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German Pages 1532 [1535] Year 2019
Historische Bibliothek der GERDA HENKEL STIFTUNG
Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.
Bereits erschienen: Hermann Parzinger: Die frühen Völker Eurasiens Roderich Ptak: Die maritime Seidenstraße Hugh Barr Nisbet: Lessing Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt Werner Busch: Das unklassische Bild Bernd Stöver: Zuflucht DDR Christian Marek: Geschichte Kleinasiens in der Antike Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker Willibald Sauerländer: Der katholische Rubens Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands Stefan M. Maul: Die Wahrsagekunst im Alten Orient Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne Heinz Halm: Kalifen und Assassinen David Nirenberg: Anti-Judaismus Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt Werner Plumpe: Carl Duisberg Jörg Rüpke: Pantheon Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991 Bernd Roeck: Der Morgen der Welt Hartmut Leppin: Die frühen Christen Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik Jill Lepore: Diese Wahrheiten
Mischa Meier
GESCHICHTE DER VÖLKERWANDERUNG Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.
C.H.Beck
Mit 40 Abbildungen und 38 Karten
1. Auflage. 2019 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2019 Umschlaggestaltung: Kunst oder Reklame, München Umschlagabbildung: Einzug König Etzels in Wien. Gemälde, 1909–1911, von Albin Egger-Lienz (1868–1926). Inv. Nr. 3370, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. © akg-images ISBN Buch 978 3 406 73959 0 ISBN eBook 978 3 406 73960 6 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
Inhalt
I.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
‹Völkerwanderung›: Forschungsobjekt und Darstellungsproblem .
15
1.1
Barbaren vor Konstantinopel und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.1.1
Konstantinopel 626: Ein Wunder am Bosporus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.1.2
Rom 410: Kein Wunder am Tiber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
1.2
Was uns die Beispiele lehren, oder: Von den Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
1.2.1
Die Hoheit über den Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
1.2.2
Der Faktor Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
1.2.3
Römer und Barbaren – wenn es denn so einfach wäre … . . . . . . . . . . . . . .
51
1.2.4
Römer und Barbaren – noch komplizierter … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
1.2.5
Von der verführerischen Flexibilität des spätantiken Barbarenbegriffs: Drei Beispiele . . .
74
1.2.6
Die Archäologie als Ausweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
1.2.7
‹Völker› und ‹Wanderung› – Ethnizität und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
1.2.8
‹Osten› und ‹Westen› zwischen Spätantike und Mittelalter – Was dieses Buch will
. . .
116
II.
Sturm an der Donau – Beginn der ‹Völkerwanderung› . . . . . . . . .
125
2.1
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .
125
2.1.1
Konstantin I. macht Geschenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terwingen, Greutungen und das Problem der Cˇernjachow-Kultur – Rom und die Goten
125
im 3. und 4. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
Wulfila – Christen, Goten, Römer am Vorabend der Katastrophe . . . . . . . . . . . .
148
2.1.2 2.1.3 2.2
Der ‹Hunnensturm› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
2.2.1
Rätselhafte Hunnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
2.2.2
Der Donauübergang der Goten und die römische Niederlage bei Adrianopel (378) . . .
171
2.2.3
Konsolidierung unter Theodosius I. (379–395) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
2.2.4
Irrwege zwischen den Reichsteilen: Alarich und die «werdenden Westgoten» (395–410)
191
III.
Regni nostri maxima pars: Afrika – Verwundbare Südgrenze des Römischen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
3.1
Am Rande der Wüste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
3.2
Das Imperium entfernt sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
IV.
Jenseits des Bosporus: Der Osten des Römischen Reiches . . . . . .
263
Der Aufstieg der Sa- sa- niden, das strategische Dilemma Roms und die Araber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
4.1.1
Ein Kaiser kommt der Welt abhanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
4.1.2
Bündnisse, Befestigungen, Allianzen mit den Söhnen der Wüste: Roms Antwort auf die sa- sa- nidische Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
276
4.1
4.2
Bedrohung und Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
290
4.2.1
Herrscher und Hauptstadt: Das Kaisertum in Konstantinopel . . . . . . . . . . . . . .
290
4.2.2
Die Ausbildung eines ‹Hofes› in Konstantinopel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
4.3
Erste Auseinandersetzungen mit den Hunnen im Osten . . . . . . . . . . . .
298
4.3.1
Der Hunnenkrieg des Jahres 395. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
4.3.2
Uldin und der erste römisch-hunnische Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
302
V.
Ringen um die Rheingrenze: Der Westen des Römischen Reiches .
309
5.1
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . .
309
5.1.1
Ein verschütteter Feldzug tritt zutage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
5.1.2
Falsch gestellte Frage: Woher kamen die Alemannen? . . . . . . . . . . . . . . . .
316
5.1.3
Die frühen Franken: Expansion statt Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
5.2
Kampf um die Rheingrenze im 3. und 4. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .
331
5.3
Insider und Outsider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
5.4
Koexistenz und Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
368
5.5
Zündeln am gallischen Scheiterhaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
374
VI.
Pax abiit terris: Ein Jahrhundert der Bürgerkriege . . . . . . . . . . .
387
6.1
Des Kaisers neue Kleider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387
6.2
Der «letzte Römer» und die Hunnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
6.2.1
Die Hunnen zwischen Uldin und Ruga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
6.2.2
Attila – Konflikt und Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
406
6.2.3
Attila – Das ‹Reich› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
434
6.2.4
Attila – Kollaps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
440
6.3
Agonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
471
6.3.1
Das weströmische Kaisertum im Todeskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
471
6.3.2
Das oströmische Kaisertum unter Druck – Goten auf dem Balkan . . . . . . . . . . .
479
6.3.3
Auf der Suche nach neuen Wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
498
6.4
Das Projekt Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
512
6.4.1
Odoaker und Theoderich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
512
6.4.2
Das Ostgotenreich – (In-)Stabilität durch Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515
VII.
Manifester Kontrollverlust: Das Emergieren poströmischer regna im Westen des Römischen Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545
7.1
Die Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545
7.2
Das Rätsel der burgundischen Reichsbildungen . . . . . . . . . . . . . . . .
562
7.3
Auf dem Weg in das poströmische Gallien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
573
7.3.1
Grenzen der Ereignisgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
573
7.3.2
Konsolidierung und Expansion: Die Westgoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
580
7.3.3
Behauptung zwischen den Mächten: Die Burgunder . . . . . . . . . . . . . . . . .
588
7.3.4
Neue Herren in Nordgallien: Die Franken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
591
7.3.5
Verzicht auf Zentralisierung: Die Alemannen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
605
7.3.6
Unbekannte Großmacht östlich des Rheins: Die Thüringer . . . . . . . . . . . . . .
607
7.3.7
Reichsgründung am Ende der Welt: Die Sueben . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
609
7.3.8
Niederlassungen, Machtbildungen, Reiche – Die politische Landkarte des
7.3.9
(post-)römischen Westens um 500 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
611
Der ‹Tag von Tours› – Wege zur Konsolidierung neuer Herrschaften und regna . . . . .
621
VIII.
Quasi anima reipublicae – Afrika im 5. Jahrhundert . . . . . . . . . .
649
8.1
Geiserich und die Utopie eines regnum Vandalorum . . . . . . . . . . . . . .
649
8.1.1
Die Entstehung ‹der› Vandalen und die Eroberung Nordafrikas . . . . . . . . . . . . .
649
8.1.2
Geiserichs Reich: Der Preis des Erfolgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
671
8.2
Geiserichs Nachfolger: Die Struktur des Vandalenreichs . . . . . . . . . . . .
685
8.2.1
Hunerich: Politik und Religion bei den Vandalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
685
8.2.2
Gunthamund: Wirtschaft im vandalenzeitlichen Nordafrika . . . . . . . . . . . . . . .
698
8.2.3
Thrasamund: Das Problem einer vandalischen Identität . . . . . . . . . . . . . . . .
707
8.2.4
Hilderich: Risse und Brüche im vandalischen regnum . . . . . . . . . . . . . . . .
716
8.2.5
Gelimer: Das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
721
IX.
Selbstbehauptung in Zeiten der Bedrohung: Der Osten des Imperium Romanum im 5. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . .
731
9.1
Perser und Hephthaliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
731
9.2
Römer und Perser: Ein folgenreicher Krieg (502–506) . . . . . . . . . . . . .
743
9.3
Neue Verteidigungsstrategie im Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
753
9.3.1
Bulgaren, Perser und Araber: Die Einigelung des Oströmischen Reiches um 500 . . . .
753
9.3.2
Auf der Suche nach der eigenen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
766
9.4
Verwerfungen im Innern – die Eliten und die Religion . . . . . . . . . . . . .
773
X.
Die Partikularisierung des Westens im frühen Mittelalter . . . . . . .
799
10.1
Osten und Westen um 500: «von fremd zu fremd» . . . . . . . . . . . . . . .
799
10.2
Geschundenes Land: Italien in postgotischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . .
805
10.2.1 Das Ende des Ostgotenreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
805
10.2.2 Langobarden in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
825
10.2.3 Erwachen in einer neuen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
846
10.3
Rasch erobert, nie gewonnen: Das postvandalische Nordafrika . . . . . . . .
852
10.4
Labile Herrschaft im zweiten Anlauf: Das westgotische Spanien . . . . . . .
867
10.5
Instabile Stabilität: Das merowingische Frankenreich . . . . . . . . . . . . .
895
10.5.1 Königtum ohne Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
895
10.5.2 Von den Anfängen Bayerns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
919
10.6
Im Hohlraum der Mythenbildung: Das poströmische Britannien . . . . . . .
923
10.7
‹Völkerwanderung› in Skandinavien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
949
XI.
Ringen um Existenz und Einheit im Osten . . . . . . . . . . . . . . . . .
953
11.1
Das 6. Jahrhundert: Vom Oströmischen zum Byzantinischen Reich . . . . .
953
11.1.1 Kaiser und Katastrophe: Das Oströmische Reich im 6. Jahrhundert. . . . . . . . . . .
953
11.1.2 Die frühen Slawen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
974
11.1.3 Neue Akteure aus der Steppe: Die Awaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
994
Das 7. und 8. Jahrhundert: Doppelter Existenzkampf . . . . . . . . . . . . .
1020
11.2.1 Byzanz und die Perser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1020
11.2.2 Folgen der Liturgisierung: Mohammed und die Entstehung des Islam. . . . . . . . . .
1035
11.2.3 Kaiser und Kalifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1070
Epilog: Die ‹Völkerwanderung› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1089
11.2
XII.
Anhang Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1107
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1120
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1365
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1394
Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1496
Register der Namen, Gruppen, Verbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1497
Geographisches Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1518
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1530
Vorwort
Vorwort
Mehr als ein Jahrzehnt ist verstrichen, seit ich auf dem Konstanzer Historikertag 2006 mit Dr. Stefan von der Lahr vom Verlag C.H.Beck erste Gespräche über ein Buchprojekt zur ‹Völkerwanderung› geführt habe. Seitdem hat sich die Welt rasant verändert. Damals waren der Anbruch eines ‹Arabischen Frühlings› und seine Verwandlung in einen mörderischen Bürgerkrieg in Syrien nicht einmal erahnbar; ebenso wenig schien denkbar, dass in unmittelbarer Zukunft eine Terroristengruppe im Nahen Osten ein eigenes ‹Kalifat› ausrufen und ein neues weltweites Terrornetzwerk installieren würde; niemanden trieb das Gespenst eines globalen Populismus in der Politik um; eine mögliche weltweite Finanzkrise war allenfalls eingeweihten Wirtschaftsexperten als fahle Bedrohung am Horizont gewärtig, Wörter wie ‹Grexit› und ‹Brexit› existierten noch nicht. Migration stellte kein beherrschendes Thema in Politik, Medien und Öffentlichkeit dar, das Wort ‹Flüchtlingskrise› war unbekannt. Selbst die politischen Grenzen innerhalb Europas haben sich seitdem, zumindest faktisch, verschoben (russische Annexion der Krim); dort, wo sie stabil geblieben sind, wurden sie vielfach geschlossen, um Wanderbewegungen einzudämmen. Während sich diese Entwicklungen vollzogen, entstand das Buch zur ‹Völkerwanderung›, ursprünglich ganz anders geplant als am Ende verwirklicht, mehrfach neu konzipiert und durchdacht. Die Vorstellung, Geschehnisse wie die angedeuteten würden keine Spuren in einer historischen Monographie hinterlassen, wäre naiv. Es ist vielmehr selbstverständlich, dass sich im Lichte der markanten globalen Veränderungsprozesse Perspektiven und Wertungen gewandelt, Schwerpunkte und Gewichtungen verlagert haben, neue Aspekte miteinbezogen oder dezidiert ausgeklammert worden sind. Vieles davon ist Resultat bewusster Entscheidungen, manches dürfte den Schreibprozess unwillkürlich beeinflusst haben. Ein Buch, das über einen langen, bewegten Zeitraum entstanden ist, weist unweigerlich Unebenheiten und Brüche auf. Einige habe ich einzuebnen versucht, andere mit Bedacht stehen lassen, die meisten habe ich vermutlich gar nicht bemerkt. Jede historische Monographie aber ist, gewollt oder nicht, zugleich auch ein Buch über die eigene
Vorwort
12
Zeit, ja ihr Spiegel. Nicht zuletzt darin liegt die Relevanz geschichtswissenschaftlicher Forschung und historischer Literatur. Die Entscheidung, ein Buch über die ‹Völkerwanderung› zu schreiben, fiel zu einem Zeitpunkt, bevor Migration als globales Phänomen im Jahr 2015 erneut in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion gerückt war. Ich habe mich bewusst darum bemüht, dieses Buch frei zu halten von übereilten Analogien und Vergleichen zwischen Phänomenen, die sich unter fundamental unterschiedlichen Rahmenbedingungen vollzogen haben und sich auch in ihren Konsequenzen nur unter erheblichem methodisch-theoretischen Aufwand aufeinander beziehen lassen – jedenfalls dann, wenn daraus ein analytischer Gewinn gezogen werden soll. Das vorliegende Buch behandelt eine Phase der spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichte, die von Zeitgenossen kaum als kohärenter Geschehniszusammenhang wahrgenommen wurde, sondern ihre spezifische Signatur erst in neuzeitlichen Diskursen gewonnen hat und insbesondere seit dem 19. Jahrhundert mit scharfen Konturen hervortritt. Diese moderne Schablone habe ich dadurch aufzuweichen versucht, dass ich Betrachtungszeitraum und geographischen Fokus erweitert und das Geschehen, das gemeinhin als ‹Völkerwanderung› bezeichnet wird, in den Transformationsprozess zwischen Antike und Mittelalter eingeordnet habe. Daraus ist ein Buch geworden, in dem größere Regionen Europas, Nordafrikas und Asiens vom 3. bis zum 8. Jahrhundert diskutiert werden. Ein Thema dieser zeitlichen und räumlichen Ausdehnung zu behandeln, erfordert neben dem Mut zum Dilettieren vor allem vielfältige Unterstützung. Ich hatte das Glück, diese von verschiedenen Seiten zu erfahren. Der Tübinger Sonderforschungsbereich 923 ‹Bedrohte Ordnungen› hat einen Forschungszusammenhang geboten, in dem zentrale Aspekte des Epochenübergangs aus unterschiedlichen Blickwinkeln neu beleuchtet und in unterschiedlichen Kontexten durchdacht werden konnten. Profitiert habe ich auch von den stets spannenden und produktiven Diskussionen innerhalb der DFG-Kollegforschergruppe ‹Migration und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter›. Dass ich meine Erkenntnisse bündeln und niederschreiben, dass ich vertieft weiterforschen, nachdenken und das Projekt zum Abschluss bringen konnte, verdanke ich einem Opus magnum-Stipendium der VolkswagenStiftung, das mir zwei Jahre konzentrierten Arbeitens am Text ermöglicht hat. Die Gerda Henkel Stiftung schließlich hat mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss die rasche Publikation des umfangreichen Manuskripts in jener Reihe, die für das Thema sicherlich am besten geeignet ist, sichergestellt. Bis es so weit kommen konnte, haben mich Diskussionen, manchmal auch kurze Gespräche auf den Fluren oder wilde Denkrunden mit Freunden und Kollegen inspiriert; viele von ihnen haben Teile des Textes gelesen
Vorwort
und mir hilfreiche Rückmeldungen gegeben: Bruno Bleckmann, Robert Kirstein, Jannis Koltermann, Wolfried Meier, Sabine Panzram, Steffen Patzold, Michael Schilling, Sebastian Schmidt-Hofner, Roland Steinacher, Paolo Tedesco, HansUlrich Wiemer, Peter Zeller. Was ich aus ihren Hinweisen und Kommentaren gemacht habe, habe ich selbstverständlich selbst zu verantworten. Stefan von der Lahr hat sich zunächst in großer Geduld geübt und das Projekt, als endlich die Zielgerade in Sichtweite geriet, energisch vorangetrieben. Den größten Dank jedoch schulde ich meiner Familie, die jahrelang von der ‹Völkerwanderung› begleitet, allzu oft auch belästigt wurde. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Tübingen, im Februar 2019
Mischa Meier
KAPITEL I
‹Völkerwanderung›: Forschungsobjekt und Darstellungsproblem
1.1
Barbaren vor Konstantinopel und Rom
1.1.1 Konstantinopel 626: Ein Wunder am Bosporus Kapitel Forschungsobjekt Darstellungsproblem 1.1I Barbaren vorund Konstantinopel und Rom
Angst hielt die Bevölkerung der Kaiserresidenz umklammert, als sie unter dem warmen Licht der hochsommerlichen Morgensonne erwachte. Der flimmernde Glanz ihrer Strahlen brachte die frisch polierten Rüstungen einer unübersehbaren Kriegerschar zum Funkeln, die der Khagan, der Herrscher über die Awaren, an jenem Tag entlang der wuchtigen Befestigungsanlagen hatte aufmarschieren lassen. Eine grandiose Inszenierung brannte sich in die Augen der furchtsam staunenden Betrachter ein; sie sollte auch die letzten Zweifler von der Überlegenheit der awarischen Streitkräfte überzeugen. Mit diesem Unternehmen bewies der Khagan Mut. Nie zuvor war es einem barbarischen Heerführer in den Sinn gekommen, Konstantinopel frontal zu attackieren. Nie zuvor war die Metropole am Bosporus, nie zuvor das römisch-byzantinische Reich einer solch existenziellen Bedrohung ausgesetzt gewesen. Nie zuvor auch waren sämtliche Anstrengungen römischer Diplomatie und Kriegführung derart wirkungslos verpufft. Doch jener Tag, der 29. Juli des Jahres 626, sollte alles verändern. Nun hatte der Khagan – wir kennen seinen Namen nicht – sich also tatsächlich vor dem gewaltigen Mauerwerk aufgebaut und stieß martialische Drohungen aus, deren Inhalte die eingeschüchterte Besatzung hinter den Zinnen erschauern lassen mussten. Man nannte ihn den «Sohn der Finsternis», einen «Hund» oder «das barbarische Tier»,
Kapitel I Forschungsobjekt und Darstellungsproblem
Abb. 1 Konstantinopel, Teilstück der Theodosianischen Stadtmauer
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aber auch diese Herabwürdigungen hatten nicht verhindern können, dass der Khagan seinen Ankündigungen Taten folgen ließ: Mit angeblich 80 000 Kriegern (vielleicht waren es tatsächlich etwas weniger, aber diese Zahl verrät zumindest einiges darüber, wie man die von ihnen ausgehende Bedrohung wahrnahm) stand er vor der Metropole und verlangte nur eines: ihre bedingungslose Übergabe. Einzig die hochragenden theodosianischen Landmauern standen jetzt noch zwischen der Stadtbevölkerung und einem drohenden Massaker. Einst zum Schutz gegen Goten und Hunnen errichtet und im Jahr 413 unter Kaiser Theodosios II. vollendet, zog sich die imposante Defensivkonstruktion über etwa 6,5 Kilometer vom Marmarameer nach Norden bis zum Goldenen Horn und sicherte so die einzige Landflanke der Kaiserstadt, der auf den übrigen drei Seiten das Meer zuverlässigen Schutz gewährte – eine einzigartige strategische Lage, die Konstantinopel nahezu uneinnehmbar machte. Aber würde das Bollwerk tatsächlich standhalten, nun, da sich vor den Toren die furchteinflößende Streitmacht des Awaren-Khagans versammelt hatte? «Wilde Völker, deren Leben der Krieg ist», überschwemmten jetzt das Vorfeld der Mauern, ihre Scharen erstreckten sich «von Meer zu Meer» und mussten geradezu, wie ein Augenzeuge ergriffen festhält, die Assoziation eines unmittelbar bevorstehenden Weltendes evozieren; die vom Khagan mobilisierten Horden – das war eindeutig das apokalyptische
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Blachernai
Theodosianische Landmauer
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Charisios-Tor
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Aetius-Zisterne PemptonTor RomanosTor
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Pege- oder Selymbria-Tor
Valens-Aquädukt Markiansäule
Hagia Eirene Konstantins(TheodosiusHagia Forum 2 Forum) Sophia Philadelphion Senat Hippodrom Palast Forum Tauri
ArkadiosForum ArkadiosSäule
1
Kaisarioshafen
Xylokerkos-Tor
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Porta Aurea
Sykai
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Konstantinische Landmauer Rhesion-Tor MokiosZisterne
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3 Julianshafen
1 Polyeuktoskirche 2 Augusteion 3 Sergios- und BakchosKirche, in der Nähe der Hormisdas-Palast Mése
Karte 2 Konstantinopel im 6. / 7. Jahrhundert
Gog! Militärisch konnten die Byzantiner diesem Gegner, der möglicherweise den Lauf der irdischen Welt vollenden sollte, nicht beikommen, das wusste jeder in der Stadt; angeblich standen jeweils 100 Barbarenkrieger gegen einen Verteidiger. Und der Kaiser selbst war nicht vor Ort! Herakleios war tief in das Reich der persischen Sāsāniden eingedrungen, um jene Gebiete zurückzuerringen, die im zweiten Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts an sie gefallen waren. Weit entfernt fochten seine Armeen – zu weit, um Konstantinopel rechtzeitig Entsatz leisten zu können. Entsprechend gedrückt war die Stimmung. Andererseits wusste man aber auch: Konstantinopel war die Stadt Gottes, die Stadt Marias. In eindringlichen Gebeten sollen Kaiser und Patriarch, ja die gesamte Bevölkerung, Gott und Gottesmutter zuvor beschworen haben, Konstantinopel nicht in die Hände der Feinde fallen zu lassen. Theodoros Synkellos, ein hochrangiger Amtsträger, dem wir einen Augenzeugenbericht über die Ereignisse verdanken, betont die entschlossene Einmütig-
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keit der Belagerten: Von Beginn an habe man nicht auf Waffen vertraut, sondern einzig auf den Schutz der Stadt durch Gott und Maria. Patriarch Sergios, der gemeinsam mit dem magister officiorum (Vorsteher der Palastverwaltung) Bonos und dem Kaisersohn Konstantin (III.) die Geschicke der Metropole lenken sollte, solange Herakleios sich auf seinem Feldzug befand, ließ Bilder der Gottesmutter über den Portalen der Landbefestigung anbringen und führte Prozessionen an, in denen ein Acheiropoieton, eine wunderwirkende, nicht von Menschenhand geschaffene Ikone, feierlich über die Mauern geführt wurde. Damit sollte die Zuversicht der Belagerten gestärkt werden, während sich vor den Toren Heerscharen von Feinden zum Angriff wappneten und schauderhafte Belagerungsmaschinen errichteten. Wie aber hatte es überhaupt so weit kommen können?1 Seit Beginn des 7. Jahrhunderts befand sich das Oströmische Reich, das zu diesem Zeitpunkt bereits ‹Byzantinisch› genannt werden kann, wieder einmal in einem mörderischen Krieg gegen seinen Erzfeind im Osten: die persischen Sāsāniden. Es sollte die letzte Auseinandersetzung zwischen den beiden spätantiken Großmächten werden. Als der Perser Chosroes (Xusrō) II. (590–628) im Jahr 603 zum Angriff überging, konnte niemand ahnen, dass sein Reich wenige Jahre nach der endgültigen Niederlage gegen die Byzantiner 628 dem Ansturm der Araber zum Opfer fallen würde, einer Expansionsbewegung, die auch Byzanz ab 634 in einen jahrzehntelangen Existenzkampf verstricken sollte. So weit war es im Jahr 626 zwar noch nicht, aber für den byzantinischen Kaiser Herakleios (610–641) sah die Lage dennoch düster aus: Im Jahr 611 hatten die Perser Kaisareia in Kappadokien erobert und standen damit tief in Kleinasien, d. h. in römischem Kernland; 614 waren sie gar in die heilige Stadt Jerusalem eingezogen und 615 in Chalkedon erschienen, direkt gegenüber von Konstantinopel, auf der asiatischen Seite des Bosporus. Und es sollte noch schlimmer kommen: 618 /19 hatten sie sich Ägyptens bemächtigt, von dessen Getreide die byzantinische Hauptstadt abhängig war. Gleichzeitig gingen große Teile des Balkanraums bis auf Thessalonike und einige Küstenstreifen faktisch an Awaren und Slawen verloren, da keine Reserven mehr vorhanden waren, die europäischen Territorien des Reiches noch angemessen zu sichern. Um 620 befand sich Byzanz vor dem Zusammenbruch. Die Lage war verzweifelt. Geradezu beschwörend muten die Umschriften neuer Silbermünzen (sogenannter Hexagramme) an, die Herakleios wohl seit 615 emittieren ließ: «Gott, hilf den Römern!» (Deus adiuta Romanis). Und die Römer gaben nicht auf. Ab 621 konzentrierte Herakleios alle verfügbaren Ressourcen auf den Abwehrkampf gegen die Perser; im Einverständnis mit dem Patriarchen Sergios konnte er auf die Schätze der Kirche zurückgreifen und neue Armeen ausrüsten. Seine anschließende Gegenoffensive erscheint in der Überlieferung als regelrechter ‹Kreuzzug›. Die markante religiöse Aufladung der Ereignisse um die
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Abb. 2 Hexagramm des Herakleios mit der Umschrift DEVS ADIVTA ROMANIS auf der Rückseite
Belagerung Konstantinopels spiegelt die Stimmung, die während dieser Jahre um sich griff: Gott half den Römern! Denn tatsächlich gelang es Herakleios auf seinen Feldzügen der Jahre 622 bis 628, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern und die alte Tigris-Euphrat-Grenze zu erneuern. Am 21. März 630 konnte gar im befreiten Jerusalem die Restitution des heiligen Kreuzes zelebriert werden. Der Kaiser wurde als Heilsbringer, als neuer Konstantin und neuer David gefeiert.2 Doch im Sommer 626 stand alles bis dahin Erreichte erneut auf dem Spiel: Herakleios hatte sich erfolgreich in der Kaukasusregion festgesetzt; er wollte dort persische Kräfte binden, um die besetzten römischen Gebiete freizubekommen, und knüpfte Kontakte zu den Kök-Türken, die dann tatsächlich 627 die Sāsāniden in einen Zweifrontenkrieg verwickelten. Chosroes reagierte auf die Aktivitäten des Kaisers mit dem Versuch, diesen nach Konstantinopel zurück zu zwingen, indem er die oströmische Metropole direkt attackieren ließ. Zu diesem Zweck wurden wohl Verabredungen mit den Awaren getroffen; diese Absprachen werden zwar erst in recht späten Zeugnissen erwähnt, aber es dürfte mehr als nur ein Zufall gewesen sein, dass gleichzeitig die Perser von der asiatischen und die Awaren von der europäischen Seite aus vor Konstantinopel erschienen. Zwei persische Armeen marschierten 626 auf die Bosporusmetropole zu und versuchten dabei, Herakleios hervorzulocken – die eine konnte vernichtet werden, ihr Kom-
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mandant Šāhīn verstarb kurz nach der Schlacht. Der anderen Armee jedoch gelang unter Führung des Šahrbarāz der Vorstoß bis Chalkedon und Chrysopolis, wo sie sich, wohl Mitte Juni, bedrohlich im Angesicht der Bevölkerung Konstantinopels aufbaute. Man wird heute kaum mehr nachvollziehen können, wie schwer dem Kaiser die Entscheidung gefallen sein muss, nicht selbst an den Bosporus zu eilen, um die Stadt zu entsetzen. Theodoros Synkellos klagte laut: «Und der große Kaiser war nicht da!»; der Dichter Georgios Pisides beschwor ihn eindringlich, zurückzukehren. Aber damit hätte Herakleios sich all jener strategischen Vorteile benommen, die er in den vergangenen Jahren mühselig erkämpft hatte. So blieb es dabei, dass er im Feindesland ausharren musste; doch gelang es ihm immerhin, noch vor Šahrbarāz’ Ankunft am Bosporus eine stattliche Anzahl an Reitern nach Konstantinopel durchzubringen, um die Besatzung zu verstärken (angeblich auf 12 000 Mann), und wichtige Anweisungen für die Verteidigung der Stadt zu übermitteln. Danach aber waren die Einwohner der Metropole auf sich und ihre göttlichen Beschützer gestellt.3 In und um Konstantinopel herrschte derweil hektischer Aktionismus vor. Die schriftlichen Weisungen des Kaisers mussten umgesetzt werden: Zuallererst galt es, die Fundamente der Mauern zu erneuern und die Befestigungstürme durch zusätzliche Plattformen kampftauglich zu machen. Gleichzeitig wurde die Diplomatie bemüht. Der patricius Athanasios begab sich zum Khagan der Awaren, um ihn von einem Angriff auf Konstantinopel abzubringen. Das Manöver diente vor allem dazu, den Verteidigern die nötige Zeit für den Abschluss ihrer Vorbereitungen zu verschaffen. Ganz erwartungsgemäß entließ der Khagan Athanasios denn auch ohne Zugeständnisse, doch zurück in Konstantinopel konnte dieser sich nunmehr davon überzeugen, dass die Stadt inzwischen, so gut es eben ging, auf eine Belagerung vorbereitet war: Die Mauern waren instandgesetzt, Verstärkungen eingetroffen, die Lebensmittelversorgung gesichert und – vor allem – die Flotte einsatzbereit. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits eine awarische Vorhut von nicht weniger als 30 000 Mann die Stadt erreicht; man schrieb den 29. Juni 626, das Fest der Heiligen Peter und Paul.4 Konstantinopel war nun eingeschlossen. Wie ernst die Lage tatsächlich war, zeigte sich bereits zehn Tage nach dem Eintreffen der awarischen Vorhut, als einige Bewohner unter militärischem Schutz vor der Mauer noch rasch ihre Ernte einfahren wollten und prompt von den Belagerern attackiert wurden. Zügig begaben sich die Awaren auch nach Sykai (Galata), die Region nördlich des Goldenen Hornes, und unterrichteten die Perser auf der asiatischen Seite durch Feuerzeichen von ihrer Ankunft. Eine Vereinigung der beiden Angreifergruppen wussten die Byzantiner immerhin zu verhindern, da ihre überlegene Flotte weiterhin das Meer kontrollierte. Zudem dürfte man sich darüber im Klaren gewesen sein,
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dass die Awaren allein aus logistischen Gründen kaum in der Lage waren, eine Belagerung dieser Größenordnung über einen längeren Zeitraum hin aufrechtzuerhalten – dies hatten sie schon bei anderen Gelegenheiten bewiesen, so etwa vor Thessalonike 586 und 617 /18. Möglicherweise musste man also lediglich die Nerven behalten, abwarten und ein Übersetzen der Perser auf die europäische Seite strikt unterbinden. Das aber war leichter gesagt als getan, denn als die awarische Hauptarmee erschien, dürfte so manchem Verteidiger der Atem gestockt haben: «Am 29. Juli näherte sich der gottverhasste Khagan persönlich mit seiner ganzen Horde den Mauern, und er präsentierte sich den Bewohnern der Stadt» – so der Verfasser des Chronicon Paschale, und Georgios Pisides ergänzt, zunächst hätten Zweifel und Hoffnungslosigkeit um sich gegriffen.5 Nachdem die Awaren in diesem Aufmarsch ihre furchteinflößende Macht demonstriert hatten, erfolgte am 31. Juli der erste Angriff, «wie ein Hagelsturm unter Donnerkrachen». Die im Belagerungsheer befindlichen Slawen verteilten sich über die gesamte Mauerlänge, um die Verteidiger weiträumig zu beschäftigen, aber die Hauptattacke erfolgte zwischen dem Pempton- und dem Polyandrion-Tor im zentralen Abschnitt über eine Länge von etwa einem Kilometer. In vorderster Linie kämpften leichtbewaffnete Slawen, erst dahinter folgten die gepanzerten Krieger. Gleichzeitig wurden Belagerungsmaschinen gefertigt – der eigentliche Sturmangriff war also erst für einen späteren Zeitpunkt geplant. Trotzdem rühmten sich die Byzantiner, die erste Attacke mit Hilfe der Gottesmutter abgewehrt zu haben, denn «überall war die Jungfrau zur Stelle». Unter der persönlichen Aufsicht des Khagans dauerten die Angriffe die nächsten Tage über an, wobei der Druck auf die Verteidiger stetig erhöht wurde. Die ersten Belagerungsmaschinen wurden bereits am Abend des 31. Juli aufgerichtet, weitere, darunter zwölf Türme, kamen in den folgenden Tagen hinzu; die Awaren hatten, wie sich nun zeigte, in den Jahren zuvor beträchtliche Fortschritte in der Poliorketik, der Belagerungstechnik, erzielt. Noch gefährlicher wurde die Situation, als der Khagan am 1. August den Slawen befahl, ihre Einbäume (monóxyla) an der Spitze des Goldenen Hornes zu Wasser zu lassen. Aufgrund der Untiefen konnten die Römer sie mit ihren schwereren Booten nicht direkt attackieren; umso mehr mussten sie von nun an größte Aufmerksamkeit walten lassen, dass die Slawen nicht in den Bosporus durchbrachen und Kontakt mit den Persern auf der asiatischen Seite aufnahmen.6 Und dennoch – es gelang den Slawen, drei persische Gesandte durch die byzantinischen Linien zu schmuggeln, was eine bemerkenswerte Episode zur Folge hatte: Am 2. August forderte der Khagan unvermittelt eine neue römische Gesandtschaft an, worauf sich eine Gruppe angesehener Männer – darunter der uns bereits bekannte Athanasios, aber auch Theodoros Synkellos – umgehend zu ihm begab und überraschenderweise mit drei Persern konfrontiert wurde, die offen-
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bar unmittelbar vorher das weitere gemeinsame Vorgehen mit den Awaren ausgehandelt hatten. Die neuen Absprachen zeigten sich in einer Modifikation der Forderungen des Khagans, der nun nicht mehr die Stadt inklusive der Einwohner für sich beanspruchte, sondern der Bevölkerung einen freien Abzug in Aussicht stellte – allerdings zu den Persern! Ganz offensichtlich ging es ihm also lediglich um die Inbesitznahme und Plünderung der Kapitale, nicht aber darum, dort längerfristig eine Herrschaftsbasis einzurichten bzw. die Stadt als funktionsfähiges urbanes Zentrum zu erhalten. Die byzantinische Delegation musste sich diese neuen Forderungen im Stehen anhören, während die persischen Gesandten bequem sitzen durften. Auch die Awaren hatten inzwischen gelernt, mit den symbolbefrachteten Feinheiten des spätantiken Protokolls umzugehen. Um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, wies der Khagan darauf hin, dass die Perser ihm 3000 Soldaten zur Verfügung stellen würden, wenn die Römer nicht einlenkten. Für diese war das eine ernste Drohung, konnten sie sich doch bis dahin nicht einmal erklären, wie die persischen Gesandten überhaupt auf die europäische Seite gelangt waren. Die Lage der Bewohner Konstantinopels erschien in diesem Moment nahezu aussichtslos. «Überlasst mir die Stadt und eure Güter; denn sonst gibt es für euch keine Rettung, es sei denn, ihr habt die Möglichkeit, Fische zu werden und euch durch das Meer davonzumachen oder Vögel zu werden und in den Himmel aufzusteigen». Die Römer reagierten auf dieses Ansinnen empört, verwiesen ihrerseits auf eine heranziehende Entsatzarmee und betonten in aller Deutlichkeit, dass sie niemals ihre Stadt aufgeben würden. Offenbar kam es nun zu einem heftigen Wortwechsel, bevor der Khagan die Delegation dann entließ – wobei er selbstverständlich die mitgebrachten Geschenke behielt.7 Die byzantinischen Gesandten dürften in erheblicher Unruhe den Weg zurück in die Stadt angetreten haben. Denn niemand von ihnen vermochte zu diesem Zeitpunkt einzuschätzen, wie gut die Informationskanäle zwischen Awaren und Persern tatsächlich funktionierten und welche Möglichkeiten Letztere besaßen, doch noch größere Mengen an Soldaten nach Europa überzusetzen. Zwar besaß die Armee des Šahrbarāz keine Flotte und war deshalb ganz auf die Einbäume der Slawen angewiesen, doch bestand weiterhin eine beträchtliche Gefahr, dass es diesen gelang – oder gar schon gelungen war? –, die römische Blockade zu durchbrechen.8 In dieser Situation kam den Römern der Zufall zu Hilfe: Die drei persischen Gesandten wurden bei ihrem Versuch, nachts zurück auf die asiatische Seite zu gelangen, aufgegriffen. Was nun folgte, stellt sich aus heutiger Sicht als Akt äußerster Brutalität dar. Für Zeitgenossen stand hingegen der symbolische Aspekt im Vordergrund: Es ging nicht um Rache oder Strafe, sondern darum, dem
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Khagan in aller Deutlichkeit zu übermitteln, dass die Verteidiger ihre Stadt niemals in seine Hände geben würden. Der erste persische Gesandte wurde gleich an Ort und Stelle, in jenem Kahn, in dem man ihn aufgefunden hatte, enthauptet. Dem zweiten wurden beide Hände abgehackt, um den Hals gehängt und der Kopf seines Gefährten unter den Arm geklemmt; in diesem Zustand musste er den Rückweg zum Khagan antreten. Der dritte schließlich wurde in einem Boot nach Chalkedon, in Sichtweite der Perser, gefahren und dort vor aller Augen ebenfalls geköpft. Die Byzantiner schleuderten sein Haupt zusammen mit einer schriftlichen Botschaft an Land: «Der Khagan hat mit uns eine Übereinkunft getroffen und uns die von euch zu ihm gesandten Botschafter geschickt; zwei von ihnen haben wir in der Stadt enthauptet, und – sehet her! – hier habt ihr den Kopf des Dritten!». Nun also sollten die Perser verunsichert und von einem angeblichen Seitenwechsel des Khagans überzeugt werden. Mit Letzterem hingegen wurde weiterhin auf der symbolischen Ebene kommuniziert: War schon die Rücksendung des verstümmelten Persers an ihn ein Signal der Stärke gewesen, so folgte am nächsten Tag, dem 3. August, ein weiteres: Stundenlang hatten Awaren und Slawen zunächst versucht, die römische Blockade zu durchbrechen und persische Truppen nach Europa zu verschiffen; das Unternehmen endete in einem Desaster und soll angeblich 4000 Perser das Leben gekostet haben. Als sich der Khagan am Abend ermattet zurückzog, ließ man ihm nunmehr Speise und Wein aus Konstantinopel bringen – auch um den Gesprächsfaden nicht ganz abreißen zu lassen. Dieser aber ließ durch einen seiner Kommandeure übermitteln: «Eine schwere Untat habt ihr begangen, dass ihr die, die gestern noch mit dem Khagan gespeist haben, umgebracht und überdies auch noch das Haupt und den anderen Mann mit abgehackten Händen zu ihm geschickt habt».9 Die Awaren mussten nun alles auf eine Karte setzen, wollten sie die Belagerung doch noch zum Erfolg führen, bevor die ohnehin prekäre Versorgung ihres Riesenheeres vollends zusammenbrechen würde. Bis zum 5. August erhöhte der Khagan weiter den Druck auf die Verteidiger, bereitete aber zugleich den entscheidenden Sturmangriff vor. Am Mittwoch, den 6. August, war es so weit: Mit voller Wucht griffen die Awaren nun die Landmauern in ihrer ganzen Länge an; die Gefechte zogen sich über den ganzen Tag und die folgende Nacht hin. Am nächsten Morgen wurden die Bemühungen noch einmal verstärkt: Die Slawen attackierten vom Goldenen Horn aus die schlechter befestigten Seemauern der Stadt. Was dabei im Einzelnen geschah, lässt sich (auch aufgrund einer Textlücke im Chronicon Paschale) nicht mehr eruieren: Entweder wurden die Slawen in einer erbittert geführten Seeschlacht auf dem Goldenen Horn regelrecht vernichtet oder sie wurden Opfer einer römischen Kriegslist – angeblich sollen armenische Soldaten einen Ausfall aus der Stadt gewagt und Feuer entzündet haben,
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was die Slawen fälschlich als Signal der Awaren gedeutet hätten, woraufhin sie an Land gegangen und dort von den Armeniern niedergemacht worden seien. Der spätere byzantinische Patriarch Nikephoros († 828) berichtet in seinem um 770 / 80 entstandenen Breviarium, dass das Meerwasser rot gefärbt gewesen sei vom Blut der niedergemetzelten Slawen – selbst ihre Frauen seien kämpfend gefallen. Das Goldene Horn, so Theodoros Synkellos, sei übersät gewesen mit Leichen und leeren Booten, dazwischen allenthalben Blut. Diejenigen Barbaren, die dem Massaker entronnen waren, schlugen sich in die Berge durch und suchten das Weite. Die Konfusion in unseren Zeugnissen über die Details des Sieges spiegelt die allgemeine Überzeugung der Byzantiner, dass sie ihren Triumph ohnehin einzig der Gottesmutter zu verdanken hatten; alles andere war Nebensache. Für Theodoros Synkellos, der seine gesamte Schilderung der Ereignisse diesem einen Gedanken unterordnet, stand jedenfalls fest, dass Maria persönlich interveniert und so an der Spitze der Verteidiger ‹ihre› Stadt vor dem Untergang gerettet habe. Selbst der Khagan soll während der Schlacht ausgerufen haben: «Ich sehe eine Frau in erhabener Kleidung, wie sie auf der Mauer umhereilt, ganz allein!»10 Für ihn selbst war die Katastrophe damit perfekt, denn auch zu Land konnten seine Truppen nichts ausrichten. Er wusste nun, dass er die Stadt nicht binnen weniger Tage würde erobern können. Das aber bedeutete: Er konnte sein Heer an Ort und Stelle nicht weiter versorgen. Gleichzeitig sprach man offen vom Herannahen einer byzantinischen Entsatzarmee, die sich möglicherweise sogar schon in Sichtweite befände. Und schließlich verbreitete sich Unmut unter seinen Kriegern, deren Zusammenhalt ganz wesentlich am Erfolg der Gesamtkoalition hing. Wahrscheinlich hatte er den Angriff auf Konstantinopel überhaupt nur deshalb gewagt, weil er seinen Truppen endlich wieder größere Mengen an Kriegsbeute verschaffen musste. Schon längst waren die ländlichen Regionen des Balkans ausgeblutet, die meisten Städte lagen erobert und geplündert brach, die ungeheuren Geldbeträge, die in immer neuen Verträgen den Römern als Tribute auferlegt wurden – zuletzt hatte Herakleios sich zur Zahlung der gigantischen Summe von 200 000 solidi (Goldmünzen) bereit erklärt –, genügten nicht mehr, um die Kriegerkoalition zu befriedigen. Diese hatte mittlerweile das Maximum eines kontrollierbaren Verbandes überschritten und wies alle typischen Anzeichen der Überdehnung auf, wie sie für rasch expandierende ‹Steppenreiche›, unter anderem das der Hunnen rund zwei Jahrhunderte zuvor, typisch sind. Thessalonike hatte dem awarischen Ansturm bereits erfolgreich widerstanden, die letzte Chance des Khagans war Konstantinopel. Gescheitert. Seine Herrschaft wurde brüchig. Wahrscheinlich war es schon vor dem Angriff auf die Bosporusmetropole zu Unruhen und Aufständen im Herrschaftsbereich der Awaren gekommen.
