ritterschaft, den Besten der Geistlichkeit, die über den unnatürlichen Bund zwischen Papst und

Die Bachelors. Simon von Montfort.

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König empört waren, den Studenten der Universität Oxford und breiteren Volksschichten, die die Predigermönche gewonnen hatten. Diese standen gerade auf dem Höhepunkt ihrer volkstümlichen Arbeit für die Armen. Obwohl der Papst den Bann über Simon aussprach, hatte dieser die stärkeren religiösen Kräfte auf seiner Seito. Unter seinen Anhängern müssen wir auch die Bürger von London erwähnen, deren weichende Reihen Prinz Eduard bei Lewes ähnlich jagte, wie 400 Jahre später Prinz Ruprecht, während Simon gleich Oliver Cromwell die Hauptmacht des königlichen Heeres vernichtete. Die politischen Verse und Abhandlungen der Zeit zeigen, daß die Reformpartei Simons in dessen letzten Jahren mit voller Klarheit den Standpunkt vertrat, das Gesetz stehe über dem König1), und viele ihrer Anhänger waren wie der Führer von religiöser Begeisterung erfüllt und sahen in der Reform den Willen Gottes. Simon von Montfort, Earl von Leicester, war nach Geburt und Erziehung Franzose, aber in einer Zeit, in der das Französische die Umgangssprache des englischen Adels war, hinderte ihn dies nicht, sich als Engländer zu fühlen. Ähnlich wie Cromwell oder der ältere Pitt war er eine Herrschernatur, die nicht an zweiter Stelle stehen konnte, so daß es keinen Sinn hat, ihm Ehrgeiz vorzuwerfen. Solche Männer sind meist nicht allzu ängstlich in der Wahl ihrer Mittel. Aber er stellte seine Person ganz in den Dienst der Sache und das Land fühlte und wußte das. Seinen hohen Begriff von Vaterlandsliebe verdankte er nicht zuletzt seiner Freundschaft mit dem Bischof Grossetete von Lincoln (gest. 1253), einem der edelsten, weisesten und gelehrtesten Männer dieses denkwürdigen Jahrhunderts, der jahrelang gegen die königliche und päpstliche Mißwirtschaft in England seine warnende Stimme erhob. Simon war Grossestes Freund und Nachfolger, ähnlich wie Cromwell der Hampdens, und man kann schwer sagen, ob der Vorläufer alle Taten des Jüngers gebilligt hätte. Die Partei, die Simon in seinen zwei letzten Lebensjahren führte, war der Cromwells, in ihrer Stärke wie in ihrer Schwäche, auffallend ähnlich. Demokraten vor der Zeit der Demokratie, waren sie in einer unmöglichen Lage und konnten daher nichts Dauerndes bewirken. Aber durch das, was sie verhinderten, bestimmten sie die Zukunft. Lewes wird ebenso wie Naseby mit Gebet, Hymnengesang und scharfem Stahl ') So heißt es in einem politischen Liede aus der Zeit der Schlacht von Lewes: Nam rex omnis regitur legibus quas legit, Rex Saul repellitur, quia leges fregit. (Denn jeder König ist der Diener des Gesetzes, das er gegeben hat; König Saul wird verjagt, weil er die Gesetze gebrochen hat.)

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Kreuzzüge. Vorfassungskämpfe. 1190—1270.

gewonnen und beide Schlachten sind nicht mehr aus der Geschichte 7,u streichen. Der Sieg Heinrichs III. bedeutete ebensowenig einen Rückfall in den alten Despotismus wie die Wiederkehr Karls II. In beiden Fällen war die Wiedereinsetzung des Königs der einzig mögliche Weg zu einer allgemein anerkannten Regierung. Aber es gibt auch Unterschiede. Mit Cromwells Tod starb mehr von seinen wesentlichen Gedanken als mit dem Untergang Montforts. Der Grund dafür liegt darin, so widerspruchsvoll dies auf den ersten Blick erscheint, daß Cromwell als Beherrscher des Landes erfolgreicher war als Simon. Cromwells Herrschaft erhielt sich durch reine Gewalt zwölf Jahre lang. Daher war schließlich die Abneigung des Volkes gegen alles, was mit ihm zusammenhing, viel heftiger. Simons Machtstellung dauerte kaum ein Jahr, und auch während dieser Zeit hatte er im Norden und Westen keinerlei Einfluß. So wurde Simon, der auf der Walstatt von Evesham für die Freiheit Gefallene, in der Erinnerung des Volkes der geliebte Märtyrer, eine Rolle, die Cromwell Karl I. fiberließ. Es gibt noch einen Grund, warum Simons Tod seinem Werk nützte: er hatte seinen größten Gegner, den Sieger von Evesham, geistig erobert. Eduard, der Sohn und Erbe Heinrichs III., war „einer der Männer, die aus Revolutionen lernen". Er wußte nun, daß der König auf Grund des Gesetzes regieren müsse, und daß ein Herrscher, der das Volk gegen sich hat, schwächer ist als der „König im Parlament" (Crown in Parliament). Was war also das Parlament? Der Name „Parliamentum" — „Schwatzbude" hat es Carlyle übersetzt, mit „Gespräch" oder „Diskussion" kann man es wohlwollender wiedergeben — wurde zuerst unter Heinrich in. auf die rein feudale Versammlung der großen Lehensträger angewendet, die mit den anderen Mitgliedern der königlichen Curia gemeinsam berieten. In dem Begriff „Parlament" lag noch nicht die Vorstellung einer Wahl oder einer Volksvertretung, man mußte nicht einmal notwendigerweise an eine gesetzgebende oder steuerbewilligende Körperschaft denken. Es war einfach die königliche Curia, der königliche Rat, dieses vielgestaltige Wesen, in seiner umfassendsten und eindrucksvollsten Form: Die Barone und die ersten Diener der Krone kamen zusammen, um miteinander, zu „reden", um Fragen der innern oder äußeren Politik zu erörtern, sich über Bittschriften, Beschwerden oder über neue Formen von Erlassen zu äußern, aber auch, um in wichtigen Angelegenheiten Gericht zu halten. Man setzte ebenso Akte der Gesetzgebung wie der Verwaltung, man beschloß Einnahmen oder

Das Parlament.

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Ausgaben, man hielt Gericht. Und nachdem die Versammlung „gesprochen" hatte, handelte sie. Denn sie war der Inbegriff aller Mächte im Staat. Aber über die Auswahl der Mitglieder gab es noch keine festen Bestimmungen. Während der Regierung Heinrichs III. kam es gelegentlich, aber durchaus nicht regelmäßig, vor, daß in diese große Versammlung zwei oder mehr gewählte Ritter aus jedem Grafschaftsgericht als Vertreter der Grafschaft berufen wurden. Man wollte damit keine neue Versammlung schaffen, noch „das Parlament gründen", sondern einfach ein paar neue Leute zur Vollversammlung der alten Curia Regis heranziehen. Das war weder ein Schachzug der königlichen Partei noch ihrer Gegner. Beide hielten es für richtig, zu wissen, wie der niedere Adel, die Bachelors, dächte. Die Entwicklung war so natürlich, daß man kaum davon Notiz nahm. Seit mehr als fünfzig Jahren hatten gewählte Ritter zusammen mit den königlichen Richtern und Beamten im Grafschaftsgericht gearbeitet (vgl. oben S. 187). Es schien nur ein kleiner Schritt weiter, wenn man sie nun alle an eine zentrale Stelle lud, wo sie mit dem König und seinen Richtern und Beamten zusammentreffen sollten. Außerdem hatten schon längst Vertreter einzelner Grafschaften und Städte gelegentlich an den Sitzungen der königlichen Curia teilgenommen, um Angelegenheiten ihrer G gend zu erledigen. Uns, die wir wissen, wozu es geführt hat, erscheint der Schritt, diese Männer alle zusammen von Amts wegen einzuberufen, von ungeheurer Bedeutung. Aber im Mittelalter war die Entsendung von Vertretern einer Gemeinschaft eine übliche Art der Geschäftsbehandlung und die Ausgestaltung zu einer Zusammenkunft aus dem ganzen Reich war zu natürlich, um eigens vermerkt zu werden. Wenn der Wind die Eicheln säet, braucht sich der Förster nicht zu bemühen. Damals und auf lange hinaus galt die Berufung ins Parlament als eine Last, die man um des Gemeinwohls willen widerstrebend auf sich nahm, wie wir es ähnlich noch heute beim Geschworenenamt erleben. Manche Gemeinschaften, besonders Städte, unterließen es oft, Vertreter zu senden. Auch die gewählten Ritter der Grafschaft entzogen sich manchmal heimlich ihrem Dienst. Wenn man sich im Grafschaftsgericht umschaute, um mit stillem Hohn dem neuen Abgeordneten zu dem kostspieligen und gefährlichen Ehrenamt Glück zu wünschen, war der inzwischen in aller Stille auf sein Pferd gestiegen, hatte ein Asyl aufgesucht und es dem Gerichtshof überlassen, einen andern an seiner Stelle zu wählen. Das war wohl ärgerlich! Das passive Wahlrecht war noch kein Vorzug oder gar ein allgemeines Menschenrecht. Während der Regierung Eduards III. erlangte das ferne Torrington

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Innere Entwicklung. 1200—1350.

in Devon auf seine Bitte das „Vorrecht", keine Abgeordneten ins Parlament senden zu müssen. Denn damals mußten die Gemeinden für die Kosten der Abgeordneten aufkommen. Dessenungeachtet erhöhte die Anwesenheit des niederen Grafschaftsadels das Ansehen des Parlaments der Barone und gab seinen Beschlüssen einen stärkeren Rückhalt. Die Regierung fand es bequem und vorteilhaft, die Teilnahme der „Gemeinden (communities)" oder „Gemeinen (Commons)" des Königreichs durch deren Vertreter energisch zu betreiben, und so berief Simon von Montfort im Revolutionsjahr 1265, nach der Schlacht bei Lewes, nicht nur die Ritter aus den Grafschaften, sondern zum erstenmal je zwei Vertreter jedes mit Stadtrecht ausgestatteten Ortes. Er wußte wahrscheinlich, daß die Bürger sich seiner Partei anschließen würden, und er war der erste englische Regent, der verstand, daß es die Stellung einer Parteiregierung festigte, wenn man Vertreter aller Gemeinden versammelte und zu ihnen sprach. Es war eine Art „Propaganda", die zu den finanziellen und richterlichen Aufgaben der Versammlung hinzukam. Wir sehen aus den schriftlichen Erlässen, daß die Bürger geladen wurden, wir wissen aber nicht, wie viele erschienen sind und in welcher Weise oder ob sie überhaupt eingegriffen haben. Dieses Parlament war eine revolutionäre Versammlung, zu der vom hohen Adel nur Simons Anhänger zugelassen wurden. Aber er schuf durch die Berufung der städtischen Abgeordneten einen Präzedenzfall, der in den gesetzlichen Parlamenten Eduards I. Nachahmung fand. Kein einzelner Mann, weder Simon noch Eduard, hat das englische Parlament geschaffen. Es ist entstanden und war nun jahrhundertelang der Ausdruck des gesunden Menschenverstands und der Gutartigkeit des englischen Volks, dem im allgemeinen Ausschüsse lieber sind als Diktatoren, Wahlen lieber als Straßenkämpfe und „Schwatzbuden" lieber als Revolutionsgerichte. IV. Der körperschaftliche Sinn des Mittelalters. Universitäten. Bettelorden. Juden. Recht und Rechtsgelehrte. Das Parlament unter Eduard I. Das Unterhaus. Die Friedensrichter. Könige: Eduard I. 1262—1307, Eduard 11. 1307—1327.

Im Mittelalter dachten und handelten die Menschen als Glieder von Gemeinschaften. Die Stellung jedes einzelnen war durch seinen Platz in einem größeren Ganzen festgelegt, in Gutsbezirk, Stadt, Gilde, Universität, Kloster. Das Gesetz kannte den Leibeigenen nur als

Jeder Mensch in seiner Gruppe.

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Eigentum des Herrn, den Mönch nur als Untergebenen eines Abtes. Als Mensch an sich oder als englischer Untertan hatte niemand „Rechte" weder auf Arbeit noch auf eine Wahlstimme, höchstens auf ein bißchen christliche Nächstenliebe. Die Einheit der mittelalterlichen Gesellschaft war weder die Nation noch der einzelne, sondern ein Ding zwischen beiden, nämlich die Körperschaft. Durch diese strenge Durchführung des Grundsatzes, daß jeder Mensch in seine Gruppe gehört, hob sich die Kultur aus der Finsternis der Frühzeit zur Dämmerung des Mittelalters. Erst später, in der Renaissance und Reformation, als die Befreiung der Leibeigenen die wirtschaftlichen Grundlagen der feudalen Welt zerbrochen hatte, war der weitere Schritt zur Freiheit der Einzelpersönlichkeit möglich. Nun wurden viele Korporationen des Mittelalters zwischen dem allmächtigen Staat und der selbständig gewordenen Persönlichkeit zerrieben. Die Klöster und die Bettelorden verschwanden aus England, die städtischen Zünfte und Gilden mußten zusehen, wie ihre wichtigsten Aufgaben entweder vom Staate oder vom einzelnen übernommen wurden. Aber manche mittelalterliche Einrichtungen konnten sich erhalten. Der weltliche Klerus, die Rechtsgelehrten und die Universitäten verstanden es, sich in den Dienst der neuen Nation zu stellen und das „Haus der Gemeinen", in dem die „Gemeinen" oder die „Gemeinschaften" des Reichs vertreten waren, wurde das vornehmste Organ des nationalen Lebens1). Das war das unschätzbare Vermächtnis mittelalterlichen Gemeinschaftsgeistes an das England der Zukunft. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Universitäten, den Bettelorden, den juristischen Körperschaften (Inns of Court, Juristeninnungen), dem Parlament, insbesondere mit dem Haus der Gemeinen, also mit vier großen Einrichtungen, von denen drei noch bestehen, eine untergegangen ist. Klosterwesen und grundherrschaftliche Ordnung waren in der Frühzeit aus dem Kampf gegen die barbarische Umwelt erwachsen; jene jüngeren Gebilde waren die reife Frucht der mittelalterlichen Gesellschaft auf ihrem Höhepunkt. Die Universitäten sind ebenso wie die Parlamente eine Schöpfung des Mittelalters. Die Weisheit der Alten kannte sie nicht. Sokrates verlieh weder Diplome noch akademische Grade und hätte einen Schüler, der dergleichen begehrte, durch Fragen über die Natur der wahren Er') Im Haus der Gemeinen saßen ursprünglich nicht wie heute Vertreter einer bestimmten Anzahl einzelner Wähler, sondern die Vertreter bestimmter Gemeinschaften, wie der City von London, der Grafschaft York, ähnlich wie heute im Senat der Vereinigten Staaten die einzelnen Staaten vertreten sind.

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Innere Entwicklung. 1200—1350.

kenntnis schnell aus der Fassung gebracht. Philosophie und Naturwissenschaft waren in der hellenischen Welt zu einer weit höheren Stufe gelangt als im Mittelalter. Aber das antike Streben nach Weisheit war nie in festen hohen Schulen zusammengefaßt. Das ist einer der Gründe des Verfalls der Antike, die dem Angriff des straff-organisierten Christ liehen Priestertums nicht standhalten konnte. Während der folgenden langen Jahrhunderte, da die Kirche lehrte, daß der Glaube alles, das Wissen Nebensache sei, und die Welt derselben Meinung war, bestand kein Bedürfnis nach irgendeiner Zusammenfassung der wissenschaftlichen Arbeit, von gelegentlichen Bemühungen einzelner Klöster und Domkapitel abgesehen. Erst im 12. Jahrhundert nimmt das Denken und Forschen einen neuen Aufschwung, teils durch die in den Kreuzzügen geschaffenen Beziehungen, teils infolge der natürlichen Belebung geistiger Interessen in einem reicheren und friedlicheren Europa. Die Beschäftigung mit dem bürgerlichen und dem kanonischen Recht, mit dem klassischen Latein, mit der aristotelischen Philosophie, mit Mathematik und Medizin auf der Grundlage arabischer Gelehrsamkeit, all das schien eine Zusammenfassung zu eigenem körperschaftlichem Leben zu verlangen. Der wissenschaftliche Eifer hatte ähnlich wie die Kreuzzugsbegeisterung verschiedene Quellen: rein geistiges Streben, beruflichen Ehrgeiz, Gier nach Pfründen, edle und unedle Neugierde, Abenteuerlust und Sehnsucht nach fremden Ländern. Wie die Kreuzzüge, so erfaßte auch diese Bewegung alle Völker des Abendlandes. Sie trieb die Menschen dazu, die Heimat zu verlassen und über Berge und Meere in die Fremde zu wandern. Aus der über ganz Europa verbreiteten Gärung entstanden plötzlich die Universitäten, zuerst in Italien, dann in fast allen christlichen Ländern. Der Geist des Mittelalters gab der Idee ganz von selbst die körperschaftliche Form. Da alle Gebildeten Latein sprachen und schrieben, war die Wissenschaft international. Und wenn auch die einzelnen Länder Universitäten errichteten, so hatten die berühmtesten Stätten der Gelehrsamkeit „Nationen" auswärtiger Studenten in ihrer Mitte. Im Gegensatz zu heute war die Universität des Mittelalters nur ein „Gebilde von Menschen". Sie hatte keine eigenen Gebäude, keine Studentenhäuser, Laboratorien oder Bibliotheken, keine Stiftungen von Kapitalisten oder Zuschüsse des Staates. Sie war auch nicht mit Prüfungen oder Studienordnungen belastet und hätte die freieste aller menschlichen Gemeinschaften werden können. Aber die Ketzerfurcht der Kirche, die die kühnsten Köpfe in enge, festgelegte Bahnen zwang, verhinderte dies.

Entstehung der Universitäten.

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Gerade weil die ersten Universitäten von Stiftungen und Baulichkeiten ganz unabhängig waren, konnte sich ihr eigenartiger Betrieb im 12. und 13. Jahrhundert so rasch in ganz Europa verbreiten, ohne auf die Hilfe der Reichen angewiesen zu sein. So wanderten während der Kämpfe zwischen Heinrich II. und Frankreich die englischen Studenten der Pariser Universität ohne viel Umstände in die Heimat zurück und gründeten hier die Universität Oxford. Der Ort lag für das südliche und westliche England günstig, hatte Häuser, in denen die Studenten zu sechs in einem Zimmer wohnten, Kneipen zum Trinken, Singen, Debattieren und Raufen, Kirchen, in denen ein Universitätsgottesdienst abgehalten werden konnte, Räume, in denen die Lehrer vortrugen* jeder einen kostbaren Band vor sich, während die Studenten auf dem Boden saßen, sich Notizen machten, Beifall klatschten oder ihn auszischten, wie eine wilde Zuhörerschaft im Theater. Blutige Kämpfe in der Stadt und unter den Studenten} wie sie in dieser rohen Zeit häufig waren, scheinen 1209 eine Auswanderung aus Oxford erzwungen und zur Entstehung der rivalisierenden Schule von Cambridge geführt zu haben. Dieses war ein Knotenpunkt von Wasserwegen und alten Römerstraßen aus dem nördlichen und östlichen England. Oxford und Cambridge waren beide etwa 80 km von London entfernt, das selbst bis ins 19. Jahrhundert keine Universität besaß. Die Studenten aus Wales kamen nach Oxford, die aus Schottland gingen nach Paris oder Padua, bis die Schotten zu Beginn des 15. Jahrhunderts ihre eigene Universität zu St. Andrews bei Edinburgh gründeten. Die Universitäten wurden in ihrer Frühzeit weder durch große Stiftungen noch durch die Anwesenheit der „edelsten Jugend des Landes" unterstützt oder verdorben. Oxford und Cambridge gehörten im Mittelalter den Armen, denn die höheren Klassen blieben ihnen im allgemeinen fern. Ritter und Barone fühlten sich über eine Universitäts T erziehung erhaben und die an die Scholle gebundenen Leibeigenen kamen nicht in Betracht. Die Studenten waren größtenteils begabte Söhne von Dienstleuten (Ministerialen) des Adels, von freien Bauern oder Stadtbürgern. Wenn sie das Landgut oder die Werkstätte des Vaters verließen und als ersten Schritt auf dem Wege zum Wissen die niederen Weihen nahmen, da waren sie wirklich „arme Kleriker" oder „arme Scholaren", die richtigen Bettelstudenten. Diesen Männern öffnete die Universität die Möglichkeit des Aufstiegs in die geachtetsten Berufe. Für Leute, die nicht aus vornehmen Familien stammten, war das fast der einzige Weg zu den höheren kirchlichen Würden. Auch alle, die durch ihre geistige Begabung in der Beamtenlaufbahn, als Sekretäre hoher Persönlichkeiten, als Ärzte, Bau-

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künstler oder kirchliche Juristen vorwärtskommen wollten, mußten Geistliche werden, die die Universität besuchten. Als erster gelehrter Beruf wurde im Lauf des 13. Jahrhunderts das Amt des Richters und Anwalts Laien zugänglich. Aber auch diese wurden größtenteils dem Kreise der Männer entnommen, die als Laienbrüder, also nicht mit dem character indelebilis (unzerstörbar) der höheren Weihen behaftet, in Oxford oder Cambridge studiert hatten. Wenn wir uns nun ein Bild von den ersten englischen Studenten machen wollen, so müssen wir sie uns alle als Geistliche vorstellen. Der Schatten Thomas Beckets schützt sie vor den Richtern und Henkern des Königs, sonst aber haben sie mit einem heutigen Geistlichen wenig gemeinsam. Vor 1400 war der Student in der Regel ein armer gescheiter Junge aus der Mittelklasse, der mit 14 Jahren nach Oxford oder Cambridge kam und sieben oder auch mehr Jahre dort zubrachte. Die Disziplin war sehr milde. Die sittlichen Anschauungen lernen wir aus den Erzählungen des Müllers und des Vogtes in Chaucers CanterburyGeschichten kennen und aus anderen minder bedeutenden Darstellungen. Doch hat Chaucer in seinem Prolog auch einen edleren Typus geschildert. Studentenverse in lateinischen Reimen, die als ,Nieder eines Fahrenden (Goliardic Verses)" durch ganz Europa gingen, prahlen mit seinem Entschluß, „im Wirtshaus zu sterben" und bis dahin alle Süßigkeiten des Wanderlebens, heute auf der Straße, morgen im Städtchen, auszukosten. Ihre Götter waren Bacchus, Venus und der übrige griechische Himmel, wie wir ihn aus Ovid kennen. Doch gabs auch viele fromme Studenten und alle waren sie, mindestens in der Theorie, eifrige Diener der Wissenschaft. Das Treiben glich mehr dem des Pariser Quartier Latin als dem des späteren Oxford und Cambridge mit seinem aristokratischen, vornehmen Leben in den Colleges. Als Simon von Montfort seine Fahne entrollte, liefen die zerlumpten Jünglinge von der Schulbank weg, um in Scharen mit ihm für die Freiheit zu kämpfen, ähnlich wie die begeisterten Studenten Frankreichs, Italiens und Deutschlands 1848 auf die Barrikaden stiegen. Zur 7eit Sinons von Montfort konnte sich diese Jugend, ohne einen Widerspruch zu fühlen, der Wissenschaft und dem zügellosen Leben, dem Freiheitsdrang und der Frömmigkeit zugleich hingeben. Ein gesunder und edler Sinn läßt heute die Menseben Vergleiche ziehen zwischen den wohlhabenden Studenten von heute und den armen Kuttenträgern von damals, die in härtester Armut nach Wissen strebten. Aber das Bild hat noch eine andere Seite. Vierzehnjährige Knaben werden ohne oder mit wenig Geld, ohne Aufsicht und Fürsorge

Universitätsleben. Colleges.

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hinausgeschickt und sollen sich zurechtfinden in einer Umwelt von Rohlingen, Schürzenjägern, vielleicht auch Mördern, unter abgebrühten Erpressern, die vom Betrug an den „dummen Schülern" leben. Da mag ihnen das akademische Treiben oft mehr geschadet als genützt haben. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden die ersten Colleges1) gestiftet, die ursprünglich nur für den Lebensunterhalt ihrer Studenten sorgten. Aber man erkannte bald, daß die Knaben Fürsorge und Aufsicht ebenso brauchten wie materielle Unterstützung. Gewissenhafte Eltern gaben sich immer mehr Mühe, ihre Söhne in einer dieser Archen unterzubringen. Immer mehr Studenten, die nicht auf Unterstützung angewiesen waren, suchten und fanden Anschluß an das beneidete Leben im College. Da das Bedürfnis darnach immer größer wurde, stieg die Zahl, der Reichtum und die Bedeutung dieser Studentenhäuser von Geschlecht zu Geschlecht und legte Zeugnis ab für das Verlangen des Engländers nach der Bequemlichkeit und Sicherheit eines behaglichen Heims. Vom 15. Jahrhundert an spielte bei der Gründung der Colleges auch der Wunsch eine Rolle, die Jugend vor den Einflüssen zu bewahren, die in den verschiedenen Zeiten als ketzerisch galten, wie Lollardenlehre, Papstkirche, Puritanismus, Arminianertum. Wenn für Hirten und Hürde gesorgt ist, kann der Wolf nicht so leicht einbrechen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß es solche Colleges immer nur in Oxford und Cambridge gegeben hat. Die italienischen Universitäten hatten viele wohlausgestattete Studentenhäuser, die allerdings bis auf wenige Ausnahmen verschwunden sind. In Paris wurden ihrer zwischen 1180 und 1500 über 50 gegründet. Allerdings erreichten sie niemals Umfang, Reichtum und Bedeutung der englischen Schwesteranstalten. Sie welkten dahin, verstanden nicht ihren Besitz zu erhalten und die letzten Reste gingen in der französischen Revolution unter. Die englischen Colleges nahmen an Zahl und Wohlstand zu, bis sie schließlich im 17. Jahrhundert ihre Mutter, die Universität, ganz in den Hintergrund drängten. Im Mittelpunkt des Studiums stand an den Universitäten des Mittelalters eine eigenartige logische Schulung, die die Weisheit des Aristoteles mit den unanfechtbaren Lehren der Kirche in Einklang zu bringen suchte, eine Aufgabe, die der hl. Thomas von Aquino zur allgemeinen Befriedigung gelöst hat. Eine vielversprechende Blüte des klassischen Latein im 12. Jahrhundert vermochte die neuen Universii) Balliol College in Oxford 1261—1266, Merton in Oxford 1263, Peterhouse in Cambridge 1284. In Oxford dürften im Mittelalter nie mehr als 3000 Studenten gewesen sein, in Cambridge noch weniger. Man hat diese Zahlen, wie andere des Mittelalters, oft stark übertrieben.

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täten nur vorübergehend zu erfassen. Das Interesse für die Dichter, Redner und Geschichtsschreiber des alten Hellas und Rom war noch nicht da. Erst die zweite Renaissance des 15. Jahrhunderts brachte den Menschen ein richtiges Bild der alten, besonders der griechischen Welt. Das versetzte dann dem ganzen mittelalterlichen Denken den Todesstoß, denn die Menschen sahen nun in eine Zeit zurück oder glaubten wenigstens, es zu tun, die weiser, edler und freier gewesen war als ihre eigene. Die ersten Doktoren und Studenten hatten keine so aufregenden, Träume. Am Gängelbande der Theologie konnte es die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht weit bringen. Der Genius des Franziskanermönches Roger Baco von Oxford leuchtet wohl wie ein Stern in finsterer Nacht. Aber mit seinem rein wissenschaftlichen Denken blieb er ein wehrloses, kaum beachtetes Opfer der Vorurteile seines Zeitalters. Newton wäre es im 13. Jahrhundert auch nicht anders gegangen. Wycliffe, ein Meister scholastischer Dialektik, konnte 100 Jahre später weit mächtigeren Einfluß auf die Geister gewinnen. Die mittelalterliche Logik und Scholastik hat den rohen Geist Europas geschult und verfeinert. Der geistige Fortschritt des Mittelalters darf nicht nach der Größe und Zahl eigenartiger Leistungen beurteilt werden, denn das freie Denken war, wenn nicht geradezu untersagt, so doch mindestens in engen Schranken gehalten. Das Wesentliche ist vielmehr die Gewandtheit, mit der diese Gelehrten ihre philosophische Begriffswelt meisterten. Der Gegenstand ihrer Erörterungen, wie etwa die vielumstrittene Frage, „wie viele Engel auf einer Nadelspitze stehen können", scheint uns freilich leer und albern, aber die Arbeit dieser alten logischen Haarspalter hat trotzdem unschätzbaren Wert1). Eine weitere große Veränderung im Leben der englischen Gesellschaft des 13. Jahrhunderts brachte das Auftreten der Bettelorden. Man sagt, daß die Orden des heiligen Dominikus und des heiligen Franziskus auf dem Festland die wankende Kirche gerettet haben. Für *) Pearsall Smith sagt in seinem ausgezeichneten Buche über die englische Sprache, S. 187: „Wenn wir daran gehen, die Geschichte irgendeines Hauptbegriffes der antiken oder mittelalterlichen Philosophie zu s t u d i e r e n , . . . so müssen wir fähig sein, das Eindringen der Ergebnisse des hohen abstrakten Denkens in das Volksbewußtsein zu verfolgen. Wir werden finden, daß viele unserer gewöhnlichsten Begriffe und alltäglichen Unterscheidungen durchaus nicht so einfach und selbstverständlich sind, wie sie uns heute vorkommen, sondern das Ergebnis schweren, jahrhundertelangen geistigen Ringens. Und manche Wörter, die wir 8« ohne weiteres verwenden, sind Werkzeuge, die uns Philosophen, Theologen und Juristen der Vergangenheit vorbereitet und auf dem Schleifstein ihrer Geisteskämpfe zugeschärft haben."

Bettelmönche.

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das England Heinrichs III. trifft das nicht zu, denn hier war die Kirche keinerlei Erschütterungen ausgesetzt. Es gab wohl viel Unbildung, Lässigkeit und praktisches Heidentum, aber keinerlei Ketzerei und nur wenig kirchenfeindliche Gesinnung. Es gab nichts, was man mit den Albigensern, Waldensern und anderen Bewegungen auf dem Festland hätte vergleichen können, die die Inquisition mit erbarmungsloser Härte bis in die Wurzeln ausrottete, großenteils unter dem Einfluß der Brüder vom heiligen Dominikus. Dieser Orden blühte wohl auch in England, doch fanden die „Hunde des Herrn" („domini canes") hier keine Ketzer zu jagen. 1224 landeten die sanften Franziskaner und ihr umbrisches Evangelium gewann die Herzen Englands rasch und ganz. Man kann auch nicht sagen, daß die Bettelmönche die Stellung des Papsttums in England gerettet haben. Vielmehr haben die papstfeindlichen Strömungen im Lande gerade in den Jahren eine gewisse Stärke erreicht, als die Bettelmönche den größten Einfluß auf das Volk ausübten. Die zwei Bewegungen standen nicht im Gegensatz zueinander. Grosseste hatte an beiden führenden Anteil, und der Auftrag, den die Mönche vom Papst übernommen hatten, hinderte sie nicht, ihre demokratischen Neigungen offen zu zeigen und sich der Partei Simons von Montfort anzuschließen, der zwar streng religiös, aber ein ausgesprochener Gegner der römischen Kurie war. Wenn man also auch nicht sagen kann, daß die Bettelmönche Papsttum und Kirche in England gerettet hätten, so führten sie doch die Religion in neuem Geiste auf neue Wege. Die ersten Franziskaner kamen selbst aus dem niederen Adel und erweckten im armen Volke den Glauben zu neuem Leben; ihr Wirken läßt sich mit dem der Puritaner, der Wesleyaner oder der Heilsarmee in vieler Hinsicht vergleichen. Im Sinne ihres Gründers gingen sie zu den Ärmsten, den Vernachlässigten, den Kranken, besonders in den Elendsgassen der größeren Städte, wo sich die Pfarrgeistlichkeit dieser Menschen nicht genug annahm. Das Geheimnis des Erfolges der Bettelmönche lag in ihrer Predigt, die der einfache Mann verstand und mitfühlte. Die Pfarrgeistlichen hatten damals selten die Fähigkeit, gut zu predigen, der hohe Klerus hatte den Kopf voll mit Politik und die Mönche der Klöster saßen entweder in ihren Zellen oder sie ergaben sich weltlichen Geschäften und Vergnügungen. Vor dem Auftreten der Bettelmönche beschränkte sich die Geistlichkeit zu ausschließlich auf das Spenden der Sakramente und auch das geschah nicht überall da, wo man es brauchte. Die Bettelmönche machten nicht nur jedermann die Sakramente zugänglich, sie drangen auch mit ihrer Predigt und religiösen Unterweisung in die

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breitesten Schichten des Volkes. Es war genau die Art der Lollarden und der Protestanten späterer Zeit. Die Bettelmönche erhöhten die Bedeutung der Kanzel und bereiteten damit ihren künftigen Bedrängern und Erben den Weg. Sie brachten die Religion dem gemeinen Volke, indem sie sich bemühten, die Lehre den Menschen verständlich zu machen und so die Lebensführung zu beeinflussen. Vom 4. bis zum 12. Jahrhundert hatten fromme Männer in einer Welt des Verfalls und der Roheit Zuflucht in Klöstern gesucht, um ihre Seelen zu retten und Gott inmitten dieser wilden Welt einen Garten zu pflanzen. Der Garten hat oft als nützliches Vorbild gedient, um die Wildnis urbar zu machen, aber immer stand eine Mauer zwischen Garten und Umwelt. Jetzt war die Welt ruhiger und hoffnungsvoller geworden als die von einst, die nacheinander viele Arten von Mönchsorden hervorgebracht hatte, und für die Bettelmönche war die ganze Welt ein Garten Gottes. Sie kamen auf den Marktplatz, in die Elendsviertel und rangen um die Seelen der Männer und Frauen. Der Mönch blieb, mindestens theoretisch, in seinem Kloster eingeschlossen; wenn er es verließ, was häufig geschah, so übertrat er oft die Regel, um dem eintönigen Leben zu entgehen, zu dem er nicht den innern Beruf fühlte. Für den Bettelmönch war es Pflicht, von Stadt zu Stadt zu ziehen, Kranke zu pflegen, zu predigen und die Beichte zu hören. Den Klostermönch nährten weite Äcker und Schafweiden, der „Bruder" lebte von den Almosen, die er sich von Tür zu Tür erbettelte. Theoretisch durften die Bettelmönche kein Eigentum haben. Aber die Jünger des heiligen Franziskus erwarben im Gegensatz zu der ursprünglichen Absicht des Stifters nicht nur Klöster, sondern auch Bibliotheken und große Kirchen. In dem Maße, als ihre Volkstümlichkeit zunahm, gerieten die Ideale des heiligen Franziskus in Vergessenheit oder sie wurden mit scholastischer Spitzfindigkeit wegdisputiert, bis schließlich diejenigen, die am Grundsatz der evangelischen Armut festhielten, innerhalb des Ordens Verfolgungen ausgesetzt waren. Der Meister hatte von der Wissenschaft, dem Fallstrick für die Reinheit der göttlichen Botschaft, nichts wissen wollen. Nun nahmen die Grauen Mönche von Oxford das Studium unter dem Schutz und der Führung des Bischofs Grossetete mit glänzendem Erfolg auf. Sein Freund Adam de Marsh und Roger Baco selbst gehörten zu den ersten Oxforder Franziskanern und später waren Duns Scotus und Wilhelm von Ockham Mitglieder des Ordens. Philosophie, Naturwissenschaft und Medizin haben den englischen Nachfahren des heiligen Franziskus viel zu verdanken. Wie bei allen solchen Bewegungen verglühte auch hier allmählich

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Wandlungen der Bettelorden.

die Leidenschaft, während die Organisation weiterlebte. Im 14. Jahrhundert bildeten Franziskaner und Dominikaner in England zwei mächtige Brüderschaften und hatten natürlich ein ganzes Heer von Feinden. Der weltliche Klerus haßte sie, weil sie in die Kirchspiele einbrachen und den Pfarrern die Schäflein samt dem klingenden Lohn .vor der Nase wegfingen. Noch mehr verhaßt waren sie bei den Anhängern Wycliffes, die in den Franziskanern und Dominikanern ihre stärksten Nebenbuhler sahen. Männer von Welt wie Chaucer lachten über die komödienhaften Mätzchen der „Brüder", die vorgaben, der urchristlichen Armut treu zu bleiben und dabei aus dem Aberglauben des Volkes Gewinn zogen. Der fromme, strenggläubige Gower konnte von ihnen schreiben: „Blutschande, kriecherisches und heuchlerisches Wesen, Förderung des Lasters, das alles hat ihre Dome, ihre Kirchen, ihre Klöster so groß gemacht." Aber noch am Ende des 14. Jahrhunderts hatten die Brüder im Volke einen großen Anhang. In der Kutte eines Bettelmönchs zu sterben, schien vielen ein sicherer Weg ins Himmelreich. Im 15. Jahrhundert sank ihr Einfluß, obwohl sie die Vernichtung ihrer Gegner, der Lollarden, erleben durften. Als der Sturm der Reformation losbrach, hatten sie fast keine Freunde mehr, zumal die Weltgeistlichkeit sie stets als Eindringlinge und Nebenbuhler empfand. Als Heinrich VHI. daran ging, die päpstliche Macht zu vernichten, da war die Auflösung der Bettelorden ein wesentlicher Schritt, weil sie die bevorzugten Schützlinge und Diener des Papstes gewesen waren. Die Ankunft der Bettelmönche war die letzte der Wellen auswärtigen Einflusses, die seit der normannischen Eroberung über England dahingeflutet waren. Alle hatten reiche Ablagerungen zurückgelassen; nun aber weichen die Wasser zurück, der Wind springt um und weht von den heimischen Wäldern her. Von Eduard I. an ist England nicht mehr Empfänger, es bringt vielmehr eine Fülle bodenständiger Schöpfungen hervor und beginnt, aus seinem eigenen Reichtum zu spenden. Unter Eduard I. entwickelt sich das Parlament und das eigene Recht, unter Eduard in. die heimische Sprache und Literatur. Zugleich mit Chaucer tritt Wycliffe auf und England leistet seinen ersten eigenartigen Beitrag zur religiösen Entwicklung. Mittlerweile erobern die englischen Freibauern mit ihrer heimischen Waffe, dem langen Bogen, Frankreich. Und die Phantasie eines Waldvolkes, das für körperliche Spiele und harmlose Scherze immer etwas übrig hat, verewigt den Bogenschützen in der durch und durch englischen Gestalt des fröhlichen vogelfreien Rebellen Robin Hood. Trevelyan, England

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In diesen Jahrhunderten hört die Leibeigenschaft nach und nach auf. Der allgemeine Wohlstand wächst dadurch, daß schon fertige Stoffe erzeugt und an Stelle der rohen Wolle ausgeführt werden. Gleichzeitig geht das Geld- und Kreditwesen im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts aus den Händen der Juden in die der Einheimischen über, denn die Juden werden unter Eduard 1. vertrieben. Wie so viele andere Fremde waren auch die Juden mit Wilhelm dem Eroberer ins Land gekommen. Das einfache angelsächsische England brauchte nur wenig Geldverleiher. Die normannischen und angevinischen Könige verwendeten wie viele andere Fürsten Europas die Juden dazu, ihnen Bargeld auf ihre Einkünfte vorzustrecken. Die Juden zogen aus dem Leihen gegen Zinsen, das die Kirche verbot, großen Verdienst. Und die christlichen Kaufleute, die kein Geld verleihen durften, mußten dieses Geschäft zähneknirschend den Ungläubigen überlassen. Die Juden dienten dem König als Schwämme, die sich mit dem Gelde der Untertanen vollsogen, indem sie ihr eigenes gegen Wucherzinsen verliehen. Vor der Wut ihrer Schuldner schützte sie bloß der starke Arm des Königs, der seine Geldbedürfnisse aus ihrem sich immer erneuernden Reichtum befriedigte. Ihr Verhältnis zum König war das des Leibeigenen zu seinem Herrn. Alles, was sie hatten, gehörte theoretisch dem König. Seine ,,Judenkammer" unterstützte sie bei der Eintreibung ihrer Schulden. Sie waren dem König auf Gnade und Ungnade preisgegeben, denn er war ihr einziger Freund in einer durchaus feindlichen Umwelt. Der Haß gegen die Juden hatte eine doppelte Wurzel, denn sie waren die Hauptgläubiger, da sonst niemand Geld auf Wucherzinsen leihen konnte, und zugleich die Erz-Ungläubigen, da doch alle anderen, natürlich, rechtgläubig waren. Von ihreta Geschäften mit dem König abgesehen, verliehen sie Geld in großer Menge an den hohen Adel und die Kriegerkaste. So lieferten sie den nervus rerum, das Geld, für Kriege und Regierungszwecke, nicht aber für Handel und Industrie. Denn die Zeit des Handelskapitals war noch lange nicht gekommen. Manche englische Juden wurden sehr reich, wie z. B. Aaron von Lincoln, dem zur Zeit Heinrichs II. die Ehre zuteil wurde, daß eine eigene Abteilung des Finanzamtes, das „Scaccarium Aaronis", seine Geschäfte abwickelte. In den Städten des üppigen Ostanglien überragten die steinernen Häuser der Juden, die, gleich Ritterburg und Kirche, nicht so leicht zu zerstören waren, die Lehm- und Holzhütten der armen Christen. Sobald aber der König ihnen den schützenden Arm entzog, vernichteten furchtbare Judenmetzeleien ihr Leben und ihre vielsagenden Schuldscheine.

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Die Juden.

Während der Regierung Eduards I. fand dieses unglückselige System sein grausames Ende (1290). Indem er die Juden aus der Insel verjagte, handelte er im Sinn der besten Männer seiner Zeit. Das Volk jubelte der Vertreibung zu und man rühmte sie als eine Tat der Selbstaufopferung des Königs. Der Entschluß war nicht schwer zu fassen, denn der König und seine Großen konnten nun bereits anderwärts, bei „wucherischen" Christen, Geld aufnehmen. Das Leihgeschäft ging zunächst in die Hände der Flamen und Italiener über, wie etwa der großen florentinischen Firmen Bardi und Peruzzi, deren Kredit Eduard III. in Anspruch nahm. Später traten englische Kapitalisten in den Vordergrund wie William de la Pole aus Hull, der erste englische Kaufmann, der in den Adel erhoben wurde, und Richard Whittingdon, Mayor von London. Sie liehen Geld an König und Adel und finanzierten den Hundertjährigen Krieg und die Kämpfe zwischen den beiden Rosen. Eduard IV. pflog mit den reichen Bürgern Londons sehr freundschaftlichen Verkehr, nicht nur, weil ihm ihre Frauen gefielen, sondern auch, weil er von ihnen Geld lieh. Als unter den Tudors das Zeitalter des kaufmännischen Kapitalismus anbrach, waren die großen Vermögen in heimischen Händen. Als die Juden im 17. und 18. Jahrhundert wieder nach England kamen, fanden sie den Geldmarkt und die anderen geistigen Berufe fest in den Händen der Engländer. Zugleich hatte die eifrige Beschäftigung mit der Bibel den Haß gegen das auserwählte Volk abgeschwächt. Aus diesen Gründen wurden die Beziehungen zwischen Juden und Engländern unter günstigeren Bedingungen wieder aufgenommen, als man sie noch heute in anderen Ländern findet, deren Bewohner nicht die Gabe oder nicht die Gelegenheit hatten, das Wirtschaftsleben selbst in die Hand zu nehmen. Man hat Eduard I. den englischen Justinian genannt, in Erinnerung an den Kaiser, der das alte römische Recht aufzeichnen ließ, als es in Vergessenheit zu geraten drohte. Manche sagen allerdings: das englische Recht der Zeit Eduards I. mit dem römischen Recht Justinians vergleichen, das heiße, wirkliche Kindheit mit kindischem Greisenalter gleichsetzen. Aber Eduard glich seinem Urbild wenigstens darin, daß er als König wie jener gewissen Gesetzen eine bestimmte Form gab. Er hat zwar keinen endgültigen Kodex geschaffen; ein solcher hätte auch weder zu einem so jungen Volk noch zum schmiegsamen Geist des englischen Rechts gepaßt. Aber er hat Bodenrecht und öffentliches Recht sowie die Stellung des Parlaments schärfer bestimmt. Die fließenden Einrichtungen des mittelalterlichen Staates 14»

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begannen unter ihm Gestalt anzunehmen. Von nun an war mindestens für die Praxis der Unterschied zwischen Parlament und königlichem Rat klar. In die ersten 18 Jahre der Regierung Eduards I. fallen die Anfänge des geschriebenen, auf Parlamentsbeschlüssen beruhenden Rechtes (Statute Law). Mit Hilfe großer in- und ausländischer Rechtsgelehrter ließ der gesetzfreudige König auf der Höhe seiner gewaltigen Schaffenskraft ein Gesetz nach dem andern von seinen Parlamenten beschließen, mit einer gesetzgeberischen Fruchtbarkeit, die man, nach Maitland, nur mit der der Whigs in den ersten Jahren nach der Reformbill von 1832 vergleichen kann. Diese- Gesetze (Statutes) sind etwas ganz Neues, denn sie verändern das Wesen des Rechtes. Bisher hatte es ein Recht (Law) gegeben, das seinem Ursprung nach anglo-dänisch, im übrigen überliefertes Gewohnheitsrecht war, nicht niedergeschrieben, vielfach nur im örtlichen Bereich gültig, größtenteils überholt. Da gab es weiter das feudale Recht, auch nur ein Gewohnheitsrecht, und neuestens das Case Law, das aus Einzelfällen (Cases) in Urteilen hervorragender königlicher Richter gewonnene Recht, das in wissenschaftlichen Abhandlungen, wie z. B. denen Glanvills und Bractons, erläutert wurde. Da gab es ferner öffentliche Vereinbarungen, wie die Beschlüsse von Clarendon oder die Magna Carta, die bloß das Recht neuerlich feststellen und einschärfen wollten, es allerdings tatsächlich erweiterten. Da gab es schließlich königliche Verfügungen (Royal Assizes), die das gesetzliche Verfahren abänderten, indem sie z. B. den Prozeß vor Geschworenen an die Stelle der Entscheidung durch den Zweikampf setzten. Aber jetzt, unter Eduard I., bekommen wir zum erstenmal „Gesetze", die zweifellos die Macht haben, das „Gesetz" selbst zu ändern, mit Ausnahme eines nicht klar bestimmten Restes von Grundgesetzen (Fundamental Laws), die auch König und Parlament nicht ändern können, denn auch diese haben nicht unbeschränkte Macht1). ') „Die kraftvolle Gesetzgebung Eduards I. hatte zunächst die Folge, daß dem Anwachsen nicht gesetzmäßig zustande gekommenen Rechtes ein Riegel vorgeschoben wurde" (Maitland, Constitutional History, S. 21). Solange das Gesetz nicht schriftlich festgelegt war, konnten es die Gerichtshöfe freier gestalten. Z. B. war es vom 11. bis zum 13. Jahrhundert in der Hand des Königs und seiner Richter gelegen, ob Mörder oder andere schwere Verbrecher geblendet oder sonst verstümmelt oder gehängt werden sollten. Wilhelm der Eroberer war für Verstümmelung gewesen, die Richter des 13. Jahrhunderts für die Todesstrafe. Später wurde das Verzeichnis der todeswürdigen Verbrechen durch Parlamentßgesetze festgelegt und daran mußte sich der Richter halten.

Gesetze Eduards I.

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In diesen ersten geschriebenen Gesetzen (Statutes) des Königreiches, besonders „De Donis Conditionalibus" und „Quia Emptores" wird das Recht des Feudalismus mit gewissen Veränderungen wiederhergestellt, so daß es der Ausgangspunkt des modernen Bodenrechtes geworden ist. Diese beiden großen Gesetze Eduards I. sind so lange die Grundlage der Gesetzgebung über den Grundsatz geblieben, daß der englische Jurist sie noch heute kennen muß. Das Gesetz De Donis (1275) führte besondere Erbbedingungen des Grundbesitzes ein, die jahrhundertelang viel Unglück im ländlichen England verursacht haben. Quia Emptores wurde von Eduard I. und seinen großen Lehensträgern durchgesetzt, um die Weiterverleihung von Gütern zu hindern und sich dadurch die volle Höhe der Einkünfte zu sichern. In Wirklichkeit beschleunigte das aber nur den Verfall des Feudalismus. Denn wenn die großen Lehensträger ein Stück Land veräußern wollten, so wurde der Käufer in Zukunft ein direkter Kronvasall. Dies führte zu einer starken Vermehrung der Leute, die ihre Lehen unmittelbar vom König hatten, und damit zu einem Ausgleich der Klassenunterschiede und einer weiteren Zersetzung des Feudalismus1). Daher galt es bald als weit höhere Auszeichnung, ins Parlament berufen zu werden, als einer der unzähligen unmittelbaren Kronvasallen zu sein. Und dem König gab seine Stellung an der Spitze der Verwaltung und als Schirmherr des Parlaments weit mehr Ansehen als seine angebliche Lehenshoheit über ganz England. Die feudale Gesellschaft verwandelt sich in ein im Parlament vertretenes Volk. Eduard I. regelt das Bodenrecht, und die Einrichtung von Gerichtshöfen mit bestimmtem Wirkungskreis macht schon unter seiner Regierung bedeutende Fortschritte. Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts entstehen nacheinander das Gericht des Schatzkanzlers (Court of the Exchequer), das Gericht für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten (C. of Common Pleas) und das Hofgericht (C. of King's Bench), jedes mit eigenem Verfahren und Protokoll, ständigen Richtern und Beamten. Das Gericht des Lord-Kanzlers (Court of Chancery) ist jünger und erhält erst später seine besondere Bedeutung8). ') Quia Emptores gestattete den freien Verkauf von Land, aber der Käufer mußte es als Lehen vom König tragen oder vom Oberherrn des Verkäufers nicht aber als Vasall des Verkäufers. Das schottische Gesetz erlaubte die Weitergabe von Lehen, und das war einer der Gründe, weshalb sich in Schottland die feudalen Zustände länger hielten. 2 ) Seit Robert Burneil, der Freund Eduards I., die Kanzlerwürde bekleidete, vielleicht aber auch schon früher, war der Lord-Kanzler der höchste Beamte im Königreich. Denn er führte das große Siegel des Königs und stand daher mit allen

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Seit Eduard I. werden die allgemeinen Gerichte (Courts of Common Law) im Gegensatz zum Kanzlergericht und den kirchlichen Gerichtshöfen nicht mehr mit geistlichen Richtern besetzt. Der Papst hatte schon seit einiger Zeit dagegen Einspruch erhoben, daß Priester weltliches Recht anwendeten und lehrten. Die Richter sind also in der Regel nicht mehr Geistliche wie Bracton oder staatskluge Krieger wie Glanvill. Der Richterstand ergänzte sich künftighin nicht von außen her, sondern die Anwälte wurden Richter, im Gegensatz zu vielen Ländern Europas, in denen bis zum heutigen Tage Richter und Anwälte zxfrei streng voneinander getrennte, einander ausschließende Berufe bilden. In der Sphäre der königlichen Gerichtshöfe zu Westminster Hall, in der das englische Recht fortwährend umgeschmiedet wurde, schmolz der körperschaftliche Sinn des Mittelalters Anwälte und Richter zu einer einheitlichen selbstbewußten Gemeinschaft zusammen. Nach außen hin abgeschlossen, Nebenbuhler der geistlichen Juristen, „gelehrte Brüder" untereinander, Schöpfer und Hüter einer großen geistigen und sittlichen Überlieferung, aber auch mit allen Fehlern und der ganzen Unbeliebtheit eines mächtigen und vorzüglich organisierten Standes behaftet, bildeten sie doch noch nicht einen beschränkten „Adel des Talars", sondern öffneten jedem begabten und fleißigen Engländer einen Weg zu Wohlstand und Ansehen, der die Menschen ebenso anziehen konnte wie die geistliche Laufbahn. Ämtern in ähnlich enger F ü h l u n g wie heute d a s Schatzamt. Bis zur Reformation w a r der Kanzler oft Geistlicher und Jurist-zugleich. Im Laufe des 14. und 15. J a h r h u n d e r t s wurde das Kanzlergericht allmählich zu einer endgültigen Einrichtung. Seine Aufgabe war, unvorhergesehenen Mißbrauchen, die sich bei der H a n d h a b u n g des Common Law ergaben, in gerechter Weise abzuhelfen. In Vertretung des königlichen Rates erledigte dieses Gericht auf gerichtlichem Wege Beschwerden d e r Untertanen. Da das Parlament nun den König daran hinderte, in d a s Verfahren einzugreifen oder einzelne Fälle durch unberechtigte Erlasse vor ein a n d e r e s Gericht zu ziehen, da ferner d a s Common Law zum Recht an sich wurde, zu einem 6tarren System, d a s der Wille des Königs nicht beeinflussen konnte, so war die bessernde Rechtsprechung des Kanzlers von unschätzbarem Wert für den König. Denn dieser k o n n t e so die gewöhnlichen Gerichte und d a s Parlament umgehen. Doch erhob niemand dagegen irgendeinen Einwand, weil so dem einzelnen Untertanen gelegBntlich große Erleichterungen geboten wurden. Noch vor dem Regierungsantritt der T u d o r s war d a s Kanzlergericht eine verfassungsmäßige Einrichtung geworden, die spätere königliche Hilfsmittel zur E r g ä n z u n g dea Common l.aw. wie etwa die S t e r n k a m m e r . überleben sollte. Im 15. J a h r h u n d e r t bot das Ranzlergericht eine Möglichkeit d e r B e r u f u n g vom Formalismus der anderen Gerichte an den gesunden Menschenverstand. 400 J a h r e später, zur Zeit Eldons und Charles Dickens', war auch dieses Gericht in Formalismus erstarrt und der Bürger fand eher Hilfe durch die Verbesserungen, die d a s P a r l a m e n t immer wieder an den Gesetzen vornahm.

Die Rechtsgelehrten.

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Diese Juristen waren der erste gebildete Stand, der der Laienwelt angehörte, und daher von großer Bedeutung für das Werden der Nation. Sie haben in der Geschichte Englands eine nicht viel geringere Rolle gespielt als das Parlament. -Ohne die Rechtsgelehrten wäre weder die Reformation noch der Sieg des Parlaments über die Stuarts durchgesetzt worden. Aber ihre Überlieferung wie ihre Gemeinschaft ist eine charakteristische Frucht des Mittelalters und darin den Universitäten nahe verwandt. Wie die englischen Universitäten ihre Studentenhäuser ausbildeten, so bauten die englischen Rechtsgelehrten ihre Juristenheime (Inns of Court) auf. Während der Regierung der drei Eduarde (1272—1377) errichteten sie sich ihre Versammlungsräume, Büchereien und Wohnhäuser im verlassenen Hain des aufgelösten Templerordens. Der Platz ihrer öffentlichen Berufstätigkeit lag etwa drei Kilometer weiter westlich im Schatten der königlichen Residenz. Dort hatten sie ihre königlich ausgestatteten Räume in der Westminsterhalle, dem großartigen Zubau, den Wilhelm der Rote dem Palaste Eduards des Bekenners angegliedert hatte, als ob er an Pracht mit der Abtei wetteifern sollte. Die Gildenhäuser der Juristen (Inns of Court), in denen sie wohnten, aßen und studierten, lagen auf halbem Wege zwischen der wirtschaftlichen Hauptstadt London und der politischen Hauptstadt Westminster; schon diese örtliche Lage legte dem englischen Rechtsgelehrten seine wahre politische Aufgabe nahe, Mittler zwischen König und Volk zu sein 1 ). Während der Regierung Eduards 1. beginnen die berühmten Jahrbücher, das sind nichtamtliche wörtliche Prozeßberichte, die bei Gericht niedergeschrieben wurden. Sie waren in französischer Sprache abgefaßt, die damals in den oberen Gesellschaftsschichten gesprochen und daher auch von den Juristen in ihren Plädoyers angewendet wurde. Kein anderes Land, auch kein anderes Gebiet des englischen Lebens, kennt, noch auf Jahrhunderte hinaus, solche ausführliche Berichte. Alles, was von beruflichem, und vieles, das von rein menschlichem Interesse ist, wurde wörtlich aufgezeichnet: „Das scharfsinnige Argument, die Antwort darauf, der Scherz, die Verwünschung." Geschlecht für Geschlecht wurden diese Berichte weitergeführt und spielten die Rolle des Codex Justinianus oder der päpstlichen Decretalen als Lehrer und Anreger der großen Gelehrten, dieser treuen Hüter alten Erbgutes, die im Laufe der Zeit das Gebäude des englischen Rechtes aufgerichtet haben. l ) Erst gegen Ende der Regierung der Königin Victoria übersiedelten die Gerichtshöfe aus Westminster in die Temple Bar, also in die Nähe der Gildenhäuser.

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Innere Entwicklung. 1200—1350.

Stolz auf seine Gerichte und eifersüchtig auf jedes grundherrliche Recht, das über das gewöhnliche Gutsgericht hinausging, ordnete Eduard I. die berühmte Quo-Warranto-Untersuchung über den Ursprung jeder privaten höheren Gerichtsbarkeit an, wobei er die Vorweisung von Urkunden verlangte, während in vielen Fällen nur uraltes Gewohnheitsrecht vorlag. Der Versuch war zu früh unternommen; er suchte durch einen kühnen Streich der königlichen Macht etwas durchzusetzen, was die Zeit unmerklich und besser zustande bringen mußte. Es gibt eine vielleicht nicht ganz unglaubwürdige Geschichte, daß der Earl Warenne als Antwort auf die Fragen der Richter sein altes, verrostetes Schwert gezogen habe mit dem Bemerken, das sei die Urkunde, die ihm Besitz und Freiheit gewährleiste. König Eduard übte keinen allzu starken Druck aus, denn er hatte in seiner Jugend genug Adelskämpfe gesehen. Aber die Quo-Warranto-Frage setzte mindestens den jüngsten und allen künftigen Eingriffen in den Bereich der königlichen Gerichte ein Ende, und da die Bevölkerung zur königlichen Gerichtsbarkeit mehr Vertrauen hatte, hörte die der Privatpersonen allmählich von selbst auf. Als während der Rosenkriege (1455—1485) der Aufruhr zum letztenmal sein Haupt erhob, da verlangten die großen Herren gar nicht mehr die eigene Gerichtsbarkeit, sondern begnügten sich damit, durch ihre Vasallen Richter und Gerichte des Königs einzuschüchtern. Englands eigenartigste Einrichtung, das Parlament, ist nicht einer plötzlichen Eingebung entsprungen, um einer Revolution Dauer zu verleihen, in der eine Macht im Staate aufstieg und die andere niedersank. Es ist allmählich entstanden als ein taugliches Mittel, Gegensätze zu mildern und ein gemeinsames Handeln von Mächten zu ermöglichen, die einander achteten: König, Kirche, Barone und bestimmte Klassen unter diesen, wie Bürgertum und Kleinadel. An die Leibeigenen dachte niemand. Sie hatten daher am Parlament keinerlei Anteil, sondern empfanden es als ihren Feind und daher zog die „arbeitende Klasse", sobald sie zum Bewußtsein ihrer selbst kam, die „direkte Aktion" vor: es kam zum Aufstand von 1381. Von den leibeigenen Bauern abgesehen, stellte das Parlament ein freundschaftliches Gleichgewicht der Kräfte dar. Den Engländer hat immer sein „committee sense" ausgezeichnet, der Sinn für Ausschüsse, der Wunsch, sich zusammenzusetzen und miteinander zu reden, bis Übereinstimmung oder ein Ausgleich erzielt ist. Diese nationale Eigenart ist die wahre Wurzel des englischen Parlamentarismus. Während der Regierung der drei Eduarde (1272—1377) erhielt

Das Parlament.

217 das Parlament allmählich ungefähr seine heutige Gestalt. Auf Grund seiner Erfahrungen zur Zeit Montforts sah Eduard I. in häufigen nationalen Versammlungen das beste öl für den reibungslosen Gang der Staatsmaschine. Er wollte gewiß nicht die königliche Macht beschränken oder sie dem Willen der Gesamtheit unterordnen. Er wollte vielmehr die königliche Macht wirksamer gestalten, indem er mit den Beherrschten dauernd Fühlung hielt. Und gleich Heinrich Vffl., dem einzigen Herrscher Englands, der so viel für das Ansehen des Parlaments getan hat wie Eduard I., wußte auch dieser die Unterstützung der Mittelklassen in Stadt und Land zu schätzen. Der König entschloß sich also, den Versuch, der gelegentlich während der stürmischen Regierung seines Vaters unternommen worden war, zu wiederholen und in breitere Schichten zu tragen. Er berief Vertreter der Grafschaften und Städte, die den großen Versammlungen des hohen Adels beiwohnen sollten. Der König wollte zunächst bestimmte Steuern leichter einziehen; die schwierigen Schätzungen für diese konnten ohne die willige Mitarbeit und die besonderen Lokalkenntnisse der Ritter und Bürger nicht ordentlich durchgeführt werden. Deren Vertreter sollten nun vom königlichen Hof und aus der Versammlung des hohen Adels in die Heimat zurückkehren, erfüllt von Ehrfurcht, aber auch von Selbstbewußtsein, von einem neuen Sinn für nationale Einheit und nationale Bedürfnisse. In dieser Stimmung würden sie bei den Schätzungen mitwirken und die Steuern würden leichter einfließen. Und sie sollten die Politik des Königs ihren Nachbarn klar machen, die sonst darüber gar nichts zu hören bekämen. In einer Zeit, die keine Zeitungen und kaum den Brief kannte, in der das Reisen schwierig und gefährlich war, bewirkte der entschiedene Wunsch des Königs, daß immer neue Gruppen von Rittern und Bürgern zwischen Westminster und ihrer Heimat hin- und herzogen, und damit begann die ununterbrochene politische Erziehung der Engländer, die vielleicht mehr zur Bildung der einheitlichen Nation beigetragen hat als Chaucer oder der Hundertjährige Krieg. Ohne diesen Apparat zur leichteren Einhebung der Steuern hätten die großen Kriege gegen Schottland und Frankreich nicht geführt werden können. Man hat gesagt, daß nicht England das Parlament, sondern daß das Parlament England geschaffen hat, und darin liegt ein Körnchen Wahrheit. Nicht bloß finanzielle Bedürfnisse veranlaßten den König, Vertreter der Städte und Grafschaften zu berufen. Eduard I. versammelte sie sogar manchmal, ohne überhaupt Geld zu verlangen. Denn er wollte auch die Bitten und Beschwerden der Untertanen hören, um

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Innere Entwicklung. 120&—1350.

entsprechend den wirklichen Bedürfnissen regieren und Übergriffen der Beamten steuern zu können. Die Tätigkeit dieser ersten Parlamente bestand großenteils darin, ganze Stöße von Bittschriften entgegenzunehmen, hauptsächlich von einzelnen Personen, einzelnen Gemeinden oder Körperschaften, aber seit dem 14. Jahrhundert in steigendem Maße vom Haus der Gemeinen als einem Ganzen. Unter Eduard I. wurden diese Bittschriften nicht an das Parlament, sondern an den König oder an den königlichen Rat gerichtet. Sie wurden im Parlament vom König, von seinen Ministern oder von den sogenannten Prüferausschüssen (Triers) behandelt, die uns Mitgliedern des königlichen Rates, Richtern und Baronen zusammengesetzt waren. Die Art, wie den Bittstellern ihr Recht wurde, würde man heute als Akt der Gesetzgebung, der Verwaltung oder des Gerichtes bezeichnen; damals gab es diese Unterscheidungen noch nicht.. Aber mit der Zeit wurden viele der privaten Bittgesuche der richterlichen Entscheidung, meist vor dem Kanzleigericht, zugeführt, während die Angelegenheiten von allgemeinerem Interesse dem Haus der Gemeinen als Ganzem vorbehalten blieben und seit Heinrich VI. die Form des Gesetzantrages („Bill" von lat. bulla = Siegel) annahmen, der vom Parlament zum Gesetz erhoben wurde. Dies ist der Ursprung der Gesetzgebung des Unterhauses. Doch dürfen wir während der Regierung Eduards I. noch nicht von „Häusern" des Parlaments sprechen. Es war bloß e i n e Versammlung unter dem Vorsitz des Königs auf dem Thron oder des Kanzlers auf dem Wollsack. Die anderen höchsten Staatsbeamten waren kraft ihres Amtes anwesend, außer ihnen die weltlichen und geistlichen Großen, die durch besondere, an jeden einzelnen gerichtete Schreiben geladen wurden. Bescheiden im Hintergrund standen die Abgeordneten des kleinen Adels und der Bürger, die der Sheriff der Grafschaft einberufen hatte. Sie sprachen in dieser Umwelt nur, wenn sie gefragt wurden. Das war das „Hohe Parlamentsgericht" (High Court of Parliament), wie man es noch heute im Haus der Lords mit seinem Thron und seinem Wollsack sehen kann. Heute darf allerdings bloß der Kanzler als einziger unter den königlichen Ministern von Amts wegen der Sitzung des Oberhauses beiwohnen, auch wenn er kein Peer ist, und der Thron ist nur bei der Eröffnung oder Vertagung des Parlamentes besetzt. Bei solchen Anlässen, wenn die Gemeinen zur Schranke des Oberhauses strömen, um die Worte des Königs zu hören, sehen wir das ursprüngliche Parlament der Plantaerenets vor uns. Damals bildeten die Vertreter der „Gemeinen" noch keine eigene Kammer. Sie wohnten zwar oft den Sitzungen des einen ungeteilten Parlamentes bei, abex ihre Anwesenheit war für viele der wichtigen

Die Anfänge des Unterhausos.

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Geschäfte, die der hohe Adel allein erledigte, nicht wesentlich und auch ihre Zustimmung wurde durchaus nicht immer eingeholt. Die großen Gesetze, die die Regierung Eduards I. so berühmt gemacht haben, wie z. B. Quia Emptores, wurden ohne Vertreter der Gemeinen beschlossen. Und wenn Ritter und Bürger bei der Erörterung von Fragen der hohen Politik überhaupt anwesend waren, so redeten wohl die Minister, Barone und Prälaten, während jene bloß stumm zuhörten. Das Unterhaus als besondere Kammer geht auf unoffizielle Zusammenkünfte der Ritter und Bürger zurück, in denen diese hinter ängstlich verschlossenen Türen darüber berieten, welche gemeinsame Antwort sie auf irgendeine schwierige Frage oder Forderung der Großen erteilen sollten. Sie waren so vorsichtig, keine Berichte über diese Verhandlungen zu hinterlassen, und daher wissen wir gar nichts über die innere Entwicklung des ältesten Unterhauses. Wir wissen nicht einmal, wie und wann der Sprecher sein Vorsitzender wurde. Denn der Sprecher war ursprünglich der Mann, der im Namen der Gemeinen vor dem ganzen Parlament sprach, während die anderen Ritter und Bürger in Anwesenheit der Vornehmeren schwiegen. Noch unter den Stuarts war der Sprecher eher Diener der Krone als des Hauses. Andererseits finden wir schon unter Eduard III. Beamte des königlichen Hofstaates als Abgeordnete des kleinen Adels, wahrscheinlich, um die Verhandlungen und Beschlüsse des Unterhauses im Sinne der Krone zu beeinflussen, wie dies Mitglieder des königlichen Geheimen Rates (Privj* Council) unter den Tudors mit großem Erfolg taten. Zur Zeit Eduards III. wurde auch das Kapitelhaus der Mönche von Westminster der regelmäßige Zusammenkunftsort der Gemeinen. Es ist die wichtigste Tatsache in der älteren Geschichte unserer Einrichtungen, daß sich das englische Parlament unter den späteren Plantagenets, im Gegensatz zu ähnlichen Versammlungen in anderen Staaten Europas, nicht in die drei Stände des Adels, des Klerus und des Bürgertums, sondern in die zwei Häuser der Lords und der Gemeinen gegliedert hat. Die Verfassungs- und Sozialgeschichte Englands erweist sich in hohem Maße als Ursache oder Wirkung dieser einzigartigen Teilung. Auf dem Festlande gehörten alle Edelleute zum Stande des Adels. Im englischen Parlament aber zerfiel der Adel, in dem weiten festländischen Sinn des Wortes, in zwei Gruppen: der hohe Adel, die barones majores, von denen jeder durch besonderes königliches Schreiben berufen wurde, saß im Oberhaus, die barones minores konnten, auch wenn sie unmittelbare Kronvasallen waren, nur ebenso wie die kleine-

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Innere Entwicklung. 1200—1350.

ren Landedelleute und die Freibauern zu Abgeordneten der Grafschaft gewählt werden. So zersetzten die Formen des englischen parlamentarischen Lebens die Standesunterschiede des feudalen Zeitalters. Auch Kronvasallen berieten mit den Bürgern der Städte gemeinsam. Diese merkwürdige und charakteristische Eigenart der englischen Parlamente des 14. Jahrhunderts erklärt sich aus der früheren Entwicklung, die wir oben kennengelernt haben. Die lebhafte Betätigung des kleineren Adels in der Grafschaftsverwaltung brachte diesen oft in enge Berührung mit den Staatsbürgern und mit den niedrigeren Klassen der freien Grundbesitzer1). Das englische Erbfolgerecht, das die jüngeren Söhne der adeligen Familien in die Welt hinaussandte, legte den Bewohnern der Burgen und Herrenhäuser von selbst ein wohlwollendes Interesse für Handel und Verkehr nahe. Heirat und ständiger persönlicher Verkehr zwischen den höheren und mittleren Klassen der Gesellschaft waren schon damals in England weit häufiger als anderwärts. Viele Jahrzehnte vor den Schlachten von Bannockburn und Crecy spiegelte das Unterhaus diesen eigenartigen Zug englischen Wesens wider. Schon vertraten die Ritter der Grafschaften, eine halb feudale Gesellschaftsklasse, als gewählte Abgeordnete die ländlichen Freibauern und berieten in traulichem Verein mit den Bürgern der Städte. Das ist der Grund, weshalb das Unterhaus bereits in einer Zeit zu Bedeutung kam, da Bürger und Freibauern kaum politische Geltung erlangen konnten, wenn sie nicht gemeinsam mit den Edelleuten vorgingen. Darum war auch der Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts kein Klassenkampf und darum konnte äuch das England Burkes nicht verstehen, worum es in der französischen Revolution eigentlich ging. Im englischen Parlament gab es auch keinen besonderen geistlichen Stand. Ja, der Klerus verzichtete nicht nur darauf, als geschlossener Körper im Parlament aufzutreten, sondern er gab freiwillig alle seine Sitze unter den Gemeinen und viele im Oberhaus auf. Hier, in dieser feudalen Versammlung, blieben allerdings die Bischöfe und die Äbte der großen Klöster in ihrer Eigenschaft als Inhaber großer Lehen. Manche Bischöfe waren Minister oder hohe Be') S. oben S. 186 f. Die Mitglieder des Unterhauses einschließlich der Bürger wurden vom Sheriff berufen, nicht durch besondere Schreiben an die einzelnen Städte. Dies führte zu einer engen Beziehung zwischen Stadtbürgern und Edelleuten, die beide in einem gewissen Sinn Vertreter der Grafschaften, ihrer ländlichen u n d städtischen Interessen werden. Sheriff und Grafschaft spielten in der königlichen Verwaltung eine so große Rolle, daß jener Zustand allen ganz natürlich erschien.

Kleinadel, Bürger, Freibauern. Die Geistlichkeit.

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amte. Aber solche Prälaten, die sich in erster Linie als Männer der Kirche fühlten, nahmen am parlamentarischen Leben geringen Anteil. Die Mehrheit der Äbte und Priore ging in ihren unmittelbaren Klosterinteressen auf, scheute unbequeme und teuere Reisen, fühlte sich dem Papste mehr verpflichtet als dem König und gab sich daher nicht die Mühe, den Verhandlungen des Parlaments beizuwohnen. So schaltete sich der Klerus selbst aus dem nationalen Leben aus; die Folgen zeigten sich in den Parlamentsbeschlüssen unter Heinrich VIII.1). Ebenso wurden die Vertreter des niederen Klerus nicht zu einem dauernden Bestandteil des Unterhauses und allmählich blieben sie dem Parlament überhaupt fern. Die Aufgabe, die dem König gebührenden Abgaben vom geistlichen Besitz, den „Zehnten" und .Fünfzehnten", zu beschließen, ging an die rein kirchlichen, ganz unpolitischen Versammlungen (Convocation) von Canterbury und York über, die mit dem geistlichen Stand der Etats généraux von 1789 nichts gemeinsam haben. Der englische Klerus huldigte dem Grundsatz, daß das Reich des Kaisers und das Reich Gottes am besten streng geschieden blieben. Da er aber seinen großen, viel beneideten Reichtum und die zahlreichen alten Vorrechte beibehielt, die eine veränderte Welt als Mißbräuche empfand, geriet er in eine vereinsamte Stellung, die mit dem Beginn der Reformation Angriffen besonders ausgesetzt war. Aus den geringen Anfängen unter Eduard I. erhob sich das Haus der Gemeinen in den nächsten 150 Jahren zu einem gewichtigen Faktor im Verfassungsleben. Die Zustimmung seiner Mitglieder wurde für alle Gesetze und jede außerordentliche Steuer notwendig. Die eigenen Vorstellungen und Beschwerden der Abgeordneten fanden oft im Parlament die Zustimmung des Königs, und selbst an den höchsten Staatsakten, wie Absetzung und Neuwahl von Königen, nahm das Unterhaus Anteil. Während der Rosenkriege war die Macht des Unterhauses freilich mehr scheinbar als wirklich, denn die stärkeren politischen Kräfte waren damals nicht die Gemeinen, sondern König, Barone und Kirche. Aber die Stellung des Unterhauses war im öffentlichen Recht des Landes fest verankert und auf dieser unschätzbaren Grundlage konnte es die Macht im Staate an sich ziehen, sobald die Herrscher aus dem Hause Tudor der Kirche und dem hohen Adel die Flügel gestutzt hatten. Wenn die Gemeinen unter den späteren Plantagenets viel wirkliche und noch mehr scheinbare Macht gewannen, so liegt die Er*) Die Zahl der Äbte und Priore im Parlament sank von etwa 70 zur Zeit Eduards I. auf etwa 27 unter Eduard III. und seinen Nachfolgern.

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Innere Entwicklung. 1200—1350.

klärung dafür recht nahe. Sie waren die dritte Partei, die den Ausschlag gab und daher von den Führern in den staatlichen Kämpfen lebhaft umworben war. Der ständige Streit zwischen König und Baronen unter den drei Eduarden und später unter dem Haus Lancaster, der nicht enden wollende Zwist zwischen den dem Thron zunächst stehenden Familien machte die Gemeinen beinahe zum Schiedsrichter. Sie wußten sehr klug aus dieser Stellung Vorteil zu ziehen, denn ihre Interessen knüpften sie weder ganz an die Barone, noch an den König. Eduard I. hatte wahrscheinlich die Absicht, sich gegen den hohen Adel auf das Unterhaus zu stützen, aber das Stadtvolk hatte auch seine Beschwerden gegen den König. Denn wenn er Geld für seine Unternehmungen in der Gascogne oder in Schottland brauchte, so nahm er größere Mengen an Ausfuhrwolle für sich in Anspruch als es der alte Brauch gestattete. Diese „ungerechten Abgaben" (maltoltes, ill takings) wurden 1297 als ungesetzlich erklärt, nachdem sich die Bürger gegen den König mit Adel und Klerus verbündet hatten, die gleichfalls unter den plötzlichen großen Anforderungen des Königs litten. Trotzdem war Eduard I. gegen Ende seiner Regierung auf dem besten Wege, der absolute Herr von England und auch von Schottland zu werden. In seinen letzten Lebensjahren war es ihm in weitem Maße gelungen, den Widerstand seiner Barone zu brechen und zugleich die letzte Glut des Feuers zu zertreten, das Wallace angezündet und Bruce geschürt hatte. Ein fähiger Nachfolger hätte die parlamentarische Freiheit in England und die nationale Freiheit in Schottland vernichten können. Das Parlament wäre wohl nicht zum Gegner der königlichen Gewalt oder zu ihrem Kritiker geworden, der besänftigt werden mußte, sondern zu einem nützlichen Rad der königlichen Verwaltungsmaschine; so hatte es Eduard zweifellos auch gemeint. Die Regierung seines gutmütigen, aber nachlässigen und unfähigen Sohnes Eduards II. (1307—1327) änderte die Situation. Es ist nicht gut für ein Land, eine ununterbrochene Reihe großer Herrscher zu haben, wie Heinrich II., Eduard I. oder die Tudors. Johann, Eduard II. und die Stuarts haben ihren genau bestimmten Platz in der Geschichte Britanniens. Das schwache Regiment zweier so untüchtiger Künstlernaturen, wie der junge Eduard II. und sein Freund Piers Gaveston es waren, öffnete den Baronen neue Möglichkeiten. Gaveston war gewiß nicht der erste noch auch der schlechteste unter den Emporkömmlingen, die in England zu den höchsten Stellungen gelangten, er war auch kein 80 ganz fremder „Ausländer". Da ei aber die Unvorsichtigkeit beging, den führenden Baronen Spitznamen zu geben, ließen sie ihn meuch-

Eduard II. Adelsempörungen.

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üngs ermorden (1312). Eduard II. und Gaveston verstanden es ungefähr ebenso schlecht England zu regieren wie Karl I. und Buckingham. Aber die Führer der Adelsopposition, besonders der Earl Thomas von Lancaster, waren dumme, selbstsüchtige, rohe, von Standesdünkel triefende Leute. Despenser, der nächste Günstling des Königs, war kein Emporkömmling wie Gaveston, wurde aber zum Tyrannen. Doch auch der Kampf zwischen diesen wenig würdigen Gegnern gedieh dem Volke zum Nutzen. Die Verwaltung wurde verbessert, indem man sie nicht der plumpen Aufsicht der Barone überließ, sondern den sachkundigen Beamten einen größeren Wirkungskreis einräumte. Und die Gerechtsame des Parlaments nahmen zu, denn es wurde bei verschiedenen wichtigen Anlässen einberufen, bald von Eduard II., bald von den Baronen. Beide Parteien wollten ihre jeweiligen Erfolge durch Abstimmung und Gesetz sichern. An diesem steigenden Ansehen des Parlaments hatten auch die Gemeinen ihren Anteil. Die Adelsempörungen — man kann sie wohl kaum als Kriege bezeichnen — während der Regierung dieses unglücklichen Königs stärkten weder die Stellung der Krone noch die des Adels. Während des ganzen Mittelalters erwiesen sich die Barone trotz wiederholter Anstrengungen nicht imstande, den königlichen Rat nach einem klaren Plan zu beherrschen. Sie hielten zwar an der Meinung fest, daß der König, nach feudalen Grundsätzen, sich an den Rat seiner Großen halten solle statt an den geschulter geistlicher und ziviler Beamten, die nichts anderes waren als tüchtige Kenner der Verwaltungsgeschäfte. Aber die Barone konnten ihren Anspruch auf die Regierung nicht in die Tat umsetzen, weil wirkliches Regieren eine ständige Beschäftigung mit der Sache verlangt, was für einen Mann des hohen Adels in der Regel unmöglich war. Schlösser, Jagden, Vasallen, die über halb England verstreuten Güter und die sich aus all dem ergebende Lebensweise nahmen seine Zeit ganz in Anspruch. Er konnte weder verantwortlicher Minister des Königs sein noch an den Sitzungen des Rates regelmäßig teilnehmen, weil er andere Pflichten und andere Vergnügungen hatte. Noch aus einem anderen Grunde konnten die Barone die Regierung höchstens in revolutionären Zeiten führen: Der königliche Hof und Haushalt war nämlich viel zu groß und verwickelt, um so ohne weiteres überblickt werden zu können. Wenn ein Amt, etwa das des Kanzlers und Großsiegelbewahrers, in den Händen der Adelsopposition war, so konnte der König diese Stelle umgehen und das Land mit Hilfe seines Privatsiegelbewahrers (Wardrobe) weiterregieren, der das Geheime Siegel führte. Der königliche Hof war elastisch und anpassungs-

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

fähig, dabei in den einzelnen Ämtern sehr spezialisiert, ihm standen zahlreiche geschulte und tüchtige Männer zur Verfügung, die in aller Stille weiterregierten, während hoch über ihren Häuptern Dummköpfe oder Schurken wie Gavestone und Thomas von Lancaster, Despenser und Mortimer einander stürzten und umbrachten, zu Nutz und Frommen der Nachwelt und ihrer dramatischen Dichter. Mittlerweile erhoben sich in aller Ruhe die steinernen Herrenhäuser in stillen Winkeln des Landes, die Wollausfuhr stieg, die Bevölkerung wuchs, die drückende Armut wich langsam einer etwas besseren Lebenshaltung, weil während der ganzen Zeit der Landfriede (The King's Peace) gleichmäßig erhalten blieb. Während der Regierung Eduards III. erfuhr der Staatsapparat eine bedeutungsvolle Bereicherung. In jeder Grafschaft wurden Friedenshüter oder Friedensrichter (Justices of the Peace) zur Unterstützung der Zentralgewalt eingesetzt. Wie die Coroners vor ihnen, waren sie nicht bezahlte Beamte, sondern unabhängige Landedelleute. Im Einklang mit dem allgemeinen Aufstieg der Ritter und des kleinen Adels übernahmen die Friedensrichter immer mehr von den Geschäften der großmächtigen Herrn Sheriffs und der reisenden Richter. Das Amt des Friedensrichters schlug in der Grafschaft Wurzeln und gedieh als natürliche Pflanze; seine Aufgabe war, das Bindeglied zwischen dem königlichen Rat und der Bevölkerung zu sein, und er stand zu beiden in gleich guter Beziehung. 400 Jahre lang wurde der Wirkungskreis und das persönliche Ansehen der Friedensrichter immer größer, bis ihre Macht im 18. Jahrhundert die der Zentralregierung in mancher Hinsicht übertraf. Das wäre sicher nicht geschehen, wenn das Amt nicht in dieser ganzen langen Zeit den Bedürfnissen und der Eigenart des Volkes entsprochen hätte. Nach Maitland ist die Achtung vor dem Gesetz, die den Engländer so auszeichnet, ein Ergebnis der Erziehung dieser „Laienrichter". Denn diese Träger der öffentlichen Gewalt, die dem gemeinen Volk in den gewöhnlichen Streitfällen das Recht auslegten und das Urteil sprachen, mögen das wissenschaftliche Recht nicht allzu gründlich gekannt haben, dafür kannten sie aber ihre Leute und diese kannten sie. V. Kelten und Angelsachsen. Versuche zur Einigung der ganzen Insel. Gründe der Fehlschläge im Mittelalter. Irland, Wales und Schottland.

England, der höchstorganisierte unter den großen Staaten Europas im späteren Mittelalter, hatte weit tiefer stehende Nachbarn, einerseits Wales und Irland, beide ein Gemengsei keltischer Stämme,

Irland.

225

andererseits Schottland, ein armes, dünn b e v ö l k e r t e s K ö n i g r e i c h , in d e m K e l t e n und Sachsen lebten, das aber langsam in Sprache und Lebensweise

anglo-normannisch

wurde. Versuche, die Insel unter

englischer

Oberhoheit zu einigen, ergaben sich v o n selbst 1 ). D i e G e o g r a p h i e hatte auch die R ö m e r v o r « dieses P r o b l e m g e s t e l l t und ein guter Geist g a b ihnen ein, Irland in Ruhe zu lassen. Schottland versuchten sie w i e d e r h o l t und vergeblich zu erobern. D a g e g e n g e l a n g es ihnen rasch, W a l e s durch ihre Straßen und Festungen in A b h ä n g i g k e i t zu bringen, ohne allerdings die B e r g b e w o h n e r der römischen K u l t u r zu g e w i n n e n . Dem mittelalterlichen England g i n g es sehr ähnlich. L a n g samer als die L e g i o n e n überzog die englische R i t t e r s c h a f t W a l e s mit ihrem N e t z v o n Burgen und sicherte so das Land militärisch, aber die v o l l e Einordnung der W a l l i s e r in die angelsächsische Gesittung blieb der Z e i t v o m 16. Jahrhundert an überlassen. Die Versuche, Schottland zu u n t e r w e r f e n , schlugen g a n z fehl. Auch Irland w u r d e nicht erobert, sondern es kam bloß zu Niederlassungen an der Küste, an die England sich k l a m m e r t e w i e ein Jagdhund, der sich in die W e i c h e n des Hirsches v e r bissen hat. Das mittelalterliche E n g l a n d hat also in Schottland und I r l a n d g a r nichts erreicht und nicht einmal W a l e s zu v o l l e m Gehorsam g e bracht. Der Grund dafür liegt in den festländischen Interessen der englischen K ö n i g e . Bis zum Verlust der Norniandie unter K ö n i g Johann w a r e n die normannisch-angevinischen Herrscher mit der Eroberung und V e r t e i d i g u n g französischer Gebiete vollauf beschäftigt. Die einzige Zeit, in der die K ö n i g e aus dem Hause P l a n t a g e n e t ihr Denken und ihre Macht rein britischen A u f g a b e n widmen konnten, war das Jahrhundert zwischen dem Verlust der N o r m a n d i e und dem Ausbruch des Hundertjährigen K r i e g e s (1214—1337). In dieser Zeit hatte E n g l a n d nur einen großen K ö n i g , nämlich Eduard I., und unter ihm erreichte tatsächlich die Macht Englands in W a l e s , Irland und Schottland ihren H ö h e p u n k t . Sein N a c h f o l g e r w a r der u n f ä h i g e Eduard II., w ä h r e n d später alle K ö n i g e bis zu den T u d o r s mit überheblichen Versuchen der E r o b e r u n g Frankreichs oder damit zusammenhängenden inneren W i r ren b e s c h ä f t i g t waren. Damit g i n g die H e r r s c h a f t E n g l a n d s in Schottland und fast in g a n z Irland v e r l o r e n und s o g a r in W a l e s w u r d e sie erschüttert. Als

w i r zuletzt

(S.

63) v o n

Irland

sprachen, leuchtete

eben

in

diesem fernen W i n k e l der W e l t das L i c h t des Wissens aus dem t i e f e n ' ) „Keltisch" bezeichnet in diesem Kapitel wie auch sonst das alte keltischiberische Mischvolk. Trevelyan, England

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

Dunkel des frühen Mittelalters auf und d u r c h d r a n g mit seinen Strahlen die geistige Finsternis Schottlands und Englands, Deutschlands und Frankreichs. Die Heiligen, Künstler und Gelehrten der irischen Klöster glänzten durch ihre persönliche Leistung und waren frei von den Fesseln einer Organisation. J e d e feste Bindung war der frühirischen Kirche ein Greuel ebenso wie ihrem Nährhoden, den heimischer. Stämmen. Deshalb h a t auch der irische Klerus zum Unterschied vom sächsischen niemals dazu beigetragen, das Volk in einer einzigen Kirche und in einem einzigen S t a a t e zusammenzufassen. Mit den Heiligen s t a r b auch ihr Eifer und ihre Begeisterung; nur Erinnerungen blieben und Irland war nicht viel weniger roh und zerrissen als einst. Sogar die Oberhoheit, die die „Hohen Könige" zu T a r a f r ü h e r über die Häuptlinge g e ü b t hatten, war im 11. J a h r h u n d e r t ein leerer Titel geworden. Der Siegeslauf Brian Boru's, des Königs von Cashel in Munster (Südirland), der im Kampfe gegen die eindringenden Wikinger zum Volkshelden wurde, brachte weder eine d a u e r n d e S t ä r k u n g des Hohen Königtums noch eine Einigung der Kelten. Aber der Sieg bei Clontarf an seinein Todestage (1014) rettete Irland vor den Nordmännern und beschränkte die Dänen auf die von ihnen g e g r ü n d e t e n S t ä d t e wie Dublin, VVaterford und Limerick. Städtisches Leben, Handel und Gewerbe waren nicht nach dem Sinn der Eingeborenen. Viehzucht und Viehraub, Stammeskampf und Fainilienfehde, Bardensang und etwas Ackerbau füllten Zeit und Sinn der Kelten aus ebenso wie das Leben zahlloser anderer Stämme der ganzen Welt durch viele J a h r t a u s e n d e der Vergangenheit. Es ist Ansichtssache, ob diese einfachen Menschen nicht besser dran waren als das neue rastlose Europa mit Kreuzzügen und cluniazensischer Bewegung, Ritterburgen und K a t h e d r a l e n , Lehensordnung, Urkunden, Handelsstraßen und all dem modernen Getriebe. Aber gleichviel ob Gut oder Böse, die Zeit war vorbei, in der ein europäisches Volk u n g e s t r a f t in ursprünglichen Zuständen verharren konnte. Verzicht auf Schußwaffen, Burgen und feudale Ordnung war in den Tagen Strongbows ebenso gefährlich wie h e u t e ein Ablehnen von Maschinengewehren und industrieller Wirtschaft. Die Iren galten daher als Wilde und standen beinahe außerhalb der römischen Christenheit. Es ist richtig, d a ß der hl. Malachias und andere Iren in der ersten Hälfte des 12. J a h r h u n d e r t s eine Bewegung zur Reform der Kirche ins Leben riefen. Die übergroße Zahl der irischen Bistümer wurden verringert, um die Stellung der Bischöfe zu erhöhen. Man machte einen kühnen Versuch, den religiösen Eifer des Laienvolks neu zu beleben, den Zehnten durchzusetzen und die Kirche über-

Strongbow.