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Vor allem die Slawen begehrten auf. Da kam es sicherlich nicht sonderlich gut an, dass der Khagan nach der missglückten Attacke auf die Seemauern am Goldenen Horn jene Slawen, die sich heil aus der Schlacht ins Lager geschleppt hatten, aus Wut niedermetzeln ließ.11 In der Nacht vom 7. auf den 8. August begann der Abzug der Awaren. Der Khagan ließ die Belagerungsmaschinen verbrennen, damit sie nicht in römische Hände fielen. Hohe Rauchsäulen erhoben sich daher bald über der Stadt und vermittelten den Persern auf der asiatischen Seite des Bosporus die Illusion, sie sei gefallen. Mit einer Mischung aus Freude und Neid sollen die Perser das Schauspiel beobachtet haben. So sehr man über den vermeintlichen Untergang der byzantinischen Kapitale beglückt war, so wenig gönnte man den Awaren diesen Erfolg. Am 8. August befanden sich indes nur noch wenige awarische Reitereinheiten vor der Stadt. Sie verwüsteten das Umland, legten Feuer an einige Kirchen – lediglich die Marienkirche in Blachernai blieb durch das Einschreiten der Gottesmutter verschont – und zogen ab. Der Khagan selbst, dessen Autorität massiv beschädigt war, führte seinen Rückzug auf Versorgungsschwierigkeiten zurück und drohte finster, er werde zurückkommen.12 Die Jubelstimmung in der Stadt wandelte sich sogleich in Übermut. Bonos gelang es nicht, die Bewohner davon abzuhalten, aus den Toren zu stürmen und zurückgebliebene Feinde zu massakrieren; selbst Frauen und Kinder beteiligten sich an der Plünderung der verlassenen Lagerstätten. Schließlich wagten sich Sergios und Bonos unter militärischem Schutz ein erstes Mal geordnet aus dem Mauerring heraus, inspizierten die Lage und veranstalteten eine Dankprozession; sie wurde seitdem jährlich am 7. August in Byzanz wiederholt. Trümmer, Rauch und Leichen allenthalben. Es dauerte Tage, die Toten zu bestatten, Brände zu löschen und die restlichen slawischen Boote zu zerstören. Die Perser verharrten noch einige Tage in ihren Stellungen, dann zogen auch sie ab; sie hatten nichts ausrichten können – hilflose Zuschauer beim byzantinischen Triumph.13 Der unerwartete Erfolg beflügelte die Kriegführung der Römer gegen die Perser. In dem erbittert geführten Ringen setzten sie sich schließlich durch. Nach dem Sieg der Truppen des Herakleios wurde Chosroes II. 628 ermordet, sein Reich versank in Unruhen und trudelte unaufhaltsam dem Untergang entgegen. Den Angriffen der muslimischen Araber seit 634 konnten die erschöpften Sāsāniden keinen wirksamen Widerstand mehr entgegensetzen. Ihr letzter Herrscher, Yazdgird III., wurde 651 ermordet, das Reich zerfiel. Doch auch für die Awaren folgten nach dem Misserfolg vor Konstantinopel turbulente Jahre. Schon zuvor hatten sich Erosionserscheinungen im Machtbereich des Khagans bemerkbar gemacht. Insbesondere slawische Gruppen begehrten auf und erwiesen sich als immer schwerer zu kontrollieren. In verschiedenen Regionen, namentlich der
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Balkanhalbinsel, lösten sie sich von den Awaren und führten selbständige Operationen durch, auch mit dem Ziel einer eigenständigen Landnahme. Wahrscheinlich hatte der Aufstand des abenteuerlustigen Kaufmanns Samo aus dem Frankenreich bereits um 623 /24 begonnen und zur Abspaltung größerer Gebiete von den Awaren um die Region des heutigen Mähren geführt. Der Prestigeverlust des Khagans im Jahr 626 verstärkte Sezessionsbestrebungen dieser Art. Vielleicht lässt sich gar die kroatische und serbische Ethnogenese (‹Ausbildung eines Volkes›) in Form von Ansiedlungen auf dem westlichen Balkan als mittelbare Folge der Geschehnisse interpretieren. Das ‹Awarenreich› jedenfalls hatte seinen Zenit überschritten.14 Konstantinopel hingegen war seinem Ruf als unerschütterliches Bollwerk gerecht geworden – ein Bollwerk der Römer und der ‹orthodoxen› Christenheit, wirksam und für alle unübersehbar von der Gottesmutter beschirmt. Damit hatte die Bosporusmetropole eindrucksvoll ihre Position als unangefochtenes Zentrum des Imperium Romanum behauptet. Keine andere Stadt war in der Lage, ihr diesen Rang streitig zu machen, und in dem Maße, in dem in den folgenden Jahrzehnten immer weitere römisch-byzantinische Städte an auswärtige Eroberer fielen – vor allem an die Araber –, verdichtete sich Konstantinopels Anspruch, das eigentliche Zentrum und Herz des Reiches zu sein. Befördert wurde diese Sichtweise von einer nachhaltigen eschatologischen Aufladung der Rolle Konstantinopels. Solange die Kapitale unversehrt bestand, so die verbreitete Ansicht, würde auch das Reich nicht untergehen. Erst damit hatte sich die translatio imperii, der Übergang der Herrschaft über das Reich von Rom auf Konstantinopel, vollständig vollzogen. Das Neue Rom hatte seine erste große Bewährungsprobe bestanden.15
1.1.2 Rom 410: Kein Wunder am Tiber
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Auch der 24. August 410 hatte alles verändert. Aber das Alte Rom hatte damals nicht ganz so viel Glück gehabt wie rund zwei Jahrhunderte später das Neue Rom. «Was ist noch heil, wenn Rom zugrunde geht» – so hatte im Jahr 409 der Kirchenvater Hieronymus orakelt, im Wissen um die Bedrohung, der die Urbs, die Stadt schlechthin, damals bereits ausgesetzt war. Im folgenden Sommer bewahrheiteten sich dann seine schlimmsten Befürchtungen: Erstmals, seitdem keltische Plündererscharen Rom erobert hatten – was mittlerweile immerhin an die 800 Jahre zurücklag –, standen wieder triumphierende Barbaren auf dem Forum. «Die Stimme stockt, und Schluchzer unterbrechen die Worte beim Diktieren;
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eingenommen ist die Stadt, die den ganzen Erdkreis eingenommen hat», klagte Hieronymus und zeigte sich entsetzt darüber, dass «das strahlendste Licht aller Länder ausgelöscht, ja sogar des Römischen Reiches Haupt abgeschlagen und […] in einer Stadt der gesamte Erdkreis zugrundegegangen» sei. Zeitgenossen deuteten die Ereignisse mitunter als Indiz für die Auflösung der natürlichen Ordnung, als Fanal des Weltendes. Der Chronist Hydatius etwa, in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts Bischof von Aquae Flaviae in Gallaecia (heute Chaves, Portugal) und dort permanent mit der Abwehr suebischer Angriffe beschäftigt, die ihn in seinen finsteren eschatologischen Naherwartungen bestätigten, hielt – freilich mit einer selbst für seine «elende Zeit» (miserabile tempus) außergewöhnlichen Drastik – fest: «Und da so die vier Plagen des Schwertes, des Hungers, der Krankheit und der wilden Tiere überall auf der ganzen Welt wüten, gehen die vom Herrn durch seine Propheten verkündigten Weissagungen in Erfüllung». Eine Katastrophe hatte sich ereignet, die hektische Reaktionen auslöste und langfristige Wirkungen entfalten sollte: Kaiser Honorius (395–423), dessen ungeschicktes Taktieren gegenüber dem Goten Alarich maßgeblich zur Eroberung Roms beigetragen hatte, war eifrig beflissen, die Geschehnisse möglichst rasch vergessen zu machen, und inszenierte bereits 416 einen Triumph, der mit einer feierlichen Neugründung (synoikismós) der Ewigen Stadt einherging. Gleichwohl wurde der Abzug der Eindringlinge am 28. August noch Jahrzehnte später dankbar gefeiert. Christen und Altgläubige gerieten in eine wortgewaltig geführte Kontroverse um die Ursachen für die Einnahme Roms, die literarische Erzeugnisse höchsten Ranges hervorgebracht hat, darunter die Historien des Orosius als erste christliche Weltgeschichte, Augustins monumentales Werk De civitate Dei (Die Gottesstadt), aber auch das wehmütig-nostalgische Gedicht De reditu suo (Über meine Heimkehr) des gallorömischen Aristokraten Rutilius Namatianus, der im Jahr 417 seine Rückreise aus Rom, wo er 414 immerhin als Stadtpräfekt (praefectus urbi) gewirkt hatte, in die gallische Heimat beschrieb und dabei noch einmal stolz die Größe und Regenerationsfähigkeit der Urbs beschwor. Weniger das Ereignis selbst als vielmehr die unmittelbar daran anschließende Rezeptionsgeschichte, die im Verlauf der Jahrhunderte vielfältige Eigendynamiken entwickelte, hat dafür gesorgt, dass das Jahr 410 sich als eine der großen Zäsuren der europäischen Geschichte in unser kollektives Gedächtnis eingegraben hat und nunmehr sinnbildlich für ‹die Völkerwanderung› steht. Ferdinand Gregorovius (1821–1891) etwa ließ mit Alarichs Erstürmung Roms das Mittelalter in der Tibermetropole beginnen.16 Von einer ‹Erstürmung› zu sprechen, ist streng genommen allerdings übertrieben. Die mächtigen Mauern, mit denen die Kaiser Aurelian (270–275) und Probus (276–282) in den unruhigen Zeiten des 3. Jahrhunderts die Stadt hatten befestigen und die Honorius in den Jahren 401 bis 403 noch einmal hatte verstär-
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ken lassen, stellten auch für Alarich und sein Heer prinzipiell ein unüberwindliches Hindernis dar. Doch nach zwei vorausgegangenen Belagerungen und Blockaden der Versorgungswege in den Jahren 408 und 409 litt die Bevölkerung, soweit sie die Stadt nicht bereits verlassen hatte, unter qualvollem Hunger und kämpfte mühsam um das tägliche Überleben, immerhin so sehr, dass spätere Historiographen von Kannibalismus unter den dahindarbenden Eingeschlossenen berichten konnten – ein beliebter literarischer Topos, den man immer dann gerne bemühte, wenn es darum ging, die Schrecken von Belagerungen möglichst drastisch zu illustrieren. In dieser Situation, so der Geschichtsschreiber Prokop um die Mitte des 6. Jahrhunderts, soll eine römische Aristokratin namens Proba den Angreifern die Porta Salaria im Norden des Aurelianischen Mauerrings geöffnet haben, um weitere Lebensmittelblockaden zu vermeiden und die Bevölkerung Roms endlich vom Elend des Hungerns zu erlösen. Ob Prokops «Proba» auf die auch anderweitig bekannte Anicia Faltonia Proba, eine Angehörige der in der Spätantike prominenten Familie der Anicii, zurückgeht, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären. Es ist jedoch gut denkbar, dass gerade diese Assoziation beabsichtigt war, als die «Proba»-Geschichte verbreitet wurde. Der Umstand, dass das Zentrum der römischen Welt sogar kampflos in die Hände barbarischer Eroberer gefallen war, nagte beträchtlich am ohnehin angeschlagenen Selbstbewusstsein der Zeitgenossen. Ein möglicher Verrat bot sich in dieser Situation als plausible Erklärung geradezu an, und die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang eine der damals bekanntesten aristokratischen Familien verleumdet wurde, verweist auf die innere Zerrissenheit der römischen Elite in der Frage, wie man Alarich und seinen Leuten entgegentreten sollte; sie hatte schon in den Monaten vor der Katastrophe wiederholt zu heftigen Verwerfungen geführt und wohl erheblich zur Zuspitzung der Situation beigetragen.17
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Eine weitere Erklärung für den Fall der Stadt hält jedoch abermals Prokop bereit – eine Kriegslist Alarichs: Der Gote habe, so heißt es, 300 noch bartlose Jungmänner zum Schein an römische Aristokraten verschenkt und dann seinen Abzug simuliert. Zu einem vorher verabredeten Zeitpunkt hätten die auf diese Weise in die Befestigung eingeschleusten Goten dann die Porta Salaria geöffnet und dem Heer den Einzug ermöglicht. In dieser Version der Geschichte könnten Elemente aus Initiationsriten, wie sie verschiedentlich aus der antiken Welt bekannt sind (so etwa die unkonventionellen, [para-]militärischen Aufgaben für junge Männer im Übergang zum Erwachsenenstatus oder auch die häufig anzutreffende Zahl 300), mit Ereignissen um die Eroberung Roms kontaminiert worden sein. Jedenfalls handelt es sich auch bei dieser Variante offenkundig um einen Versuch, den Umstand zu erklären, dass die Stadt ohne handfeste Gegenwehr in
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die Hände der Belagerer fallen konnte, eine ‹Erstürmung› also ganz offensichtlich nicht erforderlich gewesen war. Erst als die Goten schon in der Stadt standen, scheint sich Widerstand formiert zu haben: Prokop berichtet von Bränden in der Nähe des Tores, die man als Folge dieser Kämpfe deuten kann. Noch ein Jahrhundert später konnte der Historiograph selbst in Rom die Ruinen der Villa des großen Geschichtsschreibers Sallust in Augenschein nehmen, die damals in Flammen aufgegangen war.18 Was jedoch nach diesen Eingangsscharmützeln in der Stadt geschah, in jenen drei Tagen der Brandschatzung also, bevor Alarichs Truppen am 27. August in Richtung Süden abzogen, ist weitgehend ungewiss. Verlässliche Aussagen über Hergang und Ausmaß der Plünderungen lassen sich nicht treffen, weil die Materialbasis zu schmal ist. Unser einziger Augenzeuge, der Prediger Pelagius, komprimiert seine Erlebnisse zu einem minimalen Satz, wonach sich «dasselbe Bild des Todes allen» gezeigt habe (eadem omnibus imago mortis); einige wenige, nicht sonderlich auskunftsfreudige Inschriften lassen sich zumindest theoretisch – aber keineswegs sicher – auf die Geschehnisse beziehen; im archäologischen Befund hat das Jahr 410 kaum Niederschlag gefunden. Immerhin lassen sich Brandspuren an der Basilica Aemilia auf dem Forum Romanum plausibel auf Zerstörungen im Kontext der Einnahme Roms zurückführen (zahlreiche Bronzemünzen brannten sich durch das Feuer regelrecht in den Marmorfußboden ein), und dass die luxuriösen Residenzen stadtrömischer Aristokraten auf dem Caelius und dem Aventin vielfach den Eindringlingen zum Opfer gefallen sind, ist zumindest nicht ganz unwahrscheinlich. Möglicherweise richtete sich der Zorn der Goten insbesondere auch gegen die Curia, den Sitz des Senats – denn Letzterer hatte sich in den Monaten zuvor als Zentrum des Widerstands gegen Alarich und seine Forderungen profiliert. Die auf den ersten Blick recht üppige literarische Überlieferung zu den schicksalsträchtigen Augusttagen des Jahres 410 entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedenfalls als Ausschnitt aus einem übergreifenden und vielschichtigen Stilisierungs- und Diskussionsprozess, der bereits unmittelbar nach dem Abzug der Goten eingesetzt hat und in ein diskursives Kontinuum übergegangen ist, das letztlich bis in die Gegenwart reicht. Keiner unserer ‹Zeugen› jedoch – weder Hieronymus noch Augustin, Orosius, Prokop oder ein anderer – hat die Plünderung Roms selbst miterlebt. Sie alle berichten bestenfalls aus zweiter Hand und haben das für sie verfügbare Material im Dienst jeweils spezifischer Darstellungsintentionen ausgeformt. Moderne Historiker können daher lediglich noch rekonstruieren, welche großen Themen infolge der Eroberung Roms von Zeitgenossen verhandelt wurden. Das Ereignis selbst hingegen bleibt schattenhaft.19 Zu diesen großen Themen gehört die kolportierte Milde, mit der die Eroberer in Rom aufgetreten sein sollen. Sie spiegelt sich bereits in den unterschiedlichen
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Kapitel I Forschungsobjekt und Darstellungsproblem
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Versionen vom angeblich gewaltlosen Einzug der Goten in Rom und zieht sich wie ein roter Faden durch die christliche Überlieferung zum Jahr 410. Der in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts im Ostgotenreich wirkende römische Senator Cassiodor etwa hielt in seiner Chronik fest, die Goten hätten ihren Sieg «milde» ausgekostet (clementer usi victoria sunt). In besonderer Weise wird das Motiv des ‹humanen› Eroberers von Paulus Orosius ausgestaltet, einem christlichen Presbyter, der im Jahr 417 /18 seine Historien abschloss. Orosius verfasste diese christliche Weltgeschichte im Auftrag Augustins, mit dem Ziel nachzuweisen, dass die Geschehnisse einen festen Platz im göttlichen Heilsplan besäßen, der sich dadurch manifestiere, dass sich seit Beginn der «christlichen Zeiten» (tempora Christiana)
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mit der Friedensherrschaft des Augustus und der gleichzeitigen Inkarnation Christi die Lebensverhältnisse der Menschen schrittweise deutlich verbessert hätten. Im Vergleich zu den furchtbaren Katastrophen der Vergangenheit seien die aktuellen Zustände somit geradezu glücklich zu nennen. Konsequenterweise wird vor diesem Hintergrund die Eroberung Roms durch Alarich von der Katastrophe zum Heilsereignis (salus) umgewertet, in den Worten des Historiographen: «Weithin ertönt beim Untergang der Stadt die Trompete des Heils» (personat late in excidio urbis salutis tuba). Wie Zeitgenossen, die den Fall Roms selbst hatten miterleben müssen, auf diese interessante Deutung reagiert haben, wissen wir leider nicht.20 Das ‹humane› Vorgehen Alarichs wird bereits in den ersten Worten, mit denen Orosius sein Kapitel über die Eroberung Roms einleitet, angedeutet: adest Alaricus – in den Ohren von Zeitgenossen eine durchaus verstörende Formulierung, denn im Verbum adesse schwang die Konnotation ‹hilfreich zur Seite stehen› hörbar mit. Alarich, der Beschützer Roms? Direkt im Anschluss weist der Historiograph darauf hin, dass die Goten jene Römer verschont hätten, die sich in Kirchen geflüchtet hätten – ein Motiv, das die Überlieferung zu den Ereignissen des Jahres 410 insgesamt dominiert –, um dann von einer bemerkenswerten Episode zu berichten: Während die Barbaren in der Stadt «hin- und hergelaufen» seien (Orosius vermeidet jeden expliziten Hinweis auf brutale Kampfhandlungen, Plünderungen, Zerstörungen usw.), habe ein christlicher Gote eine ältere Nonne angetroffen und «auf anständige Weise» (d. h. ohne Vergewaltigung) Gold und Silber von ihr gefordert. Diese habe ihm daraufhin größere Mengen wertvollen liturgischen Geräts präsentiert, was den Goten derart fassungslos gemacht habe, dass er zunächst Alarich habe Bericht erstatten lassen. Dieser wiederum habe augenblicklich befohlen, die Gegenstände zur Kirche des Apostels Petrus zu verbringen; auch die Nonne sowie jeder Christ, der sich habe anschließen wollen, sollten unter gotischem Geleitschutz (cum defensione) zur Kirche gebracht werden. Und nun sei es zu einem großartigen Schauspiel (magnum spectaculum) gekommen: Eine fromme Prozession (pia pompa) sei mit dem liturgischen Gerät durch die ganze Stadt gezogen, beschützt von gotischen Schwertern. Römer und Barbaren hätten sogar gemeinsam einen Hymnus auf Gott angestimmt, wer bisher noch versteckt geblieben sei, habe sich dem Zug angeschlossen – selbst Altgläubige, die auf diese Weise ihr Leben bewahren konnten: «Je zahlreicher sich flüchtige Römer anschlossen, desto begieriger umgaben die barbarischen Beschützer sie». Orosius überschlägt sich im Folgenden ob der Großartigkeit dieser Szene und kann in seinem ausgelassenen Entzücken kaum an sich halten: «Wer könnte dies gegenüber vollgültigen Wundern abwägen, wer könnte es in würdigen Lobliedern preisen?»21
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Kapitel I Forschungsobjekt und Darstellungsproblem
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Der Rest hingegen ist für den Historiographen schnell erzählt: Am dritten Tag der Plünderung seien die Barbaren freiwillig wieder abgezogen; sie hätten zwar einige Häuser in Brand gesteckt, aber jenes Feuer, das Nero seinerzeit in Rom gelegt habe, habe weitaus zerstörerischer gewirkt, und die Gallier hätten einst sogar fast ein ganzes Jahr lang in Rom gehaust. Die Milde Alarichs und der Goten hingegen sei derart außergewöhnlich gewesen, dass Gott nach ihrem Abzug einige Bauwerke Roms, die verschont geblieben seien, durch Blitzschlag habe zerstören müssen, um die sündige Bevölkerung doch noch angemessen zu bestrafen. Denn die Einnahme der Stadt sei Folge der «Empörung Gottes» (indignatio Dei) über die Untaten des «Sündervolkes» (peccator populus) gewesen, ähnlich dem Untergang Sodoms, und die Goten hätten nur als Werkzeuge des Herrn agiert.22 Damit ist die Umwertung der Katastrophe perfekt: Die Eroberer Roms werden als Beschützer der Römer präsentiert. Orosius gießt dies anschaulich in das Begriffspaar «Römer auf der Flucht» (Romani confugientes) – «barbarische Beschützer» (barbari defensores). Deren Anführer Alarich hatte Orosius wenige Abschnitte zuvor als Inbegriff der Milde in Gegensatz zu einem anderen Gotenführer, Radagaisus, gesetzt (so wie auch Augustin es tat). Dieser sei ein blutrünstiger Mörder gewesen, ein echter Heide und Skythe; nicht so hingegen der Christ Alarich. Die Eroberung Roms hat somit vor allem eines zur Konsequenz: Im Rausch der religiösen Erfahrung während der Prozession gewinnen Eroberer und Eroberte eine gemeinsame Identität. Für einen Moment erscheint der Gegensatz zwischen Römern und Barbaren aufgehoben.23 Wer aber hätte so etwas glauben sollen? Wir wissen immerhin aus Andeutungen und indirekten Zeugnissen, dass die Eroberung Roms 410 ganz so unblutig, wie Orosius es uns nahelegt, nicht abgelaufen sein kann. Er selbst muss ja sogar eingestehen, dass Teile der Stadt in Flammen aufgegangen sind; und wenn er eigens darauf hinweist, dass ‹sein› Gote die erwähnte Nonne angegangen ist, ohne sie zu vergewaltigen, so war dies offenbar eher die Ausnahme als die Regel. Eine ähnlich erbauliche Geschichte, auch sie um das Thema Vergewaltigung kreisend, überliefert der Kirchenhistoriker Sozomenos in den 440er Jahren. Hieronymus wiederum berichtet von Marcella, einer mit ihm befreundeten römischen Christin, die mit außergewöhnlichem Mut und besonderer Gelassenheit den auf sie eindringenden Goten entgegengetreten sein soll – trotz des hohen Maßes an pathetischer Stilisierung doch wohl auch ein Hinweis auf die Zustände im eroberten Rom. Auch Prokop deutet an, dass die Goten immensen Schaden in Italien angerichtet hätten; andere Autoren, deren Zuverlässigkeit im Einzelnen sicherlich diskutiert werden mag, bestätigen jedenfalls tendenziell diesen Eindruck. Vor allem aber können wir aus den Ausführungen Augustins, in denen er
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auf Fragen und Vorhaltungen reagierte, mit denen ihn die Opfer der Katastrophe konfrontierten, Rückschlüsse darauf ziehen, welche Schrecken sie im August 410 in der Tibermetropole erlebt haben müssen. Vieles spricht dafür, dass tatsächlich zwar die Kirchen als Asylorte respektiert wurden, ansonsten jedoch genau das geschah, was bei Eroberungen von Städten stets zu gewärtigen war: Mord, Vergewaltigung, Plünderung, wildes Beutemachen, unkontrollierte Gewaltexzesse, Brandschatzung, Zerstörung, Versklavung, Verschleppung usw.24 Orosius führt uns also ein hochgradig stilisiertes Konstrukt vor, das ganz seinen literarischen Intentionen einer Relativierung der Geschehnisse im Lichte des göttlichen Heilsplans entspricht, mit den tatsächlichen Vorgängen jedoch nicht allzu viel zu tun gehabt haben dürfte. Er greift damit in jene Diskussionen ein, die seit dem Jahr 410 offenbar mit einiger Erregung und Intensität im gesamten westlichen Teil des Imperium Romanum geführt worden sind. Doch nicht einmal er selbst dürfte von dem überzeugt gewesen sein, was er seinen Lesern darbot: Sicherlich, die Goten erscheinen bei ihm als Beschützer der Stadt, aber warum bezeichnet er sie (wie viele seiner Zeitgenossen) dennoch als «Feinde» (hostes)? Ohne Zweifel, Alarich wird vor allem durch seine Milde charakterisiert, aber an anderer Stelle erfährt man, welcher Art die Milde ist, die der Historiograph dem Goten zuschreibt: Milde beim Morden. Und während Alarich sich in Rom so anständig und korrekt geriert haben soll, kann Orosius sein Verhalten in den römischen Provinzen nicht anders denn als «wüste Raserei» (bacchari) bezeichnen. Schließlich: Die Einnahme Roms gerät zum Heilsereignis innerhalb eines providentiellen Ablaufs der Weltgeschichte – und dennoch: Orosius bezeichnet den Vorgang weiterhin als excidium urbis, als «Untergang der Stadt», und bejubelt am Ende seines Werkes vor allem eines: dass die Barbaren sich fortan gegenseitig totschlügen.25 Es wäre zu einfach, diese Widersprüche lediglich einer vermeintlichen Inkompetenz des Historiographen Orosius zuzuschreiben. Sie sind vielmehr als Ausdruck grundsätzlicher Schwierigkeiten zu begreifen, mit denen sich Zeitgenossen konfrontiert sahen, wenn sie versuchten, gegenwärtiges Geschehen für sich verständlich zu machen. Die Eroberung Roms im Jahr 410 steht exemplarisch für dieses Phänomen. Der Zeitraum, den wir im deutschen Sprachgebrauch gemeinhin als ‹Völkerwanderung› bezeichnen, war eine Phase vielfältiger Transformationsprozesse, die für die Mitlebenden nicht nur physisch mit schmerzhaften und häufig gewaltsamen Erfahrungen einhergingen. Gewissheiten, die seit Jahrhunderten Gültigkeit besessen hatten und dazu dienten, den Alltag, die Welt, ja das Leben schlechthin zu strukturieren, wurden plötzlich infrage gestellt. Hatten die alten Götter sich strafend von den Römern abgekehrt, weil immer mehr Bewohner der Stadt sich dem Christentum zuwandten? Und warum hatte der christliche
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Gott das Unheil nicht verhindert? Wie hatte es überhaupt geschehen können, dass die Eroberer der Welt nun selbst Opfer einer Eroberung geworden waren? Nicht einmal mehr die seit ewigen Zeiten vertraute, stets klare Trennung zwischen Römern und Barbaren funktionierte noch. Als es im Jahr 402 bei Pollentia (heute Pollenzo, Italien) zur Schlacht gegen Alarich kam, übertrug der römische General Stilicho das Kommando über die römischen Truppen ausgerechnet dem heidnischen Barbaren Saulus. Dieser griff prompt am Ostertag an, als die Goten gerade fromm und ahnungslos die Messe zelebrierten. Römer verhielten sich jetzt in einer Weise, die bisher als ‹barbarisch› gegolten hatte. Ganz ähnlich klagte ebenfalls im 5. Jahrhundert der gallische Priester und Asket Salvian von Marseille, einer der radikalsten Zeitkritiker der Spätantike, darüber, dass von obrigkeitlichen Pressionen bedrängte Römer zu den «Feinden» flöhen, «da sie bei den Barbaren die Menschlichkeit der Römer (Romanam humanitatem) suchten, weil sie bei den Römern die barbarische Unmenschlichkeit (barbaram inhumanitatem) nicht ertragen könnten». Wer also waren nun eigentlich die ‹Barbaren›, wer die ‹Römer›?26 Orosius’ Schilderung der Eroberung Roms führt uns letztlich vor allem eines vor Augen: Wir können vielfach auf zeitgenössische Wahrnehmungen, Deutungen, mitunter auch auf Diskurse zugreifen; wir können Aussagen darüber treffen, wie bestimmte Geschehnisse in bestimmten Kreisen behandelt und bewertet worden sind. Aber selbst für Kernereignisse der sogenannten Völkerwanderung besitzen wir mitunter keine hinreichende Materialbasis, um den genaueren Hergang, um Kontexte und Folgen auch nur in Ansätzen rekonstruieren zu können. Gleichermaßen bleiben die Motive, aus denen heraus einzelne Personen agierten, häufig unklar. Alarich stellt in dieser Hinsicht eines der prominentesten Exempel dar. Ohne Zweifel einer der wichtigsten Protagonisten jener Phase, verfügen wir zu seiner Person, seiner Stellung im Gotenverband, ja letztlich auch zu den Gründen für seinen Handstreich gegen Rom kaum über sicheres Wissen. Man braucht sich in der verschlungenen Rezeptionsgeschichte dieser Figur gar nicht allzu weit zurückzubegeben, um auf ganz unterschiedliche Alarich-Vorstellungen zu treffen. Selbst die aktuelle Forschung ist sich höchst uneins in der Frage, wie sie Alarich – und damit die Eroberung Roms und ihre Gründe – zu beurteilen hat. Wie soll man diese Gestalt überhaupt klassifizieren? Er war zwar Barbar (‹Gote›), agierte jedoch offiziell auch als römischer General und dürfte in dieser Funktion sogar in Rom eingezogen sein; er war Christ, hing aber der ‹arianischen› (homöischen) Glaubensrichtung an (was für Orosius erstaunlicherweise keine Rolle spielt); wenn schon nicht katholisch, so doch wenigstens kein Heide – so sah es zumindest Augustin. Doch was konkret mag Orosius gemeint haben, wenn er den christlichen Goten Alarich im
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Vergleich zum paganen Goten Radagaisus als «einem Römer näher» (propior Romano) ansah? Waren denn nicht beide weiterhin Barbaren? Alarich stellte im Jahr 394 Kaiser Theodosius I. seine Soldaten im Kampf gegen den Usurpator Eugenius zur Verfügung, um mit ihnen kurz darauf große Teile des Römischen Reiches zu verwüsten und schließlich dessen Hauptstadt einzunehmen. Er agierte phasenweise im Dienst des östlichen Kaiserhofs, dann wieder als Agent des Westens. Sämtliche Widersprüche und Paradoxien barbarischer warlords in der Spätantike fließen in Alarich wie in einem Brennspiegel zusammen. Muss man ihn als tragische Figur ansehen, unter deren Führung die «werdenden Westgoten» zwar wichtige Schritte im Prozess ihrer Ethnogenese vollzogen haben, dies aber nur auf dem Wege ständiger – freundlicher wie feindlicher – Auseinandersetzungen mit den Römern erreichen konnten, unter denen der einzig nach Integration strebende Gote schließlich zerrieben worden ist (Herwig Wolfram)? Hat Alarich Rom mehrfach bedroht, um Kaiser Honorius zu einem Vertrag nach dem Muster des berühmten sogenannten Gotenfoedus von 382 zu zwingen, dabei aber die Bedeutung der Stadt, die der Kaiser ohne größeren politischen und militärischen Schaden preisgeben konnte, überschätzt, so dass ihre Plünderung letztlich ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns war (Peter Heather)? War Alarich lediglich ein Truppenführer, der aufgrund widriger Umstände aus römischen Diensten herausgefallen war, zunehmend Opfer der Konkurrenz der beiden Kaiserhöfe des Westens und des Ostens wurde und gleichsam als Gegengewicht das ‹Gotentum› seiner Mannschaft konstruierte, Letzteres gipfelnd in seiner Königserhebung (Guy Halsall)? Oder müssen wir ihn als Spielball eines «einfältig[en]», ja «geistig zurückgeblieben[en]» römischen Kaisers und dessen intriganter Berater ansehen, die ihn in eine vollkommen ausweglose Situation manövriert hatten, in der er dem Druck der eigenen, von Hunger, Seuchen und Erfolglosigkeit gequälten Leute schließlich nachgeben musste und mit der Eroberung Roms zwar deren unmittelbare Bedürfnisse befriedigte, sich selbst aber jeglicher Perspektive beraubte (Michael Kulikowski)? Nicht nur in dieser Deutung hätten sich die Römer ihren gefährlichen Feind letztlich selbst erschaffen und dies postwendend schmerzlich zu spüren bekommen.27 Ohne Zweifel befanden sich Alarich und seine Anhänger in einer prekären Situation (Walter Pohl), als sie Rom schließlich – nach zwei vorausgegangenen Belagerungen und der erfolglosen Ein- und wieder Absetzung eines Marionettenkaisers (Priscus Attalus) – einnahmen. Das Verhandlungspotential mit dem westlichen Kaiserhof in Ravenna war ausgeschöpft, letzte Gespräche waren schließlich auch noch mutwillig sabotiert worden. Gleichzeitig wuchs mit jedem Tag der Druck auf den Goten: Er musste seinen täglich wachsenden, durch
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Flüchtlinge, Unzufriedene und Neuankömmlinge unterschiedlicher Herkunft anschwellenden Verband versorgen und ihm eine Perspektive aufweisen – und er musste seinen eigenen Führungsanspruch durch Taten und Erfolge untermauern; er benötigte etwas zum Verteilen, um seine Position weiterhin bewahren zu können. Gut 15 Jahre lang war er nun bereits unterwegs, seit er im Jahr 394 für Theodosius I. gegen Eugenius gekämpft hatte, dann aber mit seinen Truppen entlassen und fortgeschickt worden war. 15 Jahre des Wanderns, des mehrfachen kurzfristigen Verharrens, des Plünderns, der versuchten Ansiedlung, des Verhandelns und Kämpfens. Konflikte zwischen den beiden römischen Kaiserhöfen hatten dauerhafte Lösungen immer wieder zunichtegemacht: Niemand gönnte dem anderen den militärisch wertvollen Verband Alarichs, aber ebenso fand sich niemand bereit, ihm eine längerfristige Perspektive zu bieten. Mit Stilicho, dem höchsten General und mächtigsten Mann im Westen, war es schließlich zu einer Übereinkunft gekommen; Alarich sollte, so die Absprache, gegen jene Barbaren vorgehen, die in der Silvesternacht 406 / 07 den Rhein überschritten hatten und seitdem Gallien verheerten. Aber das Abkommen konnte nicht eingelöst werden: Stilicho fiel im August 408 einer Intrige zum Opfer, und Alarich verlor damit seinen wichtigsten Fürsprecher und Mittelsmann im Westen. In den nun folgenden Verhandlungen mit Kaiser Honorius ging er mit seinen Forderungen schrittweise zurück, aber auch dies führte zu keinem Ergebnis. Schließlich blieb ihm keine Alternative mehr, wollte er nicht ein Kollabieren seines Verbandes riskieren. Er eroberte Rom und verließ die Stadt nach drei Tagen, beladen mit Beutestücken, wie sie märchenhafter nicht hätten sein können: Als die 410 aus Rom verschleppte Prinzessin Galla Placidia im Jahr 414 mit Alarichs Schwager und Nachfolger Athaulf verheiratet wurde, schenkte der König seiner Braut 50 wohlgestalte Jünglinge in Seidengewändern, ein jeder beladen mit zwei immensen Schalen, von denen jeweils eine mit Gold, die andere mit wertvollen Edelsteinen gefüllt war. Als die Franken im Jahr 507 die Westgoten bei Vouillé besiegt hatten, belagerten sie die Festung Carcassonne, um den westgotischen Königsschatz in ihre Hände zu bekommen; darin befanden sich unter anderem Teile der Reichtümer des biblischen Königs Salomon, die Titus nach der Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahr 70 von Jerusalem nach Rom verbracht hatte, von wo aus die Goten 410 ihrerseits große Mengen daraus abtransportiert hatten (den Rest raubten 455 die Vandalen; nach dem Untergang des Vandalenreichs 534 gelangten die Güter nach Konstantinopel, um danach an die christlichen Kirchen Jerusalems verschenkt zu werden).28 Gleichwohl: Mit den unermesslichen Reichtümern und Unmengen von Verschleppten hatte Alarich sich kurzfristig zwar wieder Luft verschaffen können, das grundsätzliche Problem hingegen war längst nicht gelöst – im Gegenteil.
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
Auch die letzten Gesprächsfäden waren jetzt zerrissen – trotz der demonstrativen ‹Milde› und angeblichen ‹Wohlordnung›, mit der die Plünderung abgelaufen sein soll. Mit dem Griff nach der Urbs hatte Alarich seine letzte Trumpfkarte ausgespielt. Für die römische Führung gab es jetzt zunächst einmal überhaupt keinen Grund mehr, über weitere Verhandlungen auch nur nachzudenken. Die Goten waren gefangen – politisch und geographisch. Sie machten sich auf den Weg nach Süden, versuchten in das reiche Nordafrika überzusetzen – und scheiterten. Alarich wandte sich daraufhin wieder nach Norden. In der Nähe der süditalienischen Stadt Cosenza erkrankte er schwer und verstarb. Die Geschichte der ‹Westgoten› beginnt erst nach seinem unerwarteten Tod.
1.2
Was uns die Beispiele lehren, oder: Von den Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen
1.2.1 Die Hoheit über den Plot 1.2 Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen
Zwei Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht hätten verlaufen können: hier der Triumph über die Belagerer, die ihr Beutegut schon sicher in Händen gewähnt hatten – dort die Katastrophe nach dem hochmütigen Abbruch der Verhandlungen. Hier ein Ereignis, das zum Sinnbild für die römische Überlegenheit über jeden auswärtigen Angreifer wurde und die Stellung Konstantinopels als Herz des Byzantinischen Reiches über Jahrhunderte hin zu festigen beitrug – dort ein Ereignis, das zum Sinnbild für den Niedergang des späten Römischen Reiches geriet und deutlich machte, dass Rom nur noch als ideelles Zentrum, als Projektionsfläche für unterschiedlichste Vorstellungen, Anmutungen und Assoziationen taugte. Hier der Sieg über den Inbegriff alles Barbarischen – dort die aus Verstörung erwachsene Unsicherheit darüber, was eigentlich ‹barbarisch› war und was nicht. Welche Erkenntnisse können uns die beiden Episoden, zumal durch rund zweihundert Jahre voneinander getrennt und geographisch in ganz unterschiedlichen Regionen angesiedelt, überhaupt vermitteln? Rein strukturell betrachtet sind die Unterschiede zwischen den Exempla gar nicht allzu groß. In beiden Fällen erfolgte eine von Zeitgenossen bis dahin nicht für möglich erachtete auswärtige Attacke gegen diejenige Stadt, die von den Angreifern jeweils für das bedeutendste politische Zentrum des Imperium Romanum
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gehalten wurde (wobei Alarich sich in dieser Hinsicht ein wenig verkalkuliert haben dürfte), in beiden Fällen handelte es sich ohne Zweifel um das jeweils ideelle Zentrum des Reiches. Aus diesem Grund zog die Einnahme Roms 410 die angedeuteten weitreichenden Diskussionen nach sich und konnte die Rettung Konstantinopels 626 mehr oder weniger dauerhafte Konsolidierungsprozesse einleiten – einen zumindest temporären für das Byzantinische Reich sowie einen nachhaltigen mit Blick auf die Stadt selbst. In beiden Fällen bedeutete die Attacke auf die Hauptstadt eine gravierende Zäsur in der Geschichte der Angreifer: Die Macht des Awarenkhagans erodierte, wohingegen die westgotische Ethnogenese insbesondere in dem Jahrzehnt nach 410 größere Fortschritte machte, gipfelnd in der Ansiedlung des ehemaligen Alarich-Verbandes in Aquitanien im Jahr 418 /19. Neben den Analogien können aber gerade auch die fundamentalen Differenzen zwischen der Situation, in der sich Rom im Jahr 410 befand, und jener Konstantinopels im Jahr 626 dazu beitragen, sich einige Probleme zu vergegenwärtigen, mit denen man unweigerlich konfrontiert wird, wenn man versucht, in übergreifenden Zusammenhängen über ‹die Völkerwanderung› nachzudenken. Diese Probleme betreffen bereits grundsätzliche Fragen der Narration: zwei strukturell in mehrfacher Hinsicht parallele Ereignisse, die sich dennoch nicht parallel erzählen lassen – nicht etwa deshalb, weil sie räumlich und zeitlich zu weit voneinander entfernt angesiedelt wären, sondern weil der Plot, der sich aus dem uns zur Verfügung stehenden Material ergibt, trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen jeweils grundverschieden ist; die Geschichten schreiben sich gleichsam von selbst: Während uns für Konstantinopel 626 diverse Zeugnisse zur Verfügung stehen, die es uns ermöglichen, unsere Schilderung bis auf die Ereignisse an einzelnen Tagen herunterzubrechen, wissen wir, wie angedeutet, über die Geschehnisse in und um Rom im August 410 so gut wie nichts. Während wir – bei allen Problemen im Einzelnen und trotz des offenkundigen Gestaltungswillens, den auch Autoren wie Georgios Pisides oder Theodoros Synkellos erkennen lassen – die awarische Belagerung Konstantinopels aus einer innerstädtischen Perspektive halbwegs nachvollziehen können, besitzen wir für die Eroberung Roms nicht einmal die zeitgenössische Außensicht, sondern lediglich spätere wertende, deutende, verzerrende Quellen. Diese Ausgangssituation zwingt nicht nur den Erzähler dazu, seine Einzelgeschichten aus ganz unterschiedlichen Positionen heraus zu entwickeln, sondern sie bestimmt letztlich auch die Fragen, die der Historiker stellt; sie sind für die Eroberung der Tiberstadt in weitaus höherem Maße wirkungsgeschichtlich orientiert als im Fall der Belagerung der Bosporusmetropole, wo das Ereignis selbst deutlich stärker ins Zentrum der Betrachtungen zu rücken vermag. Rom 410 und Konstantinopel 626 stellen in dieser Hinsicht keine Einzelfälle dar. Immer wieder werden wir im Zusammenhang der ‹Völkerwande-
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
rung› gezwungen sein, rein materialbedingt den Fokus, die Perspektive, die Fragen und damit auch zumindest partiell das Analyseraster anzupassen und zu verändern. Dadurch werden kontinuierlich Asymmetrien erzeugt, die sich in Einzelfällen elegant auf der erzählerischen Ebene überspielen lassen mögen, die in der Analyse jedoch immer wieder unübersehbare Lücken reißen und die zumeist untergründig den Plot mitbestimmen. Ein übergreifendes Narrativ, das überdies auch noch die Komplexität des zu behandelnden Phänomens insgesamt berücksichtigt, lässt sich unter diesen Voraussetzungen nur mühsam entwickeln; wenn überhaupt, so kann es lediglich auf einer eher abstrakten Ebene ansetzen. Dennoch muss dies nicht dazu führen, lediglich eine Abfolge unverbundener Einzelbegebenheiten zu schildern; und auch die Reduktion von Komplexität, die prinzipiell mit jedem historiographischen Prozess einhergeht, da komplizierte, mehrschichtige und in vielfältiger Weise miteinander verflochtene Sachverhalte in eine wie auch immer strukturierte Erzählung mit einem übergreifenden Narrativ gebracht werden müssen, sollte uns nicht unweigerlich in den Abgrund der Banalitäten reißen. Denn allen Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› als kohärentes Ganzes zu erzählen, zum Trotz gibt es Leitmotive, die sich durch die gesamte hier zu behandelnde Periode ziehen und deren Verknüpfung zur Entwicklung einer übergreifenden Darstellung beitragen kann; gerade im Wiederherstellen solcher Verknüpfungen auf der erzählerischen Ebene – auch wenn diese zwangsläufig mitunter in Aporien führen müssen – sollte die hohe Komplexität des Themas schließlich wieder eingefangen werden. Die wichtigsten dieser Motive, aus denen sich die ‹große Erzählung› konstituiert, der dieses Buch folgen soll, klingen bereits in den skizzierten Episoden der Jahre 410 und 626 an – was wiederum auf ihre strukturelle Parallelität verweist. Zu ihnen gehört zunächst einmal der Faktor Religion.
1.2.2 Der Faktor Religion
Die wundersame Errettung Konstantinopels aus den Klauen der Barbaren durch das persönliche Eingreifen der Gottesmutter hat nicht nur bei Mitlebenden tiefsten Eindruck hinterlassen, sondern auch spätere Generationen der Byzantiner nachhaltig geprägt. Grundsätzlich war göttliche Hilfe im Kampf gegen Barbaren für die Römer kein Novum. Alarich etwa war einige Jahre, bevor er in Rom eindrang (396), vor den Mauern Athens an der Intervention der Stadtgöttin Athena und des mythischen Helden Achilleus gescheitert; einige Jahrzehnte zuvor hatte der Sāsānidenkönig Šābuhr II. († 379) seine Belagerung der römischen Festung
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Nisibis (heute Nusaybin, Südosttürkei) wegen der Wunderkräfte des Asketen und Stadtbischofs Jakob († 338) aufgeben müssen; im Jahr 540 bewirkte eine Kreuzreliquie im syrischen Apameia, dass die eingedrungenen Perser die Bevölkerung verschonten; 542 bewahrte der Märtyrer Sergios die nach ihm benannte Stadt und Heimstätte seiner Reliquien vor der persischen Eroberung, ebenso wie 544 ein wundertätiges Christusbild Edessa (heute Urfa, Türkei) vor den Persern beschützte; der heutige Ort Marsas (Gironde, Frankreich) wurde während einer Belagerung durch Sachsen von einer «himmlischen Heerschar» (militia caelestis) gerettet. Wunder dieser Art waren kein Spezifikum der Spätantike, wie etwa die (später auch christlich gewendeten) Berichte über das «Regenwunder», durch welches das Heer Marc Aurels wohl im Jahr 173 n. Chr. vor den Quaden bewahrt wurde, bezeugen. Für Konstantinopel jedoch markierten die Ereignisse des Jahres 626 den Höhepunkt einer sehr spezifischen Entwicklung. Sie gewann im 5. Jahrhundert erstmals an Profil, erfuhr um die Mitte des 6. Jahrhunderts eine massive Beschleunigung und steuerte dann geradewegs auf die dramatischen Sommertage des Jahres 626 zu. Fortan war es für alle ersichtlich: Konstantinopel war die Stadt der Gottesmutter. Seit dem 5. Jahrhundert hatte die Marienverehrung am Bosporus einen kontinuierlichen Aufschwung erfahren. Zunächst hatten die Kontroversen um die Frage nach der Göttlichkeit bzw. Menschlichkeit Christi mit einem ersten Höhepunkt im Konzil von Ephesos 431, in dem die Rolle Marias als Theotokos (‹Gottesgebärerin›) festgeschrieben worden war, besonderes Interesse auf sie gelenkt, die heiligmäßigen Ambitionen der Kaiserschwester Pulcheria taten das Ihrige. Die Kaiser begannen nun, in verstärktem Maße Marienkirchen zu errichten, Reliquien der Gottesmutter fanden sich ein, und als in den Jahren 541 /42 die Pest das Imperium Romanum in furchtbarstem Ausmaß verheerte, stieg Maria zu einer der großen Schutzheiligen der geplagten Bevölkerung auf. Die Kaiser schlossen sich der verbreiteten Marienfrömmigkeit an, und von dieser Zeit an begegnet man in der Überlieferung vermehrt Marienwundern und Marienlegenden. Der Dichter Romanos Melodos, der selbst als von Maria inspirierter Sänger galt, beförderte mit seinen im Gottesdienst gesungenen Kontakien (einer besonderen Hymnenform) die Popularität der Marienverehrung, Marienfeste wurden dem Kalender hinzugefügt – und schließlich rettete die Theotokos im Jahr 626 persönlich ‹ihre› Stadt.29 Doch trotz aller Fokussierung auf die Gottesmutter: Das Ereignis selbst war vor allem auch Ausdruck einer übergreifenden und umfassenden Frömmigkeit, die in ihren praktischen Auswirkungen – Prozessionen, öffentlichen, gemeinsamen Gebeten, weiteren Kirchenbauten, der Zunahme theologischer sowie insgesamt christlich geprägter Literatur, der sakralen Überhöhung des Kaisers und des ihn umgebenden Zeremoniells, der religiösen Einfärbung der Kriegführung,
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der Entfaltung des Bilderkultes usw. – längst den Alltag der Byzantiner bestimmte. Die tiefgreifende religiöse Durchdringung aller Lebensbereiche – wir nennen diesen Prozess ‹Liturgisierung› – hatte um die Mitte des 6. Jahrhunderts eingesetzt und diente dazu, einer Bevölkerung, die durch schwerste Katastrophen (Erdbeben, Überflutungen, Pest, Hunger), durch Kriege und enttäuschte Naherwartungen den Boden zu verlieren drohte, neuen Halt und neue Orientierung zu geben, einer Gesellschaft, die sich unmittelbar vor dem Kollaps befunden hatte, frische Kohäsionskräfte zu verleihen und ihr dadurch die Möglichkeit zu verschaffen, nicht nur eine enorme, die kollektiven Mentalitäten hartnäckig attackierende Herausforderung bravourös zu meistern, sondern zugleich Konsolidierungsleistungen zu erbringen. Dies schuf die Voraussetzungen, um auch nachfolgende Bedrohungen zu überstehen – nicht zuletzt die awarisch-persische Belagerung der Stadt während einer der gefährlichsten militärischen Krisen, der das Byzantinische Reich jemals ausgesetzt gewesen ist. Aber der Preis für diese ungeheure Stabilisierungsleistung war unübersehbar. Die Liturgisierung der oströmisch-byzantinischen Gesellschaft hatte ihren Tribut gefordert: Religion war jetzt allenthalben präsent, religiöse Symbolik überwölbte sämtliche Ausdrucksformen, über die die Gesellschaft verfügte. Konstantinopel als Zentrum dieser Welt war in der Tat die Stadt der Gottesmutter; aber Maria beschirmte ein Volk, das sich selbst nunmehr als ein Konglomerat von Heiligen begriff, ein Reich, das aus dieser Perspektive – zumindest in der Theorie – keiner irdischen Waffen mehr bedurfte, obwohl seine Bewohner sich ringsum von feindseligen Barbaren umgeben sahen; ein Reich, das von Kaisern beherrscht wurde, deren Sakralität zuvor unbekannte Ausmaße angenommen hatte: Justinian I. (527–565) hatte sich in eine gefährliche Nähe zu Christus gebracht. Herakleios ließ sich nach der Niederringung der Perser als neuer David und neuer Konstantin feiern; er umgab, als er 630 die Restitution der 614 von den Persern aus Jerusalem entführten Kreuzreliquien zelebrieren ließ, seine Person mit einem endzeitlich-messianischen Gepräge und präsentierte sich selbst gar, die Attitüden Justinians nochmals übersteigernd, als kosmorhýstes («Erlöser der Welt») – ein Terminus, der eigens in diesem Zusammenhang geprägt wurde. Die Überwindung der Barbarengefahr im Jahr 626 konnte in einer derartigen Atmosphäre tatsächlich zum Heilsereignis mutieren und die Byzantiner in einer Gewissheit bestärken, von der sie sich ohnehin bereits leiten ließen: Solange Konstantinopel Bestand hatte, solange es nicht in die falschen Hände geriet oder gar zerstört wurde, solange es also ein römisches, göttlich beschirmtes ‹Innen› und ein davon klar separiertes barbarisches ‹Außen› gab, so lange würde die irdische Welt weiterbestehen. Das Schicksal der christlichen Welt hing damit an der Unversehrtheit des Bollwerks am Bosporus; das war der Kern der byzantinischen ‹Reichseschatologie›.30
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Für Rom galt dies längst nicht mehr. Seit der hohen Kaiserzeit war die Bedeutung der Urbs zugunsten des von ihr beherrschten und zivilisierten orbis, des Erdkreises, allmählich zurückgetreten; Rom begann sich vom politischen zum ideellen Zentrum des Reiches zu wandeln. Als um die Mitte des 2. Jahrhunderts der Panegyriker Aelius Aristides, selbst der römischen Provinz entstammend, eine berühmte Preisrede auf die Tibermetropole hielt, ließ er die Errungenschaften der Stadt Rom im gesamten orbis Romanus aufgehen; nur Römer und Nichtrömer bewohnten seiner Vorstellung nach nunmehr die Welt, wobei die Römer überall im Reich, nicht lediglich in der Stadt beheimatet seien. Mit ihrer Einnahme durch Alarich hatte die in ihrer politischen Bedeutung solchermaßen reduzierte Tiberstadt schließlich auch den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren, ihre physische Integrität taugte nicht mehr als Argument oder gar als eigenständiger Wert. Dass sich ausgerechnet aus den Ereignissen des Jahres 410 heraus die Romidee in besonderer Eindringlichkeit entfalten konnte, mutet insofern zunächst wie eine besondere Ironie der Geschichte an, ist aber letztlich nur die Konsequenz einer längeren Entwicklung. Was der Urbs verblieb, waren ihre ehrwürdige Geschichte, der inbrünstig beschworene Glaube an ihre Regenerationskraft und ein diffuses Ideenkonglomerat, das sich um Aspekte wie Frieden, Zivilisation, Kulturvermittlung, Expansion sowie legitime und gerechte Weltherrschaft wob und besonders von den Altgläubigen, die sich ohnehin auf dem Rückzug befanden, propagiert wurde – die Romidee.31 Hatte Rom als physisches Haupt der Welt schon seine Strahlkraft eingebüßt, so sollte es doch wenigstens in Form der Werte, die es verkörperte, weiterhin die Führung der Oikoumene, der zivilisierten Welt, beanspruchen. Nach dem Fall der Stadt 410 finden wir die spätantike Romidee (die sich freilich aus älteren Gedankengebilden entwickelte, die bis in die Zeiten der Republik zurückreichten) vor allem im großen Romhymnus des Rutilius Namatianus ausgeprägt. In diesem Gebet an die personifizierte Göttin Roma, die «Königin der Welt» (regina mundi), wird noch einmal in wehmütig-optimistischer Überhöhung die Größe der Urbs als Herrscherin über den orbis beschworen und ihre Fähigkeit, aus Niederlagen umso gestärkter hervorzugehen, apostrophiert: «Das Gesetz Deiner Wiedergeburt bedeutet, im Leid wachsen zu können» (ordo renascendi est crescere posse malis). Die damit vollzogene endgültige Loslösung der Romidee von der physischen Stadt Rom war eine der wirkmächtigsten Folgen der Ereignisse des Jahres 410. Die von Rom verkörperten Vorstellungen bedurften der Stadt selbst nun nicht mehr, sie wurden flexibel anbindbar; damit waren die letzten Voraussetzungen geschaffen, um das, wofür Rom über Jahrhunderte hin gestanden hatte, nunmehr auf andere Städte, Regionen, später selbst Nationen zu transferieren. Auch der Gedanke der translatio imperii – der Übertragung
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des Reichsgedankens auf Nachfolgegebilde – wurde auf diese Weise erheblich befördert.32 Geht man der spätantiken Romidee auf den Grund, so wird man zwischen einer paganen und einer christlichen Variante differenzieren müssen; Letztere, vertreten etwa durch den Mailänder Bischof Ambrosius oder den Dichter Prudentius, war darum bemüht, den traditionell mit dem Romgedanken assoziierten Wertekanon in einem christlichen Kontext sinnvoll zu verankern. Doch auch wenn die Romidee durch ihre Christianisierung fortan über Jahrhunderte hin präsent zu bleiben vermochte und sich allenthalben aktualisieren ließ – die Zukunft gehörte ihr nicht. Das Konzept einer Roma als Gebieterin und Zivilisationsschöpferin des Erdkreises kollidierte mit der radikalen Entwertung der Urbs als realer Beherrscherin der irdischen Welt im Angesicht der civitas Dei, der «Gottesstadt», durch Augustin. Der Kirchenvater hatte seine Zwei-Reiche-Lehre nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Jahres 410 als ein Krisenbewältigungskonzept entwickelt und den verstörten Zeitgenossen damit eine jenseitsorientierte Perspektive aufgewiesen, die ganz anderer Natur war als die Konsequenzen, die sich aus der Rettung Konstantinopels 626 ergaben: Während es gerade der physische Bestand der Bosporusstadt war, worauf sich in der Folgezeit die Aufmerksamkeit der Byzantiner richtete, ging diese Komponente im Westen – darin trifft sich Augustins Konzept mit der Romidee – verloren, zugunsten einer Polyphonie vielfältig einsetzbarer Assoziationen (Romidee) bzw. einer auf die Individuen und ihren jeweiligen Weg zielenden Lehre von den zwei civitates (der irdischen Stadt und der Gottesstadt) bei Augustin. Nicht ohne Grund betonte der Bischof von Hippo Regius nach 410 so vehement, dass eine Stadt aus Menschen, nicht aber aus Mauern bestehe. Das sah man in Konstantinopel anders.33 Dass dieser Prozess einer allmählichen ideellen ‹Verflüchtigung› Roms mit Versuchen einer neuerlichen imperialen Aufwertung der Urbs einherging, die in den Jahren um 400 – also unmittelbar vor Alarichs Angriff – eingesetzt hatten, wirkt zunächst wie ein sonderbarer, merkwürdig konträr verlaufender Vorgang, lässt sich aber aus gemeinsamen Kontexten heraus erklären: Gerade der Aufstieg Konstantinopels zur Kapitale des Ostens seit dem späteren 4. Jahrhundert scheint im Westen Bestrebungen erzeugt zu haben, dort ebenfalls wieder ein festes politisches Zentrum zu etablieren, nachdem die Kaiser sich seit Jahrzehnten, abhängig von den jeweiligen politisch-geographischen Erfordernissen, in wechselnden Residenzen aufgehalten hatten (Trier, Sirmium, Arles, Mailand, Ravenna); der letzte Herrscher, der länger in Rom residiert hatte, war Maxentius (306–312) gewesen. Seit dem frühen 5. Jahrhundert allerdings lässt sich eine signifikante Zunahme kaiserlicher Besuche in der Urbs, die im 4. Jahrhundert rar geworden
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waren, feststellen, und seit den 440er Jahren ist eine Tendenz erkennbar, Rom wieder für längere Phasen als Kaiserresidenz zu nutzen – vermutlich, um der römischen Bevölkerung angesichts der durch die Vandalen drohenden Gefahr Unterstützung zuzusichern. Nachdem die Herrscher im Jahr 402 in das naturräumlich geschützte und damit besser zu verteidigende Ravenna ausgewichen waren, befand sich der Hof ab Februar 450 dann erneut dauerhaft am Tiber. Das 5. Jahrhundert sah somit eine neuerliche Orientierung der weströmischen Kaiser hin auf Rom. Dies war sicherlich auch ein Reflex des herrscherlichen Werbens um das Wohlwollen der dort ansässigen wohlhabenden Senatoren, deren Vermögen in einer Zeit, in welcher die Territorien des Weströmischen Reiches – und damit zugleich wichtige Grundlagen für Steuereinnahmen zur Finanzierung von Armee, Administration und ‹Geschenken› – im Zuge barbarischer Ansiedlungen und Eroberungen radikal zusammenschmolzen, die letzten verbliebenen größeren Ressourcen darstellten, auf die sich noch zugreifen ließ.34 Doch nicht nur aus diesem Grund blickten die Kaiser des 5. Jahrhunderts wieder vermehrt nach Rom. Mittlerweile konnte nachgewiesen werden, dass das Kaisertum im Westen um 400 einen Transformationsprozess durchlief, der wohl vor allem mit dem Phänomen der sogenannten Kinderkaiser zusammenhängt: Es gelangten Kaiser, die noch nicht regierungsfähigen Alters waren, zumeist zur Absicherung dynastischer Ansprüche, auf den Thron. Vor allem im militärischen Sektor waren sie abhängig von einflussreichen Gestalten in ihrer Umgebung. Die Reihe dieser Herrscher beginnt mit Gratian (367 als Achtjähriger zum Augustus erhoben); es folgten Valentinian II. (375 als Vierjähriger), Arkadios (383 als Sechsjähriger), Honorius (393 als Achtjähriger), Theodosios II. (402 im Alter von 9 Monaten), Valentinian III. (425 als Sechsjähriger). Für diese Kaiser stellte sich die Frage nach der Legitimität ihrer Stellung in ganz neuer Weise, und so suchte man nach Strategien, diese plausibel zu vermitteln und damit ihre Position zu stabilisieren. In diesem Kontext wurde die persönliche Frömmigkeit der Herrscher, die ihre Einsetzung aus göttlichem Willen heraus begründen sollte, in besonderer Weise akzentuiert: Das weströmische Kaisertum sakralisierte sich. Freilich erreichte dieser Prozess zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd jene Ausmaße, wie wir sie in bestimmten Phasen zwischen dem 4. und dem 7. Jahrhundert im Osten beobachten können; dies aber hängt mit dem besonderen soziopolitischen Rahmen zusammen, den Konstantinopel als feste Kaiserresidenz seit dem späten 4. Jahrhundert definierte und der besondere Formen der Kommunikation und spezifische Praktiken von den Kaisern einforderte, um insbesondere auf Seiten der stets zu Unruhen und Aufständen neigenden Bevölkerung Akzeptanz zu gewinnen, ohne sich gleichzeitig in allzu große Abhängigkeit vom Heer zu begeben. Anders ausgedrückt: Ohne
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Abb. 3 Konsuldiptychon des Probus (406) mit Darstellung des Kaisers Honorius
die Zustimmung der aufsässigen, leicht erregbaren Bewohner der neuen Hauptstadt konnte sich kein Kaiser sicher wähnen. Die von Gott eingesetzten Herrscher am Bosporus waren daher gezwungen, permanent in unterschiedlichen Gesten und Ritualen ihre exzeptionelle Frömmigkeit und Demut zu demonstrieren, um ihre herausragende Stellung legitim erscheinen zu lassen. Im Westen vollzog sich der Sakralisierungsprozess des Kaisertums zwar nicht in ähnlicher Ausprägung wie im Osten; aber er ist auch dort fassbar und lenkte seit dem frühen 5. Jahrhundert die Aufmerksamkeit von Zeitgenossen neuerlich auf Rom. An diesem ehrwürdigen Ort ließ sich das Kaisertum, um trotz der Wandlungen, die es durchlaufen hatte, weiterhin plausibel zu erscheinen, in besonders eindrucksvoller Weise an altehrwürdige Traditionen anbinden – an die
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römisch-imperialen ebenso wie an die christlichen. Rom war immerhin jene Stadt, in der Petrus und Paulus das Martyrium erlitten hatten; Rom war eine Stadt mit einer langen christlichen Geschichte, wie sie Konstantinopel trotz aller Bemühungen der dort ansässigen Herrscher (Kirchenbauten, Überführungen von Reliquien, Import wunderwirkender Objekte) nicht zu bieten hatte. Dieses Kapital galt es zu nutzen: Seit Maxentius war kein Kaiser mehr in Rom bestattet worden; Konstantin hatte entsprechende Pläne schließlich zugunsten seiner neuen Residenz Konstantinopel aufgegeben. Die Tatsache, dass ausgerechnet Kaiser Honorius, der Rom mehrfach selbst besuchte und im Jahr 416 die Neugründung der Stadt nach Alarichs Handstreich feierlich-triumphal beging, wohl zwischen 400 und 408 ein Mausoleum in Rom errichten ließ und dieses symbolträchtig neben der Petersbasilika platzierte, enthielt insofern eine klare Botschaft: Die Urbs war wieder in ihre Rolle als imperiales Zentrum eingesetzt – nunmehr allerdings unter christlichen Vorzeichen. Letzteres bedeutete ein klares Signal an die Konkurrentin am Bosporus, und den Zeitgenossen war die deutlich hervortretende Rivalität der beiden Zentren denn auch durchaus gewärtig.35 Die Geschehnisse des Jahres 410 fuhren wie ein Blitz in die damals zaghaft einsetzenden Bemühungen um eine neuerliche Aufwertung der Stadt Rom. Aber sie offenbarten zugleich auch die Grenzen, die den Kaisern gezogen waren, wenn sie hier die christliche Religion als Legitimationsstrategie ins Spiel zu bringen gedachten. Konstantinopel war um 400 bereits eine christliche Stadt; dort konkurrierten nicht mehr Christen mit Altgläubigen, sondern man stritt nur noch um die rechte Form des Christentums – dies aber umso erbitterter. In Rom hingegen war man noch nicht so weit. Sicherlich, das Ringen zwischen Altgläubigen und Christen war auch hier inzwischen zugunsten Letzterer weitgehend entschieden; aber Rom war dennoch bis dahin noch keine rein christliche Stadt, sondern barg mit seiner jahrhundertealten Bausubstanz nahezu in jedem Winkel weiterhin ein eindrucksvolles Reservoir paganer Anmutungen und Assoziationen – und damit genügend Anziehungspunkte für nostalgische Anhänger traditioneller Lebensformen. Dies war der Hintergrund der großen, intellektuell auf höchstem Niveau geführten Kontroverse um die Schuld an der Eroberung der Stadt durch Alarich. Vertreter beider Seiten liefen in dieser Debatte noch einmal zur Höchstform auf. Dass es sich dabei nicht lediglich um eine abgehobene Diskussion unter wenigen Mitgliedern der Eliten handelte, geht unter anderem aus dem Umstand hervor, dass im Jahr 408, als Alarich zum ersten Mal vor den Toren der Stadt stand und der Stadtpräfekt Pompeianus die Nachricht erhielt, etruskische Weissager (haruspices) hätten mit ihren alten Riten den Ort Narni (Umbrien) vor den Barbaren gerettet, sogar der römische Bischof Innozenz I. einwilligte, auch für die Be-
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freiung Roms entsprechende Handlungen – allerdings im Verborgenen – durchzuführen.36 Religion besaß offenbar – dies lassen jedenfalls unsere Beispiele aus den Jahren 410 und 626 vermuten – im Osten und im Westen des ehemals übergreifenden Imperium Romanum jeweils unterschiedliche Funktionen und besetzte auch andere Lebensbereiche. Während das gemeinsame christliche Bekenntnis der Belagerten und ihr unerschütterlicher Glaube an göttliche Hilfe und die persönliche Intervention Marias in Konstantinopel maßgeblich zur Überwindung der Bedrohungssituation beitrugen und auch für die Folgezeit eine erhebliche Konsolidierungswirkung entfalteten, ließ die Eroberung Roms einmal mehr Konfliktlinien hervortreten, die zumindest stark religiös eingefärbt waren. Man wird diese fundamentale Differenz nicht mit dem Verweis auf die mehr als 200 Jahre, die zwischen den beiden Ereignissen lagen, übergehen können. Denn auch schon um 400 hatte Religion in Konstantinopel eine hochgradig integrative Kraft entwickelt – jedenfalls in Situationen einer kollektiven Bedrohung. Zumindest einer unter den aufmerksamen Zeitgenossen im Westen hatte dies auch so registriert und wünschte sich im Nachhinein inständig, dass auch Rom aus dem gemeinsamen Glauben heraus eine derartige apotropäische, Unglück abwehrende Kraft hätte entfalten können. Es war Augustin, der ausgerechnet in einer seiner Predigten über die Eroberung der Urbs 410 auf das Beispiel Konstantinopels verwies. Was aber war dort geschehen? Höchst Wundersames hatte sich, so der Prediger, unter der Herrschaft des Kaisers Arkadios (395–408) am Bosporus zugetragen, denn wie in Rom im Jahr 410 habe Gott auch dort durch Schrecken die Bevölkerung verbessern, bekehren, reinigen und verändern wollen. Er sei einem Soldaten erschienen und habe diesem angekündigt, Konstantinopel werde durch ein himmlisches Feuer zugrunde gehen. Der Soldat habe dies dem Bischof mitgeteilt, jener es dem Volk verkündet. Kollektive Buße und Trauer hätten sich angeschlossen. Am angekündigten Tag sei dann tatsächlich eine Feuerwolke am Himmel erschienen und gewaltig angewachsen. Die Menschen hätten sich in Kirchen verborgen, die Taufe und andere Sakramente verlangt, um das drohende Unheil abzuwenden. Kurz darauf habe die Wolke sich wieder aufgelöst, doch nunmehr sei die Nachricht umgegangen, am kommenden Sabbat werde die Stadt dennoch untergehen. Da sei es zu einem kollektiven Auszug unter persönlicher Führung des Kaisers gekommen; man habe in einer Prozession die Stadt verlassen und einige Meilen vor den Mauern Quartier bezogen, um gemeinsam zu beten. Als die angesagte Stunde vorübergezogen war, habe man in banger Hoffnung Boten in die Stadt entsandt; diese hätten bei ihrer Rückkehr berichtet, dass nichts geschehen sei, und unter großem Jubel sei die Bevölkerung wieder zurückgekehrt.