227

haupt dem römischen Vorbild ein wenig anzugleichen. Aber erst das bewaffnete Eingreifen Englands brachte die Einflüsse zur vollen Geltung, die schließlich Irland unwiderruflich an Rom ketteten. Ein kräftiges Nationalgefühl gab es im Lande nicht und die kirchliche Reformpartei war bereit, Strongbow und die Engländer willkommen zu heißen und zu unterstützen. Hadrian IV., der einzige englische Papst der Geschichte, hatte Heinrich II. nahegelegt, die Insel, wenn er wolle, zu erobern, denn das sei das beste Mittel, sie in die römische Hürde zu bringen. Heinrich II. h a t t e in Frankreich zu viel zu tun und konnte die irische Frage nicht selbst in die Hand nehmen. Die Eroberung begann aber während seiner Regierung (1169—1171), indem Richard de Cläre, Earl von Pembroke, genannt Stronghow, von Wales aus ein paar abenteuerlustige Ritter über das Meer führte. Die Teilnehmer an diesem letzten normannischen Eroberungszug waren keine reinen Normannen, nicht einmal reine Anglo-Normannen. Viele von ihnen, wie die berühmten Fitzgeralds, waren Söhne wallisischer Mütter. Sie waren eine eigenartige Mischrasse, diese Herren an der Grenze (Marcher Lords), und unter ihren Soldaten gab es viele Walliser und Flamen. Vielleicht hat der keltische Einschlag in Blut und Sinnesart dieser ersten „englischen" Eroberer Irlands dazu beigetragen, daß sich ihre Nachkommen nur zu leicht mit den Iren vermischten und die eigene Lehensordnung dem Stammesleben der keltischen Welt außerhalb des Bezirks von Dublin (Pale) anpaßten. Reine Normannen oder Anglo-Normannen hätten wohl diesem Land wie so vielen anderen mehr von ihrem eigenen Charakter und ihren Einrichtungen aufgeprägt. Aber in militärischer Beziehung hatten die Leute Strongbows auch unter den normannischen Eroberern Englands, Siziliens und Schottlands nicht ihresgleichen. An der Seite der schwergerüsteten Ritter kämpften Bogenschützen, deren Kunst damals nicht in England, sondern in Wales heimisch war. Das ungepanzerte Fußvolk der irischen Stämme, das die dänische Streitaxt schwang und Speere und Steine schleuderte, konnte gegen die besten Schützen und die beste Reiterei Europas nicht aufkommen. Sie flohen in die Sümpfe, Wälder und Berge des weglosen, von niemandem begehrten Binnenlandes. Sie verstanden alle Künste des Kleinkrieges und sperrten mit Baumstämmen und Erdwällen die schmalen Pfade durch Wald und Moor. Aber dej Widerstand gegen die Eindringlinge war kein nationaler Diese fanden unter den Stämmen und in der Geistlichkeit viele Verbündete. Dermot, der Strongbow ins Land gerufen hatte, war zu seinen Lebzeiten durchaus nicht 15*

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

der allgemein verwünschte Verräter, als der er einer fernen Zukunft erschien. Wie auf der Nachbarinsel, so bildeten auch in Irland die Burgen den festen Kitt der anglo-normannischen Herrschaft. Auch auf diesem Gebiete waren die Kelten sehr im Nachteil. Bloß in den dänischen Hafenstädten stießen die Eroberer auf Widerstand hinter permanenten Befestigungswerken. Aber seit der Schlacht von Clontarf waren die Dänen in Irland keine kriegerischen Wikinger mehr, sondern friedliche Kaufleute und außerdem gering an Zahl. Ihre Städte waren leicht genommen und wurden mit einem Schlage englisch. Die Bürger von Bristol erhielten das Recht, sich in Dublin anzusiedeln, und die Burg von Dublin, die zuerst die Wikinger errichtet hatten, blieb vom 12. bis ins 20. J a h r hundert der Mittelpunkt der angelsächsischen Herrschaft. Die wenigen Dänen, die dem Blutbad entgangen waren, kehrten nach Skandinavien zurück und machten den Eroberern Platz, die von nun an mit diesen Hafenstädten den Schlüssel zur Insel in der Hand hielten. Keltische Städte gab es noch nicht, sogar eine Stadt wie Galway im fernen Westen ist anglo-normannischen Ursprungs. Erst gegen Ende des Mittelalters nahmen die englischen Bewohner der Städte außerhalb des Pale von Dublin allmählich die Sprache der Landesbevölkerung an, mit der sie die Erzeugnisse tauschten, und wurden durch Heiraten und den sonstigen Verkehr ebenso gute Iren wie Engländer. Als Strongbow Irland eroberte und noch viel später, gab es kein irisches Nationalgefühl und eine gute Fremdherrschaft hätte sich ohne weiteres durchgesetzt. Bloß eine kräftige und gerechte Verwaltung war notwendig, um Engländer und Iren zu einem freundlichen Zusammenleben zu bringen. Aber während des Mittelalters war die Verwaltung weder kräftig noch gerecht. Heinrich II., der Vater aufständischer Söhne, der vielbeschäftigte Herrscher über halb Westeuropa, mußte notgedrungen den Machtbereich einschränken, den ihm Strongbow neu geschaffen hatte. Er hatte weder die Zeit noch das Geld noch die Menschen, um das Land selbst zu regieren, konnte also höchstens seinen Namen dazu leihen. Er war nicht imstande, eine wirksame königliche Verwaltung aufrechtzuerhalten, wagte aber auch nicht, Strongbow oder einem anderen der adeligen Führer die Macht eines Vizekönigs anzuvertrauen. Die Abenteurer fuhren daher fort, das Volk auszuplündern, schnitten sich aus dem Leibe des Landes ihre Baronien heraus und kämpften auf eigene Faust weiter, ohne Unterstützung, aber auch ohne Aufsicht des Königs von England. Die Eingeborenen leisteten an manchen Stellen Widerstand, dieser war jedoch nirgends ziel-

Dreiteilung Irlands.

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bewußt und entschieden. So ging die englische Eroberung mehr als 100 Jahre lang weiter, drang langsam gegen Westen vor, brachte aber der Insel keine Gerechtigkeit und nicht einmal eine kräftige Gewaltherrschaft. So kam es zu einer Dreiteilung, die sich mit wechselnden Grenzen bis zum Ende des Mittelalters erhielt. Da war der „Pale" um Dublin, der nach englischem Recht wie eine englische Grafschaft verwaltet wurde. Fern im Westen hausten die keltischen Häuptlinge und Stämme, von der Eroberung bedroht, aber noch nicht betroffen. Und zwischen diesen zwei Irland und mit ihnen beiden in engster Fühlung lagen die Gebiete gemischter Herrschaft, die Baronien, in denen die Nachkommen der führenden Eroberer von ihren Burgen aus das irische Volk beherrschten. Aber dieser normannisch-wallisische Feudalismus formte sich allmählich zu einer Ordnung um, die dem keltischen Stammeswesen, das er hätte ersetzen sollen, sehr ähnlich sah. Das Schicksal der anglo-irischen Barone darf nicht Wunder

Nomen führender < in Großbuchstaben Nomen von ketiisc.

Karte 13. Irland gegen Ende des Mittelalters.

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

nehmen, wenn man bedenkt, daß noch Jahrhunderte später die Nachkommen vieler Cromwellseher Soldaten trotz dem religiösen Gegenpatz rasch in der katholischen Umwelt aufgingen. Im größeren Teil der Insel ruhte eben die englische Herrschaft auf echt irischem Sumpfboden. Während der Regierung Eduard I. wandte man den inneren Angelegenheiten der heimischen Insel mehr Aufmerksamkeit zu, was zu einer kurzen Blüte Irlands führte, besonders in Leinster und Meath, wo die englischen Interessen am stärksten vertreten waren. Dörfer entstanden und der Ackerbau verbreitete sich im schützenden Schatten der Schlösser. Handelsstädte wie Dublin, Waterford und Cork knüpften Verbindungen auf dem Festlande an. Dann erfolgte, wie so oft in der Geschichte Irlands, ein plötzlicher Rückschlag. Dem Versuch Eduard I., Schottland zu erobern, folgte unter seinem schwachen Sohn die Rache. Gleich nach der Schlacht bei Bannockburn fielen die Schotten unter den Brüdern Bruce in die Landschaft Ulster (Nordirland) ein, in der sie zu allen Zeiten starke Verbindungen besaßen (1315—1318). Die zarte Blüte des neuen Irland wurde mit Feuer und Schwert vernichtet und der englische Einfluß auf Jahrhunderte zurückgedrängt. Der Einfall der Brüder Bruce war aber eher Anlaß als Ursache des Zusammenbruches. Im Grunde lag die Schuld bei der Macht und der Eigenart der anglo-irischen Barone, die keltischen Häuptlingen immer ähnlicher wurden und ihr Gebiet auf Kosten der englischen Kolonie vergrößerten. Der i,Pale" um Dublin wurde räumlich und geistig immer beschränkter. Den englischen Siedlern und Beamten kam in steigendem Maße zum Bewußtsein, daß sie eine Besatzung in fremdem Lande seien, von Feinden eingeschlossen und umlauert. Sie beschränkten sich auf die Gesellschaft ihrer Landsleute und lebten ihr eigenes Leben. Alles, was außerhalb ihres Gebietes lag, war für sie nicht England, sondern Irland. Diese Absonderung war das Leitmotiv einer Politik, die jahrhundertelang Unheil zeugte. Immer schärfer zogen die Kolonisten den Trennungsstrich zwischen den beiden Rassen und ächteten, soweit ihre geringe Macht bis ins 16. Jahrhundert reichte, Recht, Sprache und Sitte des eingeborenen Volkes. Der Hundertjährige Krieg gegen Frankreich zog die Aufmerksamkeit noch mehr von dem Besitz jenseits der Irischen See ab, dessen Tflege Englands wahre Aufgabe hätte sein sollen. In einer Kampfpause jenes langen Ringens kam Richard II. mit einem Heer nach Irland. Dann ging er zugrunde und bis auf Wilhelm von Oranien bat kein englischer König den Boden Irlands betreten. Die feindlichen Häuser

Irland im 14. und 15. Jahrhundert

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Lancaster und York kümmerten sich um die Insel überhaupt nicht. Das Land außerhalb des „Pale" fiel völlig in das alte Stammeswesen zurück und irische Sprache und Sitte verbreitete sich sogar trotz aller Anstrengungen eines Teiles der Kolonisten innerhalb des Bezirks von Dublin. Irland hatte natürlich von den Eroberern, die es aufgesaugt hatte, manche kulturelle Errungenschaften übernommen. Das städtische Leben entwickelte sich. In den meisten von Dänen und Engländern begründeten Städten sprach man mindestens teilweise irisch und der anglo-irische Adel herrschte über eine irische Welt, die im 15. J a h r hundert aus eigener K r a f t Zeichen eines primitiven wirtschaftlichen Aufstiegs gab. Aber die bloße Tatsache englischen Gebietes auf der Insel verhinderte jeden Versuch zu einer nationalen Einigung. Der schmale Landstreifen, den die Engländer um Dublin besetzt hielten, und die anerkannte Stellung des Königs von England als Oberherrn genügten, um die Einigung des Landes unter einem der anglo-irischen Barone unmöglich zu machen. In der zweiten Hälfte des 15. J a h r hunderts hat allerdings eine Bewegung darauf hingearbeitet, die Insel im Namen des Königs durch einen Vertreter, eine Art Vizekönig zu regieren, der einer der großen anglo-irischen Familien, vornehmlich den Fitzgeralds, Earls von Kildare, entnommen wurde. Aber gewisse Vorfälle während der Regierung Heinrichs VII. bewiesen, daß diese Ordnung, wie immer ihre Wirkung auf die innere Lage Irlands sein mochte, sich mit der Sicherheit des Königs von England nicht vereinbaren ließ. Denn die Feinde seines Hauses mißbrauchten die Fitzgeralds und das vertrauensselige irische Volk im Dienste des Hauses York und reizten sie zu einem bewaffneten Einfall in England zugunsten von Thronanwältern "wie Lambert Simnel (1487) auf. Die Autonomie unter aristokratischer Führung erwies sich also als Fehlschlag, da das freie Irland dazu ausgenützt wurde, den großen Nachbarn anzugreifen und zu beunruhigen. Die Gesetzakte des königlichen Statthalters Sir Edward Poynings machte diesem Versuch ein Ende, indem sie das irische Parlament für vollkommen abhängig von der englischen Regierung erklärte (1494). Der Versuch einer Trennung von England war mißlungen, aber die wirkliche Wiedereroberung Irlands erfolgte erst im 16. Jahrhundert. England hatte sich als zu schwach erwiesen, Irland zu unterwerfen und zu beherrschen, aber es war stark genug, um das Reifen zur Selbstverwaltung zu verhindern. Die Insel, die einst Europa das Licht des Wissens gebracht hatte, war am Ende des Mittelalters das einzige Land Europas ohne Universität. Das mittelalterliche England hinterließ hier

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

dem England der Reformation ein trauriges Erbstück. Man hatte Irland durch Jahrhunderte vernachlässigt, in denen tatkräftiges, zielbewußtes Vorgehen das Land hätte retten können. Als die Tudors an die wirkliche Eroberung schritten, da war es zu spät, da gab es bereits religiöse Kämpfe, wirtschaftliche Eifersucht, nationales Selbstbewußtsein und all das in seiner rohesten Form. In Großbritannien gestaltete sich das Verhältnis zu den Kelten weit glücklicher als in Irland, und wieder gibt die Geschichte des Mittelalters die Erklärung. In den letzten Phasen der angelsächsischen Eroberung war das Gebiet der Cymrer oder Walliser durch den englischen Vormarsch in drei voneinander getrennte Teile zerschnitten worden, nämlich Strathclyde im Norden, Wales in der Mitte und die Halbinsel von Devon und Cornwall im Süden (vgl. die Karte bei S. 48). Die nationale Widerstandsfähigkeit war durch die räumliche Trennung stark gemindert, und dies machte sich um so mehr fühlbar, als der Gegner von der Insel Man, dem Zentrum der wikingischen Seemacht, und von den großen Hafenstädten ehester und Bristol aus das Meer beherrschte. Schon vor der normannischen Eroberung hatten skandinavische Siedler den cumbrischen Seenbezirk und das nördliche Lancaster germanisiert (S. 51 Anm.), während Devon von den Sachsen von Wessex so weit kolonisiert war, daß es seit damals immer als wesentlicher und charakteristischer Teil des englischen Lebensraumes galt. In Cornwall blieb ein Nest keltischer Rasse und Sprache erhalten, das aber zu klein und abgesondert war, um irgendwie zu stören. In der angelsächsischen Zeit erobert und eng mit der englischen Krone verbunden, wurde Cornwall, wie wir aus dem Domesday-Book wissen, der normannischen Feudalordnung und damit dem Recht des mittelalterlichen England eingeordnet. Aber man sprach dort bis ins 17. Jahrhundert eine keltische Mundart und die Bevölkerung hat ihre keltische Eigenart bis heute bewahrt. Die wichtigere wallisische Frage blieb vorläufig ungelöst. Die große Ausdehnung dieses Berglandes hatte der sächsischen Eroberung am OffaWall Halt geboten, aber dieselben Berge, die die Engländer nicht überwinden konnten, verhinderten die Einigung der Walliser. Während der Regierung Eduards des Bekenners machte Harold einen Vorstoß gegen Westen, sicherte sich die Freundschaft einiger dieser keltischen Stämme, die miteinander fortwährend in Streit lagen, und bahnte damit dem späteren Vordringen der Normannen den Weg. Von Wilhelm dem Eroberer bis zum Regierungsantritt Eduards I. gingen die erfolgreichsten Bemühungen zur Bezwingung von Wales

Wales und seine Grenzherren.

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nicht v o n den englischen Königen, sondern v o n den Grenzherren (Marcher Lords) aus. Das waren Männer vom Schlage Strongbows und der Fitzgeralds, die ihre privaten Heere hatten. Dem Blute nach eine Mischung von Normannen, Engländern und Wallisern kam es ihnen mehr auf ihre feudale Herrschaft und auf die wirtschaftliche Durchdringung des Landes als auf die Interessen der englischen K ö n i g e an. Man hat einmal zu gleicher Zeit 143 Grenzherren gezählt. W o sich ein solcher Herr mit dem Schwert in der Faust sein Stück Land herausgeschnitten hatte, baute er eine Burg, hob von den Umwohnern die feudalen Zinse ein und hielt Gericht über sie, entweder nach feudalem oder nach englischem Recht oder auch nach wallisischer Stammesgewohnheit. Unter seinem Schutze ließen sich englische Siedler als Soldaten, Bauern oder Händler auf seinem Besitz nieder. Es waren tatsächlich kleine Fürsten, mit denen eine neue Rasse und eine höhere Kultur ins Land drang. Die anglo-normannischen Eroberer besetzten die Ebenen und zogen in den Tälern aufwärts, denn die Talgründe waren anbaufähig und außerdem die einzigen Einfallspforten in das weglose Bergland. A b e r auch hier verlegten W a l d und Sumpf o f t den W e g , daher ging es nur langsam vorwärts. Die Engländer mußten das Land erst urbar machen und zugleich stets mit der W ä f f e in der Hand auf der Hut sein. V o r der A n k u n f t der Anglo-Normannen waren die Walliser mehr Hirten als Bauern. Sie wohnten nicht in Städten oder Dörfern, ja nicht einmal in Häusern, sondern stellten sich Hütten aus Flechtwerk her, in denen sie ein paar W i n t e r - oder Sommermonate auf den Weidegründen ihrer Schaf- und Rinderherden hausten. Sowie diese primitiven Menschen sahen, daß ihr T a l von einer normannischen Burg aus Holz oder Stein überragt wurde, mit ihrem grundherrlichen Gericht und dem englischen Bauerndorf ringsum, da floh ein T e i l von ihnen, um nur die Freiheit zu bewahren, höher hinauf in die Berge. Andere blieben unten und wurden Untertanen des neuen Herrn. Im Herzen blieben sie aber o f t ihrem alten Häuptling treu, der in die Berge verbannt war und v o n dort aus immer wieder das T a l mit räuberischen Überfällen heimsuchte. So sah es in f ü n f z i g verschiedenen Tälern aus. Das müssen wir uns klar machen, um eine Vorstellung von dem Chaos im Wales des 12. Jahrhunderts zu gewinnen. Stammeswelt und Lehensordnung kämpften um den Boden. Bergkämme schieden Bezirk von Bezirk und steigerten noch die jenen beiden Ordnungen innewohnenden Tendenz, jedes politische Gebilde in kleinste T e i l e zu zerschlagen. In den Bergen kämpfte Stamm g e g e n Stamm, in den Tälern Baron gegen

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Irland, WaleB, Schottland. 1000—1500.

Baron und jeder Baron im Tal lag mit den Stämmen droben im Kriege. Aber die höhere Gesittung war im Vormarsch, wenn auch langsam und nicht ohne Blutvergießen. Die Zeit arbeitete für die Eroberer, die in ihrem Hinterland einen starken Rückhalt hatten und zu Wasser und zu

K a r t e 14. Wales im Mittelalter.

Lande Nachschub erhielten, im Gegensatz zu den verlorenen Posten anglo-normannischer Kultur in den irischen Sümpfen. Die Schiffe der großen Hafenstädte Bristol und Chester beherrschten alle Flußmündungen, während das obere Severntal den Eroberern einen leichten Weg von Shrewshury ins Herz des Landes öffnete, so daß sie die Landschaft Powy» unterwerfen und damit einen Keil zwischen Gwynedd im Norden und Dinefawr im Süden treiben konnten. Im Südwesten wurde

Feudalismus und Stammesleben.

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P e m b r o k e a u f dem S e e w e g e von so vielen fleißigen E n g l ä n d e r n und F l a m e n besiedelt, d a ß die k e l t i s c h e S p r a c h e g a n z verschwand und m a n von einem „ K l e i n e n g l a n d j e n s e i t s von W a l e s " sprach. Dagegen waren die Grenzherren auch auf der Höhe ihrer Macht nicht imstande, das Gebiet von Gwynedd mit seinen uneinnehmbaren natürlichen F e s t u n g e n im S n o w d o n - G e b i r g e zu bezwingen. Die Verwaltung der Grenzherren w a r im V e r g l e i c h zu der E n g l a n d s z u r ü c k g e b l i e b e n , a b e r für die S t a m m e s w e l t von W a l e s stellte sie eine höhere E n t w i c k l u n g s s t u f e dar. Die Bohun, Mortimer und die a n d e r e n G r e n z g e s c h l e c h t e r waren ein unruhiges E l e m e n t im englischen S t a a t , denn sie lebten im K a m p f und in der strengen alten L e h e n s o r d n u n g , während sich der hohe und niedere Adel des eigentlichen E n g l a n d b e r e i t s an dauernden Frieden und zentralisierte V e r w a l t u n g gew ö h n t e . F ü r die keltischen S t ä m m e b e d e u t e t e a b e r die L e h e n s o r d n u n g , die ihnen die Grenzherren a u f z w a n g e n , einen F o r t s c h r i t t . W ä h r e n d d e s ganzen Mittelalters gingen die W a l l i s e r , in Nachahmung ihrer englischen Herren und N a c h b a r n , nach und nach zum A c k e r b a u über, bauten sich Häuser, trieben Handel in den Marktflecken, die E n g l ä n d e r g e g r ü n d e t hatten und bewohnten, und schließlich ließen sie s o g a r , wenn auch g a n z langsam, von der B l u t r a c h e und beugten sich dem englischen Recht. Aber sie behielten ihre S p r a c h e , in der sie, wie sie sich rühmten, am T a g e des j ü n g s t e n G e r i c h t s für W a l e s einstehen w o l l t e n ; und sie pflegten ihre a l t e bardische D i c h t k u n s t und Musik, die in unseren T a g e n die g e i s t i g e und seelische E i g e n a r t des Wallisers d a v o r bewahren sollte, im Pfuhl der allgemeinen modernen M i t t e l m ä ß i g k e i t unterzugehen'). J a h r h u n d e r t e l a n g , vor und nach der E r o b e r u n g im 14. J a h r h u n d e r t , h e r r s c h t e dort K r i e g und die K ä m p f e verliefen ähnlich wie überall, wo g e s c h u l t e Heere mit B e r g s t ä m m e n z u s a m m e n s t o ß e n . Gerald der W a l l i s e r hat es uns beschrieben, wie seine Landsleute beim S c h a l l ihrer langen K r i e g s t r o m p e t e n mit s c h r e c k l i c h e m Geschrei herabstürzten und, ein halb n a c k t e s F u ß v o l k , in tollkühner T a p f e r k e i t gegen die eisengepanzerten R e i t e r a n s t ü r m t e n . Wenn sie nicht sofort siegten, schwand ihnen der Mut und sie flohen in schmählicher Unordnung. Aber sie erholten sich rasch und führten dann einen langen, h a r t n ä c k i g e n K l e i n k r i e g , der für Um 1200 schrieb Gerald der Walliser (Giraldus Cambrensis, Geralcl von Barri) die folgenden nocb heute vollkommen «utrelTenden Sätze Uber seine Landar m e : „Ihre Chöre singen sie nicht einstimmig wie die Bewohner anderer Länder, sondern mit verschiedenen Stimmen, so daß man in einer Gruppe von Sängern, wie man ihnen in Wales oft begegnet, so viele Stimmen hören kann, als es Mitwirkende gibt."

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den Gegner doppelt furchtbar wurde durch die Natur ihres waldigen Berglandes, ihren wilden Mut und ihre Verachtung des Ackerbaus und aller Künste des Friedens. Die Engländer hatten der normannischen Eroberung keinen derartigen Widerstand entgegengesetzt. Die Eroberer von Wales waren unbesiegbar, wenn sie in der Ebene angreifen konnten. Aber es gab wenig Ebenen in Wales und auch von diesen war ein großer Teil versumpft. Mit Pferden und schwerer Rüstung kann man nicht leicht auf steilen Waldbergen vorwärtskommen. Die anglo-normannischen Krieger mußten also erst manches von ihren verachteten Gegnern lernen. Vor allem übernahmen die Engländer von den Wallisern den Gebrauch des langen Bogens. Diese berühmte Waffe tauchte zuerst im südöstlichen Wales, in der Gegend zwischen dem Oberlauf des Wye und dem Bristol-Kanal auf. Schon während der Regierung Heinrichs II. war bekannt, daß ein wallisischer Bogenschütze den Schenkel eines gerüsteten Ritters durch den Sattel hindurch an die Flanke des Pferdes festheften könne. Achtzig J a h r e später kämpften wallisische Bogenschützen bei Lewes an der Seite Montforts. Aber sie wurden in England eunächst weniger beachtet als die Armbrustschützen. Erst Eduard I. führte auf Grund seiner Feldzugserfahrungen in Wales den langen Bogen als besondere Waffe seines Fußvolkes während der Kriege gegen Schottland ein. Zum erstenmal hatte bereits eine Waffenverordnung (Assize of Arms) während der Regierung Heinrichs III. verfügt, daß bestimmte Gruppen von Freien Bogen besitzen sollten. Aber erst von den Wallisern lernten Eduard I. und die Seinen, was ein langer Bogen wirklich leistete. Daher kann man ihn erst seit dem 14. Jahrhundert als die nationale englische Waffe bezeichnen. Mit ihr zogen die Engländer über das Meer und jagten der feudalen Reiterei ganz Europas bei Crecy und Poitiers solch gewaltigen Schrecken ein. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gab es in Wales ein nationales Erwachen. Es äußerte sich nicht nur in einer neuen Blüte der Bardendichtung, sondern auch in dem Streben des Fürstengeschlechts der Llewelyn, alle Stämme unter seiner Herrschaft zu einigen. Die Llewelyn herrschten in Gwynedd, in den Bergfesten des Snowdon und auf der reichen korntragenden Insel Anglesey, die wohlgeschützt hinter diesen Bergriesen lag. Der Norden rief ganz Wales zur Einheit und Freiheit auf und Llewelyn der Große (1194—1240) nahm den Grenzherren einen erheblichen Teil von Powys ab. Er ^ a r nicht nur ein großer Kriegsmann, sondern auch ein kluger Diplomat. Während er als einheimischer Fürst, von den Barden bejubelt, seine Landsleute um sich scharte, vergaß er niemals, daß er auch ein großer Lehensträger war,

Der lange Bogen. Unterwerfung von Wales.

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d e r der englischen K r o n e T r e u e schuldete, und so k o n n t e er auch a n den englischen P a r t e i k ä m p f e n bedeutenden Anteil nehmen, w a s wieder seiner anderen R o l l e , der des wallisischen P a t r i o t e n , nützte. In k l u g e r B e u r t e i l u n g der L a g e schloß er sich der P a r t e i des hohen Adels a n und s i c h e r t e den W a l l i s e r n in drei A r t i k e l n der M a g n a C a r t a gewisse Rechte. Sein E n k e l L l e w e l y n ap Griffith ( 1 2 4 6 — 1 2 8 3 ) führte eine ä h n l i c h e P o l i t i k nach beiden S e i t e n hin und v e r b ü n d e t e sich mit Simon v o n Montfort. E r dehnte sein wallisisches F ü r s t e n t u m auf K o s t e n der s t e t s uneinigen und händelsüchtigen Grenzherren weiter aus und zwang viele von diesen, ihm zu huldigen, t r ä u m t e wohl auch von einer völligen L o s lösung von E n g l a n d . E r legte es besonders d a r a u f an, Eduard I. herauszufordern, der nur zu bereit war, den Fehdehandschuh a u f z u n e h m e n . D a s war der A n f a n g vom E n d e der wallisischen F r e i h e i t . Im g r ö ß t e n seiner zahlreichen F e l d z ü g e gegen W a l e s umzingelte E d u a r d I. ( 1 2 7 7 ) das u n n a h b a r e Snowdon-Massiv zu W a s s e r und zu L a n d e und zwang Llewelyn und sein B e r g v o l k durch Hunger zur Überg a b e . Ein hartes R e g i m e n t , das auf die keltischen B r ä u c h e und Empfindlichkeiten keine R ü c k s i c h t nahm, führte zu Aufstand, neuerlichem K r i e g und neuerlicher E r o b e r u n g ( 1 2 8 2 — 1 2 8 4 ) und schließlich zu einem besseren E i n v e r n e h m e n . Königliche B u r g e n erhoben sich in C o n w a y , C a r n a r v o n , B e a u m a r i s , Harlech und a n d e r w ä r t s und machten die S t e l lung des K ö n i g s im Norden ebenso s t a r k wie die der F e u d a l h e r r n in d e r Mitte und im S ü d e n . Eduard teilte L l e w e l y n s F ü r s t e n t u m n a c h englischem Muster in G r a f s c h a f t e n ein ( C a r n a r v o n , A n g l e s e y , Merioneth, F l i n t , Cardigan und C a r m a r t h e n ) und g a b bald darauf seinem k l e i n e n Sohn Eduard, der in C a r n a r v o n zur W e l t g e k o m m e n war, den T i t e l eines Prinzen von W a l e s . Doch war das F ü r s t e n t u m noch nicht ein T e i l von E n g l a n d und das g a n z e übrige W a l e s blieb in der H a n d der Grenzherren 1 ). E d u a r d I. h ä t t e gern die G e r e c h t s a m e der Grenzherren einer s c h a r f e n Q u o - W a r r a n t o - U n t e r s u c h u n g unterzogen, um so ihrer feudalen U n a b h ä n g i g k e i t ein E n d e zu m a c h e n . Aber dazu reichte seine Macht nicht aus und er b r a u c h t e ihre Hilfe, um den aufrührerischen Geist der W a l l i s e r niederzuhalten, denen ihre Barden die ruhmvollen T a t e n d e r L l e w e l y n s immer wieder ins G e d ä c h t n i s riefen. Bis zu den R e f o r m e n des 16. J a h r h u n d e r t s blieb W a l e s in die feudalen Herrschaften der Grenzherren und das keltische F ü r s t e n t u m g e t e i l t . L e t z t e r e s wurde äußerlich ') Man bezeichnet heute oft ganz Wales als „Fürstentum", aber zur Zeit Eduards 1. umfaßte das „Fürstentum" bloß die genannten sechs Grafschaften.

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nach englischen Gesetzen regiert, in Wirklichkeit ließ man den alten Stammesgewohnheiten weiten Spielraum. In beiden Gebieten kam es allmählich zur Vermischung und Zusammenarbeit von Engländern und Wallisern. Langsam hob sich auch die Kultur mit der Ausbreitung des Ackerbaus, des Handels und der Städte. Nichtsdestoweniger war Wales, an den Maßen des damaligen England gemessen, im 14. und 15. J a h r h u n d e r t noch der Schauplatz von Stammesfehden, grundherrlichen Gewalttaten, Beamtenwillkür und -erpressung. Während der Wirren unter Heinrich IV. (1400—1415) nahm Owen Glendower die Politik Liewelyns des Großen wieder auf, mischte sich in den Streit der englischen Parteien, hatte aber vor allem die Hoffnungen und Wünsche seines Volkes im Auge. Dieser wunderbare Mann, eine anziehende, einzigartige Gestalt in einem Zeitalter niedriger und selbstsüchtiger Staatskunst, errang seinem Lande tatsächlich für einige J a h r e die Unabhängigkeit wieder, freilich durch Kriege, die das Wirtschaftsleben von Wales, sowohl im Fürstentum wie im Land der Grenzherren, schwer schädigten. Wallisische und englische Siedlungen, die es damals nebeneinander in jeder Grafschaft, manchmal sogar im gleichen Gutsbezirk gab, wurden wieder gegeneinander gehetzt und die notwendige Verschmelzung der beiden Rassen zum heutigen Volk von Wales weiter hinausgeschoben. Auch nach dem Tode Glendowers und der Wiederaufrichtung der englischen Herrschaft ließ sich der „Friede des Königs" nur kümmerlich aufrechterhalten. Es herrschte weiter keltische und feudale Gesetzlosigkeit und Wales blieb so lange ein Paradies für Räuber und Mörder, als die Könige bloß ihre Abenteuer in Frankreich und den dynastischen Zwist in England im Kopfe hatten. Diese Unruhe im Fürstentum und im Land der Grenzherren erhielt den Wallisern ihre kriegerische Eigenart, so daß die Dichter noch nach der Befriedung des Landes durch die Tudors von dem „alten, stolzen, waffenstarken Volke" sprachen. Ihr kriegerischer Geist betätigte sich aber nicht bloß daheim, sondern auch in den königlichen Heeren auf französischem und schottischem Boden. In allen englischen Bürgerkriegen, von Heinrich III. bis auf Karl I., war es immer leichter, Fußtruppen bei den armen Wallisern anzuwerben als unter den friedlichen, seßhaften Engländern. Die Rosenkriege waren zum guten Teil Kämpfe wallisischer Grenzherren untereinander. Denn die reichsten von diesen waren dem englischen Königshaus nahe verwandt und hatten Besitz und Interessen sowohl in England wie in der wallisischen Mark. Harry Bolingbroke von Hereford und Lancaster besaß ausgedehnte Güter in Wales und ebenso seine Nebenbuhler,

Neue Unruhen. — Schottland.

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die Mortimers. Das Haus York und der Königsmacher Warwick und Buckingham, der Günstling Richards III., waren alle in irgendeiner Weise mit Wales und dem Grenzland verknüpft. Solche Männer brachten einen gewalttätigen Zug in die englischen Verfassungkämpfe und Thronstreitigkeiten. Das mittelalterliche England hatte seine Aufgabe, Wales der Zivilisation zu gewinnen, nur halb gelöst und nun rächte sich das wallisische Stammeswesen und der selbstherrliche wallisische Adel, indem sie das parlamentarische Leben vergifteten und die Zentralverwaltung ihrer nachlässigen Oberheirn störten. Schließlich setzte eine walüsische Armee auf dem Schlachtfeld von Bosworth einen wallisischen Fürsten aus dem Hause Tudor auf den englischen Thron. So reichte Wales das Heilmittel gegen die Krankheiten des Staatskörpers, die es selbst genährt hatte. Die Geschichte Schottlands zeigt wieder eine andere Art der Berührung von Sachsen und Kelten. Wales und Irland wurden schließlich gezwungen, sich England vollständiger und auf längere Zeit zu beugen als Schottland, trotzdem lebt dort bis zum heutigen Tage weit mehr keltisches Wesen als hier. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich, wenn wir uns daran erinnern, daß die reichsten und wichtigsten keltischen Teile Schottlands anglo-normannische Sprache und Sitte bereits angenommen hatten, ehe der Kampf um die nationale Unabhängigkeit zur Zeit Eduards I. ausbrach. Der Widerstand gegen England war also durchaus kein Kampf um keltische Sprache und Stammesüberlieferung wie in Irland und Wales. Die Kriege der drei Eduarde gegen Wallace und Bruce waren Kämpfe zweier verwandter Völker, die beide als Lehensstaaten organisiert waren. Eher läßt sich die Unterwerfung der Hochlandstämme durch England nach der Schlacht bei Culloden mit dem Schicksal Irlands oder Wales' im Mittelalter vergleichen. Im 9. und 10. J a h r h u n d e r t hatte es tatsächlich so ausgesehen, als würde sich Schottland zu einem keltischen Königreich, mit einem sächsischen Rand im Tiefland an der Ostküste, entwickeln. Denn durch die Vereinigung der Picten und Scoten unter dem Scoten Kenneth Macalpine (844) erhielt das Land von der keltischen Hauptstadt Scone aus seinen Namen und ein Königsgeschlecht. Aber die Geschichte nahm eine andere Wendung, als Lothian, der Teil des angelsächsischen Northumbria nördlich des Tweed und der Cheviots, von seinem südlichen Stammland losgetrennt und ein wesentlicher Teil Schottlands geworden war 1 ). l

) Vgl. oben S. 91 f. und die Karte S. 6 4

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Karte 15. Schottland und Nordengland im Mittelalter.

Anglo-normannischer Einfluß.

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Dieser Umschwung war eine natürliche Folge der Auflösung des Königreichs Northumbria unter den Schlägen der wikingischen Eroberung. Nach generationenlangen Kämpfen zwischen Kelten und Sachsen im Inneren Schottlands wurde Lothian zur Zeit Knuts (1018) als Besitz der schottischen Krone anerkannt. Das schottische Königtum war ursprünglich aus der keltischen Stammesverfassung hervorgegangen und hatte seinen Schwerpunkt im Nordwesten des Landes. Nun, nach der Angliederung des englisch sprechenden Lothian mit seinem fruchtbaren Boden und seinem Felsenschloß Edinburgh verlegten die Könige aus freier Wahl ihre Residenz nach Südosten und nahmen die anglo-normannische Sprache und die feudale Staatsordnung an. Unter der Führung oder unter dem Druck der Herrscher gingen schließlich Strathclyde und Galloway denselben Weg, wenn auch die Rasse vorwiegend keltisch blieb. Wir können aus dieser langen, verschlungenen und vielfach dunklen Entwicklung nur ein oder zwei deutlich hervortretende Phasen herausheben. Dem anglo-normannischen Einfluß ging in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine Periode rein englischer Einwirkung voraus. Malcolm III. (1057—1093), der Macbeth vom Throne stürzte, hatte seine Jugend als Verbannter in England am Hofe Eduards des Bekenners verlebt. Seine Vorliebe für englisches Wesen wurde in seinem späteren Leben noch gesteigert durch seine zweite Gattin Margareta, die gottesfürchtige und geistesstarke Schwester Edgar Aethelings. Als Königin von Schottland tat sie viel für die englische Sprache und das römische Kirchenwesen und suchte die keltischen Überlieferungen in den Hintergrund zu drängen. Ihre hartnäckigen Bemühungen waren bei den Stämmen und der Geistlichkeit des keltischen Schottland alles eher als volkstümlich, fanden aber gerade durch das Unglück von Hastings starke Förderung. Die erste Folge der normannischen Eroberung des Südens war, daß Scharen sächsischer und skandinavischer Flüchtlinge aus allen Bevölkerungsschichten, von der Königin Margareta bis zu den Knechten in Yorkshire und Durham, vor dem blutigen Zorn Wilhelms, besonders während der „Verheerung des Nordens", über die schottische Grenze flohen. Zusammen mit den Sachsen des Lothian stärkten sie das germanische Element in Schottland bedeutend. Diese englische Einwanderung bahnte der anglo-normannischen Kultur den Weg. David I. (1124—1153), der würdige Sohn Malcolms und Margaretas, benützte die Schwäche Englands unter Stefan, um Schottland als feudale Monarchie nach normannischem Muster neu aufzubauen und so viel als möglich von den strittigen Gebieten in Cumberland, Northumberland und Durham an sich zu bringen. Seine ErTreveJyan, England

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

folge jenseits des Tweed und der Cheviots waren aber nicht von Dauer. Sobald England unter den Plantagenets wieder zu Kräften gekommen war, gingen Davids Eroberungen verloren und die Grenze verlief schließlich so wie heute. Aber bei seinen Einfällen in Nordengland während der Wirren unter Stefan lernte David, daß die schottischen Clanmänner mit ihren breiten Schwertern und ihrem wilden, ungeordneten Angriff gegen die gepanzerten Ritter Englands oder Schottlands nichts ausrichten konnten. Das zeigte sich besonders in der Standartenschlacht') bei Northallerton 1138. Es war daher nur natürlich, daß sich die schottischen Könige zu einer anderen Politik entschlossen, die in klar überlegter Weise die alte Stammesverfassung und die anderen keltischen Einrichtungen zu beseitigen suchte. König David lud normannische und englische Krieger wie die Bruce und Balliol in sein Land und gab ihnen schottische Baronien zu Lehen. Doch wurden hier nicht, wie in England nach der Schlacht bei Hastings, die früheren Eigentümer scharenweise vertrieben. Denn in Schottland zogen die Normannen nicht als Eroberer, sondern friedlich ein. Es gab ausgedehnten Kronbesitz und viel unbebautes Land, so daß David den Ankömmlingen große Lehen übertragen konnte, ohne zu weitgehenden Beschlagnahmen schreiten zu müssen. Aber die eingeborenen keltischen Stämme und die Siedler auf neu besetztem Ödland sahen sich auf einmal in strenger Lehensabhängigkeit von ihren anglonormannischen Herren, die es sehr wohl verstanden, ih-ren neuartigen Ansprüchen Geltung zu verschaffen. Überall erhoben sich nun, wie im England derselben Zeit, die runden Wallhügel mit dem hölzernen oder steinernen Turm, von wo aus die gerüsteten Reiter das flache Land beherrschten und richteten. Neben der Burg stand die Pfarrkirche, denn das Land war unter anglo-normannischer Leitung in Kirchspiele eingeteilt worden, die räumlich häufig mit den Lehensbezirken der neuen Herren zusammenfielen. Die Religion erhielt ebenso ihre Gebietseinteilung wie die weltliche Regierung und die Kirche des hl. Columba versinkt in nebelhafte Erinnerung wie das Stammesleben, dem sie gedient hatte. König David und sein Adel wetteiferten in frommen Vermächtnissen und Stiftungen von der Art, wie sie in Feudalstaaten üblich waren. Das 12. und 13. Jahrhundert war die Blütezeit der kirchlichen Baukunst in Schottland. Damals entstanden jene herrlichen Kathedralen und Abteien, die dereinst von englischen Straßenräubern und schottischen Re*) „Im Zentrum des englischen Heeres, auf einem vierrädrigen Wagen an hohen Stangen befestigt, wehten die geweihten Banner von St. Cuthbert von Durham. St. Peter von York, St. Johann von Beverley und St. Wilfrid von Ripon."

König David. Schottischer Feudalismus

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formern in Trümmer g e l e g t werden sollten. Das V o l k aber seufzte unter der Last des Zehnten und anderer ungewohnter Bürden, die ihm während der Regierung K ö n i g Davids zugunsten einer fremden Geistlichkeit auferlegt wurden. Bald war die Haltung der Barone zur Kirche v o r allem durch ihr Interesse bestimmt, von den kirchlichen Stiftungen möglichst viel für ihre Familien zu sichern. Dieser Wunsch wurde o f t auf recht sonderbare A r t erfüllt, so, wenn adelige Kriegshelden das geistliche Kleid nahmen. Erst die Reformation ermöglichte ihnen geradere W e g e . David und sein Nachfolger Wilhelm der L ö w e ahmten viele Einrichtungen Englands mit bemerkenswertem E r f o l g nach. Grafschaftsverwaltung und königliche Gerichtsbarkeit wurden allmählich eingeführt, allerdings blieben beide durch die Vorrechte des Adels sehr eingeschränkt. Schottische Städte (burghs) erhielten in königlichen Urkunden das Recht, sich ihren Magistrat selbst zu wählen, und genossen noch größere Freiheiten als die wohlhabenderen und volkreicheren Städte (boroughs) Englands. Das neue Schottland konnte sich deshalb innerlich festigen, weil es so lange mit England in erträglichem Einvernehmen lebte. Während der anderthalb Jahrhunderte (1124—1286) vor den Unabhängigkeitskriegen diente der schottische Adel seinen Königen und seinem Lande besser als jemals später. Die Barone und ihre Vasallen verbreiteten den Gebrauch der englischen Sprache, englischer Fachausdrücke und englischer Einrichtungen mit großem Erfolge. Anglo-normannisches Wesen war es, für das die Schotten unter Wallace und Bruce ihr Leben einsetzten. Denn im westlichen Tiefland war das keltische Starnmesleben gänzlich verschwunden und hatte weniger gewaltsamen Widerstand geleistet als man hätte erwarten mögen. Eine Ausnahme bildete das wilde Gallow a y , w o das Keltentum am längsten lebte und am schwersten starb. Im Bewußtsein seiner militärischen Überlegenheit konnte der König solche Häuptlinge, die nicht den Lehenseid leisten wollten, sich selbst überlassen. Die alte Ordnung blieb schließlich nur im Bergland des Nordens bestehen, w o sich schottisches Stammesleben bis 1746 unversehrt erhielt. Südlich und östlich der Hochlandlinie (s. die Karte S. 240) nahmen die Menschen allmählich Namen, Sprache und Sitte der neuen Herren an. Während sich diese großen Veränderungen langsam vollzogen, brauchten Krone und Adel einander noch und beide dienten den Interessen des werdenden Volkes. Der Unabhängigkeitskrieg gegen Eduard I. war die Feuerprobe der jungen Nation. Da zeigte sich nun, daß die Barone weit weniger von der neu erwachten Liebe zum Vaterlande erfüllt waren als die tieferen Schichten des Volkes. Denn der Feudalis16»

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Irland, Wales, Schottland. 1000—1500.

mus war international und die Besitzungen der Barone in England legten ihnen ein zweifaches Treueverhältnis auf. Als später das schottische Königtum in Seele und Leben des Volkes tiefe Wurzeln gefaßt hatte, da wurde der hohe Adel sein beständiger und gefährlichster Feind. Das goldene Zeitalter des mittelalterlichen Schottland fand an dem Tage ein Ende, als König Alexander III. mit seinem Pferd von einem Felsen ins Meer stürzte (1286). Der einzige Leibeserbe war seine Enkelin Margareta, „das Mädchen von Norwegen", die während ihrer kurzen Regierungszeit in Skandinavien lebte. Der Vertrag von Brigham (1290) bestimmte, daß sie den ersten englischen Prinzen von Wales, den späteren König Eduard II., heiraten solle, so daß die friedliche Einung der ganzen Insel nahe bevorzustehen schien. Die Kronen von Schottland und England sollten in einer Hand vereinigt sein, aber die Länder als besondere Königreiche verwaltet werden, ähnlich wie es später geschah, als König Jakob VI. von Schottland Jakob I. von England wurde. Aber die geschichtliche Entwicklung sollte nicht so verkürzt werden. Die Schotten haben selten mit ihren von jenseits des Meeres kommenden jungen Königinnen Glück gehabt. Noch im selben Herbst starb das Mädchen von Norwegen während ihrer Heimreise auf den Orkney-Inseln. Mit dieser Jungfrau verblich die Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang. Eduard I. holte alte englische Ansprüche auf die Oberherrschaft über Schottland hervor und trat als Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Bewerbern um den leeren Thron auf, deren wichtigste John Balliol und Robert Bruce waren. Er entschied, scheinbar gerechterweise, zugunsten Balliols. Damit eicht zufrieden, behandelte er Balliol wie eine Drahtpuppe und Schottland wie ein abhängiges Land. Zur Verzweiflung getrieben, verweigerte Balliol seinem harten Oberherrn die Treue, aber er fand bei dem gespaltenen und selbstsüchtigen Adel nur wenig Unterstützung, so daß ihn Eduard leicht absetzen konnte (1296). Dieser zog im Triumph durch das Land, führte den Krönungsstein von Scone nach Westminster und machte sich zum unmittelbaren König von Schottland. Die Ragman-Rolle enthält die lange Liste schottischer Adeliger, die ihm huldigten. Alles schien erledigt, aber in Wirklichkeit sollte es erst losgehen. Von seinem Adel verlassen, entdeckte Schottland sich selbst. Die Statthalter, die Eduard zurückgelassen hatte, waren unfähig und grausam und die fremde Soldateska brachte dem Lande seine Abhängigkeit zu schmerzlichem Bewußtsein. Da erscheint im folgenden Frühjahr (1297) plötzlich William Wallace auf der Bildfläche, ein neuer Mann, ein genialer Meister des kleinen Krieges, ein Riese von eiserner Kraft. An

William Wallace.

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der Brücke über den Stirling schlug er ein englisches Heer unter dem ungeschickten feudalen Führer Earl von Warenne, demselben, der in der Quo-Warranto-Untersuchung die berühmte Antwort gab, und brach plündernd in Northumberland und Cumberland ein. Dieser unbekannte Ritter, von dem die Geschickte nicht viel mehr kennt als seinen großen Namen, entfachte eine Flamme, die seither nicht mehr erloschen ist. Hier in Schottland trat, gleichzeitig mit den ähnlichen Ereignissen in der Schweiz, ein neues Ideal, eine neue Überlieferung von wunderbarer Schlagkraft in die Welt. Man hatte damals noch keinen Namen dafür, heute würde man es Patriotismus der Massen nennen. Nicht grauer Theorie waren diese Gefühle entsprungen, sondern die ihm selbst unbewußten Anlagen eines im tiefsten aufgewühlten Volkes hatten sie plötzlich ans Licht gebracht. Die Theorie der Nationalität und die Theorie der Demokratie haben später dieses Geschehen gerechtfertigt oder erklärt. Jetzt war es einfach da. Eduard I. glaubte, er sei im Begriffe, Schottland mit dem üblichen feudalen Apparat der Zeit in Abhängigkeit von England zu bringen. Sein Irrtum war sehr verständlich, denn, gemessen an der eingebürgerten Ordnung der Zeit, war sein Vorgehen weniger ungewöhnlich als Wallace's unerhörter Aufruf an die schottische Demokratie zur Rettung des schottischen Volkes. Heute setzen wir überall in Europa Nationalgefühl und demokratische Instinkte als etwas Selbstverständliches voraus; aber im Mittelalter war das ganz anders. Da zerfiel die europäische Gesellschaft nicht in nebeneinander lebende Völker, sondern in gesellschaftliche Schichten, die übereinander lagen. Und Eduard I. hatte den hohen Adel Schottlands größtenteils auf seiner Seite. Der schottische Patriotismus dieser anglo-normannischen Herren, die auch in England ihre Güter hatten, war begreiflicherweise recht lau, sie hatten Angst, es sich mit ihrem englischen Lehensherrn zu verderben. Aber im schottischen Volke lebten nationale und demokratische Gefühle, die bisher nicht zum Bewußtsein, geschweige denn zum Ausdruck gekommen waren. Wallace weckte sie. Unter der Führung ihrer „Lairds", der kleinen Gutsbesitzer, zu denen auch Wallace selbst gehörte, trotzten Bürger und Bauern der englischen Macht und, wenn es sein mußte, auch ihren eigenen Baronen. In sogenannten „Schiltrons", d. h. in dichten Massen, standen die speerbewaffneten Männer aus dem Volke Schulter an Schulter und hielten auf mancher Walstatt dem Angriff der schwergerüsteten englischen Ritter stand, die mit dem Ansturm der keltischen Clane in Wales oder Irland kurzen Prozeß gemacht hatten. Hier stießen jene auf weit mehr Ausdauer, auf die Zucht einer tief eingewurzelten Gesittung. Bei anderen Gelegenheiten unterlagen

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allerdings die schottischen Schiltrons dem unwiderstehlichen Zusammenwirken der feudalen Ritterschaft mit den wallisischen oder englischen Langbogenschützen, deren todbringende Pfeile den Rittern den Weg bahnten. Die Schlacht bei Falkirk (1298), das Ende von Wallaces Ruhmesbahn, war der erste von den vielem Siegen, die diese Taktik für England errang. Aber das schottische Heer hin und wieder schlagen hieß noch lange nicht Schottland erobern. Die Masse des Volkes war an den Kriegszustand gewöhnt und jeder Bauer war ein Krieger. Darin glich Schottland dem wilden Wales eher als dem friedlichen England. Die Schotten waren angesichts des Feindes bereit, eher ihre Hütten anzuzünden und ihr Land zur Einöde zu machen, als sich zu ergeben. Und immer wieder wurde solch düsterer Mut von ihnen verlangt. Zwei Umstände entschieden den lange schwankenden Kampf zugunsten Schottlands: die Persönlichkeit Robert Bruce's und nach dessen Tode die Ablenkung Eduards III. durch den Krieg mit Frankreich. Robert Bruce war ein Enkel des Thronanwärters von 1290 und durchaus nicht zum begeisterten schottischen Patrioten erzogen.' Er und sein Vater hatten die übliche schwankende Politik des schottischen Adels mitgemacht und zur Zeit Wallace's mehr als einmal die Partei gewechselt. Aber schließlich führte ihn das eigene Ungestüm auf den Pfad der Pflicht und des Heldentums. Seit er Comyn dem Roten, dem von Eduard I. eingesetzten Regenten Schottlands, in der Kirche zu Dumfries die Kehle durchstoßen hatte (1306), war er vogelfrei und es blieb ihm nichts übrig als sich auf die Seite der Patrioten zu stellen und dort wieder anzufangen, wo Wallace aufgehört hatte. So rettete er sich und sein Land. Den demokratischen Überlieferungen aus der Zeit Wallace's gesellte sich nun ein erwünschtes feudaladeliges Element bei, das Bruce und der „gute Sir James" Douglas vertraten, und ein richtiges Königtum, das Bruce und nur Bruce allein verkörperte. Der Tod Eduards I. (1807) kam den Schotten sehr gelegen, denn Eduard II. war ein schwächerer Gegner, so daß die Bedingungen ihres Freiheitskampfes günstiger wurden. Nun fielen die Burgen, von denen aus die Engländer das Land beherrscht hatten, eine nach der anderen in die Hand der furchtbaren Kriegshelden Douglas und Bruce und wurden zerstört. In der Entscheidungsschlacht von Bannockburn (1314) konnten die Engländer ihre Reitermassen nicht entwickeln und ihre Bogenschützen nicht richtig einsetzen und so gelang es den heimischen Schiltrons, die englischen Barone und Ritter mit ihren Speeren in den Fluß und in die Sümpfe zu werfen. Weder früher noch später hat die englische Ritterschaft eine ähnliche Niederlage erlitten. Von nun an

Robert Bruce. Bannockburn.

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führte England die Hauptmacht seiner Bogenschützen und Bewaffneten über das Meer nach dem Süden, wo es keine so tapfere und begeisterte Bauernschaft gab. Nach der Schlacht bei Bannockburn dauerten die Grenzkämpfe gegen England noch lange, aber die Schotten hatten nur im Kleinkrieg Erfolge. Ein paar schlichte Reime, die als „des guten Königs Robert T e s t a m e n t " ) bekannt sind, hielten im Gedächtnis des Volkes den angeblichen Rat Bruce's fest, trotz Bannockburn die offene Schlacht zu meiden und immer wieder Hab und Gut zu opfern, um den Eindringling zu vernichten. Die Bedingungen waren aber für die Schotten recht ungünstig und verlangten von ihnen eine ganz wunderbare Selbstverleugnung. Denn sie konnten sich bloß auf die verhältnismäßig wenig ' ) E i n p a a r Zeilen a u s B r u c e ' s T e s t a m e n t : „Zu F u ß soll S c h o t t l a n d s K r i e g s m a c h t sein, Mit B e r g und Moor als D e c k u n g . W ä l d e r , nicht Mauern seien uns S c h u t z , S o d a ß der Feind uns nicht e r h a s c h t . V o r r ä t e v e r s t e c k t an sicherem Ort Und vor. euch her verbrennt d a s L a n d . D a n n ziehet eilends euch z u r ü c k . A u f d a ß der Feind nur Ödland find1. Mit L a u e r n und W a c h e n in der N a c h t Und lautem Lärm von den B e r g e n her S t i l r z t euch auf sie in s t a r k e m S t u r m Und jafrt sie mit dem S c h w e r t d a v o n . D a s ist der Rat und letzte G r u ß E u r e s guten K ö n i g s R o b e r t B r u c e . " A b e r t r o t z dem e r s t e n V e r s waren die a u s e r l e s e n e n s c h o t t i s c h e n T r u p p e n , die in E n g l a n d einfielen, eine b e r i t t e n e I n f a n t e r i e , die zu Pferde in die S c h l a c h t zog und zum K a m p f e a b s a ß . Ihre R a u b z ü g e zur Zeit E d u a r d s III. hat uns F r o i s s a r t b e s c h r i e b e n : „Denn sie alle sind zu P f e r d e und nur die T r o ß l e u t e und K n e c h t e d e s H e e r e s folgen s p ä t e r zu Fuß. Die R i t t e r und Herren haben s c h ö n e R o s s e , a b e r a u c h die e i n f a c h e n L e u t e und die anderen haben k l e i n e P a c k p f e r d e oder W a l l a c h e n . Und sie führen keinen W a g e n t r o ß mit sich, d a sie in N o r t h u m h e r l a n d s c h w i e r i g e s B e r g l a n d passieren m ü s s e n . " W e i t e r erzählt er, wie j e d e r R e i t e r einen k l e i n e n S a c k Hafermehl und eine Metallplatte mit sich filhrt, auf d e r es g e b a c k e n wird, „in der Art k l e i n e r Brezeln oder K u c h e n und damit stillen sie den ä r g s t e n H u n g e r " . A u ß e r d e m raubten sie u n t e r w e g s Vieh und aßen d a s halb rohe F l e i s c n . F r o i s s a r t erzählt a u c h , wie einmal u n t e r R i c h a r d II. f r a n z ö s i s c h e R i t t e r d a s s c h o t t i s c h e T i e f l a n d v e r w ü s t e t fanden, offenbar durch einen e n g l i s c h e n E i n f a l l . „ D i e B e w o h n e r nahmen d a s recht leicht und s a g t e n , d a ß sie sich mit. s e c h s o d e r a c h t Pfählen r a s c h neue Hütten bauen könnten und daß sie zur Nahrung g e n u g Vieh im W a l d e h ä t t e n , wohin man es der S i c h e r h e i t halber g e t r i e b e n h a b e . " D a s zeigt uns a n s c h a u l i c h , wie des „guten K ö n i g s R o b e r t T e s t a m e n t " w i r k t e . E s g a b ü b r i g e n s d a m a l s im n ö r d l i c h e n B r i t a n n i e n viel m e h r W a l d l a n d a l s zur Z e i t d e r Stuarts.

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Der Hundertjährige Krieg. 1337—1453.

fruchtbaren Gegenden von Cumberland, Northumberland und Durbam stürzen, während die englischen Räuberbanden und Soldaten immer wieder die reichsten Teile Schottlands verheerten, die sie in zweitägigem Ritt von der Cheviotgrenze aus erreichen konnten. Schottland hat seine Unabhängigkeit teuer bezahlen müssen, wie man wirklich Kostbares immer teuer bezahlen muß. Denn nach der Schlacht bei Bannockburn blieb es zweieinhalb Jahrhunderte lang ein bettelarmes, wildes, blutbeflecktes Land, wo feudale Gesetzlosigkeit, Mord, Faustrecht und Verräterei ihr Unwesen trieben. Der Grenzkrieg gegen England nahm kein Ende, die Kirche war ganz besonders verderbt, es gab keine blühende Städte, kein Parlament, das diesen Namen verdient hätte, und auch sonst war nichts da, was Tür die Zukunft Gutes verhieß. Der demokratische Sinn des Volkes hatte die Angliederung an England verhindert, die dem Land Wohlstand und Gesittung gebracht hätte. Aber diese demokratischen Instinkte vermochten das Land politisch gar nicht zu fördern, den feudalen Adel nicht im Zaun zu halten, noch weniger das nationale Empfinden in irgendeiner Form der Volksvertretung zu einem organisierten Ausdruck zu bringen. Das Bündnis zwischen Schottland und Frankreich war militärisch gegen England ganz nützlich, vom kulturellen Standpunkt aber widersinnig und daher kein richtiger Ersatz für die zerrissene Verbindung mit dem nächsten Nachbarn. Was hat Schottland also durch seinen Trotz gegen England gewonnen? Nichts — als seine Seele und alles andere, das schließlich aus solchem Gut erblüht. VI. Der Hundertjährige Krieg. Seine Ursachen und Wirkungen. Die Geburt des Nationalbewußtseins. Bogenschützen und Freibauern. Englische Sprache und englischer Patriotismus. Könige: Eduard in., 1327—1377; Richard II., 1377—1399; Heinrich IV.,

1399—1413; Heinrich V., 1413—1422; Heinrich VI., 1422—1461. Man hört manchmal die Ansicht äußern, die Einheit der mittelalterlichen Kirche habe Kriegen vorgebeugt, wie sie später, vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Europa immer wieder verheerten. Aber in Wirklichkeit entschlossen sich die Männer jener Zeit sehr leicht zu einem Kriege, und die Kriegführung war noch grausamer als heute. Dem Wunsch zu töten standen weit schwächere Hemmungen des Gewissens und der Sitte entgegen, nur die Technik des Tötens war noch nicht so weit. Was Kriege großen Maßstabs verhinderte, war nicht die Einheit der Kirche, sondern die beschränkte Herrschaft des Menschen über die Natur, die schlechten Verkehrsverhältnisse, das Fehlen der politischen,

Ursachen.

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verwaltungstechnischen und geldlichen Voraussetzungen für die Erhaltung und Verpflegung großer Armeen auf weite Entfernungen. Europa war noch sehr arm und besaß kein ausgebildetes Kreditwesen; e c konnte daher nicht einen großen Teil seiner jungen Leute der Landwirtschaft entziehen und für die berufsmäßige Zerstörung ausbilden und verwenden. Die zahlenmäßig kleine Klasse der feudalen Barone und Ritter war allmächtig, weil sie und ihr bezahltes Gefolge die einzigen Berufssoldaten waren. Zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert erlebte das europäische Festland zahllose kleine, örtliche Kriege, in neiierer Zeit wenige und große. Der Arm des Kriegsgottes war kurz, aber er blieb ständig in Übung, und der Bauer litt viel häufiger unter den Verwüstungen des Krieges als heute. Der Hundertjährige Krieg gegen Frankreich (1337—1453) war vielleicht der erste nationale Kampf in Europa, wenigstens vom englischen Standpunkt aus. Die Heere, die J a h r für J a h r nach Frankreich hinüberfuhren, um d a s ' Land zu verheeren und auszurauben, waren ziemlich klein, aber ihre Leistungsfähigkeit war ein Ergebnis nationaler Organisation und nationalen Geistes. Dank seiner fernen Insellage und der Tatkraft seiner Könige genoß England seit der normannischen Eroberung in höherem Maße als das übrige Europa Frieden im Innern, und aus der feudalen Ordnung entwickelte sich ein Bewußtsein der völkischen Zusammengehörigkeit. Sobald König und Parlament England den nötigen Verwaltungsapparat und das nationale Selbstbewußtsein gegeben hatten, regte die Nation die neuen Kräfte auf Kosten jenes plumpen Riesen, des französischen feudalen Königreiches. England wurde für eine geraume Zeit der Plünderer und Tyrann seiner Nachbarn auf dem Festland, nicht, weil es gewissenloser, sondern weil es mächtiger war als diese. Zur Zeit der Tudors war es umgekehrt. Denn das geeinigte Frankreich und das geeinigte Spanien waren jedes für sich mächtiger als England. Dieses war aber durch seine Insellage vor Angriffen geschützt, und zugleich öffnete sich den nationalen Kräften ein einträgliches Betätigungsfeld im Handel und den überseeischen Entdeckungen. Der Hundertjährige Krieg war also eine Frage des politischen Kräftespiels und es hat keinen Sinn, ihn zu idealisieren. Daß man die räuberischen Feldzüge von vier englischen Generationen mit Erbansprüchen Eduards III. und Heinrichs V. auf den französischen Thron rechtfertigen wollte, beweist ebensowenig für die Achtung des Mittelalters vor der „Idee des Rechts" wie die dynastischen Ansprüche Friedrichs des Großen auf Schlesien für das Rechtsgefühl des 18. Jahrhunderts. Froissart, dessen Lebenswerk es war, die bewundernswerte

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englische Leistung der Nachwelt zu überliefern, gab sich keiner solchen Täuschung hin. „Die Engländer", schreibt er, „werden niemals einen König lieben oder ehren, wenn er nicht siegreich ist, die Waffen und den Krieg gegen ihre Nachbarn liebt, besonders gegen solche, die größer und reicher sind als sie selbst. In ihrem Land gibt es in Kriegszeiten viel mehr Reichtümer und alle Arten von Gütern als im Frieden. Schlacht und Gemetzel sind ihnen Freude und Wonne. Mit Gier und Neid (Iber die Maßen blicken sie auf den Reichtum des Nächsten"., Der König von England muß seinem Volk gehorchen und nach dessen Willen handeln."

Sicher hätte kein König ein widerwilliges Volk dazu zwingen können, 12U J a h r e lang jenseits des Meeres Krieg zu führen. Der Hundertjährige Krieg war, im Grunde genommen, nicht ein Werk dynastischen Ehrgeizes, sondern nationaler, volkstümlicher und parlamentarischer Einrichtungen. Das neue England mußte eine Zeit des ausweitungslüsternen Militarismus durchschreiten, der ihm anfangs Gewinn, schließlich Unheil brachte. Bald nach dem Regierungsantritt Eduards III. wurde Frankreich an Stelle Schottlands das Ziel des englischen Ehrgeizes. Die berühmte Lilie zu pflücken war einträglicher, leichter und ehrenvoller als die störrische Distel zu köpfen. Wenn englische Barone, jüngere Söhne von Edelleuten und freie Bauern aus Frankreich zurückkehrten, da brachte jeder ein schönes Stück Beute mit, etwa die goldenen Gefäße eines Klosters, Teppiche aus einem Kaufmannshaus oder ein paar reiche französische Ritter, für die ein Lösegeld erzielt werden konnte. Und jeder hatte seinen aufhorchenden Zuhörern viel zu erzählen. Diese Geschichten waren damals, was Buch und Zeitung heute sind, und es waren inhaltsreiche, packende Geschichten von Abenteuern und Schlachten, von herrlichen Wohnungen und schönen Frauen, von den berühmtesten Städten und besten Weinkellern Europas. Da stand einer ganz anders da vor sich selbst und seinen Nachbarn, als wenn er aus dem schon so oft verheerten Schottland heimkam, wo er vielleicht ein paar leere Hütten und ein paar Mandeln Hafer verbrennen, aber nichts wegtragen konnte als höchstens die Haut einer Kuh, die zu lahm war, um rechtzeitig ins Waldversteck davonzuhumpeln 1 ). ») Froissarts Berichte über die Kämpfe der E n g l ä n d e r in Frankreich und Schottland machen das sehr anschaulich. Er schildert mit vielen Einzelheiten, ,.wie die gesegnete reiche Normandie von den Engländern ausgebrannt, geplündert, verheert und die Leute weggetrieben wurden". „Die Soldaten", erzählt er, „berichteten weder dem König noch ihren Offizieren von dem erbeuteten Gold und Silber. Sie behielten alles für sich". Es ist demnach vollkommen sicher, daß die englischen Armeen des 14. J a h r h u n d e r t s ebenso raubten, brannten und mordeten wie asiatische Banden von heute. Aber die Engländer waren durchaus nicht roher als andere. Die Milde und Höflichkeit mittelalterlicher Kriegführung bezog

Kriegführung. Kämpfe cur See.

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Wer wie wir in der Theorie und Praxis des Nationalismus aufgewachsen ist, kann sich kaum vorstellen, daß die Engländer je ernstlich daran gedacht haben, Frankreich zu erobern. Aber viele J a h r e lang haben uns die Franzosen viel schwächeren Widerstand entgegengesetzt als die Schotten, die unsere Sprache sprachen. Denn die Schotten hatten bereits ihr Nationalbewußtsein, während Frankreich nur eine lose Vereinigung von Lehensgebieten war. Im J a h r e 1337, als der Hundertjährige Krieg begann, sprachen auch Eduard III. und sein Adel noch französisch und sie waren in der Gascogne weit mehr zu Hause als in Schottland Die dynastischen Ansprüche Eduards III. auf den französischen Thron waren aber nicht die wesentliche Ursache des Bruches mit Frankreich. Die französischen Könige strebten nach dem Besitz der Gascogne, des letzten Restes der alten angevinischen Gebiete, und unterstützten die Schotten in ihrem Kampf gegen England. Auch gegen Flandern und seine bürgerliche Demokratie unter Van Artevelde führte Frankreich manches im Schilde. England konnte dort eine französische Vorherrschaft aus wirtschaftlichen Gründen nicht dulden, denn sein wichtigster Ausfuhrartikel, die Schafwolle, wurde an die Weber von Gent, Brügge und Ypern v e r k a u f e da die eigene Tuchmacherei noch in den Kinderschuhen stak. Zur See schnitten einander die englischen und französischen Kaufleute immer wieder die Hälse ab, sowohl im Kanal als auch auf der Fahrt nach Bordeaux, von wo die Engländer den Wein holten. Das erste große Ereignis des Krieges war die Schlacht bei Sluys (1340), die die Flotte der englischen Kaufleute gewann. Nun fühlte sich Eduard ITT. als Herr des englischen Meeres und ließ einen Nobel (Goldmünze) prägen, der ihn in Krone und Rüstung auf einem Schiffe darstellte. ,.Unser Nobel seiet mir der Dinge vier König, Schiff und Schwert und die Macht auf dem Meer." schrieb der Verfasser des „Libel of English Policie" (Büchlein von der englischen Politik), der in der zweiten Hälfte des Hundertjährigen Krieges zum erstenmal die Notwendigkeit der Seeherrschaft für England vernuuftmäßig begründete. Es ging also damals auch schon um die Herrschaft auf dem Meere, leider aber nicht bloß darum. Eben weil dieser Krieg mehr als ein Zwist der Herrscherfamilien

sich nicht auf den „christlichen Nächsten" an sich, sondern bloß auf Mitglieder der herrschenden Klasse, auf Ritter und Rittersfrauen, auf Geistliche und Nonnen. Diese fanden oft, aber durchaus nicht immer, eine gewisse üuhoiiuug, die jedoch nur selten auf ihr Eigentum ausgedehnt wurde.

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Der Hundertjährige Krieg. 1337- -1453.

und der großen Lehensträger war, dauerte er mit Unterbrechungen übe» hundert Jahre. König Johann war es nicht gelungen, die Engländer zum Kampfe für seine Besitzungen in der Normandie und Anjou zu zwingen, aber von Eduard III. bis auf Heinrich VI. bewilligte ein Parlament nach dem anderen die Mittel für den Krieg und zog Minister, die Mißerfolge hatten, zur Verantwortung. Mit Stolz verfolgte man die Triumphe der englischen Bogenschützen „trotz all der fränkischen Prahlerei" und jubelnd sah man zu, wie „Unser König fortzieht in die Normandie Im herrlichen Glanz seines Rittertums"

und bei der Rückkehr die vornehmsten Fürsten und Edelleute Europas als Gefangene durch die Straßen Londons führte. All das stärkte das patriotische Gefühl, das alle Klassen des Volkes zu einer Einheit verschmolz. Der Haß gegen Frankreich war im niederen Volke noch heftiger als in den zweisprachigen höheren Ständen. Darum verharrten wir sa lange in dieser unglückseligen Unternehmung, bis unsere eigene, wohlgeordnete mittelalterliche Gesellschaft zerstört war und bis die Franzosen unter unserer Peitsche sich ihrer Nationalität bewußt wurden. Dies geschah zum erstenmal unter Du Guesclin und fünfzig Jahre später unter Dunois und der Jungfrau von Orleans. Jetzt änderte sich ihre bisher rein feudale Kriegführung und damit der Geist ihrer Heere. Vom diplomatischen wie vom militärischen Gesichtspunkt aus bildet der Hundertjährige Krieg den Übergang vom feudalen zum nationalen Staat, vom Mittelalter zur Renaissance. Wie so häufig, boten auch in diesem Kriege Heere und Taktik der beiden Parteien ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Zustände und zeigten Entwicklungen, deren Bedeutung über das militärische weit hinausging. Das französische Königtum war etwas ganz anderes als das englische. Das Land wurde nicht in Grafschaften verwaltet, in denen königliche Richter, Sheriffs und Kronbeamte (Coroners) im Namen des Königs Recht sprachen. Die Verwaltung der Provinzen und großen Herrschaften lag vielmehr ganz in den Händen der einzelnen Fürsten und Barone. Der versklavte Bauer wurde vom Adeligen tief verachtet. Eine Mittelklasse von Bedeutung gab es nicht, auch keine freien Bauern in nennenswerter Zahl und keinen kleinen Adel, der an den Dienst des. Königs gewöhnt war und durch seine öffentliche Tätigkeit mit den Klassen über und unter ihm in enger Fühlung stand. Frankreich hatte wohl reiche Städte, aber die Verbindung zwischen dem Stadtvolk und der stolzen Adelsgesellschaft ringsum war recht lose. Es gab keine Zusammen-

Nationalbewußtsein. Heer and Gesellschaft.

253 arbeit zwischen Bürgertum und kleinem Adel wie in der englischen Grafschaft oder im Haus der Gemeinen. Diesen sozialen Zuständen entsprachen die Heere, die bei Crecy, Poitiers und Azincourt geschlagen wurden. Das waren Adelsaufgebote, die

•— Grenzt des Königreichs

Frankreich.

Karte 16. Frankreich in den ersten Jahrzehnten des Hundertjährigen Krieges. Eduard IH. auf der Höhe seiner Macht.

auf Grund der Lehenspflicht einberufen wurden, mit all der politischen und militärischen Zuchtlosigkeit eines stolzen Adels. Der König von Frankreich und seine Generale hatten mit ihren Truppenkörpern dieselben Schwierigkeiten wie Montrose oder Prinz Karl Eduard mit den Häuptlingen aus dem schottischen Hochland. Außerdem kannte das feudale Heer keine andere Taktik als den einfachen Reiterangriff, dessen

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Der Hundertjährige Krieg. 1337—1453.

niederwerfender Anprall jahrhundertelang die Schlachten entschieden hatte. Aber am Tag von Crecy (1346) machten die englischen Bogenschützen der Legende von seiner Unwiderstehlichkeit ein Ende. Die besten Truppen mit Fernwaffen, über die die Franzosen verfügten, waren gemietete genuesische Armbrustschützen. Denn der französische Bauer, der im Frieden so verachtet wurde, spielte auch im Krieg eine geringe Rolle. Er hatte nur das Lösegeld aufzubringen, wenn sein Herr in Gefangenschaft geraten war und auf einem englischen Schloß saß, mit den Damen auf die Falkenjagd ging und ihnen den Hof machte, bis die verlangte Summe eintraf. Diese Art, „Reparationen" schon während des Krieges einzutreiben, besonders die gewaltigen Beträge, die für die große Schar hochgeborener Gefangener nach der Schlacht bei Poitiers (1356) erpreßt wurden, und dazu die furchtbaren Räubereien der Soldateska, das alles zusammen trieb die hungernden französischen Bauern zur Erhebung der Jacquerie, einem Ausbruch der reinen Verzweiflung (1358). Nicht minder treu spiegelte sich die Gesellschaftsordnung Englands in der Gliederung und Taktik seiner Heere. Im England der Eduarde ging es Peter dem Pflüger (Piers Ploughman) besser als dem guten Jakob (Jacques Bonhomme) jenseits des Kanals. Sogar die Leibeigenen waren verhältnismäßig wohlhabend und gut genährt, und die Zahl der freien Bauern, der nächsthöheren Klasse, nahm zu. Der Hundertjährige Krieg war die Zeit, in der die Befreiung der Hörigen die größten Fortschritte machte. Die Könige aus dem Hause Plantagenet ließen jetzt alle freien Männer für den Kriegsdienst ausbilden, und zwar nicht nach feudaler Ordnung, sondern nach dem Grundsatz des alten sächsischen Bauernaufgebots fyrd), das durch die Waffenverordnungen (Assizes of Arms) den neuen Verhältnissen angepaßt wurde. Eine starke Miliz wurde so mit den Waffen vertraut, die jeder Mann laut Gesetz besitzen mußte. Die Tatsache, daß so viele Männer aus dem Volke Waffen in ihren Hütten hatten, die sie zu gebrauchen verstanden, war ein wichtiger Grund dafür, daß ein Hauch politischer und sozialer Freiheit über der Insel wehte. Im 14. Jahrhundert wird der lange Bogen mehr und mehr die vorgeschriebene Waffe, und die Übung auf der Schießstätte hinter dem Kirchhof bildet den aufregenden Lieblingssport des Dorfes. So wünschte es Eduard in seinen königlichen Aufrufen und er verbot zugleich bei Kerkerstrafe „Handball, Fußball und Hockey (pilam manualem, pedivam vel bacularem), ferner Laufen und Hahnenkampf und ähnliche müßige Spiele",

Bogenschützen. Berufssoldaten.

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die die Leute von der Schießstätte ablenkten. In späterer Zeit erzählte Hugh Latimer auf der Kanzel die Geschichte von seinem Vater, dem Freibauern: „Er lehrte mich den Bogen spannen, den ganzen Körper in den Bogen legen, diesen nicht durch die Kraft der Arme zu spannen, wie dies manche andere Völker tun. sondern mit der Kraft des ganzen Körpers. Er kaufte mir meine Bogen entsprechend meinem Alter und meinen Kräften. Als ich stärker wurde, wurden auch meine Bogen größer und größer. Denn nur der schießt wirklich gut, der mit dem Bogen aufgewachsen ist."

Crecy und Azincourt sind jedenfalls durch so sorgsame Väter gewonnen worden, wie der alte Latimer einer war. Denn das Schießen mit dem langen Bogen war so schwer, daß Fremde nie den Kunstgriff erlernten, wie man mit einem Pfeilschuß einen Schuppenpanzer durchbohrt. Obwohl der lange Bogen mehr als hundert J a h r e allgemein als gefürchtete Waffe in ganz Europa bekannt war, blieb sein Gebrauch doch auf England beschränkt. Wenn er zur Zeit der Tudors allmählich von der Gabelflinte verdrängt wurde, obwohl diese weniger- wirksam war, so scheint dies damit zusammenzuhängen, daß das Bogenschießen im Dorfe doch hinter „Fußball und anderen liederlichen Spielen" zur ü c k t r a t oder, wie Latimer meint, wegen „des Kegelspiels, Trinkens und der Weiber" vernachlässigt wurde — trotz aller Gesetze und Aufrufe. Unter Eduard III. war diese furchtbare Kriegstruppe auf ihrer Höhe und konnte jeden Augenblick aufgeboten werden. Im J a h r von Crecy glaubten die Schotten, mit einem Land, dessen König und Adel in Frankreich kämpften, leichtes Spiel zu haben. Aber das Aufgebot der englischen Grafschaften lehrte sie bei Nevilles Croß in der Nähe von Durham, wie einst bei Northallerton und wie später bei Flodden, d a ß England sich nicht ungestraft herausfordern ließ. Aus dieser großen Zahl bewaffneter und halb bewaffneter freier Männer ließ Eduard III. durch Musterungskommissionen in jeder Grafschaft eine erlesene Schar für den Krieg in Frankreich auswählen. Diese Leute wurden ausgehoben und ihre Zahl durch Freiwillige vergrößert. Als sich aber der französische Krieg in die Länge zog, kam man von den Musterungskommissionen und der Dienstpflicht ab und warb statt dessen „Kompanien" von Berufskriegern an. Nur durch diese Kompanien konnte England den Krieg in Frankreich so lange durchhalten. Das waren weder Vasallenheere noch zwangsweise ausgehobene Volksaufgebote, sondern lang dienende Berufssoldaten, die ein Baron oder Ritter, der selbst durch Krieg und Politik sein Glück machen wollte, für Geld anwarb. Der König mußte diesen Hauptleuten f ü r ihre Dienste nicht viel bezahlen, denn sie rechneten

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Der Hundertjährige Krieg. 1337—1453. •

darauf, sich durch Plünderungen, Lösegelder und die kostenlose Verpflegung im Feindesland zu bereichern. Bisweilen, besonders in Zeiten des Waffenstillstandes zwischen England und Frankreich, kämpften und plünderten sie irgendwo auf eigene Faust, wie der berühmte Hawkwood und sein englisches Fähnlein in Italien. Als diese Kompanien unter Heinrich VI. nach England zurückkehren mußten, wurden sie eine Hauptursache der politischen und sozialen Zerrissenheit des Landes, denn sie fanden in den Rosenkriegen im Gefolge der großen Herren wieder Beschäftigung 1 ). Die englische Kriegsleitung vertraute auf die Tapferkeit des freien Bauern und die Wirkung des langen Bogens. Das lehrten die Erfahrungen der schottischen Feldzüge unter Eduard I. und Eduard II. Die vornehmen Krieger auf dem Festland hatten sich für diese Kämpfe in unbekannten, barbarischen Ländern nicht interessiert und sahen nun bei Crecy mit staunendem Entsetzen, wie die verachteten Inselmänner sich als die besten Soldaten Europas entpuppten. Den' Kriegen gegen Schottland verdankte man eine doppelte Lehre. Bei Stirling Bridge und bei Bannockburn hatten die schottischen Schiltrons gezeigt, daß eine sich selbst vertrauende Infanterie unter günstigen Umständen ein adeliges Ritterheer im Kampfe Mann gegen Mann besiegen konnte, während die englischen Siege wie der von Falkirk den Wert des langen Bogens erwiesen. Auf Grund dieser Erfahrungen schufen die Feldherren Eduards in. eine neue Taktik, indem sie die Bogenschützen und die Ritter zu einer Kampfeinheit verschmolzen, die durch Schuß und Schwerthieb gleich furchtbar wirkte. Die englische Ritterschaft sah ein, daß sie infolge ihrer geringeren Zahl dem Anprall der französischen Pferde und Lanzen nicht gewachsen war. Sie verstanden sich daher dazu, zu Fuß zu kämpfen und in ihrer schweren Rüstung die Linien der leichtbewaffneten Schützen zu versteifen, die mit ihrem Geschoßhagel und der Durchschlagskraft ihrer ellenlangen Pfeile den Kampf entscheiden sollten. Diejenigen französischen Ritter, die lebend durch den Pfeilregen gekommen waren, gerieten nun mit der englischen Linie ins Handgemenge; jetzt zog der Bogenschütze sein Schwert und kämpfte Seite an Seite mit den schwergerüsteten Baronen und Rittern, manchmal hinter einer Hürde tragbarer Pfähle 1 ). ') Conan Doyle's „White Company' gibt ein geistvolles und richtiges, wenn auch etwas rosig gefärbtes Bild eines solchen Fähnleins auf dem Festland, während Stevenson in seinem „Black Arrow" mit großer historischer Treue das Leben des Sir Daniel Brackley und seines Gefolges nach der Rückkehr in die Heimat beschreibt. *) Sobald der Kampfwert des Bogenschützen voll erkannt war, wurde er oft mit einem Pferd und Verteidigungswaffen ausgerüstet, so daß das ganze Heer be-

Neue Taktik.

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Bei Crecy wurden die Franzosen durch diese Taktik so hoffnungslos geschlagen, daß sie beschlossen, die Sieger insofern nachzuahmen, als sie nun auch zu Fuß kämpfen wollten. Aber das war noch nicht das Geheimnis des Erfolges, wie sich bei Poitiers zeigte. Als ein weiteres Hilfsmittel gegen die Pfeile verstärkten sie die Rüstung und ersetzten am ganzen Körper die Ketten des Panzers durch Platten. Dadurch gewannen sie zwar an Schutz, verloren aber an Beweglichkeit. Die lächerliche Hilflosigkeit des Ritters im 15. Jahrhundert, dessen Gehäuse so schwer war, daß er es nicht mehr schleppen konnte, beschleunigte den Verfall des Rittertums. Die Franzosen fanden tatsächlich kein Mittel, um die englische Infanterielinie mit Erfolg anzugreifen, wenn diese in günstigem Gelände mit geschützten Flanken Stellung genommen hatte. Aber die englische Taktik, wie sie der Schwarze Prinz, der tapfere Sohn Eduards III., ausbildete, hatte einen großen Mangel. Das Heer war auf dem Schlachtfeld nicht beweglich, im Gegensatz zur „dünnen roten Linie" Wellingtons. Wenn die Truppe zum Angriff gegen die Kavallerie vorrückte, so war sie immer in Gefahr, seitlich umgangen und von den Flanken aus niedergeritten zu werden. Man konnte also, kurz gesagt, nur siegen, wenn die Franzosen so töricht waren, das englische Heer in seiner Stellung anzugreifen. Die volle Bedeutung dieser Tatsache erkannte Du Guesclin, der erste Befreier Frankreichs. Während der letzten Regierungsjahre Eduards III. (1369—1377) stieß er den Vertrag von Bretigny um, der 1360 das südwestliche Frankreich an England abgetreten hatte (siehe die Karte bei S. 253). Du Guesclin verließ sich nicht auf das zuchtlose Ritterheer, sondern warb „Freie Kompanien" gegen Sold an und mied offene Feldschlachten, es sei denn, daß er die Engländer überfallen oder sonst unter besonders günstigen Umständen angreifen konnte. Er wandte sein Augenmerk hauptsächlich der Belagerung der Burgen zu, von denen aus die Engländer das Land beherrschten, und in diesem Fach waren die Franzosen ihren Gegnern ebenbürtig, denn sie verstanden sehr gut, mit den ersten Geschützen umzugehen. Das Schießpulver, das in der Schlacht noch kaum verwendet wurde, führte bereits einen Umsturz im Belagerungswesen herbei und half mit, Frankreich zu befreien, untergrub aber zugleich die Macht des feudalen Adels. Denn dem König standen am ehesten die Mittel für die Anschaffung eines Artillerieparks zur Verfügung und die Macht des Barons war zu Ende, sobald der König Breschen in seine Burgmauer schießen konnte. rittener Fußsoldaten Frankreich raubend durchstreifen konnte. Zum Kampf stieg aber alles vom Pferde, der König ebenso wie der letzte Troßknecht. Trevelyan, England

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Der Hundertjährige Krieg. 1337—1453.

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T r o t z d e m starb der Feudalismus in Frankreich nicht so leicht. Du Guesclin hatte sein Vaterland befreit, indem er die feudale T a k t i k , die bei C r e c y

und

Poitiers versagt

hatte, durch e t w a s Besseres

ersetzte.

I n d e n f o l g e n d e n 36 Jahren unruhigen Waffenstillstandes (1377—1413),

englisches Gebiet andere Gebiet9

I I /rantbsisches Ctbiel IX-XJ burgundisches Gebiet

Karte 17. Frankreich zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Heinrich IV. auf der Höhe seiner Macht.

der, v o n kleineren F e l d z ü g e n unterbrochen, den H u n d e r t j ä h r i g e n K r i e g in zwei Hälften teilte, hätte man ein Erstarken der französischen nationalen Monarchie auf Kosten des hohen A d e l s erwarten müssen. Das w a r aber nicht der Fall. A l s Heinrich V. 1413 zur R e g i e r u n g kam und d i e Ansprüche Eduards I I I . auf den französischen T h r o n v o n neuem

Azincourt. Jeanne d'Arc.

253

erhob, „um die wankelmütigen Geister mit auswärtigen Kämpfen zu beschäftigen", da zog er mit der Taktik des Schwarzen Prinzen zu Felde. Man trat ihm aber nicht mit der erprobten Kriegführung Du Guesclins entgegen, sondern mit der törichten feudalen Schlachtordnung von Crecy und Poitiers. Azincourt war die natürliche Folge (1415). Die technische Führung des Krieges auf beiden Seiten war in dieser zweiten Hälfte des Kriegs fast dieselbe wie früher. Die Franzosen wollten lange Zeit nichts lernen und sich nichts merken. Heinrich V., der ein großer Kriegsmann war — man hat ihn als den ersten modernen General bezeichnet — sicherte zuerst die englische Stellung in der Normandie und eroberte dann das Land bis an die Loire. Der Zwist zwischen den großen Adelsfamilien der Orleans und Burgund zerriß Frankreich in ywei Teile und führte zu dem Bündnis Burgunds und Flanderns mit England, zur Freude der Wollhändler diesseits und jenseits des Kanals. 1420 erkannte der Vertrag von Troyes Heinrich V. als Erben der französischen Krone an. Zwei J a h r e später starb er und hinterließ die unrechtmäßige Erbschaft einem Kinde, das von Nordfrankreich als König anerkannt wurde. Während der Minderjährigkeit Heinrichs VI. kam es zur zweiten Erhebung Frankreichs, die in ihrer Kriegführung den Spuren Du Guesclins folgte. Sein Nachfolger war Dunois, der aber eine schwere Aufgabe zu meistern hatte und Du Guesclin nicht ganz ebenbürtig war. Aber Dunois fand einen ganz unerwarteten, ungewöhnlichen Verbündeten. In einem J a h r des Ruhms und einem J a h r des Martyriums (1429—1431) schuf J e a n n e d'Arc in Frankreich ein Nationalgefühl und eine nationale Überlieferung, die seitdem nicht mehr erloschen sind. Geistig wurde J o h a n n a der Wallace Frankreichs. Aber nach ihrem Tode dauerte es noch 20 Jahre, bis die Zaudertaktik und Belagerungskunst Dunois 1 und seiner Nachfolger die englische Macht endgültig niederrang. Als der Engländer Talbot und sein Sohn in der letzten Schlacht unten in der Gascogne fielen (1453), neigte der Hundertjährige Krieg seinem Ende zu. Sein englisches Nachspiel, die Rosenkriege, bejrann schon zwei J a h r e später in St. Albans. So wenig Ruhe fand England während der schlechten Regierungen des 15. Jahrhunderts. W a s hatte das Land von diesem langen hartnäckigen Ringen um ein englisches Großreich in Europa? Die wohlverdiente Folge war der Zusammenbruch der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und eine Zeit der innern Wirren und tiefster sittlicher Zerrüttung. Der Hafen von Calais war gewonnen und wurde noch hundert J a h r e lang als einziger Rest des einst so großen Bereichs englischer Herrschaft behauptet, ähn17*

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Der Hundertjährige Krieg. 1337—1453.

lieh wie Berwick am Tweed ein Überbleibsel der verlorenen Oberhoheit über Schottland war. Calais diente auf dem Kontinent als Einfuhrhafen für die englische Rohwolle; dort wurde sie gesammelt und vor dem Verkauf besteuert. Zu diesem Zweck hatte der König den Stapel in diesem Hafen angeordnet. Aber die Bedeutung dieses Stapels sank mit dem Aufschwung dor englischen Tucherzeugung und dem Wachstum des transozeanischen Handels. Doch blieb Calais, der zäh festgehaltene Brückenkopf auf französischem Boden, auch für kluge Könige aus den Häusern York und Tudor eine dauernde Versuchung, die nie vergessenen Ansprüche auf Frankreich immer wieder aufzurollen. Daher war der Verlust unter Maria Tudor in Wirklichkeit ein Gewinn, der dazu beitrug, den Blick der Zeitgenossen Elisabeths westwärts nach neuen Ländern zu lenken. Hat uns also der Hundertjährige Krieg nur Böses angetan? Was er Gutes zur Folge hatte, war rein geistig und unwägbar, nämlich: ein kräftiges nationales Selbstbewußtsein, mehr auf demokratischer als auf feudaler Grundlage; große Erinnerungen und Traditionen; ein Glaube an die eigene Kraft, der den Engländern half, den Kopf oben zu behalten, als die Insel im düsteren 15. Jahrhundert hinter den emporstrebenden Monarchien von Frankreich und Spanien zurückblieb. Bei Shakespeare können wir es lesen, wie das nationale Erwachen unter Elisabeth, das nun richtigeren Zielen zustrebte, von der Erinnerung an Azincourt erfüllt war. In den Tagen der „guten Königin Beß" (Elisabeth) hatte ganz England bereits vergessen, wie ein Krieg aussah. Es gab keinerlei Erinnerungen mehr an die harte Wirklichkeit des Hundertjährigen Krieges, wie sie etwa Chaucers Vision gemalt hat: Die Leiche im Busch, mit durchschnittenem Hals, Tausende erschlagen, nicht an Krankheit gestorben, Der Übeltäter mit der gewaltsam geraubten Beute, Die Stadt zerstört, nichts bleibet mehr zurück.

Die Zeitgenossen Shakespeares dagegen sprachen mit Stolz von den englischen Freibauern: „Sie waren es, die in vergangener Zeit ganz Frankreich in Schrecken setzten, und obwohl man sie nicht ,Herr (Master)" nannte, wie die vornehmen Bürger, oder ,Sir', wie es den Rittern gebührte, sondern bloß Hans oder Tom, so haben sie doch nach allgemeiner Ansicht ihre Sache sehr gut gemacht. Im Kampfgetümmel waren die Könige mitten unter ihnen, ihrem Fußvolk, wie die französischen Könige unter ihren Reitern. Der Fürst zeigte so, welchen Teil des Heeres er für den stärksten hielt."

Vom Hundertjährigen Krieg an spielt der Freibauer seine Rolle im Denken des Engländers, in der Literatur und Politik, und bleibt

Nationales Selbstbewußtsein. Der Freibauer.

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bis zum Anbruch der industriellen Revolution eine große, lebenspendende Kraft im englischen Volke. Im frühen Mittelalter fühlte man Feindseligkeit in der Regel gegen die Leute des nächsten Dorfes, der Nachbarstadt, der nächsten Grafschaft. Das hörte allmählich auf, als man die ganze Insel als Heimat zu empfinden begann und nun der Franzose oder der Spanier als der eigentliche Fremde erschien. Während des Hundertjährigen Krieges bürgerten sich neue Denkgewohnheiten und Gefühle ein. Der Haß gegen Frankreich war nicht so heftig wie der gegen Deutschland während des Weltkrieges, aber dafür währte er fünfundzwanzigmal so lang und gab dem neuen Patriotismus die Form der nationalen Feindschaft gegen Frankreich. Diese verschärfte sich noch, als Du Guesclin verheerende Raubzüge an der Südküste unternahm und die englische Schiffahrt erheblich schädigte. Die feindlichen Gefühle gegen Frankreich überdauerten den Krieg und trugen dazu bei, der Abhängigkeit der englischen Kultur von der französischen ein Ende zu machen. Seit dieser Zeit klagten die Fremden über die insulare Beschränktheit und das unzugängliche Wesen des Durchschnittsengländers. Während der Regierung Heinrichs VII. bemerkte der venezianische Gesandte: „Sie denken, daß es andere Menschen als sie und eine andere Welt als England überhaupt nicht gibt, und wenn sie einen hübschen Ausländer sehen, so sagen sie ,der schaut aus wie ein Engländer' oder ,schade, daß er kein Engländer ist'. Und wenn sie mit einem Fremden etwas Gutes essen, so fragen sie ihn, ob man dergleichen auch bei ihm daheim mache."