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Konstantinopel hatte die schwere Prüfung also deshalb überstanden, so jedenfalls sahen es Augustin und auch andere, weil das gesamte Volk gemeinsam mit dem Kaiser als Kollektiv agiert hatte. Aus der Perspektive des Westens war dies ein bemerkenswerter, weil dort bis dahin unbekannter Vorgang: Eine ganze Stadtbevölkerung hatte sich im Angesicht der drohenden Katastrophe in eine homogene, religiös ergriffene Einheit verwandelt und einen kollektiven Bitt- bzw. Bußzug vor die Stadt unternommen. Derartige Formen der Katastrophenbewältigung, auch wenn sie lediglich antizipatorisch erfolgte, resultierten aus den besonderen Rahmenbedingungen, denen die Kaiserherrschaft in Konstantinopel, wie angedeutet, ausgesetzt war und die ein enges Kommunikationsverhältnis zwischen Herrscher und Bevölkerung erforderten. Während westliche Autoren – Augustin, Orosius und ein anonymer gallischer Chronist – voller Staunen über die Vorgänge in Konstantinopel berichteten, geriet das skizzierte Ereignis im Osten selbst rasch in Vergessenheit; denn entsprechende Bitt- und Bußprozessionen der Bevölkerung unter Beteiligung des Kaisers entwickelten sich dort zum Alltagsgeschehen, zu regelrechten Routinehandlungen. Es musste sich dann schon etwas ganz Besonderes ereignen, damit eine Begebenheit Eingang in die Chroniken fand, so zum Beispiel im Jahr 438: Eine Serie von Erdbeben suchte damals die Stadt heim; die Konstantinopolitaner zogen unter Führung des Stadtbischofs Proklos vor die Mauern und baten Gott um Gnade. Ein Wunder führte dazu, dass bei dieser Gelegenheit der sogenannte Trisagion-Hymnos entstanden sein soll, der in Byzanz bald zentrale Bedeutung gewinnen sollte. Selbstverständlich endeten die Erdbeben abrupt in jenem Moment, als die Bevölkerung das Trisagion gesungen hatte. Die kollektive, religiös angeleitete Bewältigung bedrohlicher oder auch nur als bedrohlich empfundener Ausnahmesituationen unter Einbeziehung der höchsten Würdenträger entwickelte sich zu einem prägenden Charakteristikum der Kapitale des Ostens. Nicht ohne Grund konnte ein zeitgenössischer Beobachter festhalten, dass in derartigen Momenten die ganze Stadt zu einer einzigen Kirche geriet. Damit aber gelang es in Konstantinopel seit dem frühen 5. Jahrhundert immer wieder, ein ‹Innen›, einen geschützten Raum zu definieren, innerhalb dessen Sicherheit und Geborgenheit gewährleistet wurden und mit dessen Hilfe man sich vom ‹Außen› – und damit häufig auch von den Barbaren – abzugrenzen vermochte.37 Anders in Rom. Ein Rettungswunder wie 626 am Bosporus ereignete sich dort nicht; wohl aber soll es, wie beschrieben, zu wundersamen Vorkommnissen gekommen sein. Die berühmte Prozession, in der unter dem Schutz gotischer Soldaten liturgisches Gerät in die Petrus-Basilika verbracht worden sein soll und in deren Kontext Eroberer und Eroberte im Rausch der religiösen Erfahrung zusammengefunden hätten, weist allerdings eine ganz andere Signatur auf als die
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wunderlichen Geschehnisse im Kampf um Konstantinopel. Kein ‹Innen› und ‹Außen› wurde hier zementiert – ganz im Gegenteil: Barbaren standen inmitten der Stadt, und als Orosius sein Geschichtswerk verfasste, standen sie auch in großen Teilen des Imperium Romanum, ganz zu schweigen von ihrer zunehmenden Präsenz in den römischen Streitkräften. Ihnen gegenüber konnte man kein abgeschlossenes ‹Innen› mehr definieren, sondern nunmehr musste es darum gehen, ihr Eindringen zu deuten und irgendwie mit der aktuellen Situation umzugehen. Nicht Abgrenzung, wie im Osten, sondern Integration stand auf der Tagesordnung. Die Eroberer waren im Westen nicht zu überwinden, sondern man musste sich mit ihnen arrangieren. Im Osten stand man nur wenige Male vor ähnlichen Herausforderungen (etwa beim großen Hunneneinfall 447 oder als in den 470er / 80er Jahren konkurrierende Gotengruppen den Balkan verheerten) – doch diese Situationen blieben Ausnahmen. Welche Mühen Orosius hatte, das Panorama, so wie es sich ihm darstellte, zu interpretieren und in einen plausiblen Rahmen zu pressen, wurde bereits angedeutet. Herkömmliche, jahrhundertealte Kategorien, mit deren Hilfe man die Welt fortwährend geordnet hatte, schienen nicht mehr zu greifen. Die Frage nach dem Umgang mit den eingedrungenen Barbaren spielte, so viel wird dabei sichtbar, für römische Autoren der sogenannten Völkerwanderungszeit eine ebenso zentrale Rolle wie das Bemühen der Barbaren, ihrerseits einen Platz in der antiken Welt und im Kosmos zeitgenössischer Vorstellungen zu erringen. Und in den meisten Fällen kommt dem Faktor Religion dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Für Orosius war es die gemeinsame religiöse Erfahrung, die zumindest kurzfristig die Grenzen zwischen Römern und Barbaren, zwischen Eroberern und Eroberten niederreißen sollte, um eine gemeinsame Identität zu schaffen, an deren Definition er dann jedoch wiederum scheiterte, indem er sich selbst in die angedeuteten Widersprüche verwickelte. Der Grund dafür lag in dem Umstand, dass er nicht über ein konsistentes Barbarenbild verfügte und nicht mehr exakt zu sagen vermochte, was eigentlich ein Römer war.38 Alles befand sich in Bewegung, und Religion stellte offensichtlich einen Anker dar, an dem sich Zeitgenossen immer wieder festhielten, um einen sicheren Standpunkt zu gewinnen. Das gilt zunächst einmal auf einer ganz allgemeinen Ebene, etwa mit Blick auf die Missionierung, also die Verbreitung des Christentums außerhalb des Imperiums unter den Barbaren, sowie den gegenläufigen und auf den Osten beschränkten Prozess der Liturgisierung, also die Abschottung des Oströmischen Reiches nach außen und seine religiös überformte Abgrenzung gegenüber den Barbaren im 6. und frühen 7. Jahrhundert; es gilt für die Einbettung barbarischer Überfälle und Machtübernahmen in apokalyptische Deutungsmuster, die zu einer durchgehenden eschatologischen Aufladung des ‹Völker-
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wanderungs›-Geschehens führte und uns fortan dauerhaft begleiten wird; es gilt für Fälle, in denen Barbaren undifferenziert als Heiden und Häretiker abqualifiziert oder Barbareneinfälle pauschal als Strafe Gottes für fehlerhaftes oder sündiges Verhalten interpretiert wurden, bis hin zur allbekannten Metapher der Geißel Gottes, die besonders für Attila und die Hunnen Verwendung fand. Bezeichnenderweise wurde man dabei im Osten zumeist ungleich konkreter als im Westen, wenn etwa Gregor von Nazianz im 4. Jahrhundert Verwüstungen durch Barbaren als Folge häretischer Attacken auf die Trinität ausdeutete oder der exilierte Patriarch von Konstantinopel Nestorios in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts Angriffe der Hunnen auf Reichsgebiet als Strafe für die Beschlüsse des Konzils von Ephesos (431) ansah. Es gilt aber auch für unterschiedliche Teilzusammenhänge und Einzelsituationen über die gesamte hier zu betrachtende Phase hin, etwa für die Initiierung einer Christenverfolgung durch den Terwingenführer Athanarich innerhalb seines Machtbereichs (um 372), da er die gotischen Christen offenbar als illoyale Romfreunde ansah, oder auch für Chlodwigs Entscheidung, sich mit seiner katholischen Taufe dem oströmischen Kosmos anzunähern; es gilt für die Entscheidung der Ostgoten und Vandalen, ihr homöisches (‹arianisches›) Bekenntnis zu einem Distinktionskriterium gegenüber den nizänisch-katholischen Römern in ihren Herrschaftsgebieten zu erheben, es gilt für Vertreter des Ostens, die seit dem 5. Jahrhundert den polemischen Terminus ‹Arianer› synonym für ‹Barbar› verwenden konnten, es gilt für die religiöse Aufladung des letzten oströmischen Krieges gegen die persischen Sāsāniden (622–628), die dem Ziel diente, sämtliche noch vorhandene Ressourcen zu bündeln und auf den Gegner zu konzentrieren; und es gilt ebenso natürlich für den gesamten Komplex der arabischen Expansion. All diesen – und vielfältigen anderen – Bemühungen war unterschiedlicher Erfolg beschieden. Und dennoch: Der Faktor Religion, häufig im Zusammenhang der schwierigen Fragen nach Ethnizität und der Ausbildung von Identitäten aktualisiert und offenkundig im Osten von ganz anderer Wirkungsweise als im Westen, scheint mir für die Interpretation der Geschehnisse während der ‹Völkerwanderung› von grundlegender Bedeutung zu sein. Er prägte und strukturierte, so könnte man zusammenfassen, in ganz entscheidendem Maße die Art und Weise, wie Zeitgenossen ihre Umwelt wahrnahmen, ihre Vergangenheit deuteten und die Zukunft antizipierten, wie sie sich selbst und andere auf Basis biblischer – vor allem alttestamentlicher – Vorbilder und Exempla einordneten und beschrieben und wie sie aus all diesen Elementen ihr eigenes Handeln konfigurierten; Religion stellte, wie vor einigen Jahren treffend angemerkt wurde, eine Art Grammatik der im ‹Völkerwanderungs›-Kontext relevanten Diskurse bereit. Der Faktor Religion wird aus all diesen Gründen eines der Leitmotive konstituieren, auf die sich die folgende Darstellung stützt.39
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1.2.3 Römer und Barbaren – wenn es denn so einfach wäre …
Ebenfalls leitmotivisch wird uns durch dieses Buch eine entscheidende Frage begleiten, die Orosius implizit gestellt und selbst nicht zu beantworten vermocht hat: Was ist eigentlich ein Römer, was ein Barbar, und was verstanden Zeitgenossen unter diesem Begriff ? Blickt man auf unser Beispiel Konstantinopel, so erweist sich die Antwort als denkbar einfach: Wer sich ‹innen› befand, wer dazugehörte, wer Römer war im Sinne des Aelius Aristides und sich im 7. Jahrhundert aufgrund seiner Frömmigkeit Angehöriger des unter göttlichem Schutz stehenden Imperium Romanum nennen durfte – ein solcher Mensch war kein Barbar. Alle anderen schon; und die Sortierung scheint zumindest im Osten keine allzu diffizilen Probleme bereitet zu haben. Nicht ohne Grund regelte im mittelalterlichen Byzanz sogar ein eigener Amtsträger, der epí tôn barbáron (‹Barbarenbeauftragter›), die Kontakte mit Barbaren im Reich – er wird gewusst haben, welche Personen in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. Orosius aber erinnert uns daran, dass es in der Spätantike für die Mitlebenden keineswegs immer so einfach war – zumal im lateinischen Westen während des territorialen Schrumpfungsprozesses des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert. Selbstverständlich existierten in hinreichender Anzahl zeitgenössische Konzepte vom Barbaren, auf die man je nach Bedarf zurückgreifen konnte; sie gingen im Kern auf das Geschichtswerk Herodots aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zurück, zum Teil noch erheblich weiter, ja sie fanden sogar noch Anknüpfungspunkte in den homerischen Epen. Einig war man sich zudem in der Einschätzung bestimmter Gruppen als besonders barbarisch. Das traf im 4. und 5. Jahrhundert insbesondere auf die Hunnen zu. Blicken wir also zunächst darauf, wie Mitlebende die Hunnen, die Barbaren schlechthin, charakterisiert haben, um daraus die grundsätzlichen Probleme zu entwickeln, in die das Bemühen, Barbaren zu klassifizieren, mündet. Die in dieser Hinsicht berühmteste und wirkmächtigste Darstellung stammt aus der Feder des römischen Historiographen Ammianus Marcellinus, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts ein groß angelegtes, allerdings nur noch in Teilen erhaltenes Geschichtswerk verfasste, das – in mutigem Wettstreit mit dem angesehenen Historiographen Tacitus († um 120) und in direkter Anknüpfung an diesen – die römische Geschichte der Jahre 96 bis 378 behandelte; erhalten geblieben sind die Bücher 14–31 über den Zeitraum von 353 bis 378. Zu Beginn des 31. Buches findet sich der berühmte Hunnenexkurs:40 Das Volk der Hunnen (Hunorum gens) ist den alten Schriften nur wenig bekannt. Es wohnt jenseits des Mäotischen Sees (Asowsches Meer), nahe dem Eismeer, und lebt
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im Zustand unbeschreiblicher Wildheit. Da gleich nach der Geburt in die Wangen der Kinder mit dem Messer tiefe Furchen gezogen werden, damit der zu bestimmter Zeit auftretende Bartwuchs durch die runzeligen Narben gehemmt wird, werden sie unbärtig alt und ähneln, jeglicher Schönheit bar, den Eunuchen. Alle besitzen sie gedrungene und starke Glieder und einen muskulösen Nacken und sind so entsetzlich entstellt und gekrümmt, dass man sie für zweibeinige Bestien oder für Figuren aus Blöcken halten könnte, wie sie für die Seitenbegrenzung von Brücken roh behauen werden. Bei ihrer reizlosen Menschengestalt sind sie durch ihre Lebensweise so abgehärtet, dass sie keines Feuers und keiner gewürzten Speise bedürfen, sondern von den Wurzeln wilder Kräuter und dem halbrohen Fleisch von jedwedem Getier leben, das sie zwischen ihre Schenkel und den Pferderücken legen und etwas erwärmen. Sie kennen niemals den Schutz von Gebäuden, meiden solche vielmehr wie Gräber, die vom allgemeinen Verkehr völlig abgeschieden sind. Auch kann man bei ihnen nicht einmal eine mit Rohr gedeckte Hütte finden. Sondern ruhelos schweifen sie durch Berge und Wälder und sind von klein auf gewöhnt, Kälte, Hunger und Durst zu ertragen. Nur wenn äußerste Notwendigkeit sie zwingt, gehen sie in der Fremde unter ein Dach, denn sie glauben, unter Dächern nicht sicher zu sein. Sie kleiden sich in linnene Gewänder oder solche, die aus Fellen von Waldmäusen zusammengenäht sind, und haben keine besondere Kleidung für den Hausgebrauch und außerhalb des Hauses, sondern wenn sie einmal den Kopf in ein solches Hemd von schmutziger Farbe gesteckt haben, legen sie es erst ab oder wechseln es, wenn es durch langen Verschleiß in Fetzen aufgelöst und zerfallen ist. Den Kopf bedecken sie mit einer runden Kappe und schützen die behaarten Beine mit Ziegenfellen. Ihre Schuhe werden nicht auf Leisten gepasst und hindern sie daran, frei auszuschreiten. Deswegen sind sie zu Fußkämpfen ungeeignet, aber auf ihren abgehärteten, doch unschönen Pferden sitzen sie wie angegossen und reiten auf ihnen bisweilen im Frauensitz, wenn sie ihre natürlichen Bedürfnisse erledigen. Von seinem Pferd aus kauft und verkauft jedermann in diesem Volk bei Tag und Nacht, nimmt sein Essen und Getränk zu sich und gibt sich, auf den schmalen Hals des Tieres gebeugt, tiefem Schlaf hin und erlebt dabei die verschiedensten Träume. Wenn eine Beratung über wichtige Dinge angesetzt ist, beraten sie alle gemeinsam in dieser Haltung. Sie lassen sich aber durch keine königliche Strenge führen, sondern begnügen sich mit improvisierter Führung von Häuptlingen (sed tumultuario primatum ductu contenti), und so überwinden sie jedes Hindernis. Bei Kämpfen fordern sie den Gegner zuweilen heraus und beginnen das Gefecht mit geschlossenen Abteilungen, wobei ihre Stimmen furchtbar ertönen. Da sie für schnelle Bewegungen leicht bewaffnet sind und unerwartet auftauchen, können sie sich absichtlich plötzlich auseinanderziehen und ihre Reihen lockern wie in einer ungeordneten Aufstellung. Ein furchtbares Blutbad anrichtend, galoppieren sie hin und her, und wegen ihrer gewaltigen Schnelligkeit sieht man sie kaum, wenn sie in eine Befestigung eindringen oder ein feindliches Lager plündern. Man möchte sie aus dem Grund die furchtbarsten von allen Kriegern nennen (eoque omnium acerrimos facile dixeris bellatores), weil sie im Fernkampf mit Pfeilen kämpfen, die mit
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spitzen Knochen anstelle von Pfeilspitzen mit wunderbarer Kunstfertigkeit zusammengefügt sind […], im Nahkampf aber mit der Waffe ohne Rücksicht auf sich selbst fechten. Während sie den gefährlichen Schwerthieben ausweichen, fangen sie ihre Feinde mit geflochtenen Lassos, umschnüren die Glieder der Widerstrebenden und machen es ihnen damit unmöglich, zu reiten oder zu gehen. Niemand pflügt bei ihnen oder berührt jemals den Pflug. Denn sie alle kennen keine festen Wohnsitze, sondern schweifen umher, ohne Haus, ohne Gesetz und feste Lebensweise, immer auf der Flucht mit ihren Wagen, auf denen sie wohnen. Hier nähen ihre Frauen für sie die schmutzigen Kleidungsstücke, hier paaren sie sich mit ihren Männern, gebären ihre Kinder und ziehen sie bis zur Mannbarkeit auf. Niemand bei ihnen kann auf die Frage, woher er stamme, eine Antwort geben, denn irgendwo wurde er gezeugt, weit fort davon geboren und in noch größerer Entfernung erzogen. Im Falle eines Waffenstillstandes treulos, sind sie bei jedem Hauch einer neu sich zeigenden Hoffnung ständig leicht erregbar und geben sich ganz ihrer triebhaften Raserei hin. Wie Tiere, die keinen Verstand haben, kennen sie keinen Begriff von Ehre und Ehrlosigkeit, führen zweideutige und dunkle Reden und unterliegen keinem Einfluss von Ehrerbietung vor einer Religion oder auch nur einem Aberglauben. Doch brennen sie von unmäßiger Begierde nach Gold. So wankelmütig sind sie, und ihr Zorn ist so leicht erregbar, dass sie sich oft an ein und demselben Tag ohne jegliche Ursache von ihren Bundesgenossen trennen und sich ebenso schnell wieder versöhnen, ohne dass jemand sie besänftigt.
Ammians Schilderung ist nicht unüberlegt heruntergeschrieben, sondern lässt sich ohne größere Mühe als wohlkomponiertes Kunstwerk klassifizieren. Unter dem reißerischen Motto einer jegliches Maß sprengenden Wildheit (Hunorum gens […] omnem modum feritatis excedit), das jeden Leser neugierig machen musste, präsentiert der Historiograph einen regelrechten Katalog zentraler Aspekte, die um die gens Hunorum kreisen. Zunächst wird das hässliche, tierhafte Äußere der Hunnen erörtert, dann ihre Lebensweise: Nahrung, Wohnverhältnisse, Nomadentum, Kleidung. Es folgt ein Seitenblick auf die politische Ordnung (keine straffe, einheitliche Führung) und auf das, was die Hunnen in besonderem Maße furchterregend machte: ihre Kriegskunst. Jene Aspekte, die dem Autor besonders wichtig erscheinen, werden dann noch einmal aufgegriffen: Die Hunnen betreiben keine Landwirtschaft, weil ihre unstete, heimatlose Lebensweise dies verhindere, sie kennen kein Gesetz (sine […] lege), sind immer unterwegs. Am Ende folgt eine Liste kollektiver Charaktereigenschaften: treulos gegenüber Partnern bei Abkommen, leicht erregbar, wie die unvernünftigen Tiere ohne Ehrvorstellungen, dunkel im Ausdruck, ohne jegliche Religion, aber über alle Maßen gierig nach Gold, wankelmütig, zu Zornesausbrüchen neigend. Gerade die griffige Katalogform des Berichts sollte allerdings unseren Argwohn
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wecken. Denn Auflistungen dieser Art sind typisch für ethnographische Schilderungen in der Antike. Diese arbeiten nicht nur nach einheitlichen Bauprinzipien, sondern vermitteln dabei stets einen festen Bestand von ‹Informationen› über die beschriebenen Völker; im Gefolge Herodots bildete sich so allmählich ein regelrechter Kanon barbarischer Eigenschaften heraus, den Ethnographen und Historiographen immer wieder in unterschiedlichen Schattierungen und Kombinationen ausbreiteten. Gerade Ammians Aufzählung der angeblichen Charaktereigenschaften der Hunnen am Ende seines Exkurses liest sich wie eine Liste solcher Stereotypen bzw. Topoi (Allgemeinplätze). Und tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass nahezu jede Aussage seines Berichts auf Vorbilder in der antiken Ethnographie zurückgreift, ja dass sein Hunnenexkurs sogar auffällige Parallelen zu seinem eigenen Sarazenenexkurs aufweist. Was Ammian uns präsentiert, sind also keineswegs ‹die Hunnen›, die seit dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts die antike Welt so verunsicherten; es handelt sich vielmehr um «eine vom Autor selbst aus Topoi der antiken Literatur erstellte ‹ethnographische Fiktion›» (Timo Stickler) bzw. – wie Walter Pohl es genannt hat – «eine kunstvolle Montage von Motiven aus dem Fundus der antiken Ethnographie».41 Also keine echten Hunnen, alles wertlos? Keineswegs. Nicht alles, was Ammian vor uns entfaltet, ist einzig der jahrhundertealten antiken Barbarentradition entwachsen. In seinen Anmerkungen über die Kriegführung der Hunnen etwa gibt der Historiograph durchaus zutreffende Beobachtungen wieder: Die schnellen Reiterattacken der Steppenkrieger versetzten in der Tat nicht nur die römischen Heere, sondern auch Goten und andere in Furcht und Schrecken. Mit ihrer Hauptangriffswaffe, dem Reflexbogen, und der leichten Ausrüstung waren sie den spätrömischen Panzerreitern überlegen; immer wieder konnten sie deren Formationen behende zur Auflösung bringen und mit ihrer gefürchteten Scheinflucht eine fatale Unordnung im gegnerischen Heer provozieren, die sie dann in plötzlichen Kehrtwenden gnadenlos ausnutzten, wenn sie mit ihren Hiebschwertern in die aufgerissenen Reihen der Feinde eindrangen. Ammian deutet vieles davon aber nur an, die Scheinflucht kennt er noch gar nicht. Dass er prinzipiell nicht ganz falsch liegt, wissen wir lediglich aus parallelen Zeugnissen zu berittenen Steppenkriegern, unter anderem dem Militärhandbuch, das Kaiser Maurikios (582–602) zugeschrieben wird. Könnten wir auf dieses Material nicht zurückgreifen, so hätten wir keinerlei Anhaltspunkte, in Ammians Bericht wenigstens ansatzweise zwischen ethnographischer Fiktion und tatsächlich verwertbarer Information zu differenzieren.42 Der Umstand, dass wir auch spätere Berichte über die Hunnen besitzen, erleichtert das Verständnis nicht wesentlich. Ammian selbst hatte wahrscheinlich
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nie einen leibhaftigen Hunnenverband in Aktion beobachten können; sein ‹Wissen› generierte er daher zwangsläufig großenteils aus der reichhaltigen ethnographischen Tradition. Bald aber wurden die Hunnen ihrerseits Teil der antiken Welt, und es wurde immer wahrscheinlicher, ihnen auch im Alltag zu begegnen. Man sollte nun meinen, diese zunehmende Erfahrung im Umgang mit ihnen hätte auch Niederschlag in der Literatur finden müssen; tatsächlich bieten uns Autoren wie die Dichter Claudian (um 400) und Sidonius Apollinaris (Mitte des 5. Jahrhunderts) sowie die Historiographen Zosimos (um 500), Prokop und Jordanes (beide Mitte des 6. Jahrhunderts) weitere Beschreibungen der Hunnen – doch auch sie greifen dabei entweder direkt auf Ammian zurück oder schreiben ebenfalls vorwiegend ethnographische Stereotype aus, die sich weitgehend mit denen decken, die Ammian verwendet. Zosimos rekurriert dabei sogar explizit auf Herodots Skythenexkurs. Bezeichnend ist auch das Vorgehen des Jordanes: Er hat zwar explizit auf das (heute nur noch in Fragmenten vorliegende) Geschichtswerk des Priskos von Panion zurückgegriffen, der im Jahr 449 persönlich an einer Gesandtschaftsreise zum Hunnenherrscher Attila teilgenommen und darüber einen ausführlichen Bericht hinterlassen hatte; aber Jordanes nutzte diese Chance nicht, sondern präsentierte einmal mehr weitgehend das allbekannte ethnographische Standardrepertoire.43 Der Befund, der sich für unser ‹Wissen› um die Hunnen einstellt, ist somit ernüchternd: Ausgerechnet jene Passagen der antiken Literatur, die sich dezidiert einer Beschreibung der Hunnen widmen, sind derartig von traditionellen Topoi überformt, dass es ausgesprochen schwierig ist, aus ihnen verwertbares Material zu gewinnen. Und die Hunnen stehen damit nicht allein, sondern – darin liegt das eigentliche Problem – Ammians Exkurs lässt sich geradezu paradigmatisch für den Umgang mit Barbaren in der Antike insgesamt lesen. Immer dann, wenn wir auf ausführlichere Schilderungen von Gruppen treffen, die nicht der griechisch-römischen Oikoumene, d. h. der nach zeitgenössischen Maßstäben zivilisierten Welt, zugerechnet wurden, stehen wir vor der Herausforderung, uns durch nahezu undurchdringliche Schichten von Stereotypen zu arbeiten, und am Ende bleibt in der Regel nicht allzu viel übrig. Vielleicht wusste man in der Antike gerade aufgrund der normativen Wirkmächtigkeit ethnographischer Beschreibungen eben doch recht genau, was es mit ‹dem› Barbaren auf sich hatte – so erscheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Zwei Grundmuster lassen sich dabei grob unterscheiden: zum einen die Abqualifizierung des Barbaren als unkultivierter, ja geradezu tierhafter Lebensform, die unverständliche Laute vor sich hin brabbelt (daher das griechische Wort bárbaros, zu deutsch ‹Blablasprecher›; ähnlich altindisch barbara-, ‹stammelnd›; verwandt ist auch sumerisch barbar, ‹Ausländer›); zum anderen die Idealisierung
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des unverdorbenen Wilden im Gegensatz zu einer ebenso verfeinerten wie dekadenten antiken Welt. Letztere konstituiert eine der verschiedenen Deutungsebenen, über die sich ein Zugang zur Germania des Tacitus (98 n. Chr.) gewinnen lässt, aber man kann die idealisierende Sichtweise, nunmehr in christlicher Gewandung, etwa auch in den Auslassungen eines Salvian von Marseille (5. Jahrhundert) über die Barbaren im Gegensatz zu den sündhaft-verdorbenen Römern greifen. Dass man den Aspekt des vorgehaltenen Spiegels häufig nicht hinreichend beachtet hat, führte in der Vergangenheit immer wieder zu schwerwiegenden Missverständnissen antiker Texte, gerade auch im Umgang mit der Germania.44 Beiden Grundmustern gemeinsam ist das Element des Fabulösen, des Unterhaltsam-Fantastischen, vielfach auch des Sensationellen, gewonnen aus der ursprünglichen Erkundung des Ungewöhnlichen und Unbekannten, mit der sich die Griechen in archaischer Zeit (ab dem 8. Jahrhundert v. Chr.) den Mittelmeerraum und andere Regionen aneigneten. Je weiter entfernt von der Mittelmeerwelt eine Barbarengruppe angesiedelt wurde, als desto wunderlicher wurde sie beschrieben. Antike Ethnographen richteten sich dabei nach etablierten Klimatheorien, die spätestens seit der hippokratischen Schrift Über die Umwelt (um 430 v. Chr.) bekannt waren und einen Zusammenhang zwischen dem Charakter bzw. den Eigenschaften von Menschen und den klimatischen Einflüssen, denen sie ausgesetzt waren, postulierten. Für den Norden galt dabei – zugespitzt formuliert –, dass das zunehmend rauhe Klima die Bevölkerung wilder und unbeherrschbarer machte – bis man schließlich bei den Menschenfressern (Androphágoi) ankam. «Die Androphágoi», so hält Herodot fest, «haben den wildesten Charakter (ἀγριώτατα ἤθεα) unter allen Menschen, sie kennen keine Gerechtigkeit und haben kein Gesetz. Nomaden sind sie, tragen ähnliche Kleidung wie die Skythen, haben eine eigene Sprache und sind dort die Einzigen, die Menschen verzehren». Und an anderer Stelle ergänzt der Historiograph: «Das Gebiet jenseits von ihnen ist wahrhaft wüst, und es gibt dort kein Menschenvolk mehr, soweit es unserem Kenntnisstand entspricht». Dass es am nördlichen Rand der Welt recht unheimlich zuging, glaubten die Römer ebenfalls zu wissen; kein Wunder daher, dass auch bei Ammian am äußersten Ende, vor dem Beginn der unbewohnten Einöde, die Menschenfresser angesiedelt sind. Bis zu dieser Einsicht war es für die Römer allerdings ein weiter Weg. Gegenüber den Griechen hatten sie sich zunächst noch selbst als Barbaren erniedrigen lassen müssen, dann aber allmählich ihren eigenen Platz in einem sich dichotomisch zuspitzenden Weltbild gefunden, indem sie zunächst eine Trias aus Griechen, Römern und Barbaren konstruierten und diese dann in der Kaiserzeit in die Römer-Barbaren-Antithese überführten, eine Vorstellung, die nunmehr alles Barbarische in
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den Regionen außerhalb der Oikoumene, d. h. jenseits des Imperium Romanum, verortete. Die Vorgaben der griechischen Ethnographie fanden dabei ausgiebige Verwendung, so eben auch die Klimatheorie: In jenen Gebieten, in die hinein das Römische Reich expandierte, milderte sich auch das Klima, so dass sich Land und Leute zu ihrem Vorteil veränderten. Jenseits der Grenzen hingegen galt weiterhin die geläufige Regel: je weiter entfernt, desto schauriger, bis man schließlich zu Völkern gelangte, deren Lebensweise die Umkehrung der zivilisierten Welt markierte. Tacitus lässt seine Germania demgemäß mit einer Beschreibung der entlegenen Fenni ausklingen, die den Übergang in eine diffuse Märchenwelt markieren:45 Die Fenni besitzen eine erstaunliche Wildheit (mira feritas), eine grässliche Armut: nicht Waffen, nicht Pferde, nicht Heim; Nahrung das Gras, Kleidung Felle, Lager der Boden: Ihre einzige Hoffnung liegt in den Pfeilen, die sie aus Mangel an Eisen mit Knochenspitzen versehen. Und dieselbe Jagd nährt Mann wie Frau; überall nämlich sind Frauen Begleiter und fordern einen Teil der Beute. Und die unmündigen Kinder haben keine andere Zuflucht vor wilden Tieren und Regen, als sich in irgendeinem Geflecht von Ästen ein Dach zu suchen: Hierher kehren die jungen Männer zurück, das ist das Obdach für die Alten. Aber sie erachten es für glücklicher, als über den Äckern zu stöhnen, sich mit Häusern zu plagen, eigenes und fremdes Gut in Hoffnung und Furcht dem Wechselspiel auszusetzen: Sorgenfrei gegenüber den Menschen, sorglos gegenüber den Göttern, haben sie das schwierigste Ziel erreicht, dass sie nicht einmal einen Wunsch nötig haben. Das Übrige ist dann alles im Bereich des Märchens (cetera iam fabulosa): dass die Hellusier und Oxionen Menschenantlitz und -miene, Körper und Glieder von wilden Tieren hätten. Das will ich als unerforscht in der Schwebe lassen.
Dass auch in der Antike mitunter eine gewisse Skepsis darüber vorherrschte, ob die bewohnte Welt sich tatsächlich in dieser Weise an den Rändern ins Fabulöse verlor, geht aus den letzten Bemerkungen des Tacitus unmissverständlich hervor. Schon Herodot hatte nach einer Aufzählung verschiedener Wesen, die in Libyen das südliche Ende der Welt markieren sollten und bei denen der Unterschied zwischen Mensch und Tier mitunter verschwamm, gewisse Zweifel angemeldet: «Dort leben Riesenschlangen und Löwen, Elefanten, Bären, Giftschlangen und Einhörner, Leute mit Hundeköpfen und ganz ohne Köpfe, solche mit Augen in der Brust und, wie von den Libyern berichtet wird, wilde Männer und wilde Frauen – und viele Bestien, die nicht erfunden sind». Umso bemerkenswerter ist das Beharrungsvermögen der in geringer Variationsbreite sich kontinuierlich wiederholenden Topoi, aus denen ethnographische Darstellungen komponiert wurden – denken wir nur an die Entscheidung des Jordanes, gegenüber dem wertvollen Augenzeugenbericht des Priskos letztlich doch wieder die altbekannte
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Standardbeschreibung der Hunnen vorzuziehen. Manche Stereotype hielten sich über mehr als ein Jahrtausend, so etwa die Behauptung, Barbaren gäben unverständliche Laute von sich: Schon in der Ilias (8. Jahrhundert v. Chr.) werden die Karer als barbaróphonoi (‹blablasprechend›) gekennzeichnet; Herodot vergleicht die Barbarensprache unverblümt mit Tierlauten; für Ovid zählte zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu den Zumutungen seiner Verbannung nach Tomis (heute Constanţa, Rumänien), dass nun er der Barbar sei, den man nicht verstehe, während sich die einheimischen Geten über das Lateinische lustig machten; Stephanos von Byzanz (6. Jahrhundert) weist ausdrücklich darauf hin, dass bárbaros zunächst nicht als ethnische Kategorie, sondern von der Sprache her verstanden worden sei; und noch um 1200 kann der byzantinische Historiograph Niketas Choniates behaupten, Barbaren rinne beim Reden der Speichel aus dem Mund. Einmal mehr wird dabei deutlich: Auch wenn Zeitgenossen es nachgewiesenermaßen besser wissen mussten, rekurrierten sie dennoch vielfach lieber auf die vertrauten Stereotype – und kollidierten dabei mitunter heftig mit ihrem eigenen Erfahrungsraum. Diese Kollisionen, die während der ‹Völkerwanderung› offenkundig erheblich zunahmen und immer wieder verstörende Situationen provozierten, konnten indes nicht verhindern, dass die traditionellen Versatzstücke grundlegenden Einfluss auf zentrale Elemente antiken Ordnungsdenkens nahmen und diesen vielfach auch behielten. So hatte bereits Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. aus der Klimatheorie Ansätze zur Erklärung vermeintlicher politischer Ordnungsformen entwickelt: Bewohner kalter Regionen seien zwar mutig, aber es mangele ihnen an Vernunft und handwerklichen Fertigkeiten; daher seien sie frei, jedoch ohne politische Ordnung (ἀπολίτευτα) und nicht in der Lage, ihre Nachbarn zu beherrschen. In Asien (also in warmen Gebieten) treffe man hingegen auf Vernunft und technisches Können, aber dort fehle es wiederum an Mut, weshalb die Menschen durchgängig beherrscht und versklavt würden. Einzig die Griechen könnten sich aufgrund ihrer geographischen Mittellage rühmen, an allen positiven Eigenschaften Anteil zu nehmen.46 Immerhin dürfte nunmehr der Traditionszusammenhang, in dem man Ammians Hunnenexkurs zu verorten hat, ein wenig klarer geworden sein: Weit im Norden, am Eismeer lokalisiert (glacialem oceanum accolens), stellt diese gens ein Musterbeispiel eines Verbandes am Rande der Welt dar und besitzt dementsprechend die dafür typischen Eigenschaften, angefangen mit der topischen Wildheit (feritas) über den Verzehr rohen Fleisches, die notorische Unzuverlässigkeit und die fehlende politische Organisation bis hin zur vermeintlichen Religionslosigkeit. Wie sehr die althergebrachten Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Entfernung zur Oikoumene, Klima und menschlichen Eigenschaften dabei noch fortwirken, wird manifest, wenn man einen Blick auf
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Ammians direkt anschließende Beschreibung der Alanen wirft, die westlich von den Hunnen – und damit ein wenig näher an der Mittelmeerwelt – lebten und von diesen als Erste angegriffen wurden. Der Historiograph zeichnet auch sie als wildes und furchteinflößendes Volk, nimmt sich aber im Vergleich zu den Hunnen ein wenig zurück: «Sie sind in allem den Hunnen recht ähnlich, aber gemäßigter in ihrer Lebensart und Kleidung». Die Alanen stellten also gewissermaßen eine Lightversion der Hunnen dar. Ganz ähnlich hatte Jahrhunderte zuvor schon Caesar die in seinen Augen zumindest halbwegs zivilisierten Gallier von den Germanen abgegrenzt.47 Mustert man somit die antike Überlieferung zu den Barbaren, so stellt sich ungeachtet der mitunter einfallsreichen und spannenden Einzelschilderungen, die Zeitgenossen offenbar durchaus zu fesseln vermochten, insgesamt nach einiger Zeit doch der Eindruck einer ermüdenden Monotonie ein. So sehr die alltäglichen Verrichtungen von Menschen mit Hundeköpfen oder zusammengewachsenen Pobacken, mit riesigen, schattenspendenden Füßen oder dunkelblau gefärbten Haaren zunächst auch faszinieren mögen – die Eigenschaften ‹des› Barbaren entstammen zumeist dem angesprochenen Reservoir festgelegter Versatzstücke und bewegen sich innerhalb eines überschaubaren, nicht unbedingt widerspruchsfreien Spektrums an Variationen: Barbaren sind tierähnlich (man erinnere sich an die Darstellung des Awarenkhagans vor Konstantinopel) oder führen zumindest ein Leben wie Tiere (kein Wunder angesichts der tierhaften Laute, die sie ausstoßen), sie sind grausam, furchtsam, kennen kein Gesetz (nómos / lex), sie sind habsüchtig, verschlagen und maßlos, halten ihre Triebe nicht unter Kontrolle, prunken, rauben, sind hochmütig, treulos und unbesonnen, sie neigen zu Zornesausbrüchen, sind verweichlicht (auch im Krieg), unvernünftig, leichtgläubig und dumm, aber durchaus auch tapfer; Barbaren weisen ein merkwürdiges Äußeres auf (Größe, Gesichtsfarbe, Haarfarbe und -länge, Kleidung usw.), ihre Ess- und Trinksitten sind gewöhnungsbedürftig, man versteht ihre Sprache nicht, sie stinken, leben in politischen Ordnungen, die griechisch-römische Zeitgenossen zumeist ablehnten, und hängen entweder einer sonderbaren oder überhaupt keiner Religion an; im Extremfall vollziehen sie Menschenopfer oder verspeisen ihre Zeitgenossen gleich selbst; Barbaren kennen keine Stadtkultur, treten häufig in großen Mengen auf und pflegen ungewöhnliche Formen der Kriegführung. Mitunter werden spezifische Eigenschaften als Distinktionskriterien zur Charakterisierung von Gruppen und Kollektiven verwendet. So kann etwa Salvian kurzerhand festhalten: «Die gens der Sachsen ist wild, die der Franken treulos, die Gepiden sind unmenschlich, die Hunnen unzüchtig; der Lebenswandel aller barbarischen gentes besteht eben aus Lasterhaftigkeit». Selbstverständlich ließen sich viele der genannten Eigenschaften auch
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im Sinne der Idealisierung des ‹edlen Wilden› ins Positive wenden; in diesen Fällen erscheinen die Barbaren häufig als genügsam, einfach, unverdorben, gerecht, ehrlich und fromm, mitunter gar als weise.48 Wenig Respekt zollte man überdies der Entwicklung und Dynamik fremder Gruppierungen bzw. barbarischer Verbände, jedenfalls soweit es die literarische Ebene, unsere wichtigste Informationsquelle, betrifft. Nicht nur die Verwendung der immer gleichen Stereotype zur Erfassung auswärtiger Bevölkerungen ließ die Barbaren in einer statisch anmutenden Zeitlosigkeit erscheinen; auch die vielfach willkürliche Verwendung alter, längst obsoleter, aber durch historiographische Autoritäten wie Herodot und Thukydides etablierter Namen zur Bezeichnung der Fremden trug dazu bei, diesen Eindruck zu bestärken: Sarmaten und Alanen galten als Skythen, Goten wurden zu Geten, die sāsānidischen Perser erscheinen unter den Etiketten von Medern und Parthern, Alanen und Hunnen konnten auch Massageten, Franken hingegen Sigambri genannt werden, Awaren wurden zu Hunnen usw. Die vordergründige Konstanz der Topoi und Namen verdeckte Ethnogeneseprozesse und Transformationen innerhalb der barbarischen Welt, um die man, wie sich erschließen lässt, vielfach durchaus wusste, die jedoch den traditionellen starren Darstellungsschemata geopfert wurden.49 Angesichts dieses eher ernüchternden Befundes wäre man dankbar zu erfahren, wie Barbaren dies eigentlich selbst gesehen haben und wie sie sich selbst in Abgrenzung von Griechen und Römern definierten. An diesem Punkt allerdings werden wir mit einem weiteren Problem konfrontiert, das eine Darstellung der ‹Völkerwanderung› erschwert: Wir besitzen – mit Ausnahme weniger Inschriften und Textfetzen – keine schriftlichen Zeugnisse von barbarischer Seite, keine literarischen Texte also, die das Assoziationsraster, das sich nach der Lektüre einer hinreichenden Anzahl ethnographisch eingefärbter antiker Darstellungen unmerklich bei uns verfestigt, korrigieren könnten. Nahezu sämtliche schriftlichen Aussagen zu den Barbaren aus der sogenannten Völkerwanderungszeit stammen von Römern und nötigen uns damit unweigerlich stets eine römische Perspektive, eine interpretatio Romana, auf – eine Sichtweise also, die von vornherein im Kosmos der genannten Stereotype befangen ist.50
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1.2.4 Römer und Barbaren – noch komplizierter …
Nur eine einzige Gruppe von Texten nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderrolle ein: die sogenannten origines gentium (‹Ursprungsgeschichten von gentes›). Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, stellt allerdings ein ausgesprochen heikles Unterfangen dar, abzulesen nicht zuletzt an dem Umstand, dass die Forschung sich darüber mittlerweile heillos zerstritten hat. Dennoch müssen wir an dieser Stelle ein wenig näher auf die zugrundeliegende Problematik eingehen. Denn die Entscheidung, wie man sich in dieser Diskussion positioniert, zieht elementare Konsequenzen für den Zugriff auf die ‹Völkerwanderung› insgesamt nach sich.51 Allgemein anerkannt ist immerhin, dass das entsprechende Schrifttum sich nicht als einheitliche literarische Gattung fassen lässt (und auch von Zeitgenossen nicht in dieser Weise verstanden wurde). Origo gentis stellt vielmehr eine moderne Sammelbezeichnung dar für all jene Texte, in denen Überlieferungen über die vermeintliche Frühzeit und Geschichte eines Barbarenverbandes festgehalten worden sind. Dabei kann es sich um einzelne Passagen innerhalb größerer Werke unterschiedlicher Gattungen (Ethnographie, Historiographie, Epik usw.) handeln, mitunter auch um gelehrte Begründungszusammenhänge in Rechtstexten; besonders reichhaltiges Material enthalten indes einige selbständige historiographische Darstellungen, die jeweils einen Überblick über die ‹Geschichte› einer gens bieten, also eines Barbarenverbandes, der sich zu einem regnum, einem ‹Reich›, verfestigt hat. Anders als die klassische antike Ethnographie blickt die origo gentis-Literatur, wie man meinte, nicht von außen auf die Barbaren, sondern die Darstellung erfolgt von innen, aus dem Verband, der jeweils im Zentrum der Darstellung steht, heraus: Jordanes etwa, der in der Mitte des 6. Jahrhunderts eine Geschichte der Goten (Getica) verfasste, stellt sich dem Leser selbst als Gote vor; große Teile seines Materials stammen wiederum aus der verlorenen Gotengeschichte (Historia Gothorum) Cassiodors, der als römischer Senator wichtige Ämter im Ostgotenreich bekleidete; Gregor von Tours verfasste gegen Ende des 6. Jahrhunderts unter fränkischer Herrschaft seine Historien, in deren Zentrum die Franken stehen; im westgotischen Spanien schrieb Isidor von Sevilla seine Historia Gothorum, Vandalorum, Suevorum; in den ersten Jahrzehnten des 8. Jahrhunderts entstand in Britannien die große Kirchengeschichte (Historia ecclesiastica gentis Anglorum) des Angelsachsen Beda Venerabilis; der Langobarde Paulus Diaconus vollendete im späten 8. Jahrhundert seine Historia Langobardorum – um nur einige Werke zu nennen. All diese Texte haben gerade wegen
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der Innenperspektive, aus der heraus sie verfasst scheinen, das Interesse der Interpreten auf sich gezogen – und seit den späten 1980er Jahren heftige Kontroversen provoziert. Auf Widerstand stieß zunächst das Vorgehen der älteren Forschung, die vielfach davon ausging, dass in den origines gentium mehr oder weniger die tatsächliche Geschichte eines ‹Volkes› festgehalten sei. So bilden etwa Jordanes’ Getica noch heute die wichtigste Grundlage, um die Wanderungen ‹der› Goten nachzuvollziehen.52 Seit dem bahnbrechenden Werk von Reinhard Wenskus über «das Werden der frühmittelalterlichen gentes» wissen wir aber, dass es sich bei den zur Diskussion stehenden Verbänden nicht um echte, biologisch zu fassende Abstammungsgemeinschaften – also nicht um Völker im Sinne der Vorstellung, die sich seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hat (s. u.) – handelte, sondern um Entitäten, die jeweils durch den Glauben ihrer Angehörigen an eine gemeinsame Herkunft zusammengehalten wurden; das Paradigma der wandernden Einheit wird damit infrage gestellt – darauf ist noch zurückzukommen. Für den Moment ist der Umstand entscheidend, dass solcherart konstruierte Gruppen, für deren Fortexistenz vor allem die subjektive Überzeugung, eine Abstammungsgemeinschaft zu bilden, und weniger der Sachverhalt selbst von Bedeutung ist, starke Bindungskräfte benötigen, um den Zusammenhalt der Mitglieder zu gewährleisten. Eine origo gentis leistet dazu einen wichtigen Beitrag, denn sie verschafft dem Verband eine ‹Geschichte› und bewirkt dadurch wertvolle Stabilisierungseffekte; sie suggeriert eine von Anbeginn vorhandene Kohärenz und festigt durch die Darlegung einer von schweren Prüfungen, langen Wanderungen und heldenhaften Leistungen gekennzeichneten Vergangenheit die Struktur des aktuellen Verbandes als (imaginierter) Schicksalsgemeinschaft; sie erzeugt und formt damit Identität und legitimiert zugleich die bestehenden politisch-sozialen Strukturen aus der ‹Geschichte› heraus. Sie begründet Normen und Gesetze. Aus diesem Grund können mitunter sogar origo gentis und lex gemeinsam überliefert werden, wie es bei den Langobarden der Fall war. Entscheidend ist also letztlich nicht so sehr die Frage, ob eine origo die ‹Wahrheit› über die Vergangenheit der jeweiligen gentes berichtet und wie man diese aus der Masse vielfach mythisch überformten oder offenkundig unzutreffenden Materials herausdestillieren kann, sondern es geht vielmehr darum, wie die Autoren vor dem Hintergrund ihrer eigenen Zeit die vermeintliche Vergangenheit ihrer gens konstruiert haben, auf welche Traditionselemente sie sich dabei stützten und wie sie diese mit ihrer eigenen Gegenwart in Beziehung setzten. Eine origo gentis bietet insofern zunächst einmal Aufschlüsse über ihre jeweilige Entstehungszeit, über zeitgenössische diskursive und politische Zusammenhänge, die bestimmte historische Argumentationsmuster gegenüber anderen privilegierten.53
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Dennoch wurde das methodisch heikle Wagnis unternommen, unter anderem mit Rückgriff auf eine origo gentis die Geschichte ‹völkerwanderungszeitlicher› Verbände nachzuvollziehen – Herwig Wolframs meisterhaftes Gotenbuch steht exemplarisch für diese Vorgehensweise. Wer sich auf ein derartiges Unternehmen einlässt, sieht sich allerdings mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert: Es gilt dann nämlich, in dem Bewusstsein des hochgradigen Konstrukt-Charakters der Texte diesen dennoch verwertbare Informationen über die Vergangenheit abzugewinnen. Ansätze dieser Art gehen davon aus, dass eine origo gentis sich vielfach auf eine zum Teil sehr alte mündliche Überlieferung stützt und diese – häufig zum ersten Mal – kodifiziert hat. Die Herausforderung besteht also zunächst einmal darin, die einzelnen Inseln, auf denen sich dieses mündlich tradierte Material kristallisiert, in den Texten ausfindig zu machen. Ist dies annähernd gelungen, stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, wie damit umzugehen ist, denn reale Geschichte lässt sich auf diese Weise natürlich nicht extrapolieren; mündliche Überlieferung ist formbar und über die Zeit hin vielfältigen Veränderungsprozessen ausgesetzt. Aber die Kohäsionskräfte, die den Zusammenhalt einer gens bewirken, nämlich entscheidende, mitunter über Jahrhunderte hin von Generation zu Generation weitervermittelte Traditionen, treten nunmehr zutage. Wir erfahren, auf welche besonderen Begebenheiten der Vergangenheit – ganz unabhängig von der Frage, ob diese historisch sind oder nicht – sich ein Verband stützte, von welchen Traditionen eine stabilisierende Wirkung ausging, und wir können nachvollziehen, wie diese in die Entstehungszeit der Texte zurückgespiegelt wurden. Noch einmal: Eine auch nur halbwegs objektivierbare Geschichte lässt sich daraus nicht gewinnen, wohl aber Einsichten in die Art und Weise, wie Zeitgenossen eine gens, die schließlich in ein regnum aufging, historisch verankert und narrativiert haben, Einsichten in die Zusammenhänge und Faktoren, denen offensichtlich eine besondere Relevanz im Prozess der Ethnogenese zukam, sowie in die Mechanismen, die zumindest zur Zeit der schriftlichen Fixierung der origo gentis den Zusammenhalt des Verbandes beförderten.54 Von diesem Punkt aus eröffnet sich der Blick auf all jene historischen Bezugspunkte, die damals offenbar von Bedeutung waren, um Zugehörigkeit zu einer gens bzw. einem regnum zu fundieren. Die origo gentis-Texte überführen diese Bezugspunkte häufig in eine zeitlich lineare Anordnung und formen damit eine kontinuierliche Geschichte – auch wenn die Elemente, aus denen diese konstruiert wird, ursprünglich ganz unterschiedlichen Zeitschichten und Räumen, teilweise auch widerstreitenden Ebenen und Kontexten angehörten; sie erhalten nunmehr einen übergreifenden Rahmen und gerinnen zu Bausteinen einer durchgehenden Erzählung. Bleiben wir beim Beispiel der Goten: Die Getica demonstrieren uns, wie im 6. Jahrhundert die Eigenschaft ‹Gote› historisch kons-
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truiert und fundiert werden konnte. Dabei werden unter das Etikett ‹Gote›, das schon in der frühen Kaiserzeit schriftlich belegt ist und somit als solches eine altehrwürdige Tradition und damit eine hohe Attraktivität besaß, ganz unterschiedliche Gruppen subsumiert und in ein historisches Narrativ eingebunden. Walter Pohl hat sie aufgelistet: «Bauern an der Ostsee im 2. und Scharen plündernder Seeräuber im 3. Jahrhundert, ein Steppenimperium am Schwarzen Meer im 4., konkurrierende Foederatenheere von oft nur wenigen Tausend Mann in den Balkanprovinzen bis zum Ende des 5. Jahrhunderts, Königreiche auf der Krim, Provinzialen am Balkan-Gebirge, Kontingente hunnischer Heere und Verbände regulärer römischer Armeen. Sie werden nicht nur als Goten bezeichnet, sondern auch als Gutonen, Greutungen, Terwingen, Vesier, Ostrogothen und Visigothen, als Skythen, Geten, ja als die apokalyptischen Gog der Bibel». Diese bunte Versammlung in ihrer ganzen Vielfalt als Einheit konzipiert und in eine sinnstiftende Erzählung eingebunden zu haben, ist die große Leistung der Gotenhistoriographen des 6. Jahrhunderts – Cassiodor und Jordanes. Selbstverständlich geschah dies nicht ohne Hintergedanken: Cassiodor verfasste seine Historia Gothorum für den ostgotischen Herrscher Theoderich († 526), dessen Familie, die Amaler, dadurch über Generationen bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgt und historisch verankert werden konnte – und zwar innerhalb der gotischen ebenso wie der griechisch-römischen Geschichte. Auf diese Weise ließ sich Theoderichs Stellung gegenüber Goten und Römern festigen und legitimieren. Jordanes hat einige Jahrzehnte später dieses Konzept aufgegriffen und in seine Getica überführt. Welche Motive ihn dazu bewogen haben, ist umstritten. Denn als Jordanes seine origo gentis in Konstantinopel schriftlich niederlegte, neigten sich im fernen Italien gerade Justinians Gotenkriege ihrem Ende zu. Das von Theoderich begründete Ostgotenreich war auf dem Weg, sich in eine geschichtliche Größe zu verwandeln. Wir können nur darüber spekulieren, welches Interesse ein Historiograph in Konstantinopel damit verfolgte, ausgerechnet diesem Gebilde im Moment seines Vergehens noch einmal ein literarisches Denkmal zu setzen – diese Fragen jedoch gehören bereits in andere Kontexte.55 Herwig Wolfram nutzte die gotische origo gentis, um seinerseits den dort gelegten Spuren, d. h. den zu einer durchgängigen Geschichtserzählung zusammengefügten historischen Bezugspunkten sowie den Hinweisen auf wichtige Stationen im Prozess der gotischen Ethnogenese nachzugehen und daraus ein Raster zu entwickeln für seine eigene groß angelegte Erzählung über die Goten. Er übernahm gewissermaßen das historische Narrativ, ohne sich dabei der vermeintlichen Historizität seiner Inhalte verpflichtet fühlen zu müssen, von denen er sich im Laufe seiner jahrzehntelangen Arbeit am Gotenthema zunehmend distanzierte. Auch für ihn stellten die Getica zunächst einmal ein Dokument des 6. Jahr-
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hunderts dar. Dass er jedoch den Schritt wagte, sich auch ihre Tiefendimension für seine Darstellung nutzbar zu machen, provozierte insbesondere in der angloamerikanischen Forschung erhebliche Widerstände. Im Kern wirft man Wolfram vor, er wolle wider jegliche Evidenz und vorbei an aktuellen Erkenntnissen der Forschung an einer skandinavischen Frühgeschichte und nachfolgenden jahrhundertelangen Wanderungen der Goten festhalten, nur um weiterhin aus einer möglicherweise unbewusst germanophilen Haltung heraus eine altehrwürdige, eigenständige Geschichte eines germanischen Volkes postulieren zu können, anstatt schlicht hinzunehmen, dass ‹die Goten› letztlich ein Produkt römischer Kategorisierungs- bzw. Sortierungsbemühungen seien, mit denen man in der Kaiserzeit versucht habe, eine gewisse Ordnung in das unübersichtliche Gewirr unterschiedlichster Verbände jenseits des germanischen Limes zu bringen. Dass Wolfram die umstrittenen Abschnitte der gotischen origo aber keineswegs als Teil einer gotischen Geschichte, sondern einer gotischen Tradition betrachtet, wurde dabei vielfach nicht hinreichend berücksichtigt. Der Streit um die origines gentium war eröffnet.56 Die Gegner des von Wolfram und anderen vertretenen Ansatzes gruppieren sich vor allem um den amerikanischen Mediävisten Walter Goffart, der 1988 in einem einflussreichen Buch exemplarisch einige Erzeugnisse des origo gentisSchrifttums untersucht und vor allem deren literarischen Charakter herausgearbeitet hat. Für Goffart handelt es sich nicht um historisch verwertbare Texte, schon gar nicht um Dokumente, die ältere mündliche Traditionen bewahren, sondern in erster Linie um fein ausgearbeitete Literatur, die nach traditionellen antiken Mustern funktioniert und unterhalb der Oberfläche der Geschichtserzählung subtil mit literarischen Formen spielt. So liest er unter Rückgriff auf Hayden Whites These, wonach jede Form von Geschichtsschreibung bestimmten narrativen Grundformen folgt, etwa die Historien Gregors von Tours als Satire und Jordanes’ Getica (die er eng mit dessen zweiter Schrift, den Romana, verbindet) als ironische Komödie mit romanhaften Zügen. Jeder Autor, so betont Goffart, habe ganz eigene, vorwiegend literarische Ziele verfolgt, und die vermeintliche Darlegung der Geschichte einer gens habe dabei lediglich als eine Art Medium zu deren Umsetzung gedient, dürfe aber nicht mit dem eigentlichen Anliegen der Verfasser verwechselt werden. Als eigenständige Literaten hätten diese weitgehend unabhängig, ja letztlich autonom agiert. Hinreichend verbindende Elemente, die es erlauben würden, von einer Gruppe zusammengehöriger Texte, gar von einer Gattung der origo gentis zu sprechen, kann Goffart nicht erkennen.57 Auch andere haben die historische Auswertung der origines gentium scharf kritisiert. Michael Kulikowski etwa möchte die Getica nahezu völlig aus dem
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Kreis verwertbarer historischer Zeugnisse ausscheiden; Jordanes’ Schrift stellt sich für ihn lediglich als krudes Sammelsurium undurchsichtiger, nicht verifizierbarer oder sogar eindeutig widerlegbarer Nachrichten dar, die einzig dem Zweck gedient hätten, den Goten eine möglichst lange Geschichte zu verleihen. «Es ist Jordanes’ Hauptanliegen», so Kulikowski, «sämtliche Berichte aus seinen vielen unterschiedlichen Quellen in eine einzige, lineare Schilderung der gotischen Geschichte zu integrieren, in der gotisches Heldentum und gotische Stärke faktisch unschlagbar erscheinen, bis die Goten schließlich von Justinian unterworfen werden». Anstoß nimmt Kulikowski vor allem an den vermeintlichen Wanderungen der Goten in Jordanes’ Vorstellungswelt: Die Migration von Skandinavien über die südliche Ostseeküste und das Gebiet um die Weichsel bis zum Schwarzen Meer und von dort in den römischen Dunstkreis ist für ihn ein reines Fantasiegebilde, dessen Relevanz in der Forschung sich einzig aus dem Bemühen erkläre, in den Quellen eine Basis für die Aufrechterhaltung des Migrationsparadigmas und damit einer skandinavischen Herkunft der Goten zu behalten, obwohl sich diese Ansätze – jedenfalls nach Ansicht Kulikowskis – mittlerweile längst erledigt hätten und zur Diskussion um die gotische Ethnogenese nichts mehr beitrügen (dazu s. u.).58 Ein großer Teil der Kritik an einer historischen Auswertung der origo gentisSchriften konnte allerdings in den letzten Jahren entkräftet werden. Goffarts Analysen der Texte, so scharfsinnig sie auch sein mögen, vernachlässigen nämlich konsequent die historisch-inhaltliche Ebene bzw. die Kontexte der von ihm untersuchten Werke. Autoren wie Jordanes, Gregor von Tours, Beda oder Paulus Diaconus bewegten sich aber keineswegs autonom in einem elitären literarischen Raum, sondern waren in historische Zusammenhänge eingebunden, die zwangsläufig ihren Niederschlag in den Texten finden und deren Gestalt mitbestimmen mussten. Für die meisten Erzeugnisse der origo gentis-Literatur lässt sich der politische Zeitbezug unmittelbar aufzeigen. Die Schriften sollten Wirkungen entfalten, die man unter die Stichworte ‹Identitätsstiftung› und ‹Legitimation› gefasst hat, d. h. sie zielten auf eine breite Rezeption – unabhängig von der schwierigen Frage, welches Publikum jeweils konkret angesprochen wurde. Wenn sie sich aber an größere Kreise richteten, dann konnten sie nicht lediglich krude Fantasien präsentieren, sondern mussten vielmehr auf die Mitlebenden plausibel wirken, die ja ihrerseits bestimmte tradierte Vorstellungen von der Vergangenheit ihrer gens hatten. Hätten sich die Darstellungen der origo gentis-Texte allzu weit von diesem allgemeinen Vorstellungs- und Erwartungshorizont entfernt, so wären sie von vornherein zur Wirkungslosigkeit verurteilt gewesen. Das jedoch kann nicht das Ziel der Verfasser gewesen sein. Diesen ging es ohne Zweifel darum, unterschiedliche ältere Berichte und Traditionen in eine einheitliche Er-
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zählung zu überführen, wie Kulikowski zu Recht festgehalten hat, und möglicherweise haben die Autoren dabei ja tatsächlich auch weiterreichende literarische Ambitionen verfolgt, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zur historischen Darstellungsebene gestanden haben mögen. Doch auch in diesem Fall gilt: «Selbst wenn Goffart […] im Recht wäre, daß Jordanes die Getica als Satire und ‹love story› geschrieben hat, sagt dies nichts über, geschweige denn gegen die Elemente, aus denen Jordanes seine Geschichten komponierte».59 Nichts spricht also grundsätzlich dagegen, zumindest einige der Nachrichten in den origines gentium als authentische Traditionselemente anzusehen und entsprechend zu bewerten. Dies gilt unter anderem für die verschiedenen nichtrömischen Namen und Wörter (etwa die zwar in antiker Tradition als Halbgötter eingeführten, aber den Römern ansonsten – auch terminologisch – bis dahin unbekannten gotischen ansis) und die damit zusammenhängenden Episoden in den Getica, bei denen es sich kaum um ad hoc-Erfindungen römischer Gelehrter handeln dürfte. Wenn Jordanes beispielsweise von den geheimnisvollen gotischen Hexen und Stammmüttern der Hunnen, den haliurunnae, berichtet, so versucht er diese zwar mit den in der christlichen Spätantike geläufigen moralischen Maßstäben zu erfassen; aber er verwendet dennoch zu ihrer Bezeichnung in seiner lateinischen Darstellung ein gotisches Wort (*haljaruna), das schwerlich er selbst oder gar Cassiodor neu geprägt haben können (denn wie hätten sie selbständig auf Wort und Geschichte kommen sollen?); in diesem Zusammenhang deutet auch nichts auf eine besondere literarische Stilisierung. Die haliurunnae und die mit ihnen verbundene Episode müssen also auf mündliche Überlieferung zurückgehen. Jordanes hat sich diese Tradition lediglich zu eigen gemacht und sie in seine Getica integriert.60 Freilich kann man die berechtigte Frage stellen, welche Funktion die Haliurunnen-Episode in den Getica überhaupt besitzt. Für die Goten war sie wenig schmeichelhaft, denn sie knüpfte eine genetische Verbindung zwischen ihnen und den Hunnen, worauf man im 6. Jahrhundert sicherlich nicht unbedingt stolz war. Hätte Jordanes einfach nur eine glatte Darstellung als Ausgangsbasis für seine vermeintlich höheren literarischen Ambitionen komponieren wollen, so hätte er besser auf die sperrige Geschichte von den haliurunnae verzichtet. Genau dies tat er aber nicht, im Gegenteil: Man trifft bei ihm immer wieder auf Elemente, die sich zum Gesamtduktus seiner Erzählung nicht so recht fügen wollen, die ihren Fluss behindern und regelrecht wider Willen aufgenommen erscheinen. Der gesamte Komplex über die Ursprünge der Goten in Skandinavien etwa ist eigentlich überflüssig, denn da das Reich der Skythen, mit dem die Goten später in Verbindung gebracht werden, ohnehin als das älteste in der Geschichte galt, wäre es gar nicht nötig gewesen, die gotische Geschichte darüber hinaus noch