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts schreibt ein französischer Besucher: „Die Menschen dieses Volkes hassen die Franzosen als ihre Erbfeinde und sprechen von uns nur als den französischen Schurken' oder ,französischen Hunden'."

Zur Zeit Elisabeths wandten sich diese Gefühle eine Zeitlang gegen Spanien. Dabei zeigte der englische Nationalismus oft eine gewisse Gutmütigkeit. So stellte Shakespeare während der heftigsten Kämpfe mit Spanien in „Verlorene Liebesmüh" das liebenswürdige Zerrbild des phantastischen Spaniers Don Armado auf die Bühne. Solche Haltung eines Volkes mitten im Kriege verdient alle Anerkennung. Mit der Zurückweisung alles Französischen gingen die unteren Volksklassen voran, während die höheren langsam nachfolgten. Squire Western war erst in der Entwicklung begriffen. Schon durch den Verlust der Normandie und des angevinischen Reiches hatte der französisch sprechende Adel seinen Besitz und seine Verbindung in Frankreich verloren und seine Kultur, von ihrem französischen Wurzelboden getrennt,

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Der Hundertjährige Krieg. 1337—1453.

wurde nun etwas ganz Sonderbares. 100 J a h r e vor Chaucers „Priorin" pflegton Franzosen aus Paris über das seltsame Kauderwelsch zu lachen, von dem die vornehmen Engländer behaupteten, daß es Französisch sei. Aber das war tatsächlich noch zur Zeit Eduards ITT. ihre Umgangssprache und galt als das Kennzeichen des vornehmen Herrn, bis der Krieg zum Nationalkrieg wurde und schließlich alle Leute das Französische als die Sprache des Feindes empfanden. Sechs J a h r e nach der Schlacht von Poitiers nahm das Parlament ein Gesetz an, daß von nun an in den Verhandlungen und Urteilen der Gerichtshöfe die englische Sprache anzuwenden und die Ausfertigungen lateinisch abzufassen seien, da die französische Sprache „in diesem Königreich vielfach unbekannt ist". „Die Männer des Rechts", hieß es, „sollen von nun an in ihrer Muttersprache verhandeln." Ihrer Muttersprache! Das war ein neuer, bezeichnender Gedanke. Nach anfänglichen Schwierigkeiten fand das Gesetz bald allgemein Gehorsam. Manche Juristen haben allerdings, im Hang am Althergebrachten, der diesem Berufe eigen ist, noch lange ihre Urkunden ,,in der französischen Gesetzessprache" geschrieben, in der ihre Vorgänger zum Gerichtshof gesprochen hatten. Noch tiefer ging die Wandlung in der Schule. Englisch wurde wieder, zum erstenmal seit Hastings, die Sprache der Gebildeten. 1385 schreibt Johann von Trevisa: „In der Schule wurden die Kinder g e g e n Brauch und Art aller anderen Völker g e z w u n g e n , ihre e i g e n e Sprache aufzugeben und ihre Lektionen und alle Dinge auf Französisch auszudrücken, und s o war es. seit die Normannen nach England g e k o m m e n sind. Auch die Kinder der Adeligen wurden von der Wiege an gelehrt, französisch zu sprechen So war e s bis zur ersten Pest 1349, seitdem hat sich d a s ein w e n i g verändert. D e n n J o h n Cornwaile, ein Lehrer der Grammatik, hat begonnen, Grammatik und Satzbau auf Englisch statt auf Französisch zu lehren, und Richard Pencriche lernte diese Art d e s Lehrens von ihm und andere Leute von Pencriche. s o d a ß jetzt, im Jahre d e s Herrn 1385 und im neunten Jahr König Richards II. d i e Kinder in allen Lateinschulen d a s Französische lassen und die englische Sprache lernen Der Vorteil ist. d a ß die Kinder die Grammatik in kürzerer Zeit lernen als früher, der Nachteil, d a ß die Kinder nicht mehr Französisch können als ihre linke Ferse. Das ist fiir sie bedauerlich, wenn sie über d a s Meer fahren und in fremde (.Ander und an andere Orte kommen. Auch viele Edelleute haben s c h o n aufgehört, ihre Kinder Französisch lernen zu lassen."

Diese schlichten Schulmeister John Cornwaile und Richard Pencriche haben in ihrem eigenen Jahrhundert Chaucer und VVycliffe den Weg gebahnt, aber auch die englische Reformation und Renaissance, Shakespeare und Milton stehen auf ihren Schultern. J e n e Männer haben bewirkt, daß das geistige Leben des englischen Volkes etwas anderes wurde als ein nördlicher Zweig der französischen Kultur. So mancher

Die englische Sprache.

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wird den Wandel, den der Chronist uns hier im Einzelfall schildert, für wichtiger halten als die Magna Carta oder die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1 ). In den Jahrhunderten nach der normannischen Eroberung, während der Bildungsperiode der englischen Sprache, als die gute und gelehrte Gesellschaft noch auf sie herabsah (s. oben S. 148 f.), also im Puppenzustand zwischen der sächsischen Raupe und dem Chaucerschen Schmetterling, gab es viele örtliche Mundarten. Die wichtigsten waren die von Wessex, Northumbria, dem östlichen und westlichen Mittelengland. Zur Zeit Alfreds war das Westsächsische die Hofsprache, aber die normannische Eroberung verwies es auf ewig in die Bauernhütte und hinter den Pflug. Das heutige Englisch ist aus der Mundart des östlichen Mittelengland hervorgegangen, die in London, Oxford und Cambridge gesprochen wurde und schließlich den Sieg über alle anderen Dialekte davontrug. Chaucer schrieb in ihr und bereicherte sie dufch viele französische Wörter und Wycliffe schmolz eine Reihe von Ausdrücken aus der lateinischen Bibel hinein. Sowohl Chaucer wie Wycliffe fanden viele Nachahmer, die größtenteils in derselben Mundart schrieben. Ihre Schriften und Übersetzungen wurden eine Zeitlang handschriftlich weit verbreitet. Am Ende des 15. Jahrhunderts kam, von den Königen aus dem Hause York gefördert. Caxton mit seiner Druckerpresse nach Westminster. Nun wurde Chaucer noch volkstümlicher und verschiedene Übersetzungen, die auch jene Mundart gebrauchten, flatterten durch das Land. So entstand für alle, die lesen konnten, eine englische Gemeinsprache, die auch jenseits von Trent und Avon von allen Männern und Frauen angewendet wurde, die als gebildet gelten wollten. Im 16. Jahrhundert verwendet die Bibelübersetzung und das Gebetbuch dieselbe Mundart, die nun schon das „Englisch des Königs" heißt. Die Verbreitung und das Ansehen, die jene beiden Bücher genossen, läßt sich mit der keines anderen Werkes früherer Zeiten vergleichen und so erhielt durch sie die Sprache ihre endgültige Form. In den 200 Jahren zwischen ') Die sprachlichen Zustände um 1375 faßt William N a s s i n g t o n in f o l g e n d e n Versen zusammen: „Manche können Französisch und nicht Latein, D i e bei Gericht zu tun hatten und dort wohnten: Und manche können e t w a s Latein Und sind in Französisch sehr s c h w a c h : Und manche verstehen Rnsrlisch Und können weder Latein noch Französisch: Aber Gelehrt und Un) Man nimmt an, daß einige ihrer böhmischen Landsleute, die in ihrem Gefolge nach England kamen, auf ihrer Rückreise Abschriften der Werke Wycliffe's in ihre Heimat brachten und daß hieraus die große hussitische Bewegung des 15. Jahrhunderts hervorging.

Richard II.

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Nach der Revolution von 1399 war die Macht der beiden Häuser des Parlaments größer und fester als je zuvor. Sie hatten nicht nur einen König abgesetzt, was schon dagewesen war, als Eduard II. den Thron seinem Sohn abtreten mußte, sondern das Parlament hatte diesmal auch den Nachfolger gewählt. Das Recht des Hauses Lancaster beruhte wie das des Hauses Hannover auf Parlamentsbeschlüssen, daher mußten Macht und Vorrechte der beiden Häuser des Parlaments notwendigerweise geachtet werden. Es ist also nicht überraschend, daß die Staatstheorien des 15. und des 18. Jahrhunderts großen Nachdruck auf die gesetzlichen Grenzen der königlichen Macht legen und mit Stolz die Freiheit des englischen Untertanen im Gegensatz zur Sklaverei des Franzosen betonen. Immer wieder heben das die Zeitgenossen Hogarths, Blackstones und Burkes hervor, und ebenso rühmte es 300 Jahre früher der Oberrichter Fortescue, eine für das 15. Jahrhundeft charakteristische Juristengestalt, der sein Vaterland als das Land der Freiheit liebte. Obwohl er mit der Partei der Lancaster nach der Schlacht bei Towton in die Verbannung gehen mußte, schrieb er in der Fremde das Lob der englischen Verfassung: „Der König von England kann die Gesetze des Reiches nicht nach seiner Laune ändern oder umstürzen. Denn er regiert das Volk nicht bloß auf Grund königlicher, sondern auch auf Grund politischer (wir würden sagen; konstitutioneller) Macht." Der Geist des englischen Common Law widerspreche der Lehrmeinung des bürgerlichen oder römischen Rechtes, wie es in anderen Ländern herrsche, „daß die Laune des Fürsten Gesetz sei". Auf Grund seiner persönlichen Beobachtungen vergleicht er dann das Elend des niederen Volkes in Frankreich, das fortwährend von den Soldaten und Dienern des Königs ausgeplündert und beleidigt werde, mit dem „Königreich England, wo niemand im Haus eines anderen verweilt ohne die freundliche Erlaubnis des gütigen Wirtes", mit anderen Worten: das Haus des Engländers ist seine Burg. Man muß hervorheben, daß Fortescue das während der Rosenkriege schrieb und daß er sehr gut wußte, was im damaligen England nicht in Ordnung war. Er fand die Ursache im Mangel einer starken Regierung und führt die Übel seiner Zeit auf die richtige Quelle zurück, nämlich auf „die Gefahren, die dem König von übermächtigen Untertanen drohen". Er forderte daher eine reichere und kräftigere Monarchie, einen ärmeren und weniger mächtigen Adel und läßt in manchen Einzelheiten die Politik Heinrichs VII. ahnen. Die hohen Adeligen und die von ihnen abhängigen Edelleute, die England mit ihrem wilden Gezänk im 15. Jahrhundert nicht zur

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Von Eduard III. zu Richard IH. 1327—1485.

R u h e kommen ließen, erkannten wenigstens die Einheit des nationalen Staates an. Sie hatten nicht den Ehrgeiz, als Grundherren oder als Fürsten ganze Provinzen zu beherrschen, wie der französische Adel, den Ludwig X I . nach dem endgültigen Abzug der Engländer zum Gehorsam bringen mußte. In England dachten die verschiedenen feindlichen Königsmacher nicht daran, die königliche Macht zu zerstören oder in Stücke zu schlagen, sondern sie wollten sie bloß unter Aufsicht halten lind für sich ausnützen. Sie versuchten nicht einmal, die längst hinfällig gewordenen „Freiheiten" oder „privaten Gerichtsrechte" wiederzuerlangen, die De YVarenne so polternd gegen Eduards I. Quo-Warranto-Untersuchung geltend gemacht hatte. Der Edelmann dieser Zeit wußte sehr gut, wie er seine Wünsche vor dem königlichen Gericht durchsetzen konnte, indem er nämlich Geschworene, königliche Richter und Friedensrichter bestach oder einschüchterte. Wie oft saßen die Gesetzesbrecher an den wichtigsten Posten der Grafschaft! Die zeitgenössischen Berichte schildern uns solche Sippschaften von Landedelleuten, die jetzt den Landfrieden hüten und die Arbeitergesetze durchführen, dann wieder als Räuber, Freibeuter oder Mörder angeklagt sind, heute auf der Richterbank sitzen, morgen im Gefängnis. Während nur allzuviele Leute aus dem kleinen Adel so auf dem Land ihr Unwesen trieben, stritten ihre Schutzherren und Geldgeber untereinander um die maßgebende Stellung in der Zentralregierung als der Quelle von Macht, Ehre und Reichtum. Den Schauplatz der Kämpfe bildete der R a t des Königs, der Sitz der ausübenden Gewalt. Nach der Ansicht der Großen sollte der R a t die Mächte des Staates, mindestens aber die Macht der hohen Aristokratie widerspiegeln; er sollte eine Art ständig tagendes Parlament sein, in dem jeder große Lord seinen Sitz haben konnte, wenn er es wünschte. Der König dagegen hielt die Zusammensetzung des Rates für seine persönliche Angelegenheit und fand, daß er dazu ernennen könne, wen er wolle, und nicht nur hohe Adelige. Unter einem unfähigen König bedeutete dies eine Herrschaft von Günstlingen, unter einem klugen Herrn die Regierung geschulter und gebildeter Fachleute. Diese verschiedenen Ansichten des Königs und des Adels über den königlichen Rat führten oft zu Streitigkeiten, besonders unter Richard IL Derselbe Streitpunkt spielte in die Kämpfe Heinrichs IV. gegen die P e r c y , Mortimer und Scrope hinein (1402—1405). Allerdings handelte es sich hier auch um dynastischen Zwiespalt, der niemals ganz bereinigt wurde, und um Fragen der wal'.isischen und der nördlichen Grenze. Ob aber nun die königliche oder die aristokratische Theorie über die richtige Zusammensetzung des R a t e s die Oberhand gewann, niemals

Der königliche Rat. Wahlrechtsbeschränkung.

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konnte sie ihr Widerspiel ganz aus der Welt schaffen, denn beide Anschauungen hatten ihre festen Grundlagen in den tatsächlichen Notwendigkeiten und Machtverhältnissen. Bloß während der langen Minderjährigkeit Heinrichs VI. (1422—1437) war es nicht zu vermeiden, daß der hohe Adel den Rat völlig in seine Hand bekam. Dem erwachsenen König fehlte die Fähigkeit und der Charakter, um die Macht selbst zu übernehmen, wie dies Richard LI. unter den gleichen Umständen getan hatte. Die persönlichen Streitigkeiten der Barone untereinander um den Einfluß am Ratstisch oder im königlichen Schlafgemach dauerten weiter, bis sie schließlich das Land in die Kriege der beiden Kosen stürzten (1455). Die Schwäche des frömmelnden Heinrich gegenüber den rivalisierenden Parteien im Rate setzte sich auf dem Lande in rohe Gewalttaten der Schützlinge des hohen Adels um. Das Parlament hätte dem durch Stärkung der königlichen Macht gegenüber dem Adel abhelfen können. Aber es machte nicht einmal einen Versuch dazu. Unter Heinrich VI. erreichte das Unterhaus seine höchste Geltung im Rahmen des mittelalterlichen Staates, aber es verstand nicht, davon zum Wohle des Volkes Gebrauch zu machen. Es gab keine Reibungen zwischen Rat und Parlament, denn beide waren in den Händen derselben aristokratischen Klüngel, die nichts anderes zu tun hatten als einander gegenseitig zu bekämpfen. Bis zum Jahre 1430 wurden die Grafschaftsabgeordneten von der Gesamtheit der freien Männer gewählt. In diesem Jahre beschränkte eine Parlamentsakte dieses Recht auf diejenigen freien Pächter, die einen Ertrag von mindestens 40 Schilling jährlich erzielten, und so blieb es bis zur Reformbill von 1832. Im 15. Jahrhundert stellte natürlich das Freigut, das einen Ertrag von 40 Schilling im Jahr brachte, ein weit größeres Vermögen dar als später, nachdem der Geldwert gesunken war. Für einige Generationen bedeutete also die Einschränkung des Wahlrechts, daß fast alle Landwirte, die nicht zum kleinen Adel gehörten, dieses Recht verloren, was auch eingestandenermaßen der Zweck des Gesetzes war. Infolge der geringeren Wähleranzahl stieg im Parlament der Einfluß des hohen Adels, der das Unterhaus am Gängelbande führte. Dieses entfremdete sich dadurch den breiten Massen des Volkes, während andererseits in einer Zeit, die dazu noch nicht reif war, die Theorie der parlamentarischen Regierung bis aufs äußerste durchgeführt wurde. Da der hohe Adel das Unterhaus vor seinen Wagen spannen konnte, war er auf die Entwicklung der zweiten Kammer nicht eifersüchtig. Wir finden hier wieder im 18. Jahrhundert eine Parallele. Auf Grund eines Wahlrechtes, das immer enger wurde,

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Von Eduard HI. zu Richard HL 1327—1485.

entwickelte sich das „Haus der Gemeinen" zu einer aristokratischen Versammlung und seine Macht und sein Ansehen wurde dabei immer größer. Es war kein zufälliges Zusammentreffen, daß die letzten Engländer 1453 aus Frankreich vertrieben wurden und daß die Rosenkriege schon zwei Jahre später in den Straßen von St. Albans begannen. Mit der Rückkehr des Heeres und der Besatzungen aus Frankreich ergoß sich ein Strom von Rittern und Bogenschützen über England, die an Krieg, freies Leben und Raub gewöhnt und zu jeder Missetat fähig waren. Schien schon der entlassene und darbende Veteran gefährlich genug, so waren es die „Kompanien" in privaten Diensten noch viel mehr. Denn ihre Geldgeber hielten sie als Werkzeuge ihres politischen Ehrgeizes und ihrer Absichten auf nachbarlichen Besitz auch in der Heimat beisammen1). Der Hundertjährige Krieg brachte aber dem englischen Volke nicht erst nach seinem Ende großen Schaden. Während seiner ganzen Dauer machten sich Gesetzlosigkeit und Gewalttat auch in der Heimat breit und unter Eduard III. klagten die Parlamente über widerrechtliche Aneignung von Gütern, Entführung von Erbinnen, Friedensbrüche der Adeligen und ihrer Dienstleute als ein bisher unbekanntes und stets wachsendes Übel. Und über den Feldzügen im Ausland und ihren Folgen dürfen wir nicht die älteren und dauernderen Einflüsse übersehen, die von der schottischen und wallisischen Grenze ausgingen. Da standen die Grenzherren wie Mortimer in Wigmore, Percy in Alnwick auf ihren Burgen immer unter Waffen und hielten am alten feudalen Geist und Recht fest, während all das im fortgeschrittenen Süden und Osten bereits verschwunden war. Die Unruhen unter Heinrich IV. nahmen von Zwistigkeiten in Wales und im Norden ihren Ausgang und die Rosenkriege waren in weitem Maße Kämpfe wallisischer Grenzherren untereinander, die zugleich Angehörige des hohen englischen Adels und nahe Verwandte des Königshauses waren (vgl. oben S. 238 f.). Bei diesem Wiederaufleben der Gesetzlosigkeit in einer sonst gesitteten Gesellschaft fällt uns jetzt die Verquickung von Rechtskniffen mit militärischer Gewalt auf. Man führt Prozeß und, wenn man des trockenen Tones satt ist, macht man gelegentlich einen gewaltsamen Überfall. Zur Zeit König Stefans brauchten die barbarischen Barone noch keinerlei juristische Kenntnisse. Jetzt, unter Heinrich VI., war jeder ehrgeizige Baron und jeder Landedelmann, der seiner Familie ein ') Vgl. oben S. 255 f. über die Kompanien im Hundertjährigen Krieg; ihre Mitglieder werden nun daheim zu Gefolgsleuten von Adeligen.

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>« Volkes, die nicht Partei nahm, nur wenig, und der Kaufmann konnte wie gewöhnlich auf den Flüssen und Reitwegen seines Weges ziehen, ohne erheblich mehr als sonst von Straßenstrolchen und Flußräubern zu leiden1). Aber die unmittelbar Beteiligten litten schwer, denn die kämpfenden Adeligen behandelten den Gegner überaus grausam. Das Glücksrad drehte sich oft sehr plötzlich und das bedeutete neuerliche Beschlag') Im Mittelalter waren die Straßen wenig mehr als Saumwege, aber die Flüsse waren tiefer und besser schiffbar als heute. York, Lincoln, Doncaster und andere Binnenstädte hingen mit ihrem Handel ganz vom Wasser ab. Schon im 14. Jahrhundert verwendete London hauptsächlich Kohle als Brennstoff, die vom Tyne auf dem Seeweg zugeführt werden konnte. Die Kaufleute in den englischen Städten hatten ein lebhaftes Interesse daran, die Flüsse für ihre Barken fahrbar zu erhalten, und suchten daher Wehren und Brücken, die den Verkehr behinderten, wegzuräumen. Zum Teil aus diesem Grunde benutzte man lieber Furten und Fähren, auch wenn, was selten der Fall war, das Geld für einen Brückenbau zur Verfügung stand. Reisen zu Lande waren im Mittelalter nur zu Fuß oder zu Pferde möglich, und wer einen Fluß überschreiten wollte, mußte eine Furt durchwaten oder einen Fährmann herbeirufen.

Die Rosenkriege.

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nahmen großer Güter und reihenweise Hinrichtungen der vornehmen Führer, von den zahlreichen im Kampfe gefallenen adeligen Herren gar nicht zu reden. Durch diese Beschlagnahmen wurde der königliche Besitz immer größer, der des Adels immer kleiner und die Zahl der reichen Barone, die niemals sehr groß war, nahm stark ab. Daher wurde es dann den Tudors möglich, die „übermächtigen Untertanen" unter ihr Joch zu beugen. Die Rosenkriege waren ein starker Aderlaß, den der Adel an seinem eigenen Körper vornahm. Für die Nation war es ein Glück im Unglück, wenn man es auch nicht gleich merkte. Die Heere der Schlachten von Towton, Barnet und Tewkesbury bestanden zum Teil aus berufsmäßigen Soldtruppen, zum Teil aus Freunden und Pächtern, die rasch aufgeboten wurden. Die Unterführer zahlten Sold und führten ihre Fähnlein den York oder Lancaster zu. Die Kampfweise war dieselbe wie im eben beendeten französischen Krieg. Reiterkämpfe gab es nicht allzu häufig; die Soldaten hatten zwar Pferde, saßen aber vor der Schlacht ab. Kanonen und die neuen Handfeuerwaffen wurden manchmal verwendet, aber König unter den Waffen blieb der lange Bogen und der Schütze focht zu Fuß in einer Reihe mit dem Edelmann. Doch hatten die Schlachten einen ganz anderen Charakter als Crecy und Azincourt, denn in England gab es keinen nennenswerten Unterschied zwischen den Bogenschützen auf beiden Seiten. Und um nicht lange im Pfeilregen zu stehen, stürzte man sich so rasch wie möglich ins Handgemenge und entschied den Kampf mit Schwert und Spieß. Eduard IY. (1461—1483) aus dem Hause York, der beste Soldat dieser rohen, regellosen Feldzüge, ging aus dem mörderischen Gemetzel der Rosenkriege als Sieger hervor. Die Schlacht bei Towton in Yorkshire, geschlagen in einem die Sicht hindernden Schneegestöber, setzte ihn auf den Thron. Er war der erste Renaissancefürst Englands, Ludwig XL von Frankreich oder den beiden Heinrichen aus dem Hause Tudor zu vergleichen, aber zu träge und unbeherrscht, als daß er Machiavelli als Modell hätte dienen können. Diese Mängel kamen ihm teuer zu stehen. Der Königsmacher Warwick aus der mächtigen Familie der Neville, der Typus jener Adeligen, die damals Englands Unglück waren, hatte viel dazu getan, Eduard auf den Thron des unfähigen Frömmlers Heinrich aus dem Hause Lancaster zu bringen. Zehn Jahre später fand er, in einem Augenblick böser Laune, daß seine Dienste nicht gehührend belohnt worden seien, zerrte Heinrich aus lern Tower und machte uin wieder zum König (1471). Aber der schwelgerische Eduard zeigte rasch in den

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Von Eduard in. zu Richard IH. 1327—1485.

Schlachten von Barnet und Tewkesbury, daß er, wenn man ihn reizte, noch immer der bessere Soldat war. Während dieses Feldzuges starben Warwick, Heinrich VI. und sein Sohn und das Haus York saß fester als je auf dem Thron, von dem es nur innerer Streit und Verrat herabstoßen konnte. Die Politik Eduard IV. war ein fehlerhaftes und unvollständiges Vorspiel der künftigen Politik Heinrich Vll. Eduard hatte durchaus keine Vorliebe für „übermächtige Untertanen", am wenigsten in der Nähe des Thrones. Daher folgte sein Bruder, der „falsche, wankelmütige, meineidige Clarence", dem Königsmacher Warwick bald an das andere Ufer des Styx, wo die Schatten königlicher Prinzen und hoher Adeliger schon zahlreich versammelt waren. Da Eduard den Thron mehr mit dem Schwert als durch Parlamentsbeschluß erlangt hatte, so achtete er das Parlament weit geringer als die Lancaster und das Volk scheint ihm dies durchaus nicht übel genommen zu haben. Für das Parlament war es ein gefährlicher Augenblick. Eduard berief es selten und begann sich weniger auf die vom Unterhaus bewilligten Steuern zu verlassen als auf die sorgsam abgestuften „freiwilligen Geschenke (benevolences)", die er von einzelnen Untertanen erzwang. Ein Hauptsitz der Adelsmacht war unter Heinrich VI. der königliche Rat gewesen. Er stand daher bei Eduard IV. in geringer Gunst, bis dieser es gegen Ende seiner Regierung zweckmäßig fand, den Rat als Werkzeug der persönlichen Regierung des Königs neu zu beleben, wie dies die Tudors später in noch höherem Maße getan haben. Eduard bewegte sich weniger gerne in der Gesellschaft des hohen Adels als in der der fürstlichen Handelsherren, die nun auch politischen Einfluß gewannen. Der König brauchte Geld und liebte eine Umgebung gebildeter Männer und liebenswürdiger Frauen und verkehrte deshalb, aus politischen wie aus persönlichen Gründen, viel mit den vornehmen Bürgern Londons und ihren Gattinnen. London wuchs an Wohlstand, äußerer Schönheit und innerer geistiger Größe und wurde nun in den Augen der ganzen Welt die „Blume der Städte", während die Adeligen einander die Hälse abschnitten und die Kirche die sittliche und geistige Führung täglich mehr einbüßte. Die Schreiber in den Klöstern konnten den Bedürfnissen des Volkes nicht mehr gerecht werden und die Chroniken der Abteien waren nun weit dürftiger als einst. Dafür stellten Schreiber oder Buchhändler, ein neu entstandener Beruf, Abschriften von Büchern her, um der wachsenden Nachfrage des Publikums nach Gedichten der Schule Chaucers, nach Chroniken, Geschichtswerken und anderer Prosaliteratur nachzukommen. In dieser Hinsicht war die Niederlassung Caxtons mit seiner Druckerpresse in

Eduard IV. Richard IH.

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Westminster, die unter dem Schutz des Königs 1476 erfolgte, f ü r England vielleicht das wichtigste Ereignis des 15. Jahrhunderts. Alier mit all seiner neuartigen Regierungskunst gelang es Eduard IV. nicht, in den Grafschaften den Landfrieden durchzusetzen und die „hartnäckigen Barone und Edelleute zu bändigen". Diese große Leistung blieb der Stern! ammer Heinrichs VII. überlassen. Private Fehden, parteiische Gerichtsbarkeit, Raub von Gütern blühten auch nach Towton und Tewkesbury kaum weniger als unter Heinrich VI. Überdies begnügte sich Eduard IV. nicht damit, das Land durch Berufsbeamte aus der Geistlichkeit, dem Juristenstande, dem Bürgertum und dem niederen Adel verwalten zu lassen, sondern er machte den großen Fehler, Emporkömmlinge aus der Verwandtschaft seiner Gattin wie die Woodville und Grey in den hohen Adelsstand zu erheben. Die Mißstimmung der Reste des alten Adels gegen diese Emporkömmlinge ermöglichte es nach dem Tode Eduards (1483) seinem Bruder, dem Herzog Richard von Gloster, sich widerrechtlich den Thron anzueignen. Eduard V. war noch ein Kind, seine Mutter und ihre Verwandten beim Adel verhaßt und beim Volke wenig beliebt. Dieser innere Zwist brachte dem Hause York den Untergang. Richard war nicht als Ungeheuer zur Welt gekommen. Es liegt kein sicherer Beweis d a f ü r vor, daß er am Tode Heinrichs VI. und Clarence's mehr Schuld t r u g als die Yorksche Partei als Ganzes. Auch galt er bis zu seiner gesetzwidrigen Thronbesteigung weder als so hinterlistig wie sein Bruder Clarence noch als so blutdürstig wie sein Bruder Eduard. Aber der lockende Glanz der Krone verführte ihn: Er ermordete seine beiden ihm anvertrauten Neffen (1483) und dieses Verschwinden der Prinzen im Tower, unmittelbar nach der gewaltsamen Thronbesteigung, kostete ihn die Treue der Massen. Das englische Volk war durch die Kriege und Morde seiner herrschenden Klasse noch nicht verdorben und die Auflehnung des Volksgewissens gegen Richard war der Beginn einer bessern Zukunft. Die Thronanwärter der Familien York und Lancaster waren in den Schlachten und Hinrichtungen der letzten 25 J a h r e so gründlich ausgerottet worden, daß ein wallisischer Edelmann namens Heinrich Tudor, Earl von Richmond, als Verwandter des Hauses Lancaster einen recht berücksichtigungswerten Anspruch auf den Thron geltend machen konnte. Er war, wie dies die Führer der unterlegenen Partei in dieser wilden Zeit gewöhnlich taten, ins Ausland geflohen und hatte zuerst am Hof der Herzoge der Bretagne, dann in Frankreich gelebt. E r machte sich die Abneigung gegen den Kindermörder zunutze und

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Von Eduard III. zu Richard Ifi. 1327—1485.

landete mit einer schwachen, wenig verläßlichen Streitmacht in Milford Häven an der südwestlichen Küste seiner wallisischen Heimat. Das Volk von (Wales begeisterte sich für den Nachkommen seiner alten britischen Fürsten, der, wie Heinrich es klugerweise tat, unter dem roten Drachenbanner des alten Cadwallader marschierte. Gesänge und Weissagungen wurden laut und in wenig mehr als einer Woche konnte er im Durchzug durch dieses kriegerische Land ein kleines Heer opferbereiter Anhänger sammeln. Von ein paar französischen und englischen Abenteurern unterstützt, behauptete diese Schar am 22. August 1485 das Schlachtfeld von Bosworth gegen einen König, für den die große Masse seiner englischen Untertanen sich zu kämpfen schämte. Hier, auf der kleinen Hochfläche in der Grafschaft Leicester, zeigte das Schicksal wieder einmal seine Laune. Ein paar tausend Leute rangen Mann gegen Mann, ein paar tausend andere warteten abseits auf den Ausgang. Und jene kleine Schar genügte, um die größte aller englischen Königsfamilien auf den Thron zu bringen, die das Land durch ein Jahrhundert der einschneidendsten Wandlungen in neue gewaltige Ströme der Zukunft steuern sollte. Das hat keiner der Männer geahnt, der an diesem Tage in dem alten \Streit zwischen York und Lancaster, diesem echten Stück Mittelalter, Bogen und Spieß führte.

D R I T T E S BUCH. E n g l a n d u n t e r den T u d o r s . R e n a i s s a n c e und R e f o r m a t i o n . Die A n f ä n g e der englischen S e e m a c h t . Überschau. Das heutige Europa ist vertikal gegliedert in eine Reihe von einzelnen Staaten, die alle innerhalb ihres Gebietes volle Souveränität genießen und von denen jeder die Idee einer bestimmten Rasse oder Nation verkörpert. Das mittelalterliche Europa dagegen zeigt eine horizontale Gliederung in Stände und Körperschaften, wie Geistliche, Adelige, Hörige und Bürger, die in Klöstern, Burgen, Gutsbezirken oder Städten nach hergebrachten Gesetzen regiert werden. Das war der Rahmen und zugleich das schützende Obdach, unter dem die Kultur, die durch die Einfälle der Barbaren vernichtet worden war, wieder Wurzel faßte und zu neuer Blüte gedieh. Aber im feudalen Dorf oder gar im Kloster hatte der einzelne wenig Freiheit, sogar in den bevorrechteten Städten und Zünften war der Unternehmungsgeist zurückgedämmt und der nicht privilegierte Fremde ferngehalten. Expansion, Fortschritt und die Geltung des einzelnen waren gehemmt, solange diese starren Verbände ihren vollen Einfluß besaßen und der Zwang der mittelalterlichen Kirche über das Leben und Denken aller Menschen nicht gelockert war. Die einzige Macht, die eine so umfassende und einschneidende soziale Umwälzung bewirken konnte, war die des national geeinten Staates. Der absolute Staat beschränkte wohl die Freiheit, aber er gewährte dem einzelnen doch mehr Spielraum als die mittelalterliche Welt. Die zwei Jahrhunderte, die den selbständigen Unternehmungen eines Drake und Raleigh, dem umfassenden Geist eines Shakespeare und Bacon den Boden bereiteten, waren eine Zeit der Zersetzung und Wiedergeburt: Renaissance und Reformation wandten sich an das Gewissen und den Verstand des einzelnen und die Macht der ständischen und beruflichen Verbände wurde dem Volkswillen untergeordnet, der in Krone und Parlament verkörpert war. Die Welt des Mittelalters ist nicht durch einen Zufall untergegangen, auch nicht durch die Laune eines Königs, der seine Ehe trennen

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Die Tudors. 1485—1603.

wollte, sondern i n f o l g e tiefgehender V e r ä n d e r u n g e n im L e b e n d e s englischen Volkes, deren A n f ä n g e sich schon im 14. und 15. J a h r hundert bemerkbar machten. Die B e f r e i u n g der Hörigen, d a s W a c h s t u m L o n d o n s , d a s E m p o r k o m m e n eines gebildeten und g e i s t i g r e g s a m e n Mittelstandes, die A u s b r e i t u n g der Tuchmacherei und anderer Gewerbe außerhalb der bevorrechteten S t ä d t e , die vereinheitlichende W i r k u n g d e s Common L a w , der königlichen V e r w a l t u n g und des nationalen P a r l a m e n t s , die Annahme der englischen S p r a c h e durch die Gebildeten, d a s alles war dazu a n g e t a n , d a s kunstvolle G e b ä u d e der mittelalterlichen G e s e l l s c h a f t ins W a n k e n zu bringen. Dazu k a m noch verschied e n e s a n d e r e : D e r H u n d e r t j ä h r i g e K r i e g schuf ein nationales Selbstgefühl und bedeutete gleichzeitig den Triumph des einfachen englischen B o g e n s c h ü t z e n über den berittenen E d e l m a n n ; die neu erfundenen F e u e r w a f f e n zertrümmerten die Zwingburgen der großen Herren und die D r u c k e r p r e s s e entwand der Geistlichkeit ihr B i l d u n g s m o n o p o l ; die F o r s c h u n g e n der Humanisten setzten die Religion in ein neues L i c h t , indem sie die heiligen Schriften einer wissenschaftlichen K r i t i k u n t e r w a r f e n , und entdeckten dabei gleichzeitig im antiken Griechenland und R o m Ideale, die der mittelalterlichen Christenheit unb e k a n n t waren; der S e e w e g nach Indien wurde g e f u n d e n und die E n t d e c k u n g A m e r i k a s r ü c k t e eine neue Welt in den geistigen Gesichtskreis der Menschen. Zur selben Zeit entstanden in W e s t e u r o p a die N a t i o n a l s t a a t e n F r a n k r e i c h , S p a n i e n und P o r t u g a l , in denen die Macht mehr und mehr in der Hand d e s K ö n i g s vereinigt wurde. Aber während die neue Monarchie in Frankreich und Spanien mit der alten Kirche verbunden war, stand sie in E n g l a n d im B u n d e mit dem alten Parlament. In F r a n k r e i c h und Spanien erhielt sich die mittelalterliche Religion, a b e r die mittelalterlichen P a r l a m e n t e verfielen und die E i n f ü h r u n g d e s Recht e s der römischen K a i s e r lieferte die G r u n d l a g e f ü r die a b s o l u t e Macht d e s F ü r s t e n . In E n g l a n d war es u m g e k e h r t : Die Religion d e s Mittelalters g i n g unter, a b e r d a s P a r l a m e n t , d a s heimische Gemeine Recht und der v e r f a s s u n g s m ä ß i g e C h a r a k t e r d e s K ö n i g t u m s blieben bestehen. Der Unterschied zwischen E n g l a n d und dem F e s t l a n d , insbesondere d e m romanischen E u r o p a , den die normannische E r o b e r u n g verwischt hatte, w u r d e durch diese e n t g e g e n g e s e t z t e E n t w i c k l u n g zu beiden Seiten d e s K a n a l s wieder v e r s c h ä r f t . Englische und französische Kultur, die m a n seinerzeit k a u m zu trennen vermochte, wurden nun nicht nur unabh ä n g i g voneinander, sondern sie stießen einander g e r a d e z u ab. T r o t z der großen sozialen V e r ä n d e r u n g e n , die sich zur Zeit der T u d o r s in E n g l a n d vollzogen, blieb vieles Alte sowohl der F o r m wie

Wandlungen.

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dem Geiste nach erhalten. Die meisten Stände, Körperschaften und Einrichtungen, die die Träger des mittelalterlichen Lebens gewesen waren, durften weiter bestehen, aber nur unter der Bedingung, daß sie sich der Oberhoheit des Staates fügten. Es gab nach wie vor Universitäten, Adelige, Rechtsgelehrte, Bischöfe, Weltgeistliche und Stadtgemeinden mit ihren überlieferten Formen. Andere Einrichtungen dagegen, wie die internationalen Mönchs- und Ritterorden, konnten der neuen, von nationalen Gesichtspunkten bestimmten Ordnung nicht eingegliedert werden und wurden vom Staat rücksichtslos vernichtet. Asylrecht, Immunität der Geistlichkeit und andere Vorrechte wurden beschränkt oder abgeschafft, weil sie die Durchführung der allgemeinen Gesetze hinderten. Adelige und Gemeine, Geistliche und Laien wurden vor dem Gesetz des Landes gleich. Die Klasse der Leibeigenen, die von diesen Rechten ausgeschlossen waren, verschwand, und die Zeit, da der Edelmann durch seine Vasallen die Geltung der königlichen Gerichte eingeschränkt hatte, war vorbei. Die geistlichen Gerichte behielten zwar noch eine gewisse Macht über die Laien, aber sie übten diese nicht mehr auf Grund der Autorität des Papstes, sondern der Krone, ühervölkische Einrichtungen wie die feudale Ordnung und die katholische Kirche verschwanden mit dem Aufstieg des nationalen Staates, dem eine nationale Kirche zur Seite stand. Die „Freiheiten" des mittelalterlichen Adels und Klerus, die Hoheitsrechte, die einzelne oder Verbände besaßen, lebten wohl weiter, aber als Freiheiten des gewöhnlichen englischen Untertanen, der durch die Macht des Staates geschützt war. Auch die Regelung des Handels, die bisher Sache der einzelnen bevorrechteten Städte oder Gilden gewesen war, nahm nun der Staat in die Hand. Wie wir bereits gesehen haben (S. 267), bemühten sich schon die Parlamente der Plantagenets, Löhne und Preise durch ihre ArbeiWgesetze (Statutes of Labourers) zu bestimmen, die von den Friedensrichtern durchgeführt werden sollten. In der Zeit der Tudors wurde diese staatliche Überwachung der Wirtschaft weiter ausgebaut. So überließ man das Lehrlingswesen nicht mehr den örtlichen Zünften, sondern das Parlament beschloß unter Königin Elisabeth ein Gesetz über die Handwerker (Statute of Artificers). Die Armenfürsorge, früher Sache der Klöster, Zünfte und der privaten Wohltätigkeit, wurde nun vom Staat übernommen, als eine Pflicht, die auf der Gesellschaft als Ganzem lastete. Die wichtigsten Organe dieser gesetzlichen Aufsicht über das wirtschaftliche, politische und rechtliche Leben waren die unbezahlten Friedensrichter, die vom König ernannt wurden und das Bindeglied zwischen den Wünschen der Zentralregie-

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rung und den Tatsachen der örtlichen Verwaltung bildeten. Als Diener des Staates versahen sie weitgehend dieselben Funktionen, die früher die Feudalherren kraft ihrer persönlichen Rechte ausgeübt hatten. Als schließlich die Krone durch das Parlament eine Reihe von tiefgreifenden Veränderungen im kirchlichen und religiösen Leben durchführen konnte, war es über jeden Zweifel erhaben, daß der Staat nun unbeschränkte Hoheitsre-hte erlangt hatte. Das Mittelalter hätte eine solche radikale Gesetzgebung als unrechtmäßig empfunden, da sie weit über den gesetzlichen und moralischen Geltungsbereich irgendeiner Macht des damaligen England hinausging. Aber in der Zeit der Tudors zeigte die Nation ihre neu gewonnene Kraft dadurch, daß sie alle fremden Einflüsse ausschaltete, alle örtlichen Vorrechte unterdrückte und so das Recht in Anspruch nahm, innerhalb ihrer Grenzen zu tun, was sie wollte. Diese neuen Forderungen nach vollkommener Unabhängigkeit der Nation und Allmacht des Staates fanden ihre Verkörperung in der Person des Fürsten und daraus entstand die Fürstenverehrung des 16. Jahrhunderts. Die absolute Macht des neuen Staates konnte in dieser Zeit nur vom König ausgeübt werden. Das Parlament, halb Debattierklub und halb Gerichtshof, hatte weder die Kraft noch den Ehrgeiz, ihm diese Macht streitig zu machen. Es war eine der größten Leistungen der Tudors und ihres Geheimen Rates, das Parlament in Westminster und die Friedensrichter auf dem flachen Lande die Kunst einer wirklichen Regierung zu lehren, die im vergangenen Jahrhundert so sehr vernachlässigt worden war. Das Parlament war bereit, Schüler und Diener des Königtums zu sein, wie ein Lehrling, der seine Zeit abdient, um später der Teilhaber und Erbe des Meisters zu werden. Auch die eigenartigen religiösen Verhältnisse dieser Übergangszeit waren der aufsteigenden Macht des Königtums günstig. Dadurch, daß Heinrich VIII. sich an die Spitze der antiklerikalen Revolution stellte, die der überragenden Stellung der mittelalterlichen Kirche ein Ende machte, wurde er nicht nur der Erbe eines großen Teiles dieser Macht, sondern er begründete dabei auch die Verbindung der neuen Monarchie mit den stärksten Kräften der kommenden Zeit, mit London, den Mittelklassen, den Seefahrern, den protestantischen Predigern und den Landedelleuten, die durch die Güter der Klöster bestochen und gestärkt worden waren. Ihrer vereinten Kraft mußten die alten Mächte weichen, die Mönche und Priester, die Reste des hohen und niederen Feudaladels im Norden und ebenso der im Volk tief eingewurzelte Katholizismus, der in den entlegenen Landesteilen noch

Kirchliche und religiöse Fragen.

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sehr stark war. Zuerst verhielten sich die Weltgeistlichen abwartend und neutral. Aber im Laufe der langen Regierung Elisabeths wurden die Pfarrer und Schullehrer nach und nach die wichtigsten Träger der protestantischen Werbung und Lehre. Als Heinrich VIII. den entscheidenden Schlag gegen die katholische Kirche führte, war der Glaubenseifer ihrer Anhänger ohnedies auf einem Tiefstand angelangt, von dem er sich auch nicht erhob, als Heinrichs Tochter, die katholische Maria, die Gelegenheit hiezu bot. Erst unter der jesuitischen Leitung gewann der Katholizismus zur Zeit Elisabeths wieder an Kraft. Diese Neubelebung kam eine Generation zu spät, um Erfolg haben zu können. Und außerdem reizte schon ihre Herkunft das erstarkende Nationalgefühl der Engländer. Denn der gemeine Mann setzte katholisch gleich jesuitisch und jesuitisch gleich spanisch. Schließlich wurde dieser religiöse Streit noch mit dem Kampf unserer Seeleute um die Freiheit der Meere und der Welt jenseits des Ozeans verquickt, die der Papst mit einem Federstrich zwischen Spanien und Portugal geteilt hatte. Die neuen Ziele in England werden deutlich in der königlichen Flotte der Tudors, bei Drake und seinen Kapitänen, in den Londoner Handelsgesellschaften und schließlich in Walter Raleighs prophetischer Vision eines Kolonialreichs; sie alle stellten sich gegen die alte Religion und hißten die Flagge der neuen Monarchie. Während der ganzen Tudorzeit litt der katholische Glaubenseifer unter der Schwäche des Alters und der protestantische unter der Schwäche der Unreife. Keine der beiden Parteien fühlte sich stark genug, der Krone Trotz zu bieten, wie es damals Katholiken und Protestanten in Frankreich und Schottland und später die Puritaner in England taten. Daher kairf es, daß sich Laien und Geistliche in die verwirrenden religiösen Veränderungen, die jeder neue König aus diesem Hause vornahm, ebenso fügten, wie man sich heute in einen Regierungswechsel schickt. Der einzige erfolgreiche Kampf gegen den Glaubenszwang der Tudors war der passive Widerstand der 300 protestantischen Märtyrer, die Königin Maria verbrennen ließ, und auch dieser war nur erfolgreich, weil er passiv war. Der protestantische Aufstand Wyatts brach ebenso hoffnungslos zusammen wie die katholische Pilgerfahrt der Gnade oder der Aufstand der Earls. Es war nicht eine Zeit religiösen Eifers in England, wie die Beckets oder Cromwells, und trotzdem wurde gerade damals die größte aller Glaubensfragen entschieden. Es war der richtige Augenblick für den erastianisehen Fürsten, der nun die' Stelle des Papstes einnahm und bereit war, mit Hilfe seines Parlamentes den Glauben aller seiner Untertanen zu bestimmen, deren Hauptmasse

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Die Tudors. 1485—1603.

sich dies ja sehnlich wünschte. Solange die Menschheit in dem mittelalterlichen Irrtum verharrte, daß nur eine Religion geduldet werden dürfe, solange war der erastianische Staat, die Staatskirche, der einzige Ausweg aus der Herrschaft der Geistlichen über die Gesellschaft. Und aus dem Kampf zwischen der Staatskirche und den verschiedenen begeisterten Sekten erwuchs langsam die Gewissensfreiheit. Erst gegen Ende der Regierung Elisabeths treten Anzeichen d a f ü r auf, daß das Haus der Gemeinen eines Tages genug politische Macht und eine so tiefe religiöse Überzeugung haben könnte, um der Krone die Aufsicht über die geistlichen Angelegenheiten streitig machen zu können. Der Kampf, der sich daraus ergeben mußte, sollte dem Gewissen des einzelnen zu seinem Recht verhelfen. Wie wir heute wissen, hat der Staat den Gewissenszwang der alten Kirche nur zeitweilig aufrechterhalten; obwohl sein Recht dazu vorerst kaum angefochten wurde, mußte der Zwang doch schließlich unter den beständigen Angriffen des individuellen Gewissens zusammenbrechen. Die Tudors lenkten die nach außen gerichteten Kräfte des englischen Volkes in neue Bahnen. Der Versuch, Frankreich zu erobern, wurde ernstlich nicht wieder aufgenommen. Das kleine England, das nur zwischen 4 und 5 Millionen Einwohner hatte, wurde in Europa durch die Stärke der neuen spanischen und französischen Monarchie in die Verteidigung gedrängt. Die Diplomatenschule von Kardinal Wolsey bis auf Lord Burleigh sah im „europäischen Gleichgewicht" die einzige Sicherung gegenüber den großen Festlandsstaaten. Dies mag eine der Ursachen d a f ü r sein, daß gerade Heinrich VIII. die erste wirklich brauchbare königliche Flotte schuf. Das keltische Wales und das ewig unruhige wallisische Grenzland wurden zur Ordnung gebracht und auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit England verbunden. Das war der erste Erfolg des neuen englischen Imperialismus, der wohl auf Heinrichs ererbte Kenntnis der wallisischen Angelegenheiten zurückzuführen ist. Dagegen verdarb er es sich mit Schottland, aber schon unter Königin Elisabeth wurde auch die spätere Vereinigung der beiden Königreiche vorbereitet: Schottland löste die alte Verbindung mit Frankreich und schloß sich auf der Basis gemeinsamer protestantischer Interessen eng an den südlichen Nachbarn an. Die Umrisse des künftigen Großbritannien, der ketzerischen Seemacht in der Flanke der großen despotischen Festlandsstaaten, waren schon klar erkennbar. Zugleich wurde auch die Eroberung Irlands, die England 400 Jahre lang vernachlässigt hatte, ernstlich in Angriff genommen, zu spät für das Glück beider Beteiligten.

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Schiffahrt.

Und gerade zu der Zeit, als die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen den Menschen aller Gesellschaftsschichten die Freiheit gaben, zu wandern und in der Ferne ihr Glück zu versuchen, da wurden den Abenteuerlustigen, gleichgültig ob sie Habsucht oder Mut trieb, die neuen Seewege geöffnet. Hier konnte der rastlose Geist des Volkes eine bessere Betätigung finden als in den Tagen von Azincourt oder gar von Towton und Barnet. Die Nachkommen der Bogenschützen und der beutegierigen Vasallen füllten die Verdecke der Freibeuter, die nach dem spanischen Südamerika fuhren, und sie bildeten die Bemannung der Kauffahrteischiffe, die mit Moskau, der Levante und dem ferneren Osten Handel trieben. England lag nun nicht mehr am äußersten Ende der Welt; in der veränderten „mappa mundi", die jedes Jahr neue Eintragungen aufwies, rückte es von Jahr zu Jahr mehr in den strategischen Mittelpunkt der Erde. Und als die Armada an den Klippen zerschellte, da wurde die ganze Erde der große Schauplatz des englischen Schicksals. Die Lust am Abenteuer in unbetretenen Gefilden der Welt und des Geistes erfüllte das junge Geschlecht, das hinauszog, um in Freiheit zu Wasser und zu Lande, in Wissenschaft und Dichtkunst neue Welten zu erschließen. In diesem verheißungsvollen Augenblick erreichte die englische Sprache ihre höchste Vollendung an Kraft und Schönheit, und jetzt lebte Shakespeare, sie zu gebrauchen.

I. Heinrich VII. Der Regierungsapparat der Tudors. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Tuchmacherei, Armengesetze und Landwirtschaft. Könige: Heinrich VH., 1485—1509; Heinrich VIII., 1509—1547.

Shakespeare hat wohl daran getan, die Regierung Heinrichs VII. in der Folge seiner Königsdramen auszulassen. Denn nachdem er einmal Richmond, den offenherzigen jungen Helden der Schlacht bei Bosworth, gezeichnet hatte, der fröhlich mit seinem Leben spielte und die kleine Schar seiner Getreuen mit dem echten Feuer des Märchenprinzen ansprach, hätte er kaum dieses Bild mit dem vereinen können, das sich die Nachwelt von Heinrichs Charakter machen muß. Denn als König war er ein Gegenstück zu Ludwig XI. von Frankreich, vorsichtig und sparsam bis hart an die Grenze des Erlaubten, ein schweigsamer, genauer Beobachter, der sein Herz keinem Mann und keiner Frau öffnete. Beide bilder vou Heinrich VII. sind in gewissem Maße richtig, jedes zu seiner Zeil, flenn das Leben ist lang und „ein Mann spielt viele Rollen während diesei ganzen Zeit", besonders, wenn Trevelyan, England

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Heinrich VII. und Heinrich VÜI. 1485—1547.

er ein begabter Mensch ist, der für den Wechsel der Dinge ein offenes Auge hat. Nach Bosworth wollte England keine heroischen Abenteuer mehr, sondern Frieden, Sparsamkeit und vor allem Ordnung. Indem Heinrich die festen staatlichen Einrichtungen schuf, die die Erfüllung dieser nüchternen Ideale sichern sollten, gab er England die Fähigkeit, die großen Möglichkeiten auszunützen, die ihm ein kommendes Zeitalter bieten sollte. Das Königtum der Tudors stieg aus kleinen Anfängen zu einer glänzenden Stellung unter Königin Elisabeth empor. Sie selbst stellte nie in Abrede, daß ihr Ruhm auf der Kleinarbeit ihres schlauen, geduldigen Großvaters begründet war, dem sie in vieler Hinsicht ähnelte. Auch sie liebte zweideutige Handlungen, Vorsicht und Sparsamkeit als Mittel und eine klare, zäh festgehaltene Absicht als Ziel. Sie beide hatten in einer traurigen Jugend die Schlechtigkeit und die Gefahren der Welt kennengelernt und waren so, ehe sie auf den Thron kamen, zu größter Selbstbeherrschung erzogen worden. Und ebenso wie Elisabeths zweiter Name und ihre andere Natur die der „Gloriana" und der „guten Königin Bess" waren, so hatte es seinerzeit auch Heinrich verstanden, durch persönlichen Mut in dem heldenhaften Feldzug von Bosworth die Liebe seines Volkes zu gewinnen. Ebenso wie seine Enkelin bestieg auch Heinrich VII. einen Thron, der vom In- und Auslande her mit List und Gewalt angegriffen wurde. Aber während Elisabeths Schwierigkeiten größtenteils aus dem religiösen Zwiespalt ihrer Untertanen entsprangen, waren die Heinrichs in den sozialen Verhältnissen des Landes begründet. Gesetzlosigkeit herrschte bei Hoch und Niedrig. „Es gibt kein Land auf der Welt", schrieb der venetianische Gesandte an seine Regierung, „ w o es so viele Diebe und Räuber gibt wie in England. Das geht so weit, daß es nur wenige wagen, allein auf das flache Land hinauszugehen, es sei denn mitten am Tage, und daß sie sich noch weniger bei Nacht in den Städten auf die Straße trauen, am wenigsten in London." Trotzdem schienen die Engländer, insbesondere die Kaufleute und Geistlichen, diesen Bevollmächtigten von Carpaccios Venedig reicher zu sein als irgendein anderes Volk Europas und die feinsten Kleider der Welt zu tragen 1 ). Räuberbanden wie die Robin Hoods mit maskierten oder rußgeschwärzten Gesichtern erlegten das Wild in den königlichen Forsten und den adeligen Wildparken und niemand konnte ihnen wehren. In den meisten Herrenhäusern und Schlössern spitzten die Gefolgsleute an den langen ' ) Ein anderer Italiener, Polidoro Vergilio, hatte einen ähnlichen Eindruck vom Reichtum des damaligen England und dem blühenden Wohlstand seiner Fleisch essenden Bauernschaft.

Unsichere Zustände.

307 Tischen in der Halle die Ohren, wenn sie ihren Herrn auf dem Hochsitz mit seinen Gästen über die Möglichkeit neuer Thronwirren sprechen hörten, aber vorläufig begnügten sie sich damit, hie und da die Leute eines Nachbarn durchzuprügeln und seine Speicher auszurauben oder bei einem Kloster, mit dessen Dienern sie Streit gehabt hatten, das Vieh wegzutreiben und das Tor anzuzünden. Die Immunität der Geistlichen und das Asylrecht behinderten die Durchführung des Rechts in jeder Grafschaft gar sehr und die Geschworenen konnten noch leicht eingeschüchtert oder bestochen werden. In enger Verbindung mit dieser schon zur Gewohnheit gewordenen Unordnung stand die dynastische Frage, die noch keineswegs gelöst war. Erst 15 Jahre nach der Schlacht bei Bosworth war es klar, daß mit ihr die Rosenkriege beendet seien. Die Heirat, die Heinrich mit der Erbin des Hauses York einging, stärkte seinen Anspruch auf den Thron insofern, als sich das Volk von der Verbindung der beiden Rosen endlich eine Versöhnung und den Frieden erhoffte. Aber diese Ehe gab ihm keineswegs einen unbestreitbaren Erbanspruch. Mehrere Personen, die noch am Leben waren, konnten ihrer Abkunft nach auf begründetere Rechte hinweisen. Die Ansprüche der Tudors ruhten auf dem Willen des Volkes und auf dem tatsächlichen Besitz des Thrones und nicht auf göttlichem Erbrecht, das erst später von den Stuarts und ihren Parteigängern erfunden wurde. Die Adeligen und Herren, die auf eine Wiederkehr des Hauses York bauten, wurden durch Heinrichs Heirat nicht zufriedengestellt. Sie blieben im Norden kühn und zuversichtlich, ähnlich wie später die Jakobiten. In Irland hatten sie sogar eine Zeitlang die Oberhand (s. oben S. 231). Es war wohl ein Glück für Heinrich, daß sie sich zweimal mit Betrügern wie Lambert Simnel und Perkin Warbeck verbanden, aber die Schwierigkeiten, die diese traurigen Gesellen jahrelang verursachen konnten, sind ein Beweis dafür, wie wenig das Gefühl der Treue noch im Volke verwurzelt und wie schwach der Arm des Staates war, als die Herrschaft der Tudors begann. Außer der Leibwache, die aus den sogenannten „Fleischessern" bestand, gab es kein stehendes Heer. Nur der Umstand, daß sich die kleinen Edelleute, die freien Bauern und die Bürger um den König scharten, machte es ihm möglich, 1487 bei Stoke das Heer der irischen Abenteurer und der deutschen Söldner zu besiegen, die eben Lambert Simnel im Triumph als Eduard VI. durch Nordengland führten. Mit denselben Kräften umzingelte er 1497 bei Blackheath die Bauern aus Cornwall, die ungehindert bis knapp vor London gezogen waren, um gegen die Steuern zu protestieren. Hie und da wurden für einen 20»

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Feldzug in Schottland oder anderswo kleine Trupps fremder Söldner angeworben, aber es war nicht genug Geld vorhanden, um sie als eine ständige Streitmacht unter Waffen zu halten. Weder Heinrich VII. noch einer seiner Nachfolger aus dem Hause Tudor schuf ein stehendes Heer. Sie hatten auch keine zentral organisierte und besoldete Beamtenschaft zur Verwaltung des flachen Landes. Die Politik der Tudors war in diesem Punkte wesentlich verschieden von der der absoluten Herrscher auf dem Festland. Heinrich und seine Nachkommen blieben bei den alten Einrichtungen wie Kronrat (King's Council), Parlament, Common Law, den Friedensrichtern und Geschworenenkollegien, aber sie flößten ihnen neue Kraft ein, so daß jene nicht mehr Fesseln, sondern Werkzeuge der Königsmacht waren. Das englische Volk lernte so den Gehorsam gegen das Gesetz, der für jede höhere Gesellschaftsform unerläßlich ist, ohne daß dabei die alten Freiheiten verlorengingen oder der gleichmäßige Fluß des nationalen Lebens jäh unterbrochen wurde. Der venetianische Gesandte sagte darüber: „Jedem Engländer wäre es, als würde man ihm das Leben nehmen, wenn der König daran gehen wollte, ein überkommenes Gesetz zu verändern", und er wunderte sich nicht wenig darüber, wie denn Heinrich VII. imstande gewesen sei, Ordnung zu schaffen. Der Italiener konnte sich nicht vorstellen, wie das anders als durch tyrannischen Absolutismus möglich sein könne. Aber tatsächlich fand sich ein anderer Weg, denn die Tudors kannten das Volk, das sie regierten. Im Mittelpunkt dieser neuen Verfassung in alten Formen stand der Kronrat. Unter der Herrschaft des Hauses Lancaster war dieser noch mehr als das Parlament ein Tummelplatz der Adelsparteien geworden'). Schon der Umstand, daß hohe Adelige als Mitglieder an den Sitzungen des Rates teilnahmen, läßt erkennen, daß der Staat gegen sie machtlos war. Heinrich VII. und Heinrich VIII. schlössen nun nach und nach aus dem Geheimen Rat alle Adeligen aus, die nicht das besondere Vertrauen des Königs genossen, ein Werk, das schon die Könige aus dem Hause York begonnen hatten. Diese Ausschaltung des Adels blieb der oberste Leitsatz der Tudorschen Staatskunst. Unter den sechzehn Regenten, die nach Heinrichs VIII. Testament für seinen minderjährigen Sohn die Regierung führen sollten, war nicht ein einziger Peer, dessen Adel älter als zwölf Jahre war. Der Rat, der für Heinrich VI. geherrscht hatte, war ganz anders zu') Während der Regierung Heinrichs VII. wird der Ausdruck Privy Council (Geheimer Rat) für eine kleinere Körperschaft innerhalb des Kronrats üblich, die sich mit den vertraulicheren, besonders den politischen Angelegenheiten befaßte.

Der geheime Rat.

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sammengesetzt gewesen. D e r Adel war teilweise selbst schuld an dieser Veränderung: Im ersten Parlament der Königin Elisabeth wurde die Erklärung abgegeben, daß „ d i e mangelhafte Erziehung and geringe Bildung des Adels den Herrscher zwinge, neue Männer heranzuziehen, die es verstünden, ihm zu d i e n e n " ; und "während der Regierung Eduards V I . erklärte Latimer, daß „ A d e l i g e bloß deshalb nicht zu Vorsitzenden des obersten Gerichts (Lords Presidents) gemacht würden, weil sie keine gelehrte Erziehung genossen hätten". Unter dem ersten Tudor waren die wichtigsten Mitglieder des Geheimen Rates ( P r i v y Council) Rechtsgelehrle wie Empson und Dudley oder Geistliche aus den mittleren Stufen der Hierarchie, die in erster Linie Beamte waren, wie Morton und Fox. Sie waren Kreaturen Heinrichs V I I . und er schätzte sie wegen der Geschicklichkeit, die sie zeigten, wenn es galt, die Kassen des Königs, mit welchen Mitteln immer, zu füllen 1 ). Nach der Reformation traten die Geistlichen im Rat und in der Beamtenschaft in den Hintergrund, die Rechtsgelehrten blieben. Mitglieder des Geheimen Rates wurden Männer wie Burleigh, Walsingham, Bacon, die sich zwar unter die Landedelleute zählten, aber auch enge Beziehungen zu den Handelskreisen hatten. Diese Leute machten nun bei Hof ihr Glück, nachdem sie sieb an den Universitäten, durch Reisen und durch juristische Studien für jede diplomatische und politische T ä t i g k e i t vorbereitet hatten. Königin Elisabeth hatte ihre großen E r f o l g e vielfach solchen Männern zu danken, die wohl gebildeter waren und unabhängiger dachten als die Räte Heinrichs V I I . , aber der K r o n e ebenso unbedingt ergeben waren. In der Ausführung der Politik, die ihm die Herrscher vorschrieben, entfaltete der Geheime Rat eine rege gesetzgeberische T ä t i g k e i t . Sie zeigt sich teilweise in Verordnungen und Erlassen, deren Ansehen und Geltungsbereich vom Parlament noch kaum angefochten wurde, teilweise aber auch in Gesetzentwürfen, die die Mitglieder des Rates dem Parlament selbst vorlegten. Denn dieses wurde, besonders, nachdem Heinrich V I I I . mit W o l s e y gebrochen und sich der Reformation zu' ) Baco schreibt in seinem „Heinrich V l l . " : „Mau erzählt von eiiior v e r f ä n g lichen Frage, die Bischof Morton den Leuten stellte, um die f r e i w i l l i g e ' Steuer in die Höhe zu schrauben: man nannte es seine ,Gabel' odei seinen ,Ilaken'. Er hatte Dämlich in die Anweisungen für den Steuereinnehmer, der die f r e i w i l l i g e ' Steuer einheben sollte, folgenden Absatz hineingebracht: wenn sie es mit einein Menschen zu tun hätten, der sparsam sei, dann sollten sie ihm sagen, er uiusse doch etwas haben, denn er lege doch Geld zurück; wenn es aber Leute wären, die /iei Geld ausgäben, dann müßten sie doch etwas nahen, das erkenne mah schon an ihrer Lebensweise." Empson und Dudley, die gelehrte Juristen und Mitglieder des Geheimen Rates waren, verkehrten das Recht in offenkundigen Raub.

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gewendet hatte, ein wesentlicher Bestandteil seines Regierungssystems. Die Regierung Heinrichs VII. und die ersten Jahre seines Sohnes waren keine große Zeit des Parlaments; die beiden Häuser wurden nur hie und da einberufen, die Öffentlichkeit nahm wenig Anteil an ihren Verhandlungen und man empfand es nicht als ein Unrecht, wenn sie für fünf und mehr Jahre nach Hause geschickt wurden. Wenn das Parlament zusammentreten sollte, gab es keinerlei Wahlkampf und die Abgeordneten leisteten keinen Widerstand, wenn Heinrich V n . von den Reichen unbewilligte „freiwillige" Steuern eintrieb. Diese Gleichgültigkeit verschwand, als das Parlament unter den späteren Tudors an Bedeutung gewann, zumal ihm in den fortwährenden religiösen Veränderungen eine wichtige Rolle zufiel. Mitglieder des Geheimen Rates hatten nun ihre Sitze im Unterhaus und leiteten die Verhandlungen ähnlich, wie es heute die Ministerbank tut, mit dem einen Unterschied, daß die Macht der Räte nicht vom Parlament, sondern von der Krone abhing, deren Wünsche sie den anderen Abgeordneten zu übermitteln hatten. Durch diese Führung wurde das Unterhaus dazu erzogen, die wirklichen Aufgaben einer Regierung zu erkennen und an die große Politik in der richtigen Weise heranzutreten. Den Parlamenten anderer Staaten hat diese Zwischenzeit, in der das Parlament gewissermaßen unter Vormundschaft stand, gefehlt: die Volksvertretung bekam dort plötzlich die ganze Macht in die Hand, es fehlten aber die Fähigkeiten, die für die Leitung eines Staates unerläßlich sind. Der Rat entwickelte unter den Tudors nicht nur eine erhöhte gesetzgeberische Tätigkeit in Erlässen und vom Parlament beschlossenen Gesetzen, sondern er erneuerte auch seine alte richterliche Gewalt, die nun öfter und mit größerem Ansehen ausgeübt wurde. Zu diesem Zweck wurde aus Mitgliedern des Rates ein Ausschuß geschaffen, die sogenannte „Sternkammer", der einige der bedeutendsten Räte angehörten. Damit war ein Gerichtshof geschaffen, den kein Untertan einschüchtern konnte, und der, da er die Schwachen gegen die Starken schützte, in hohem Maße volkstümlich war. Mit seiner Hilfe gelang es schließlich Heinrich VII., eingerissene rechtswidrige Gewohnheiten wie öffentliche Ruhestörung, das Halten von Gefolgsleuten, die unbefugte Einmischung in Prozesse zu unterdrücken. Noch zu Shakespeares Zeit wurde die Sternkammer zu ähnlichen Dingen gebraucht, wie das folgende Zwiegespräch in den „Lustigen Weibern von Windsor" bezeugt: Schaal: Das qualifiziert Bich für die Sternenkammer, und wenn er zwanzigmal Sir John Falstaff wäre, so soll er nicht zum Narren haben Robert Schaal,

Neue königliche Gerichtshöfe.

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Esquire Der hohe Gerichtshof soll davon hören; 's ist ein Skandal!... Ritter, Ihr habt meine Leute geprügelt, mein Wild erlegt und mein Jagdhaus erbrochen! FalstaS: Aber doch Eures Försters Tochter nicht geküßt. Schaal: Ei was da! Darauf sollt Ihr mir Antwort geben Der Hof soll's erfahren.

Die gesunde Furcht, die die Sternkammer den Leuten einflößte, verschaffte auch den ordentlichen Gerichtshöfen wieder ihre Unabhängigkeit und sie ließen sich nun nicht mehr durch dunkle örtliche Gewalten einschüchtern. Die Geschworenen fürchteten sich nun weniger davor, einen mächtigen Nachbarn zu verurteilen, als von der- Sternkammer für ein Urteil zur Verantwortung gezogen zu werden, das mit dem Tatbestand oder mit den Wünschen der Krone nicht in Einklang stand. Die richterlichen Befugnisse des Kronrats fanden ihren Ausdruck auch in den besonderen königlichen Gerichten, die in Verbindung mit den Räten für Wales und den Norden geschaffen wurden. In diesen Grenzgebieten, wo die feudalen und kriegerischen Traditionen noch weit lebendiger waren, wären die gewöhnlichen Gerichte des Common Law ohne die königliche Unterstützung zum Gespött geworden1). Unter Heinrich VII. entwickelte sich die Gerichtsbarkeit der besonderen, vom König eingesetzten Gerichte und der ordentlichen Gerichtshöfe des Gemeinen Rechts harmonisch nebeneinander: beide standen unter dem Schutz des Königs. Aber gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstand ein scharfer Gegensatz zwischen den ordentlichen Gerichten, die das Common Law anwendeten, und den besonderen königlichen Gerichtshöfen, die vom Kronrat eingesetzt waren und darnach strebten, das römische bürgerliche Recht einzuführen, das sich die Gelehrten der Renaissance zu eigen gemacht hatten. Um diese Zeit bestanden schon viele königliche Gerichte, die eine rege Tätigkeit entfalteten. Außer der Sternkammer gab es das Exekutionsgericht für kleinere Beträge (Court of Requests), das Gericht für Admiralitätssachen ''Court of Admiralty), die Räte für Wales und den Norden und das geistliche Obergericht der Hohen Kommission (Court of High Commission), ein Produkt der vom König ausgehenden Reformation. Alle diese Gerichte räumten den königlichen Beamten eine bevorzugte Stellung gegenüber den anderen Untertanen ein, wie es der Zweig des festländischen Rechts verlangte, der in Frankreich als „droit administratif" (Verwaltungsgerichtsbarkeit) bekannt ist. Manche dieser besonderen Gerichte urteilten nach dem ex officio-Eid, durch den der An') S. unten S. 403—406 über die Ordnung der wallisischen Angelegenheiten durch die Tudors.

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geklagte gezwungen wurde, unter Eid gegen sich selbst auszusagen. Es kam sogar vor, daß der Staatsrat die im Tower aufbewahrte Streckfolter anwendete, obwohl das englische Recht die Anwendung der Folter verbot. Der Kampf zwischen dem Common Law und diesen seinen Rivalen, den Coke während der Regierung J a k o b I. in aller Schärfe einleitete, spielt im Ringen des Parlaments mit den Stuarts eine große Rolle. Das J a h r 1641 entschied den Sieg des Common Law und die glorreiche Revolution (1688) bestätigte ihn. Für die Freiheit der Untertanen war es ein Segen, daß das englische Recht künftighin nicht in der Hand der abhängigen Gerichte liegen sollte, aber in den Tagen der Tudors waren diese volkstümlich und notwendig. Im 16. J a h r h u n d e r t wehrten sich die Engländer gegen hohe Steuern ebenso rasch und unfehlbar wie im nächsten Jahrhundert gegen solche, die nicht vom Parlament bewilligt waren. Eine Schmälerung der königlichen Macht war in beiden Fällen die Folge. Da das Volk und nicht die Regierung im Besitz der Waffen war, mußten die Tudors sparsam sein. Als sich die eine Grafschaft Cornwall im J a h r e 1497 gegen die Steuern erhob, war der Staat ernstlich erschüttert. Es geschah zum Teil aus Sparsamkeit, daß Heinrich VII. und seine Nachfolger auf dem Lande keine besoldete Beamtenschaft einsetzten, sondern den unbezahlten und daher unabhängigen Landedelleuten als Friedensrichter immer mehr Geschäfte aufbürdeten. Der Geheime Rat beherrschte das England der Tudorzeit durch seine Friedensrichter. Daher mußte die Krone darauf bedacht sein, das gute Einvernehmen mit dem Landadel zu erhalten und bei der Umbildung von Staat und Kirche darauf Rücksicht nehmen. J e d e neue Regierung vermehrte die Pflichten der Friedensrichter und beim Tod Elisabeths gab es auf dem flachen Lande kaum einen Zweig der Verwaltung, mit dem sie nichts zu tun gehabt hätten. In Kommissionen von zwei oder mehr Friedensrichtern hielten sie Gericht über kleine Vergehen. Sie sorgten, soweit dies überhaupt geschah, für die Instandhaltung von Straßen, Brücken und Gefängnissen, sie ließen Verbrecher verhaften und gaben Lizenzen für Bierhäuser aus. Sie wurden die Träger der ausgedehnten und weitverzweigten Oberaufsicht, die der Staat nun statt der alten Verbände über die Wirtschaft ausübte, sie regelten die Löhne und Preise und die Beziehungen zwischen Meistern und Lehrlingen. Sie führten die neuen Armengesetze durch. Sogar Elisabeths Religionspolitik, d. h. die Verfolgung der Jesuiten und Sektierer, war weitgehend auf die Tätigkeit und den guten Willen der Friedensrichter angewiesen.

Die Friedensrichter.

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Der Geheime R a t konnte sich darauf verlassen, daß diese verschiedenartigen Aufgaben von den örtlichen Behörden gut und gewissenhaft ausgeführt wurden. Unter Elisabeths Herrschaft geschah dies wohl besser als jemals vorher oder nachher. Der Geheime Rat mußte nicht nur das Parlament lehren, wie man Gesetze macht, sondern er mußte auch die Friedensrichter dazu anleiten, wie man ein Land richtig verwaltet, und die Richter und Geschworenen, wie sie das Recht durchführen sollten. Die Selbstverwaltung in England gewann unter den Tudors viel mehr, als sie vielleicht während derselben Zeit auf der anderen Seite verlor. Diese wichtige Entwicklung begann unter Heinrich VII. und wurde von seinen Nachfolgern nachdrücklich gefördert. Wieso ließ es sich der hohe Adel ohne weiteres gefallen, daß man ihn sowohl im Staatsrat als auch in der Provinzialverwaltung aus seinen Stellungen verdrängte? Es genügt da nicht, darauf hinzuweisen, daß die Rosenkriege die Zahl der Adeligen zeitweilig vermindert hatten'). Wichtiger ist, daß der Adel durch die Kosten der Feldzüge und die Vermögenseinziehungen, die jedem einzelnen folgten, verarmt war, während diese Beschlagnahmen die Krone so bereicherten, daß Heinrich VII. bei sparsamer Gebarung sein System einer guten und billigen Verwaltung durch die unbezahlten Friedensrichter durchführen konte. Außerdem standen die Mittelklassen in Stadt und Land mit ganzer Seele auf der Seite des Königs gegen den Adel. Diese Landjunker, Kaufleute und freien Rauern, die häufig untereinander heirateten, erwarben nun größeren Wohlstand und höhere Bildung und gaben sich nicht mehr mit einer untergeordneten Rolle im öffentlichen Leben zufrieden. Daher müssen wir nun die Veränderungen in Gewerbe und Landwirtschaft betrachten, die diese neuen Schichten der Bevölkerung emporbrachten. Die Geschichte des Übergangs vom mittelalterlichen zum modernen England könnte ganz gut in Form einer Sozialgeschichte der englischen Tuchmacherei dargestellt werden. Schon in vorgeschichtlicher Zeit wurden auf unserer Insel grobe Wollstoffe hergestellt und die Bauern im Gutsbezirk spannen ihre Wolle selbst und verwoben sie zu Stoffen, die wohl für ihre eigene armselige ') In das Parlament von 1454, da8 letzte vor den Rosenkriegen, wurden 53 Earls und Barone einberufen, zum letzten Parlament Eduard» IV. 45. Dem ersten Parlament Heinrichs Vll. gehörten bloß 29 Herren des hohen Adels an, weil viele gerichtlich verurteilt, andere noch minderjährig waren. Später, als diese heranwuchsen und einige wenige neue Peerwürden geschaffen wurden, stieg die durchschnittliche Zahl der Peers aus dem Laienstande wieder auf etwa 50.

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Die Tuchmacherei.

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Kleidung, nicht aber zur Ausfuhr oder für den inneren Markt geeignet waren. Die Wohlhabenden mußten daher englische Wolle in der Form flandrischer Tuche wieder ins Land zurückbringen. Die Ausfuhr von Rohwolle für die italienischen und flandrischen Webereien brachte dem englischen Kaufmannsstand einen bescheidenen Wohlstand und half dem Land unter den Plantagenets, die Summen aufzubringen, die es an den Papst zahlen mußte. Als die Engländer schließlich lernten, selbst feine Tuche für den auswärtigen Markt herzustellen, hatte dies ganz unerwartete Folgen für das ganze Leben und Denken des Volkes. Die großen Veränderungen begannen damit, daß Eduard III. eine beträchtliche Anzahl von flandrischen Webern ins Land zog. Viele von ihnen waren Flüchtlinge und Verbündete der Engländer im Hundertjährigen Krieg, denn der französische Adel führte einen ständigen Kampf gegen die bürgerlichen Demokratien von Gent und den Nachbarstädten, die van Artevelde leitete. Die flandrischen Einwanderer waren in England so wenig beliebt, daß 1381 einige hundert vom Londoner Pöbel erschlagen wurden, aber in weiser Voraussicht nahm der König nun die Überlebenden in seinen besonderen Schutz, bis ihre Nachkommen durch Heiraten im englischen Volk aufgingen. Ihre Geschicklichkeit wurde ein nationaler Schatz, der sich tausendfach vermehren sollte. Die französischen und niederländischen Hugenotten, die in der Zeit Elisabeths und unter den Stuarts ins Land strömten, fanden als Märtyrer des protestantischen Glaubens freundlichere Aufnahme beim Volk als ihre mittelalterlichen Vorläufer und eröffneten gleich diesen der englischen Weberei neue Bahnen. Im 15. und 16. Jahrhundert zog besonders Ostanglien mit seiner Hauptstadt Norwich große Vorteile aus der Tuchmacherei, wie die vielen prächtigen, aus jener Zeit stammenden Kirchen bezeugen. Dem Beispiel Ostangliens folgten Taunton und die Gegend der westlichen CotswoldBerge, Kendal und die Täler Yorkshires und einzelne Punkte in Hampshire, Berkshire und Sussex. Allenthalben entstanden Ansiedlungen von Webern nicht nur innerhalb der alten ummauerten Städte, sondern noch häufiger in Dörfern wie Painswick und Chipping Camden. Von ihnen aus verbreiteten sich ein neuer Reichtum und neue Gedanken unter den Bauern und Herren, ein Taumel der Tuchmacherei ergriff das ganze Land. In solchen Gegenden wurde jetzt der Gruß „Gut Glück mit dem Weberschiffchen" ebenso allgemein gebräuchlich wie früher „Gut Glück beim Pflug" und die Schafe stiegen im Wert. Aus Stein erbaute Dörfer, die in meilenweitem Umkreis von ebenso verschwenderisch gebauten Bauernhäusern umgeben sind, alles im schönsten Stil der Tudorzeit, erzählen dem Wanderer in den Cotswolds noch heute vom alten Wohl-

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stand, den der Webstuhl brachte. Und die mächtigen Steinmauern und Eichenmöbel auf den Schafe züchtenden Höfen von Westmoreland und Cumberland künden noch jetzt die Geschichte des blühenden Tuchgewerbes von Kendal. Die Weberei war Hausindustrie, d. h. der Weber und seine Familie arbeiteten zu Hause an ihren eigenen Webstühlen und erhielten die Wolle von Zwischenhändlern, denen sie auch die fertige Ware ablieferten. Die langen Züge der Packpferde, jedes mit einem Wollsack oder Tuchballen auf dem Rücken, zogen wie Weberschiffchen ständig durch Kette und Schuß des englischen Lebens und verbanden entfernte Gegenden und verschiedene Bevölkerungsschichten zu einem dauerhaften nationalen Gewebe. Die Bauern von Lincoln erzeugten die feine Wolle für die Webstühle von York, die Kaufleute und Schiffer von Hull und London suchten uhd fanden an den Küsten der Ostsee und im Orient, in Ost- und Westindien und schließlich auch in Virginia und Massachusetts neue Absatzmärkte. Die Hirten und Weber in den Cotswolds führten ihr Tuch hinunter nach dem nahen Gloucester und Bristol und von dort ging es übers Meer. Die Männer des Geheimen Rates, die die auswärtige und die wirtschaftliche Politik des Staates leiteten, zogen alle diese weitverzweigten Kräfte in Rechnung. Denn die verschiedenen Einzelinteressen wiesen unter Elisabeths und Burleighs weiser Führung nach derselben Richtung. Die Stadtgemeinden und die Zünfte eines Ortes konnten keinen so weiten, das Ganze umfassenden Überblick haben wie der Staat. Die Gemeinden kümmerten sich wenig um die neue Entwicklung, denn auch in den seltenen Fällen, wo die Weberei nicht auf dem flachen Land betrieben wurde, hielt sie sich an die „freien" Gebiete knapp außerhalb der Gerichtsbarkeit einer Stadt, um die kleinlichen Vorschriften zu umgehen, von denen Handel und Gewerbe innerhalb der Mauern behindert wurden. Der mittelalterliche Gemeingeist in Stadt und Gilde lenkte nicht mehr, wie in seinen großen Tagen, das ganze Wirtschaftsleben. Dagegen nahmen London und einige andere Städte, besonders die Seehäfen, einen gewaltigen Aufschwung und mit ihrem Reichtum stieg auch ihre politische Bedeutung. Der Tuchhandel und die Entdeckung der Seewege bedeuten zusammen den Anbruch einer neuen Epoche des englischen Seehandels. Diese englische Tuchmacherei war eine Angelegenheit des einzelnen und der ganzen Nation, nicht Sache einer Gilde oder gar des ganzen Abendlandes. Während der Rosenkriege und in den blutigen Wechselfällen von Heinrichs Reformation und Marias Gegenreformation, in den glücklichen Tagen Königin Elisabeths und während der Bürgerkriege

Der Unternehmer.

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zwischen König und Parlament im 17. Jahrhundert erwarben unablässig unternehmende Tuchhändler, Weber und Schafzüchter neuen Reichtum und dieser Wohlstand wirkte befruchtend auf hoch und niedrig. All das waren persönliche Leistungen, die der Staat schützte und beaufsichtigte. Diese Männer waren sich ihres eigenen Wertes und zugleich ihrer nationalen Eigenart stärker bewußt als die Geistlichen und Adeligen des Mittelalters, deren politische und gesellschaftliche Rolle sie nach und nach übernahmen. Aber sie hatten nicht das Gefühl, einem internationalen Stand anzugehören, wie die Bischöfe und Mönche, die Adeligen und Bürger des Mittelalters. Sie waren mit der absoluten Herrschaft der Tudors über das Volk ganz einverstanden, bis das Unterhaus in ihnen den neuartigen Wunsch weckte, in demokratischer Form und völkischem Bewußtsein mit der Krone zusammenzuarbeiten. Die Reformation, die den einzelnen zum Urteil in Glaubenssachen und zur Auslegung der Heiligen Schrift berechtigte, paßte sehr gut zum Charakter dieser Männer. Im 15. Jahrhundert hatten sie fleißig Messen gestiftet, um ihres Seelenheils und ihres Nachruhms willen, unter den ersten Tudors neigten sie stark zur Opposition gegen die Kirche und im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden sie eifrige Bibelleser und die Träger der Reformation. Die Reicheren unter ihnen erwarben Grund und Boden, verschwägerten sich mit verarmten Landedelleuten und gründeten neue Adelsfamilien. Viele eigneten sich geistliche Güter an, denn sie hatten ja genug bares Geld, um sich an der wilden Bodenspekulation zu beteiligen, die mit der Auflösung der Klöster einsetzte. Ihre Söhne bildeten sich an den Universitäten und in den Juristengilden für den Staatsdienst aus. Diese Neureichen waren die wichtigsten Stützen der Königin Elisabeth und mehr noch des Parlaments in der nächsten Periode. Sie verhalfen den Flotten der Tudors und Stuarts zur Herrschaft über die Meere. Der große Vorsprung, den England bei der Erschließung der neuen Welt vor Spanien voraus hatte, bestand darin, daß die Engländer den Eingeborenen Tuch im Austausch für ihre Güter verkaufen konnten, während Spanien den neuen Ländern nur Soldaten, Geistliche und koloniale Ausbeuter zu schicken hatte. Die Wirkung der aufblühenden Tuchmacherei auf die Landwirtschaft war nicht durchwegs segensreich. Wenn es auch feststeht, daß die Arbeitsmöglichkeiten und der Wohlstand, die für hoch und niedrig geschaffen wurden, das Zerstörte weit übertrafen, so gab es doch auch hier, wie bei jeder großen wirtschaftlichen Umwälzung, ein Heer von Opfern mit einer langen Leidensgeschichte. Dadurch, daß die Tuch-

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macherei die alten Wirtschaftsformen umstieß und statt dessen freizügige Arbeiter beschäftigte, die mit barem Geld entlohnt wurden, ergaben sich für den eben frei gewordenen Hörigen große Möglichkeiten und große Gefahren, während der kapitalistisch wirtschaftende Bauer und Gutsbesitzer sich versucht sah, rasch auf Kosten anderer reich zu werden. In manchen Gegenden wurde die gemeinsame Dorfflur eingefriedet, um neues Weideland zu gewinnen. Das bedeutete, daß viele Bauern vertrieben wurden, um Raum für wenige Hirten zu schaffen. Oft griff der Geheime Rat der Tudors ein, um Einfriedungen, die zur Entvölkerung führten, zu verhindern, aber diese Bemühungen waren weder konsequent noch auch immer erfolgreich. Am ärgsten waren die Zustände in Leicestershire und Northamptonshire, nicht viel besser in den südlich und östlich angrenzenden Grafschaften1). Viele dieser von Grund und Boden vertriebenen Bauern wanderten ab und mehrten die Scharen der „frechen Bettler", der „Arbeitsscheuen" und der „verdammten Schurken", die in der Literatur und in den Gesetzbüchern der Tudorzeit einen so großen Raum einnehmen. Die „Bettler" waren im 16. Jahrhundert eine ähnliche Landplage wie die „Gefolgsleute" im 15. Die Grundbesitzer, die den Boden für sich einfriedeten und die Vertriebenen dadurch gewissermaßen auf die Gesellschaft losließen, wurden von Moralisten, wie Thomas Morus und Latimer, ebenso an den Pranger gestellt, wie die Adeligen, die Gefolgsleute hielten, von Fortescue und seinen Zeitgenossen. Viele dieser „frechen" Bettler waren einmal Gefolgsleute, Räuber und Geächtete gewesen und hatten die wilden Gewohnheiten des 15. Jahrhunderts beibehalten. Jetzt, unter einer kraftvollen Regierung, erschienen sie nun meistens nicht mehr als Schrecken der Gesellschaft, sondern als ihre Opfer. Für sie, die früher in fröhlichen Banden im grünen Wald gelebt oder in der Livree ihres Herrn angestraft die Umgebung ausgeraubt hatten, gab ea nun den Richtblock und die Peitsche und das harte Lager „von kurzem muffigem Stroh" Zu diesen üblen Gesellen kamen die unschuldigen Arbeitslosen, die durch saisonmäßige Schwankungen im Textilgewerbe and anderen neu entstandenen Industrien erwerbslos wurden, und schließlich die große Zahl der vertriebenen Bauern aus Mittelengiand. Gewiß haben sich viele Taugenichtse nach der Art der Landstreicher aller Zeiten als vertriebene Bauern ausgegeben, um Mit^ Andererseits hatten in den Grafschaften Somerset, Devon, Cornwall, Suffolk, Essex und Kent die Bauern schon vor der Tudorzeit ihre Felder selbst eingezäunt, da Waldland, Bodenbeschailenheit, Obstkuitur oder andere, heute längst vergessene örtliche Umstände dies ratsam erscheinen ließen. In den westlichen Grafschaften wirkte wohl auch noch die keltische Überlieferung nach.

Einfriedungen. Bauernlegung. Armengesetze.

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leid zu erregen, da das Elend dieser unglücklichen Bevölkerungsklasse in aller Munde war. Die Almosen, die an den Klosterpforten, ohne viel zu fragen, ausgeteilt wurden, unterstützten nicht nur die Bettler, sondern züchteten sie geradezu heran. Die plötzliche Aufhebung der Klöster, die erfolgte, bevor die Armengesetze den Kampf gegen das Elend wirksam in die Hand nahmen, vermehrte zunächst die Zahl der Notleidenden; es hörten nicht nur die Almosen auf, die vielleicht weniger groß waren, als man gemeiniglich annimmt, sondern es wurde auch das Heer der Klosterdiener auf die Straße gesetzt. Die „Bettler" wurden gleichzeitig gefürchtet und bedauert. Ihr Einzug in ein Dorf, das unsere Vorfahren damals meistens „Stadt" (town) nannten, ist in einem Kinderlied festgehalten: „Horch, horch, die Hunde bellen, die Bettler kommen in die Stadt", und dann geht es weiter: „Einige gaben ihnen weißes Brot und andere schwarzes, Und noch andere trieben sie mit der Reitpeitsche aus der Stadt."

Brot und Peitsche, zuerst Ausdruck des Mitleids und der Abwehr einzelner, wurden durch die Armengesetze der Tudors zur bindenden Pflicht der Gesellschaft. Den Schlußstein dieser Entwicklung bildet das Armengesetz und die von den Gemeinden eingehobene Armensteuer Elisabeths. Es wurde der Gesellschaft nach und nach klar, daß es drei verschiedene Arten von Bettlern gab: gesunde, die nicht arbeiten wollten, alte und schwache, die nicht arbeiten konnten, und unglückliche, die keine Arbeit fanden. Diese Unterschiede wurden im Armengesetz berücksichtigt. Das Aufhören der klösterlichen Almosen zwang England dazu, von Staats wegen an die Lösung der Armenfrage heranzugehen: Die geregelte Fürsorge für die Notleidenden wurde dem Bürger durch Gesetze zur Pflicht gemacht. Trotz seiner Schwächen war das Armengesetz Elisabeths ein großer sozialer Fortschritt und gegen Ende ihrer Herrschaft wundern sich Fremde über die geringe Zahl der Bettler in England zum Unterschied von anderen Ländern1). Man würde die ganze Geschichte der englischen Landwirtschaft mißverstehen, wollte man die dauernde Einfriedung des offenen Landes durch Mauern oder Hecken als etwas an sich Schädliches bezeichnen. ') S. S. 403 und die Anmerkung. In Wirklichkeit sind auch schon aus der Zeit vor der Aufhebung der Klöster einige Armengesetze verzeichnet. „Die Aufhebung der Klöster machte die Armengesetzgebung zwar notwendiger, aber beides Bteht doch nicht in dem einfachen Verhältnis von Ursache und Wirkung." Tanner, Documents, S. 470.

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Heinrich VII. und Heinrich Vm. 1485—1547.

Die Einfriedungen verwandelten auch im 16. Jahrhundert nicht immer Ackerland in Weide, sondern sie geschahen oft in der Absicht, aus Ödland Weidegründe zu gewinnen oder die Methoden des Ackerbaues zu verbessern, und vergrößerten so den Reichtum, den Handel und die Bevölkerungszahl der Insel. Die Personen, die Land für sich einfriedeten, waren auch nicht immer .,Grundherren, die ihren Besitz vergrößern wollten" und „kapitalistische Pflanzer", sondern oft kleine Freibauern. Dadurch, daß sie mäßige Parzellen der Domäne oder des gemeinsamen Dorffeldes als ihren Besitz einzäunten und daraus Bauerngüter und von Hecken umgebene Felder machten, gaben sie dem niederen Volk Arbeit und Verdienst. Der tüchtige Landwirt war nun von dem Hemmschuh befreit, den sein nachlässiger, unehrlicher oder weniger geschickter Nachbar in der gemeinsamen Feldmark für ihn bedeutete. Die fortwährenden Streitigkeiten und Prozesse, die sich aus der Verschiebung von Rainen und Grenzsteinen zwischen den verstreuten Feldstreifen ergaben, hörten nun auf. Der einzelne Bauer hatte jetzt die Möglichkeit zu selbständigem Planen und Wirken, was nicht nur für ihn selbst, sondern auch für alle anderen ein Vorteil war. Es ist sogar schade, daß in Mittelengland ein so großer Teil gerade des besten Bodens noch bis ins 18. Jahrhundert gemeinsames Feld blieb. Denn nun waren die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die zu den weiteren Einfriedungen führten, für den kleinen Landwirt wesentlich ungünstiger als im 16. Jahrhundert'). Hugh Latimer eiferte von der Kanzel mit furchtloser Beredsamkeit gegen das Bauernlegen und die Einfriedungen kapitalistischer Großgrundbesitzer. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß sein Vater, den er als Muster eines altenglischen Freibauern hinstellte, selbst ein richtiges „eingefriedetes" Gut besaß. Wir wissen, daß er einen Hof von 80 ha Ackerfläche in Pacht hatte und außer den Zugochsen 100 Schafe und 30 Milchkühe hielt. Er beschäftigte sechs Knechte und eine Anzahl Mägde, konnte seinen Töchtern eine Mitgift von je 50 Pfund geben und seinen Sohn Hugh zur Schule, an die Universität, als Bischof ins Oberhaus und schließlich a h Märtyrer auf den Scheiterhaufen schicken. Solche Bauern schufen das neue England, ein besseres England als das ') Tusser, der in seinen Dichtungen die Landwirtschaft des Elisabethanischen Zeitalters besingt, preist die Segnungen der Einzäunung. Ein Jocli eigenen Grundes, meint er, bringe mehr ein als drei in der Feldgemeinschaft. Und welche Freude sei es für den Landmann, auf eigenem Grund und Boden zu stehen! Man hat den Umfang der Einfriedungen des 16. Jahrhunderts oft übertrieben dargestellt. Selbst in den Grafschaften Leicester und Northampton, wo die Einhegungen am weitesten vorgeschritten waren, gab es noch im 18. Jahrhundert gemeinsame Felder

Der freie Bauer wirtschaftet besser.