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weiter in eine skandinavische Frühzeit hinein zu verlängern. Jordanes hat diesen Komplex aber trotzdem in seine Getica aufgenommen, und er tat es überdies in einer kompositorisch fragwürdigen Weise, indem er ihn nämlich in mehreren über das Werk verstreuten Erzähleinheiten präsentierte, was dem Ablauf der Gesamtdarstellung, die dadurch immer wieder unterbrochen wird, nicht sonderlich zuträglich war. Warum aber diese Vorgehensweise? Konsistenter, widerspruchsfreier und literarisch eleganter hätte sich seine Erzählung sicherlich gestaltet, wenn er Episoden und Zusammenhänge dieser Art schlicht ausgelassen hätte; offenbar fühlte er sich aber dazu verpflichtet, auch störende, einer reibungslosen Narratio zuwiderlaufende Elemente zu verarbeiten. Walter Pohl, dem diese Unstimmigkeiten erstmals aufgefallen sind, hat mit guten Gründen vermutet, dass wir darin feste Wissensbestände im avisierten Publikum des Jordanes (bzw. Cassiodors) greifen können, auf deren Erwähnung man im 6. Jahrhundert nicht verzichten durfte – auch wenn dies die eigene Erzählung teilweise der Konsistenz und Eleganz entkleidete. Wenn wir somit von der Existenz von Wissensbeständen dieser Art ausgehen müssen und sogar nachvollziehen können, dass ihre Integration in die jeweilige Gesamtdarstellung mitunter Probleme bereitete, dann wird es schwer, an Goffarts Thesen festzuhalten, wonach wir es mit autonomen Erzeugnissen vorwiegend literarischen Charakters zu tun haben. Vielmehr gewinnen wir ein plausibles und bisher noch nicht entkräftetes Argument dafür, die origo gentis-Texte durchaus historisch auswerten und als Zeugnisse für gentile Traditionsbildung verwenden zu dürfen. Die in diesem Zusammenhang immer wieder geäußerte Mahnung, dass man dabei mit größter methodischer Sensibilität vorzugehen habe, wiederholt lediglich eine selbstverständliche Grundvoraussetzung jeglichen historischen Arbeitens.61 Können wir dann also, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, wenigstens in den origines gentium Splitter genuiner Selbstzeugnisse bzw. Selbstbeschreibungen aus der Perspektive der Barbaren greifen? Sicherlich nicht in einem naiven Sinne. Aus den einschlägigen Texten lassen sich Traditionselemente gewinnen, die Selbstbeschreibungen von Angehörigen der jeweils behandelten Verbände reflektieren. Aber schon die formalen Grundprinzipien, denen die origines gentium als gelehrte Verpackungen dieser Traditionen folgen, gemahnen zur Vorsicht: Es handelt sich um lateinische, also nicht um volkssprachliche Texte, und sie orientieren sich an Bauprinzipien, die der antiken Literatur entstammen; ihre Autoren greifen zwar auf ältere Traditionselemente, also vor-ethnographisches Material, zurück, formen diese aber bereits im Akt der schriftlichen Niederlegung nach dem Vorbild der antiken Ethnographie um. All dies sollte uns nicht erstaunen, denn eines der Hauptanliegen der origo gentis-Literatur bestand in dem Bemühen, die jeweiligen Verbände in einem christlich-römischen Rahmen zu ver-
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ankern – durchaus auch geographisch, wie die Weltbeschreibung zu Beginn der Getica belegt, die sich nicht zufällig wiederum an den Historien des Orosius als einem Mustertext christlich-römischer Universalgeschichtsschreibung orientiert. Die Barbaren wurden regelrecht in den antiken Kontext eingeschrieben. Jordanes weist explizit darauf hin, dass es sich bei den Goten natürlich um die aus der antiken Ethnographie seit Jahrhunderten bekannten Geten handele, ein thrakisches Volk, das schon Herodot erwähnt hatte. Ganz ähnlichen Zielen dient auch der von Cassiodor in der Historia Gothorum aus gotischen Namen konstruierte Stammbaum der Amaler-Dynastie, der Athalarich (526–534) als den 17. König auswies – so wie Roms Gründer Romulus der 17. König nach Aeneas gewesen sein soll; der Langobardenkönig Rothari (636–652) folgte später ebenfalls diesem Schema und stellte sich im Jahr 643 im Prolog seiner Gesetzessammlung (Edictus Rothari) in gleicher Weise als 17. Herrscher der Langobarden vor. In der FredegarChronik (7. Jahrhundert) wird der Ursprung der Franken gar auf die Troianer zurückgeführt und damit in einen Rahmen eingebettet, wie er traditioneller (im Sinne antiker Geschichtsbilder) nicht hätte sein können. Nicht ohne Grund wurde – das prominenteste Beispiel – im Jahr 533 Cassiodor vom ostgotischen König Athalarich dafür gerühmt, die gotischen Ursprünge in römische Geschichte überführt zu haben: Originem Gothicam historiam fecit esse Romanam.62 Die meisten Autoren, die eine origo gentis überliefern, verfassten ihre Werke nicht ausschließlich zu ebendiesem Zweck; weder Gregor von Tours noch der sogenannte Fredegar verstanden sich hauptberuflich als Erforscher der Ursprünge ihrer gentes, und selbst bei Cassiodor und Jordanes spielen entsprechende Aspekte zwar eine wichtige Rolle, funktionieren aber nur als Teil eines übergeordneten Ganzen. Es ist vielmehr so, dass die origo-Elemente oder -Abschnitte häufig in die Texte ‹hineingerutscht› sind, man über den Grad der Intentionalität und Stilisierung also durchaus diskutieren kann. Auch aus diesem Umstand lässt sich ein Argument zimmern, die origo gentis-Überlieferung nicht voreilig als Sammelsurium haltloser Erfindungen beiseitezulegen. Schwer einzuordnen bleibt diese Textgruppe trotz allem. Denn selbstverständlich ging es den Autoren, wie beschrieben, nicht zuletzt darum, den Platz, den ihre jeweilige gens im christlich-römischen Kosmos – und damit innerhalb der Heilsgeschichte – einnahm, zu definieren und zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund eröffnete sich sogar eine Perspektive, wenn man die Goten mit Magog, einem Enkel des biblischen Noah, in Verbindung brachte: Jetzt nämlich waren sie Bestandteil des biblischen Völkerkataloges und damit letztgültig in die Alte Welt integriert. Aus all dem folgt dann aber, «daß Fremdwahrnehmung wie Selbstbewußtsein der neuen Völker, sobald sie in den Gesichtskreis der römischen Welt und damit unserer Quellen traten, von Anfang an römisch beeinflußt waren, und
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daß aus römischer Sicht auch die jeweiligen ethnischen Traditionen, vor allem die ‹origines gentium›, neue Bedeutung erhielten». Ob der Verfasser eines Textes, der origo gentis-Elemente enthält, Römer oder Barbar war, ist damit letztlich ganz unerheblich, denn bereits in dem Vorhaben, ein lateinisches, an den Maßstäben antiker Literatur ausgerichtetes Werk zu verfassen, ist der römische Hintergrund unmittelbar präsent. Viel zu wenig beachtet wurde bisher überdies der Umstand, dass eine origo gentis keineswegs nur auf ein barbarisches Publikum zielte, sondern auch auf Römer, denen das hohe Alter, die ehrwürdige Tradition und damit auch die schon seit langen Jahrhunderten bestehende Einbindung des jeweiligen Verbandes in die antike Oikoumene nahegebracht werden sollten. Römer und Barbaren sollten also gemeinsam von Texten dieser Art profitieren, um sich mit den gewandelten Verhältnissen zu arrangieren. Die origines gentium lassen sich damit weder aus der Autoren- noch aus der Rezipientenperspektive als rein römisch oder barbarisch klassifizieren, sondern sie übermitteln vornehmlich Material zur Traditionsbildung barbarischer gentes und regna, um auf beiden Seiten Orientierungen zu erleichtern, ja sie tragen letztlich selbst zur Erschaffung und Konturierung einer gens bei; sie sind als Dokumente «einer gewaltigen Anstrengung, eine sich rasch verändernde Welt zu begreifen und zu formen», aufzufassen.63 Einmal mehr, so lässt sich zusammenfassen, werden wir damit auf unser zentrales hermeneutisches Problem zurückverwiesen: Wir können auf die Barbaren nur durch die römische bzw. die im Rahmen der antiken Traditionsbildung geschärfte Brille blicken – jedenfalls wenn wir uns den Schriftquellen zuwenden. Mit einer solchen Brille lassen sich ‹die› Barbaren aber nicht unmittelbar erkennen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir über gar keine Möglichkeiten verfügten, bei der Suche nach ihnen weiterzukommen. Unser Blick sollte sich vielmehr auf andere Aspekte richten: auf die historischen und literarischen Kontexte, in denen bestimmte Barbarentopoi aktiviert wurden (und andere nicht); auf die Art und Weise, wie jeweils mit den Stereotypen gearbeitet wurde; auf die Frage, wer sie von welchem Standpunkt aus geäußert hat, an wen sie gerichtet wurden und was mit dem Einsatz von Barbarentopoi im Einzelfall erreicht werden sollte – ging es darum, Emotionen zu schüren, Identitäten zu stiften, Gruppen voneinander abzugrenzen oder gar politische Einheiten zu definieren? Und schließlich der Blick auf die Handlungsebene: Wie gestalteten sich die unterschiedlichen Kontexte und Varianten, in denen sich römische oder barbarische Identitäten bzw. deren Zuschreibungen als handlungsleitend erweisen konnten? Dabei dürften für uns vor allem jene bereits erwähnten Situationen von größerem Interesse sein, in denen das traditionelle Barbarenbild mit dem tatsächlichen Erfahrungsraum der Akteure kollidierte. Wie wurde in solchen Fällen reagiert, in welcher Weise setzten die Akteure die Wahrnehmung von Diskrepanzen in Handeln um?64
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Dieser Fragenkatalog konfrontiert uns freilich mit einer höchst vertrackten Materiallage. Unzweifelhaft wurde in dem Maße, in dem seit dem späteren 4. Jahrhundert die Präsenz von Barbaren innerhalb der Oikoumene zunahm und für zahlreiche Zeitgenossen der bisherige Verlauf des alltäglichen Lebens durch sie verändert wurde, auch häufiger über sie kommuniziert; die Anzahl der Zeugnisse, in denen «Barbaren» thematisiert werden, nimmt während der ‹Völkerwanderung› jedenfalls erkennbar und sicherlich nicht rein zufällig zu (auch wenn in unserem Material weiterhin innerrömische Auseinandersetzungen einen weitaus größeren Raum einnehmen als Konflikte mit Barbaren). Greifbar ist diese Kommunikation für uns dennoch nur in Ausschnitten, in Form schriftlicher und, worauf später noch gesondert einzugehen ist, archäologischer Hinterlassenschaften. Diese Fragmente genügen jedoch bereits, um zu erkennen, dass in der Spätantike und im Frühmittelalter offenbar unterschiedliche Diskursformationen existierten, in denen das Barbarenthema verhandelt wurde; die Suche nach den historischen Referenzpunkten, an die sich diese anbinden lassen, stellt eine der Herausforderungen für den modernen Betrachter dar (denn kein Diskurs schwebt ohne jegliche Anknüpfungsmöglichkeit im freien Raum). Und wiederum folgt sogleich eine weitere Einschränkung: Wir dürfen nicht den Umstand aus den Augen verlieren, dass die betreffenden Diskurse lediglich von kleinen Teilen der römischen Bevölkerung getragen wurden und dementsprechend zunächst einmal auch nur für diese repräsentativ sind, nämlich die gebildeten Eliten. Was hingegen ein thrakischer Bauer über Barbaren dachte, nachdem seine Frau bei einem Hunneneinfall vergewaltigt und getötet, sein Sohn in die Sklaverei verschleppt und sein Haus in Brand gesteckt worden war, können wir nur noch vermuten, aber nicht mehr sicher rekonstruieren. Dennoch öffnen sich immer wieder kleinere Fenster auch in den Alltag hinein. So können wir etwa beobachten, dass sich ‹Barbarus› im Laufe der Kaiserzeit offenbar auch für Angehörige der Oberschichten zu einem akzeptablen Namen entwickelte. Ursprünglich findet sich dieses Cognomen (Beiname) vorwiegend in soldatischen Kontexten, mit einem regionalen Schwerpunkt in den afrikanischen Provinzen; im Jahr 157 trug dann mit Marcus Vettulenus Civica Barbarus erstmals ein ordentlicher Konsul, selbst Sohn und Enkel von Konsuln und Onkel des Kaisers Lucius Verus, diesen Namen. Und ausgerechnet jener Stadtpräfekt, der in Rom amtierte, als Alarich im Oktober 408 zum ersten Mal vor den Toren der Stadt stand, hieß Gabinius Barbarus Pompeianus. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Befund für die Wahrnehmung von Barbaren im alltäglichen Umgang ziehen? Und was bedeutet es, dass ‹Barbar› durchaus auch als Schimpfwort verwendet werden konnte?65 Letztlich bleiben es jedoch die gelehrten Elitendiskurse, aus denen wir den größten Teil unserer Informationen generieren, und wir werden immer wieder
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Abb. 4 Konstantinopel, Sockel des Theodosius-Obelisken (Westseite)
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auf sie zurückverwiesen. Doch auch auf diesem Feld ist Vorsicht geboten: Innerhalb einzelner Diskurse konnten die herkömmlichen Barbarentopoi offenbar ein Reservoir an Möglichkeiten zur Verfügung stellen, um jeweils in bestimmten Kontexten und in unterschiedlicher Codierung sich über verschiedenste Themen auszutauschen und Botschaften zu vermitteln. Um Barbaren selbst musste es dabei gar nicht primär gehen. Ihre Präsenz in einem Text bedeutet keineswegs unweigerlich, dass der Autor tatsächlich auch in erster Linie über Barbaren sprechen wollte, sondern sie konnte auch der Vermittlung ganz anderer Inhalte dienen; umgekehrt muss das Fehlen der expliziten Erwähnung von Barbaren nicht grundsätzlich ausschließen, dass die Thematik nicht doch in irgendeiner Weise präsent wäre. Noch komplizierter wird die Angelegenheit dadurch, dass dieselben Topoi und Assoziationsmuster mitunter von ganz verschiedenen Seiten aus instrumentalisiert werden konnten. Einmal mehr spielt der Faktor Religion – aber nicht nur er – in diesem Zusammenhang eine Rolle. So konnte der christliche Dichter Prudentius um 400 die Distanz, die Christen und Altgläubige trenne, mit jener vergleichen, die zwischen Römischem und Barbarischem liege, nämlich ein Unterschied so weit, «wie Vierfüßler von Zweifüßlern oder stumme von sprachbegabten Lebewesen entfernt sind». In demselben Diskussionszusammenhang hatte sein Kontrahent Symmachus, der pagane Stadtpräfekt von Rom,
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Abb. 5 Solidus Konstantins I. mit der Umschrift VICTOR OMN – IVM GENTIVM auf der Rückseite
zuvor (im Jahr 384) seinerseits das Christentum mit den Barbaren assoziiert, eine Aussage, die sich auch bei anderen Altgläubigen findet. Die Rede über Barbaren konnte somit zu einem Medium avancieren, um Angelegenheiten unterschiedlichster Art zu verhandeln; im konkreten Fall ging es um die Frage, ob die Statue der Göttin Victoria, auf Befehl der christlichen Kaiser im Jahr 357 und dann noch einmal 382 / 83 aus dem Senatsgebäude entfernt, wieder restituiert werden dürfe oder nicht, und um die damit verknüpften weltanschaulichen Grundsätze. Inanspruchnahmen klassischer Barbaren-Assoziationen finden sich aber auch auf vielfältigen anderen Feldern. Dazu konnten natürlich auch politische Haltungen zählen: Der bereits mehrfach erwähnte Cassiodor etwa, als römischer Senator im Ostgotenreich in höchsten Funktionen tätig, vermied es ganz gezielt und sicherlich nicht ohne Grund weitgehend, die Goten als Barbaren zu titulieren; Orosius hingegen, aber auch der Theoderich-Panegyriker Ennodius, unter den Ostgoten Bischof von Pavia, hatten damit keine allzu großen Probleme. Ammian wiederum scheute sich davor, die Perser, seit den Zeiten Herodots immerhin der Inbegriff der Barbaren, unter ebendieses Stichwort zu fassen; andere empfanden dabei geringere Hemmungen. So zeigt sich immer wieder, wie schwierig es ist, den Begriff ‹Barbar› präzise zu umreißen; schon Zeitgenossen konnten ein weites Assoziationsspektrum, das der Terminus offenbar unwillkürlich evozierte, in ganz unterschiedlicher Weise instrumentalisieren.66 Noch ein letztes Beispiel zur Illustration des Problems: Ungeachtet der Tatsache,
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dass die spätantiken Kaiser sich in zunehmendem Maße auf barbarische Feldherren, Truppenkontingente und Einzelsoldaten in ihren Armeen stützten, gründeten sie einen zentralen Bestandteil ihrer herrscherlichen Repräsentation in Text und Bild, nämlich ihre permanente Sieghaftigkeit, weithin ausgerechnet auf die militärische Überwindung der Barbaren; diese treten in entsprechenden Kontexten dann mitunter nur noch als «Stoff zum Siegen» (materia vincendi) in Erscheinung. So ließ sich zum Beispiel Konstantin I. (306–337) als «Sieger über alle gentes» (victor omnium gentium) und «Bezwinger der Barbaren-gentes» (debellator gentium barbararum) feiern, Julian (360–363) als «Vernichter der Barbaren» (barbarorum extinctor) und Theodosius I. (379–395) als «Bezähmer der barbarischen gentes» (domitor gentium barbararum); Justinian zählte in den Siegesbeinamen seiner Kaisertitulatur stolz all jene Barbaren auf, die von seinen Streitkräften erfolgreich bekämpft worden waren: Imperator Caesar Flavius Iustinianus Alamannicus Gotthicus Francicus Germanicus Anticus Alanicus Vandalicus Africanus Pius Felix Inclutus Victor Ac Triumphator Semper Augustus. Selbst der Gote Theoderich wird als «Bezähmer der gentes» (domitor gentium) angesprochen. Die wenigsten Zeitgenossen empfanden derartige Aussagen offensichtlich als Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen, denn dieser Mechanismus zieht sich durch die gesamte Spätantike. Zumindest in dieser Hinsicht wurde die kaiserliche Repräsentation offensichtlich nicht streng mit der eigenen Erfahrungswelt abgeglichen. Ja mehr noch: ‹Barbar› konnte im lateinischen Westen als Synonym für ‹Soldat› gebraucht werden, wobei oft nicht mehr differenziert wurde, ob der Soldat auf römischer oder auf einer anderen Seite kämpfte. Und später wanderte barbarus mit positiver Konnotation (‹tapfer›, ‹tüchtig›) sogar in die Volkssprachen ein (z. B. italienisch / spanisch bravo). All dies entsprach den ohnehin fluiden Allianzen und Wendungen, die für die ‹Völkerwanderung› vielfach charakteristisch sind.67
1.2.5 Von der verführerischen Flexibilität des spätantiken Barbarenbegriffs: Drei Beispiele
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In Zeiten, in denen der politische Einfluss von Barbaren ebenso stetig zunahm wie ihre Präsenz im Alltag (zumindest in einigen Regionen), avancierte für römische Eliten die eigene Gelehrsamkeit, basierend auf dem klassisch-antiken Bildungskanon, zu einem wesentlichen Distinktionskriterium. Allein die Tatsache, dass man unter Verwendung traditioneller Topoi über Barbaren kommunizierte, signalisiert bereits einen gewissen Dünkel: Die Barbaren mochten sich allmählich zu einer politischen Größe entwickeln; Bildung und eine verfeinerte Lebens-
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kultur, so die verbreitete Ansicht, besaßen sie hingegen nicht. Es ist kein Zufall, dass im Verlauf der Spätantike bestimmte Elemente aus dem reichhaltigen Pool an Stereotypen besondere Beliebtheit gewannen. Dazu zählen vor allem die Unfähigkeit der Barbaren, langfristig stabile politische Strukturen zu etablieren, weil sie keine dem römischen Standard auch nur annähernd gleichrangigen Gesetze kennten, sowie ihre mangelnde Bildung und die daraus resultierende Unkultur. Man konnte sich offenbar recht genau vorstellen, was es hieß, «zu saufen wie die Goten» oder «lügnerisch herumzunörgeln wie ein Barbar»; der spätantike Lexikograph Hesychios erklärte sein Stichwort bárbaroi kurz und schlicht mit: «die Leute ohne Bildung» (οἱ ἀπαίδευτοι), und der Gallorömer Sidonius Apollinaris empfand im 5. Jahrhundert die Vorstellung kultivierter, gar wissenschaftlich interessierter Barbaren geradezu widernatürlich.68 Auf barbarischer Seite gab es durchaus Bemühungen, solchen Attitüden entgegenzutreten: Der Ostgotenkönig Theoderich etwa, der gegenüber dem Kaiser in Konstantinopel sein Herrschaftsgebilde als eines von zwei Gemeinwesen (res publicae) innerhalb eines umfassenden Imperium Romanum umschrieb, gerierte sich unter den übrigen Barbarenherrschern als derjenige, dem die nahtlose Übernahme der antiken Kultur allein gelungen sei; folgerichtig beglückte er seine Kollegen demonstrativ mit Geschenken, die als Grußadressen aus der hohen Zivilisation verstanden werden sollten. Der Franke Chlodwig I. durfte sich auf diesem Wege an einem Kitharaspieler ergötzen, der Burgunder Gundobad erhielt eine wertvolle Sonnen- und Wasseruhr. Theoderich stellte keinen Einzelfall dar: Selbst jemand wie der Frankenkönig Chilperich I. († 584), den Gregor von Tours wegen seiner zupackenden politischen Aktivitäten als «Nero und Herodes unserer Zeit» (Nero nostri temporis et Herodis) bezeichnete, verfasste gelehrte theologische Traktate, dichtete und fügte dem lateinischen Alphabet gar vier neue Buchstaben hinzu (ähnliche Experimente kennen wir vom römischen Kaiser Claudius I. [41–54]). Jordanes wiederum berichtet aus der Frühgeschichte der Goten, dass diese in dem Gelehrten Dicineus, dessen Wirken er ganz analog zu dem eines klassischen antiken Nomotheten (Gesetzgebers) ausgestaltet, einen Philosophen und Ratgeber gefunden hätten, der für die Kodifizierung ihrer Gesetze gesorgt und die gotischen Krieger Wissenschaften (fysicam) und Philosophie gelehrt habe – hätten sich die Goten doch ohnehin stets gegenüber den anderen Barbaren durch besondere Weisheit ausgezeichnet. Hinter derartigen Anwandlungen stand die Gewissheit, dass selbst Barbaren durch Bildung und besondere Leistungen eine Aufwertung innerhalb eines christlich-römischen Kontextes erfahren konnten, und die Belege etwa für barbarischstämmige Offiziere, die sich ganz selbstverständlich in intellektuellen Milieus der römischen Aristokratie bewegten – also gerade jenes praktizierten, was Sidonius als zutiefst unnatürlich brandmarkte –, sind durchaus zahlreich.69
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Gerade diese Haltung gestaltete das spätantike Barbarenkonzept jedoch noch flexibler, denn letztlich beruhten alle Urteile auf Zuschreibungen. Die Römer, die über Jahrhunderte hin im Rahmen ihrer Expansion unzählige barbarische Individuen und Verbände integriert, diese ihrerseits zu Römern geformt und im Jahr 212 allen freien Reichsbewohnern das Bürgerrecht verliehen hatten, kannten keinen rassistischen Barbarenbegriff – bereits im Jahr 268 wurde mit dem Herulerführer Naulobatus der erste Barbar mit dem Konsulat ausgezeichnet. Man begegnet in den Quellen (vorwiegend solchen aus dem Osten) zwar immer wieder Formulierungen wie «Barbar von Natur aus» oder «Barbar aufgrund der Abstammung», aber die Konsequenzen, die daraus gezogen werden konnten, gestalteten sich in vielfältigster Weise und waren in der Regel das Resultat aktueller Konstellationen, die zu variierenden und keinesfalls a priori stabilen Zuschreibungen führen konnten. So nimmt es kaum wunder, dass etwa Gregor von Nazianz in christlicher Nächstenliebe dem barbarischstämmigen General (magister militum) Modarios, der im Jahr 382 eine Synode militärisch abzusichern hatte, mitteilen konnte, dass er sich auf der Basis gemeinsamer Frömmigkeit und Tugend ganz mit ihm verbunden fühle, denn Griechen und Barbaren unterschieden sich doch nur äußerlich voneinander, nicht aber in ihrer Seele und Gesinnung; und der Theologe Theodoret von Kyrrhos († um 460) wandte sich sogar explizit gegen den Dünkel der Griechen, unter Hinweis darauf, dass gerade diese so vieles von den Barbaren gelernt hätten.70 Drei Einzelfälle mögen diese ungeheure Flexibilität illustrieren und zugleich aufweisen, dass sich hinter dem vordergründig geschmeidigen Umgang mit konventionellen Barbarenkonzepten mitunter doch auch die bereits angesprochene Kollision mit dem tatsächlichen Erfahrungsraum verbergen konnte; gleichzeitig werden uns diese Beispiele von der Ebene der barbarischen Verbände hinab auf die Ebene der Individuen führen. Erstes Beispiel: Als in Gallien die Nachricht von der Ermordung des weströmischen Kaisers Petronius Maximus am 31. Mai des Jahres 455 eintraf, formierte sich dort eine Koalition aus Westgoten und gallorömischen Aristokraten, der es gelang, den aus Clermont stammenden hohen und politisch erfahrenen Amtsträger Eparchius Avitus als Nachfolger auf dem Kaiserthron zu installieren. Das Verhältnis zwischen Goten und der römischen Oberschicht gestaltete sich damals ausgezeichnet, nicht zuletzt deshalb, weil der Senator Avitus aufgrund seiner Herkunft eng mit den gallorömischen Eliten vernetzt, zugleich aber auch ein langjähriger Freund und sogar früherer Lehrer des Westgotenkönigs Theoderich II. (453–466) war. In dieser entspannten Atmosphäre verfasste ein Schwiegersohn des neuen Kaisers, der umtriebige Politiker und Literat Sidonius Apollinaris, einen Brief an seinen Schwager Agricola, der seinerseits wiederum ein Sohn des Avitus war.
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Thema des Schreibens ist der westgotische König. Sidonius’ Zeilen, die gleichermaßen in einer historisch-biographischen wie panegyrischen Tradition zu verorten sind, haben später große Berühmtheit erlangt, gelten sie doch als die einzige ausführlichere Beschreibung eines Barbarenherrschers vor Einhards Biographie Karls des Großen.71 Aber was beschreibt Sidonius eigentlich? Der Leser staunt zunächst bei der Lektüre. Denn vor seinem inneren Auge baut sich keineswegs die aus den landläufigen Stereotypen bekannte Allerweltsmaske eines zügellosen Barbaren auf – ganz im Gegenteil: Der Autor möchte seinem Briefpartner den Inbegriff der civilitas vorstellen, also einen Herrscher, der eine zentrale römische Kaisertugend repräsentiert und der damit, wie sich im Verlauf des Briefes offenbart, letztlich wie ein römischer Herrscher erscheint. Ein längerer Abschnitt ist dem gepflegten Äußeren des Goten gewidmet, bevor sich Sidonius noch ausführlicher mit seinem Tagesablauf beschäftigt: Gebet im Morgengrauen (freilich mehr aus Gewohnheit denn aus Überzeugung), am Vormittag administrative Verrichtungen, Besichtigung von Schätzen und Stallungen, Erholung auf der Jagd. Es folgen ein Gastmahl gegen Mittag sowie weitere Verwaltungstätigkeiten und ein wenig Zerstreuung am Nachmittag, bevor der Tag mit einem eher frugalen Abendessen zu Ende geht.72 Alles in allem blicken wir auf einen idealisierten Herrscher, dessen Tagesablauf ohne Mühe auf einen römischen Kaiser hätte übertragen werden können, ganz so, wie etwa Ammian den Alltag Julians beschrieben hat. Also doch endlich einmal eine vorurteilsfreie Darstellung, die ungeachtet aller verklärenden Züge ohne die üblichen Barbarentopoi auskommt? Mitnichten. Wer genau hinsieht, wird rasch erkennen, dass die Darstellung über weite Strecken von den altbekannten Stereotypen durchzogen, ja teilweise gar aus ihnen komponiert ist. Aber – und darin beruht das Proprium dieses Textes – die Topoi erscheinen nunmehr vorwiegend in ihrer Negation: Theoderich ist keine ungepflegte, sondern eine kultivierte Erscheinung; er hängt nicht irgendwelchen obskuren Kulten an, sondern ist Christ; das von ihm gelenkte politische Gebilde zeigt sich nicht ungeordnet und hilflos-instabil, sondern kennt eine funktionierende, ‹römische› Administration und geregelte Verwaltungsabläufe; der Herrscher selbst vergeudet seine Mußestunden nicht mit sinnlosem Treiben, sondern orientiert sich an traditionellen Beschäftigungen römischer Aristokraten: Er geht auf die Jagd.73 Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient Sidonius’ Beschreibung des Gastmahls am Hof Theoderichs, das geradezu als Umkehrung traditioneller Barbarentopoi konstruiert ist: Dort wird nicht ohne Verstand Beutegut präsentiert und verschwendet, hier finden keine Alkoholexzesse statt. Das zentrale Stichwort lautet vielmehr disciplina (‹Mäßigung›, ‹Beherrschung›). Im Vordergrund steht
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nicht das Bestreben, zu saufen wie die Goten, sondern das gepflegte Gespräch (maximum tunc pondus in verbis est); die Speisen sind nicht einfach nur üppig und luxuriös, sondern kunstgerecht zubereitet (cibi arte, non pretio placent). Und so nimmt es nicht wunder, dass der Autor im königlichen Gastmahl gar eine Synthese aus griechischer Eleganz, gallischem Überfluss und italischer Behendigkeit, also ein Höchstmaß an Kultiviertheit, zu erkennen meint. Auch sonst überzeugt Theoderich als Nicht-, ja als Anti-Barbar: Er lässt sich nicht, wie man erwarten würde, von seinem Zorn beherrschen, sondern besticht stattdessen durch Gleichmut; im Sieg erweist er sich großzügig. Er fürchtet, gefürchtet zu werden (timet timeri), versucht also seine Herrschaft so auszurichten, dass sie nicht in eine Tyrannis abgleitet.74 Was aber hat das zu bedeuten? Auch wenn wir wissen, dass Sidonius Zugang zu Theoderichs Hof besaß und den König persönlich kannte, dürfen wir sicherlich nicht den Fehler begehen, uns den Goten tatsächlich als Imitat eines römischen Idealherrschers vorzustellen, ähnlich wie die von Orosius beschworene Prozession römischer, unter gotischem Schutz stehender Flüchtlinge im eroberten Rom kaum die tatsächlichen Geschehnisse im August 410 spiegeln wird. Das bedeutet aber keineswegs, dass Sidonius’ Beschreibung für uns wertlos wäre – im Gegenteil: Wir erfahren einmal mehr, wie tief verwurzelt die traditionellen Barbarenstereotypen in der antiken Vorstellungswelt waren; selbst dann, wenn man einen Barbaren positiv darstellen wollte, kam man nicht um die üblichen Versatzstücke herum, sondern man wandte sie einfach ins Gegenteil. Eher unwahrscheinlich erscheint mir hingegen die alternative Interpretationsmöglichkeit, in dieser Technik einen bewussten Kunstgriff des Autors zu sehen, der sein Idealbild eines Königs möglicherweise dadurch ironisch hinterfragt haben könnte, dass er es weitgehend aus der Umkehrung konventioneller Negativtopoi komponierte. Gegen eine derartige Deutung spricht die historische Konstellation, in der das Schreiben mutmaßlich entstanden ist: Sidonius war mit dem neuen Kaiser immerhin verwandt und dieser wiederum pflegte ein enges Freundschaftsverhältnis zu Theoderich II. Die Kaisererhebung des Avitus hatte auch dessen Vertraute, den Gotenkönig und Sidonius Apollinaris, über den gallischen Horizont hinaus plötzlich ins Zentrum der Macht katapultiert. Für Sidonius bestand kein Anlass, diese Konstellation ironisch-kritisch zu durchleuchten. Dass er seinen politischen Partner Theoderich dennoch auf keine andere Weise zu würdigen vermochte denn als Negativprojektion des bekannten Standardbarbaren, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Mühen, die man offenkundig hatte, mit dem Umstand umzugehen, dass Barbaren nunmehr Teil des eigenen Kosmos waren – noch dazu in politisch überlegenen Positionen. Sidonius hatte also letztlich dasselbe Problem wie Orosius. Sein Versuch, es literarisch zu bewältigen, führte nicht allzu weit. Denn der
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Autor hielt hartnäckig am traditionellen Code fest, ja er verbiss sich regelrecht darin; er war nicht in der Lage, sich wenigstens so weit von den althergebrachten Assoziationsmustern zu emanzipieren, dass er eine unabhängige Charakteristik des Gotenkönigs hätte offerieren können. Sein Brief an Agricola markiert damit einen jener Momente, in denen traditionelle Diskurse hart mit dem Erfahrungsraum kollidierten. Anliegen des Sidonius war es offenkundig, die aktuelle Konstellation, die in Gestalt der Herrscher Avitus und Theoderich eine politische Integration von Goten und Römern in greifbare Nähe rücken ließ, panegyrisch zu überhöhen; zu diesem Zweck sollte Theoderich, den Sidonius andernorts gar als «Zierde der Goten und heilbringende Säule des römischen Volkes» feiert, wie ein idealer König im römischen Gewand erscheinen. Aus der Perspektive eines gallorömischen Aristokraten wäre dies dem Anlass durchaus angemessen gewesen. Aber das Vorhaben erschöpfte sich dann doch in einer literarisch durchaus niveauvoll aufbereiteten Liste umgedrehter Barbarenstereotypen.75 Theoderich und die Goten aus seinem unmittelbaren Umfeld blieben für Sidonius nicht lange derart vorbildliche Römer. Avitus verlor bereits 456 seinen Thron und wurde Anfang 457 ermordet; in Gallien zerbrach daraufhin die glückverheißende Koalition aus gotischen und gallorömischen Granden. Als das Westgotenreich wenig später zu expandieren begann, war für Sidonius klar, auf welcher Seite er stand. Insbesondere während der Herrschaft des Westgotenkönigs Eurich (466–484) organisierte der Literat, mittlerweile Bischof von Clermont, den römischen Widerstand in der Auvergne – letztlich allerdings ohne Erfolg. Als die Verteidiger 475 kapitulieren und die Auvergne an die Goten abtreten mussten, blieb für Sidonius zunächst nur das Exil. Nach seiner Rückkehr 476 / 77 arrangierte er sich nur vordergründig mit den neuen Herren, die für ihn trotz ihrer militärischen Überlegenheit und politischen Vormachtstellung weiterhin Barbaren blieben. Aus seinen Briefen jener Jahre wird diese Haltung klar ersichtlich. Religion und Bildung, so seine Botschaft, bleiben jene entscheidenden Distinktionsmerkmale, an denen man Römer und Barbaren unterscheiden könne, die einzigen Bereiche, die einem römischen Aristokraten nunmehr noch angemessene Rückzugsräume böten: «Denn da die Stufen der Ämter, durch die man jeweils den Besten vom Niedrigsten zu unterscheiden pflegte, nicht mehr existieren, wird es zukünftig ein Merkmal von Adel (nobilitas) sein, Bildung zu besitzen (litteras nosse)». Der Idealkönig Theoderich, kunstvoll aus negierten Barbarentopoi zusammengesetzt und temporär in einen Römer transferiert, blieb somit Episode, ein literarischer Schemen, der für Sidonius und seine Standesgenossen einen kurzen Moment der Hoffnung illustrieren sollte, sich dann aber rasch wieder verflüchtigte. Als die politische Lage sich gewendet hatte, wurden die Goten kurzerhand wieder das, was man zuvor so lange in ihnen gesehen
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hatte: hemmungslose, bis zum Erbrechen zechende Barbaren, deren Gesellschaft man tunlichst mied.76 Unser nächstes Beispiel ist fast gleichzeitig mit den Geschehnissen in Gallien angesiedelt, führt uns aber in einen ganz anderen geographischen Raum: Als der Diplomat und Historiograph Priskos von Panion im Jahr 449 eine oströmische Delegation ins Hunnengebiet nördlich der Donau begleitete, um dort direkt an Verhandlungen mit Attila teilzunehmen, soll sich in der Residenz des Königs eine bemerkenswerte Episode zugetragen haben. Während Priskos darauf wartete, von Onegesios, einem hochrangigen Hunnen, empfangen zu werden, sprach ihn plötzlich jemand in griechischer Sprache an (χαῖρε) – und dies mitten im Hunnengebiet, in dem die Verkehrssprachen doch vor allem Hunnisch und Gotisch, allenfalls noch Latein, keinesfalls aber Griechisch waren! In dem Gespräch, das sich nun entwickelte, stellte sich heraus, dass der Fremde, der hunnische Kleidung trug, ursprünglich ein Grieche war, den es in das Umfeld Attilas verschlagen hatte: Als griechischer Händler in Viminacium (bei Kostolac im heutigen Serbien) lebend, habe er nach der hunnischen Erstürmung der Stadt um 441 /42 Familie und Besitz verloren und sei dem mächtigen Onegesios als Sklave zugeteilt worden. In dessen Diensten habe er sich dann jedoch bewährt, unter anderem in Kämpfen gegen Römer und Akatziren; Onegesios habe ihm aus diesem Grund die Freiheit geschenkt. Mittlerweile lebe er mit einer hunnischen Frau in dessen engster Umgebung, habe die hunnische Lebensweise (βίον Σκυθικόν) angenommen und führe ein besseres Leben als zuvor.77 Priskos staunte. Und sein Staunen wich zunehmender Verärgerung, als der griechische Wahl-Hunne seine Ausführungen fortsetzte, indem er nunmehr gar ein unverblümtes Loblied auf die Ordnung und Lebensweise der Hunnen anstimmte und gleichzeitig mit den Verhältnissen im Imperium Romanum radikal abrechnete: Die Hunnen, so der Fremde, lebten in angenehmer Ungebundenheit. Man ziehe gemeinsam in den Krieg, danach verbringe man sein Leben zurückgezogen, um seine (Beute-)Güter zu genießen; niemand belästige den anderen. Finster gehe es hingegen im Römischen Reich zu: Da nicht alle Römer Waffen tragen dürften, sei man im Krieg auf die Unterstützung anderer angewiesen, was fatale Folgen habe; nicht einmal die römischen Feldherrn seien in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen. In Friedenszeiten hingegen leide man unter hohen Steuern sowie den Übergriffen durch Kriminelle, vor denen die Gesetze keinen Schutz böten, da sich insbesondere die Reichen der Strafverfolgung entzögen und nur die Armen mit Bestrafung zu rechnen hätten. Die Amtsträger – namentlich die Richter – seien korrupt, Prozesse würden verschleppt und Urteile gegen Bezahlung gefällt.78 Selbstverständlich fühlte sich Priskos genötigt, das Imperium Romanum, als dessen Repräsentant er ja immerhin agierte, gegen Anwürfe dieser Schärfe zu ver-
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teidigen. Dazu holte er weit aus und hob die Diskussion auf eine abstrakte Ebene. Im Rückgriff auf den platonischen Idealstaat behauptete er, dass «die Erfinder der römischen Ordnung» (οἱ τῆς Ῥωμαίων πολιτείας εὑρεταί), «weise und tüchtige Männer» (σοφοί τε καὶ ἀγαθοὶ ἄνδρες), vor langer Zeit ein Gemeinwesen entworfen hätten, in dem jedem Mitglied eine spezifische Aufgabe zukomme: Gesetzeshüter, Soldaten, Bauern, Amtsträger mit verschiedenen Zuständigkeiten usw. Jeder Römer stehe mit seinen spezifischen Fähigkeiten dem jeweils anderen zur Verfügung. Unrecht werde geahndet, Korruption bekämpft, die lange Dauer von Prozessen sei der Sorgfalt der Richter geschuldet. Keinesfalls könne von einer systematischen Bevorzugung der Reichen gegenüber den Armen gesprochen werden. Vielmehr stehe das Gesetz über allem, selbst der Kaiser gehorche ihm. Wenn tatsächlich einmal ein Unrecht geschehe und nicht verfolgt werde, dann nicht etwa aus einem grundsätzlich fehlerhaften System heraus, sondern weil man es übersehen habe. Ganz anders jedoch die Welt der Hunnen: Die von dem ‹Griechen› gerühmte vermeintliche Freiheit, die in ihrem Verband herrsche, sei doch letztlich wertlos, da die Hunnen ihre Leute ausschließlich für die Kriege benötigten und dabei rücksichtslos verheizten. Die Römer, so hält Priskos abschließend fest, behandelten selbst ihre Sklaven besser.79 Es versteht sich von selbst, dass Priskos als Sieger aus diesem Redeagon hervorgegangen ist. Am Ende der Unterhaltung sei der ‹Grieche› in Tränen ausgebrochen und habe seinem Gesprächspartner Recht gegeben. Natürlich seien die römischen Gesetze anständig und das römische Gemeinwesen eine vernünftige Sache; aber – so habe er mahnend hinzugefügt – die aktuelle politische Führung (οἱ ἄρχοντες) sei im Begriff, alles zu ruinieren.80 Es ist nicht schwer zu erraten, aus welchem Grund Priskos seinen Lesern das Gespräch mit dem ‹Griechen› mitgeteilt hat. Zwei Gemeinwesen ganz unterschiedlichen Zuschnitts werden hier einander gegenübergestellt: auf der einen Seite die ungebundene, lediglich auf Krieg, Beuteverteilung und kurzfristigen Genuss der solchermaßen erworbenen Güter ausgerichtete Lebensweise der Hunnen. Ihr Gegenstück bildet die ehrwürdige römische Ordnung, die tief im Nebel einer sich im mythischen Raum verlierenden Geschichte verankert wird und dadurch zusätzliche Autorität gewinnt. Nur auf den ersten Blick schwerfällig, ineffizient im Krieg, von korrupten Amtsträgern durchsetzt und permanent soziale Ungleichheiten reproduzierend, erweist sich das Imperium Romanum schließlich als Hort jener Freiheit, die der ‹Grieche› allzu vorschnell in der Welt der Hunnen gefunden zu haben glaubte. Selbst die gegenwärtige Führung, d. h. die Herrschaft Theodosios’ II. und seiner Amtsträger, die vom Autor nicht nur in diesem Abschnitt scharfer Kritik unterzogen wird, könne eine über einen derart langen Zeitraum hin gewachsene und bewährte Ordnung nicht völlig zugrunde richten.81
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Sieht man genauer hin, so zeigt sich im Vergleich der Gemeinwesen von Hunnen und Römern einmal mehr ein virtuoses Spiel mit konventionellen Stereotypen. In unserem Fall kreist die Debatte vornehmlich um die bekannten Topoi der Unfähigkeit der Barbaren, komplexe und stabile politische Ordnungen auszubilden, sowie ihrer Gesetzeslosigkeit – jener Zustand also, den Priskos’ ‹Grieche› mit Freiheit verwechselte und dem der Autor die Vorzüge der altbewährten römischen Ordnung entgegenhalten konnte. Erneut wird mithin ein klarer Blick auf die Hunnen durch traditionelle Diskursmuster verstellt; wir erinnern uns an Ammian, der den Hunnen ja ganz ähnliche Eigenschaften, wie etwa das Fehlen von Gesetzen, zugeschrieben hatte. Doch auch in diesem Fall werden wir nicht einsam mit der trüben Erkenntnis, dass keine Erkenntnis möglich ist, zurückgelassen. Allein die Tatsache, dass Priskos die römische und die hunnische Ordnung in eine derart scharfe Konkurrenz bringen und damit rechnen konnte, von seinem Publikum verstanden zu werden, setzt ein zeitgenössisches Bewusstsein der völligen Andersartigkeit der Hunnen voraus. Nur wenn dieses grundsätzlich vorhanden war, konnte man derart virtuos mit Hunnen und Römern jonglieren, wie Priskos es uns vorführt. Die «hunnische Alternative», wie Herwig Wolfram es treffend formuliert hat, scheint sich somit tatsächlich fundamental von römischen Erfahrungen unterschieden zu haben. Doch wieder einmal gelingt es einem antiken Autor nicht, den Sachverhalt nüchtern zu beschreiben – obwohl er selbst vor Ort war! –, sondern erneut beobachten wir eine Ausweichbewegung hinein in das geläufige, vor Gelehrsamkeit schimmernde Stereotypenreservoir.82 So wie es Sidonius Apollinaris offenbar keine Schwierigkeiten bereitet hat, den Barbarenkönig Theoderich II. zumindest temporär wie einen vorbildlichen Römer auftreten zu lassen, kann sein Zeitgenosse Priskos uns in Gestalt des ‹Griechen› einen römischen Bürger präsentieren, der den umgekehrten Weg gegangen ist und zum Barbar wurde. Beide Figuren sind in der Weise, wie sie uns präsentiert werden, selbstverständlich literarische Konstrukte. So wie der ‹Römer› Theoderich dazu diente, die kurzfristige Allianz zwischen Westgoten und gallorömischen Aristokraten zu überhöhen, erfüllt der zum Hunnen mutierte ‹Grieche› die Funktion, den Vergleich zwischen hunnischer und römischer Ordnung zu motivieren und dabei überdies noch eine Gelegenheit zu gewinnen, erneute Kritik an der gegenwärtigen Regierung zu artikulieren. Es ist also ganz unerheblich und lohnt letztlich die Frage nicht, ob Priskos tatsächlich im Jahr 449 mitten im Hunnengebiet vor dem Anwesen des Onegesios einen WahlHunnen, der einstmals römischer Bürger war, getroffen und mit diesem gelehrt über das ideale Gemeinwesen debattiert hat (was allerdings eine reizvolle Vorstellung wäre). Für den Moment ist für uns lediglich von Bedeutung, dass sowohl Sidonius wie auch Priskos anschaulich vorführen, wie ungeheuer flexibel
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die Barbarenkonzepte in der Spätantike waren – doch genau darin beruhte ihre Attraktivität: Sie ermöglichten es den Mitlebenden, radikal gewandelte äußere Lebensbedingungen und Erfahrungen weiterhin in traditionelle Formen zu gießen und in dieser Weise zu kommunizieren, sie dienten als eine Art Rettungsanker und Rückzugsraum; auf der diskursiven Ebene konnte man so die gewohnte Welt sanft bis in die poströmische Zeit überführen – jeglicher noch so tiefgreifender Veränderung zum Trotz. Beide Autoren erinnern uns aber auch daran, dass wir in unseren Zeugnissen in erster Linie Zuschreibungen vorfinden, die sich nur in Einzelfällen an ‹harte› Kriterien anbinden lassen, wie beispielsweise den Besitz des römischen Bürgerrechts (dessen rechtlich relevante Bedeutung in der Spätantike allerdings allmählich verloren ging) oder die häufige Gleichsetzung von Barbaren und Feinden (hostes) in römischen Rechtstexten – denen freilich in Rechtskodifikationen, die in Herrschaftsgebilden der Barbaren allmählich entstanden, ein eigentümlich positiver Barbarenbegriff gegenübersteht; augenscheinlich bereitete es den Barbaren selbst keine Probleme, sich in entsprechenden Kontexten als solche zu bezeichnen.83 Wenn unsere schriftlichen Dokumente jedoch weitestgehend Zuschreibungen vornehmen oder deren Ergebnisse präsentieren, muss sich der Blick auf jene Faktoren richten, die entsprechende Prozesse einleiten, beeinflussen und steuern konnten. Sie sind vielfältig und längst noch nicht sämtlich in ihren Wirkungsweisen erforscht. Ich nenne an erster Stelle einmal mehr die Religion; aber auch andere Faktoren konnten eine Rolle spielen: ethnische Diskurse und, eng damit zusammenhängend, Identitätsmuster; politische Konstellationen, Ansiedlungen, die Ausbildung politischer Einheiten, Migrationen und deren Folgen, letztlich sogar die Ambitionen und das Handeln einzelner Akteure – Aspekte, die im Verlauf dieses Buches verschiedentlich von Bedeutung sein werden. Entscheidend war immer, unter welchen Bedingungen und von welcher Seite aus bestimmte Zuschreibungsmuster (die aus den uns mittlerweile hinlänglich bekannten Barbarentopoi generiert werden konnten) jeweils aktualisiert wurden. Wissenschaftler ringen seit langem mit der Frage, welchen ‹Sitz im Leben› man diesen für uns allerorten greifbaren Zuschreibungsprozessen zuweisen kann, d. h. in welcher Weise sie im Alltag der Zeitgenossen verankert waren und worauf sie sich eigentlich konkret beziehen konnten. Niemand wäre heute noch so naiv, in Sidonius’ Charakteristik Theoderichs II. den ‹echten› Gotenkönig zu identifizieren, ebenso wie der ‹humane› Eroberer Roms Alarich wohl eher ein literarisches Konstrukt als ein Abbild der Realität darstellt. Aber wie weit dürfen wir uns von unserer kritischen Distanz leiten lassen? Unlängst wurde gar die These geäußert, man könne im spätantiken Barbarenbegriff insgesamt nicht mehr sehen als eine geradezu universell instrumentalisierbare rhetorische Kategorie. Dass diese rhe-
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torische Kategorie aber mitunter recht handfeste, für die Mitlebenden nicht immer nur literarisch sublime Erfahrungen bereithielt, mag unser letztes Beispiel illustrieren.84 Flavius Stilicho war der Sohn eines Vandalen und einer Römerin. Unter Theodosius I. absolvierte er eine glänzende militärische Laufbahn, stieg schließlich sogar auf zum höchsten General (magister militum) im Westteil des Römischen Reiches; nach dem Tod des Kaisers im Januar 395 übernahm er die ‹Vormundschaft› für dessen Sohn und Nachfolger Honorius und avancierte damit zum mächtigsten Mann im Westen des Imperium Romanum. Bis zum Jahr 408 lenkte er die Geschicke jenes Gebildes, das sich allmählich zum Weströmischen Reich entwickeln sollte. Offenbar fühlte er sich dem Kaiserhof um Honorius und den Interessen seiner Reichshälfte in höchstem Maße verpflichtet. Jedenfalls führte seine aktive Politik bald zu erheblichen Spannungen mit Konstantinopel, wo Honorius’ Bruder Arkadios – ebenfalls dominiert von einflussreichen, allerdings wechselnden Größen – über den römischen Osten gebot. Die allmähliche Desintegration der beiden Reichsteile deutet sich in den Auseinandersetzungen jener Jahre bereits an. Die Zeiten waren ungemütlich. Hunnen drangen weiter nach Westen vor, der Druck auf die römischen Grenzen nahm dementsprechend zu – bis hin zu jenem verheerenden Barbareneinfall Ende 406, in dessen Konsequenz Rom allmählich die Kontrolle über Gallien und die spanischen Provinzen verlor. In Britannien folgte eine Usurpation auf die andere und die Insel brach schließlich aus dem Reichsgefüge heraus; Alarich zog mit seinem Verband über Jahre hin marodierend durch römische Provinzen, der Gote Radagaisus fiel mit seinen Plündererscharen gar in Italien ein; in Afrika kam es zu Aufständen gegen die Herrschaft des Honorius. Kurzum: Der Westen des Reiches begann auseinanderzufallen. Stilicho hatte also alle Hände voll zu tun, um das wankende Regiment seines Kaisers weiterhin aufrechtzuerhalten. Mit einer geschickten Mischung aus Kriegführung und Diplomatie – wir werden darauf später noch näher eingehen – gelang es ihm jedoch, die Lage über einen längeren Zeitraum hin zumindest halbwegs stabil zu halten. Dabei konnte er nicht zuletzt auf die Unterstützung der italischen Senatoren setzen, die Stilichos Aktivitäten zunächst ausdrücklich begrüßten und feierten. Claudian, der in jenen Jahren regelrecht als eine Art Hofdichter Stilichos auftrat und als Transmissionsriemen zwischen diesem und dem Senat wirkte (ähnlich wie zwei Generationen später Merobaudes für Aetius), überschlug sich geradezu in seinen panegyrischen Überhöhungen des Feldherrn, aber auch andere, wie zum Beispiel Prudentius, priesen seine Heldentaten. Niemand stieß sich daran, dass der emsige General von einem Vandalen abstammte – ganz im Gegenteil: Im Interesse Roms handelnd, trat Stilicho selbstverständlich als echter Römer auf und wurde dementsprechend wahrgenommen. Auf einem
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Abb. 6 (Vermutliche) Darstellung Stilichos, seiner Frau Serena und seines Sohnes Eucherius auf einem Elfenbein-Diptychon
Elfenbeindiptychon, das von einem Großteil der Forschung als Darstellung Stilichos und seiner Familie gedeutet wird, erscheint der Feldherr als römischer Offizier, und Claudian konnte gar die (kaum zutreffende) Behauptung verbreiten, der sterbende Theodosius habe Stilicho nicht nur dem jüngeren Sohn Honorius, sondern auch dem älteren Arkadios als ‹Berater› an die Seite gestellt.85 Selbstverständlich verfolgte Stilicho mit seiner Politik nicht nur uneigennützige Ziele, sondern er betrieb ebenso konsequent seine Anbindung an die kaiserliche Familie. Seit 384 mit Theodosius’ Nichte und Adoptivtochter Serena verheiratet, gelang es ihm, zunächst seine Tochter Maria und nach deren frühem Tod auch die jüngere Schwester Thermantia mit Kaiser Honorius zu vermählen; sein Sohn Eucherius wurde mit Theodosius’ Tochter Galla Placidia verlobt. Die Verbindungen konnten also enger kaum sein. Aber Stilicho hatte gleichzeitig mit den
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rapide schwindenden Ressourcen des römischen Westens zu kämpfen, und das zwang ihn zu Kompromissen. Mehrfach schlug er Alarich im Feld – doch nur, um ihn immer wieder unbehelligt abziehen zu lassen. Viele Zeitgenossen wollten nicht verstehen, dass Stilicho damit lediglich versuchte, eine schlagkräftige Armee funktionsfähig zu erhalten, die man auch gewinnbringend für Rom, ja sogar im Konflikt mit Konstantinopel um das zwischen beiden Reichsteilen umstrittene Illyricum im Westen der Balkanhalbinsel einsetzen konnte. Was auch immer Stilicho mit Alarich zwischendurch abgesprochen und geplant haben mag: Ende 406 geriet ohnehin alles zur Makulatur. Barbaren überschritten den Rhein und verheerten Gallien; dort und in Britannien setzte sich mit Konstantin III. (407– 411) auch noch ein Usurpator fest. Der Nordwesten des Reiches versank im Chaos, und die weströmische Regierung war kaum handlungsfähig. In dieser Situation beschloss Stilicho, dass Alarich nach Gallien ziehen und dem Spuk ein Ende bereiten sollte, doch dieser verlangte zunächst 4000 Pfund Gold, um seine eigenen unruhigen Truppen unter Kontrolle halten zu können, und verlieh seinen Forderungen dadurch Nachdruck, dass er in Noricum (im heutigen Österreich), an den Grenzen Italiens, drohend aufmarschierte. Stilicho gelang es tatsächlich, die von Alarich beanspruchte Summe zusammenzubringen, aber die italischen Senatoren, aus deren Vermögen er sich dazu bedienen musste, schäumten vor Wut, zumal sich über seinen gotischen Partner die schlimmsten Geschichten im Umlauf befanden; man traute ihm gar die Absicht zu, Italien dem Erdboden gleichzumachen, Rom in Flammen aufgehen zu lassen und die römischen Aristokraten in gotische Schafspelze zu kleiden. So wendete sich nun die Stimmung gegen den umtriebigen Feldherrn und Reichsverwalter, und am Kaiserhof wurde dies für Intrigen ausgenutzt. Als systematisch gegen Stilicho aufgewiegelte Truppen, die eigentlich nach Gallien hätten aufbrechen sollen, in Ticinum (heute Pavia) meuterten, kam es zur Katastrophe: Stilicho wurde am 22. August 408 hingerichtet, unmittelbar danach erfolgte ein regelrechtes Massaker unter zahlreichen seiner Anhänger. Der Kaiser rührte sich nicht.86 Plötzlich war Stilicho der unheilbringende Vandale, der verräterische Halbbarbar. Sehr lange hat man die Hinrichtung des Feldherrn und zahlreicher seiner Familienmitglieder und Getreuen als ein ‹nationalrömisches› Aufbegehren gegen barbarische bzw. germanische Dominanz interpretiert und darin eine Analogie zu einem anderen Massaker sehen wollen, das einige Zeit davor, im Jahr 400, in Konstantinopel an den Truppen des Goten Gainas erfolgt war. Jüngere Untersuchungen der Vorgänge von 408 haben aber gezeigt, dass Stilicho nicht einer ‹nationalrömischen› Bewegung zum Opfer fiel, sondern dass vielmehr die sich zuspitzende politische Situation, die von ambitionierten persönlichen Gegnern des Feldherrn instrumentalisiert wurde, seinen Untergang herbeiführte. Den-
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noch – und dies ist der eigentlich interessante Punkt – konnte seine barbarische Herkunft jetzt plötzlich zum Argument gewendet werden und wurde ihm prompt entgegengehalten, in Kombination mit anderen Vorwürfen, wie etwa der Behauptung, er habe nach dem Tod des Arkadios (am 1. Mai 408) seinen Sohn Eucherius zum Kaiser im Osten erheben wollen. So sah etwa Hieronymus in Stilicho nun einen «halbbarbarischen Verräter» (semibarbarus proditor), und auch Rutilius Namatianus bezichtigte ihn, allerdings bereits in Kenntnis der Geschehnisse des Jahres 410, der Kollaboration mit seinen «in Felle gekleideten Gefährten» (satellitibus pellitis) zum Unheil Roms. Aus derselben Perspektive beklagte Orosius Stilichos Abkunft von der «unkriegerischen, habsüchtigen, treulosen und verschlagenen gens der Vandalen» (Vandalorum inbellis avarae perfidae et dolosae gentis genere editus). Selbst Kaiser Honorius sah sich dazu veranlasst, in einem gegen die verbliebenen Anhänger des ‹Staatsfeindes› (praedo publicus) Stilicho gerichteten Gesetz noch einmal dessen barbarische Wildheit (barbaries) zu akzentuieren.87 Am Beispiel Stilichos wird somit vor allem eines deutlich: Es greift wohl doch zu kurz, den spätantiken Barbarenbegriff vorwiegend als rhetorische Kategorie zu interpretieren. Offenbar kam es immer wieder auch zu Situationen, in denen Barbarentum zu einem nicht nur rhetorischen, sondern eben auch handlungsleitenden Argument gerinnen konnte. Ohne Zweifel ließ sich dieses Argument instrumentalisieren und flexibel anwenden – aber eben nicht nur auf der rhetorischen Ebene, sondern auch im ‹echten› Leben, und dies konnte schmerzhafte Konsequenzen zeitigen. Zugleich verweist das Schicksal Stilichos aber einmal mehr auf die Komplexität dessen, was in der Spätantike unter ‹Barbar› verstanden werden konnte: Aufgrund seiner ungeheuren Flexibilität bot der Begriff ein jederzeit verfügbares Instrument, das sich situativ wenden und bequem einsetzen ließ und das gerade deshalb mitunter eine gnadenlose Gefährlichkeit entfalten konnte. Dies alles jedoch wurde damit erkauft, dass die Assoziationen, die der Begriff hervorrief, seltsam starr blieben und für den modernen Betrachter immer weiter aus der Zeit zu fallen schienen. Doch wie bereits angedeutet, beruhte darin der besondere Wert für die Mitlebenden: In Zeiten, in denen klare Kategorisierungen, die in der Antike seit jeher eine wichtige Orientierungshilfe dargestellt hatten, immer komplizierter wurden, in denen der Inhalt altvertrauter Schubladen unentwirrbar durcheinandergeriet, ermöglichte die jeweils situative Aktivierung der traditionellen Assoziationsmuster wenigstens kurzfristig und oberflächlich die Wiederherstellung eines Anscheins von Ordnung und trug damit in erheblichem Maße dazu bei, dass Zeitgenossen sich weiterhin in einer Welt zurechtfinden konnten (oder es zumindest glaubten), die in den Strudel eines beschleunigten Transformationsprozesses gerissen wurde. Das unklare, auf den ersten Blick
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widersprüchliche Barbarenkonzept des Orosius spiegelt diesen Sachverhalt ebenso deutlich wie die letztlich erfolglosen Bemühungen des Sidonius, den Goten Theoderich und seine Leute im Kontext eines idealen antiken Herrscherbildes zu verorten; Priskos behauptet, als Gesandter mitten im Hunnengebiet gelehrte Debatten über die Valenz des Topos von der unberührten, idealisierten Barbarengemeinschaft geführt zu haben, während er doch gleichzeitig darum bangen musste, die Residenz des unberechenbaren Hunnenherrschers überhaupt lebend wieder verlassen zu dürfen; und die verbreitete Unzufriedenheit mit der Politik Stilichos, mit der jener lediglich auf eine zunehmend komplexe und dynamische Situation reagiert hatte, ließ sich bequem und einfach durch den Rekurs auf dessen halbbarbarische Herkunft artikulieren, was den Beteiligten eine gründliche und mühselige gedankliche Auseinandersetzung mit gravierenden strukturellen Problemen ersparte. All dies führt schließlich auf die Frage, wie man sich die Koexistenz von Römern und Barbaren bzw. das allmähliche Hineinwachsen der Barbaren in die römische Welt eigentlich konkret vorzustellen hat. Ohne Zweifel vermittelt unsere literarische Dokumentation ein verzerrtes Bild; denn schriftlichen Niederschlag fand vor allem das Außergewöhnliche, all jenes also, was man der Aufzeichnung für wert hielt – nicht aber das banale Alltagsgeschehen. Wenn also Konflikte, Eskalationen oder Kriege in unserer Überlieferung einen besonderen Stellenwert einnehmen, so muss dies nicht unweigerlich bedeuten, dass das Zusammenleben von Römern und Barbaren – soweit sie überhaupt unterscheidbar waren – permanent von wechselseitigen Abgrenzungsversuchen und Auseinandersetzungen geprägt gewesen wäre – ganz im Gegenteil. Die meisten Barbaren strebten nach Integration in das Römische Reich, nicht nach dessen Zerstörung; man wollte von seinen Reichtümern und vom hohen Lebensstandard profitieren, keineswegs aber vorrangig dessen Grundlagen vernichten. Die jüngere Forschung hat mit Nachdruck darauf insistiert, dass sich die Koexistenz in aller Regel friedlich gestaltete: Das Imperium Romanum und die antike Kultur hätten einen politisch-geographischen, ja auch einen geistig-kulturellen Rahmen geboten, in den Barbaren in zunehmendem Maße hineingewachsen seien, ohne dass dabei zwangsläufig stets Konflikte ausgebrochen seien. Und tatsächlich durchlief ja nicht nur die römische Welt einen Transformationsprozess, sondern auch die Barbaren passten sich an, entweder ganz gezielt oder beiläufig und unbewusst. Jedenfalls lassen sich die sogenannten gentilen Nachfolgereiche auf ehemals römischem Boden – wenn man sie denn überhaupt in feste Schemata zu pressen versucht – deutlich plausibler als (post-) römische Gebilde mit einer kleinen barbarischen Führungsschicht beschreiben denn als genuin ‹germanische› Einheiten. In diesem Sinne wurde vor kurzem noch einmal dezidiert hervorgehoben, dass die allmähliche Integration der Barbaren in
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die römisch-antike Welt als langsamer Prozess wechselseitiger Beeinflussungen interpretiert werden müsse, der sich – wohlgemerkt – in einem römischen Rahmen, der stetigen Veränderungen unterworfen gewesen sei, vollzogen habe. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang an das angebliche Diktum des Ostgotenkönigs Theoderich erinnert, der konstatiert haben soll, dass ein armer Römer einen Goten und ein angesehener Gote einen Römer nachahme, und Sidonius Apollinaris spricht offen das Phänomen an, dass aus Römern Barbaren werden konnten – und umgekehrt. Es wäre also in der Tat fatal, auf die permanent in den Quellen reproduzierten Barbarenstereotypen hereinzufallen und aus ihnen und den damit verbundenen Beschreibungen von Konflikten und Kriegen auf eine von durchgängigen Auseinandersetzungen geprägte Realität schließen zu wollen. So wie die Abgrenzung zwischen Römern und Barbaren zunehmend schwieriger wurde, dürfte sich auch der wechselseitige Umgang im Alltag wesentlich komplexer und vielfach deutlich entspannter gestaltet haben, als es durch unser Material suggeriert wird – gerade in Grenzregionen, wo man sich häufig gegenseitig kannte und schätzte. Aber auch in diesem Fall ist Vorsicht geboten: Ob derart quellenkritische Überlegungen den direkten Umkehrschluss erlauben, dass man sich das Zusammenleben insgesamt friedlich vorstellen müsse, darf bezweifelt werden. Einmal mehr bleibt uns also keine andere Wahl, als jeweils Einzelfälle zu untersuchen und unser Gesamtbild mühsam aus ihnen zusammenzusetzen.88