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der mittelalterlichen Grundherren und Hörigen. Der Bauer mit seinen kleinen Lehensgütern oder dem mittleren Pacht- oder Eigenbesitz bringt einen ebenso wichtigen Zug in die neue Landwirtschaft wie die Großgrundbesitzer, die weite Ländereien an sich gebracht hatten, und daraus ergibt sich die überragende Bedeutung, die jenen in den politischen Ereignissen und den Kriegen unter den Stuarts zukommt. Man darf den Vorgang der „Einfriedung" nicht nur nach seinen unmittelbaren sozialen Folgen beurteilen, denn er erwies auch durch bessere landwirtschaftliche Methoden seine allgemeine wirtschaftliche Berechtigung. Fachleute haben darauf hingewiesen, daß das Ackerland besonders in der gemeinsamen Feldmark durch jahrhundertelangen Raubbau erschöpft war und in vielen Fällen nur durch eine längere Brache seine alte Fruchtbarkeit wiedergewinnen konnte. Außerdem stiegen wider alles Erwarten gerade durch die Einfriedungen die Erträgnisse des Getreidebaus gewaltig, und im 18. Jahrhundert wußte man bereits aus Erfahrung, daß nur weitere Einfriedungen die übervölkerte Insel vor Hungersnot bewahren könnten. Im 16. Jahrhundert lösten sich nicht nur die geschlossenen Freibauerngüter von der gemeinsamen Feldmark los, sondern es entstanden auch Großgüter, die nun keine Lehen mehr waren. Die schönen Lustschlösser, die Elisabeths reichste Untertanen sich bauten, sind ein bleibendes Zeugnis für diesen Vorgang. In der Tudorzeit blühten große und kleine Güter nebeneinander; erst im 18. und 19. Jahrhundert breiteten sich die wenigen Familien, die ausgedehnten Grundbesitz hatten, auf Kosten der kleineren aus. Die Primogenitur, die noch eingehalten wurde, als sie schon lange nicht mehr Gesetz war, förderte die Konzentration des Grundbesitzes. Die Landedelleute hinterließen ihr Gut dem ältesten Sohn und sandten die jüngeren in die Welt, die in Handel oder Gewerbe, in den freien Berufen oder in den Kolonien ihr Glück versuchen sollten. Diese Gewohnheit, so grundverschieden von der des festländischen Adels, verwischte die Grenzen zwischen den Klassen der Bevölkerung und förderte den englischen Handel und das britische Reich. So entstanden aber auch die riesigen Landgüter. Schafzucht und Einfriedungen waren nicht die einzigen Neuerungen in der englischen Landwirtschaft. Bis jetzt war es das Ziel jedes Dorfes gewesen, sich selbst zu versorgen. Aber nun begannen große und kleine Grundbesitzer, in ihr Land Kapital zu investieren, um den rasch steigenden Bedarf des inneren Marktes an Getreide, Wolle Rindern, Pferden, Geflügel, Milchprodukten und zahllosen anderen Artikeln decken zu können. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es die selbstversorgende und die kapitalistische Landwirtschaft nebeneinander, aber die letztere Trerelyan, England

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Heinrich V I I . und Heinrich V I H . 1485—1547.

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breitete sich ständig aus. Einer ihrer ersten Erfolge war die Einführung des Hopfenbaus von Flandern her, wodurch sich sowohl das Getränk der Engländer als auch das Landschaftsbild von Kent weitgehend änderte. Man dachte nun ernstlich über eine gute Stallfütterung des Viehs während des Winters nach. Rüben gab es schon zur Zeit Shakespeares und unter den Stuarts wurden von Holland her, wo es schon einen wissenschaftlichen Ackerbau gab, neue Grassorten und andere verbesserte Arbeitsmethoden eingeführt. Pferde verdrängten langsam die Ochsen vor dem Pflug 1 ).

n. Wiederaufflackern des Lollardismus.' Die Gelehrten der Renaissance. Kardinal W o l s e y und das europäische Gleichgewicht. Die Entdeckungen. Die Cabots. Heinrich V I I I . begründet die königliche Kriegsflotte. K ö n i g e : Heinrich VH., 1485—1509; Heinrich VIII., 1509—1547.

Die acht Jahrzehnte von 1400—1480 waren die geistig unfruchtbarste Zeit der englischen Geschichte seit der normannischen Eroberung. Im Kampf gegen die Anhänger des Wycliffe war die Gedankenfreiheit zuerst in Oxford (1382) und dann im ganzen Land aufs schärfste unterdrückt worden und auch das streng kirchliche Denken hatte sich seitdem zu keiner neuen Blüte erhoben. Kein Ereignis trat ein, das sich mit der Ankunft der Bettelmönche 200 Jahre früher vergleichen ließe. Das Dunkelmännertum erreichte seinen Höhepunkt, als der arme Bischof Pecock i. J. 1457 nur deshalb angeklagt und gefangen gesetzt wurde, weil er in einer Predigt gegen die Lollarden nicht ausschließlich an die Staatsmacht, sondern auch an die menschliche Vernunft appelliert hatte. Auch an weltlicher Literatur hatte die Zeit außer ein paar volkstümlichen Balladen nichts Nennenswertes aufzuweisen. Chaucer fand nur Leser und Nachahmer, keinen Nachfolger. Wohl aber gab es die neue Buchdruckerkunst sowie eine stattliche Anzahl neuer Schulen für den Mittelstand. Wenn diese auch eine höchst mittelmäßige Erziehung boten, »)

„ H o p f e n , Reformation, Fries und Bier In einem Jahr kamen nach England die v i e r "

ist so wahr wie die meisten dieser überlieferten Reime. Man muß nur statt „ J a h r " „ P e r i o d e " einsetzen. Fries war ein flauschiger Wollstoff, den Flamen ¡D Norwich einführten. Es gibt verschiedene Fassungen des obigen Verses. In manchen kommt der Truthahn vor, der aus Amerika stammt. Und in den „Lustigen Weibern von W i n d s o r " erklärt Anne P a g e , daß sie nie den Dr. Caius heiraten würde: „ A c h lieber grabt mich doch lebendig ein Und w e r f t mich tot mit Rüben."

Kirchenfeindliehe Stimmung.

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stieg doch die Zahl der Gebildeten und so fand jeder Sämann günstigen Boden, ob er nun Weizen oder Unkraut ausstreute. Und die Regierung Heinrichs VII. war eine Zeit der Saat. Die Wiederkehr der Ruhe und Ordnung belebte auch das geistige Schaffen. Zwei Vorgänge siud bezeichnend für die Zeit der Jahrhundertwende, bevor der große Kampf für oder gegen Luther ausbrach: im niederen Volke regte sich das Lollardentum wieder und man las eifrig die Bibel, während sich in den gebildeten Schichten vom Festland her die humanistische Gelehrsamkeit verbreitete. Beide Strömungen wurden von den starken kirchenfeindlichen Gefühlen gefördert, die weite Kreise des Volkes beherrschten. Man sagte, daß ein Londoner Geschworenengericht Kain freigesprochen hätte, wenn Abel ein Priester gewesen wäre. Im hohen und niederen Adel gab es zwar keine Lollarden mehr, aber die Kirche war ihnen allen so gleichgültig, daß sie bereit waren, jede anti-kirchliche Politik zu unterstützen, wenn man ihnen einen gebührenden Anteil an der Beute zusicherte. Die Vorrechte der Geistlichen, die in England drei sonst so wechselvolle Jahrhunderte unversehrt überdauert hatten, waren die Ursache dieser kirchenfeindlichen Stimmung und machten den Engländer zu einem willigen Anhänger der neuen Lehren. Denn die Kirche hatte zwar die sittliche und geistige Führung verloren, aber ihre Vorrechte, ihren Reichtum und ihre richterliche Gewalt in vollem Umfang zu behaupten gewußt. Ihr Entschluß, sich gegen Wycliffe nur durch Unterdrückung und ganz ohne Reform zu verteidigen, war wohl eine Weile erfolgreich, aber er barg schwere Gefahren in sich. Dreißig Jahre bevor Luther zu so plötzlichem Ruhm gelangte, erhob die Lollardie wieder ihr Haupt. Sie war in England heimisch und die armen Leute, die geistigen Vorfahren John Bunyans, hatten die Lehre in Hütte und Werkstatt treu bewahrt. Bauern in den ChilternBergen und in anderen Teilen der südöstlichen Grafschaften, einfache Leute in London, Bristol und anderen Städten, denen sich vereinzelte Priester und einige wenige wohlhabende Leute zugesellten, kamen heimlich zusammen, um „die Briefe und Evangelien in englischer Sprache und außerdem WyclifFes verruchte Schriften" zu lesen und einander gegenseitig in dem Glauben an das, was wir nun protestantische L«hre nennen würden, zu bestärken. Zwischen 1490 und 1521 bestiegen viele Lollarden den Scheiterhaufen und noch mehr widerriefen, um ihr Leben zu retten. Die Verfolgungen waren ärger als je, aber diesmal verfehlten sie ihr Ziel. Gleichzeitig zog durch den Humanismus und die Renaissance ein neuer Geist in die Universitäten ein, zuerst gegen Ende des 15. Jahr21*

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hunderts in Oxford 1 ). Grocyn, Lily und Linacre brachten von italienischen Reisen ein erneutes Interesse für griechische Literatur, lateinische Grammatik und wissenschaftliche Medizin mit nach Hause. Langsam begann die längst verlorene Welt von Hellas und Rom Gestalt anzunehmen, vorerst verschwommen wie durch ein trübes Glas, und enthüllte wenigen glühenden Geistern ein Gedankenreich, das nicht von Himmel und Hölle begrenzt war wie das des Mittelalters. Und zur selben Zeit weitete sich auch die physische Welt mit jeder neuen Reise eines Columbus oder Cabot über alle Grenzen der mittelalterlichen Kosmographie. Eben damals erweckten gelehrte Arbeiten, deren ciceronianische Sprache das praktische, aber unschöne Latein des Mittelalters verdrängte, die Lebonsideale des antiken Rom zu neuem Dasein. Sobald diese Einflüsse, vom Hof und den Universitäten aus, in die gewöhnlichen Lateinschulen zu Stratford und anderwärts eindrangen, dann mußte das Dasein aüch dort, abseits von den großen Strömen des Lebens, zu einem anmutigen und edlen Abenteuer werden. Ein drittes Formelement des modernen England wurde von Colet, dem jungen Sohn eines Londoner Kaufmanns, eingeführt. Nach seiner Rückkehr von den hohen Schulen Italiens kündigte er, zum Erstaunen von ganz Oxford, eine Vorlesung über die Briefe des hl. Paulus an. Durch die bloße Kraft seines Geistes zwang er nicht nur die begeisterungsfähigen Studenten, sondern auch die widerstrebenden Äbte und Theologen, einem jungen, eben erst geweihten Priester zuzuhören, der alle von den Scholastikern festgerammten Grenzpfähle beiseite schob und unmittelbar aus dem griechischen Urtext eine zugleich realistische und humanistische Darstellung vom Leben und Wirken des hl. Paulus gab. Er strebte zu erkennen, was die Episteln ihrem Verfasser und ihren Empfängern bedeutet hatten, und ihn interessierte gar nicht, was die Dialektiker der letzten dreihundert Jahre dazu meinten. Die gelehrte Arbeit des Mittelalters zerbröckelte wie ein Leichnam, der aus dem Grabe hervorgeholt und plötzlich der frischen Luft ausgesetzt wird. Duns Scotus war einst ein geistiger Führer gewesen. Jetzt aber wurden die noch treugebliebenen Anhänger des „scharfsinnigen Doktors" von der heranwachsenden Generation in Oxford und Cambridge und bald von jeder Schulbank des Landes als „dunces" ( = Dummköpfe) verlacht. i) Schon um 1430 hatte Herzog Humphrey von Gloucester italienische Gelehrte der neuen klassischen Richtung gefördert. Er schenkte der Univerlität Oxford seine „Herzog-Humphrey-Bibliothek" (Duke Humphreys Library), die den ältesten Bestand der Bodleiana bildet. Doch verfloß noch eine geraume Zeit, bis die antiken Schriftsteller dort im neuen Geiste Herzog Humphreys und seiner Italiener studiert wurden.

Colet. Die Oxforder Reformer.

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Der Holländer Erasmus erlangte mit Hilfe der Druckerpresse rasch einen europäischen Ruf, wie er bisher nicht möglich gewesen war. Er hielt sich viel in England auf und er wie Thomas Morus waren Colets Freunde und Mitstreiter. In ihrem Kreis erhielten die humanistischen Studien einen neuen Charakter. Waren sie in Italien künstlerisch und heidnisch gewesen, so nahmen sie nun in Nordeuropa eine sittlich-religiöse Wendung. Die italienischen Gelehrten der Renaissance und ihre fürstlichen und geistlichen Gönner sahen ausschließlich die alten Dichter und Philosophen, die marmornen Nymphen und „braunen griechischen Manuskripte". Colet und Erasmus und mit ihnen das ganze gebildete England hatten für all das auch volles Verständnis, aber ebenso wichtig war ihnen das Neue Testament in griechischer und dann das Alte Testament in hebräischer Sprache. Der Unterschied ging tief und erweiterte die Kluft zwischen der französisch-italienischen Kultur und England, das einst ihr gelehriger Schüler gewesen war. Denn die Männer der italienischen Renaissance und ihre geistigen Nachfolger in Frankreich und Italien haben sich seither bloß der Kunst, Literatur und Wissenschaft gewidmet und alles Religiöse und Kirchliche in der Regel den Bemühungen der Mönche und Geistlichen überlassen. Aber in England benützten die Männer der Renaissance nach dem Beispiel von Colet das Studium des Griechischen und Lateinischen, um nicht nur die Schulen, sondern die Kirche selbst zu erneuern und in dieser Aufgabe vereinigten sie Geistlichkeit und Laientum. Diese Bewegung, ihrem Charakter nach zugleich sittlich und geistig, humanistisch und christlich, ging nicht, wie manchmal behauptet wird, in den Stürmen der englischen Reformation unter, im Gegenteil, ihr Geist fand vollen Ausdruck in den reformierten Schulen und in der erneuerten Kirche, wie sie sich unter den Tudors nach den Wirren und rohen Kämpfen der früheren Zeit herausbildeten. Mit einer durchschnittlichen Lateinschule aus der Zeit Elisabeths wäre Colet wohl zufrieden gewesen. Wenn man die alten Stiftungen, die Heinrich VIII. und Eduard VI. einzogen, mit den neuen vergleicht, die unter Elisabeth gemacht wurden, so zeigt sich, daß zwar die Zahl der Erziehungsanstalten unter den Tudors wenig, wenn überhaupt, zugenommen hat, daß aber ihre Leistungen unvergleichlich besser waren als früher. Diese Oxforder Reformer, wie man Colet und Erasmus nannte, führten nun im Namen der Wissenschaft, Religion und Moral eine Reihe heftiger Angriffe gegen die Mönche als Dunkelmänner, gegen die Verehrung von Bildern und Reliquien, gegen die erpresserische Gebarung der geistlichen Gerichte und die Verweltlichung des Klerus. Kein Lollarde konnte eine heftigere Sprache führen, obwohl Colet und

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Heinrich VII. und Heinrich VHI. 1485—154T.

Erasmus keine Lollarden waren. Ihr Einfluß drang von Ofcford nach London, an den Hof und bald auch nach Cambridge. Als Diakon der Kathedrale von St. Paul begeisterte Colet die Bürger — und entsetzte den Klerus — der Hauptstadt, indem er von der Kanzel herab die kirchlichen Mißbrauche und Machenschaften derart an den Pranger stellte, wie man es in den letzten 100 Jahren, seitdem die Jünger Wycliffes schweigen mußten, nicht mehr gehört hatte. Im Schatten der Kathedrale gründete Colet die Schule von St. Paul, deren erster Leiter Lily wurde. Dort lehrte man Griechisch und ciceronianisches Latein; die Anstalt sollte bald das Vorbild der neuartigen Lateinschulen werden. Viel hing davon ab, wie sich die neue Monarchie zu dieser neuen Geistesrichtung stellen würde. Denn England hatte damals einen Punkt der Entwicklung erreicht, wo das Volk nichts ohne den Willen der Krone und die Krone nichts ohne den Willen des Volks tun konnte; aber vereint konnten die beiden alles tun, was ihnen beliebte, sogar die alte Religion oder die Vorrechte der Geistlichkeit nach Wunsch beibehalten oder ändern. Heinrich VII. war zu sehr mit seiner großen Aufgabe beschäftigt, die englische Verwaltung neu zu ordnen, als daß er sich um den Humanismus hätte kümmern können. Für ihn waren die Geistlichen nützliche Beamte, der Papst eine Figur auf dem Schachbrett der Diplomatie. Abgesehen davon war er strenggläubig; er sah einmal selbst zu, als ein Lollarde auf dem Scheiterhaufen bekehrt wurde, und ließ ihn dann trotz seinem Widerruf verbrennen. Das nannte man damals christliche Nächstenliebe. Und wie stand es mit dem jungen Heinrich? Er hatte 1509 den Thron und die Ehe mit Katharina von Aragonien geerbt, da sein älterer Bruder Arthur, für den beide bestimmt waren, vorzeitig starb. Seinen Untertanen geistig und körperlich überlegen, war der junge 18 jährige König das Idealbild eines Fürsten, in gleicher Weise der Patron aller richtigen englischen Sportsleute wie der Humanisten. Als rechtmäßiger Erbe übernahm er die Ordnung, den Reichtum und die Macht, die sein Vater in mühevoller Arbeit gesichert hatte, und als er Empson und Dudley enthaupten ließ, gewissermaßen als Beweis seiner Liebe zum Volke, da gewann er aller Herzen im Flug. Er war ein ebenso echter Engländer wie der „Bauer Georg" (König Georg III.), aber in glanzvollerer Art. Er spannte den Bogen wie der beste Förster und wenn ihn der französische Gesandte zu dieser Kunst beglückwünschte, war er imstande zu antworten: „Für einen Franzosen wär's ein guter Schuß

Die Persönlichkeit Heinrichs VIII. Wolsey.

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gewesen." Seine mächtige Turnierrüstung, die im Tower aufbewahrt wird, erinnert uns daran, daß er einmal wie Lancelot einen Gegner nach dem anderen aus dem Sattel hob und nach mehr rief. Er war ein Meister beim Tennis und ein gewaltiger Jäger. Strenggläubig wie sein Vater, förderte er weiter die Verbrennung der Lollarden, schrieb sein Buch gegen Luther und bekam vom Papst den Titel „Defensor fidei" (Verteidiger des Glaubens) (1521). Aber auch mit Colet und Thomas Morus verband ihn enge Freundschaft: Er zwang den letzteren, die gefährliche Laufbahn des Hofdienstes einzuschlagen und verteidigte den Diakon Colet gegen die Angriffe der Dunkelmänner mit der Erklärung „Laßt jeden seinen Doktor haben, dieser hier ist meiner" auch dann noch, als der furchtlose Mann Heinrichs Krieg gegen Frankreich als unchristlich verwarf (1513). Denn Heinrich „konnte einen Menschen lieben" und auch „Kurzweil in guter Gesellschaft liebte er", wie wir in den Liedern lesen, die er selbst gedichtet und vertont haben soll. Denn ganz abgesehen von seinen anderen Fähigkeiten war dieser vielseitige junge Mann ein guter Musiker, der alle damals bekannten Instrumente spielte. Dichtkunst und Musik wurden an seinem Hof eifrig gepflegt und gingen ihrer Hochblüte unter Elisabeth entgegen. Man hat von Heinrichs Hof gesagt, es gäbe dort mehr gelehrte Männer als an irgendeiner Universität. Diese Freunde seiner Jugend pflanzten ihm eine Abneigung gegen das Mönchstum sowie gegen Bilderund Reliquienverehrung und eine hohe Achtung vor dem Studium der Bibel ein. Aber all dies war vollkommen vereinbar mit einer orthodoxen Auffassung der Abendmahlsfrage, wie seine Untertanen in späteren Tagen erkennen sollten. Denn dreißig Jahre der Macht und Anbetung verwandelten diesen schönen jungen Kraftmenschen, der sich für alle Ideale begeistern konnte, in einen ungeheuerlichen Egoisten, der rücksichtslos über die Leichen seiner alten Freunde und neuen Feinde schritt, um sein Ziel zu erreichen, nämlich eine scharf umrissene religiöse Kompromißlösung, bei der die päpstliche Macht auf den König überging. Alle Züge seiner späteren Politik können einerseits auf seine Jugendideale zurückgeführt werden und andererseits auf die Strömungen der Zeit in einem Volk, das der König selbst in den Jahren seiner ärgsten Tyrannei in einem Maße verstand, wie es auch Elisabeth nie übertroffen hat. Aber das lag in weiter Ferne. Noch herrschte der Kardinal, der letzte Kardinal und beinahe der letzte Geistliche, der England beherrscht hat. Während „unser König Heinz" jeden Morgen auf die Jagd ging und am Abend rauschende Feste mit Masken und antikem Gepränge gab, bemühte sich Wolsey um die einzelnen Fragen der inneren und äußeren

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Politik, die Heinrich in späteren Jahren selbst in die Hand nahm. Aber Jugend muß sich austoben, besonders die Jugend eines Menschen wie Heinrich, und das war Wolseys große Zeit. Wie alle großen Diener der Tudors war auch Wolsey von verhältnismäßig niederer Abkunft — sein Vater war wahrscheinlich ein ostanglischer Schafzüchter oder Wollhändler —, aber hochmütig und protzig in einem Maße, wie man das kaum bei einem Prinzen von Geblüt geduldet hätte. „Er ist der stolzeste Prälat, der je geatmet hat", sagt ein auswärtiger fremder Beobachter und drückt damit die allgemeine Meinung aus. Der einzige Fehler seiner ausgezeichneten Diplomatennatur war sein heftiges Temperament: einmal ließ er sich in den Verhandlungen mit Frankreich zu Handgreiflichkeiten gegen den päpstlichen Nuntius hinreißen und drohte ihm, er werde ihn im Tower krummBchließen lassen. Das Gepränge, das Wolsey in der hohen Halle von Hampton Court und auf seinen Reisen entfaltete, gefiel eine Zeitlang seinem Herrn und bestach das Volk, aber schließlich war es mit ein Grund dafür, daß sie alle sich gegen ihn wandten, und die Dichter sahen darin die moralische Ursache seines Falls. Unter seiner Regierung wurde das europäische Gleichgewicht zum erstenmal als das Ziel von Englands Außenpolitik klar erkannt. Denn wenn einer der mächtig emporgestiegenen Staaten Frankreich oder Spanien den anderen unterwarf, würde er damit die Oberhand in Europa gewinnen und das kleine England käme in eine unrühmliche und gefährliche Lage. Einige Jahre lang hielt Wolsey das Gleichgewicht mit großer Geschicklichkeit und einem äußerst kleinen Aufwand an englischem Blut und Geld aufrecht. 1513 hoben die beiden Siege über die Schotten bei Flodden und über die Franzosen in der Schlacht bei Spurs unweit Guinegate an der niederländischen Grenze das Ansehen Englands als des Züngleins an der Waage. Aber nach 1521 versagte Wolseys Geschicklichkeit und Voraussicht. Er verband sich mit Karl V., König von Spanien und den Niederlanden und Deutschem Kaiser, zu einer Zeit, da es vorteilhafter gewesen wäre, den sinkenden Stern des Königs von Frankreich zu stützen. Die Schlacht bei Pavia (1525), in der Franz I. gefangengenommen und sein Heer völlig aufgerieben wurde, lieferte Italien für die nächsten 180 Jahre an Spanien aus, drängte Frankreich und England für eine Zeitlang in den Hintergrund und leitete die Vorherrschaft des Hauses Habsburg in Europa ein, die in den Tagen Philipps II. und Elisabeths beinahe zur Vernichtung Englands geführt hätte. Das hat damals nur das Wachstum der Demokratie, der religiösen und der seefahrenden Kräfte verhindert, die Wolsey alle Ubersehen oder bekämpft hatte.

Wolsey. Die Entdeckungen.

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Die Macht Spaniens reichte damals bereits über die Alte Welt hinaus. Das Zeitalter der Entdeckungen und des Welthandels war angebrochen und die alten Handelsstraßen über Kleinasien und Ägypten, deren europäisches Ende in den Händen Genuas oder Venedigs lag, traten in den Hintergrund. Reichtum und Macht verschoben sich von den italienischen Städten und dem landumschlossenen Mittelmeer, das hauptsächlich von Ruderschiffen befahren wurde, nach den Staaten Westeuropas, die neue Menschen und Schiffe aussenden konnten, um den Ozean zu durchqueren, die Märkte Ostasiens zur See zu erreichen und unterwegs Afrika und Amerika zu entschleiern. Zuerst hatte es nicht den Anschein, als ob England bei diesem Umschwung den größten Gewinn davontragen würde. Schon im 15. J a h r hundert fuhren die Portugiesen Prinz Heinrichs des Seefahrers als erste die afrikanische Küste entlang und um das Kap der guten Hoffnung herum nach Indien und gründeten an der Küste Afrikas ein Kolonialreich, das noch heute besteht. Spanien war lange innerlich gespalten und durch den Kampf mit den Mauren gebunden. Aber nachdem durch die Heirat Ferdinands von Aragonien und Isabellas von Kastilien diese beiden Königreiche ein Staat geworden waren, wurden auch die Mauren diesseits der Straße von Gibraltar bald vernichtet (1492) und nun nahm gerade Spanien Columbus in seinen Dienst und entsandte bald die Conquistadores, die ihm die Bergwerke von Mexiko und Peru und die Schätze des spanischen Südamerika zu Füßen legten (1519—1535). Auch der Papst war auf der Höhe der Situation. E r zog, ungefähr 500 km westlich von den Azoren, eine Linie von Pol zu Pol über die Erde und gab alles Land, das westlich davon noch entdeckt werden würde, den Spaniern, während das östliche an Portugal fallen sollte (1493). Der lebhafte Wettbewerb, der nun einsetzte, führte zu den großen Reisen, die im Solde der zwei iberischen Staaten unternommen wurden. Magalhäes umsegelte das Kap Hoorn und durchquerte den Pazifischen Ozean, Amerigo Vespucci erforschte die Südküste des Kontinents, der seinen Namen trägt. Noch lehnte sich niemand offen gegen die päpstliche Entscheidung auf, noch hatten Spanien und Portugal keine Mitbewerber um die Meere und Länder jener Welten. Die italienischen Seestädte stellten zwar die Meister der Schiffahrt wie Columbus, Vespucci und Cabot, aber weder Venedig noch Genua wagten es, auf eigene Faust in den neuen Seeverkehr einzugreifen. Es schien, als ob Italiens Herz durch den Verfall dei alten, einst von ihm beherrschten Handelsstraßen gebrochen wäre. Weder Venedig noch Genua brachten genug Lebenskraft auf. um die neuen Seeschiffe zubauen und die für diese nötigen Matrosen heranzubilden. Ihre Macht reichte

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gerade aus, um die Reste des alten Levantehandels weiterzuführen und sich mit den türkischen Kriegsflotten herumzuschlagen. Aber auch Frankreich und England waren noch nicht so weit, um dem Kolonisations- und Handelsmonopol Spaniens und Portugals in Asien, Afrika und Amerika entgegentreten zu können. Unter der Regierung Heinrichs VII. fuhren zwar John Cabot und sein junger Sohn Sebastian mit 18 tapferen Männern in einem kleinen Schiff von Bristol aus und besuchten einige Gegenden von Labrador, Neufundland oder Neuschottland. Sie waren nach Westen gefahren, um das sagenumwobene Katai (China) und die Sieben Städte des Ostens mit ihren Gewürzen und ihrem Gold zu suchen, aber sie fanden den Weg durch die nebligen Neufundlandbänke und die feuchten Fichtenwälder Nordamerikas versperrt und hinterließen damit ihrem Volk ein besseres Erbteil als man damals ahnte. Aber England fürchtete den Zorn Spaniens und wagte es nicht, jene Küsten zu besetzen. Seine Zeit war noch .SCHOTTLAND

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Reiches.

Karte 20. Europa zur Zeit Heinrich VHI. Die großen festländischen Monarchie».

Cabot. Die königliche Kriegsflotte.

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nicht gekommen. Heinrich VII. hatte die kühnen Fahrten gefördert, aber Wolsey war dagegen. Die Reisen der beiden Cabot und der Leute von Bristol meldeten nur einen Anspruch an, der jedoch fast 100 Jahre ruhte. Es kam zu keiner Kolonisation, zu keinem Vordringen ins Binnenland Nordamerikas. Aber die Fischerei auf den Neufundlandbänken war schon vor der Mitte des 16. Jahrhunderts eine wichtige Schule für unsere Seeleute. Dies war die Lage, mit der Heinrich VIII. rechnen mußte. Er förderte, angesichts der überragenden spanischen Macht, keine abenteuerlichen Ozeanfahrten, sondern er tat das Einzige, was die spätere Auslösung aller nationalen Kräfte möglich machte, er begründete die königliche Kriegsflotte (Royal Navy). Die „engen Meere" waren, soweit sie im Hundertjährigen Krieg überhaupt eine Rolle spielten, von den streitfrohen Matrosen der Handelsflotte verteidigt worden. Sie gingen manchmal als Seeräuber auf die Franzosen los, kämpften aber auch vereint und unter königlichem Kommando, wie bei Sluys. Heinrich V. hatte mit dem Bau einer königlichen Flotte begonnen, aber sein Werk war nicht weit gediehen und wurde später wieder vernachlässigt. Heinrich VII. unterstützte die Handelsschiffahrt, aber er baute keine Flotte, die ausschließlich für den Kampf bestimmt war. Erst Heinrich VIII. schuf eine schlagkräftige Macht königlicher Kriegsschiffe, die auf den königlichen Werften von Woolwich und Deptford gebaut wurden. Er gründete auch die Seemannsgilde von Trinity House. Heinrichs Marinepolitik war von doppelter Bedeutung. Er schuf nicht nur Fahrzeuge, die zum Kampf, und zwar nur zum Kampf für den Staat, bestimmt und entsprechend bemannt waren, sondern seine Ingenieure bauten viele dieser königlichen Schiffe in einer verbesserten Bauart. Es waren Segler, die sich für den Ozean besser eigneten als die Ruderschiffe der Mittelmeermächte und die auch in der Schlacht viel beweglicher waren als die plumperen „Rund"schiffe des Mittelalters, in denen die englischen Kaufleute noch fuhren und in denen die Spanier den Ozean überquerten. Die neuen englischen Kriegsschiffe hatten wenigstens die dreifache Länge ihres Mastes, während die gewöhnlichen Rundschiffe nur doppelt so lang waren wie ihr Mastbaum. Bis jetzt hatte eine Seeschlacht darin bestanden, das gegnerische Schiff zu rammen, mit Bogen auf die Besatzung zu schießen und schließlich an Bord zu kommen. Es war ungefähr so wie bei den alten Griechen und Römern. Aber nun brach ein neues Zeitalter an. Aus den Öffnungen der Schiffe Heinrichs VIII. ragten in einer Reihe die eisernen Rohre der großen Kanonen hervor, immer bereit, sich auf einmal zu entladen; das war die zerschmetternde „Breitseite", der Britannien vor allem

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Heinrich VII. und Heinrich VHL 1485—1547.

Beine See- und Kolonialmacht verdankt. Heinrich VIII. selbst bestand darauf, daß seine Ingenicure schwere Kanonen in die Schiffe einbauten, und diese ersannen das Mittel, in den Schiffskörper selbst Öffnungen zu bohren, durch die sich der große Schuß entladen konnte1). Im Jahr 1545, gegen das Ende der Regierung Heinrichs, versuchte eine französische Flotte auf der Insel zu landen, wurde aber von der Kriegsflotte zurückgeschlagen. England blieb damals von Eroberung verschont, und im selben Jahr wurde ein Kind namens Francis Drake auf einem Bauernhof bei Tavistock geboren. Die königliche Kriegsflotte war Heinrichs Schöpfung und sie rettete ihn und nach ihm seine Tochter, als sie sich auf die der Insel angemessene Politik besannen und den katholischen Mächten Europas entgegentraten. Wolsey hatte keine Ahnung von der Bedeutung einer Seemacht für England. Er war ein großer mittelalterlicher Kirchenfürst, ein Beamter der alten Schule und der Typus eines Diplomaten der Renaissance. Von der künftigen Entwicklung Englands, im Inneren und zur See, machte er sich keine Vorstellung. Sein Herr sah tiefer, dank jenem merkwürdigen Instinkt der Zusammengehörigkeit mit dem englischen Volk, der das Geheimnis der Größe des Hauses Tudor war. Er verstand es, in seinen staatsmännischen Lehrjahren Wolseys vollkommene Regierungskunst zu benützen und dann über ihn hinwegzuschreiten auf einem eigenen Weg, den man keinem Kardinal zumuten konnte. Wolsey war ein großer Mann, aber nicht er hat das neue England geschaffen. Er interessierte sich nicht für die Flotte und hatte zum Parlament kein Vertrauen. Ja, er mißtraute diesem sogar, zumal das Parlament von 1515 der wachsenden Kirchenfeindschaft Ausdruck verliehen und die bevorrechtete Stellung der Geistlichen gegenüber den ordentlichen Gerichten, die Sterbegebühren und die Geltung der päpstlichen Erlässe für England angegriffen hatte. Auch von den Richterkollegien her hörte man eigenartige Gerüchte, daß sich die Kirchen Versammlung der im Praemunire-Statut enthaltenen Vergehen schuldig gemacht hätte. Richter und Parlament standen für die königliche Macht ein, da sie die Rechte des Volkes gegen die geistlichen Privilegien veri) Uber die technischen Fragen des Schiffbaus in der Flotte Heinrichs VIIL vergleiche Callender, Naval Side of British History, Kap. IV, und die Einleitung zu Corbett, Drake and the Tudor Navy. Die „Breitseite" (broadside) als Wort und Tatsache kommt oft in Hakluyts Berichten über die Seekäinpfe zur Zeit Elisabeths vor. „Ich befahl, eine Breitseite, wie wir es nennen, zu geben", sagt Kapitän Downton in seiner Beschreibung von der Zerstörung der „mächtigen portugiesischen Karake (bewaffnetes Handelsschiff) von Ostindien" im Jahr 1593.

Wolsey's Vorzüge und Fehler.

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trat. Weder Wolsey noch seinem Herrn war all dies entgangen. Für den Augenblick herrschte wohl noch der Kardinal und Heinrich sah zu. So wurde das Parlament acht Jahre lang nicht wieder einberufen. Aber sollte Heinrich dereinst des Kardinals müde werden und den Wunsch hegen, die Kirche zu berauben oder zu reformieren und dem Papst zu trotzen, dann wußte er, wo er Hilfe finden würde. m. Heinrich V m . und die Durchführung der Reformation mit Hilfe des Parlaments.

Wer von der Meinung ausgeht, daß das England der Tudorzeit in die zwei klar umrissenen und einander ausschließenden Parteien der Katholiken und Protestanten geteilt war, wird nie den tatsächlichen Verlauf der Reformation bis zum letzten Drittel des 16. Jahrhunderts verstehen. Die Ansichten waren erst im Werden und noch nicht fertig. Ehrliche Männer änderten ebenso wie Opportunisten fortwährend ihre Meinung und nur wenige hatten sich ein geschlossenes Lehrgebäude zurechtgelegt, das die katholischen oder protestantischen Parteigänger späterer Zeiten befriedigt hätte. Thomas Morus wurde trotz seiner beißenden Kritik an den Mönchsorden und an dem Aberglauben, den diese im Volk verbreiteten, der Märtyrer für den Supremat des Papstes, während die Bischöfe Gardiner und Bonner Heinrichs ersten Bruch mit Rom guthießen und dennoch später unter Maria Vorkämpfer der päpstlichen Ansprüche wurden. Königin Elisabeth selbst hätte die Geistlichen lieber unverheiratet gesehen. Den meisten Menschen war es wichtiger, die Ordnung im Lande (den „Frieden des Königs") zu wahren als der Religionspolitik des Herrschers Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Im Norden und im äußersten Südwesten ereiferte man sich lebhaft für die Klöster und die alten Formen des Kultus, nicht aber für die päpstliche Gerichtsbarkeit. In London und seiner Umgebung hatte die Reformpartei die Oberhand. Der Gegensatz zwischen den Londoner Bürgern der Tudorzeit und den Parisern unter den Valois in ihrer Haltung gegenüber der Geistlichkeit und der mittelalterlichen Kirche erklärt weitgehend das verschiedene Schicksal der Reformation in England und Frankreich 1 ). >) Professor Pollard schreibt darüber: „Der Despotismus der Tudors bestand hauptsächlich in der Vorherrschaft Londons (iber das restliche England" und Frau Davis fügt hinzu: „Die Geschichte der englischen Reformation könnte recht gut von diesem Standpunkt aus neu geschrieben werden. Alle großen Veränderungen warfen hier in London ihre Schatten voraus und Heinrich VUI., Elisabeth und

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Die Reformation unter Heinrich VIII. 1530—1547.

Aber die Reformpartei war sowohl in London als auch außerhalb nicht nur von protestantischem Eifer oder von den neuen humanistischen Gedanken eines Colet und seiner Freunde beseelt, sondern auch von einer Leidenschaft erfüllt, die man am besten mit dem Ausdruck antiklerikal näher kennzeichnet. Der Haß gegen die Kirche entsprang bei manchen Menschen dem habsüchtigen Wunsch, die Kirche zugunsten ihrer eigenen Familien zu plündern, bei andern aber war es eine vernünftige und ehrenhafte Abneigung gegen die Macht und die Vorrechte. Denn die Geistlichkeit hatte noch immer das gesetzliche Recht, auf alle möglichen Arten Geld zusammenzuraffen und in ihren Gerichtshöfen Fragen des Dogmas und der Moral für alle Menschen verbindlich zu entscheiden, obwohl die Laien schon recht gut gelernt hatten, für sich selbst zu denken und zu handeln. Der Übergang von der mittelalterlichen zur modernen Gesellschaft zeigte sich auf religiösem Gebiet im Sinken der Priestermacht und im Aufstieg des Laienstandes. Zuerst trat der Staat als Ganzes gegen die Kirche auf, später, im Streit um die Gewissensfreiheit, einzelne Persönlichkeiten. In die Zeit der Tudors fällt die erste Phase dieses Kampfes, die Unterwerfung der Kirche unter den Staat. Die Bewegung, die dazu führte, war in gleichem Maß antiklerikal wie protestantisch. Heinrich VIII. ließ gleichzeitig Protestanten verbrennen und die katholischen Gegner seiner antiklerikalen Revolution hängen und köpfen. Diese Politik, die uns heute recht merkwürdig anmutet, wurde damals in England von weiten Kreisen des Volkes gutgeheißen. In dem Babel der Stimmen, die während seiner Regierung laut werden, erscheint uns als deutlichste eine katholische und nationale Bewegung gegen die Geistlichkeit. Erst nach Heinrichs Tod trieben die Folgen der geänderten Lage daheim und im Ausland die englischen Antiklerikalen und Nationalisten dazu, sich gegen die katholische Reaktion durch eine Verbindung mit den Protestanten zu verteidigen, und unter Elisabeths Regierung wurden sie dann aufrichtige Anhänger der neuen Lehre. Der Kampf gegen die römische Kirche sollte in England nicht das Losungswort einer Partei werden, wie dies in Frankreich und ItaBurleigh hatten Erfolg, wo Woisey, Uromweu, Somerset und Maria gescheitert waren, weil jene selten die City verletzten und daher nie ihre Anhänglichkeit verloren. Für einen Herrscher ohne stehendes Heer war die Nähe eines solchen unerschöpflichen Reservoirs von Reichtum, Waffen und Menschen, urei Kilometer von den Toren seines Palastes entfernt, ein wichtiger Faktor in seiner Politik" vvgl. Tudor Studies, Cambridge 1924. p. 287 f.). London und die Universitätsstädte Oxford und Cambridge waren bis in den Anfang des 17. J a h r h u n d e r t s auch die einzigen Orte, in denen es Buchdruckereien gab. Elisabeth verbot sogar das Drucken in andern als den drei genannten Städten.

Antiklerikale Strömung.

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lien etwa von der Zeit Voltaires an der Fall war. Sowohl der Widerwille gegen eine Herrschaft der Geistlichen als auch die Achtung vor der Religion sind in England verbreiteter als in den meisten anderen Ländern Europas; beide Gefühle fanden nach der Reformation in den Kirchen und Sekten volle Befriedigung. Die entschiedene Ablehnung einer Vorherrschaft der Geistlichen unterstützte manchmal den Anglikanismus gegenüber den Ansprüchen der Papisten und der Puritaner, das Leben der Menschen ganz zu beherrschen, manchmal verband sich derselbe Geist aber auch mit den Sekten gegen die Forderungen der Staatskirche. Aber während die Macht des Papstes durch Heinrich VIII. gebrochen wurde, lebte der Antiklerikalismus als eine selbständige Kraft sowohl neben der katholischen als auch der protestantischen Kirche und während einiger entscheidender Jahre war er die stärkste Macht unter den dreien. Das Vorspiel zu Heinrichs Bruch mit dem Papste war die deutsche Reformation (seit 1517), die das Ansehen Roms als Mittelpunkt religiöser Autorität für einige Jahre fast vernichtete. 1527 wurde die Heilige Stadt von den Heeren Karls V., des Deutschen Kaisers und Königs von Spanien, geplündert. Deutsche Ketzer und spanische Katholiken raubten Kirchen aus, schändeten Nonnen und belagerten den Papst mit seinen Kardinälen in der Engelsburg. Gleichzeitig schrieb ein Katholik folgenden Brief an Kaiser Karl V.: „ J e d e r m a n n ist der Ansicht, d a ß all dies nach dem gerechten R a t s c h l u ß G o t t e s geschehen ist, zur S t r a f e für die Mißregierung am päpstlichen Hof. Manche meinen, d a ß der Heilige Stuhl nicht weiter in Rom bleiben solle, weil sonst der K ö n i g von F r a n k r e i c h einen Patriarchen einsetzen und dem Heiligen Stuhl den G e h o r s a m v e r w e i g e r n und dann der K ö n i g von E n g l a n d und alle anderen F ü r s t e n vielleicht d a s s e l b e tun k ö n n t e n . "

Wenn es je eine Zeit gab, in der es die allgemeine Stimmung Europas für England leicht machte, mit dem Papst zu brechen, so war es die Generation, die der Auflehnung Luthers und der Plünderung Roms folgte. Luthers Lehren waren kaum in Wittenberg verkündet worden, als sie auch schon in England eine gewisse Macht darstellten, wenn auch Staat und Kirche sie noch verpönten. Die Lollarden gingen sofort in der neuen Bewegung auf. Die Wirkung der neuen Lehre auf die Humanisten war verschieden; manche, besonders die jüngeren Leute, schlössen sich der durchgreifenderen Bewegung mit Begeisterung an, während andere, vor allem die älteren, die die Renaissance nach England gebracht hatten, die neue Lehre ablehnten und zum Kirchenglauben zurückkehrten. Erasmus fürchtete den Protestantismus und

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Die Reformation unter Heinrich V H 1530—1547.