1.2.6 Die Archäologie als Ausweg?
Wir wissen nun also, dass es schon den Zeitgenossen erhebliche Mühe bereitete, die Barbaren, von denen sie sich zunehmend umgeben sahen, präzise zu beschreiben und kategorial zu erfassen; wie sie die Neuankömmlinge tatsächlich erlebten und was sie letztlich unter ihnen verstanden, können wir allenfalls partiell und nur in unterschiedlichen Brechungen erschließen. Die uns vorliegenden Schriftzeugnisse erlauben jedenfalls keine generalisierenden Aussagen. Wir können somit bestenfalls von spätantiken Barbarenbildern und Zuschreibungsmustern sprechen, doch ‹der› Barbar bleibt uns verborgen – zumindest dann, wenn man versucht, den Weg über die schriftliche Überlieferung der Zeitgenossen zu gehen. Ganz unabhängig von der Überlegung, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich auf die Suche nach ‹dem› Barbaren zu begeben, bleibt damit zunächst einmal zu klären, ob und inwiefern sich ‹objektive› Kriterien gewinnen lassen, mit deren Hilfe es wenigstens dem modernen Betrachter möglich wird, ‹Barbaren› zu identifizieren, gegenüber ‹Römern› abzugrenzen und einzuordnen – wenn schon die
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Zeitgenossen daran weitestgehend gescheitert sind. Damit werden wir unweigerlich auf das Feld der Archäologie verwiesen. Beginnen wir wiederum mit drei Beispielen: Im Jahr 568 – nur anderthalb Jahrzehnte, nachdem es den Oströmern bzw. Byzantinern in einem gewaltigen Kraftakt gelungen war, die Apenninhalbinsel von den Ostgoten zurückzuerobern – brach unter der Führung Alboins († 572 / 73) ein polyethnischer, von den namengebenden Langobarden dominierter Verband ein und entriss der soeben wieder etablierten römischen Kontrolle große Teile des Landes. Wir sind über diesen Vorgang, mit dem in traditionellen Darstellungen die ‹Völkerwanderung› endet, durch die literarische Überlieferung recht gut informiert. Lassen wir stellvertretend den Langobardenhistoriographen Paulus Diaconus zu Wort kommen: «Und so zogen die Langobarden, nachdem sie Pannonien verlassen hatten, mit ihren Frauen und Kindern und all ihrem Hausrat in Richtung Italien, um es in Besitz zu nehmen. Sie hatten aber in Pannonien 42 Jahre gewohnt». Wäre die Einwanderung von Langobarden nicht schriftlich in dieser Weise dokumentiert, so könnten wir aufgrund des archäologischen Materials doch immerhin erschließen, dass es seit der Mitte des 6. Jahrhunderts – die Feinchronologie ist schwierig – in Italien zu erheblichen Umwälzungen gekommen ist, die mit Neuankömmlingen zusammenhingen. Ausgangspunkt für diese Beobachtung sind insbesondere die Bestattungspraktiken, die zeigen, dass ein älteres, bis dahin weithin gültiges Modell plötzlich mit einem ganz neuen, fremdartigen Gegenmodell konfrontiert wurde: Die Bevölkerung Italiens war seit dem 5. Jahrhundert in größerer Zahl ohne Grabbeigaben bestattet worden (es gibt einige Ausnahmen), was man auf die christlichen Jenseitsvorstellungen zurückgeführt hat: Diese seien vom Glauben an die Wiederherstellung des verwesten Körpers zu einem ‹Auferstehungsleib› geprägt gewesen, so dass Beigaben für den ohnehin zerfallenden Leichnam unnötig erschienen. Frauen trugen als Verschluss eines mantelartigen Umhangs eine Fibel über der Brust (beliebt waren Kreuz-, Tauben-, Pfauen- und Hahnenfibeln), mitunter auch etwas Schmuck; Männer erhielten keine Waffenbeigaben. Ganz anders hingegen das neue, seit Mitte des 6. Jahrhunderts in Italien greifbare Modell: Männer wurden dort mit Waffen bestattet, Frauen mit Gürtelschnallen, anderen Fibelformen (Bügelfibeln) und vielfach mit Webschwertern (längliche Stäbe zur Verwendung an Webstühlen); beide Geschlechter erhielten überdies Fleisch und Eier als Beigaben, häufig auch Amulette, und wurden in aufwendigen Grabbauten (‹Totenhäusern›) beigesetzt.89 Würden sich die Funde lediglich auf der Ebene des Sachgutes unterscheiden (unterschiedliche Fibeltypen), so wäre es methodisch bedenklich, daraus weiterreichende Schlüsse zu ziehen, denn in diesem Fall müsste man variable Faktoren wie Handel, Austausch, Produktionsstätten usw. in Rechnung stellen. Archäologen haben aber argumentiert, dass der Befund der ‹Beigabensitte› (vielleicht sollte
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man besser von Beigabenpraxis sprechen) auf grundsätzlich differierende Jenseitsvorstellungen verweise, womit ein hartes Differenzkriterium zur Verfügung stehe, um tatsächlich ethnische Abgrenzungen vorzunehmen. Demnach trafen im Italien des späteren 6. Jahrhunderts zwei distinkte, aber in sich homogene Modelle aufeinander, und die Tatsache, dass dieselben Praktiken, die plötzlich neu in Italien erscheinen, nahezu zeitgleich in jenen Regionen, in denen sie vorher nachweisbar waren (das heutige Niederösterreich, Südmähren, Westungarn), weitgehend abbrechen, legt eine Wanderungsbewegung nahe. Da wir diesen Befund sehr geschmeidig mit den schriftlichen Quellen korrelieren können, in denen eine solche Migration (die von Archäologen mitunter sogar als «Totalabwanderung» bezeichnet wurde) dokumentiert ist – nämlich die Einwanderung von Langobarden in Italien –, und da auch die aktuellen DNA-Befunde nicht dagegen sprechen, wird man wohl in aller Vorsicht den Schluss ziehen dürfen, dass die archäologische und die literarische Dokumentation in diesem Fall tatsächlich auf denselben Geschehniszusammenhang zu beziehen sind: «Der Wanderungsvorgang [wäre] auch ohne die Schriftquellen archäologisch zweifelsfrei nachweisbar; sie steuern außer dem Langobardennamen ‹nur› noch die jahrgenaue Datierung (568) bei».90 Zweites Beispiel: Exakt anderthalb Jahrhunderte vor der langobardischen Einwanderung in Italien, im Jahr 418 /19, hatte die weströmische Regierung jenen Gotenverband, der unter Alarich im August 410 Rom erobert hatte, in Aquitanien zwischen Bordeaux und Toulouse angesiedelt und damit die Voraussetzung für die allmähliche Etablierung des sogenannten Tolosanischen Reiches der Westgoten (um das Zentrum Toulouse) geschaffen. Auch dieser Vorgang ist literarisch – wenngleich nicht sonderlich wortreich – dokumentiert. Blickt man nun auf den entsprechenden archäologischen Befund, so zeigt sich ein gänzlich anderes Bild als bei den Langobarden: Die aquitanischen Westgoten sind archäologisch nicht fassbar. Könnten wir nicht auf die schriftliche Überlieferung zurückgreifen, so wüssten wir nichts über ihre Ankunft und Ausbreitung in Gallien. Woran liegt das?91 Offenbar wirkten sich die langen, generationenübergreifenden Migrationsund Plünderungszüge des Verbandes durch römische Gebiete seit dem Jahr 378 (Schlacht bei Adrianopel) auf die Mitglieder aus. Womit auch immer sie ihre Identität und damit ihren Zusammenhalt aufrechterhielten (Sprache, gemeinsame Herkunftsmythen usw.) – die materielle Kultur scheint nicht zu diesen Stabilisierungsfaktoren gehört zu haben, sondern glich sich durch permanenten Kontakt jener der Römer an. Das führte dazu, dass sich die Westgoten, als sie sich 418 /19 in Gallien niederließen, materiell praktisch nicht mehr von Römern unterschieden. Erst für die Zeit, nachdem sie im Gefolge der Schlacht bei Vouillé 507
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von den Franken über die Pyrenäen getrieben worden waren und in Spanien eine neue Herrschaft errichteten, glaubt man sie im Gräberbefund wieder fassen zu können – und führt dies, recht spekulativ, auf zwischenzeitliche Kontakte zu ostgotischen Gruppen aus Pannonien zurück.92 Noch komplizierter gestaltet sich unser drittes Beispiel: Im späteren 4. Jahrhundert kommt zunächst im nördlichen Gallien, jenseits der Loire, eine neue Form der Körperbestattung auf, die sich bis in das ausgehende 5. Jahrhundert gut nachweisen lässt. Sie betraf anfangs lediglich kleinere Gruppen (stellte also offenbar ein Elitenphänomen dar); seit Mitte des 5. Jahrhunderts, bis in das 7. Jahrhundert, findet man sie dann in größerem Umfang an der Peripherie des Reiches, vor allem auf römischem, aber auch auf nichtrömischem Gebiet, über das Rheinland bis in die heutige Schweiz, Süddeutschland und Oberösterreich. Kennzeichen dieser Bestattungsform, die unter dem etwas irreführenden Terminus ‹Reihengräber› in die Forschungsliteratur eingegangen ist, sind die gegenüber dem sonst verbreiteten Trend vielfach recht üppigen Beigaben – Waffen, Reitzubehör und Gürtelschnallen bei den Männern, Schmuck bei den Frauen –, ferner charakteristische Fibelformen und eine sich allmählich durchsetzende West-Ost-Ausrichtung der Grabgruben. Insbesondere die deutschsprachige Forschung war lange Zeit davon überzeugt, mit Hilfe der Reihengräber die Zuwanderung heidnischer Germanen zunächst in Nordgallien und dann auch darüber hinaus fassen zu können. Man vermutete in den Bestatteten zunächst Angehörige der laeti, d. h. ehemalige Kriegsgefangene, die als wehrpflichtige, an die Scholle gebundene Bauern in Gallien seit Ende des 3. Jahrhunderts auf Ödland angesiedelt wurden, aber auch foederati, also fremdstämmige Personen, die militärische Aufgaben zu verrichten hatten, dafür aber seit dem späten 4. Jahrhundert römisches Territorium erhielten, sowie – damit zusammenhängend – Angehörige einer römisch-germanischen Mischzivilisation. Keine dieser ethnisch determinierten Erklärungen hat sich jedoch durchsetzen können: Die laeti-These scheitert an chronologischen und sozialhistorischen Problemen (die Reihengräber setzen erst Jahrzehnte nach der Ansiedlung der ersten laeti ein und passen in ihrer reichen Ausstattung nicht zu deren niedriger sozialer Stellung); die Foederatenthese würde eine durch keine weiteren Indizien gestützte völlige Durchdringung Nordgalliens mit foederati implizieren, kann im Gegenzug aber nicht erklären, warum ausgerechnet in jenen Regionen, in denen unzweifelhaft Foederaten angesiedelt wurden (etwa in Aquitanien), keine Reihengräber nachweisbar sind; die Ansetzung einer ‹Mischzivilisation› schließlich geht indirekt vom Zusammenwachsen zweier ethnisch scharf abgrenzbarer Bevölkerungsgruppen aus, deren jeweilige Homogenität und Unterscheidbarkeit ihrerseits zunächst einmal zu beweisen wäre. Mittlerweile hat die archäologische Forschung aufzeigen können, dass zahl-
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reiche der angeblich ‹germanischen› Elemente der Reihengräber eher in römischen Zusammenhängen zu verorten sind; dies gilt vor allem für die grundsätzliche Anlage der Gräber (Körperbestattung, West-Ost-Ausrichtung). Die Waffenbeigaben wird man wohl aus militärisch geprägten Kontexten jeweils vor Ort herleiten müssen, denn sie besitzen weder im römischen Bereich noch im Barbaricum eine allzu ausgeprägte Tradition; zwar sind sie immer wieder einmal belegt, jedoch – was den germanischen Bereich angeht – gerade nicht im Grenzgebiet zum Imperium Romanum. Der größte Teil der in den Reihengräbern deponierten Waffen entstammt im Übrigen römischer Produktion. Gleiches gilt für die Kleidungs- und Schmuckstücke, die ihrerseits wiederum auf ein spezifisches, vor allem von provinzialrömischen Moden und Traditionen geprägtes Kontaktzonen-Milieu verweisen. Dass die Reihengräber insgesamt zunächst einmal ein für ‹Grenzgesellschaften› charakteristisches Phänomen darstellen, also eine Erscheinung, wie sie für Regionen in einer «kulturell gemischten Grenzzone» typisch ist, manifestiert sich vor allem in ihrer Verbreitung entlang der Peripherie bzw. der Grenzen des Römischen Reiches im Zeitraum vom 5. bis zum 7. Jahrhundert. Aber diese Feststellung allein genügt nicht, um ihr Aufkommen ausgerechnet im nordgallischen Raum seit Ende des 4. Jahrhunderts hinreichend zu erklären.93 Grabbeigaben müssen nicht zwangsläufig ethnische oder religiöse Implikationen aufweisen, sondern können auch sozial konnotiert sein. In jüngerer Zeit wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sie vor allem repräsentativen Charakter besitzen und im Moment der Beisetzung das anwesende Publikum beeindrucken sollen. Letzteres bestand aber in erster Linie aus den Familienmitgliedern der Verstorbenen und ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld. In diesem Kreis, d. h. innerhalb der eigenen Gesellschaft, galt es Rang und Ansehen zu demonstrieren – nicht gegenüber Fremden. Daher neigt eine Reihe von Archäologen inzwischen dazu, Grabbeigaben und Bestattungspraktiken insgesamt zunächst einmal als sozial konnotierte, auf die jeweiligen Mikrogesellschaften bezogene Phänomene zu interpretieren. Der soziale Status einer verstorbenen Person wurde durch den Akt der Beisetzung und die damit verbundenen Handlungen (beispielsweise das Deponieren von Beigaben) gegenüber dem unmittelbaren Umfeld sichtbar demonstriert. Dies wurde umso wichtiger in Phasen, in denen die römische Zentralregierung die Kontrolle über bestimmte Regionen verlor und sich neue, von lokalen Größen ausgehende Hierarchien und Herrschaftsstrukturen auszubilden begannen; Gürtelschnallen und Fibeln konnten in derartigen Situationen zu spezifischen Rangabzeichen avancieren. Exakt dieses Phänomen wird für die Phase der ersten Reihengräber im späteren 4. Jahrhundert postuliert: Nordgallien wurde damals von schweren Unruhen heimgesucht.
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Marodierende Plünderertrupps durchstreiften das Land, hinzu kamen Überfälle an den Grenzen, die bis tief in das Landesinnere reichen konnten. Der römischen Regierung gelang es nur mit Mühe, die Verhältnisse zu stabilisieren. Manch einer der Betroffenen griff zur Selbsthilfe; so entstanden gar eigenständige ‹Privatarmeen› (buccellarii), mit deren Hilfe wohlhabende Magnaten versuchten, Güter und Besitz der Schutzbefohlenen zu sichern. In den nunmehr aufkommenden Reihengräbern mit ihren Beigaben spiegeln sich Macht- und Selbstbehauptungswille dieser neuen Herren und ihrer Familien – so die Vermutung. Das würde bedeuten, dass die Frage, welcher ethnischen Herkunft die Bestatteten waren, zunächst einmal zweitrangig (und aus dem Material heraus ohnehin nicht zu beantworten) wäre: Ganz gleich, ob von ‹Römern› oder ‹Germanen› angelegt – als «kulturelle Neuformierungen» (Sebastian Brather) würden die Reihengräber vornehmlich auf sozialen Stress verweisen, auf Phasen erhöhten Drucks, in denen es zu sozialen Umschichtungsprozessen kam. «Die ‹Auflösung› bisheriger politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Strukturen forderte von den Zeitgenossen die Suche nach revidierten und den neuen Verhältnissen angemessenen Bezügen und Identitäten». Und in der Tat dürfte das Problem der ethnischen Zugehörigkeit dabei eher nachrangig gewesen sein; denn man war keineswegs gezwungen, sich zwischen ethnischen Alternativen endgültig und unwiderruflich zu entscheiden – jedenfalls nicht langfristig. Maßgeblich war offenbar vor allem, wie bzw. als was man situativ handelte und ob man damit Plausibilität erzeugen konnte. «Man gibt und verhält sich – in bestimmten Situationen – wie ein Franke oder ein Gote». Eine Grabinschrift aus Aquincum (heute Budapest) bringt diesen Sachverhalt präzise auf den Punkt: «Franke bin ich meiner Herkunft nach, ein römischer Soldat unter Waffen» (Francus ego cives Romanus miles in armis). In einem typisch römisch ausgestalteten Epitaph aus Trier (wohl 2. Hälfte 4. Jahrhundert) präsentiert sich ein Hariulf, ein Burgunder aus königlicher Familie (regalis gentis Burgundionum), als Mitglied der römischen Eliteeinheit der protectores domestici, und der römische Offizier Mallobaudes erscheint im Jahr 378 gleichzeitig als ‹König› eines fränkischen Teilverbandes (domesticorum comes rexque Francorum). Bereits in der frühen Kaiserzeit erscheint ein ehrenhaft aus der Armee entlassener Soldat aus Thullium (Kef beni Fredj im heutigen Algerien) auf einer zweisprachigen Grabinschrift sowohl unter dem Namen Gaius Iulius Getulus als auch in der libyschen Variante Keti, Sohn des Masawalat, aus dem Stamm der Misiciri. Es waren insbesondere die ‹Grenzgesellschaften› bzw. Kontaktzonen an der Peripherie des Reiches, die das Aufkommen derartig fluider Strukturen in besonderer Weise begünstigten. Die weitere Ausbreitung der Reihengräber nach ihrer Entstehung in Nordgallien als Manifestation von sozialem Stress könnte vor diesem Hintergrund zu interpretieren sein.94
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Zumindest in Umrissen sollten unsere Beispiele aufgewiesen haben, welche Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis die Archäologie für historische Fragestellungen bietet: Während die Fundlage mittlerweile, je nach Region, gut aufgearbeitet und dokumentiert ist, bereitet die Interpretation vielfach Probleme und hat in den letzten Jahren gerade innerhalb der Archäologie mitunter scharf geführte Kontroversen ausgelöst. Allzu erstaunlich ist dies nicht, geht es doch im Kern um die Frage, worin der konkrete und nachhaltige Beitrag der frühgeschichtlichen Archäologie zur Erforschung der ‹Völkerwanderungszeit› liegen kann. In den vergangenen Jahrzehnten konstituierte das Problem ethnischer Zuordnungen ein wichtiges Arbeitsfeld von Archäologen (und Historikern), nicht immer explizit, sondern bisweilen auch untergründig. Namentlich unter dem Einfluss der englischsprachigen Forschung haben sich in Deutschland allerdings vor allem jüngere Fachvertreter seit Beginn des 21. Jahrhunderts entschieden gegen entsprechende Deutungsrichtungen erklärt und versuchen seitdem, der frühgeschichtlichen Archäologie Impulse in andere Richtungen zu geben. Die dadurch ausgelösten Kontroversen um die Valenz ethnischer Interpretationen archäologischen Materials sind noch längst nicht abgeschlossen, aber tendenziell zeichnet sich ab, dass die anhaltenden Diskussionen die Suche nach alternativen Zugriffen auf die ‹Völkerwanderung› jenseits des Ethnizitäts-Paradigmas befördern – und damit eine ähnliche Entwicklung nehmen wie analoge Debatten in den Geschichtswissenschaften. Das dabei zugrunde liegende Problem ist freilich vertrackt, denn es resultiert aus einer komplexen Gemengelage, in der sich lang etablierte und festgefügte Forschungstraditionen und ein daraus erwachsenes Wissenschafts- und Fachverständnis mit grundsätzlichen erkenntnistheoretischen und methodischen Problemen verbinden; Letztere wiederum wurden zum Teil aus Diskussionen, die in anderen Disziplinen geführt wurden, importiert (Ethnologie, Soziologie, Anthropologie, Kulturwissenschaften) und zwingen Archäologen und Historiker mittlerweile zu weitaus intensiveren Reflexionen über das eigene Tun als noch vor wenigen Jahrzehnten.95 Grob vereinfachend lassen sich die für unseren Kontext relevanten Debatten auf die Frage reduzieren, ob und wie sich ein archäologischer Befund ethnisch interpretieren lässt, d. h. ob wir beispielsweise ein konkretes Gräberfeld oder auch eine Siedlung oder gar eine ganze archäologische Kultur (dazu s. u.) ‹den› Römern, Germanen, Slawen, Hunnen, Awaren, Langobarden, Vandalen, Goten usw. zuweisen können und woraus entsprechende Sicherheiten zu gewinnen wären. Unsere drei Beispiele haben gezeigt, dass eine solche Deutung keineswegs selbstverständlich ist, zumal sich in den unterschiedlichen Fokussierungen etwa auf Kleinverbände wie Sueben oder Rugier, größere Einheiten wie Goten oder Hunnen und übergreifende Größen wie Germanen oder Slawen die Kategorien ver-
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schieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Vertreter der damals noch recht jungen prähistorischen Archäologie derartige Probleme hingegen nicht: «Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen», so heißt es in einem berühmt-berüchtigten Diktum, «decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen». Dieses Zitat aus dem Jahr 1911 stammt von Gustaf Kossinna (1858–1931), einem Prähistoriker, dessen sogenannte siedlungsarchäologische Methode die frühgeschichtliche Archäologie maßgeblich beeinflusst, aber in den letzten Jahren auch zu intensiven theoretisch-methodischen Reflexionen Anstoß gegeben hat. Kossinna lässt sich nur mit Blick auf seinen eigenen historischen Kontext angemessen verstehen: Als er seine Wirkung entfaltete, steuerte der Prozess der Ausdifferenzierung von Nationalstaaten in Europa, der im 19. Jahrhundert besondere Schubkraft entfaltet hatte, auf einen seiner Höhepunkte zu. Das Konzept ‹Volk› avancierte dabei zu einer zentralen Kategorie allgemeiner Aufmerksamkeit und bildete den Kern eines rasch um sich greifenden Nationalbewusstseins – wir werden darauf noch zurückkommen. Allenthalben und besonders im politisch parzellierten Deutschland, das man in einem Spannungsfeld aus römischen, germanischen, keltischen und slawischen Funden verortete, befanden sich nicht nur Wissenschaftler auf der Suche nach den Urgründen der Völker. Man stellte sich diese als festgefügte, in sich abgeschlossene und über die Jahrhunderte hin konstante Einheiten vor und projizierte sie so weit wie möglich in die Vergangenheit zurück, um für gegenwärtige Forderungen und Ansprüche (etwa auf Territorien) Legitimation zu gewinnen. Nicht nur eine willfährige Geschichtswissenschaft leistete damals ihre Dienste; auch die prähistorische Archäologie, die bis in das spätere 19. Jahrhundert eher ein Nischendasein geführt hatte (Theodor Mommsen soll sie abschätzig als «Arbeitsgebiet für Landpastoren und pensionierte Offiziere» bezeichnet haben), ließ sich als «hervorragend nationale Wissenschaft» (Kossinna) instrumentalisieren und damit auch öffentlich stärker zur Geltung bringen. Denn die Erforschung der materiellen Überreste der in die Vergangenheit gespiegelten Nationen stellte eine Verlängerung ihrer jeweiligen Geschichte bis weit in die schriftlose Zeit in Aussicht. In diesem Klima entwickelte der völkisch-national gesinnte Germanophile Kossinna seine markanten Thesen. Sein Name steht indes nur exemplarisch für zahlreiche Vertreter einer sich seit dem frühen 19. Jahrhundert entfaltenden «vaterländischen Altertumskunde» – wenngleich gerade er zu besonderer Prominenz gelangt ist (aber durchaus schon von Zeitgenossen mitunter auch deutlichen Widerspruch erfahren hat).96 Kossinnas ‹Methode› war simpel, im Rückblick geradezu banal, stieß aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein geneigtes Publikum. Denn mit seiner Mystifizierung der «Altgermanischen Kulturhöhe» – auch ‹Kultur› galt im frühen
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20. Jahrhundert als jeweils nationales Spezifikum – wies er den Weg, um den vermeintlichen Ursprüngen der Nation in der Vorgeschichte nachzuspüren. Indem er, orientiert an der ethnologischen ‹Kulturkreislehre›, einzelne materielle «Kulturelemente» identifizierte und kartierte, schuf er suggestiv Verbreitungsräume dieser Elemente, die sich zu «Kulturgruppen» bzw. – territorial verstanden – zu «Kulturprovinzen» verdichten und mit Rekurs auf die damals übliche Vorstellung der Deckungsgleichheit von ‹Kultur› und ‹Volk› ethnisch interpretieren ließen. Weite Räume ließen sich dadurch historisch konstant jeweils bestimmten Kulturen und damit Völkern zuweisen.97 Nach der Zäsur des Jahres 1945 wurde die unreflektierte Gleichsetzung von ‹Volk› und ‹Kultur› aufgegeben; an ihre Stelle traten zunehmend ausdifferenzierte und komplexe Modelle, bald auch ein verstärkter Drang zu methodischer Reflexion. Am Bemühen um ethnische Interpretationen hielten gleichwohl viele Prähistoriker fest, sie sprachen nun vorwiegend von ‹archäologischen Kulturen›. An diesem Punkt setzt die Kritik der letzten beiden Dekaden ein. Ihr zentrales Argument zielt auf die methodischen Schwierigkeiten, archäologische Kulturen zu definieren: Aus einem diffusen Kontinuum heterogener Funde würden lediglich einzelne Merkmale (zum Beispiel bestimmte Fibel- und Keramiktypen, Bestattungsformen usw.) herausgegriffen und künstlich in einen Zusammenhang gesetzt; die Auswahl der Merkmale (und damit auch die Konstituierung der aus ihnen hervorgehenden Einheit, also der ‹archäologischen Kultur›) hänge aber von der jeweiligen Fragestellung ab. Keine der dadurch definierten Gruppen sei tatsächlich homogen oder gar distinkt, weil sie stets auch eine größere Anzahl von Merkmalen, die man eben nicht zu den Determinanten rechne, mit benachbarten Gruppen teile. Eine archäologische Kultur werde demnach nicht vom Prähistoriker entdeckt oder identifiziert, sondern überhaupt erst erschaffen. Sie könne nicht als essentielle Einheit, gar als materielle Hinterlassenschaft eines Ethnos betrachtet werden, sondern lediglich als Kategorie zur Beschreibung komplexer Fundzusammenhänge. Wie sich eine archäologische Kultur in Raum und Zeit erstrecke, hänge letztlich von der Auswahl der Merkmale ab, mit deren Hilfe man sie definiere.98 Ethnische Interpretationen, so die Schlussfolgerung aus dieser Kritik, sind allein mit archäologischen Funden und Befunden nicht zu leisten, sondern – wenn überhaupt – nur unter Hinzuziehung schriftlicher Quellen möglich, woraus allerdings die Gefahr von Zirkelschlüssen erwächst. Zudem überlagere die Suche nach ethnischen Zugehörigkeiten die weitaus spannendere Frage nach sozialen Differenzen und Dynamiken innerhalb der untersuchten Gruppen. Deshalb solle sich die prähistorische Archäologie auf jene Bereiche konzentrieren, in
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denen ihre tatsächlichen Stärken lägen: die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Auf diesen Feldern gelte es, längerfristige Entwicklungen aus einer strukturellen Perspektive zu verfolgen und damit statt des geographischen Zugriffs auf archäologische Kulturen wieder den für historische Fragen zentralen Faktor Zeit stärker zu berücksichtigen.99 Es ist für unsere Zwecke nicht erforderlich, die komplexe Diskussion, die unter den Archäologen weiterhin anhält, in allen Einzelheiten nachzuzeichnen. Genügen soll der Hinweis, dass selbstverständlich auch die Vertreter der Valenz ethnischer Interpretationen erwägenswerte Argumente auf ihrer Seite wissen. Dazu mag weniger der an die Kritiker gerichtete Vorwurf einer ‹Übertheoretisierung› gehören als eine schärfere Ausdifferenzierung der Kategorien ‹Fund› und ‹Befund› sowie der Hinweis auf «hochrangige» Kriterien jenseits einfacher Typenbestimmungen und -vergleiche, wie etwa die Identifikation spezifischer Jenseitsvorstellungen als Differenzmerkmal. Ein Argument, das vielfach mit Nachdruck vorgetragen wurde, hat in den letzten Jahren indes seine Überzeugungskraft verloren: «Die Vorgeschichte würde sich als historische Wissenschaft selber aufgeben, würde sie nicht immer und immer wieder den Versuch machen, auch das Problem der ethnischen Deutung zu lösen». Diese Aussage basiert auf der Prämisse, dass Historiker und Archäologen nur über die Frage ethnischer Interpretationen miteinander ins Gespräch kommen könnten. Das aber ist sicherlich unzutreffend, denn auch in den Geschichtswissenschaften nimmt seit einigen Jahren allmählich ein Paradigmenwechsel Gestalt an, der von dem Bemühen getragen wird, Ethnizität als Zentralkategorie zur Erschließung der ‹Völkerwanderung› mit konkurrierenden, innovativen und möglicherweise auch in neuem Maße erkenntnisfördernden Ansätzen zu konfrontieren oder in ihrem heuristischen Potential doch zumindest kritischer zu hinterfragen.100 Ein solcher Weg soll auch in diesem Buch beschritten werden. Die vorangegangenen, bewusst etwas ausführlicher gehaltenen Überlegungen dienten unter anderem der Rechtfertigung dieses Paradigmenwechsels, der mit der Aufgabe so mancher altvertrauter Einsicht einhergehen wird. Selbstverständlich werden die politischen und sozialen Gebilde, in denen man in der Vergangenheit stets die Hauptakteure der ‹Völkerwanderung› gesehen hat – also Römer, Vandalen, Goten, Burgunder, Slawen, Bulgaren usw. – auch im Zentrum dieses Buches stehen. Aber ich werde sie nicht mehr als ‹Völker› oder gar (mit Ausnahme der Araber) als ‹Stämme› behandeln, sondern als Identitätsgruppen, deren Zusammenhalt und Stabilität von wechselnden Faktoren abhängig war – Faktoren, die jeweils eine subjektive Überzeugung, d. h. den Glauben, zusammenzugehören, konstituierten oder auch destruierten. Folgt man diesem Ansatz, dann entfällt sogleich die Erfordernis, nach ethnischen Zuordnungen zu fahnden, ja diese Frage erweist
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sich dann in zahlreichen Fällen als falsch gestellt. Die aufgezeigten methodischen Unsicherheiten, die mit den Versuchen, aus unseren schriftlichen und materiellen Quellen auf Ethnien zurückzuschließen, einhergehen und die entsprechende Unterfangen häufig als fruchtlose Mühen entlarven, erscheinen für uns dann zumindest in großen Teilen irrelevant. Dies wiederum dürfte ohnehin in weitaus höherem Maße die grundsätzliche Integrationskraft des Imperium Romanum und das Bemühen der meisten Barbaren, selbst ein Teil dieses übergreifenden Verbandes zu werden, reflektieren als retrospektive Versuche strenger ethnischer Differenzierungen. Für die Frage, welche Faktoren Identitäten konstituieren, bietet uns hingegen die archäologische, literarische und auch die sprachwissenschaftliche Dokumentation einen reichhaltigen Fundus – und einen Weg, mit den aufgezeigten komplexen Problemen, die unser Quellenmaterial bereitet, kalkulierter umzugehen. Dies allerdings erfordert zumindest eine skizzenhafte Problematisierung zweier Kategorien, die lange im Zentrum der Forschung standen, ja die als geradezu klassische Kategorien jeglicher Beschäftigung mit der ‹Völkerwanderung› angesehen werden können: ‹Volk› und ‹Wanderung›. Erst im Kontext einer solchen Problematisierung lässt sich das Ethnizitäts-Paradigma, das traditionell den Zugriff auf die ‹Völkerwanderung› angeleitet hat, relativieren und mit dem Identitäts-Paradigma konfrontieren – wobei schon jetzt betont werden sollte, dass ‹Ethnizität› und ‹Identität› keineswegs dichotomisch zu verstehen sind.101
1.2.7 ‹Völker› und ‹Wanderung› – Ethnizität und Identität
Es mag bereits aufgefallen sein, dass in diesem Buch ausgerechnet der titelgebende Terminus ‹Völkerwanderung› stets in Anführungszeichen verwendet wird. Darin spiegelt sich ein erklärtes Unbehagen gegenüber der konzeptuellen Tragfähigkeit dieses Ausdrucks, das einer näheren Begründung bedarf. ‹Völkerwanderung› ist ein perspektivischer Epochenbegriff, der in den zeitgenössischen Quellen nicht belegt ist. Die in der Vita Severini des Eugippius (um 511) vereinzelt anzutreffende Wortverbindung populi transmigratio bezieht sich nicht auf die gesamte Periode, sondern auf ein einmaliges Ereignis, nämlich die Auswanderung römischer Provinzialen von Noricum nach Italien. Mit Blick auf den hier zu beschreibenden Zeitraum gilt Wolfgang Lazius (1514–1565), Leibarzt und Hofhistoriograph des Habsburgerkaisers Ferdinand I., als frühester Propagator einer migratio gentium (in seinem Werk De aliquot gentium migrationibus aus dem Jahr 1557), doch ist seine Vorstellung von migrationes gentium deutlich weiter gefasst als entsprechende moderne Konzepte. Der deutsche Terminus
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‹Völkerwanderung› als übergreifender Begriff für eine kohärente Epoche begegnet erst seit den 1790er Jahren (Friedrich Schiller), findet dann aber im 19. Jahrhundert rasch Verbreitung zur Bezeichnung «der groszen bewegung der germanischen völker am ausgang des alterthums». Damit waren in der deutschen Wortverwendung – und folgerichtig auch in den daraus abgeleiteten konzeptuellen Zugriffen auf den Gegenstand – bereits weitreichende Festlegungen getroffen: 1. die Fokussierung auf wandernde Einheiten, die 2. als ‹Völker› begriffen und 3. als die eigentlichen Akteure der so bezeichneten Epoche angesehen wurden. Alternative Ansätze stellen das Imperium Romanum als unter den barbarischen Einfällen leidende, passiv-statische Größe terminologisch (und damit wiederum implizit auch konzeptionell) ins Zentrum, so vor allem die romanischen Sprachen: invasions barbares, invasioni barbariche, invasiones bárbaras; im Englischen, wo migration period und barbarian invasions synonym verwendet werden können, finden sich beide Konnotationen nebeneinander. Die konsequenteste Fokussierung der Wanderungen auf ‹Völker› bietet jedoch das Deutsche. Das ist kein Zufall.102 Seit dem späten 18. Jahrhundert verdichtete sich in Europa die Vorstellung von Völkern als festgefügten, kohärenten und überzeitlichen Einheiten. Mit der Ausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Volk, wie angedeutet, zum Fluchtpunkt der sich ausdifferenzierenden Nationen. Dies galt in besonderem Maße für Deutschland, wo die Rückbesinnung auf ein einstmals starkes, erfolgreiches und einheitlich agierendes Volk durch die verbreitete Unzufriedenheit über die gegenwärtigen Umstände, vor allem die fehlende nationale politische Einheit, eine besondere Intensität erhielt. Aus den Germanen der ‹Völkerwanderungszeit› und ihrer vermeintlichen Überwindung der römischen Zivilisation schöpften zahlreiche Zeitgenossen Zuversicht für ihre eigene Gegenwart – nicht zuletzt mit Blick auf die vielfach geforderte Überwindung der angeblich aus den Römern hervorgegangenen Franzosen, denen man lediglich eine Zivilisation im engeren technischen Sinne zugestand, während sich die Deutschen, die sich als direkte Nachkommen der Germanen begriffen, als die eigentlichen Träger einer Kultur sahen. Bereits im 16. Jahrhundert hatte der deutsche Humanist Beatus Rhenanus proklamiert: «Unser sind der Goten, Vandalen und Franken Heldentaten» (nostri enim sunt Gotthorum, Vandalorum Francorumque triumphi). In diesen Denkformen liegen die historischen Gründe für das besondere Interesse, das der ‹Völkerwanderung› in Deutschland während des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt; hier sind überdies die Ursachen für die Einengung der Perspektive auf ‹die Germanen› als zentrale Akteure (unter Ausblendung insbesondere der slawischen Gruppen) zu suchen; daraus wiederum erklären sich die bis heute vorherrschende zeitliche Eingrenzung der ‹Völker-
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wanderung› auf die Phase zwischen 375 (Beginn der gotisch-hunnischen Konfrontation) und 568 (Langobardeneinfall in Italien als letzter größerer ‹germanischer› Wanderzug) und der geographische Fokus auf den (post-)römischen Westen, den man weitaus stärker von ‹germanischen› Wanderungen betroffen sah als den Osten. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive besonders interessant ist schließlich die Konzeption der ‹Völkerwanderung› als eines scharfen Antagonismus zwischen Römern und Germanen, der bis heute Teile der Forschung beeinflusst, wie zum Beispiel an der Kontroverse um die Interpretation der Reihengräber deutlich wird. Treffend hat daher vor einigen Jahren der Althistoriker Uwe Walter festgehalten, dass die «Erforschung der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters […] 150 Jahre lang als Suche nach Wurzeln, Ursprüngen und materialisierten Vorgeschichten des Nationalen organisiert» war.103 Ermöglicht wurden diese Zugriffe auf die spätrömische bzw. frühmittelalterliche Geschichte durch die spezifische Konzeption eines Volkes, wie sie insbesondere in Romantik und Idealismus fortentwickelt und propagiert wurde. Man stellte sich Völker als kollektive Individuen vor, als Schicksalsgemeinschaften, deren Entstehung man in Form von Stammbäumen («Völkerfamilie») imaginierte und denen man jeweils einen eigenen ‹Volkscharakter› bzw. eine ‹Volksseele› zuwies, die sich über Jahrhunderte zurückverfolgen ließen und etwa in ‹Volksmärchen›, ‹Volksliedern›, ‹Volksrechten› oder ‹Volkssagen›, aber auch der ländlichen ‹Volkskultur› in ihrer vermeintlichen Ursprünglichkeit bewahrt erschienen. Ihrer Erkundung galt in Deutschland das Interesse der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden ‹deutschen (germanischen) Altertumskunde› – die Namen Jacob und Wilhelm Grimm stehen repräsentativ für viele –, in deren Dienst sich auch zahlreiche Vertreter historischer Disziplinen stellten. Kaum jemand bezweifelte ernsthaft, dass Völker als handelnde Kollektivindividuen auftreten konnten, denn man hielt ihre Existenz für naturgegeben und glaubte, scheinbar objektive Kriterien für ihre Definition aufweisen zu können: Neben einer gemeinsamen Abstammung der Einzelsubjekte zählten dazu die gemeinsame Sprache, ein Territorium («Urheimat»), bald auch eine gemeinsame Kultur und seit dem späteren 19. Jahrhundert eine zunehmend ins Biologistische abgleitende Vorstellung gemeinsamer ‹Rasse›, deren Auswüchse und Konsequenzen dann im 20. Jahrhundert in vollem Umfang zutage traten.104 Als handelnde Kollektivindividuen konnten sich die Völker untereinander verbünden oder bekämpfen, konnten sich besiegen und untergehen. Ein Volk vermochte aber auch in seiner Eigenschaft als geistige Größe durch schöpferische Leistungen hervorzutreten. Die Vorstellung eines begabten und beseelten ‹Volksgeistes› findet sich vielfach in intellektuellen Diskursen des 19. Jahrhunderts; sie wurde besonders von Johann Gottfried Herder (1744–1803), Johann
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Gottlieb Fichte (1762–1814) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) befördert und beeinflusste nicht nur Historiker und Archäologen, sondern findet sich auch in ganz anderen Bereichen, etwa in der Konzeption des ‹Kunstwerks der Zukunft› durch Richard Wagner (1813–1883), das wirkungsgeschichtlich von einiger Bedeutung ist. Wichtig ist für unseren Zusammenhang der Umstand, dass auch der ‹Volksgeist› als schöpferischer Impulsgeber innerhalb der vermeintlichen Geschichte eines Volkes als Konstante imaginiert werden konnte, so dass beispielsweise die poströmische Welt Mittel- und Westeuropas unvermittelt als eine Leistung der Deutschen in ihrer Frühzeit beschrieben werden konnte. Dem Stammbaummodell treu bleibend, sah dabei niemand größere Schwierigkeiten darin, unterschiedliche Verbände bzw. politische Einheiten wie die Franken oder Westgoten, aber auch die Ostgoten, Vandalen, Burgunder, Thüringer usw. als Abkömmlinge eines germanisch-deutschen Urvolkes zu beschreiben.105 Heute hat die Wissenschaft Vorstellungen dieser Art aufgegeben (wenngleich sie aktuell im politischen Diskurs wieder an Raum gewinnen). Völker gelten mittlerweile als soziale Gebilde, die im Verlauf der Zeit vielfältigen Veränderungen unterlagen und sich nicht mehr als kohärente Einheiten durch die Jahrhunderte verfolgen lassen. Völker müssen auch nicht mit Nationen übereinstimmen; moderne politische Grenzen stellen häufig ohnehin willkürliche Setzungen oder das Ergebnis situativer Konstellationen dar, und insbesondere in der gegenwärtigen Diskussion um die Zukunft der Nationalstaaten erweisen sich mögliche hintergründige Volkskonzeptionen vielfach als obsolet – auch wenn sie neuerdings in öffentlichen politischen Debatten wieder aufscheinen und damit ihre erstaunliche Beharrungskraft demonstrieren. In gleicher Weise ist offensichtlich, dass auch scheinbar objektive Kriterien wie Sprache, Kultur oder gar Abstammung keineswegs auf homogene Einheiten verweisen müssen, ganz im Gegenteil. Das bedeutet nicht, dass man Völker generell als reine Konstrukte ansehen muss, wie es von einigen Vertretern der Sozialwissenschaften gefordert, in der Ethnologie hingegen weithin abgelehnt wird. Aber die älteren Vorstellungen von Kohärenz, Ursprünglichkeit und Homogenität greifen nicht mehr – vor allem dann nicht, wenn der Blick um eine historische Tiefendimension erweitert wird. Und Warnungen, dass mit scheinbar harmlosen Kategorisierungsbemühungen, wie sie sich hinter der Anwendung der Begriffe ‹Ethnos› oder ‹Volk› verbergen, unbewusst Wahrnehmungsmuster und Denkformen unserer eigenen Zeit auf räumlich und zeitlich distante Gesellschaften übertragen werden, verschaffen sich zunehmend Gehör.106 Angesichts dieses Befundes bleibt zu klären, wie man überhaupt terminologisch und konzeptionell jene Einheiten erfassen und definieren kann, die uns in
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der zeitgenössischen Überlieferung als gens, natio oder populus, als ethnos, exercitus oder civitas entgegentreten. Diese Frage hat die Forschung der letzten Jahrzehnte intensiv umgetrieben, und sie ist in der Tat nicht leicht zu beantworten. Das zentrale Problem beruht darin, dass sich seit der bahnbrechenden Untersuchung von Reinhard Wenskus über «Stammesbildung und Verfassung» zwar die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass zeitgenössische Gruppen und Verbände sich vorwiegend über subjektive Zuschreibungsprozesse definiert haben, dass aber offenbar unterschiedliche und vielfach variable Kriterien existiert haben müssen, die solche Zuschreibungen beförderten oder mitunter auch behinderten. Aufgrund der Geschmeidigkeit und offenbar situativen Flexibilität dieser Kriterien ist es leider nicht möglich, sie einfach zu einem Katalog zusammenzufassen und für jeden einzelnen Verband abzuarbeiten. Denn sie sind gerade das nicht, was während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stets als Gewissheit bei der Erfassung von Völkern gegolten hatte: objektiv. Untersucht man jedenfalls die Tragfähigkeit von Kriterien, denen zumindest auf den ersten Blick ein gewisses Unterscheidungspotential innezuwohnen scheint, so zeigt sich einmal mehr, wie komplex und fluide die Strukturen, mit denen wir konfrontiert werden, sich gestalteten. Jene Merkmale, denen wir aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts besondere Relevanz zumessen würden, erfüllen diese Erwartungen nämlich ausgerechnet dann nicht, wenn man sie in einem Praxistest auf die Spätantike anzuwenden versucht.107 Das gilt zum einen für den Faktor Sprache. Zwar könnte man zunächst einmal annehmen, dass unterschiedliche Kollektive sich aufgrund unterschiedlicher Sprachen voneinander abgrenzten und dadurch für uns leichter greifbar wären; aber die Evidenz vermag derartige Hypothesen nicht annähernd zu stützen. Nicht einmal eine grundgelehrte Gestalt wie Isidor von Sevilla vermochte die Sprache als vorrangiges Distinktionsmerkmal unterschiedlicher gentes zu konzeptualisieren, sondern in jenen Passagen seines Werks, die von ‹Völkern› und Sprachen handeln, verwickelt er sich in heillose Widersprüche. Erst seit dem späten 8. Jahrhundert können wir allmählich ein zeitgenössisches Bewusstsein für eine Sprachverwandtschaft ‹germanischer› politischer Einheiten greifen. Davor scheint Sprache als Kriterium zur Identifikation spezifischer Gruppen keine besondere Rolle gespielt zu haben – möglicherweise deshalb, weil Latein als übergreifendes Kommunikationsmedium weiterhin eine zu große Bedeutung besaß. Ähnlich steht es mit anderen möglichen Kriterien; Walter Pohl hat sie durchgearbeitet und gelangt dabei zu einem wenig optimistischen Fazit: Weder Bewaffnung und Kampfesweisen noch Kleidung, weder Frisuren noch andere körperliche Merkmale lassen sich als valide Marker heranziehen. Immer wieder wird zwar in den Quellen mit entsprechenden Motiven gespielt, aber für uns als Historiker bieten sie
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keine hinreichende Trennschärfe. Aus dem uns vorliegenden schriftlichen und archäologischen Material lassen sich daher keine stabilen und vor allem keine allgemeingültigen Kriterien für systematische Definitionen und Abgrenzungen gewinnen. Auch wenn im Einzelfall einmal eine Differenzierung aufgrund besonderer Konstellationen funktionieren mag: Objektive Kriterien zur Definition fest umgrenzter Verbände, die wir von außen auf das Material anwenden könnten, besitzen wir dennoch nicht.108 Das bedeutet allerdings nicht, dass wir verzweifelt die Waffen strecken müssten. Vielmehr verschiebt sich lediglich unser Fragehorizont gegenüber den traditionellen Zugriffen auf die ‹Völkerwanderung› aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wenn das Axiom ursprünglicher, naturgegebener Verbände aufgegeben und zugleich der instabile, vielfach fließende Charakter der in den Quellen sichtbaren Gruppen akzeptiert wird, dann gewinnt die Handlungsebene der historischen Akteure eine zentrale Bedeutung: Unsere Aufgabe besteht dann darin zu fragen, warum ein Individuum oder eine Personengruppe in bestimmten Situationen als Römer, Goten, Vandalen, Hunnen, Slawen usw. agieren konnte und welche Voraussetzungen dafür jeweils gegeben sein mussten. Im frühen 7. Jahrhundert (nach 606) etwa verstarb in Italien der Krieger Droctulf, dessen Lebensweg wir aus Andeutungen bei Paulus Diaconus und aus seiner Grabinschrift verfolgen können. Ursprünglich Suebe bzw. Alemanne, wuchs Droctulf bei den Langobarden auf und erreichte dort sogar die hohe Stellung eines dux (‹Herzogs›); dennoch erklärte er sich schließlich für die römische Seite und kämpfte gegen Langobarden und Awaren. Denken wir auch noch einmal an den griechischrömischen Hunnen, von dem Priskos berichtet: Er verweist uns zum einen auf den inhomogenen, multiethnischen Charakter des Hunnenverbandes und zwingt uns zum anderen dazu, darüber nachzudenken, warum Zeitgenossen es zumindest für denkbar hielten, dass ein ‹Grieche› bzw. ‹Römer› plötzlich ‹Hunne› werden konnte (und umgekehrt!), und welche Rahmenbedingungen ein derartiges Verhalten begünstigten.109 Gleichzeitig müssen wir uns der Frage widmen, wie die Verbände und Gemeinschaften, mit denen uns die Quellen konfrontieren, eigentlich entstanden sind und wodurch sie zumindest eine relative Stabilität erlangten. Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang Migration oder Sesshaftigkeit? Welche Bedeutung besaßen Kontakte zum Imperium Romanum oder Erfahrungen, die man im römischen Kontext sammeln konnte? Was haben wir überhaupt unter einem römischen Kontext zu verstehen? Waren alle ‹Römer› wirklich Römer? Konkret auf einen Einzelfall angewendet: Welche besonderen historischen Konstellationen haben etwa zur Ausformung und Stabilität jenes Verbandes geführt, mit dem Alarich im Jahr 410 Rom zu erobern vermochte? Wir können sicherlich
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nicht davon ausgehen, dass es sich dabei um ein gotisches ‹Volk› handelte, das auf eine jahrhundertelange Geschichte hätte zurückblicken können; und dennoch überdauerte dieser Verband den plötzlichen Tod seiner unumstrittenen Führungsfigur noch im Jahr 410, während etwa die von Radagaisus, Stilicho, Aetius oder auch Attila geleiteten Gruppen bzw. Herrschaftsgebilde nach deren Ende jeweils auseinanderfielen. Warum? Mit der Abkehr vom Postulat naturgegebener ‹Völker› bzw. sogenannter primordialer Gemeinschaften setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich ein alternatives Modell durch, das die unterschiedlichen Verbände, die für die Phase zwischen Spätantike und Frühmittelalter dokumentiert sind, nicht mehr als Manifestationen ursprünglicher, gewachsener Einheiten interpretierte, sondern als heterogene Gebilde, die vornehmlich durch subjektive Überzeugungen ihrer Mitglieder zusammengehalten wurden. Dieser Ansatz sollte vor allem der Beobachtung Rechnung tragen, dass ‹völkerwanderungszeitliche› Gruppen ein hohes Maß an Instabilität und Heterogenität aufweisen. Sie sind gekennzeichnet durch ständige Zuwanderungs- und Abspaltungsprozesse, d. h. durch eine extrem hohe innere Dynamik, die zumindest teilweise eingehegt werden musste, so denn der Fortbestand des Verbandes gewährleistet werden sollte. Derartige Stabilisierungsleistungen setzten offenbar an der Selbstzuordnung der Angehörigen an und wurden durch bestimmte Prozesse befördert, die Reinhard Wenskus noch «Stammesbildung» genannt hatte, für die sich aber bereits seit einigen Jahrzehnten der nicht weniger unglückliche Terminus ‹Ethnogenese› (‹Ausbildung eines Volkes›) eingebürgert hat – freilich ist es aber keineswegs so, dass ein ‹Volk› einen Formierungsprozess nur bis zu einem bestimmten Punkt durchlaufen und danach stabil bleiben würde. Das in dieser Weise begrifflich problematische und Missverständnisse provozierende Ethnogenese-Modell ist seit den 1970er Jahren besonders von der sogenannten Wiener Schule um Herwig Wolfram und seinen Schüler Walter Pohl fortentwickelt und ausdifferenziert worden. Es ermöglicht uns, die komplexen Prozesse der Herausbildung neuer Gemeinschaften aus gänzlich heterogenen Zusammenhängen heraus ebenso zu beschreiben wie ihren Zerfall, also das plötzliche Verschwinden einer Gruppe aus der Überlieferung. Es hat uns überdies mittlerweile veranschaulicht, dass der von allen geteilte Glaube an eine gemeinsame Herkunft, der die Mitglieder der betreffenden Verbände zusammengehalten haben muss, durch stetige Aushandlungsprozesse immer wieder neu bestätigt werden musste. Ein halbwegs stabiles Zentrum fand er – zumindest der Theorie zufolge – lediglich in einer kleinen Gruppe von Personen, die in der Forschung lange Zeit als ‹Traditionskern› bezeichnet wurden und die fundierende Ursprungsgeschichten, heroische Leistungen des Gesamtverbandes in der Vergangenheit, Innovationen in Kult und Religion, Wanderungsberichte (also die
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origines gentium) usw. von Generation zu Generation tradierten, bis diese schließlich aufgezeichnet wurden. Um diesen Traditionskern herum versammelten sich in einem permanenten dynamischen Prozess fortwährend neue Personengruppen, während andere sich wiederum ablösen konnten, so dass die Struktur der Verbände umso wandelbarer war, je weiter man vom Kern zur Peripherie gelangte. Dennoch ist im Verlauf der ‹Völkerwanderung› mehrfach zu beobachten, dass es einigen Einheiten gelang, ihre Strukturen so weit zu verfestigen, dass zumindest ein längerfristiger Bestand gesichert werden konnte. Auf diese Stationen der Ethnogenese hat man größere Aufmerksamkeit gerichtet, denn sie konnten recht vielfältig sein: Königserhebungen, Niederlassungsprozesse, aber auch besonders nachhaltige militärische Auseinandersetzungen, ferner die Intensivierung der Kontakte zum Imperium Romanum, die Einbindung eines Verbandes und seiner Anführer in die römische Militärhierarchie – um nur einige zu nennen. Wichtig ist vor allem, dass entsprechende Prozesse sich weitgehend im Kontakt mit dem Römischen Reich und seinen Vertretern vollzogen.110 Gerade die Frage jedoch, welche Bedeutung man Rom für die Entstehung und Transformation ‹völkerwanderungszeitlicher› Verbände zumessen soll und in welcher Weise auch das Imperium Romanum selbst vergleichbaren Veränderungsprozessen unterlag, bildet einen zentralen Angelpunkt der Kritiker des EthnogeneseParadigmas, die sich vor allem in der angloamerikanischen Forschung finden. Sie verweisen nicht nur auf Probleme im Umgang mit mündlichen Traditionen zur Analyse der Ethnogeneseprozesse, indem sie die entsprechenden Hauptquellen – die origo gentis-Literatur – anders auffassen als die Vertreter der ‹Wiener Schule›, sondern sie kritisieren insbesondere auch das Konzept des ‹Traditionskerns› als übertriebene Fokussierung auf Eliten und vermuten dahinter eine autoritätsorientierte Ideologie, die Kontinuitäten zur germanophilen Forschung der Zeit vor 1945 impliziere; von Letzterer grenzen sie sich dadurch ab, dass sie die Rolle Roms bei der Ausformung ‹völkerwanderungszeitlicher› Verbände mit besonderem Nachdruck betonen. Berühmtheit hat in diesem Zusammenhang ausgerechnet die Aussage eines ansonsten von der ‹Wiener Schule› maßgeblich beeinflussten amerikanischen Mediävisten, Patrick Geary, erlangt, der konstatierte: «Die germanische Welt war vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des politischen und militärischen Genies der Römer».111 Die vielfältigen Probleme im Umgang mit origo gentis-Texten, auf die sich die Kritiker beziehen, haben wir bereits erörtert; sie müssen an dieser Stelle nicht mehr zur Sprache kommen. Hinsichtlich des ‹Traditionskerns› lässt sich seit einiger Zeit eine Tendenz unter Vertretern der ‹Wiener Schule› beobachten, diesen nicht mehr ganz so eng auf eine Führungsgruppe hin zu definieren, sondern stärker auf fluide Gruppen, Netzwerke und lose Zusammenschlüsse, jedenfalls
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größere Personenkreise auszuweiten; wahrscheinlich könnte man auf ihn sogar ganz verzichten, da er ohnehin stets nur eine vermutete, aber in seiner tatsächlichen Existenz nie bestätigte Größe darstellte. Die Rolle Roms für die Ausformung einzelner Verbände gestaltet sich hingegen ausgesprochen komplex und lässt sich nicht in wenigen Worten umschreiben. Hier wird im Folgenden stets der jeweilige Einzelfall zu analysieren sein. Nur nebenbei sei aber angemerkt, dass die Vertreter der ‹Wiener Schule› diesen Aspekt, anders als noch Wenskus, keineswegs vernachlässigt haben – ganz im Gegenteil!112 Einige weitere aktuell diskutierte Möglichkeiten, auf die sogenannten völkerwanderungszeitlichen Verbände zuzugreifen, seien schließlich noch kurz angedeutet, um das Spektrum des Forschungsdiskurses ein wenig auszuleuchten. Der britische Mediävist Peter Heather sieht die wandernden Gebilde der Spätantike und des Frühmittelalters, namentlich die Goten, von einer breiten Schicht freier Bauern und Krieger getragen, die ihre Identität und damit auch die Grundlage ihres Zusammenhaltes ganz wesentlich aus ihrer Zugehörigkeit zu einem Stammesverband («tribal group») mit fester Ordnung gewonnen hätten; nicht nur überschaubare Eliten, sondern die Angehörigen der Gemeinschaft insgesamt hätten dabei die Substanz der Gruppe gebildet und auch über weite Wanderungen hin aufrechterhalten; vergleichende Betrachtungen etwa auch der Araber werden dabei allerdings nicht angestellt.113 Während in diesem Konzept, das wegen seiner Nähe zu den wandernden Stämmen der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts jüngst als «neoromantisch» bezeichnet wurde, einzelnen Gruppen ein weitaus höherer Grad an Homogenität und Kohäsion zugestanden wird als in den Arbeiten der ‹Wiener Schule› und gleichzeitig dem Aspekt der Migration eine besondere Bedeutung zukommt, schlägt der bereits erwähnte amerikanische Historiker Michael Kulikowski andere Wege ein: Für ihn werden nichtrömische Gruppierungen aus dem Barbaricum überhaupt erst in dem Moment für uns sichtbar, in dem sie in Kontakt mit der römischen Welt treten – und das nicht ohne Grund. Denn es sei das Imperium Romanum selbst gewesen, das diese Verbände allmählich ausgeformt habe, indem es immer wieder in die Verhältnisse innerhalb des Barbaricums eingegriffen habe, um die eigenen Grenzen zu stabilisieren, um den Austausch zu kontrollieren und Soldaten anzuwerben. Durch gezielte Ausgabe von Geschenken an einzelne Barbarenführer, durch militärische Interventionen und diplomatische Initiativen habe Rom derart nachhaltig in die innergesellschaftlichen Strukturen der Gruppierungen jenseits des Limes eingegriffen, dass es dort zu unkontrollierbaren sozialen Transformationsprozessen und zur neuen Ausbildung differenzierterer Hierarchien gekommen sei, die Rom erst im Moment der eigenen Schwäche so recht zur Kenntnis genommen habe: während der Turbulenzen im
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3. Jahrhundert, die von den (durch Rom selbst) neu strukturierten Verbänden zu gefährlichen Attacken auf das Reichsgebiet genutzt worden seien. Dieser Ansatz, der letztlich im Römischen Reich den zentralen Akteur bei der Ausgestaltung nichtrömischer Verbände sieht und folgerichtig aus dessen Perspektive argumentiert, wurde von Guy Halsall noch weiter zugespitzt, der die Barbaren ebenfalls als römische Schöpfung betrachtet und dabei so weit geht, das bisher etablierte Ursache-Wirkung-Muster umzukehren: Das Ende des Römischen Reiches sei nicht eine Folge der ‹Völkerwanderung› gewesen, sondern deren Voraussetzung. Die römischen Eliten hätten den desolaten Zustand des Reiches viel zu spät erkannt, hätten sich an altvertraute Strukturen geklammert, die längst überholt gewesen seien, und dadurch gewissermaßen erst die ‹Völkerwanderung› aktiviert. Das Imperium Romanum habe daher gleichsam versehentlich Selbstmord begangen.114 Geradezu bodenständig nimmt sich gegenüber dieser ausgeklügelten These ein weiterer Ansatz aus, der die ‹völkerwanderungszeitlichen› Einheiten, die uns in den Quellen begegnen, vornehmlich als Krieger- oder Heeresverbände interpretiert. Dies hat den Charme, dass die ebenso geläufige wie – mit Blick auf den Alltag – wohl weitgehend irreführende Trennung zwischen ‹Römern› und ‹Barbaren› explizit hinterfragt werden kann, weil die Heere auf beiden Seiten in der Regel heterogen zusammengesetzt waren. Gleichzeitig wirft dieser Ansatz in besonderem Maße die Frage nach dem Übergangspunkt vom Heereszug zum politischen Verband auf. Letzteres wiederum könnte sich allerdings auch als eine rein akademische Problemstellung entpuppen, die allzu sehr aus einer modernen Perspektive geschöpft ist. Denn für Zeitgenossen bestand wahrscheinlich gar kein größerer Unterschied zwischen wandernden Verbänden und umherstreifenden Armeen, die selbstverständlich auch von Frauen, Kindern, zahlreichen weiteren Personen, die nicht unter Waffen stehen mussten, und größeren Mengen an Nutztieren begleitet wurden. Dieser Umstand spiegelt sich auch in den Begrifflichkeiten, die wir in unseren Quellen antreffen: So wie populus ebenso ‹Volk› wie ‹Krieger› bedeuten kann, steht exercitus für ‹Heer› oder ‹Volk›.115 Schließlich besteht auch noch das Angebot, vermeintliche ethnische Zugehörigkeiten als rein ideologische Konstrukte, die innerhalb einer Gesellschaft frei wählbar waren, aufzufassen – ein Ansatz, für den der Name Patrick Amory steht, der m. E. aber nicht zu überzeugen vermag, weil er (1.) die Schwierigkeiten, mehrfache Identitätswechsel glaubhaft und erfolgreich zu vollziehen, unterschätzt und (2.) nicht erklären kann, warum die Identifikation mit bestimmten Gruppen und die Abgrenzung von anderen häufig als Motivationshintergrund auf der Handlungsebene erkennbar sind. Man denke dabei nur an unser Beispiel Stilicho (s. o.) oder – noch eindrücklicher – an die umgehende Beseitigung aller im Osten des
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Imperium Romanum stationierten gotischen Armeeangehörigen nach der römischen Niederlage gegen die Goten bei Adrianopel im Jahr 378.116 Insgesamt scheint mir der Ansatz der ‹Wiener Schule› in seiner aktuellen, durch die Reaktionen auf zurückliegende Kritik zusätzlich ausdifferenzierten Form weiterhin ein solides Fundament bereitzustellen, um in einem ersten Schritt auf die vielfältige Landschaft der spätantiken und frühmittelalterlichen Gemeinschaften zuzugreifen. Allerdings wird dies im Folgenden in einer möglichst offenen Form geschehen, die es mir ermöglichen soll, vom Ethnizitäts-Paradigma ein wenig zu abstrahieren, indem ich auch Anregungen konkurrierender Ansätze aufgreife. Die grundlegende, im Kern schon von Cassiodor angedeutete Einsicht, dass ‹völkerwanderungszeitliche› Gruppen und Verbände ihre Kohäsion vornehmlich aus subjektiven Zuschreibungsprozessen bezogen, findet in diesem Buch ihren Niederschlag darin, dass ich im allgemeineren Sinne von ‹Identitätsgruppen› ausgehen werde. Das bietet den Vorteil, neben dem Faktor Ethnizität auch andere Aspekte konkreter in den Blick nehmen zu können, die für Zusammensetzung und Fortexistenz, für Zerfall oder gar Auflösung eines Verbandes ebenfalls von Bedeutung gewesen sein könnten. Denn die ethnische Identität repräsentiert lediglich ein einzelnes Element innerhalb eines umfangreicheren Angebots von Identitäten, das den Zeitgenossen zur Verfügung stand.117 Erinnern wir uns, um diesen Sachverhalt ein wenig konkreter zu fassen, noch einmal an die Schwierigkeiten, die Orosius offenbarte, als es für ihn darum ging, mit den Barbaren umzugehen: Im Zusammenhang der Eroberung Roms 410 konnte er sie einerseits als Beschützer der Stadt feiern, andererseits aber auch voller Verachtung als Feinde brandmarken, deren gegenseitige Ausrottung ihm Anlass zu frenetischem Jubel gab. Derartigen Inkonsistenzen begegnen wir verschiedentlich in den spätantiken Zeugnissen (es sei an Sidonius Apollinaris erinnert). Hier kollidieren traditionelle diskursive Formationen sichtbar mit den jeweiligen Erfahrungsräumen der Autoren, zugleich aber können wir an diesen Beispielen nachvollziehen, in welcher Weise multiple und teilweise ganz widersprüchliche Identitäten einzelner Akteure miteinander konkurrierten oder auch schlicht jeweils situativ aktiviert werden konnten. Orosius selbst hatte unter Barbareninvasionen in Spanien massiv gelitten, und trotz all seiner feinsinnigen Umdeutungsbemühungen dürfte auch er über die Geschehnisse des Jahres 410 in Rom letztlich nicht allzu begeistert gewesen sein. In seiner römischen und regional-spanischen Identität war er also durch die von ihm sublimierten Ereignisse getroffen, ja traumatisiert worden; umso eifriger versuchte er seiner Identität als christlicher Geschichtsapologet und kosmopolitischer Vertreter eines Imperium Romanum, das sich besonders durch seine Integrationskraft auszeichnete, Geltung zu verschaffen: Wohin man sich im Reich auch
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wende, so seine Behauptung, man sei «unter Römern ein Römer, unter Christen ein Christ, unter Menschen ein Mensch» (inter Romanos […] Romanus, inter Christianos Christianus, inter homines homo); die ganze Erde lasse sich als patria ansehen. Bei Sidonius Apollinaris wiederum können wir deutlich die Konkurrenz einer römischen, auf das Reich hin ausgerichteten, gegenüber einer regional auf Gallien bzw. die Auvergne bezogenen senatorischen Identität erkennen. Derartige Fälle sind keineswegs ein Spezifikum der Spätantike bzw. des Frühmittelalters; aufgrund der besonderen äußeren Umstände treten sie in dieser Phase vielleicht lediglich in besonderer Schärfe hervor, der zugrunde liegende Sachverhalt, die Ausformung multipler, situativ aktivierbarer Identitäten, gilt jedoch universell und wurde mit Blick auf das Paradigma ‹Wanderung› gerade in der jüngeren Migrationsforschung nachdrücklich akzentuiert.118 Jede Person besitzt unterschiedliche Identitäten, die je nach Situation relevant sein können: als Mitglied einer Familie oder Siedlungsgemeinschaft, im engeren Umkreis der Freunde und Bekannten, im beruflichen Umfeld, religiös, kulturell, sexuell usw. Die ethnische Identität stellt dabei nur eine von zahlreichen Möglichkeiten dar und lässt sich ihrerseits wiederum in ganz unterschiedlichen Facetten aktualisieren und symbolisch demonstrieren. Ob und in welcher Weise sie Bedeutung gewinnt oder gar handlungsleitend wird, hängt von der jeweiligen äußeren Konstellation ab. Dass die Zeitgenossen der ‹Völkerwanderung› in dieser Hinsicht besonders anfällig gewesen sein sollen, ist zunächst einmal nur eine Vermutung, die im Deutschen bereits durch die Begrifflichkeit, mit der wir auf diesen Zeitraum zugreifen, suggeriert wird, die aber empirisch über Einzelproben verifiziert oder widerlegt werden müsste. Familie, Religion, die Rolle innerhalb des jeweiligen Gemeinwesens usw. dürften in weitaus stärkerem Maße handlungsleitend gewirkt haben. Im Römischen Reich stellte jedenfalls das Aufeinandertreffen mehrerer Ethnien zunächst einmal keine außergewöhnliche Situation dar – zumal in den größeren Städten. Als der Gotenführer Athanarich unter Theodosius I. nach Konstantinopel gelangte, soll er unter anderem «die Menschen (populi) verschiedener Herkunft (diversarum gentium), die wie eine Woge aus verschiedenen Erdteilen in einem einzigen Becken zusammensprudelten», bestaunt haben. Doch nicht nur das Zusammenleben in den Metropolen gestaltete sich vielschichtig. Das Imperium Romanum insgesamt war alles andere als homogen – nicht erst seit der Spätantike. Gerade an den Rändern des Reiches, speziell in den Grenzregionen, war es offenbar ganz unproblematisch, dass selbst einzelne Personen verschiedene ethnisch konnotierte Identitäten aufwiesen. Das Bildprogramm eines Sarkophages aus Palmyra (2. Viertel des 3. Jahrhunderts) bringt diesen Sachverhalt anschaulich zur Geltung. Es zeigt den Verstorbenen einmal liegend in parthischer Kleidung (Darstellung auf dem Deckel), ein ande-
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res Mal stehend in römischer Toga beim Opfer (Frontseite) und schließlich auch als palmyrenischen Priester.119 Identitäten lassen sich also mit unterschiedlichen Rollen vergleichen, die jedes Individuum im Kontext der sozialen Zusammenhänge, in denen es gerade agiert, zu übernehmen hat. Auch Kollektive können Identitäten besitzen, und auch in diesem Fall ist die ethnische nur eine von verschiedenen möglichen Varianten (beispielsweise neben religiösen, kulturellen usw.). Gruppenidentitäten konstituieren sich, wie bereits mehrfach angedeutet, vornehmlich aus der Zusammengehörigkeitsüberzeugung ihrer Mitglieder heraus. Diese gestaltet sich in einem komplexen Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung, bei dem es darum geht, die eine Gruppe über die Selektion vermeintlich gemeinsamer Merkmale von anderen Gruppen abzugrenzen. Inklusions- und Exklusionsprozesse stellen für die Konstituierung von Kollektiven also ein zentrales Moment dar – insbesondere gegenüber benachbarten Gruppen, mit denen man häufig eine größere Anzahl von Merkmalen teilt, die dann ausgeblendet werden müssen, um die eigene Identität zu stärken. Nur wenn ‹die Anderen› existieren, vermag auch der eigene Verband in hinreichender Konturierung hervorzutreten, und je klarer er sich von anderen abzusetzen vermag, desto leichter werden Unterschiede im Innern überdeckt. In diesem Verhaltensmuster, das unsere Quellen vielfältig dokumentieren, mag eine der Ursachen dafür liegen, dass die ‹Völkerwanderung› häufig als scharfe Konfrontation von ‹Römern› und ‹Barbaren› wahrgenommen wird. Die soziale Realität dürfte sich hingegen weitaus komplexer ausgestaltet haben. Wir wissen, dass die meisten uns bekannten Gruppen ausgesprochen heterogen und vielschichtig waren; die Gruppenidentität der Mitglieder nahm vom Zentrum zur Peripherie hin zumeist ab, so dass auch Übertritte zu Nachbargruppen problemlos möglich waren – ein typisches Phänomen in der Spätantike und generell eine Charakteristik von ‹Grenzgesellschaften›, wie wir sie auch an der Peripherie des Imperium Romanum finden. Wenn einige Kollektive dennoch in unserem Material in scharfer Abgrenzung gegenüber anderen erscheinen (so etwa die Goten gegenüber den Römern im Ostgotenreich), dann spiegeln sich darin häufig zunächst einmal Mechanismen zur Konstruktion von Identitäten; die Frage nach der sozialen Realität muss separat davon gestellt werden.120 Neben dem Element ‹Völker› beinhaltet auch der zweite Bestandteil unseres Kompositbegriffs, die ‹Wanderung›, ein Assoziationspotential, das vor allem im Lichte der neueren Migrationsforschung einiger Anmerkungen bedarf. Erst vor kurzem wurde darauf hingewiesen, dass landläufige Vorstellungen von Migration in der Regel den Nationalstaat voraussetzen – mit anderen Worten: Unter Wanderungen stellt man sich gemeinhin den Übertritt von einem Staat in einen anderen vor. Derartige Konzeptionen greifen für die Antike, die keine Nationalstaaten
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im modernen Sinne kennt, natürlich nicht. Dennoch weisen antike Vorstellungen von Migration erstaunliche Gemeinsamkeiten mit jenen Assoziationen auf, die man insbesondere seit dem 19. Jahrhundert häufig antrifft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass man bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts große Mühe damit hatte, komplexe Ethnogeneseprozesse angemessen zu beschreiben. Stattdessen wurden Kategorien bemüht, die ebenso luzide wie einfach und schematisch sind. So trifft man im Altertum vielfach auf die Antithese Autochthonie versus Einwanderung. Ebenso wie einige Identitätsgruppen – so etwa die Athener – stolz auf ihre Autochthonie waren, definierten sich andere – wie Spartaner oder Römer – über ausgeklügelte Einwanderungsgeschichten, die weit in die mythische Zeit zurückverlegt wurden (Heraklidensage, Aeneassage). Schon antiken Zeitgenossen stand also das Paradigma der Migration als Erklärungsmuster für die Entstehung, aber auch den Untergang größerer Identitätsgruppen zur Verfügung. Als später «die sesshaften Gesellschaften des 19. Jahrhunderts […] sich ihrer mobilen Ursprünge» versicherten, war man nur allzu gern bereit, dieses Muster aufzugreifen, und rahmte das Altertum als vermeintlich statische Einheit in zwei große Wanderbewegungen ein, die man gleichsam als Übergänge zu den Epochen davor und danach konstruierte: die sogenannte Dorische Wanderung (angesetzt um 1200 v. Chr.) an seinem Beginn und die ‹Völkerwanderung› am Ende. Rassistische Überformungen des Denkens im späteren 19. Jahrhundert bedingten dann einen verstärkten Rekurs auf ein weiteres schon in der Antike diskutiertes Thema: die Frage nach den ‹vermischten› Völkern, die unter anderem Tacitus in zwei berühmten und von einer fatalen Wirkungsgeschichte gezeichneten Passagen mit Blick auf die Germanen aufgebracht hatte. Alternativ zur ‹Vermischung›, die die Römer für sich selbst in Anspruch nahmen, kannte man im Altertum seit Herodot die Domino-Theorie: Volk A setzt sich in Bewegung und verdrängt Volk B, das ausweichen muss und dadurch Volk C verschiebt usw. Ammian, unser Kronzeuge für den Beginn der ‹Völkerwanderung› (in der klassischen Konzeption), imaginierte in exakt dieser Weise die Ankunft der Hunnen in Europa. Über Jahrhunderte hin ist man dieser simplen Vorstellung gefolgt, an der die Forschung inzwischen allerdings erhebliche Zweifel anmeldet.121 Migration und Mobilität erscheinen also seit der Antike gleichsam als Chiffren, um komplexe gesellschaftliche Dynamiken zu umschreiben, zu deren genauerer Analyse die Kategorienbildung im Altertum (und auch später) noch nicht ausreichte. Insofern ist Vorsicht geboten, wenn es darum geht, sich mit zeitgenössischen Wanderungsbeschreibungen auseinanderzusetzen. Häufig verbergen sich dahinter ganz andere Prozesse, die lediglich in ein stereotypes Erklärungsraster eingepasst worden sind. Das bedeutet nicht, dass die Mitlebenden nicht auch präzise Beobachtungen festgehalten hätten. So vermochte etwa der im Jahr 41 von
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
Kaiser Claudius nach Korsika verbannte Philosoph Seneca, als er seine Mutter Helvia über sein trauriges Schicksal hinwegzutrösten versuchte, einen durchaus zutreffenden Überblick über die Gründe zu geben, aus denen einzelne Gruppen sich auf Wanderschaft begeben konnten:122 Du wirst sehen, dass Stämme (gentes) und ganze Völker (populosque universos) sich eine neue Heimat suchten. Was sollen inmitten von Barbarenländern griechische Ansiedlungen? Was unter Indern und Persern die makedonische Sprache? Das Skythenland und jenes ganze Gebiet der wilden und unbändigen Völker kann sich hellenischer Städte rühmen, die an der Küste des Schwarzen Meeres errichtet wurden. Nicht der grimmige ewige Winter, nicht das Wesen der Menschen, das gleich dem Klima abstoßend ist, hielten die Leute ab, ihren Wohnsitz zu wechseln. Athener gibt es in Kleinasien eine Menge. Milet hat die Bevölkerung von 75 Städten in die Ferne entsandt. Die ganze Flanke Italiens, die das Tyrrhenische Meer bespült, war einst Großgriechenland! Der Etrusker nimmt Kleinasien für sich in Anspruch; Tyrier siedeln in Afrika, in Spanien Karthager; Griechen sind in Gallien eingedrungen, ins Land der Griechen Gallier. Die Pyrenäen konnten den Durchmarsch der Germanen nicht aufhalten – durch weglose, durch unbekannte Gegenden zogen Menschen ganz unbekümmert. Ihre Kinder und Frauen und hochbetagten Eltern schleppten sie mit. Die einen Völker hatten auf langer Irrfahrt schwer zu leiden und suchten sich ihren Wohnsitz nicht nach reiflicher Überlegung aus, sondern nahmen in ihrer Erschöpfung den ersten besten; andere verschafften sich mit den Waffen Gastrecht in fremdem Land. Manche verschlang auf ihrem Weg ins Unbekannte das Meer, manche siedelten sich da an, wo sie der Mangel an allem Nötigen stranden ließ. Sie hatten auch nicht alle denselben Grund, eine Heimstatt aufzugeben und zu suchen: Die einen stieß Zerstörung ihrer Städte, wenn sie den Schwertern der Feinde entronnen waren, in die Fremde, ihres Eigentums beraubt, andere vertrieb innerer Zwist, wieder andere ließ allzu großer Bevölkerungsüberschuss fortziehen, um den Druck zu mildern, andere zwangen eine Seuche oder häufige Erdbeben oder irgendwelche unerträglichen Mängel eines kargen Bodens zur Flucht; manche verführte auch die Kunde von einer fruchtbaren, über die Maßen gepriesenen Küste. Die einen riefen diese, die anderen jene Gründe aus ihrer Heimat fort; das jedenfalls ist klar, dass nichts an eben dem Ort blieb, an dem es entstand. Ununterbrochen zieht die Menschheit hin und her. Jeden Tag verändert sich etwas in dieser weiten Welt. Die Grundsteine neuer Städte werden gelegt, neue Nationen (nova gentium nomina) entstehen, weil ältere ausgerottet oder genötigt wurden, sich einer mächtigeren anzuschließen.
Krieg und Bürgerkrieg, demographische Probleme, Katastrophen, Hungerkrisen und die Anreize, die von wohlhabenden Gemeinschaften ausgehen, werden hier präzise als Ursachen für Migration benannt. Und doch kann sich Seneca – sicherlich auch aufgrund seines literarischen Anliegens in der Trostschrift – letztlich
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nicht aus dem Korsett der Wanderung als eines universalen Erklärungsmusters, ja einer conditio humana, befreien («Ununterbrochen zieht die Menschheit hin und her»). Aus heutiger Perspektive würde man ihm wohl eine fehlende Differenzierung zwischen Mobilität und Migration vorwerfen. Während Mobilität zunächst einmal auf einen hohen Grad innergesellschaftlicher Dynamik verweist und damit auch eine grundsätzliche Disposition zur möglichen Wanderung beinhaltet, handelt es sich bei der Migration um eine konkrete Ausformung in den Raum hinein, d. h. eine Unterkategorie der Mobilität. Unter Migration versteht man aktuell «die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen».123 Dabei geht es mittlerweile nicht mehr nur darum, den Prozess der Wanderung selbst und den Moment der Ankunft an einem bestimmten Ort in den Blick zu nehmen, sondern Migration als «ganzheitliche[n] Entwicklungs- und Erfahrungszusammenhang» zu erfassen. Dazu zählen auch die Entstehung von Wanderbereitschaft in den Ausgangsgesellschaften und ihre Rahmenbedingungen (häufig mit einem eng begrenzten, regionalen oder gar lokalen Fokus), die Identifikation von Wanderungssystemen (d. h. die Abwanderung einer größeren Anzahl von Menschen aus einem fest definierten geographischen Raum in einen anderen über einen längeren Zeitraum hin) und besonderen Formen von Kettenmigration (d. h. größere Wanderungsbewegungen, die durch sogenannte Pioniermigranten eingeleitet worden sind und allmählich deren Familien, Vertraute und Bekannte erfassen), die Auswahl der Zielorte (die offenbar vor allem über Migrationsnetzwerke, d. h. durch Kontakte zu früheren Auswanderern erfolgte), die konkreten, zumeist nur als schwer auszudifferenzierendes Konglomerat fassbaren Gründe für den Aufbruch zu den ausgewählten Zielen (sogenannte Push- und Pull-Faktoren), die Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Wanderungsintention und dem Ergebnis, schließlich auch der gesamte Komplex der Integration, mit dem sich nicht nur einmal mehr die Frage nach wechselnden Identitäten verbindet, sondern auch der Umstand, dass Migrationen in der Regel nicht nur in geographischen, sondern auch in sozialen Räumen erfolgen, anders ausgedrückt: Der Migrant verändert durch den Akt der Wanderung sein soziales Umfeld und damit auch seine eigene Position im sozialen Gefüge. Darin liegt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Migration und Nomadismus; im letzteren Fall befinden sich jeweils ganze Gesellschaften auf der Wanderung, so dass die Stellung des Individuums zumeist nicht tangiert wird.124 Seneca versuchte offenbar, seine Mutter von der Vorstellung abzubringen, dass Sesshaftigkeit der Normalfall sei, und ersetzte dementsprechend Ortsgebundenheit durch permanente Migration. Wie angedeutet, übertreibt der Autor in dieser
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
konsequenten Fokussierung auf das Paradigma der Wanderung; dennoch erinnert er uns daran, dass wir für die Antike – auch innerhalb des Römischen Reiches – möglicherweise mit einem weitaus höheren Grad an Mobilität rechnen müssen als bisher zumeist geschehen. Vor wenigen Jahren wurde dieser Sachverhalt treffend zugespitzt: «Vielleicht ist schon die Frage nach den Ursachen von Migration falsch, weil sie Seßhaftigkeit als das Normale voraussetzt». Und in der Tat hat die Forschung der letzten Jahre eine Reihe von Argumenten zusammengetragen, die dafür sprechen, die ‹Völkerwanderung› nicht vornehmlich aus dem Aspekt der Migration heraus zu konzeptualisieren. Dies beginnt schon bei ganz grundsätzlichen Fragen der Archäologen, wie man bestimmte Befunde zu interpretieren hat: stets als Ergebnis von Wanderungen? Oder vielleicht doch lediglich als Hinweis auf Handel oder Diffusion, d. h. die Verbreitung von Gegenständen oder Ideen? Ähnliche Probleme werfen, wie angedeutet, die schriftlichen Quellen auf, die allzu bereitwillig komplexe Prozesse zu ‹Wanderungen› reduzieren. Hinzuweisen wäre auch auf den Umstand, dass nicht nur jenseits der römischen Grenzen schon vor der ‹Völkerwanderung› ein hoher Grad an Dynamik vorherrschte, der sich immer wieder auch in Migrationen niederschlug (man denke etwa an die Züge der Kimbern und Teutonen, an die Markomannenkriege unter Marc Aurel [161–180] usw.), sondern Wanderungen auch innerhalb des Imperium Romanum keine Seltenheit darstellten – von individuellen Ortsverlagerungen (Ansiedlung in anderen Regionen des Reiches, beispielsweise als Händler) über umherziehende Verbände (Heeresteile) bis hin zur Verschiebung ganzer Bevölkerungsgruppen im Gefolge von Aufständen, Einfällen und Kriegen. Gerade an der Peripherie des Reiches herrschte überdies ein reger Austausch an Gütern, Ideen und Menschen; hier entstanden Grenzgesellschaften ganz eigener Art, die den Übergang von der einen Sphäre in die andere erleichterten – trotz des offenkundigen ökonomischen Gefälles zwischen der römischen Welt und dem Barbaricum. Unsere modernen Assoziationen linearer Staatsgrenzen greifen in diesem Zusammenhang nicht.125 Dies alles bedeutet nicht, dass Migration als wichtiges Paradigma der ‹Völkerwanderungszeit› gänzlich aufgegeben werden müsste – ganz im Gegenteil: Wir stoßen auch weiterhin auf eine Reihe wichtiger Identitätsgruppen, die sich aus dem Aspekt des Unterwegsseins heraus verstehen lassen, wie etwa den AlarichVerband. Insofern wurde auf die Bedeutung der Wanderung für diese Phase zuletzt mit Recht noch einmal nachdrücklich hingewiesen. Aber den einen Generalschlüssel zur Erschließung einer ganzen Epoche liefert die Migration allein nicht – auch dann nicht, wenn man von älteren, simplifizierenden WanderungsMasseninvasionsmodellen absieht und unter Rekurs auf neuere Resultate der internationalen Migrationsforschung zu komplexeren Ansätzen übergeht, die unter
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anderem die angeführten Faktoren stärker mit berücksichtigen. Nicht zuletzt das stabilste und langlebigste Gebilde, das aus dieser Phase hervorgegangen ist – das Frankenreich –, ist in dieser Hinsicht bezeichnend: Die Franken sind nie über weite Räume hin gewandert; sie haben lediglich expandiert.126
1.2.8 ‹Osten› und ‹Westen› zwischen Spätantike und Mittelalter – Was dieses Buch will
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An diesen Beobachtungen hängen grundsätzliche Probleme des Zugriffs auf die hier darzustellende Epoche. Sie münden wohl letztlich in die Frage, was diese denn überhaupt definiert, wenn ‹Völker› und ‹Wanderung› in einer Weise zur Diskussion gestellt werden, wie es hier geschehen ist. Wie stark der Begriff ‹Völkerwanderung› implizite Prämissen transportiert, die sich unbemerkt in den Zugang zur damit bezeichneten Epoche einschleichen können, sollte nunmehr deutlich geworden sein; das Problem ist in der Forschung mittlerweile auch erkannt worden. Es betrifft vor allem die Vorstellung wandernder ‹Germanenstämme› im Zeitraum 375 bis 568. Sie fokussiert die Perspektive auf ein rein ‹germanisches› Phänomen, bei dem nicht nur das Imperium Romanum zu einem Statisten degradiert wird, sondern vor allem auch Migrationsphänomene und Transformationsprozesse jenseits der ‹germanischen› Welt, wie zum Beispiel die Expansion der Slawen und Araber oder auch die Geschichte des Awarenreichs, ausgeklammert werden.127 In diesem Buch versuche ich, ein anderes Konzept umzusetzen. Es geht von der Prämisse aus, dass die ‹Völkerwanderung› keine selbständige Erscheinung im Sinne eines autonomen Geschehniszusammenhanges darstellt, sondern ihrerseits in den übergreifenden Kontext der weithin auch von internen Faktoren geprägten Transformation des spätrömischen Reiches und der umliegenden Nachbargesellschaften eingebettet werden sollte. Sie wird hier gewissermaßen als ein Epiphänomen einer breiten Übergangsphase zwischen Antike und Mittelalter verstanden – ohne Zweifel als ein zentraler und gestaltender Zusammenhang von beträchtlicher Wirkung, der aber eben doch nicht ohne einen weiteren Rahmen hinreichend zu verstehen ist. Das Ergebnis dieses überwölbenden Transformationsprozesses führt uns schließlich aus dem ursprünglichen römischen Kontext heraus in zwei Richtungen: in die sogenannte poströmische Welt im Westen und die byzantinisch-arabische im Osten. Den Ort dieser Weggabelung zu bestimmen und danach zu fragen, welchen Anteil die ‹Völkerwanderung› an ihrer Entstehung hatte, sind Ziele dieses Buches. Allein aus diesem Grund kann die Darstellung nicht mit dem Jahr 568 enden und muss auch den Osten in stärkerem Maße mit einbe-
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
ziehen als bisher geschehen. Während man für den lateinischen Westen den Übergang in die poströmische Phase zumeist mit der Entstehung der sogenannten Nachfolgereiche seit der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu markieren versucht hat und mit dem Datum 476 – dem Jahr der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus – sogar eine Zäsur von einiger Strahlkraft diskutieren kann, ist der Transformationsprozess, der im Osten den Übergang in das Byzantinische Reich eingeleitet hat, wesentlich schwerer zu fassen. ‹Wanderungen› bzw. Mobilität spielten in entsprechenden Debatten bisher eine eher untergeordnete Rolle, wiewohl durchaus die Frage zu diskutieren wäre, wie die arabische Expansion seit Mitte der 630er Jahre in diesem Kontext zu verorten wäre und welche Rolle die bulgarischen, slawischen und awarischen Migrationen spielten. Aus meiner Perspektive lässt sich der Übergang von Ostrom zu Byzanz methodisch am plausibelsten in einem Dreistufenmodell fassen, das beschleunigte Transformationsschübe, die sich auf unterschiedlichen Ebenen im späteren 5., im 6. und im 7. Jahrhundert vollzogen, eingrenzt und gleichsam als Katalysator für die allmähliche Verwandlung der politischen, gesellschaftlichen sowie auch der religiös-kulturellen Ordnung begreift. Dass bereits im 6. Jahrhundert die Welt etwa im merowingischen Gallien ganz anders aussah als im oströmischen Kleinasien, im ostgotischen Italien wiederum anders als im syrischen Raum und dass der Verlust des übergeordneten imperialen Rahmens damit irgendwie zusammenhängt, wird man ebenso wenig abstreiten können wie die Tatsache, dass sich im lateinischen Westen und im griechischen Osten zwei neue Zusammenhänge ausbildeten, die weitgehend unabhängig voneinander existierten und über eigene Binnenkommunikationssysteme verfügten. Die Frage, wie es innerhalb eines relativ begrenzten Zeitraums zu einem derartigen Auseinanderdriften der ehemaligen Reichshälften kommen konnte, ist hingegen noch nicht vollständig beantwortet und soll in diesem Buch mit Blick auf den besonderen Aspekt der ‹Völkerwanderung› ausgeleuchtet werden.128 Das wird ohne eine Auseinandersetzung mit Forschungspositionen nicht möglich sein, die sich mittlerweile zu einem common sense entwickelt haben, teilweise aber auch in jüngerer Zeit bereits infrage gestellt worden sind. Die größte Breitenwirkung hat dabei wahrscheinlich die Kontroverse um die grundsätzliche Charakterisierung der Spätantike als Epoche gewinnen können. Seit den 1970er Jahren hatte sich, ausgehend von der amerikanischen Forschung, allmählich die Vorstellung von der Spätantike als langer, sich letztlich vom 2. bis in das 8. Jahrhundert erstreckender Transformationsphase eigenen Gewichts und eigener schöpferisch-vitaler Qualität etabliert. Dieser Ansatz, der die Sichtweise auf die für uns zentralen Jahrhunderte mittlerweile dominiert, gipfelte in einem großangelegten, aus Mitteln der Europäischen Union geförderten Projekt, das unter
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dem Titel The Transformation of the Roman World zwischen 1997 und 2004 immerhin 14 stattliche Tagungsbände hervorgebracht und die Spätantike bzw. das Frühmittelalter (4.–9. Jahrhundert) als eine vielschichtige, von ganz unterschiedlichen Neuformierungen geprägte Epoche neu erfasst hat. Ältere Vorstellungen von der Spätantike als Phase des Niedergangs und der Dekadenz, die seit Edward Gibbons (1737–1794) großartiger Darstellung The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1788) die Perspektive auf die spätrömische und byzantinische Welt geprägt hatten, sollten damit überwunden werden. Wie jedes Forschungsparadigma ist in den letzten Jahren allerdings auch das Konzept der Transformation of the Roman World in die Kritik geraten. Sicherlich nicht unbeeinflusst von den Ereignissen um den 11. September 2001, haben einige Fachkollegen auf die Schwächen dieses in seinen Wurzeln stark kulturhistorisch ausgerichteten Ansatzes verwiesen; sie haben die Rolle von brutaler Gewalt, von Tod, Zerstörungen und Vernichtung hervorgehoben und jenen Stimmen, die in den vorangegangenen Jahrzehnten vor allem Kontinuitäten betont hatten, scharfe Brüche, schmerzhafte Zäsuren, den regionalen Kollaps von Wirtschaft und Handel (vor allem in Britannien, Nordgallien und Teilen der Iberischen Halbinsel) sowie einen Verfall der materiellen Kultur in der Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter entgegengehalten. In diesem Zusammenhang nehmen natürlich Geschehnisse, die sich auf den ‹Völkerwanderungs›-Kontext beziehen lassen, eine besonders prominente Stellung ein. Vor allem aber beziehen sich die Kritiker des Transformations-Paradigmas mit ihren Beispielen vornehmlich auf den lateinischen Westen, während die Vertreter der Kontinuitätsthese weitgehend vom Osten her denken. Der Umstand, dass man, je nachdem, ob man den Blick auf den Westen oder den Osten richtet, zu unterschiedlichen Aussagen über die gesamte Spätantike gelangen kann, sollte uns aufhorchen lassen: Auch für die Frage, ob man diesen Zeitraum als Niedergang oder als Phase der Transformation und Neuformation begreifen soll, scheinen unterschiedliche Entwicklungen in den ehemaligen Reichshälften eine Rolle zu spielen.129 Gerade die Geschehnisse im Zusammenhang der ‹Völkerwanderung› könnten sich als Testsonde eignen, um in den generellen Diskussionen über das Ende der Antike und den Beginn des Mittelalters weiterzukommen. Denn soweit ich sehe, lassen sich schon in der Konzeption des ‹Barbaren›, also einem Kernelement des ‹Völkerwanderungs›-Themas, gewisse Unterschiede zwischen Osten und Westen ausmachen, die zunächst – im späteren 4. Jahrhundert – noch unmerklich die Geschehnisse grundierten, dann aber eine Wirkung entfalteten, deren ungeheure Wucht erst aus der Rückschau erkennbar wird. Um sich dies zu vergegenwärtigen, muss man zunächst einen Blick auf die Geschichte des römischen Kaiserreichs in seiner Positionierung gegenüber den Barbaren werfen. Diese lässt sich
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
ganz grob auf drei Hauptphasen reduzieren: Seit dem ersten Princeps Augustus (31 v. Chr. – 14 n. Chr.) gingen Expansion und Romanisierung Hand in Hand. Die Römer eroberten, aber die dem Reich dabei einverleibten Barbaren erhielten großzügige Möglichkeiten, innerhalb weniger Generationen selbst zu Römern zu werden; das Imperium Romanum imaginierte sich, wir erinnern uns an die Äußerungen des Aelius Aristides, als Hort der Zivilisation – eine Zivilisation allerdings, die alle hinzugewonnenen Bevölkerungen mit einschloss. Dieses Selbstverständnis verstärkte sich in der zweiten Phase, die im 2. Jahrhundert einsetzte und ihren signifikanten Ausdruck in der Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle freien Reichsbewohner im Jahr 212 durch Caracalla fand. Nun gab es – jedenfalls der Theorie zufolge – Barbaren tatsächlich nur noch in der wilden Außenwelt, die folgerichtig zum barbaricum erstarrte (das Wort ist in dieser Bedeutung erstmals für die 220er Jahre belegt), während das ‹Innen›, fest zusammengefügt durch die Klammern des römischen Rechts, des Kaiserkults und der antiken Bildung, von zivilisierten Römern, gleich welcher ethnischen Zuordnung, bevölkert war. «Ihr habt keineswegs die Mauern vernachlässigt», rühmt Aelius Aristides die Römer, «aber ihr habt sie um euer Reich geführt, nicht um die Stadt [Rom]». Und noch Augustin kann festhalten: «Wer weiß schon über die gentes im Römischen Reich, wer was einmal war, da sie alle Römer geworden sind und alle Römer genannt werden?» Rutilius Namatianus ergänzt ganz in diesem Sinne, dass Rom «unterschiedlichen gentes eine einzige Heimat» geschaffen habe. Freilich stellte das ‹Außen› einen stets unberechenbaren Gefahrenquell dar: «Insbesondere muss man sich bewusst machen», so hält noch im späteren 4. Jahrhundert ein anonymer Autor fest, «dass überall das wilde Rasen herumkläffender nationes das Imperium Romanum bedrängt und dass listiges Barbarenvolk im Schutz natürlicher Deckung sich an jede Flanke unserer Grenzen heranmacht». In der Spätantike schließlich erfolgte der gleitende Übergang in die dritte Phase: Die ohnehin nur in der Vorstellung wirksame Unterscheidung zwischen einem römischen ‹Innen› und einem barbarischen ‹Außen› geriet zunehmend zur Makulatur. Der römische Alltag wurde in einem Maße von Barbaren durchdrungen, wie man es bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Das Eindringen größerer Verbände in das Römische Reich spielte dabei eine Rolle, aber das Ursachenbündel für diese Entwicklung gestaltete sich insgesamt weitaus komplexer. Für den Moment braucht uns nur zu interessieren, dass im Osten offenbar einiger Aufwand betrieben wurde, um die traditionelle Differenzierung zwischen römisch und barbarisch so weit wie möglich aufrechtzuerhalten, während entsprechende Ansätze, warum auch immer, im Westen nicht in gleichem Maße erkennbar sind oder misslangen. Im römischen Osten wurden nach der verheerenden Niederlage gegen die Goten bei Adrianopel im Jahr 378 alle gotischen Armeeangehörigen nie-
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dergemacht; im Osten konnte ein Synesios, nachdem die Regierung ein Abkommen mit Alarich geschlossen hatte, unverblümt Barbaren im Heer und in höheren Ämtern als prinzipielles Strukturproblem denunzieren; im Osten entledigte man sich durch ein Massaker in Konstantinopel (400) eines gotischen Armeeverbandes unter Führung des Gainas, den die Regierung zuvor selbst in Dienst genommen hatte; im Osten wurde die zivile Gewalt des Chefs der Hofverwaltung (magister officiorum) gegenüber den Generälen gestärkt, was Machtakkumulationen wie im Falle Stilichos verhinderte; im Osten war es im 5. Jahrhundert für einen Barbar undenkbar, nach dem Kaiserthron zu greifen (im 6. Jahrhundert änderte sich dies); im Osten konnte ein brutaler Bürgerkrieg, der Krieg des Kaisers Anastasios (491–518) gegen ‹die Isaurier›, gar dadurch verbrämt werden, dass man die inneren politischen Gegner zu einem Barbarenvolk stilisierte, das den Römern schon seit Jahrhunderten Probleme bereitet habe und nun endlich niedergezwungen werden müsse; und im Osten erfolgte um die Wende zum 6. Jahrhundert ein Einkapselungsprozess, der noch einmal zur Auskonturierung der Kategorien ‹Römer› und ‹Barbar› beizutragen vermochte.130 Diese flüchtigen Hinweise mögen genügen, um aufzuzeigen, dass sich offenbar bereits seit dem 4. Jahrhundert der Umgang mit Barbaren in den beiden Reichshälften höchst unterschiedlich gestaltete. Für den Osten lässt sich das Ergebnis recht anschaulich an der Belagerung Konstantinopels 626 studieren, die sich dadurch auszeichnete, dass die Grenzen zwischen ‹Innen› und ‹Außen› scharf markiert waren, in diesem Fall sogar mit den Mauern der Metropole identisch waren. Orosius hingegen hatte in dieser Hinsicht, als er über die Eroberung Roms 410 nachdachte, weitaus größere Schwierigkeiten.131 Das Auseinanderreißen der römischen Welt in eine West- und eine Osthälfte lässt sich angesichts dieser Beispiele als Teilaspekt der ‹Völkerwanderung› begreifen – und umgekehrt. Nicht ohne Grund wurden die ersten scharfen Spannungen zwischen den beiden Reichsteilen in den Jahren um 400 unter anderem über den Umgang mit Alarich und seinem Verband ausgefochten, und nicht ohne Grund lieferte die gotische Einnahme Roms Augustin den Anlass, um über grundsätzliche Differenzen in den kollektiven Frömmigkeitspraktiken in Konstantinopel und Rom nachzudenken (s. o.); in ebenso bezeichnender Weise schob die oströmische Regierung zu Beginn der 450er Jahre das bereits länger schwer lastende Hunnenproblem erfolgreich auf den Westen ab und löste dort eine verheerende Kettenreaktion aus – wir werden auf beide Ereigniskomplexe noch zurückkommen. Nur beiläufig sei noch einmal daran erinnert, dass seit dem 4. Jahrhundert auch der Faktor Religion, wiederum in verschiedenen Ausprägungen im Osten und im Westen, eine wichtige Rolle gespielt und mit dazu beigetragen hat, dass
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
der Bruch zwischen den beiden Teilräumen umso deutlicher hervortrat. So kam es im Jahr 476 nicht nur zu der bekannten Absetzung des letzten weströmischen Kaisers durch einen barbarischen Heerführer, sondern auch im Osten stürzte in demselben Jahr mit Basiliskos ein Herrscher vom Thron. Für die Frage nach der unterschiedlichen Bedeutung des Faktors Religion sind die beiden zeitlich nahezu parallel verlaufenden Ereignisse emblematisch: Während religiöse Aspekte bei der Absetzung des Romulus Augustulus nirgendwo greifbar sind und offensichtlich keinerlei Rolle spielten – der unglückliche Jüngling wurde vertrieben, weil sein Vater Orestes die Landforderungen seiner Soldaten nicht erfüllte –, lässt sich der Aufstand gegen Basiliskos, der unter tatkräftiger Mithilfe des Patriarchen von Konstantinopel, Akakios, und des Säulenheiligen Daniel ins Werk gesetzt wurde, zumindest zu großen Teilen als Aufbegehren gegen dessen Religionspolitik interpretieren. Die Tatsache, dass Herrschaft im Osten in weitaus stärkerem Maße ein religiöses Phänomen darstellte als im Westen, wurde dann wenige Jahre später vollends manifest: Als um das Jahr 492 / 93 eine Gesandtschaft des Goten Theoderich in Konstantinopel erschien, um über dessen Anerkennung als Herrscher in Italien zu verhandeln, sorgte Kaiser Anastasios für massive Verunsicherung unter den senatorischen Gesandten, indem er die Diskussion über dieses Anliegen mit einer kirchenpolitischen Frage, nämlich der Aufhebung des Akakianischen Schismas, der seit 484 bestehenden Spaltung der Kirchen des Ostens und des Westens, verknüpfte. Was für den oströmischen Herrscher eine pure Selbstverständlichkeit bedeutete, nämlich die enge Verschlingung profan- und kirchenpolitischer Aspekte, stieß bei den Gesandten aus dem Westen auf völliges Unverständnis. In diesen Differenzen drohte das eigentliche Anliegen des Gotenherrschers aus den Augen zu geraten. Wir werden immer wieder danach zu fragen haben, wie sich Barbaren innerhalb der komplexen religiösen Landschaft des auseinanderfallenden spätrömischen Reiches positionierten und welche Motive dabei ihr Handeln beeinflusst haben mögen.132 In der beschriebenen Weise über die ‹Völkerwanderung› und ihre Kontexte nachzudenken, bedeutet somit nicht nur, sich mit dem Übergang von der Antike ins Mittelalter als einem Periodisierungsproblem, d. h. unter dem Aspekt der Zeit, auseinanderzusetzen, sondern zugleich die räumliche Komponente damit zu verknüpfen. Letzteres besitzt durchaus eine gewisse Tradition, angefangen mit der berühmten These des belgischen Historikers Henri Pirenne (1862–1935), der die von den Römern begründete Einheit des Mittelmeerraums nicht durch die ‹germanische› Völkerwanderung, sondern erst durch die Blockade der Verkehrsund Kommunikationswege im Gefolge der arabischen Expansion seit dem 7. Jahrhundert aufgelöst sah, bis hin zum Schlagwort vom mittelalterlichen Europa der drei Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam), das in den letzten Jahren in
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eine allgemeinere Debatte über ‹Transkulturalität› überführt worden ist, in der fest abgegrenzten geographischen Räumen eine geringere Bedeutung zugemessen wird. An dieser Stelle soll der Ansatz, einer sich ausbildenden Ost-WestDichotomie nachzugehen, erprobt werden, für dessen Tragfähigkeit es, wie angedeutet, durchaus Argumente gibt.133 Ein derartiger Ansatz bedingt gewisse Grundsatzentscheidungen in der Vorgehensweise. So werde ich im Folgenden nicht, wie es in den klassischen Darstellungen geschieht, die ‹Geschichte› der einzelnen uns bekannten Verbände nachzeichnen; dies würde lediglich die irreführende Suggestion kompakter Einheiten, deren vermeintliche Wanderungen über Jahrhunderte hin nachvollziehbar seien, aufrechterhalten. Stattdessen werde ich zu beschreiben versuchen, wie sich die Situation in einzelnen Regionen, in denen Römer und Barbaren zusammenstießen, entwickelte. Dabei handelt es sich naturgemäß zunächst um die Grenzgebiete – angefangen an der mittleren und unteren Donau, über die Rheingrenze und Britannien bis nach Afrika und schließlich zu den römisch-sāsānidischen Übergangsregionen im Osten –, doch werden mit dem zunehmenden Kontrollverlust der kaiserlichen Regierung danach auch Gebiete zu behandeln sein, die ehemals zu den Kernbereichen des Imperium Romanum gehört hatten – bis hin zu Italien. Ein vielfältiges Panorama wird sich darin eröffnen, das sich im Laufe des 5. und 6. Jahrhunderts als Folge eines fortschreitenden Regionalisierungsprozesses sogar noch weiter ausdifferenzieren wird. Um den Überblick über diese komplexe Welt zu gewährleisten, werde ich versuchen, die Reichsgeschichte als eine Art übergeordnete Klammer zu verwenden, die es mir ermöglicht, die in den unterschiedlichen Regionen beobachteten Phänomene im Sinne einer Verflechtungsgeschichte miteinander zu vernetzen und zugleich auch den ‹Völkerwanderungskontext› mit inneren Entwicklungen im Imperium Romanum in Beziehung zu setzen, die vielfach ebenfalls in der breiten Diskussion über dessen Ende und seine Bedingungsfaktoren eine Rolle spielen. Ich werde in meiner Darstellung zunächst das 3. und 4., sodann das ‹lange 5. Jahrhundert› in den Blick nehmen, also den Zeitraum von etwa 375 bis in die ersten Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert gewannen, in Wechselwirkung mit der ‹Völkerwanderung›, jene Teilräume an Konturen, die ich mit ‹Osten› und ‹Westen› bezeichne und die man – anders als noch in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts – etwa seit 500 n. Chr. als eigenständige Gebilde ansehen und geographisch definieren kann. Die Entfremdung zwischen beiden Sphären wird nun deutlich fassbar; signifikant erscheint mir vor allem der Angriff einer oströmischen Flotte auf das damals gotische Italien im Jahr 507 / 08, eine Attacke, bei der vornehmlich die italisch-römische Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen und Italien selbst, das Kernland des ehemaligen Imperium Romanum, wie ein normales Kriegsgebiet
Schwierigkeiten, die ‹Völkerwanderung› zu erzählen 1.2
behandelt wurde – eine Haltung, die für die Apenninhalbinsel in den Gotenkriegen Justinians ab 535 verheerende Folgen zeitigen sollte.134 Ab dem 6. Jahrhundert haben wir dann zwei Geschichten zu erzählen, je eine über den Westen und über den Osten. Ebenso wie wir zumindest in groben Zügen der Gestaltwerdung der poströmischen Welt im Westen nachgehen werden, wird dann auch der Weg nach Byzanz und nach Damaskos nachzuzeichnen sein. Im Jahr 626 bestand Konstantinopel eine seiner schwersten Existenzkrisen nur um Haaresbreite, sicherte dem byzantinischen Rhomäerreich damit jedoch sein Fortbestehen um mehr als 800 Jahre. Gleichzeitig gingen im fernen Spanien die letzten byzantinischen Besitzungen an die Westgoten verloren. In Italien wurde in jener Zeit Arioald zum König der Langobarden erhoben, die Merowinger organisierten auf der Synode von Clichy die Machtverteilung im Frankenreich neu, der Angelsachse Edwin, König von Northumbria, soll damals die Taufe empfangen haben, während im arabischen Yaṯrib (Medina) der Prophet Mohammed im Zeichen des Islam eine neuartige Gemeinschaft (umma) formte, die ein Jahrzehnt später damit beginnen sollte, die politische, religiöse und kulturelle Landschaft des Nahen Ostens völlig neu zu gestalten. Unabhängig von den konzeptuellen Diskussionen der letzten Jahrzehnte steht jeder Historiker, der das übermütige Wagnis eingeht, sich an eine Darstellung der ‹Völkerwanderung› zu begeben, vor der grundsätzlichen Entscheidung, wie er seine Erzählung anlegt: Das übermächtige Gespenst eines Niedergangs der römischen Welt, manifest unter anderem in den Assoziationen der invasions barbares, konkurriert mit den Propagatoren einer Grundlegung der mittelalterlichen Welt und einer allmählichen Konturierung der politisch-geographischen Strukturen des späteren Europa. Die simple Tatsache, dass die Verwandlung der römischen Welt Profiteure und Opfer hervorgebracht hat, erweist sich für das Bemühen, darüber zu erzählen, als überaus folgenreich. Wir werden uns permanent in einem Spannungsfeld aus Gewinnund Verlustgeschichten bewegen müssen, die ineinandergreifen, sich aneinander reiben und stoßen und ständige Gegenläufigkeiten erzeugen. Jeder Versuch, um einer linearen Erzählung willen aus diesem Geflecht auszubrechen, würde an der Komplexität des Gegenstandes nagen. Dennoch möge es der Perspektive des Althistorikers zugestanden sein, mitunter auch ein wenig deutlicher an Brüche und Verluste in diesem ebenso vielgestaltigen wie diffizilen Transformationsprozess zu erinnern.