Thomas Morus bekämpfte ihn in Wort und Schrift. Oxford, einst die Hochburg der Reform, schwankte und hielt sich daher zurück, aber Cambridge trat nun zum erstenmal in die Vorhut der nationalen Bewegung. Seit 1521 diskutierten die Studenten dieser Stadt im Gasthaus zum Weißen Rössel über Luthers Vorschläge1). Das Gasthaus hatte den Spitznamen „Deutschland" und die Studenten, die dorthin kamen, nannte man „Deutsche", aber sie waren die Schöpfer des neuen England! Tyndale und Coverdale waren darunter, die zuerst die Bibel in das damalige Englisch übersetzten, Cranmer verfaßte das Gebetbuch, Latimer gab der Volksbewegung die Seele und viele andere der späteren Apostel und Märtyrer gehörten zu diesem Kreis. Latimer und Cranmer stellten, jeder in edelster Verkörperung, die beiden Seiten der späteren reformierten englischen Kirche dar, die sittliche und die geistige. Latimer war in religiösen Dingen ebenso furchtlos wie Luther, aber in sozialen Fragen und der weltlichen Gewalt gegenüber viel weniger ängstlich als der deutsche Reformator. Cranmer war milde und vorsichtig, ein Gelehrter, der peinlich langsam zwischen den zwei Seiten einer wissenschaftlichen Streitfrage wählte, ein Mann mit ewigen moralischen Hemmungen und geistigen Neuorientierungen; manchmal zeigte er plötzlich großen Mut, wenn es sich um seine schwer erkämpfte Überzeugung handelte, vergleichbar dem Mut eines furchtsamen Weibes, das sich gegen die Verfolger wendet, um ihre Kinder zu verteidigen. Beide Männer gewannen Heinrichs Achtung, aber während Latimers Haltung zu unbeugsam war, um den Absichten des Königs lange dienen zu können, blieb Cranmers Stellung unerschüttert während all der vielen Schwankungen der königlichen Gunst und Politik, denen Wolsey, More, Cromwell und noch so viele andere Menschen beiderlei Geschlechts zum Opfer fielen. Cranmer blieb der letzte persönliche Freund, den Heinrich zu behalten geruhte. Der harte und eigenwillige König legte noch im Sterben, leise seinen Glauben an Gott bekennend, seine Hand vertrauensvoll in die des sanften und verlegenen Begründers der anglikanischen Kirche. Wer die tiefere Bedeutung dieser Szene richtig deuten könnte, wüßte viel über die Eigenheiten der menschlichen Natur. Aber Heinrich hatte noch viel zu tun, bevor er sterben durfte. Zur Zeit der Plünderung Roms (1527) war er 36 Jahre alt und hatte in «) Gin Gasthaus war damals natürlich nichts Anstößiges; man verband damit nicht die Vorstellungen eines Wirtshauses von heute. Die Männer der guten Gesellschaft verbrachten oft mit ihren Frauen den Abend am Biertisch, wo man ungezwungen seine Freunde sehen konnte. Der „Herr Wirt" hatte eine gewichtige Stellung, man denke nur an Shakespeares „Lustige Weiber von Windsor".

Latimer. Cranmer. Heinrichs Scheidung.

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seiner langsamen Entwicklung gerade den Höhepunkt seiner geistigen Fähigkeit erreicht. Jagd und Turnier genügten seinen außerordentlichen Kräften nicht mehr als Ersatz für Politik und Regierung. Er war jetzt bereit, Wolsey die schwere Last der Verwaltungsarbeit abzunehmen. Außerdem wurde er, wie alle seine Untertanen, des Kardinals überdrüssig, der in der Außenpolitik Mißerfolge erlitten und daheim Ärgernis erregt hatte. Sein Fall wäre nicht aufzuhalten gewesen, auch ohne die königliche Ehescheidungsfrage. Diese Angelegenheit, der unmittelbare Anlaß des Bruchs mit Rom, der sich in England schon jahrhundertelang vorbereitet hatte, war streng genommen gar nicht eine Frage der Scheidung. Technisch handelte es sich bloß darum, ob Heinrich je mit Katharina von Aragonien ordnungsgemäß verheiratet gewesen sei, da sie doch zuerst mit seinem verstorbenen Bruder Arthur vermählt war. Ein früherer Papst hatte die Erlaubnis zur Ehe mit Heinrich gegeben und nun wurde Clemens VII. gebeten, die Ehe für ungültig zu erklären und Heinrich zu einem gesunden Junggesellen zu stempeln. Denn er wollte ja Anna Boleyn heiraten. Wie die große Mehrheit der Monarchen jener Zeit und vieler Zeitalter vor und nachher wäre er wohl vollkommen zufrieden damit gewesen, Anna Boleyn als Maitresse zu haben, was sie recht bald wurde, aber er wünschte sich einen legitimen männlichen Erben, um England eine geregelte Nachfolge und eine starke Regierung nach seinem Tode zu sichern. Er konnte von Katharina keine Nachkommen mehr erwarten und ihr einziges Kind. war Prinzessin Maria. Noch nie hatte eine Frau in England die Herrschaft geführt, und der ungewohnte Gedanke einer weiblichen Thronfolge schien das Land mit Bürgerkrieg oder der Herrschaft eines fremden Prinzgemahls zu bedrohen. Die Weigerung des Papstes, Heinrich von den Fesseln der Ehe zu befreien, entsprang nicht moralischen Bedenken; er hatte doch erst jüngst die Ehe von Heinrichs Schwester Margaretha, der Königin von Schottland, auf Grund eines weit weniger stichhaltigen Vorwands getrennt und seine Vorgänger hatten Herrschern wie Ludwig XII. von Frankreich die Scheidung gewährt, die diese nur aus politischen Gründen wünschten. Aber Clemens VII. konnte sich Heinrich nicht gefällig zeigen, denn seit der Plünderung Roms war er in der Gewalt Karls V. und dieser war Katharinas Neffe und ihr eifriger Beschützer. Die zeitliche Macht des Papstes sicherte ihm eben keineswegs seine Freiheit, sondern machte ihn damals wie später zum Sklaven weltlicher Rücksichten. Als ein italienischer Fürst konnte Clemens es sich nicht erlauben, den tatsächlichen Herrn Italiens zu erzürnen. TreTelyan, England

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Heinrich schien es untragbar, daß England, auf dem Umwege über das Papsttum, vom Kaiser abhängig sein sollte. In seinem Zorn über die persönliche Kränkung sah er nun auch, was vor ihm schon viele Engländer gesehen hatten, daß nämlich England, wenn es eine Nation sein wollte, eine geistliche Gerichtsbarkeit zurückweisen müsse, die seine äußeren Rivalen und Feinde entscheidend beeinflussen konnten. Das englische Nationalgefühl war seit den Plantagenets allmählich herangereift. Jetzt war es voll ausgebildet und fragte sich, warum das Volk in irgendeinem Teil seiner Gesetze, sei es auch über Ehe oder Religion, fremden Entscheidungen unterworfen sein sollte. Warum nicht die eigenen Theologen befragen, warum nicht durch unser eigenes Parlament handeln? Wolsey konnte die Scheidung in Rom nicht durchsetzen und das besiegelte sein Schicksal. Er fiel in Ungnade und nur sein baldiger Tod (1530) bewahrte ihn vor dem Schicksal, vielen hochgestellten Opfern der Schreckensherrschaft, die nun offen einsetzte, auf dem Wege zum Schafott voranzugehen. Cranmer, der mit all seiner Gelehrsamkeit für die Scheidung und für Englands Recht, die Frage selbständig zu entscheiden, eintrat, stieg dadurch hoch in der königlichen Gunst und wurde 1532 der erste Erzbischof von Canterbury, der dem Papst niemals Treue gelobte. Aber Heinrich brauchte auch einen Diener, der aus gröberem Stoff gemacht war und ein weniger zartes Gewissen hatte, und diesen fand er in Thomas Cromwell. Die Revolution gegen den Papst, gegen die Geistlichkeit und für die anglikanische Staatskirche, hatte begonnen und ging nun weiter, begleitet von Gewalttat und Ungerechtigkeit wie alle großen sozialen Umwälzungen, ob sie nun von einem Mann oder von der Masse ausgehen. Wie stellte sich aber das englische Volk zu der Frage? Der Durchschnittsengländer hatte dieselben Gefühle gegen die Einmischung des Papstes in England wie seine Vorfahren, aber er war, im Lichte der neuen Zeit, seiner Sache sicherer als früher und unterstützte Heinrich bei seinem Entschluß, die Sache ein für allemal zu regeln. Das englische Nationalgefühl war voll entwickelt und wollte sich nicht mehr einer religiösen Autorität unterwerfen, die ihren Sitz tausend Meilen weit entfernt hinter Meeren und Bergen hatte und englische Fragen nach italienischen, spanischen, kaiserlichen und manchmal französischen Gesichtspunkten und Interessen beurteilte, aber niemals nach englischen. Andererseits wandte sich sogar in London das Mitgefühl des niederen Volkes der schuldlosen und so tief gekränkten Katharina und ihrer Tochter Maria zu. Anna Boleyn war nicht beliebt. Eine Maitresse, die auf Kosten einer anderen Frau zur Gemahlin erhoben wird, kann kaum

Die Reformation.

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Achtung gewinnen, and Anna war ein leichtsinniges Weib, das sich selbst kaum darum bemühte, dieses so natürliche Urteil zu verbessern. Aber die politischen und kirchlichen Seiten der Frage drängten die persönlichen bald in den Hintergrund und dadurch gewann Heinrichs Stellung bei seinen Untertanen. London und der ganze Süden standen hinter ihm, als er die englische Kirche und den englischen Staat von den Fesseln Roms befreite, Mönche und Bettelorden, die Vertreter der alten übervölkischen Gesellschaftsordnung, unterdrückte, die Macht und die Vorrechte der Geistlichen beschränkte. Die Scheidungsaffäre wurde im Volk nicht günstig beurteilt, aber sie brachte den ersehnten Bruch mit Rom und dieser führte zur antiklerikalen Revolution im Innern, der sich die stärksten Kräfte des Landes anschlössen. Doch weder Heinri«h noch seine Untertanen ahnten damals, daß diese Umwälzung notwendigerweise zu einer Duldung der Protestanten führen mußte. In den Jahren 1533—1547 hat der staatskirchliche Katholizismus alles Andersartige in einer Weise verfolgt, die ebenso eigenartig — oder vielleicht ebenso entsetzlich — war wie Heinrich selbst. Aber in diesem Augenblick konnte eine solche Politik auf mehr Unterstützung rechnen als eine andere, die folgerichtiger und barmherziger gewesen wäre. Heinrich erregt wohl den zornigen Abscheu des Lesers, der an religiöse Duldsamkeit als die Grundlage der modernen Gesellschaft gewöhnt ist", weil er den edlen Sir Thomas Morus aufs Blutgerüst sandte, als dieser sich weigerte, die Oberhoheit des Papstes nicht mehr anzuerkennen, und gleichzeitig arme Protestanten auf dem Scheiterhaufen sterben ließ, die die Transsubstantiation leugneten. Aber auf die Zeitgenossen machten diese tragischen Ereignisse einen ganz anderen Eindruck. Man bemitleidete wohl die Opfer, aber man achtete eine Regierung, die in Staat und Kirche Ordnung hielt, sei es auch nach unduldsamen Grundsätzen, die, ein Erbteil des mittelalterlichen Christentums, von niemanden angefochten waren. In diesen Jahren erreichte die Königsverehrung der Tudorzeit ihren Höhepunkt: Der Wille eines Mannes wurde als die salus publica, das Wohl der Allgemeinheit, anerkannt. Das wirkte unheilvoll auf den Charakter Heinrichs, dessen Selbstsucht sich krankhaft steigerte. Aber die Krankheit befiel das Herz und nicht das Gehirn. Es war eine Folge der Königsverehrung unter einem starken Herrscher, daß sich der große Umschwung in den staatlichen Einrichtungen Englands ohne Bürgerkrieg vollzog, obwohl Heinrich kein stehendes Heer zu seiner Verfügung hatte. Kostbares Blut wurde vergossen, aber es floß nicht in Strömen wie in den Religionskriegen, die Frankreich, Holland und Deutschland heimsuchten. 22"»

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Die Reformation unter Heinrich V I I I . 1530—1547.

Heinrichs Werkzeug bei der Durchführung der Reformation war das Parlament. Die Synode war kaum dazu brauchbar, denn die geistlichen Versammlungen von Canterbury und York, in denen die Laienwelt nicht vertreten war, konnten keine tätigen Mithelfer in einer gegen den Klerus gerichteten Revolution sein. Die mittelalterliche Kirche war eine rein geistliche Gemeinschaft, und daher konnte sich das Laientum ihr gegenüber nur von außen her, also durch das Parlament, Gehör verschaffen, nicht in der Kirchenversammlung. In beiden Kirchenprovinzen gaben die geistlichen Versammlungen erst nach, als ihnen gedroht wurde, daß man die Strafen des Praemunire-Statuts anwenden werde. Aber daraus darf man nicht schließen, daß der gesamte weltliche Klerus alle diese Veränderungen nur gezwungen annahm. Sie alle, Bischöfe und Pfarrer, hatten für die Mönche und Bettelbrüder wenig übrig. Sie alle murrten über die Annaten (d. h. die Einkünfte des ersten Jahres, die als Steuern nach Rom abgeführt werden mußten) und andere drückende Abgaben, die der Papst von ihnen einhob. Viele Männer in der Kirchenversammlung gaben zu, daß die Vorrechte der Geistlichkeit, das Asylrecht und d i « Mißbräuche der geistlichen Gerichte reformbedürftig waren. Es gab sogar eine kleine, aber stetig wachsende Gruppe entschiedener Reformer wie Cranmer und Latimer; einige dieser Männer machte Heinrich zu Bischöfen. Die Haltung des englischen Klerus war zwar nicht heroisch, aber patriotischer, zweckmäßiger und moralisch gesünder als es fanatische Unbeugsamkeit und das Predigen des Bürgerkriegs zur Verteidigung überlebter Privilegien gewesen wäre. Dadurch, daß sie vieles, wenn auch ungern, hinnahmen, bewahrten die englischen Geistlichen das Land vor einem Religionskrieg. Unter den neuen, der Zeit angepaßten Verhältnissen gewannen sie auch einen Schatz wieder, den sie längst verloren hatten, nämlich die Liebe des Volkes. Es war wohl gut, vom Papst befreit zu sein; dem König gehorchen zu müssen, war vielleicht weniger angenehm, aber die Geistlichkeit hatte keine Wahl. Seufzend anerkannte die Kirchenversammlung Heinrich 1531 als den obersten Herrn der englischen Kirche und fügte die vorsichtige Klausel hinzu, ,.soweit es das Gesetz Christi erlaubt", eine dehnbare Formel, die auch in den nächsten Jahren recht weit ausgelegt wurde'). So hatte die Geistlichkeit feierlich die Oberhoheit des ' ) In der Suprematsakte, die das Parlament im Jahre 1534 annahm, wurde diese Einschränkung weggelassen und Heinrich heißt dort „das alleinige irdische Oberhaupt der Kirche von England, die den Namen Anglicana Ecclesia fuhrt".

D a s Parlament der Reformation.

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Papstes abgeschworen und statt dessen die des englischen Staates angenommen. Aber diese Kirchenversammlung konnte nicht auch die Laienrevolution durchführen, die nun folgen mußte. Dafür fand Heinrich im Parlament das geeignete Werkzeug. Die Reformation erhöhte die Stellung des Parlaments beträchtlich. Bis jetzt war es fast ebenso sehr ein Gerichtshof wie eine gesetzgebende Versammlung gewesen und unter Heinrich VII. und Wolsey war seine Bedeutung gesunken. Wäre England nicht eigene Wege gegangen, hätte es sich ebenso entwickelt wie das übrige Westeuropa, dann hätte sich dieses Absinken wohl so lange fortgesetzt, bis das englische Parlament den mittelalterlichen Ständeversammlungen Frankreichs und Spaniens in die Vergessenheit gefolgt wäre. Aber Heinrich VIH. hatte es anders beschlossen. Das Parlament der Reformation war nicht aus sorgfältig ausgewählten Anhängern des Königs zusammengesetzt. Das war in diesem Falle nicht notwendig. Die Gesetze, die den Bruch mit Rom vollständig machten, die Klöster abschafften und die Oberhoheit des Staates über die englische Kirche begründeten, wurden von Geheimen Räten vorbereitet und nach einer Diskussion von beiden Kammern angenommen. Das Parlament der Reformation tagte, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, sieben Jahre lang, und in den acht Sessionen, die während dieser Zeit stattfanden, erwarben die Abgeordneten eine große persönliche Geschäftskenntnis. Diese ermöglichte es erst, die Traditionen des heutigen Unterhauses als eines wichtigen Werkzeuges der Regierung auszubilden. In Heinrichs Parlamenten herrschte ein großes Maß von Redefreiheit, wenigstens bei Themen, die der König im Haus behandelt wissen wollte. Er schätzte einen ehrlich gemeinten Rat und aufrichtige Kritik, allerdings nur, wenn er in der Hauptsache seinen Willen durchsetzte, und das sicherte sowohl die Natur des Zeitalters wie die Eigenart der königlichen Pläne. Doch wurden auch unter Heinrich VIII. manche Vorschläge der Regierung vom Unterhaus abgelehnt, andere abgeändert. Ludwig XIV. soll den Ausspruch getan haben „L'état c'est moi" (der Staat bin ich) und er handelte ganz gewiß nach diesem Grundsatz. Heinrich erkannte als erster, daß seine Stellung ganz anders war. Im Jahre 1543 sagte er den Mitgliedern des Unterhauses, als er ihnen das wichtige Vorrecht der Immunität bestätigte: „Unsere Richter sagen Uns, daß Unsere königliche Stellung zu keiner Zeit so erhaben ist wie während der Tagung des Parlaments, wenn Wir als das Haupt und ihr als die Glieder vereinigt und zu einem staatlichen Körper zusammengeschmiedet sind."

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Reformation unter Heinrich VÜL 1530—1547.

Und als nun wirklich eine Reihe im Parlament beschlossener königlicher Gesetze die Grundlagen von Kirche und Staat umwandelte, die seit unvordenklichen Zeiten über die Veränderungsgewalt des Königs oder des Parlamentes hoch erhaben gewesen waren, da hatte der „König im Parlament" („Crown in Parliament") seine Macht wirklich mehr als verdoppelt. Wie nie zuvor war nun der König allmächtig, er konnte im englischen Reich jedes Gesetz geben, das er wollte. Während so das Parlament und besonders das Unterhaus eine neue Stellung im Staate gewann, blieb es doch unter straffer königlicher Leitung. Das Reformationsparlament und das „fügsame Parlament" nach ihm scheinen wie geblendet von dem göttlichen Recht des neuen Papstkönigs von England. Das Gesetz gegen Hochverrat (Statute of Treasons) vom Jahre 1534 wurde der Sicherheit des treuen Untertanen bereits recht gefährlich und in der Hand Heinrichs VIII. und Thomas Cromwells blieb eine solche Waffe nicht in der Scheide. Glücklicherweise wurde das Gesetz unter dem liberalen Reichsverweser Somerset zu Beginn der Regierung Eduards VI. widerrufen, so daß die Beziehungen zwischen Krone und Parlament wieder normal wurden. Die Unterdrückung der Mönchs- und Bettelorden und die Einziehung ihres Eigentums trug wesentlich dazu bei, die vom König und vom Parlament ausgehende Reformation auf eine kräftige materielle Grundlage zu stellen. Heinrich VIII. veräußerte große Teile der beschlagnahmten Kirchengüter an hohe Adelige, Höflinge, Beamte und große Handelsherren, die vieles davon an kleinere Leute weiterverkauften. Gesellschaften von kaufmännischen Vermittlern erwarben Land, um damit zu spekulieren. Diesen geschäftlichen Vorgängen ist es großenteils zuzuschreiben, daß der Versuch einer katholischen Restauration unter Maria den neuen Schichten des kleinen Landadels so unangenehm war. Gar manche Abtei war zum Herrenhaus geworden oder diente als Steinbruch für den Bau des neuen Herrenhauses, das der Schloßherr nur ungern wieder in ein Kloster verwandelt gesehen hätte. Solche Leute bestiegen zwar nie selbst den Scheiterhaufen, aber sie ermutigten die protestantischen Prediger, die eher bereit waren, Gott um seiner selbst willen zu dienen. In jener Zeit bedeutete Grundbesitz noch die direkte Gewalt über die, die auf dem Boden lebten. Daher hätte die Reformation niemals unter den Pächtern eines Klosters Eingang finden können. Nun aber nahm die Einwirkung auf die große Masse der abhängigen Bauern die entgegengesetzte Richtung an. Denn in jeder Grafschaft ging Boden

Einziehung der Kirchengüter.

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aus dem Besitz der Gemeinschaft, die dem Papst und der alten Religion ergeben war, in die Hände von Laien über, die schon durch die bloße Tatsache an die neue Ordnung gebunden waren, daß sie das durch Kirchenraub eingezogene Land besaßen1). In London und den anderen Städten wurden viele wertvolle und günstig gelegene Grundstücke und auch Häuser, die früher religiösen Zwecken gedient hatten, von Laien übernommen und dadurch wurde das letzte Hindernis für den erstarkenden Protestantismus, Antiklerikalismus und Handelsgeist der Hauptstadt aus dem Wege geräumt. In Oxford und Cambridge waren die Klostergeistlichen und Bettelmönche sehr zahlreich gewesen und sie hatten der neuen humanistischen Bildung den stärksten Widerstand entgegengesetzt. Die erste Folge ihres Verschwindens war ein Rückgang der Studentenzahl, was Latimer wohl stutzig machte; aber bald füllten sich die Reihen der Hörer wieder, und zwar mit einer wachsenden Zahl junger Herrensöhne. Diese neue Klasse weltlicher Studenten sah in den Universitäten den Weg zur Hofgunst und zum Beamtendienst. Männer wie Cecil (der spätere Lord Burleigh) und Bacon bereiteten sich durch ihre akademischen Studien darauf vor, das Land unter Elisabeth zu beherrschen und die neue geistige Ordnung zu stärken, die niemals hätte Wurzel fassen können, wenn Oxford und Cambridge der Leitung von Mönchen und Bettelbrüdern überlassen geblieben wären, deren Einfluß von der Weltgeistlichkeit höchstens gemildert werden konnte. Aber die Art und Weise, wie das Klostergut verteilt wurde, war ein Verbrechen an der Jugenderziehung. Der Reichtum der Klöster und auch der Meßstiftungen, die 1545—1549, also in den letzten Jahren Heinrichs VIII. und den ersten Eduards VI. ausgeraubt wurden, hätte dazu verwendet werden sollen, die Schulen zu vermehren und auszugestalten, die mit manchen Klöstern und vielen Stiftungen verbunden waren. Das Beispiel dazu hatte doch schon Wolsey gegeben, der den Reichtum der von ihm unterdrückten kirchlichen Vereinigungen seinem Cardinal College, dem späteren Christ Church College in Oxford zugute kommen ließ. In Cambridge wurde schon 1496 ein Nonnenkloster, das wegen des schlechten Lebenswandels seiner Insassinnen aufgelöst worden war, in das Jesus-College umgewandelt. Heinrich begründete wohl Trinity College in Cambridge und stattete es reichlich mit Kloster') Die streng protestantische Familie, in der Francis Drake 1545 geboren wurde, hatte eine Pachtung von der Familie Russell in der Grafschaft Devon. Die Russells hatten die Güter aus dem beschlagnahmten Besitz der Abtei Tavistock erworben. Nach seinem Paten Francis Russell erhielt das Kind den Taufnamen, den es in der Alten und Neuen Welt zu solchen Ehren bringen sollte.

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gut aus, aber diese Tat, die unvergänglich ist, erinnert uns auch daran, was mit der übrigen Beute hätte geleistet werden können. England wäre vielleicht vor der industriellen Revolution ein aufgeklärtes, demokratisches Land geworden und diese große Umwälzung hätte sich vielleicht in edleren und menschlicheren Formen vollzogen. Aber der verderbten Welt des damaligen England und Schottland erschien ein solcher Gedanke, die Ländereien der Klöster und Stiftungen nur zum allgemeinen Wohl zu verwenden, als „frommer Wahn". Die Staatskasse war leer, die Höflinge habgierig, und so verschleuderte man den Boden an Privatpersonen. Die Mönche waren keine guten Wirte und steckten bis über die Ohren in Schulden. Ihr Verhältnis zu den Pächtern war im Durchschnitt weder besser noch schlechter als das der Laien. Wie das bei Körperschaften häufig vorkommt, waren sie in ihren Methoden als Grundherren oft konservativ, d. h. sie wirtschafteten weniger intensiv und waren auch weniger streng. Aber auch von dieser Regel gibt es zahlreiche Ausnahmen. Auch Klosterherrschaften hatten Einfriedungen vorgenommen und Bauern vertrieben und 1526 erklärt Bischof Langland von manchen Klöstern, daß sie „mehr als die Weltgeistlichen oder die Laien ihre Pächter schinden (exeoriant firmarios suos)". Es ist wahr, daß viele Pächter nach der Auflösung der Klöster unter erhöhten Pachtzinsen seufzten. Schuld daran war die Bodenspekulation und die häufigen Wiederverkäufe der Grundstücke, deren Besitz sehr begehrt war. Aber auch das war bestimmt nicht immer der Fall. Denn die Mönche hatten sich oft von der Bewirtschaftung ihrer Güter vollkommen zurückgezogen und diese auf Erbpacht ausgegeben. Solche Verträge änderten sich nicht, wenn der Besitz in andere Hände überging'). ') In seinem W e r k „The Domesday of Enelosures of 1517" (London 1897) gibt J . S. Leadam eine genaue Analyse von Wolseys „Grundbuch der Einfriedungen (Dompsday of Enelosures)." Er kommt darin zu folgendem, auf statistische Zusammenstellungen gegründeten Schluß: „Abgesehen von der Frage, ob die Vertreibung der Bauern das Werk des Grundherrn oder eines Pächteis war, darf man als sicher annehmen, daß die Bebauer von kirchlichem' Besitz nicht, wie später oft angenommen worden ist, in größerer Sicherheit lebten.' - Es darf daher nicht wundernehmen, daß die Klöster, als sie noch bestanden, keinen solchen Ruf als gute Grundherrn hatten, wie sie ihn im sentimentalen Rückblick gewannen. In der Utopia des Sir Thomas Morus lesen wir: „Herren vom hohen und niederen Adel und auch gewisse Äbte, weiß Gott heilige Männer, nicht zufrieden mit den jährlichen Einkünften und dem Nutzen, den ihre- Väter und Vorganger aus dem Boden z o g e n . . . lassen keinen Grund zum Pflügen; alles schließen sie als Schafweide ein; sie reißen Häuser und ganze Dörfer nieder und lassen nichts stehen außer der Kirche, um aus ihr eine Schafhürde zu machen."

Die Klöster.

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Sowohl Mönche und Nonnen als auch solche Laien, die von Pensionen und Renten lebten, wie sie oft an die Stiftungen für Klöster geknüpft waren, gehörten zum großen Teil adeligen und wohlhabenden Familien an 1 ). Die Klöster waren weder eine demokratische noch eine geistige K r a f t mehr. Nur ein geringer Bruchteil ihres Einkommens floß den Armen zu. Das Schreiben der Chroniken, früher die vornehmste Beschäftigung des englischen Klosters, hatte fast aufgehört, ohne daß eine andere geistige Tätigkeit an ihre Stelle getreten wäre. Einem Colet, Morus und Erasmus erschienen die Klosterbrüder als Dunkelmänner und die Bettelmönche als Nutznießer des ärgsten Aberglaubens. Die in der Renaissance wiedergewonnene Kenntnis der klassischen Autoren und der Bibel fand kaum ein Echo in den Klöstern. Die Mönche leisteten auch keine körperliche Arbeit, und das asketische Leben, das ihnen früher einen so großen Einfluß auf die bewundernde Welt verschafft hatte, gab es nicht mehr, es wurde aber auch nicht mehr geschätzt. Hie und da kamen in Mönchs- und Nonnenklöstern böse Skandale vor, aber im allgemeinen lebten die Ordensgeistlichen knapp vor der Auflösung ein leicht dahinfließendes bequemes Leben, ohne Anstoß zu geben und ohne die Welt ringsum merklich zu fördern. Schon während einiger Generationen waren fromme Stiftungen nicht mehr an die Klöster gegangen, sondern für Seelenmessen und andere Zwecke verwendet worden. In den letzten 300 Jahren sank die Zahl der Mönche um ungefähr 2 5 % und zur Zeit der Auflösung waren ihrer rund 9000. Schon J a h r e vor dem Bruch mit Rom gab es unter strenggläubigen Bischöfen und Kardinälen eine Strömung, die für die Aufhebung der Klöster a u f t r a t . Es sprach tatsächlich viel dafür, ihr Vermögen anderen, menr zeitgemäßen öffentlichen Zwecken dienstbar zu machen. Wenn der Bruch mit dem Papst Dauer haben sollte, so mußte auch sein Heer aufgelöst werden. Aber nichts kann die Skrupellosigkeit rechtfertigen, mit deiman auf Grund mangelhafter Beweise niedrige Anklagen erhob*) und den Abt von Glastonbury und andere Ordenspriester unter dem Schein eines Gerichtsverfahrens ermordete. Man wollte damit nur die Übergabe ihres Vermögens beschleunigen, das dann doch fast zur Gänze In private Hände überging und die Staatskasse bloß vorübergehend füllte. ') Die Zahl der Nonnen hat in England nie mehr als 2000 betragen. — Über die Armenpflege 8. oben S. 319 f. *) Daher wird kein Geschichtsforscher die Berichte der Kommissäre fleinrichs VIII. über die Zustände in den Klöstern als zuverlässige Quelle betrachten. Eine Fülle von Tatsachen findet man dagegen in den „Bischöflichen Visitationen''. Tanner, Constitional Documents, S. 50—57, gibt einen trefflichen überblick.

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Di

e Reformation unter Heinrich VIII. 1530—1547.

In Lincoln, York und den anderen Grafschaften an der Nordgrenze, wo noch die feudale Gesellschaft des Mittelalters blühte, hing das Volk in unveränderter Liebe an den Mönchen und an der alten Religion. Die Folge war ein Aufstand, der als die Pilgerfahrt der Gnade (Pilgrimage of Grace) bekannt ist (1536). Heinrich hatte außer der nicht zahlreichen Leibgarde (Yeomen of the Guard) keine Truppen zur Verfügung. Hätte sich das übrige Land dem Aufstand angeschlossen oder hätte es sich auch nur geweigert, den König zu stützen, so wäre er abgesetzt oder wenigstens gezwungen worden, seine Politik aufzugeben. Aber London, Süd- und Mittelengland standen hinter dem König und so ging der Sturm vorüber. Diese Haltung des Volkes ist nichts überraschendes: Schon 1381, also lange bevor sich König und Adel gegen die Klöster wandten, hatten sich die Bauern und das Stadtvolk in St. Albans, Bury St. Edmunds und anderen Orten gegen sie erhoben. Aber auch ein großer Teil der Kirche fühlte sich nicht berufen, die Klöster in ihrem Kampf zu unterstützen. Die weltlichen Geistlichen hatten schon Jahrhunderte hindurch die Mönche und Bettelbrüder als Rivalen betrachtet, die ihnen den Zehenten und die Gebühren wegnahmen, ihnen die Amtshandlungen entwanden und sich der Gerichtsbarkeit ihrer Bischöfe entzogen. Dieses Gefühl der Rivalität zwischen den beiden Teilen der katholischen Kirche war am Vorabend dier Reformation ebenso stark wie je vorher, und das erklärt vieles, was nun geschah. Diese weltumspannenden Orden, die vom Klerus und der fortschrittlicheren Laienwelt in gleicher Weise getrennt waren und nur Rom unterstanden, konnten die Gründung einer nationalen englischen Kirche nicht überdauern. Dagegen behielten die Bischöfe in der neuen Ordnung fast dieselbe Stellung wie früher. Für sie war es leicht, den König statt des Papstes als Herrn anzuerkennen, denn sie hatten sich schon lange mehr als königliche Beamte denn als Diener des Papstes gefühlt. Nicht Thomas Becket, sondern Wilhelm von Wykeham verkörpert den Typus des mittelalterlichen englischen Bischofs. Diese Männer waren erfahrene Beamte des Staates, eifrige Mitarbeiter im Parlament und im Geheimen Rat, gewohnt, zwischen den Ansprüchen der Krone und denen der Kirche den Ausgleich herzustellen. Dies alles half den Bischöfen, sich und ihr Amt den großen Veränderungen anzupassen. Dagegen hatten die Äbte der Klöster größtenteils außerhalb des nationalen Lebens gestanden, uur wenige waren im Parlament gewesen und fast keiner hatte sich um andere Angelegenheiten als die seines Klosters gekümmert. Es war daher nur natürlich, daß sich im neuen England wohl ein wichtiger

Die Bischöfe. Die englische Bibel.

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Platz für den Bischof, aber keiner für den Abt fand. Und das Ausscheiden jener Äbte, die neben den Bischöfen Sitz und Stimme im Oberhaus gehabt hatten, drängte in dieser Kammer die Geistlichen in die Minderheit, eine Veränderung von allerhöchster Bedeutung. Heinrich, nun oberster Herr der Kirche, fuhr fort, die Religion seiner Untertanen zu reformieren und den Bruch mit Rom zu vollenden. Das Studium des Kirchenrechts, des geistigen Bindeglieds mit dem päpstlichen Europa, wurde unterdrückt1). Aber es erfolgten auch Veränderungen, die den Glauben selbst betrafen. Der menschenscheue und fürchterliche Greis Heinrich VTH. führte die Ideale durch, die der edle, lebensfrohe Jüngling zu Füßen der Reformer von Oxford in sich aufgenommen hatte, zumal da er dadurch dem Einfluß der Mönche, Bettelbrüder und Papisten auf die Menge entgegenarbeiten konnte. Reliquienanbetung, Bilderverehrung und Ablaßhandel, die gröbsten Formen des im Volk verbreiteten Aberglaubens und des frommen Betrugs, die Colet und Erasmus gegeißelt hatten, wurden nun von der königlichen Macht mit starker Hand beseitigt. Im ganzen Land wurden Reliquien zerstört, wundertätige Bilder heruntergenommen und dem Volk der rohe Mechanismus gezeigt, der mit seiner Gläubigkeit gespielt hatte. „Allenthalben fällt Dagon", jubelten die Reformer, „Baal von Babylon ist in Stücke zerbrochen". Altar und Kult des Thomas Becket, die so lange das Ziel der englischen Wallfahrer gewesen war, wurden nun leicht und vollkommen zerstört. Die neue Zeit sprach nicht mehr von dem „heiligen gesegneten Märtyrer", sondern von dem „Rebellen, der aus dem Vaterland nach Frankreich und zum Bischof von Rom floh, um die Zurückziehung guter Gesetze durchzusetzen". Unter dem Einfluß Cranmers ging man aber auch daran, neue Wege zu finden, um das religiöse Bedürfnis der Massen zu befriedigen. Der Erzbischof selbst verfaßte neue englische Gebete, die später ins Gebetbuch aufgenommen wurden. Vorläufig befahl Heinrich den Priestern, ihrer Gemeinde das Vaterunser, die Zehn Gebote und die Glaubensartikel auf englisch vorzusagen; so sollten sie die Eltern auch ihre Kinder lehren. Aber vor allem durfte nun, auch auf Cranmers Anregung, die englische Bibel nicht nur frei gelesen werden, sondern in jeder Pfarrkirche mußte ein Exemplar vorhanden sein. Es gab zwei Übersetzungen. Die eine beruhte auf den Vorarbeiten Tyndales, des ') Eine unmittelbare Folge der Reformation war es, daß nicht nur die Unabhängigkeit der kirchlichen Gerichtshöfe, sondern auch ihre Zuständigkeit eingeschränkt wurde. So gingen die Prozesse wegen Verleumdung und Ehrenkränkung im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts allmählich an das weltliche Gericht aber.

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Die Reformation unter Heinrich v m . 1530—1547.

edlen Gelehrten und Märtyrers, eine zweite hatte seinen weniger gelehrten Nachfolger Miles Coverdale zum Verfasser. Nun wurden sie, wie es Tyndale ersehnt hatte, den Handwerkern bekannt und „dem Knecht, der den Pflug führt". Die englische Reformation, die mit dem Angriff des Parlaments auf die Einkünfte der Kirche begonnen hatte und als königlicher Raubzug gegen Klosterland fortgesetzt worden war, sollte nun endlich ihre religiöse Grundlage finden: es war die im Volk verbreitete Kenntnis der Heiligen Schrift, der Traum Wycliffes. Damit gewann die Bewegung die innere Kraft, die es ihr möglich machte, den Verfolgungen unter Maria zu trotzen, und die Schuster, Tuchweber und arme Frauen dazu brachte, sich freudig für eine Sache zu opfern, die nun ihre eigene geworden war. Nun, da Heinrich die Dämme durchstochen hatte, ging er daran, der Flut Grenzen zu ziehen. Das unliebsame Auftreten einer seiner späteren Frauen, Anna von Cleve, die Cromwell aus dem protestantischen Deutschland brachte, und auch andere wichtigere Fragen der europäischen Politik erinnerten den König daran, daß manches zu weit oder wenigstens zu rasch ging. 1540 wurde Cromwell enthauptet. Schon ein Jahr früher hatte das Parlament die Sechs Artikel angenommen, wonach jeder mit dem Tode bestraft wurde, der die Transsubstantiation, die Notwendigkeit der Ohrenbeichte und des Zölibats leugnete. In London wurde ein Mann nur deshalb gehängt, weil er am Freitag Fleisch gegessen hatte. Protestanten Verbrennungen gingen still und ohne Aufsehen vor sich. Latimer „durfte" sich ins Privatleben zurückziehen, aber Cranmer blieb Erzbischof. Es war ein Schwanken, aber kein Wechsel der Richtung. Heinrichs fünfte Gemahlin, Katharina Howard, war eine katholische Anna Boleyn, die ähnliche Fehler hatte und dasselbe Schicksal erlitt wie ihre protestantische Vorgängerin (1542). Katharina Parr, die berühmte Überlebende, übte einen besänftigenden Einfluß auf die religiöse Politik und neigte in aller Vorsicht zu den Reformern. In Wirklichkeit versuchte Heinrich weitere Veränderungen und eine zu kühne Diskussion religiöser Fragen zu verhindern, da des Königs Majestät über diese Dinge schon das letzte Wort, wenigstens für den Augenblick, gesprochen hatte. Die Leute durften die Bibel lesen und für sich denken, was sie wollten. Die Sechs Artikel waren nicht verhaßt, denn in jenem Zeitpunkt war die große Masse weder katholisch noch protestantisch und niemand dachte an Duldsamkeit. Das Gesetz wurde auch nicht streng und genau durchgeführt. Heinrich war noch immer in Fühlung mit seinen Untertanen und in den letzten Jahren seiner Regierung liehen sie ihm gegen auswärtige Feinde ihre treue Unter-

Von Heinrich VIII. zu Elisabeth.

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Stützung. Aber die Zeiten mußten sich ändern und einige Anzeichen sprechen dafür, daß er an einen neuen Ruck vorwärts dachte, als ihn 1547 der Tod vor den einzigen geistlichen Richter rief, der einen König von England vor seinen Stuhl laden konnte. IV. Protestantisches und katholisches Zwischenspiel. Eduard VI. (1547—1553) und Maria die Katholische (1553—1558).

Die geduldige Geschicklichkeit Heinrichs VII. und der starke Herrscherwille Heinrichs VIII. hatten den Grundstein zum modernen England gelegt. Im Lande herrschte wieder Ordnung, die Adeligen und ihre Gefolgschaften waren unterdrückt, und die Regierung des Königs mit Staatsrat und Parlament wirkte bis in die entferntesten Winkel von England und Wales1). Die königliche Kriegsflotte war begründet, die politische und geistliche Unabhängigkeit des Landes von Europa festgelegt und die Laienrevolution in den Beziehungen zwischen Staat ufid Kirche durchgeführt. Aber all das war wohl vollendet, jedoch nicht gesichert. Als Heinrich VIII. starb, war das Reich schwer verschuldet, die Münze verschlechtert und die religiösen Wirren, die er scheinbar mit Gewalt unterdrückt hatte, mußten mit verstärkter Wucht von neuem losbrechen. Noch konnte das Werk der Tudors zerstört werden, wenn sich nicht eine Möglichkeit fand, das Land wirksam und gleichzeitig billig zu verwalten und der neuen Staatskirche eine Form zu geben, die für genügend weite Kreise annehmbar war und so einem Bürgerkrieg und damit der Anarchie oder Gegenrevolution vorbeugte. Diese Fragen wurden dann schließlich von Elisabeth, einer weisen und etwas skeptisch angehauchten Frau, gelöst; aber in den 12 Jahren zwischen dem Tod ihres Vaters und ihrer eigenen Thronbesteigung lag die Regierung in der Hand von Toren und Abenteurern, Fremden und Fanatikern, die alle zusammen das Werk der Tudors beinahe zunichte machten und es tatsächlich zuwege brachten, England zu einer Macht dritten Ranges herabzudrücken, die, von religiösen Kämpfen zerrissen, ein bloßes Anhängsel Spaniens zu Lande und zu Wasser war. Aber auch diese ruhmlose Zeit trug ihre Früchte. Die einzelnen religiösen Parteien und Streitfragen traten schärfer hervor. Allmählich wurde es klar, daß Heinrichs vorläufiges Unterkunftszelt nicht dauernd bewohnbar war, sondern daß das Land zwischen der Wiedervereinigung mit Rom und einer stärkeren Annäherung an den Protestantismus wäh») Über Heinrich VIH. und Wales s. unten S. 403 ff.

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Eduard VL und Maria. 1547—155a

len müßte. Gleichzeitig verschmolz der nationale Widerstand gegen Rom im Gefühl des Volkes mit einem andern Kampf, nämlich dem um die Unabhängigkeit von Spanien. Das Gebetbuch von 1549 und die Leiden der Protestanten unter Maria hoben die englische Reformation auf eine neue geistige und sittliche Höhe und machten es Elisabeth möglich, i. J . 1559 zu einer endgültigen Lösung der Religionsfrage zu gelangen. In dem trüben Chaos schwankender Meinungen, das zwölf Jahre vorher das Land verdunkelte, hätte auch höchste menschliche Weisheit eine solche Tat nicht vollbringen können. Eduard VI. (1547—53), der Sohn Heinrichs "VTII., aus seiner Ehe mit Johanna Seymour, war bei seiner Thronbesteigung neun Jahre alt. Er war ein kränkliches Kind, frühreif, ernst und hart, mit einem strengeren Gewissen als sein Vater begabt, aber kaum mit einem weicheren Herzen. Soweit man einen Menschen beurteilen kann, der mit noch nicht 16 Jahren starb, ist es nicht ausgeschlossen, daß er die Sache des Protestantismus überspannt und dadurch ebenso verdorben hätte, wie seine Halbschwester Maria die des Katholizismus verdarb. Zwei Männer führten den Staat während seiner Regierungszeit: zuerst sein Onkel Seymour, der Protektor Somerset, ein unbedachter Idealist, und nach diesem John Dudley, Earl von Warwick und Herzog von Northumberland, ein Mann, der sich nur von seinem selbstsüchtigen Ehrgeiz leiten ließ. Zwei überragende Gestalten des religiösen Lebens, Erzbischof Cranmer und Hugh Latimer, gaben der Regierung Eduards den Inhalt. Cranmers Gebetbuch (Prayer Book) enthielt hauptsächlich seine Übersetzungen aus dem Spätlateinischen in reines Englisch der Tudorzeit, wußte Altes und Neues in Einklang zu bringen und übte eine ungeheure Wirkung auf die Stimmung und die edleren Gefühle großer Teile des Volkes, die sich vielleicht ohne diesen Vereinigungspunkt in feindliche Parteien gespalten hätten. Von jetzt an war die Kirche von England mehr als ein Rest, den die königliche antiklerikale Revolution übrig gelassen hatte. Denn sie hatte nun das gefunden, was sie am notwendigsten brauchte: eine eigene positive Religiosität. Der endgültige Triumph des Gebetbuches war der Regierung Elisabeths vorbehalten, aber unter Eduard machte es seine ersten Ausfahrten auf dem stürmischen Meer der widerstreitenden Meinungen. Cranmer war im Rat furchtsam und weich: Wenn er aber in der Freiheit seines Arbeitszimmers die Feder zur Hand nahm, kam der Hauch Gottes über ihn. Ein ganz anderer Mensch war sein Freund Latimer. Er nahm das Bischofsamt nicht wieder auf, das er tinter Heinrich VIH. wegen seines

Cranmer und Latimer.

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Protestantismus hatte niederlegen müssen, sondern er blieb unter Eduard der freie Kämpfer für die Reformation, der sogar gegen die Habgier der Herren vom königlichen Rat auftreten durfte. In seiner schlichten, derben Art predigte er den Bürgern beim St. Paulus-Kreuz, den Höflingen im Garten des Königs und schuf dadurch das Vorbild für die englische Kanzelberedsamkeit, die im Verein mit Bibel und Gebetbuch im Laufe der nächsten Jahre die Bekehrung des Volkes zum Protestantismus vollendete. Inzwischen tat er sein Bestes, die Verbrechen der königlichen Reformation durch die Offenheit wiedergutzumachen, mit der er sie an den Pranger stellte. Zu Beginn von Eduards Regierung wurde der Plan Heinrichs VHI. zur Beraubung der Brüderschaften und der Meßstiftungen ausgeführt, unter dem Vorwand, den „Aberglauben" und die bezahlten Gebete für die Toten zu unterdrücken. In Wirklichkeit ging man weit über diesen Plan hinaus, um die Höflinge mit neuer Beute zu beladen. Die Schulen, die oft an die unterdrückten Brüderschaften angeschlossen waren, wurden sofort aufgehoben und durchaus nicht immer als „König Eduards Lateinschulen" wieder eröffnet. Für Latimer und seine Freunde war Unterricht ein Teil der Religion. Er wußte, daß der Protestantismus ohne ein entsprechendes Schulwerk niemals Wurzeln fassen könnte. Die Gelehrsamkeit, die der englischen Kirche später zu so hohem Ruhm gereichte, die lange Reihe von Theologen und Forschern (von Jewel und Hooker bis auf Westcott und Hort) waren eine Sache der Zukunft, während vorläufig die neuen Besitzer der für die Messen bestimmten Güter auf jede mögliche Weise „ihren reichen Raub anhäuften". „Schulen werden nicht mehr erhalten", klagt Latimer, „Studenten bekommen keinen Unterhalt mehr und das Predigeramt verfällt. Die Leute kümmern sich um Land und Reichtum für ihre Kinder, aber dieses wichtigste Amt vernachlässigen sie meistens. Es wird noch dazu kommen, daß wir nur eine ganz unbedeutende englische Theologie haben werden, die unser Königreich in die Barbar« und in die äußerste Unbildung führen wird. So wird man wahrlich die Oberhoheit des Bischofs von Rom nicht fernhalten. Ich flehe euch an, mindestens so viel Mittel für die Ausbildung begabter armer Kinder zu guten Seelsorgern sowie für