KAPITEL II
Sturm an der Donau – Beginn der ‹Völkerwanderung›
2.1
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert
2.1.1 Konstantin I. macht Geschenke Kapitel Sturm an der Donau – BeginnGoten der ‹Völkerwanderung› 2.1II Terwingen und Greutungen: im 4. Jahrhundert
Ganz beiläufig weiß die byzantinische Überlieferung von einer bemerkenswerten Begebenheit zu berichten: «Konstantin der Große», so heißt es in einigen Chroniken, «schickte wertvolle Edelsteine zu den Völkern jenseits der Donau; und er schrieb darauf: ‹Dem Größeren zum Geschenk›. Das wurde für sie zur Ursache des Verderbens». Unglücklicherweise können wir diese isolierte Nachricht nur schwer einordnen, wir kennen weder Urheber noch Kontext; aber sie kann sich eigentlich nur auf Konstantins Politik gegenüber den gotischen TerwingenVesiern beziehen. Diese waren im späten 3. und frühen 4. Jahrhundert in das ehemalige römische Dakien eingerückt, nachdem Kaiser Aurelian die exponierte, fast rundum von Barbaren umgebene Provinz nördlich der Donau im Jahr 271 / 72 freiwillig geräumt hatte (ihr Territorium entsprach weitgehend den heutigen Staaten Rumänien und Moldawien). Im 4. Jahrhundert besiedelten die Terwingen ein Gebiet, das sich ungefähr vom Dnjestr im Norden bis zur Donau im Süden erstreckte und auch Teile des südlichen Karpatenbogens und Siebenbürgens umfasste. Warum aber machte ein römischer Kaiser den Barbaren Geschenke dieser Art?1 Der Donauraum war seit jeher eine unruhige Zone gewesen, die den Römern kontinuierlich Probleme bereitet hatte. Immer wieder war es zu Übergriffen auswärtiger Barbaren, auch zu temporären Reichsbildungen gekommen. Seit den Tagen Caesars war man damit beschäftigt, die Regionen jenseits der Donau unter
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Kontrolle zu halten, was mitunter gewaltige Kraftanstrengungen erforderte, wie etwa in den Dakerkriegen Domitians (81–96) und Traians (98–117) oder den Markomannenkriegen der Jahre 166 bis 182 unter Marc Aurel. Grundsätzlich verfolgten die Römer auch entlang der Donau jene Prinzipien der Außenpolitik, die sich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit gegenüber Barbarengruppen überschaubarer Größe bewährt hatten: eine kontrollierte Mischung aus militärischen Interventionen und geschickter Diplomatie, die verhindern sollte, dass es zu bedeutenderen Machtkonzentrationen in der Nähe der römischen Grenzzonen kam, und die darauf zielte, permanent ein labiles Gleichgewicht der Schwäche unter den barbarischen Kräften aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck versuchten römische Autoritäten vor allem, einzelne Verbände und ihre Anführer durch Geschenke und Ehrenbezeugungen für sich zu gewinnen; wurden diese mit der Zeit allzu selbständig oder entfalteten ihrerseits ein Besorgnis erregendes militärisches Potential, erfolgte in der Regel die Intervention und die Karten wurden in Form von Verträgen und abermaligen Ehrgeschenken neu gemischt. Der Umstand, dass dieses System über Jahrhunderte hin zumeist reibungslos zu funktionieren schien, machte die Römer allerdings blind für die langfristigen Folgen ihres Handelns – für die Tatsache, dass sie sich dadurch selbst jene Gegner schufen, an deren Überwindung sie später scheitern sollten.2 Die literarische Überlieferung der frühen Kaiserzeit enthält nur wenige Informationen über die sozialen Strukturen der Barbarengruppen jenseits von Rhein und Donau; diese aber verweisen recht einheitlich auf eher einfache, egalitär aufgebaute bäuerliche Gesellschaften, die sich zumeist am Rande des Existenzminimums bewegten (‹Mangelgesellschaften›) – ein Eindruck, der durch den archäologischen Befund bestätigt wird. Unter dem Einfluss Roms änderte sich dies jedoch seit dem 1. Jahrhundert n. Chr.: Diplomatische Kontakte, gezielte Zuwendungen, Handelsaktivitäten in den breiten Grenzzonen und die Rückkehr auswärtiger Soldaten aus römischem Militärdienst in ihre Heimatregionen bewirkten einen kontinuierlichen Transfer römischer Güter, römischen Geldes, römischer Gebräuche und römischen Denkens in das Barbaricum, wodurch soziale Ausdifferenzierungsprozesse eingeleitet wurden, die schrittweise zur Ausbildung einer ökonomisch distinkten Kriegerelite führten. Diese wird unter anderem in den sogenannten Fürstengräbern erkennbar, wie etwa den Gräbern der Lübsow-Gruppe (Pommern, 1.–2. Jahrhundert), dem ‹Fürstengrab› von Mušov (Südmähren, 2. Hälfte 2. Jahrhundert), der Haßleben-Leuna-Gruppe (Thüringen / Sachsen-Anhalt, um 300) oder dem Grab von Gommern (Sachsen-Anhalt, um 300). Die allmähliche Diffusion römischen Einflusses in nichtrömische Gebiete können wir vielfach archäologisch greifen: In den Grenzzonen lassen sich Römer und Barbaren kaum voneinander unterscheiden; sie alle partizipierten gleichermaßen an der provinzialrömischen materiellen
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Kultur. Mit zunehmender Entfernung vom Imperium Romanum, im Hinterland des Barbaricum, werden römische Importgüter hingegen seltener, wertvoller, prestigeträchtiger – mithin: statuskonstituierend. Prinzipiell ist uns das Phänomen, dass einzelne charismatische Herren erfolgreich Anhängerschaften um sich zu versammeln verstanden, bereits aus frühen Zeugnissen bekannt – man denke etwa an Caesars Gegenspieler Ariovist, an den Markomannenherrscher Marbod († 37) oder auch an Iulius Civilis, den Anführer des Bataveraufstandes im Jahr 69 / 70 n. Chr. Der Zustrom römischer Güter, mit denen sich Reichtum gewinnen und Prestige demonstrieren ließen, beförderte solche Vergesellschaftungsprozesse. Die Position der kriegerischen Anführer erfuhr eine Aufwertung, Kriegergruppen, die sich um jene Gestalten scharten, wuchsen und gewannen an Schlagkraft und Ansehen; den auf diese Weise entstandenen Verbänden schlossen sich, wenn ihr Erfolg anhielt, weitere Gruppen an, getragen von der Hoffnung auf Beute und den Erwerb wertvoller Güter, andere wurden schlicht unterworfen. All diese Entwicklungen blieben den Römern natürlich nicht verborgen, aber sie führten keineswegs zu einer grundsätzlichen Revision ihrer Politik. Denn zunächst einmal zeichnete sich für sie die Perspektive einer allmählichen Durchdringung der Barbarengebiete ab, unter anderem durch lukrative Handelsrouten (Bernstein, Felle, Roheisen usw.); die langfristigen Folgen der etablierten Praxis wurden hingegen weiterhin nicht wahrgenommen.3 Folgerichtig ging man auch auf die sich allmählich herauskristallisierenden Gefolgschaftsführer (ein problematischer Begriff, der assoziativ noch immer mit angeblich typisch germanischen Vergesellschaftungsformen verbunden wird, die als solche aber nicht nachgewiesen sind; in unserem Kontext soll er ganz wertneutral gebraucht werden) in der altbewährten Weise zu, versuchte sie zu gewinnen oder spielte sie eifrig gegeneinander aus. Im Zuge dieses Vorgehens flossen weitere materielle und immaterielle Güter in das Barbaricum, wodurch die dort eingeleiteten sozialen Ausdifferenzierungsprozesse noch weitere Schubkraft erhielten. Archäologisch lässt sich nachvollziehen, wann die Römer in welchen Regionen ihre Schwerpunkte setzten: So konnten inzwischen mehr als 70 000 römische Denare in Hort- und Einzelfunden nachgewiesen werden, die in den Jahren von Marc Aurel (161–180) bis Septimius Severus (193–211) in das Barbaricum gelangten; sie werden als Hinweise auf römische Subsidien (Unterstützungsleistungen) und Zahlungen an barbarische Hilfstruppen interpretiert, könnten aber auch dem Freikauf gefangener römischer Bürger gedient haben.4 Die Resultate der in dieser Weise angestoßenen Entwicklungen innerhalb der barbarischen Gesellschaften, die wir nur ganz schemenhaft nachvollziehen können und uns letztlich unter Anwendung von Modellen wie dem soeben skizzierten vergegenwärtigen müssen, traten dann ab dem 3. Jahrhundert sichtbar zutage:
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Aus den zahllosen, in andauernder Veränderung begriffenen und intern – zumal mit wachsender Distanz zur Grenzzone – nur schwach ausdifferenzierten Kleingruppen, wie sie uns etwa bei Caesar, dem älteren Plinius oder Tacitus noch entgegentreten, waren allmählich größere Verbände geworden, deren Aktionen sich kaum noch kontrollieren ließen: Franken und Alemannen am Rhein, Sachsen an unterer Elbe und Weser, Goten an der Donau. Die Römer hatten sich ihre zukünftigen Gegner gewissermaßen selbst geformt und bekamen deren neue Schlagkraft und kriegerische Effizienz, sicherlich nicht zufällig, just in jenem Moment erstmals mit voller Wucht zu spüren, als sie selbst in eine fatale Spirale eigener Unzulänglichkeiten und Probleme taumelten: während der sogenannten Krise des 3. Jahrhunderts. Mit dieser etwas unscharfen Bezeichnung umfassen wir einen Zeitraum der römischen Geschichte von etwa 50 Jahren (ca. 235–284). Er war gekennzeichnet von politischen Turbulenzen in Form zahlloser Usurpationen und Kaiserwechsel, von wirtschaftlicher Depression und demographischen Verlusten (Seuchen) in großen Teilen des Reiches, radikalen Regionalisierungstendenzen, die gar zur Abspaltung von Teil- und Sonderreichen führen konnten, von Unsicherheitsgefühlen und Ängsten in der Bevölkerung, vor allem aber auch von außenpolitischen Katastrophen im Kampf gegen die Perser, die seit dem Aufstieg der Sāsānidendynastie ab 224 eine ganz neue Aggressivität und militärische Präsenz entfalteten, sowie gegen die neu formierten barbarischen Großverbände. Alle genannten Faktoren griffen ineinander, verstärkten sich gegenseitig und erzeugten dadurch eine Dynamik, die einzudämmen eine gewaltige Kraftanstrengung erforderte, was wiederum zu tiefgreifenden Transformationsprozessen auf unterschiedlichsten Ebenen führte – von der Reichs- und Provinzverwaltung über das Steuer- und Münzsystem (und damit die wirtschaftliche Ordnung insgesamt betreffend), die Heeresorganisation und die sozialen Strukturen in der Bevölkerung bis hin zu grundsätzlichen Neuorientierungen im religiösen und kulturellen Bereich. Historiker sehen daher nicht ohne Grund in den Entwicklungen des 3. Jahrhunderts den Übergang von der hohen Kaiserzeit in die Spätantike, die uns mit einem Imperium Romanum konfrontiert, dessen Gestalt sich gegenüber dem 2. Jahrhundert fundamental gewandelt hatte.5 Verändert hatte sich bis zum 4. Jahrhundert aber auch die außerrömische Welt jenseits der langen Flussgrenzen, eine Folge des anhaltenden Stromes von Gütern in das Barbaricum. An verschiedenen Orten, vor allem im Norden der Germania (zum Beispiel Hodde, Vorbasse, Nørre Snede – allesamt in Jütland gelegen), waren größere Siedlungen entstanden, in denen sich zahlreiche Objekte römischer Provenienz fanden, die auf einen zunehmenden Grad sozialer Differenzierung verweisen; Eliten hatten sich herauskristallisiert, die offenbar die Distribution und Akkumulation römischer Güter in ihrem Verfügungsbereich zu kontrollieren
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suchten. Diese Eliten verfügten häufig über gut ausgerüstete, schlagkräftige Truppenkontingente. Als der Alemannenführer Chnodomar nach der Schlacht bei Straßburg 357 von den Römern gestellt wurde, ergaben sich mit ihm immerhin 200 Begleiter. In einen ehemaligen See bei Haderslev im südlichen Dänemark wurde um das Jahr 300 die gewaltsam zerstörte Ausrüstung eines ebenfalls ungefähr 200 Mann starken Kontingents versenkt, das den Funden zufolge über eine klare Hierarchie verfügt haben muss – immerhin besaß ein Drittel der Soldaten nicht nur Speere, sondern auch Schwerter – und dennoch offenbar einer konkurrierenden Streitmacht unterlegen war (Fundplatz von Ejsbøl Mose). Auf dem Runden Berg bei Bad Urach (Kreis Reutlingen, Baden-Württemberg) umschloss im späten 3. bzw. frühen 4. Jahrhundert ein 70 × 50 Meter langer Holzwall mehrere Gebäude, darunter eine größere Halle; möglicherweise residierte im 4. Jahrhundert in dem Areal einer jener regionalen Anführer, wie sie Ammian für die Alemannen erwähnt, jedenfalls muss der Herr des Platzes eine beträchtliche Anhängerschaft kontrolliert haben. Gleiches gilt für den Herrn des Zähringer Burgberges (bei Freiburg im Breisgau), der im 4. Jahrhundert eine grundlegende Umgestaltung des Hügels zu einem breiten Plateau vornehmen lassen konnte. Über schlagkräftige Verbände verfügten auch die Anführer der Terwingen im 4. Jahrhundert, als sie die Christenverfolgung in den von ihnen kontrollierten Gebieten organisierten.6 Verschiedentlich wurde vermutet, dass die sozialen Entwicklungen, die sich während der römischen Kaiserzeit im Barbaricum vollzogen und in der Zeit um 300 kulminierten, nicht nur durch den Zufluss römischer Güter, sondern vor allem auch durch technische Fortschritte in Handwerk und Landwirtschaft und eine damit einhergehende Effizienzsteigerung befördert worden sein könnten; diese These beruht vor allem auf demographischen Kalkulationen. So ist etwa die Bevölkerung auf der Warft Feddersen Wierde (an der Wesermündung), einem der am besten dokumentierten frühgeschichtlichen Dörfer im Barbaricum, von ca. 50 Personen im 1. Jahrhundert auf etwa 300 Menschen im späten 3. bzw. frühen 4. Jahrhundert angewachsen, und einmal mehr lässt sich dabei eine zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung beobachten (Anlage eines zentralen Gebäudes im späten 1. Jahrhundert, evtl. für einen lokalen Anführer; Arbeitsplätze für Handwerker). Freilich lassen sich derartige Ausdehnungsprozesse nur selten monokausal auf eine intensivierte Landnutzung zurückführen. Eine ähnliche Entwicklung wie die Feddersen Wierde nahm beispielsweise die Siedlung Wijster (Niederlande) in der nordwestlichen Germania, ca. 100 Kilometer vom Limes entfernt, doch wird das Wachstum in diesem Fall auf Handelsaktivitäten mit den Römern zurückgeführt. Römische Importgüter prägten gleichermaßen das Leben der Bewohner einer Siedlung am Oespeler Bach (Dortmund) und wur-
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den in reicher Zahl etwa auch auf dem Runden Berg angetroffen. Insgesamt deuten jedenfalls alle bisher vorliegenden Indizien darauf hin, dass sich im Verlauf der römischen Kaiserzeit innerhalb des Barbaricum soziale Ausdifferenzierungsprozesse von erheblicher Tragweite vollzogen haben. Sie mögen partiell mit agrartechnischen Fortschritten zusammenhängen, doch auch diese lassen sich letztlich als eine Sonderform römischer ‹Importe› interpretieren, so dass die skizzierten Prozesse insgesamt wohl vor allem auf Kontakte mit den Römern zurückgehen dürften. Sie betrafen überdies nicht nur den Norden und Nordwesten der Germania, sondern auch die (archäologisch allerdings weniger erforschten) Regionen weiter östlich, was sich zum Beispiel in der Siedlung auf dem Bärhorst (ca. 50 Kilometer westlich von Berlin) zeigt oder auch in den Fundplätzen der gotisch dominierten Černjachow-Kultur (dazu s. S. 143–147). In Haarhausen (Thüringen) ist man gar auf eine Töpferei aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts gestoßen, die ganz in römischer Bauweise angelegt war. Deutlicher lässt sich die Vermittlung römischer Techniken (über verschleppte Provinzialen?) ins Barbaricum kaum illustrieren.7 Für die Barbaren bot das Imperium Romanum attraktive Perspektiven: Die Übernahme agrartechnischer Innovationen konnte den wirtschaftlichen – und damit auch gesellschaftlichen – Status einzelner Personen innerhalb ihres Umfeldes nachhaltig erhöhen; wer etwa aus langjährigem Dienst im römischen Militär zurückkehrte, brachte Geld, materielle Güter, einen reichen Erfahrungsschatz und besonderes Ansehen mit; andere nutzten die Gelegenheit, mit Römern in direkte Handelskontakte einzutreten und auf diese Weise Wohlstand zu erwerben; Rohstoffe und Sklaven ließen sich gewinnbringend in das Imperium Romanum veräußern. In dem Maße, in dem das von Rom ausgehende Potential in dieser Weise erkundet und ausgeschöpft wurde, nahmen im Barbaricum die sozialen Unterschiede zu. Manche Archäologen sehen den dadurch erzeugten ‹sozialen Stress› im Fundmaterial gespiegelt, vor allem dann, wenn sie auf üppige Grabausstattungen stoßen; in diesen Fällen, so die These, waren Einzelpersonen offenbar gezwungen, in einer sich rasch verändernden Umgebung ihre herausgehobene soziale Position nachdrücklich zu markieren. Die Grabfunde der sogenannten Haßleben-Leuna-Gruppe im Gebiet der mittleren Elbe und der Saale aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts, die einmal mehr wertvolle römische Importware zutage förderten, könnten auf Prozesse dieser Art hindeuten. In Sobari, einem Ort im heutigen Moldawien am Dnjestr, um die 300 Kilometer entfernt von der römischen Grenze, wurde im 4. Jahrhundert, schon unter hunnischer Dominanz, ein Steingebäude mit zwei Räumen und einer Grundfläche von 18 × 10 Metern angelegt, das von einem Säulenumgang gesäumt war (16 Säulenbasen konnten nachgewiesen werden), ein Tonziegeldach nach römischer Art
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Abb. 7 Rekonstruktion eines Gebäudes der Siedlung von Sobari, Moldawien
und sogar Glasfenster besaß. Eine ungefähr 90 × 45 Meter messende steinerne Mauer umschloss das Areal, zu dem auch einige hölzerne Nebengebäude gehörten. Die Funktion des Steingebäudes ist bislang ungeklärt. Aber es ist gut möglich, dass hier, tief im Barbaricum, ein lokaler (gotischer?) Herr residierte, der sich eng an römischen Vorbildern zu orientieren suchte, mit denen er offenkundig wohlvertraut war. Unbestreitbar ist jedenfalls die Tatsache, dass solche und andere Importe aus dem Imperium Romanum den Kreis jener Personen kontinuierlich erweitert haben dürften, die in Plünderungs- und Beutezügen mögliche Perspektiven für das eigene Fortkommen sahen. In dieser Entwicklung wird man eine der Ursachen für die Entstehung größerer barbarischer Verbände seit dem 3. Jahrhundert sehen dürfen.8 Die Neugestaltung der barbarischen Welt jenseits von Rhein und Donau, die die Römer, ohne es intendiert zu haben, weitgehend selbst bewirkt hatten, zählt zu den Faktoren, die seit dem 3. Jahrhundert den Erfahrungsraum der Zeitgenossen um bis dahin ungekannte Aspekte bereicherten und fortan grundlegend neu prägen sollten. Und auch jetzt noch änderte sich kaum etwas an den
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Leitlinien der Politik Roms: Weiterhin versuchten Statthalter und Kaiser durch die Steuerung der Distribution von Gütern regulierend in die Verhältnisse jenseits der Grenzen einzugreifen, aber ihre Ausgangsposition hatte sich aufgrund der Schwächung der Zentralgewalt im 3. Jahrhundert entscheidend verschlechtert. Nun besaß nicht mehr die Prävention, sondern die Eindämmung auswärtiger Angriffe Priorität; deren Zunahme im 3. Jahrhundert verweist nicht nur auf das Erstarken der neu geformten barbarischen Verbände, die Konsolidierung von zunehmend großräumig agierenden Kriegergruppen und die damit einhergehende Schwäche Roms, sondern zugleich auch darauf, dass trotz der um sich greifenden Depression im Imperium Romanum (das allerdings weiterhin auch prosperierende Regionen umfasste) das Zivilisationsgefälle zwischen der römischen und der barbarischen Welt noch immer derart beträchtlich war, dass groß angelegte Plünderungszüge lukrativ erschienen. Erst als die Konsolidierungsmaßnahmen, die von Kaisern des späteren 3. Jahrhunderts – wie Gallienus (260– 268), Claudius II. Gothicus (268–270), Aurelian (270–275) und Probus (276– 282) – eingeleitet und unter der von Diokletian (284–305) etablierten Tetrarchie (einem Herrschaftssystem mit vier Kaisern) systematisiert und fortgeführt worden waren, zu greifen begannen, konnte Rom das Heft des Handelns wieder an sich ziehen. Die zu Beginn dieses Kapitels zitierte Notiz über Konstantin macht aber deutlich, dass auch weiterhin die überkommenen Grundsätze römischer Außenpolitik galten: Durch die Vergabe materieller Güter und Prestigeobjekte wurden innerhalb der barbarischen Gesellschaften neue Strukturen geschaffen und soziale Ausdifferenzierungsprozesse befördert. Man war sich auf römischer Seite offenbar vollkommen klar darüber, was man kurzfristig zu bewirken vermochte; allein die langfristigen Konsequenzen schien weiterhin niemand zu überschauen – mit fatalen Folgen für beide Seiten.9 Innerhalb dieses Rahmens wird man die eingangs angeführte Nachricht über kaiserliche Geschenke an Barbaren betrachten müssen. Konstantin war nach den ersten Erfolgen gegen seinen Mitkaiser und Rivalen Licinius († 325) im Jahr 316 in den Besitz großer Teile des Balkans gelangt und sah sich in der Folge mit den anstehenden Sicherungsmaßnahmen an der Donaugrenze konfrontiert. Seine Vorgänger Diokletian und Galerius hatten dort bereits beträchtliche Leistungen vollbracht, indem sie eine Kette von Grenzbefestigungen angelegt hatten, deren Ausbau Konstantin weiterführen konnte. Darüber hinaus dürfte er insbesondere seit der zweiten Hälfte der 320er Jahre dankbar für jede Gelegenheit gewesen sein, durch spektakuläre militärische Erfolge über die Barbaren die eigene Position zu legitimieren und zu festigen. Der Bürgerkrieg gegen Licinius, 324 siegreich beendet, hatte Narben hinterlassen, auch die zunehmende Privilegierung der Christen war im frühen 4. Jahrhundert keineswegs unumstritten; hinzu kamen innerfamiliäre Konflikte,
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Abb. 8 Bronzemedaillon Konstantins I. mit der Umschrift SA–LVS REI P / / DANVBIVS auf der Rückseite
die in der Hinrichtung von Konstantins Ehefrau Fausta und seines Sohnes Crispus im Jahr 326 gipfelten. Zunächst setzte es jedoch eine blutige Niederlage: Der Historiograph Zosimos polemisiert, der Kaiser habe angesichts eines Angriffs der Taifalen, die man in jener Zeit etwa in der heutigen Kleinen Walachei verorten muss, nicht nur einen großen Teil seiner Truppen verloren, sondern sei gar selbst einfach davongelaufen. Bei den Taifalen handelt es sich um einen teilsesshaften organisierten Verband zwischen den weiter westlich ansässigen Sarmaten (eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche, vorwiegend reiternomadisch organisierte Gruppen nördlich der Donau) und den gotischen Terwingen im Osten. Wie weit sie um 320 /30 mit Letzteren vergesellschaftet waren, ist umstritten. Ihre Hauptwaffe bildeten jedenfalls berittene Krieger; im späteren 4. Jahrhundert fungierten sie als eine Art Kavallerie für die Terwingen. Es sollen 500 dieser Reiter gewesen sein, die Konstantin in die Flucht schlugen. Der Kaiser reagierte umgehend und forcierte die Defensivmaßnahmen an der Donau. Dazu zählte auch die Anlage einer imposanten steinernen Brücke, die etwa ab 328 das Legionslager Oescus (Gigen) im heutigen Nordbulgarien mit dem gegenüberliegenden Sucidava (Corabia, Rumänien) verband. Das gewaltige Monument zählt mit mehr als 2400 Metern zu den längsten Brücken des Altertums, es erreichte ungefähr die doppelte Spann-
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weite jener Brücke, die Traian, der Eroberer Dakiens, seinerzeit bei Drobeta (Turnu Severin, Südwestrumänien) hatte errichten lassen, und seine Fertigstellung wurde entsprechend ausgelassen gefeiert. Ein Bronzemedaillon aus den Jahren 328 /30 zeigt Konstantin in Begleitung der Siegesgöttin Victoria beim Überschreiten der Donaubrücke; wie es sich gehört, empfängt ihn auf der rechten Seite ein demütig kniender Barbar. Die Rückgewinnung der 60 Jahre zuvor geräumten Provinz Dakien, so die Botschaft, war nun greifbar nahe, den Römern in Konstantin ein zweiter Traian erstanden. Das wuchtige, für Zeitgenossen ungemein imposante Bauwerk sollte Eindruck auf die jenseits der Donau ansässigen Barbaren ausüben, ganz so wie die etwa zeitgleich errichtete, auf steinernen Pfeilern ruhende Rheinbrücke von Köln zum Kastell Deutz (Divitia) der Einschüchterung der Franken diente. Mit der Brücke von Oescus dürfte der Kaiser allerdings weniger auf die nur episodisch hervortretenden Taifalen gezielt haben als auf den ungleich größeren und gefährlicheren Verband der gotischen Terwingen.10 Als Konstantin in den 320er Jahren begann, sich verstärkt mit dem unteren Donauraum zu beschäftigen, befand sich die Region nördlich des Stromes bereits großenteils unter terwingischer Kontrolle, eine Entwicklung, die sich auch sprachlich niederschlug: Den entsprechenden Uferstreifen der Donau bezeichnete man nun mit der Wendung ripa Gothica (‹gotisches Ufer›), die dahinter liegenden Gebiete wurden allmählich zur Gothia (‹Gotenland›) und fanden als Gúþiuda auch Eingang in die gotische Sprache. Die gotische Gruppe, die sich in den waldreichen Regionen nördlich der Donau ausgebreitet hatte, wurde Terwingen (‹Waldleute›) genannt, ihre Angehörigen sahen sich auch als Vesi (‹die Edlen›); weiter nördlich, jenseits von Pruth und Dnjestr, begann das Siedlungsgebiet einer weiteren größeren Gotengruppe, dessen Zentrum in den Steppen des nördlichen Schwarzmeergebietes lag, der Greutungen (‹Steppenleute›) bzw. Ostrogothi (‹glänzende Goten›). Bei dem geläufigen Wortpaar Ostgoten–Westgoten hingegen dürfte es sich um eine künstliche Schöpfung handeln, die auf einer Missdeutung von Ostro- und Vesi- als ‹Ost-› und ‹West-› beruht und wohl zu Beginn des 6. Jahrhunderts von Cassiodor eingeführt wurde, vor dessen innerem Auge sich aus der Retrospektive tatsächlich zwei größere Gruppen mit Schwerpunkten im Osten und im Westen abzeichnen mussten.11 Als eigenständiger Verband sind die Terwingen erstmals 291 bezeugt; wenige Jahre zuvor muss die Aufgliederung der Goten in die beiden Großgruppen der Ostrogothi-Greutungen und Vesi-Terwingen erfolgt sein, wahrscheinlich im Zusammenhang der Aufgabe Dakiens durch Aurelian 271 / 72 und der danach einsetzenden Ansiedlungsprozesse. Die Verbindungen zwischen beiden Verbänden blieben auch nach der Trennung eng. Allerdings stand die Geschichte der Terwingen seither in weitaus höherem Maße im Zeichen des Austauschs mit den
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Römern als diejenige der Greutungen. Die Terwingen konnten nach der Okkupation großer Teile des ehemals römischen Dakien nicht nur auf die Reste der dortigen Infrastruktur zurückgreifen, sondern scheinen auch sonst intensive Kontakte zum Römischen Reich und zu seiner Bevölkerung gepflegt zu haben. Wahrscheinlich stellten sie bereits 297 dem damaligen Caesar Galerius (‹Unterkaiser› in der Tetrarchie) Hilfstruppen im Krieg gegen die Perser zur Verfügung und betätigten sich nördlich der ripa Gothica als eine von Rom geduldete oder sogar aktiv unterstützte Ordnungsmacht.12 Grundsätzlich blieb die Lage an der unteren Donau in den folgenden Jahren jedenfalls entspannt. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass es nicht immer wieder zu vereinzelten Zwischenfällen kommen konnte. Die folgenreichste Konfrontation ereignete sich im Jahr 323: Als Konstantin und Licinius damit beschäftigt waren, sich auf einen weiteren Waffengang vorzubereiten, und zu diesem Zweck Kontingente von der Donau abzogen, nutzte ein terwingischer, vielleicht auch sarmatischer Trupp unter Rausimod sogleich die Gelegenheit für einen Plünderungszug in die römischen Provinzen. Dabei scheint es verschiedentlich zur Kooperation zwischen den eindringenden Raubscharen und römischen Provinzialen gekommen zu sein (durchaus kein singuläres Phänomen), denn Konstantin sah sich gezwungen, derartige Akte unter Androhung von Verbrennung bei lebendigem Leibe zu untersagen (vivus amburatur). Er selbst leitete dann auch die Gegenmaßnahmen und trieb die Goten wieder zurück über die Donau; Rausimod fand dabei sein Ende, und Licinius war alles andere als begeistert. Denn Konstantin, der nun den Siegestitel Sarmaticus annahm, hatte ungebeten interveniert; die vom Terwingeneinfall betroffenen Gebiete gehörten nicht zu seinem Verwaltungsbereich, sondern unterstanden Licinius. Damit war ein willkommener Anlass für den ohnehin anstehenden nächsten Waffengang der beiden kaiserlichen Rivalen gefunden. Als der Konflikt dann im Jahr 324 offen ausbrach, konnte Licinius auf gotische Kontingente zurückgreifen, was die Spannungen zwischen Konstantin (der vor allem auf fränkischstämmige Soldaten setzte) und den transdanubischen Gruppen verschärft haben mag. Letztere reagierten auf die seit 324 forcierten römischen Befestigungsmaßnahmen an der Donau, wie etwa die Errichtung der Brücke von Oescus oder auch die Anlage des Brückenkopfes Daphne (beim heutigen Olteniţa, Rumänien), anscheinend mit einer Ausweichbewegung nach Westen, wodurch die dort ansässigen Sarmaten unter Druck gerieten und Konstantin um Unterstützung ersuchten. Wohl unter Führung des Kaisersohnes Konstantin II. überschritten daraufhin (im Jahr 332) römische Truppen die Donau und fügten den Terwingen eine katastrophale Niederlage zu. Die Überlieferung spricht, sicherlich wie üblich übertreibend, von 100 000 Menschen, die infolge der Kampfhandlungen, durch Hunger und Kälte zugrunde ge-
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gangen sein sollen. Der römische Triumph war jedenfalls vollkommen, doch wurden die Goten nicht völlig vernichtet, denn man benötigte sie als Gegengewicht zu den nicht minder gefährlichen Sarmaten. Vielmehr zwang Konstantin sie zum Abschluss eines Vertrages (foedus) – das erste sicher bezeugte Abkommen zwischen Römern und Goten (was die Existenz früherer Verträge, etwa aus dem Jahr 297, freilich nicht ausschließt). Die Terwingen verpflichteten sich zur Abstellung von (bezahlten) Hilfstruppen (bis 367 wurden sie bei vier Gelegenheiten gegen die Perser eingesetzt) und durften mit der Bevölkerung südlich der Donau wieder einen kontrollierten Handel aufnehmen – eine Vielzahl von Fundmünzen in der Gothia zeugt von regem Austausch seit den 330er Jahren. Aorich, vielleicht Sohn eines terwingischen Anführers namens Ariarich, ging als Geisel nach Konstantinopel, um den Frieden abzusichern. Der Kaiser ließ sich seither in besonderer Weise als Bezwinger der Goten feiern (unter anderem auf Münzen) und führte nun den Titel victor ac triumphator. Vor diesem Hintergrund wäre es sicherlich naheliegend, auch die berühmte ‹Gotensäule› im heutigen Istanbuler Gülhane-Park mit ihrer Inschrift Fortunae reduci ob devictos Gothos – «Der Fortuna der glücklichen Rückkehr anlässlich des Sieges über die Goten» auf die Ruhmestaten Konstantins zu beziehen, und so ist es auch häufig geschehen. Es scheint jedoch, dass dieses Monument seinen historischen Kontext eher im frühen 6. Jahrhundert findet.13 Trotz der volltönenden römischen Triumphgesänge gestaltete sich das Verhältnis zwischen Römern und Terwingen in den folgenden drei Dekaden weitgehend entspannt. Der Kaiser verstand es nach Vertragsabschluss geschickt, die Goten mit Ehrgeschenken und Auszeichnungen wieder für sich zu gewinnen – getreu den altbekannten Maßgaben römischer Politik; in einem Hinterzimmer des Senatsgebäudes zu Konstantinopel wurde sogar die Statue eines hochrangigen Terwingen, des Vaters des späteren ‹Richters› (gotisch kindins, dazu s. u.) Athanarich, errichtet. Er wird mitunter mit Aorich identifiziert, doch dies ist keineswegs zwingend. Konstantin selbst jedenfalls erfreute sich bei den Goten sogar einer ganz außerordentlichen Beliebtheit – so nachhaltig, dass diese im Jahr 365 / 66 ihre Unterstützung des Usurpators Procopius mit dessen Herkunft aus Konstantins Familie begründeten.14 Für uns ist die Art und Weise, wie Konstantin mit den Terwingen verfuhr, in verschiedener Hinsicht höchst aufschlussreich. Denn an diesem Beispiel werden uns noch einmal en détail die Grundsätze römischer Politik gegenüber den Barbaren vorgeführt: Einmal mehr erfüllen auswärtige Gruppen für die Römer zunächst einmal die Funktion, «Stoff zum Siegen» (materia vincendi) bereitzustellen. Dementsprechend instrumentalisierte Konstantin seine Erfolge gegen die Barbaren, um seine eigene Position zu konsolidieren, und ließ darauf wichtige
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Elemente seiner herrscherlichen Repräsentation aufruhen. Der Umgang mit den Terwingen erfolgte jedoch keineswegs ausschließlich in Form militärischer Konfrontationen; vielmehr beobachten wir auch in diesem Fall wieder die charakteristische Mischung aus Vergabe von Geschenken, der Förderung einzelner Adeliger und punktuellen Interventionen, mit dem Ziel, ein möglichst labiles Gleichgewicht der Schwäche jenseits der römischen Provinzen aufrechtzuerhalten. Nichts führt diesen Aspekt anschaulicher vor Augen als der Fortgang der Ereignisse nach Konstantins Sieg über die Goten im Jahr 332. Denn nun wandte sich der Kaiser unmittelbar gegen die Sarmaten, die ihn doch zuvor erst um eine Intervention gegen die Terwingen gebeten hatten; angeblich hatten diese sich nämlich im Nachhinein als unzuverlässig erwiesen und mussten ihrerseits gezügelt werden. Rom konnte das Erstarken einer neuen Kraft nach der Katastrophe der Terwingen keinesfalls hinnehmen.15 Wurden die Barbaren auf diese Weise permanent gegeneinander ausgespielt und in ihre Schranken gewiesen, so vermochten sie ihrerseits von innerrömischen Konflikten, die sich in verschiedenen Phasen der spätantiken Geschichte häuften, zu profitieren. Um ihre eigenen Streitkräfte zu verstärken, warben die römischen Prätendenten in diesen Situationen um Unterstützung durch barbarische Verbände. Während Licinius im Jahr 324 Zugriff auf Teile der Terwingen erlangte, scheint Konstantin vor allem auf fränkische Unterstützung gesetzt zu haben. Gerade die von Konstantin ausgefochtenen Bürgerkriege haben innerhalb des weiten Diskussionskomplexes um die Bedeutung der Barbaren im spätrömischen Heer bzw. die sogenannte Barbarisierung der römischen Armee in der Spätantike eine entscheidende Rolle gespielt; denn Konstantin scheint seine Streitkräfte in einem bisher ungekannten Ausmaß für barbarische Soldaten und Kontingente geöffnet zu haben. Welche Rolle diesem sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzenden Prozess für den Untergang des Römischen Reiches zukommt – er zählt ja zu den seit langem diskutierten ‹Niedergangsfaktoren› –, ist eine ganz andere Frage. Doch sei bereits an dieser Stelle daran erinnert, dass die kaiserzeitliche römische Armee ohnehin stets auf die Unterstützung durch barbarische Auxiliarverbände gesetzt, Konstantin mithin lediglich eine bereits bestehende Praxis intensiviert, allerdings auch organisatorisch reformiert hat. Darauf wird noch zurückzukommen sein.16 Die innerrömischen Auseinandersetzungen stärkten jedenfalls wiederholt die grenznahen Barbaren, indem diese sich entweder direkt als Verstärkungen anwerben ließen oder die temporären Schwächungen des römischen Grenzschutzes zur Aufbesserung der eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse ausnutzten – so etwa, wie gesehen, beim Barbareneinfall des Jahres 323. Auch darin ist letztlich ein wichtiger Mechanismus zu erkennen, mit dem sich die Römer ihre zunehmend unangenehmen Gegner selbst schufen.
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Schließlich verweisen die Geschehnisse um Konstantin und seine Politik gegenüber den Terwingen auch auf die ungebrochene Ausstrahlungs- und Anziehungskraft, die das Imperium Romanum auf die Barbaren ausübte. Als Konstantin die Goten 332 niedergerungen und zur Einwilligung in einen Vertrag gezwungen hatte, begann eine Ruhephase, von der beide Seiten profitierten. «So also lernten die Skythen [= Goten] endlich den Römern untertan zu sein» – mit diesen Worten umschreibt Konstantins Lobredner Eusebios von Kaisareia das Ergebnis. Gemeint ist damit nicht nur, dass der Kaiser auf den Resultaten seiner Politik nunmehr eine neue Stufe seiner Herrscherrepräsentation aufbauen konnte, sondern dass sich in der Folgezeit auch wichtige Veränderungen innerhalb der Gothia selbst vollzogen, so wie wir sie eingangs beschrieben haben: Der grenznahe Handel lebte auf; Münzen und Luxusgüter gelangten in verstärktem Maße in das Gotengebiet und forcierten dort soziale Prozesse. Hortfunde mit Silbermünzen (die als Zahlungsmittel damals eher ungebräuchlich waren) geben Anlass zu Spekulationen, ob es sich dabei nicht um Geschenke an gotische Adelige handelte, die auf diese Weise an Rom gebunden werden sollten. Auch könnte die lange Friedensperiode Tendenzen zur Sesshaftigkeit begünstigt und damit eine Intensivierung der Landwirtschaft eingeleitet haben, wie der Rhetor Libanios es – freilich in panegyrischem und damit schwer zu interpretierendem Kontext – andeutet. In jedem Fall aber wurden die politischen Grundlagen für einen Prozess von welthistorischer Bedeutung geschaffen: die Christianisierung der Goten, die nach Konstantins Tod bei den Terwingen einsetzte.17
2.1.2 Terwingen, Greutungen und das Problem der Černjachow-Kultur – Rom und die Goten im 3. und 4. Jahrhundert
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Wer aber waren eigentlich die Terwingen? Ihre Ersterwähnung im Jahr 291 muss keinesfalls bedeuten, dass es sich bei ihnen um eine den Römern bis dahin unbekannte Größe gehandelt hat – ganz im Gegenteil: Mit ‹Goten› hatte man schon zuvor ebenso intensive wie unangenehme Erfahrungen gemacht. Diese Kontakte reichten zurück in das mittlere 3. Jahrhundert, und mit ihnen verbanden sich keine allzu einladenden Assoziationen. Die erste sicher bezeugte römisch-gotische Konfrontation datiert in das Jahr 238.18 Goten, die sich in den Jahrzehnten zuvor im nördlichen und westlichen Schwarzmeerraum – sie selbst nannten die Region Oium (‹Auenland›) – ausgebreitet hatten, überschritten damals im Verbund mit anderen Gruppen (vor allem Karpen) die Donau und plünderten die römische Schwarzmeerstadt Histria am
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert 2.1
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Dakien
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Goten
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269
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Thessalonike Ägäis
Neokaisareia Amaseia
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Kaisareia
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Smyrna Apameia Sagalassos Ephesos
Athen Korinth Argos Sparta
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Edessa Tarsos
250/51 254 Goten und Boraner 259/60 Goten 267/68 Goten und Heruler 267–269
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Palmyra
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Feld- und Seezüge der Goten
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Apameia
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Mittelmeer Widerstandszentren Schlachten
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100 200 300km
Karte 4 Gotische Plünderungszüge im 3. Jahrhundert
Donaudelta in der Provinz Moesia inferior. Auch wenn die Römer durch die Zahlung von Jahrgeldern und die Übernahme gotischer Kontingente als Hilfstruppen die Situation zunächst noch entschärfen konnten, bedeutete das Jahr 238 so etwas wie die Initialzündung für eine ganze Folge von Attacken aus dem Barbaricum auf römische Gebiete an der unteren Donau, im Schwarzmeergebiet und schließlich sogar im Inneren Kleinasiens und im Ägäisraum. Diese Überfälle sollten sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen, und innerhalb der bunt gemischten Angreiferscharen kristallisierten sich bald ‹Goten› als zentraler Akteur und Taktgeber heraus – offenbar auch ein Resultat machtpolitischer Prozesse, die sich in jenen Dekaden nördlich und westlich des Schwarzen Meeres vollzogen. Nur wenige Jahre zuvor hatten die Karpen gegenüber einem römischen Statthalter noch darauf insistieren können, den Goten überlegen zu sein («Denn wir sind stärker als
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jene»), aber die Verhältnisse im Barbaricum verschoben sich offenkundig. Im Römischen Reich hat man solche Veränderungen wohl registriert. In den literarischen Zeugnissen erscheinen Goten zunächst (und auch später noch) häufig als ‹Skythen›, ganz getreu den etablierten Mustern: Antike Ethnographen und Historiographen waren seit Herodot eben gewohnt, Barbaren, die in den Steppen jenseits des Schwarzen Meeres lokalisiert wurden, unter diese unscharfe Sammelbezeichnung zu fassen, die Veränderungen innerhalb der barbarischen Welt konsequent ignorierte. Doch allmählich begriffen die Römer, dass die «Goten genannten Skythen» (Σκύθαι […] οἱ λεγόμενοι Γότθοι) offenbar eine Größe eigenen Ranges darstellten.19 Barbarische Plünderungszüge dauerten jedenfalls auch nach 238 an (nicht nur im Donauraum) und wuchsen sich zu einem jener Faktoren aus, die mit zu der zunehmend bedrohlichen politischen Instabilität und den turbulenten Verhältnissen während des 3. Jahrhunderts beitrugen. Gotisch dominierte Gruppen, die offenbar schon von recht mächtigen, strategisch weitsichtigen und verschiedentlich auch namentlich bekannten Anführern geleitet wurden (der berühmteste war Kniva; ein weiterer, wohl Ostrogotha zu lesender Name ist jüngst in einem Dexippos-Palimpsest aufgetaucht), drangen mehrfach in Dakien, Moesien und Thrakien ein, sie plünderten größere Städte, darunter Markianopolis (heute Dewnja, Nordostbulgarien) und Philippopolis (Plovdiv), wo es zu entsetzlichen Grausamkeiten gekommen sein soll. Einmal mehr profitierten sie dabei von der Entblößung der Grenzverteidigung infolge innerrömischer Konflikte, so etwa bei ihrem großen, eine weiträumige strategische Koordination voraussetzenden Angriff auf die Balkanprovinzen im Jahr 250. Dann, im Folgejahr, die eigentliche Katastrophe: Beim Versuch, einen von Kniva geführten Verband mit der Beute aus Philippopolis zu stellen, fanden der römische Kaiser Decius (249–251) und sein Sohn Herennius Etruscus, Letzterer erst wenige Wochen zuvor zum Augustus erhoben, in den unwegsamen Sümpfen bei Abrittus (nahe dem heutigen Razgrad, Nordostbulgarien) den Schlachtentod. Niemals zuvor war ein römischer Kaiser im Kampf gegen Barbaren untergegangen. Wie war das zu interpretieren? Antike Zeitgenossen konnten gar nicht umhin, die Geschehnisse um Decius’ gescheiterten Gotenkrieg zum Ausgangspunkt für fatalistische Zukunftsprognosen zu erklären, und ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als knapp ein Jahrzehnt später, im Jahr 260, mit Valerian der nächste Kaiser verloren ging, dieses Mal im Gefecht mit den Persern.20 Viel Zeit blieb freilich nicht für tiefergehende Reflexionen über den möglichen Fortgang der Geschichte, denn die Raubzüge wurden mit unverminderter Härte fortgesetzt. Ein gotischer Verband scheint um 253 /54 sogar bis in die Region um Thessalonike vorgedrungen zu sein. «Ein völlig neues Element der Kriegführung» (H. Wolfram) und damit weitere Zuspitzungen der Lage brachten die seit 255
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einsetzenden gotischen Piratenfahrten im Schwarzen Meer. Vor allem die Küstenstädte im nördlichen Kleinasien – Trapezunt, Chalkedon, Nikomedeia, Nikaia, Kios, Apameia, Prusa und andere – hatten darunter schwer zu leiden. Gotische Vorstöße reichten dabei tief in das kleinasiatische Hinterland. Wahrscheinlich wurden im Zuge eines solchen Einfalls die Vorfahren des späteren Gotenbischofs Wulfila aus Kappadokien in das Donaugebiet verschleppt. Christen, die auf diesen Raubzügen in gotische Gefangenschaft gerieten, waren offenbar die ersten Vermittler ihres Glaubens an die Goten.21 Schließlich drangen gotische Boote sogar bis in die Ägäis vor; doch Goten waren nicht die einzigen Angreifer, die den östlichen Mittelmeerraum damals unsicher machten, zumal die Raubscharen ohnehin zumeist polyethnisch (unter anderem aus Karpen, Boraden / Boranen, Peukinern, Vandalen, Sarmaten) zusammengesetzt waren: Unter der Führung von Herulern drangen Barbaren 267 weit nach Süden vor, nahmen neben Byzanz auch Korinth, Sparta und Argos ein, ja sie brandschatzten gar Athen, dessen Verteidigung die Einwohner selbst in die Hand nahmen – wie man bisher mutmaßte, unter maßgeblicher Beteiligung des Historiographen Herennius Dexippos, vielleicht aber auch unter Führung eines Namensvetters. Die Geschehnisse um Athen lassen dabei ein Muster zutage treten, das in der Spätantike dann öfter begegnen wird: Das Imperium Romanum und seine Repräsentanten geraten nun wiederholt in Situationen, in denen sie den Schutz ihrer Bevölkerung nicht mehr annähernd gewährleisten können – bei der Plünderung Trapezunts etwa war die römische Besatzung einfach davongelaufen. Die Betroffenen wiederum greifen verstärkt zur Selbsthilfe, einzelne Städte und Regionen bilden im Angesicht drohender Katastrophen Partikularinteressen aus, die nicht unbedingt mehr mit denen des Gesamtreichs kongruieren müssen – ein beschleunigter Prozess der Regionalisierung setzt ein. Gleichzeitig begeben sich verängstigte Menschen freiwillig unter den Schutz und damit in die Abhängigkeit von mächtigen Patronen, die eigene Streitkräfte mitunter beträchtlichen Ausmaßes aufstellen, um sich selbst und ihre Schutzbefohlenen zu beschirmen, im Besonderen auch gegen Vertreter der Zentralmacht (zum Beispiel Steuereintreiber). Modern gesprochen: Dem ‹Staat› entgleitet das Gewaltmonopol (das das Römische Reich allerdings ohnehin nie in einem modernen Staaten vergleichbaren Maße besessen hat).22 Das Ausmaß des Unheils, das damals einige Regionen des Imperium Romanum ereilt haben muss, lässt sich noch umrisshaft aus dem Kanonischen Brief erahnen, den Gregorios Thaumaturgos († um 270) als Bischof der kleinen christlichen Gemeinde der Schwarzmeerstadt Neokaisareia (heute Niksar, Türkei) an einen namentlich nicht genannten Amtskollegen verfasst hat. Darin werden Anleitungen gegeben, wie mit Christen zu verfahren sei, die während der Goten-
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einfälle gezwungen worden waren, gegen ihren Glauben zu handeln, oder die gar mit den Angreifern kooperiert hatten, «vergessend, dass sie Leute aus dem Pontus und Christen waren» (ἐπιλαθομένους, ὅτι ἦσαν Ποντικοὶ καὶ Χριστιανοί). Plastisch treten uns hier die Bedrängnisse vor allem der Gefangenen vor Augen: der Zwang, von Fleisch zu kosten, das möglicherweise paganen Opferhandlungen entstammte; Vergewaltigungen und der Umgang mit den Opfern; manch einer war zwar seinen Peinigern durch Flucht entkommen, dann aber stattdessen von Römern festgehalten worden (Ähnliches geschah auch bei späteren Barbareneinfällen, die Regierung ging gesetzlich dagegen vor). Probleme bereiteten ohnehin vielfach einheimische Bürger, die das Chaos der Barbarenüberfälle dazu nutzten, sich selbst zu bereichern – ihnen begegnet der Bischof mit härtester Strafe: der Exkommunikation. Gregors Brief weist in dieselbe Richtung wie das Geschichtswerk des Dexippos: Appelliert wird nicht mehr an die Solidarität der Römer und Reichsbewohner, sondern an den Zusammenhalt der Christen und betroffenen Provinzialen im Pontusgebiet – auch dies ein Aspekt der zunehmenden Regionalisierung.23 Nur langsam gelang es den römischen Autoritäten, sich die nötigen Handlungsspielräume zu verschaffen, um energischer gegen die vor allem von Goten ausgehende Gefahr vorzugehen – auch deshalb, weil die Angreifer sich immer weiter von ihren Ausgangsplätzen aus vorwagten und dadurch verwundbarer wurden. Nach ersten Erfolgen des Gallienus (260–268) vermochte Kaiser Claudius II. (268–270) im Jahr 269 in der Schlacht bei Naissus (heute Niš, Serbien) einen von Goten angeführten Verband zu verjagen; dabei sollen 50 000 Barbaren den Tod gefunden haben – ein erstes Achtung gebietendes Signal der römischen Seite. Claudius führte daraufhin als erster Kaiser den Triumphaltitel Gothicus Maximus. Nicht ohne Grund sollte Jahrzehnte später Konstantin den angesehenen Gotenbekämpfer zu seinem Ahnen erklären. Unter Aurelian (270–275) gingen die Römer dann erstmals wieder in die Offensive; der Kaiser stieß mit seinen Truppen seinerseits ins Barbaricum vor und beendete damit die Phase der gotischen Plünderungszüge. «Durch Aurelian, einen energischen Mann und höchst gestrengen Rächer ihrer Untaten», resümiert ein Jahrhundert später Ammian, «verhielten sie sich, vertrieben, lange Jahrhunderte hindurch ruhig». Des Kaisers Entscheidung, Dakien aufzugeben, fiel in diesem Kontext: Aus einer temporären Position der Stärke heraus wurde den Barbaren ein größeres, aufgrund seiner Lage ohnehin nur schwer zu verteidigendes Gebiet erst einmal überlassen. Dadurch wurden die Grenzen entlastet und der Kaiser konnte sich anderen Krisenherden zuwenden. Gotische Gruppen begannen nun allmählich, sich in der ehemaligen römischen Provinz niederzulassen. In diesen Jahren muss es zur Herausbildung der beiden späteren gotischen Hauptverbände, der Terwingen
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert 2.1
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Karte 5 Verbreitungsgebiete der Sāntana de Mureş- und Černjachow-Kultur
und Greutungen, sowie sicherlich noch weiterer, uns unbekannter Gruppierungen gekommen sein.24 Das allmähliche Vordringen der Goten in Gebiete des ehemals römischen Dakien lässt sich – eine höchst seltene Ausnahme – archäologisch nachvollziehen, anhand der Ausbreitung der sogenannten Sāntana de Mureş-Kultur (benannt nach einem Gräberfeld bei Sāntana de Mureş im heutigen Siebenbürgen) im letzten Viertel des 3. Jahrhunderts. Diese archäologische Fundgruppe weist einen hohen Übereinstimmungsgrad mit der Černjachow-Kultur auf (so nach einem weiteren Gräberfeld in der Nähe von Kiew benannt), die nahtlos an sie anschließt, ihr Zentrum in der Region nördlich und nordwestlich des Schwarzen Meeres findet und in der Regel in einem Atemzug mit der Sāntana de Mureş-Kultur angeführt wird. Nach all der Skepsis, die wir gegenüber der ethnischen Interpretation archäologischer Kulturen geäußert haben – warum soll dieses schwierige Unter-
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fangen nun ausgerechnet für die Goten funktionieren und welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Wer es sich leicht machen möchte, braucht lediglich auf Jordanes zu verweisen: Die von ihm geschilderte Wanderung der Goten von Skandinavien (Scandza) über den Ostseeraum (Gothiscandza) in das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres (Oium) scheint sich geradezu perfekt im sprachwissenschaftlichen und archäologischen Befund niederzuschlagen. Da sind zunächst die auf Goten verweisenden Toponyme in Skandinavien (‹Gotland›, ‹Väster-› und ‹Östergötland›), sodann die Befunde der sogenannten Wielbark-Kultur an der Weichsel und deren allmähliche Verlagerung in den Schwarzmeerraum, wo seit ca. 220 /30 mit der Sāntana de Mureş- / Černjachow-Kultur eine organische Fortsetzung zu entstehen scheint, die zahlreiche Wielbark-Elemente übernimmt und weiterführt. Literarische und materielle Zeugnisse, so der Eindruck, bestätigen sich also gegenseitig. Genau darin jedoch liegt das grundlegende methodische Problem: «Sei es bewusst oder unbewusst – die archäologische Fragestellung wird stets durch Jordanes strukturiert, weshalb man darauf beharrt, Parallelen zwischen den Funden der Wielbark- und Černjachow- / Sāntana de Mureş-Kultur besonders hervorzuheben». Wirft man jedoch einen kritischeren Blick auf das Material, so erweisen sich die Übereinstimmungen zwischen beiden archäologischen Fundgruppen keineswegs als derart zwingend, wie in der Forschung gerne angenommen wird. Und selbst die vorhandenen Parallelen lassen sich durchaus anders als über das Migrationsparadigma erklären, etwa durch die Diffusion von Gütern oder schlicht durch Austauschprozesse, denn Wielbark- und Černjachow- / Sāntana de Mureş-Kultur überlappen sich zeitlich. Damit wird eine Wanderung kleinerer oder größerer Gruppen von der Weichsel an das Schwarze Meer keineswegs ausgeschlossen, aber sie stellt lediglich eine mögliche Annahme dar, kann nicht alleinig die Černjachow-Kultur konstituiert haben und muss vor allem nicht unmittelbar auf eine Entität bezogen werden, die wir ‹die› Goten nennen können. Gleichfalls dürfte die Existenz von Namen, die auf ‹Goten› in Skandinavien verweisen, kaum eine hinreichende Grundlage für das Postulat ausgedehnter Migrationsprozesse darstellen; der Gotenname kann sich durchaus unabhängig von großen Wanderbewegungen verbreitet haben, so etwa als eine prestigeträchtige Bezeichnung, die an heroische Traditionen bzw. Erzählelemente gekoppelt war.25 Anders verhält es sich jedoch mit der Herausbildung der Sāntana de Mureş- / Černjachow-Kultur seit dem 3. Jahrhundert. Das Gebiet, in dem sich dieser Prozess vollzog, erscheint in verschiedenen Schriftquellen als Ausgangsregion wiederholter Barbareneinfälle, die man für ebendiesen Zeitraum notierte; in deren Kontext kristallisierte sich, wie angedeutet, zunehmend eine dominierende Kraft
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert 2.1
heraus, die antike Beobachter ‹Goten› nannten. Das sind bemerkenswerte Übereinstimmungen; sie dürfen uns jedoch wiederum nicht dazu verleiten, nunmehr unreflektiert die Träger der Černjachow-Kultur insgesamt mit ‹den Goten› zu identifizieren. Wir wissen, dass die Bevölkerung der Gebiete nördlich und westlich des Schwarzen Meeres im 3. Jahrhundert vielgestaltig und sicherlich alles andere als ethnisch homogen war – die Kataloge, in welche römische Beobachter die unterschiedlichen Invasorenverbände eingruppierten, sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Aber Goten scheinen im 3. Jahrhundert allmählich eine klar erkennbare Führungsrolle in einem größeren geographischen Raum errungen zu haben, und zwar als Träger einer materiellen Kultur, an der nicht nur sie selbst, sondern auch all die anderen dort ansässigen Gruppen Anteil hatten und die sich parallel zu der politischen Entwicklung, die sich aus den Schriftzeugnissen erschließen lässt, ausbildete. In diesem – und nur in diesem – Sinne können wir die Černjachow-Kultur als ‹gotisch› bezeichnen. Sie reflektiert in vielschichtiger Weise die Lebenswelt in einer Region, in der offenbar ganz verschiedene Traditionen, solche von Zuwanderern unterschiedlichster Provenienz, solche von Indigenen und solche, die sich in dieser Gemengelage erst sekundär herausbilden konnten, zusammentrafen und zu einer neuartigen Formation verschmolzen. Diese wiederum weist trotz der von Archäologen postulierten Homogenität weiterhin zahlreiche heterogene Elemente auf, die in unterschiedlicher Weise gedeutet wurden: ethnisch, religiös, sozial. Keine dieser Interpretationen ist mit letzter Gewissheit beweis- oder widerlegbar. Die Černjachow-Kultur ragt vielmehr gerade aufgrund ihres Variantenreichtums aus dem Spektrum zeitlich und räumlich nahestehender Fundgruppen heraus. Umso mehr gilt gerade für sie das methodische Caveat, dem zufolge jede ‹archäologische Kultur› eine moderne Abstraktion, abhängig von der Auswahl der als relevant erachteten Kriterien, darstellt. Andererseits lässt sich ihre Herausbildung aber exakt mit verschiedenen literarischen Zeugnissen korrelieren, denen man nicht in ihrer Gesamtheit gestaltende Absichten unterstellen kann, wie es bei Jordanes der Fall wäre – so exakt immerhin, dass sich literarischer und archäologischer Befund tatsächlich einmal zur Deckung bringen lassen, jedenfalls dann, wenn man das Resultat nicht ausschließlich auf ‹die› Goten fokussiert, sondern sich bewusst macht, dass wir auf ein heterogenes Gebilde blicken, das in jener Region überhaupt erst entstanden ist (also nicht als Paket von Einwanderern mitgebracht wurde) und deren politisch sichtbarste Akteure von den Römern als Goten identifiziert worden sind und sich bald auch selbst so bezeichnet haben dürften, ganz unabhängig von ihrer Herkunft. Man denke, um sich entsprechende Prozesse zu vergegenwärtigen, nur an unseren Griechen, der im Gefolge des Hunnen Onegesios selbst zum Hunnen mutierte, oder auch an eine aufschlussreiche Passage im Militärhand-
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buch des Maurikios aus dem späten 6. Jahrhundert: Dort wird angedeutet, dass die Slawen ihren Kriegsgefangenen nach gewisser Zeit die Möglichkeit eröffneten, als Freie bei ihnen zu bleiben und damit selbst zu Slawen zu werden.26 Die Černjachow-Kultur gibt uns einigen Aufschluss über die Lebensweise der gotisch dominierten Barbaren zwischen dem Don im Nordosten und der Donau und den Karpaten im Süden und Westen – ein Gebiet also, das ganz unterschiedliche geographische Zonen umfasst, von den Ausläufern der großen eurasischen Steppe nördlich des Schwarzen Meeres bis zu den fruchtbaren Flusstälern und Wäldern südlich und westlich davon. Diese differenten naturräumlichen Bedingungen haben die Bevölkerung geprägt. Während im nördlichen Schwarzmeerraum, jener Region, die im 4. Jahrhundert mit den Greutungen in Verbindung gebracht wurde, verschiedene Indizien noch die nomadische, also eine mobile, weitgehend auf Viehweidewirtschaft basierende Lebensweise in der Steppe evozieren, scheint der Alltag der Terwingen an der unteren Donau bäuerlich geprägt gewesen zu sein. Ackerbau wurde aber auch, wenngleich nicht mit derselben Intensität, nördlich des Schwarzen Meeres betrieben; gegenüber nomadischen Existenzformen überwog auch dort offenbar bereits die Sesshaftigkeit.27 Die Passionsbeschreibung des gotischen Märtyrers Sabas († 372) wirft einige interessante Schlaglichter auf das Leben der Terwingen, das sich anscheinend in überschaubaren Dorfgemeinschaften abspielte; Letzteres wird durch den archäologischen Befund bestätigt. Insbesondere in den zumeist dicht besiedelten Flusstälern lagen kleinere, unbefestigte Dörfer, mitunter nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Dort lebten die Menschen vorwiegend in Grubenhäusern, in kleineren Behausungen also, die – auch aus anderen Regionen Mitteleuropas bekannt – in unterschiedlicher Tiefe in die Erde eingelassen waren und dadurch Schutz und Isolierung gegenüber extremen Witterungsbedingungen boten. Gebaut wurde vielfach mit Holz und lehmverputztem Flechtwerk, der Fußboden bestand aus gestampfter Erde; nördlich des Schwarzen Meeres finden sich auch vermehrt Steinbauten. Neben den Grubenhäusern begegnet, allerdings seltener, ein weiterer Haustyp, der ebenfalls im Barbaricum, vor allem in den Regionen Nord- und Mitteleuropas, verbreitet war: das Wohnstallhaus, eine weitgehend aus Holz gefertigte Kombination von Behausungen für Menschen und Nutzvieh in einem größeren, länglichen Raum; wie bei den Grubenhäusern waren die Dächer mit Binsengewächsen abgedeckt. Häufig waren die Häuser der ČernjachowKultur in Reihen, parallel zu den Wasserläufen, angeordnet; dazwischen errichtete man mitunter Nebenbauten – Feuerstellen oder Öfen.28 Die Goten betrieben weitgehend Subsistenzwirtschaft; man produzierte also für den eigenen Bedarf und nicht für Märkte. Im Vordergrund stand der Ackerbau. Weizen, Gerste und Hirse wurden in größeren Mengen angebaut, aber auch
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert 2.1
Roggen, Hafer und andere Nutzpflanzen haben Spuren hinterlassen. Mahlsteine verweisen auf die jeweils heimische Verarbeitung des Getreides, darüber hinaus kamen landwirtschaftliche Geräte aus Eisen (Pflugscharen, Sicheln, Sensen) zum Einsatz. Handspindeln, Messer, Scheren, Zangen und Nadeln gehörten zur Grundausstattung der Häuser; auch die Metallverarbeitung spielte eine wichtige Rolle, wie überhaupt die handwerklichen Fähigkeiten der Goten beträchtlich gewesen sein müssen. Als Nutztiere wurden vor allem Rinder gehalten, darüber hinaus aber auch Schafe und Ziegen sowie Schweine. Pferdeknochen hingegen fanden sich seltener; diese Tiere stellten offenbar ein Statussymbol für die Eliten dar.29 Die Existenz solcher Oberschichten lässt sich vor allem aus den Grabfunden erschließen, während herausragende ‹Fürstensitze›, wie wir sie aus anderen Teilen des Barbaricum kennen, im Gebiet der Černjachow-Kultur eher die Ausnahme bildeten. Allerdings konnten größere Ansiedlungen nachgewiesen werden, in denen die Anzahl römischer Importgüter besonders hoch ist und die wahrscheinlich auch eingefriedet waren, so etwa Alexandrowka, Gorodok (Ukraine) und Palanca (Moldawien). In den Nekropolen spiegelt sich in besonderer Weise die Vielfältigkeit der Černjachow-Kultur. Brand- und Körperbestattungen finden sich nebeneinander auf denselben Gräberfeldern, wobei eine fortschreitende Tendenz zu Letzteren erkennbar ist; Steppentraditionen wirkten verschiedentlich fort, was sich in vereinzelten Beispielen für künstlich herbeigeführte Schädeldeformationen sowie der Aufbahrung des Leichnams auf erhöhten Plattformen manifestiert; auch die Praxis der Grabbeigaben weist zahlreiche Varianten auf, signifikant ist vor allem das weitgehende Fehlen von Waffenbeigaben (mit wenigen Ausnahmen). Die bisher vorgebrachten Erklärungen für die auffällige Heterogenität sind vielfältig. Sie reichen von ethnischen Faktoren und vom Einfluss älterer indigener Kulturen über soziale Aspekte bis hin zur Annahme unterschiedlicher Jenseitsvorstellungen oder gar einer fortschreitenden Christianisierung. Die Tatsache, dass manche Gräber vollkommen beigabenlos sind, sich in anderen hingegen silberne Fibeln und Gürtelschnallen finden und dazwischen ein breites Spektrum verschiedenster Variationen auftritt, lässt sich jedoch plausibel im Sinne einer manifesten sozialen Differenzierung interpretieren. Noch weitgehend ungeklärt ist hingegen die Rolle, die Schatzfunde für die Identifikation einer Elite innerhalb der Černjachow-Kultur spielen. Mit großer Sicherheit ist jedenfalls davon auszugehen, dass Austausch und Handel mit dem Imperium Romanum wichtige ökonomische Faktoren darstellten und dass vor allem lokale und regionale Eliten davon profitiert haben dürften. Aus dem Mittelmeerraum wurden hauptsächlich Wein, Öl, Keramik, Kleidungsbestandteile, Glas- und Metallwaren importiert, darüber hinaus aber auch technische und handwerkliche
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Kenntnisse übernommen; die Römer ihrerseits könnten besonders aus dem Getreide-, Tier- und Sklavenhandel Vorteile bezogen haben. Insgesamt scheinen sich die engen Austauschbeziehungen zu beiderseitigem Nutzen ausgewirkt zu haben – so sah es jedenfalls der römische Rhetor und Panegyriker Themistios. Aus dieser Perspektive mutet das Leben im ‹Auenland› zunächst regelrecht idyllisch an. Aber der Friede währte nur wenige Jahrzehnte. Geradezu prophetisch mutet aus heutiger Perspektive eine angebliche Warnung des Kaisers Julian (360– 363) an: «Die Skythen geben momentan zwar noch Ruhe, aber vielleicht werden sie die Ruhe nicht halten».30
2.1.3 Wulfila – Christen, Goten, Römer am Vorabend der Katastrophe
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Unruhe ging allerdings zunächst von den Römern aus, doch spricht die Tatsache, dass die innerrömischen Prätendentenkämpfe nach dem Tod Konstantins (337) nicht zu einer Destabilisierung der Lage an der unteren Donau führten (anders als an Rhein und oberer Donau, wo Franken und Alemannen die temporäre Schwäche des Imperiums einmal mehr für Überfälle nutzten), insgesamt für die Haltbarkeit des Abkommens von 332 und die beiderseitige Zufriedenheit mit den Vertragsbedingungen. Die Kontakte zwischen den Bewohnern diesseits und jenseits der Donau waren eng, der Handel über den Strom hinweg florierte, Goten verstärkten die Garnisonen römischer Grenzkastelle und dienten vor allem unter Constantius II. (337–361) und Julian in mehreren Feldzügen gegen die Perser. Erst als einige gotische Anführer (in römischer Terminologie erscheinen sie als reges) aus alter Anhänglichkeit gegenüber der konstantinischen Dynastie, vielleicht auch um die römische Seite zu noch weiteren Konzessionen zu zwingen, den Usurpator Procopius im Jahr 365 / 66 gegen Kaiser Valens (364–378) unterstützten, mischten sich Dissonanzen in das bis dahin harmonische Miteinander. Valens war zwar siegreich, aber angeschlagen aus diesem Bürgerkrieg hervorgegangen und benötigte nun dringend einen Erfolg, um seine Stellung neu zu festigen. Da kam es ihm recht gelegen, dass die Goten, «eine mit den Römern befreundete und durch lange gültige Friedensverträge verpflichtete gens», ohnehin für ihre Unterstützung des Rivalen bestraft gehörten. Im Jahr 367 eröffnete der Kaiser den Krieg gegen die Terwingen.31 Die Terwingen bildeten damals einen lockeren Verband aus einzelnen Anführern (gotisch reiks) und ihren jeweiligen Gefolgschaften. Antike Autoren bezeichnen diese reiks – in der Passio Sancti Sabae werden namentlich etwa Rothesteus und sein Sohn Atharid genannt, ein weiteres Zeugnis erwähnt einen gewissen
Terwingen und Greutungen: Goten im 4. Jahrhundert 2.1
Wingurich – mit dem Terminus rex (griechisch ῥήξ, ‹König›), der in der Aussprache («rhīx») klanglich dem gotischen Wort nahekam. Um ‹Könige› im Sinne monarchischer Herrschaft handelte es sich dabei aber mitnichten, sondern eher um angesehene Männer, die über kunja (Singular: kuni) geboten – einzelne Abteilungen, die wohl nicht nur auf Verwandtschaft beruhten, sondern weiter gefasste, vielleicht gefolgschaftlich organisierte Verbände darstellten. Zeitgenössische Beobachter glaubten die reiks dennoch an «königlichen Abzeichen» sowie an ihrer Würde und Abstammung erkennen zu können. Gemeinsam mit den Vorstehern der Siedlungen (gotisch maistans, griechisch μεγιστᾶνες) bestimmten sie das politische Leben bei den Terwingen. Über ihnen allen stand der «Richter» (iudex bzw. δικαστής, gotisch kindins) als Hüter der geltenden Rechts- und Sozialordnung. Ob ihn die Versammlung der reiks nur situativ, etwa in konkreten Bedrohungslagen, einsetzte oder die Stellung eines kindins dauerhaft war, ist umstritten. Unsere Zeugnisse suggerieren Letzteres, doch ist die Evidenz insgesamt recht schmal. Der bekannteste kindins der Terwingen war Athanarich. Den Römern, die wenig Interesse an der gotischen Sozialordnung zeigten, galt er schlicht als rex. Als Valens ihn im Jahr 369 entsprechend titulierte, lehnte Athanarich diesen Titel allerdings ab, mit der Begründung, ein König verkörpere lediglich Macht (δύναμις), ein kindins hingegen Weisheit (σοφία).32 Über drei Sommerkampagnen in den Jahren 367 bis 369 erstreckte sich der Gotenkrieg des Valens. Nach sorgfältigen Vorbereitungen, in die wir anhand erhaltener Gesetze einen partiellen Einblick gewinnen, überquerte der Kaiser im ersten Kriegsjahr auf einer Schiffsbrücke bei Daphne mit seinen Truppen die Donau (die konstantinische Brücke bei Oescus war damals vielleicht schon unbrauchbar) und suchte die Konfrontation mit dem terwingischen Aufgebot. Athanarich jedoch, damals bereits «Richter» der Terwingen, wich geschickt in die Karpaten aus und brachte Valens dadurch um den erhofften Schlachtenerfolg; die Römer mussten sich damit begnügen, Felder und Dörfer zu verwüsten sowie versprengte Goten für den Sklavenmarkt einzufangen. Auch das zweite Kriegsjahr verlief für sie enttäuschend. Der Sommer war ungewöhnlich verregnet, die Donau führte Hochwasser und konnte nicht von einer größeren Streitmacht überschritten werden. Das römische Heer lagerte daher am Südufer, blieb allerdings nicht untätig: Zahlreiche Grenzkastelle wurden wiederhergestellt oder neu angelegt. Erst im dritten Sommer, 369, stellte sich der avisierte Erfolg ein. Valens drang tief, bis in das Gebiet der Greutungen, in die Gothia ein und zwang Athanarich endlich zur Schlacht. Wahrscheinlich hatte sich der Druck auf den kindins massiv erhöht, denn die Terwingen litten inzwischen furchtbar unter der Not der Verwüstungen, unter den Hochwassern, Ernteausfällen und der Unterbrechung der Handelswege, und so suchte man eine Entscheidung. Diese fiel zugunsten der
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Römer aus; sie besiegten die Goten, verheerten abermals ihr Land, demütigten den Gegner jedoch nicht bis zum Äußersten (schließlich konnte man für die gotischen Soldaten später noch Verwendung finden), sondern zogen sich zurück. Allzu viel mehr war ohnehin nicht erreichbar, jedenfalls nicht auf dem Schlachtfeld. Für beide Seiten war es an der Zeit, ein neues Abkommen zu schließen.33 Auf einem Boot in der Mitte der Donau kamen der Kaiser und der terwingische «Richter» an einem heißen Spätsommertag zu Gesprächen zusammen. Die Truppen beider Seiten bezogen an den Ufern des Stromes Aufstellung. Die Stimmung war feierlich, aber auch voller Spannung. Der Ort des Treffens war mit Bedacht gewählt: Selbstverständlich war es dem Herrscher über die Welt nicht zumutbar, sich persönlich zu Verhandlungen in das Gotengebiet zu begeben. Aber auch Athanarich war gebunden; einst hatte er einen Eid abgelegt, niemals römischen Boden zu betreten.34 Der Vertrag wurde schließlich so gefasst, dass beide Partner zufrieden auseinandergehen konnten. Valens erhielt die Gelegenheit, seine Machtposition dadurch zu demonstrieren, dass die bisherigen Zahlungen an die Goten, von konservativen Vertretern der römischen Eliten stets als demütigende Tribute verabscheut, eingestellt wurden; zudem hatten die Goten erneut Geiseln zu stellen. Für die notleidenden Terwingen war besonders wichtig, dass der Handel mit dem Imperium wieder aufgenommen werden konnte; allerdings beschränkte Valens diesen auf zwei Marktorte (deren Namen wir nicht kennen), um schärfere Kontrollen und Regulierungen zu ermöglichen. Tatsächlich spiegelt sich der daraufhin einsetzende Rückgang der Handelsaktivitäten in der deutlich abnehmenden Zahl von Münzfunden in der Gothia, der Export von Gold in das Barbaricum wurde gar unter Androhung schwerer Körperstrafen gesetzlich verboten. Dolmetscher für die gotische Sprache sollten allerdings weiterhin besoldet werden – ein deutliches Indiz dafür, dass man grundsätzlich um die Aufrechterhaltung von Kontakten bemüht war. Valens ließ sich, wie es römischen Usancen entsprach, in Lobreden (z. B. von Themistios) für seine Erfolge feiern; selbstverständlich wurden auch die von seinen Soldaten erneuerten Donaubefestigungen auf Münzen präsentiert, ebenso wie er den Siegestitel Gothicus Maximus annahm. All dies waren auch deutliche Signale in Richtung Osten, wo mit den unruhigen persischen Sāsāniden ein weitaus gefährlicherer Gegner auf den Kaiser wartete.35 Seit der Antike genießt Valens keinen sonderlich guten Ruf. Die Niederlage, die er wenige Jahre nach dem Vertragsschluss gegen die Goten erleiden sollte (bei Adrianopel, 378), und sein homöisches Bekenntnis, das der späteren christlichen Orthodoxie zuwiderlief, haben seine Reputation bis zur Unkenntlichkeit zernagt. Unfähigkeit und übertriebene Eitelkeit zählen zu den Hauptvorwürfen. Zweifellos hat er den Gotenkrieg der Jahre 367 bis 369 ohne erkennbare äußere Not eröff-
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net. Daraus auf charakterliche Defizite zu schließen, wäre indes voreilig. Vor einigen Jahren wurde mit guten Argumenten die These aufgestellt, dass Valens und sein älterer Bruder, der im Westen des Imperium Romanum herrschende Valentinian I. (364–375), geradezu von dem Gedanken besessen gewesen, das Reich an allen Grenzen gegen andrängende Barbaren verteidigen zu müssen, und aus diesem Grunde mit besonderer Energie gegen auswärtige Gegner ins Feld gezogen seien. Ein aggressives und expansives Vorgehen gegen äußere Feinde gehörte indes zu den Diktaten, denen römische Monarchen sich seit Anbeginn zu fügen hatten. Ein Kaiser, der nicht in der Lage war, seine kriegerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen, stieß – zumindest noch im 4. Jahrhundert – auf enorme Schwierigkeiten, die nötige Akzeptanz zu finden. Valens’ Angriff auf die Terwingen gewinnt aber auch vor dem Hintergrund prinzipieller Maximen römischer Außenpolitik durchaus an Plausibilität. Wie angedeutet, achteten die Römer stets darauf, allzu große Machtkonzentrationen in der Nähe ihrer Grenzzonen zu verhindern und nötigenfalls eben auch durch militärische Interventionen zu zerschlagen. Im Fall der Terwingen war es offenbar zu einer derartigen Verdichtung gekommen, und sie schien allmählich Sorgen zu bereiten. Die lange Friedenszeit seit dem Abkommen aus dem Jahr 332 hatte zu einer Konsolidierung der gotischen Position an der unteren Donau geführt, römische Kriegszüge gegen Quaden und Sarmaten, die westlichen Nachbarn der Terwingen, hatten durch die Schaffung von Machtvakua die terwingische Vormachtstellung jenseits des Stromes zusätzlich gefestigt. Es war an der Zeit, ein Exempel zu statuieren, und die Geschehnisse um die Usurpation des Procopius lieferten dafür einen hinreichenden Vorwand. Tatsächlich zeigen der Verlauf des Krieges und die Bedingungen des anschließenden Vertrages recht deutlich, dass es Valens nie um eine Vernichtung der Goten ging, sondern lediglich darum, die Verhältnisse im Barbaricum einmal mehr im Sinne Roms zu regulieren.36 Schwieriger sah die Situation für Athanarich aus. Zwar hatte der Vertrag ihm die Möglichkeit gegeben, ohne allzu großen Gesichtsverlust aus den Kriegshandlungen herauszufinden, ja er hatte sogar den Kaiser dazu bringen können, ihm auf gleicher Augenhöhe auf der Donau gegenüberzutreten; aber seine Position war dennoch geschwächt. Das Land war verwüstet und die Terwingen litten offenbar eine grauenhafte Not; zudem hatte das gotische Heer sich dem Feind geschlagen geben müssen. Athanarichs Position galt keineswegs allen terwingischen reiks als unantastbar, und der «Richter» sah sich zunehmend mit Kritikern und Gegnern konfrontiert. Der prominenteste unter ihnen war Fritigern, ein Terwinge, der auch nach dem Gotenkrieg des Valens noch um intensive Beziehungen zu den Römern bemüht war und für deren Konsolidierung sogar zum Christentum übertrat. Sein Aufbegehren führte zu militärischen Konflikten unter den
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Goten (etwa 372–375 / 76), und Athanarichs ohnehin bestehender Argwohn gegenüber den Christen erhielt dadurch neue Nahrung. In der kirchenhistorischen Überlieferung des 5. Jahrhunderts wird angedeutet, dass Kaiser Valens nach 369 die Missionsaktivitäten unter den Goten forciert haben muss; der terwingische kindins hingegen sah in den Christen der Gothia lediglich eine Ansammlung von Spionen, gegen die rücksichtslos vorgegangen werden musste. Und so leitete Athanarich in den Jahren 369 bis 372 eine systematische Christenverfolgung unter den Goten ein. Auf diese Weise sollte, so deutet es jedenfalls der christliche Zeitgenosse Epiphanios von Salamis an, eine vermeintliche fünfte Kolonne Roms in seinem Herrschaftsgebiet beseitigt, dabei zugleich seine Stellung von neuem gefestigt, vielleicht auch der Grad der Zentralisierung unter dem «Richter» erhöht werden. Im Ergebnis hat sie jedoch wahrscheinlich vor allem zu weiterer Konfusion und zunehmenden Fragmentierungsprozessen unter den Terwingen geführt – am Vorabend des ‹Hunnensturms› wahrlich keine optimale Ausgangslage.37 Über diese Christenverfolgung sind wir vergleichsweise gut unterrichtet; eine Reihe von Märtyrern kennen wir sogar namentlich. Der prominenteste unter ihnen war der bereits erwähnte Sabas, ein übereifriger Christ, der wiederholt durch sein provokatives Verhalten auffiel und auf diese Weise sein Martyrium geradezu erzwang. Er wurde am 12. April 372 nach vielfachen Foltern ertränkt: «Dann drückten sie ihn unter Wasser, während er Gott dankte und ihn pries – bis zum Ende nämlich diente ihm seine Seele –, sie warfen ihn nieder und stemmten ihm einen Holzbalken in den Nacken; dadurch pressten sie ihn in die Tiefe. Auf diese Weise durch Holz und Wasser zur Vollendung geführt, bewahrte er das Zeichen der Erlösung unbefleckt, im Alter von 38 Jahren». Sabas’ Passionsbeschreibung macht aber auch deutlich, dass Christen und Pagane in den Dörfern der Gothia weiterhin prinzipiell friedlich Seite an Seite lebten. Denn Christen stellten im späteren 4. Jahrhundert keine Sensation mehr innerhalb der gotischen Gesellschaft dar. Erste Missionierungen waren wahrscheinlich schon im 3. Jahrhundert erfolgt, als kappadokische Gefangene, die im Zuge der gotischen Raubzüge verschleppt worden waren, begonnen hatten, innerhalb der Gothia ihren Glauben zu verkünden. Am Konzil von Nikaia / Nicaea 325 nahm bereits ein gotischer Bischof namens Theophilos teil. Der nachhaltigste Missionierungsschub erfolgte indes durch das Wirken Wulfilas († 383). Auch er stammte von den einst entführten Kappadokern ab, wenngleich sein Name (‹kleiner Wolf›) bereits gotisch ist. Sein Ansehen muss außerordentlich gewesen sein, denn er war als junger Kleriker (Lektor) Mitglied einer gotischen Delegation nach Konstantinopel, wo er mit dem Kaiser – wahrscheinlich noch Konstantin I. – zusammentraf. Bei diesem Aufenthalt dürfte, wohl im Jahr 336 (alter-
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natives Datum: 341), auch seine Weihe zum «Bischof der Christen im getischen Land» (τῶν ἐν τῇ Γετικῇ χριστιανιζόντων) erfolgt sein, an der Eusebios von Nikomedeia beteiligt war, der immerhin Konstantin kurz vor seinem Tod 337 getauft hat.38 Eusebios war Vertreter einer Form des christlichen Glaubens, die heute unter dem unzutreffenden (weil stark vereinfachenden und polemischen) Etikett ‹Arianismus› bekannt ist. Tatsächlich jedoch hatte Arius, ein Presbyter aus Alexandreia (Ägypten), zunächst nur eine spezifische Variante einer Subordination des Gottessohnes Christus unter Gottvater vertreten, die wir in Einzelheiten nicht mehr rekonstruieren können. Für zahlreiche philosophisch gebildete Griechen war die Einheit der Trinität im 4. Jahrhundert nur schwer vorstellbar, und sie versuchten daher Hierarchisierungen vorzunehmen. Dieser sogenannte Trinitarische Streit, der im frühen 21. Jahrhundert vielfach rein akademisch anmutet, erfasste große Teile der Bevölkerung im Osten des Römischen Reiches, denn für sie hing an der Definition der Stellung und des Wesens Christi nicht weniger als das Seelenheil. Wenn es nicht Gott selbst war, der am Kreuz gestorben war, sondern nur eines seiner Geschöpfe, dann wurde das christliche Erlösungswerk insgesamt infrage gestellt. Der Streit schwoll daher binnen kurzem zu einem mächtigen Politikum an – nicht zuletzt, weil sich tatsächliche machtpolitische Aspekte mit ihm vermengten; und er sollte auf dem Konzil von Nikaia 325, das als das erste Ökumenische gezählt wird, gelöst werden. Arius und seine Lehren wurden damals verurteilt, aber die erhoffte Beruhigung blieb aus. Stattdessen zog die Auseinandersetzung immer weitere Kreise, während sich die theologischen Positionen, insbesondere seit den 350er Jahren, allmählich ausdifferenzierten. Die wechselnden Haltungen der Kaiser machten die Lage nicht leichter: Während Konstantins Politik vor allem auf die Einheit der Christen zielte und zu diesem Zweck zunächst gegen Arius gerichtet war, zeigten sich bei ihm bald zunehmende Inkonsequenzen, die in der Verbannung des Athanasios – des wortgewaltigen Hauptgegners des Arius – im Jahr 335 und in der Taufe des Kaisers durch Eusebios von Nikomedeia kulminierten. Konstantins Sohn Constantius II. betrieb eine vorsichtig homöische, also – grob vereinfacht – von den Lehren des Arius ausgehende Politik, die nach dem Intermezzo Julians von Valens fortgeführt wurde. Erst mit Theodosius erfolgte im Osten eine klare Hinwendung zu jener Richtung, die wir heute als nizänische Orthodoxie bezeichnen – für Zeitgenossen musste diese Entwicklung allerdings keinesfalls eine Selbstverständlichkeit darstellen.39 Über Eusebios von Nikomedeia wurde Wulfila wahrscheinlich mit den Lehren des Arius vertraut gemacht (die freilich erst mit den Synoden von Rimini 359 und Konstantinopel 360 eine theologisch-dogmatische Verfestigung im Sinne eines
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konsistenten homöischen Bekenntnisses erfuhren). Dieser Sachverhalt ist von ganz außerordentlicher Bedeutung, denn aufgrund des besonderen Einflusses, den Wulfila auf die Goten zu nehmen vermochte, erfolgte deren endgültige Christianisierung schließlich gemäß der homöischen Lehre, wie sie sich unter Constantius II. und dem Einfluss seiner theologischen Berater Ursacius von Singidunum und Valens von Mursa allmählich herausbildete. Die Goten konnten dieses Bekenntnis auch nach der religionspolitischen Wende unter Theodosius aufrechterhalten – außerhalb des Imperium Romanum ohnehin, aber auch innerhalb des Reiches, da die kaiserlichen Religionsgesetze nicht für barbarische Foederaten bindend waren. Von den Goten wurde das Christentum in der homöischen Form an die Gepiden, Vandalen und andere Gruppen weitergegeben und entwickelte sich im 5. Jahrhundert zu einem identitätsstiftenden Marker, mit dessen Hilfe sich Barbaren nach der Gründung politisch selbständiger Einheiten auf römischem Boden von den nizänisch-katholischen Römern abzugrenzen vermochten – dies gilt vor allem für die Vandalen in Afrika und die Ostgoten in Italien. Vor diesem Hintergrund kann der Stellenwert der Geschehnisse im Kontext der von Wulfila betriebenen Gotenmission gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Mit einer angeblichen ‹germanischen› Wesensverwandtschaft zum homöischen Christentum aufgrund der Betonung von Vater-Sohn-Hierarchien und Unterordnungsverhältnissen hat all dies hingegen – anders als insbesondere in älterer Literatur immer wieder zu lesen ist – überhaupt nichts zu tun. Allein die spezifischen historischen Konstellationen im Römischen Reich, insbesondere das homöische Bekenntnis Constantius’ II., führten dazu, dass die Goten das Christentum nicht in der nizänischen Form annahmen, sondern in einer Variante, die Christus zwar hierarchisch Gottvater unterordnete, aber – anders als Arius – von einer besonderen Hervorhebung seiner Geschöpflichkeit absah.40 Spätestens im Jahr 341 begann Wulfila mit seiner Bischofstätigkeit für die (keineswegs ausschließlich gotische) Bevölkerung in der Gothia; ohne ausdrücklich zum Missionsbischof ernannt worden zu sein, setzte er offenbar selbst einen individuellen Akzent in der Mission. Er scheint dabei nachhaltige Erfolge erzielt zu haben; die Anzahl der Christen muss innerhalb weniger Jahre derart angestiegen sein, dass die terwingischen reiks in Unruhe gerieten. Denn schon in den 340er Jahren scheinen christianisierte Goten nicht überall in der Gothia als zuverlässig und loyal gegolten zu haben. Ob dieser Argwohn begründet war, wissen wir nicht; dass eine gemeinsame Religion die Verbindungen zwischen einzelnen Goten und Römern intensiviert haben mag, ist aber durchaus denkbar – man erinnere sich etwa an das Beispiel Fritigern. Jedenfalls zeitigten die Verdächtigungen Konsequenzen: Schon in den späten 340er Jahren, also lange vor Athanarichs Christenverfolgung, gingen die terwingischen Anführer gegen Christen in der
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Gothia vor – immerhin in einem solchen Ausmaß, dass Martyrien die Folge waren.41 Wulfila musste damals das Gotengebiet verlassen und fand freundliche Aufnahme im Römischen Reich. Constantius II., der offenbar gute Kontakte zu Wulfila unterhielt (was einmal mehr den Argwohn der paganen Goten erklären mag), wies ihm und seinen Gefährten ein kleineres Siedlungsgebiet südlich der Donau um die Stadt Nikopolis ad Istrum (heute Nikjub nahe Veliko Tarnowo, Nordbulgarien) zu. Als «Moses unserer Zeit», der – so Constantius – sein Volk aus der Knechtschaft eines Ägyptens nördlich der Donau befreit habe, gründete er dort die Gemeinschaft der christlichen Gothi minores (‹Kleingoten›). Sie erkannten den römischen Kaiser als ihren thiudans, den Alleinherrscher, an, waren also reichstreu. In den Jahren, die Wulfila fortan als hochangesehene geistliche (confessor) wie weltliche Autorität in seiner neuen Heimat verbrachte, entstand neben einem umfangreichen (nicht erhaltenen) Schrifttum seine berühmte Übersetzung von Teilen der Bibel ins Gotische. Das Unternehmen stellte eine gewaltige Herausforderung dar, denn zunächst einmal musste dafür eine gotische Schrift erfunden werden, die den Anforderungen des Vorhabens zu genügen vermochte. Wulfila kombinierte griechische und lateinische Buchstaben sowie Runen zu einem eigenständigen neuen Alphabet, das er für seine Übertragung sinnvoll verwenden konnte. Dann begab er sich, wahrscheinlich von einigen Gefährten unterstützt, an die Arbeit. Er übersetzte nicht alle Teile der Bibel. So soll er etwa die beiden Bücher der Könige ausgespart haben, um dem ohnehin übermäßig kriegerischen Geist der Goten nicht noch eine zusätzliche Rechtfertigung zu verschaffen – aber diese antike Begründung lässt sich auch als nachträgliche Erklärung für die Unvollständigkeit der Arbeiten Wulfilas, unter Heranziehung traditioneller Barbarentopoi, verstehen. Wie sein Werk im Einzelnen aussah, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, da auch die übersetzten Abschnitte nicht vollständig überliefert sind. Die weitaus meisten erhaltenen Teile stammen aus dem Neuen Testament und sind vor allem im Codex Argenteus (der heute in Uppsala lagert) überliefert, einer Prachthandschrift mit silbernen und goldenen Lettern auf in Purpur getauchtem Pergament, die im frühen 6. Jahrhundert im Ostgotenreich entstand und möglicherweise Eingriffe enthält, die der Konsolidierung der Amalerdynastie und des damals von ihr beherrschten politischen Gebildes dienen sollten. Für Goten, Vandalen und andere erlangte die Wulfila-Bibel eine herausragende Bedeutung, denn sie entwickelte sich zur Grundlage ihrer homöischen Liturgie und diente damit als materieller Anknüpfungspunkt für ihre jeweilige Identität in Abgrenzung gegenüber den zahlenmäßig zumeist weit überlegenen Römern (wenngleich sich entgegen verschiedentlichen Annahmen dem bibelgotischen Sprachgebrauch keine besonderen ‹arianischen› Markierungen entneh-
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men lassen). Darin allein jedoch erschöpft sich der außerordentliche Wert dieses Dokuments mitnichten. Als frühestes Zeugnis einer germanischen Sprache stellt die Bibelübersetzung insbesondere für Sprachwissenschaftler einen Schatz und eine Fundgrube ersten Ranges dar, erlaubt sie es uns doch, das Gotische in wesentlichen Zügen zu rekonstruieren. Historiker finden in der Art und Weise, wie Wulfila manche Passagen übersetzt hat, in seiner Wortwahl und verschiedenen Nuancen, wichtige Hinweise auf soziale und mentale Strukturen und Verhältnisse bei den Terwingen. Auch vor diesem Hintergrund wird man Wulfila und seinem Wirken eine ganz außerordentliche Relevanz zumessen müssen.42 Ungeachtet der letztendlich erklärbaren Motive, die Valens im Jahr 367 zur Eröffnung des Krieges gegen die Terwingen veranlasst hatten, und ungeachtet der Festigung der römischen Position an der unteren Donau, die dadurch gelungen war – blickt man aus der Perspektive knapp eine Dekade nach dem Friedensschluss des Jahres 369 auf die Situation von Römern und Goten, so treten die fatalen Konsequenzen dieser Auseinandersetzung in aller Schärfe hervor: Mit seinen Feldzügen hatte Valens die Terwingen militärisch, ökonomisch und mit Blick auf den inneren Zusammenhalt (Christenverfolgung) derart geschwächt, dass sie nicht nur für die Römer keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellten, sondern vor allem einem weiteren Gegner nicht zu widerstehen vermochten: den Hunnen. Denn wie wäre die weitere Geschichte verlaufen, wenn im Jahr 375 / 76 der folgenreiche Vorstoß hunnischer Verbände nach Westen durch eine konsolidierte terwingisch-greutungische Allianz aufgehalten worden wäre? Hätte dann überhaupt noch ein Anlass bestanden, dieses Buch zu verfassen?
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Der ‹Hunnensturm›
2.2.1 Rätselhafte Hunnen 2.2 Der ‹Hunnensturm›
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Die Hunnen stellen das wohl größte Rätsel der ‹Völkerwanderungszeit› dar. Urplötzlich erscheinen sie auf der historischen Bildfläche und lassen uns zu Zeugen werden, wie ihre berittenen Kriegergruppen scheinbar ohne Widerstand über die barbarische Welt jenseits der römischen Grenzen hinwegfegen; sie vernichten alles, was sich ihnen in den Weg stellt, saugen ganze Verbände auf, nur um dadurch selbst in ihrer furchteinflößenden Gewalt fortwährend weiter anzu-
Der ‹Hunnensturm› 2.2
schwellen, an aggressiver Wucht zuzunehmen und nochmals gesteigerten Schrecken zu verbreiten. Brutalität und Vernichtungskraft der Hunnen sind sprichwörtlich. Sie plündern die römischen Donauprovinzen und zwingen das Reich zu Tributleistungen in bis dahin ungekannter Höhe; nachdem der Osten auf diese Weise ausgeblutet scheint, wenden sie sich nach Westen, dringen in Gallien ein und werden in einer der berühmtesten militärischen Konfrontationen des Altertums – der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (451) – notdürftig zurückgeworfen. Aber schon kurze Zeit später rollt ihre Angriffswelle von neuem heran, dieses Mal trifft sie Italien (452); unmittelbar bevor es zum Schlimmsten kommt, ziehen sich die Eindringlinge wieder zurück. Zu diesem Zeitpunkt gebieten sie über ein Territorium, das sich von den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres bis weit in die Ungarische Tiefebene und darüber hinaus erstreckt. Mit dem unerwarteten Tod Attilas im Jahr 453, des mächtigsten uns bekannten Hunnenherrschers, der personifizierten Geißel Gottes, bricht dieser ebenso gewaltige wie lockere Verband jedoch innerhalb kürzester Zeit auseinander. Aufatmen in ganz Europa. Wer waren die Hunnen, die über drei Generationen hinweg einen ganzen Kontinent in Aufruhr versetzten und vielen Zeitgenossen als Archetyp der apokalyptischen Völker erschienen? Wer sich mit den Hunnen in einem ‹völkerwanderungszeitlichen› Kontext beschäftigt, hat es schwer, denn er sieht sich mit einem ganzen Bündel grundlegender Fragen konfrontiert, deren Beantwortung allenfalls ansatzweise möglich erscheint. Vor allem vier Problemkomplexe erfordern unsere nähere Aufmerksamkeit: Da ist zunächst das Rätsel, wie man die Hunnen grundsätzlich einzuordnen hat und woher sie kommen. Zum zweiten wird man nach den Gründen für ihre Gefährlichkeit und außergewöhnliche Aggressivität forschen müssen. Darüber hinaus steht die Bewertung des ihnen gewidmeten Erzählzusammenhangs im Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus zur Debatte; denn Ammian ist der wichtigste Vermittler der geläufigen Vorstellung vom plötzlichen ‹Hunnensturm› und einem darauf folgenden fatalen Dominoeffekt. Aber können wir ihn als zuverlässigen Zeugen betrachten? Und schließlich der vierte größere Fragenkomplex: Welche Bedeutung muss man dem Erscheinen der Hunnen in der antiken Oikoumene, ihrem Angriff auf die Nachbarn Roms und bald darauf auch auf das Imperium selbst zumessen? Haben die Hunnen die ‹Völkerwanderung› ausgelöst, wie vielfach gemutmaßt wurde?43 Die erste dieser Fragen ist ebenso leicht wie unbefriedigend zu beantworten: Woher die Hunnen kommen, wissen wir nicht. Zahlreiche Theorien ranken sich seit der Spätantike um ihre Herkunft. Immerhin dürfte eines außer Frage stehen: In der griechisch-römischen Welt galten sie zum Zeitpunkt ihres ersten Auftre-
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tens als etwas vollkommen Fremdes, Außergewöhnliches, als die letztmögliche Steigerungsform des Barbarischen; bei allen Vorbehalten gegenüber ihrer Beschreibung durch Ammian – dies immerhin lässt sich seinen Ausführungen entnehmen. «Niemand weiß irgendetwas klares darüber zu sagen, woher die Hunnen stammen», hält Eunapios gleichermaßen verwirrt fest, und Zosimos fasst das Staunen der Zeitgenossen prägnant zusammen: Ein Barbarenstamm (φῦλόν τι βάρβαρον) warf sich auf die skythischen Völker (Σκυθικοῖς ἔθνεσιν) jenseits der Donau, früher nicht bekannt, damals ganz plötzlich auftauchend; Hunnen nannte man sie, sei es, man darf sie als Königsskythen bezeichnen, sei es, als jene plattnasigen und schwächlichen Menschen, die Herodot zufolge entlang der Donau wohnen, sei es, sie sind von Asien nach Europa herübergekommen. […] Wie auch immer – sie rückten mit ihren Pferden, Frauen, Kindern und ihrer Habe heran und überfielen die jenseits der Donau siedelnden Skythen.
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Christliche Deutungen sahen in den Hunnen ein apokalyptisches Volk, das lange im Kaukasus eingeschlossen gewesen und schließlich als göttliche Strafe auf die Menschen losgelassen worden sei. «Die gens der Hunnen», so hält Orosius fest, «lange in unzugänglichen Gebirgen eingesperrt, entbrannte in plötzlicher Raserei gegen die Goten und verjagte sie in planlosem Durcheinander aus ihren angestammten Wohnsitzen». Ähnliches berichtet Hieronymus, nicht ohne hinzuzufügen: «Möge Jesus zukünftig solche Bestien der Römischen Welt ersparen!» (avertat Iesus ab orbe Romano tales ultra bestias). Andreas von Kaisareia (frühes 7. Jahrhundert) schließlich weist in seinem Kommentar zur Offenbarung des Johannes darauf hin, dass so mancher die Hunnen mit den apokalyptischen Völkern Gog und Magog identifiziere.44 Da sie aus der Steppe kamen, sah man in ihnen ‹Skythen› und setzte sie mit anderen ‹Skythen› in Beziehung – so auch mit den Goten, die in der Spätantike nicht als Germanen, sondern als Skythen galten (erst die Entdeckung der Germania des Tacitus mit ihrer Erwähnung von Got(h)ones rückte seit dem 15. Jahrhundert die Goten als Vertreter einer ‹deutschen› Vorgeschichte in ein breiteres Bewusstsein, gipfelnd in den Vorstellungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Bei Jordanes schimmert verschiedentlich die Vorstellung von einer gotisch-hunnischen Verwandtschaft durch, so etwa in seinem Hinweis, dass die Goten häufig Personennamen von den Hunnen übernähmen, oder in seiner Geschichte von den Haliurunnen: Diese gotischen Hexen seien wegen ihrer magischen Aktivitäten vertrieben worden und hätten sich in der Steppe mit unreinen Geistern (spiritus immundi) gepaart. Aus ihrer Verbindung sei das «wildeste Geschlecht» (genus ferocissimum) hervorgegangen: «klein, hässlich und schmächtig, ein Geschlecht gleichsam von Menschen» (aber eben nicht wirklich menschlich): die
Der ‹Hunnensturm› 2.2
Abb. 9 Hunnische Bronzekessel (4. /5. Jahrhundert n. Chr.; Fundort: Törtel, Ungarn)
Hunnen. Die Verbindung zwischen Hunnen und Goten und ihr Zusammentreffen in der ‹Völkerwanderung› galt als schicksalhaft vorherbestimmt: Eine geheimnisvolle Hirschkuh soll den Hunnen den Weg aus den Weiten der Steppe über das Asowsche Meer in die Siedlungsgebiete der Goten gewiesen haben.45 Auch die moderne Forschung tut sich schwer mit der Frage der Herkunft der Hunnen. Selbstzeugnisse existieren nicht, die hunnische Sprache bleibt uns unbekannt; die wenigen vorhandenen Reste (Namen) ermöglichen nicht einmal eine einheitliche Klassifizierung, so dass auch die Zuweisung des Hunnischen zu den Turksprachen alles andere als unumstritten ist. Verschiedene Theorien zur Herkunft der Hunnen wurden diskutiert, die prominenteste bringt sie mit den Xiong-nu in Verbindung, einem Verband nomadischer Reiterkrieger, der in den Jahrhunderten um Christi Geburt an den Grenzen Chinas ein gewaltiges Steppenimperium errichtete (unter dem Herrscher Mao-dun, † 174 v. Chr.), sich dann aber unter dem Druck der chinesischen Abwehrreaktion aufsplitterte und teilweise nach Westen abwanderte. In Zentralasien ist die Aktivität von Gruppen, die mit dem Xiong-nu-Namen bezeichnet wurden, auch für die Spätantike gut belegt. Dass ‹Xiong-nu› sprachlich dem lateinischen Chunni (Hunni) und griechischen Oûnnoi entspricht, wird mittlerweile allgemein anerkannt. Vielfach wurde daher der Schluss gezogen, dass sich Teile der Xiong-nu unter chinesischem Druck auf
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eine lange Wanderung nach Westen begeben hätten und ab 375 im Zuge der gotisch-hunnischen Konfrontation in den Gesichtskreis antiker Zeitgenossen getreten seien. Das aber ist mehr als unwahrscheinlich, denn die in dieser Vorstellung vorausgesetzte Kontinuität eines Ethnos über mehrere Jahrhunderte und Tausende von Kilometern hinweg würde allem widersprechen, was wir über die nomadischen Reitergruppen der eurasischen Graslandzone – und um eine solche handelt es sich bei den spätantiken Hunnen – wissen. Gerade ein hohes Maß an Fluidität zählt zu den wesentlichen Charakteristika derartiger Verbände. Die Tatsache, dass archäologische Funde über die gesamte Eurasische Steppe hin mitunter erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen (zum Beispiel spezifische Formen von Metallkesseln), belegt insofern keineswegs Wanderungen präzise bestimmbarer Gruppen, sondern illustriert schlicht die relative Einheitlichkeit der materiellen Rahmenbedingungen nomadischer Lebensformen in der Graslandzone. Auch der Umstand, dass bereits der römische Geograph Klaudios Ptolemaios im 2. Jahrhundert n. Chr. Hunnen (Choûnoi) erwähnt (deren Aufenthaltsgebiete nicht klar lokalisierbar sind), hilft uns nicht allzu viel weiter. Denn so wie die Xiong-nu sicherlich nicht linear auf die Hunnen bezogen werden können, lassen sich auch ‹Hunnen› des 2. Jahrhunderts nicht ohne Weiteres mit namensgleichen Gruppierungen des späten 4. Jahrhunderts identifizieren. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Name ‹Xiong-nu› bzw. ‹Hunnen› aufgrund der erfolgsgesättigten Assoziationen, die sich seit der Großreichsbildung unter Mao-dun mit ihm verbanden, derart anziehend wirkte, dass er als ‹Prestigename› von unterschiedlichen Reiterverbänden (also Gruppen, die vor allem auf Pferde als Transportund Fortbewegungsmittel setzten) angenommen und weitergegeben wurde; möglicherweise haben ihn auch die Opfer nomadischer Streifzüge auf die Marodeure übertragen, um diese zu klassifizieren.46 Das Gebiet, in dem sich all diese Prozesse vollzogen, die Große Eurasische Steppe bzw. Graslandzone, erstreckt sich in einem langgezogenen Streifen über etwa 7000 Kilometer von der Chinesischen Mauer bis an die Nordränder des Schwarzen Meeres; dort geht sie langsam in dichtere, waldreichere Vegetation über, bevor sie innerhalb des Karpatenbogens in der Ungarischen (Pannonischen) Tiefebene, durchzogen von Donau und Theiß, noch eine Fortsetzung findet, die bis in den Osten Österreichs (Burgenland) reicht. Im Westen ist die Steppe eher schmal, gewinnt eine Nord-Süd-Ausdehnung von nur ca. 500 Kilometern; weiter gen Osten öffnet sie sich bis zu einer Weite von 3000 Kilometern zwischen den Wäldern Sibiriens und den ariden (trockenen) Regionen im südlichen Zentralasien. Das Steppenklima ist weithin in extremer Weise kontinental geprägt, mit langen, kalten, niederschlagsarmen Wintern (besonders im Osten) und heißen, trockenen Sommern. All dies bietet optimale Voraussetzungen
Der ‹Hunnensturm› 2.2
Barentssee
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Tibetisches Hochplateau
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Arabisches Meer
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Gelbes Meer
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Mittelmeer
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Golf von Bengalen
Südchinesisches Meer
500 1000 1500 km
Karte 6 Die Eurasische Steppenzone
für nomadische Viehweidewirtschaft, die über Jahrtausende hin die Landschaft geprägt hat.47 Reiternomadische Gruppen nutzten die ausgedehnten Grassteppen für die Viehhaltung und zogen mit ihren Zelten von Weide zu Weide. Vor allem in ihrer schier endlosen Ost-West-Ausdehnung bot die Graslandzone immer wieder hinreichend Möglichkeiten, kurzfristig zu verweilen, um dann weiterzuwandern. Diese Wanderungen vollzogen sich freilich nicht willkürlich und planlos, sondern folgten einem festen Muster des Wechsels zwischen Winter- und Sommerweiden. Auch eine kalkulierte Nähe bzw. Distanz zu sesshaften, Ackerbau betreibenden Nachbarn spielte eine Rolle, denn trotz ihrer weitgehenden Autarkie waren Nomaden auf einige landwirtschaftliche Erzeugnisse oder auch Metallwaren angewiesen, die sie im Austausch gegen eigene Produkte (Tiere, Häute, Käse usw.) erhielten oder sich durch Überfälle und Erpressung gewaltsam aneigneten (s. u.); Prestigegüter, die auf diese Weise ihren Weg in die Nomadenverbände fanden, dienten auch dort der sozialen Differenzierung: Anführer und Kriegsherren kristallisierten sich heraus.48 Warum die Hunnen ausgerechnet um 375 so massiv in die Gebiete der Alanen und Goten vorstießen, ist allerdings unklar. Der höhere Lebensstandard
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dieser Gruppen, vor allem der mit Rom in Verbindung stehenden Goten, könnte eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch das Bemühen, grundsätzlich neue Weideflächen weiter im Westen zu erschließen. Möglicherweise standen die Hunnen aber auch unter dem Druck anderer Gruppen in ihrem Rücken, über die wir lediglich spekulieren können. Wir wissen jedenfalls, dass rund 200 Jahre später mit den Awaren ein weiterer Reiterverband nach Westen auswich, um dem andrängenden türkischen Khaganat zu entgehen; auch das Erscheinen von Bulgaren in Europa im 7. Jahrhundert resultierte aus einer Fluchtbewegung; seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert drangen schließlich nomadische Magyaren unter dem Druck der Petschenegen in die Ungarische Tiefebene ein. Daneben deuten einige neuerdings ausgewertete Proxydaten darauf hin, dass sich in den zentralasiatischen Steppenzonen im 4. und 6. Jahrhundert die klimatischen Bedingungen für Viehweidewirtschaft signifikant verschlechtert haben; extensive Dürreperioden, insbesondere in der Phase ca. 350–370, könnten den Migrationsdruck erhöht haben. Es ist also gut möglich, dass die Hunnen ebenso wie rund zwei Jahrhunderte später die Awaren nicht ganz freiwillig am Schwarzen Meer erschienen.49 Immerhin lässt sich mittlerweile die sagenumwobene Aggressivität der Hunnen – unser zweiter Problemkomplex – plausibel einordnen. Bereits die häufigen Ortswechsel nomadischer Gruppen implizieren vielfach eine kriegerische Grundausrichtung. Begehrte Weideflächen sind traditionell hart umkämpft, Konflikte und Verdrängungsprozesse daher zunächst einmal eine Folge der hohen Mobilität in der Steppe. Vor allem aber trug die besondere Lebensweise der Nomaden, insbesondere der auf Pferdezucht spezialisierten Reiternomaden, wesentlich zu ihrem vielfach aggressiven Vorgehen bei. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass nichtsesshafte Gruppen eine Tendenz besitzen, mit sesshaften Bevölkerungen in Kontakt zu treten und sich in deren Nähe aufzuhalten. Insbesondere an der Peripherie antiker Großreiche – ob es sich dabei nun um das Imperium Romanum, das Perserreich oder auch China handelt – lässt sich dieses Phänomen beobachten. Trotz aller Konzentration auf Viehweidewirtschaft und die selbständige Gewinnung entsprechender Erzeugnisse bleiben nomadische Gesellschaften in der Regel auf die Versorgung mit agrarischen Produkten angewiesen, um ihre Existenzform aufrechtzuerhalten. Dies gilt im besonderen Maße für Reiternomaden, die darüber hinaus ein gesteigertes Interesse an Prestigegütern zeigen, welche nur in sesshaften Gesellschaften erzeugt werden können, innerhalb der mobilen Gruppen aber in spezifischer Weise statuskonstituierend wirken und dazu beitragen, dass sich innerhalb der Kriegergemeinschaft Hierarchien etablieren: Aufstrebende Anführer können nicht nur ihre eigenen Führungsqualitäten durch den Erwerb auswärtiger Güter demonstrativ unter Beweis stellen, sondern
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durch deren Distribution unter den Kriegern zugleich auch ihre Anhängerschaften konsolidieren. Diese eigentümliche Konstellation führte in der Antike zu einem besonderen Verhältnis zwischen der sesshaften Bevölkerung an der Peripherie der Großreiche und reiternomadischen Gruppen in ihrem Umfeld. Immer wieder mussten sich die Ansässigen gegenüber marodierenden Angreifern auf der Suche nach Beute zur Wehr setzen – mit Blick auf das Imperium Romanum gilt dies nicht nur für die Hunnen in der Spätantike, sondern etwa auch für das Verhältnis der römischen Bevölkerung zu den arabischen Stämmen an der Südostflanke des Reiches oder für Nordafrika. Um Entlastung vom permanenten Druck zu gewinnen, stellten sich die Sesshaften auf die Nomaden ein, indem sie geregelten Austausch ermöglichten (häufig durch Vertragsabschlüsse), Subsidien zahlten oder mächtigen Führern ‹Geschenke› darbrachten. Auf der Gegenseite führte dies zur allmählichen Verfestigung von Hierarchien, die auf der anhaltenden Distribution von Gütern beruhten. Damit wiederum gingen wachsende Anforderungen an die Anführer einher, immer wertvollere Prestigeobjekte zu gewinnen und umzuverteilen, am einfachsten durch Raub- und Kriegszüge oder deren Androhung – die antike Literatur reflektiert diesen Sachverhalt im Topos der angeblich unermesslichen Goldgier der Hunnen. War ein Anführer in der Lage, diesem permanenten Druck standzuhalten, so konnte seine Anhängerschaft innerhalb kurzer Zeit zu einer ehrfurchtgebietenden Kriegerkoalition anschwellen. Einen solchen Prozess können wir bei den Hunnen in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, nach ihrer Kontaktaufnahme mit dem Römischen Reich, beobachten – gipfelnd in der Herrschaft Attilas.50 Die zeitgenössischen Zeugnisse präsentieren uns dabei das Panorama eines hochgradig mobilen Kriegerverbandes, der aus zahlreichen Einzelgruppen bestand, ohne einen Ethnogeneseprozess zu durchlaufen, der sich formativ im Sinne einer verstärkten Homogenisierung und Identitätsbildung auf das Gesamtgefüge ausgewirkt hätte. Stattdessen behielten die von den Hunnen unterworfenen Verbände, zu denen seit 375 zum Beispiel Teile der gotischen Greutungen und Terwingen gehörten, weitgehend ihre bisherige Struktur; ihre Anführer wurden als hochrangige Gefolgsleute – der uns bereits bekannte Historiograph Priskos bezeichnet sie als logádes (λογάδες, «auserlesene Männer») – in die Umgebung des Hunnenherrschers aufgenommen. Sie konnten auf diese Art und Weise vor allem gegenüber ihren eigenen Leuten eine hohe soziale Stellung demonstrieren, verblieben dadurch aber auch unter der Kontrolle der hunnischen Führung. Ethnische Kriterien spielten in dieser eher lose zusammengefügten Kriegerkoalition nur eine untergeordnete Rolle. Wir können zwar beobachten, dass im Zuge des Anwachsens der hunnischen Kriegerkoalition in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts – konkret: mit dem Übergang der Herrschaft über die Kerngruppen von
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Ruga auf seine Neffen Bleda und Attila, ferner mit der Einsetzung Ellaks durch seinen Vater Attila zum Herrscher über die Akatziren sowie schließlich mit den Ansprüchen der Attila-Söhne nach dessen Tod 453 – eine hunnisch-dynastische Komponente an Gewicht gewann, die vorher schwächer ausgebildet gewesen zu sein scheint, doch genügte dies allein nicht, um die Anerkennung aller von den Hunnen unterworfenen Verbände zu gewinnen. Letztlich bezogen die hunnischen Herrscher ihr Machtpotential aus einer starken charismatischen Komponente – dem Prestige, das sie vor allem durch erfolgreiche Raub- und Kriegszüge zu erwerben imstande waren. Diese Unternehmungen stellten auch das entscheidende Bindemittel für den Zusammenhalt des Gesamtverbandes dar: Nicht nur der persönliche Ruhm des erfolgreichen Herrschers, sondern in besonderem Maße die von ihm erbeuteten Güter sicherten den Fortbestand der Koalition. Durch die Redistribution von Beute und Tributen konnte sich der Hunnenherrscher die Gefügigkeit seiner logádes und ihrer Teilverbände sichern und zugleich neue Gruppen für die Kriegerkoalition gewinnen. Aber der Erfolg forderte seinen Preis. Aus dem System resultierte eine permanente, für alle Seiten letztlich fatale Dynamik: Der Verband benötigte den ständigen Zufluss von Gütern, um vor dem Auseinanderfallen in Einzelgruppen, die ihr Glück separat suchten, bewahrt zu werden. Die Hunnenherrscher waren gewissermaßen zum steten Erfolg verdammt. Da die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Strukturen der Hunnen auch im 5. Jahrhundert noch weitgehend von der nomadischen Lebensweise geprägt waren – wenngleich im Bericht des Priskos Ansätze zu einer Anpassung an die mediterrane, sesshafte Kultur erkennbar sind (beispielsweise feste Dörfer) –, waren die Kerngruppen noch nicht in der Lage, die zur Distribution erforderlichen Güter selbst zu produzieren; nachdem die gotischen Gruppen nördlich des Schwarzen Meeres und jenseits der Donau entweder unterworfen (d. h. in den Verband eingegliedert) oder vertrieben waren, war man also auf den Konflikt mit dem Imperium Romanum angewiesen, um an dessen Erzeugnissen zu partizipieren und so den Erhalt der Kriegerkoalition zu gewährleisten. Das wiederum hatte eine allmähliche Überdehnung zur Folge, die sich in dem Moment verhängnisvoll für den Gesamtverband auswirken musste, in dem ein Anführer nicht mehr in der Lage war, den sich permanent potenzierenden Anforderungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Den Hunnen widerfuhr dieses Schicksal unmittelbar nach dem Tod Attilas 453, als dessen Folge ihr gewaltiges Imperium innerhalb kürzester Zeit kollabierte. Ähnlich, wenn auch nicht mit ebenso radikalen Konsequenzen, erging es den Awaren und dem von ihren Reiterkriegern kontrollierten Gefüge nach der missglückten Belagerung Konstantinopels 626. Reiternomadische Steppenimperien waren aufgrund ihrer parasitären Struktur und der sich innerhalb weniger Jahrzehnte überhitzenden Expansionsspirale in der Regel
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recht kurzlebig; nach zwei bis drei Generationen brachen sie entweder zusammen oder mussten ihre expansive Politik aufgeben.51 Generierte somit die spezifische reiternomadische Lebensweise der Hunnen bereits eine latente Aggressivität, die im Kontakt mit sesshaften Bevölkerungen (wie den Goten) aktiviert wurde und sich insbesondere durch das Zusammentreffen mit dem Imperium Romanum und seinen verlockenden Reichtümern nochmals steigerte, so wird man den konkreten Grund für die verheerende Wirkung hunnischer Übergriffe vor allem auch mit der Art ihrer Kriegführung in Zusammenhang bringen müssen, von deren brutaler Effizienz die Mitlebenden zunächst regelrecht überrollt wurden. Wir hatten die Hauptcharakteristika hunnischer Kriegstaktik bereits in anderem Zusammenhang angedeutet (s. o. Kap. 1.2.3): das gezielte Auseinanderreißen einer geschlossenen gegnerischen Ordnung durch tödlichen Pfeilhagel oder Scheinfluchten, gefolgt von hektisch vorgetragenen Reiterangriffen in Kleingruppen, bei denen die aufgerissenen Reihen der Feinde gnadenlos mit Hiebschwertern und Lassos attackiert wurden. Ammian und Zosimos bringen die Resultate dieser Kampfesweise präzise auf den Punkt, indem sie sie bündig als Massaker (caedes bzw. φόνος) bezeichnen. Die hunnischen Steppenkrieger fochten in leichter Ausrüstung zu Pferd und unterschieden sich damit vor allem in ihrer geschmeidigen Beweglichkeit von den lanzenbewehrten Panzerreitern (Kataphraktoi), auf die bis dahin etwa die Sarmaten, aber teilweise auch Goten, Perser und Römer gesetzt hatten. Eine geschlossene Formation vermochte ihren flink vorgetragenen Angriffen kaum auszuweichen. Ihre eigentliche Hauptwaffe jedoch war der Reflex- bzw. Kompositbogen, in der Steppe seit etlichen Jahrhunderten bekannt (schon Herodot hatte die Skythen als «Pferd-Bogenschützen», ἱπποτοξόται, bezeichnet), aber von den Hunnen in markanter Weise fortentwickelt. Aus Holz und harten Knochenplatten schichtenweise geklebt und auch in der Grundposition in umgekehrter Richtung gekrümmt, stand diese Waffe permanent unter Spannung und besaß daher ohnehin eine eindrucksvolle Schussgewalt. Die hunnische Variante steigerte diese noch einmal, indem die Bogenarme erheblich erweitert wurden – während ein traditioneller ‹skythischer› Bogen etwa 80 Zentimeter maß, kamen die Exemplare der Hunnen auf 130 Zentimeter und mehr, was die Durchschlagkraft beträchtlich erhöht haben muss. Um mit derart unhandlichen Geräten auch zu Pferd agieren zu können, konstruierten die Hunnen ihre Bögen asymmetrisch: Die untere Seite war kürzer und ermöglichte damit die vertikale Verwendung der Waffe, ohne sich dabei in den Zügeln zu verfangen, im Holzsattel zu verhaken oder gar das Pferd zu verletzen. Man hat mit Hilfe vergleichbarer neuzeitlicher Bögen die Schusskraft dieser hunnischen Hauptwaffe errechnet und kam auf beeindruckende Werte: Noch aus einer Distanz von 400 Metern konnte der Bogen offenbar mit
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Abb. 10 Rekonstruktion eines Reflexbogens (Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz)
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akzeptabler Treffsicherheit eingesetzt werden, ungepanzerte Gegner ließen sich aus sicherer Entfernung von 150 bis 200 Metern effektiv attackieren; die schwere Rüstung eines Panzerreiters mit dem typisch hunnischen dreiflügeligen Pfeil präzise zu durchschlagen, war immerhin noch aus einem Abstand von 75 bis 100 Metern möglich. Selbst wenn man diese Zahlen cum grano salis zu nehmen hat: Die Effektivität der hunnischen Reflexbögen muss mörderisch gewesen sein.52 Bald nach dem ersten Auftauchen der Hunnen hatte sich herumgesprochen, dass der Reflexbogen ihre todbringende Hauptwaffe darstellte. Rom bemühte sich offenbar sofort darum, hunnische Kontingente in die eigenen Truppenverbände aufzunehmen, um von der Kampfkraft der Neuankömmlinge zu profitieren; seit dem späten 4. Jahrhundert finden sich Hunnen regelmäßig in römischen Heeren und den Leibgarden hochrangiger Generäle und ziviler Amtsträger, erstmals beim praefectus praetorio Orientis Rufinos. Aber der Reflexbogen blieb ihr eigentliches Proprium. Noch im 6. Jahrhundert berichtet der Historiograph Prokop von der ungeheuren Treffsicherheit der hunnischen Bogenschützen in den Reihen der oströmischen Streitkräfte. In der Todesnacht Attilas soll der oströmische Kaiser Markian (450–457) gar geträumt haben, dass eine Göttergestalt neben sein Bett
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getreten sei und ihm den Bogen des gefürchteten Hunnenherrschers gezeigt habe – zerbrochen. Der Bogen symbolisierte also schlechthin die Hunnen und ihre Überlegenheit.53 In der Fortentwicklung des Reflexbogens dürfte das eigentliche Erfolgsgeheimnis der Hunnen gelegen haben. Die neuartige Waffe versetzte sie in die Lage, aus sicherer Entfernung und im vollen Galopp jeden Gegner durch einen vernichtenden Pfeilhagel auseinanderzuwirbeln, um ihn im anschließenden Nahkampf endgültig aufzureiben. Als die Steppenkrieger im Jahr 375 plötzlich den Goten gegenüberstanden, fehlte diesen offenbar die nötige Zeit, um sich auf die neuartige Herausforderung einzustellen. Möchte man mit Ammian an der ungemein gedrängten Abfolge der Ereignisse nach dem ersten Auftauchen der Hunnen festhalten, so könnte man diese militärtechnische Innovation als Argument dafür in die Diskussion einbringen.54 Allerdings wurde in den letzten Jahren wiederholt Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit der Darstellung Ammians – unser einziger Gewährsmann, der sich zusammenhängend über den ‹Hunnensturm› geäußert hat – vorgebracht, vor allem mit Blick auf die angebliche Gedrängtheit der beschriebenen Geschehnisse. Man warf ihm vor, komplexe Zusammenhänge auf einen simplen, schematischen Dominoeffekt reduziert und damit auf lang etablierte Erzählmuster zurückgegriffen zu haben. Immerhin hatte schon Herodot behauptet, dass Jahrhunderte zuvor die Arimaspen die Issedonen vertrieben hätten, diese daraufhin die Skythen und Letztere wiederum die Kimmerier verdrängt haben sollen. Auch die überraschende Plötzlichkeit des Auftretens der Hunnen wurde angezweifelt; hätten Goten und Hunnen angesichts der Nähe, die zwischen ihnen in der gotischen origo gentis postuliert wird (s. o.), und angesichts der Tatsache, dass schon während des ‹Hunnensturms› hunnische Krieger auch auf gotischer Seite fochten, nicht schon seit längerem intensive Kontakte unterhalten müssen? Ein plötzliches Verschwinden, ja eine Vernichtung der Goten lässt sich archäologisch jedenfalls nicht bestätigen; die Černjachow-Kultur läuft allmählich aus, bricht jedoch nicht unmittelbar ab und lässt auch keine gewaltsamen Zerstörungsspuren erkennen. Hinzu kommen Einzelbeobachtungen am Text Ammians, so etwa mit Blick auf seine Behauptung, Athanarich habe eine erste Stellung gegen die Hunnen am Dnjestr aufgeben müssen, um sich rasch in die Berge – wohl die Karpaten – zurückzuziehen; dieser angeblich kurzfristige Rückzug hätte sich aber über mehrere hundert Kilometer vollzogen und wäre kaum in Form eines eiligen taktischen Ausweichens durchführbar gewesen. Die von Ammian beschriebene Ereigniskette, so das Fazit, müsse sich also über einen längeren Zeitraum erstreckt haben. Freilich lassen sich nirgends auch nur annähernd Hinweise und Kriterien dafür gewinnen, wie man sich diesen Zeitraum
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vorzustellen hat. Erfolgte der Zusammenbruch der Goten unmittelbar nach dem terwingisch-römischen Krieg der Jahre 367 bis 369? Oder muss man gar schon für die 350er Jahre erste ernsthafte Konfrontationen zwischen Hunnen, Alanen und gotischen Greutungen annehmen?55 All das ist Spekulation. Ammian hat die Ereignisse um den ‹Hunnensturm› ohne Zweifel komprimiert, wie verschiedene Signale im Text erkennen lassen. Der Greutungenherrscher Ermanarich etwa soll sich «lange» (diu) den Hunnen widersetzt, sein Nachfolger Vidimir (Vithimir) den mit ihnen verbündeten Alanen «eine Zeitlang» (aliquantisper) widerstanden und dabei «zahlreiche Niederlagen» (multae clades) erlitten haben. Erst nach seinem Tod hätten die Kämpfe dann überhaupt auf die Terwingen übergegriffen. Dieser Konzentration des Geschehens dürfte aber weniger eine bewusste Lesertäuschung oder eine darauf ausgerichtete narrative Strategie zugrunde gelegen haben als der unmittelbare Eindruck, den die Wucht der Ereignisse auf ihn selbst ausgeübt hatte.56 Ammian spricht an einer Stelle seiner Schilderung des ‹Hunnensturms› von der «Raserei der Zeiten» bzw. vom «wahnsinnigen Wüten der Zeiten» (temporum rabies). Konkret bezieht er sich dabei auf einen Alemanneneinfall im Herbst 377 – für ihn ein Beleg dafür, dass die gesamte Welt sich damals in Aufruhr befand: Nicht nur an der Donau gerieten die Ereignisse um Hunnen, Goten und Römer außer Kontrolle, sondern auch andernorts «brachten die Furien alles in Bewegung». Die «Raserei der Zeiten» steht bei ihm also für eine ungewöhnliche Verdichtung von Ereignissen – räumlich und zeitlich. Signale wie dieses im Text weisen uns den Weg zu einer angemessenen Interpretation. Offenbar nahm der Historiograph eine bis dahin ungekannte Beschleunigung und räumliche Gleichzeitigkeit des Geschehens wahr und versuchte diese narrativ einzufangen. Aus diesem Grund scheint er das Erzähltempo rasant angezogen zu haben. Auf die einleitenden langen Exkurse über Hunnen und Alanen folgt eine ungemein dichte, hastig ausgebreitete Ereigniskette, die direkt auf den Höhepunkt – die Schlacht bei Adrianopel 378 – zuläuft und dann langsam mit dem Nachruf auf Valens, der vergeblichen Belagerung Adrianopels durch die Goten und ihrem vorläufigen Abzug ausklingt. Anders als Teile der Forschung dem Historiographen vorwerfen, reduziert er keineswegs die Komplexität des Geschehens, aber er bringt sie anders zum Ausdruck, als es heutige Historiker täten; Ammian erhöht in seiner Darstellung der Ereignisse gewissermaßen die ‹narrative Schlagzahl› – vermutlich deshalb, weil er die Zusammenhänge genau in dieser Form auch wahrgenommen hat. Damit stand er offenbar nicht allein. Der berühmte Kirchenlehrer Basileios / Basilius, Bischof von Kaisareia (Kappadokien), beklagte im Jahr 376, dass sich derart viele unbegreifliche Dinge ereigneten, dass man eigentlich darüber Tagebuch führen müsse. Eunapios, ein weiterer Zeitgenosse, betont die Plötzlichkeit der Geschehnisse und komponierte – soweit die
Der ‹Hunnensturm› 2.2
fragmentarische Überlieferung das noch erkennen lässt – einen ähnlich gedrängten, zeitlich zusammengezogenen Bericht wie Ammian. Beide Autoren verfassten ihre Werke mit einem gewissen Abstand zu den geschilderten Ereignissen, in den Jahren um 390 bzw. 400. Aus der Retrospektive mussten die Vorgänge, die so unmittelbar und rasch auf die Katastrophe von Adrianopel hingeführt hatten, noch komprimierter und eruptiver erscheinen als in den Jahren des Geschehens selbst. Sie erstarrten geradewegs zu einer zeitlich extrem schmalen, von Ereignissen überquellenden Einheit, die dadurch zu einer Zäsur in der römischen Geschichte erhoben und mit besonderer Niedergangssemantik aufgeladen werden konnte. Ammian betont mehrfach deutlich, dass in den von den Hunnen ausgelösten Vorgängen die eigentliche Ursache für spätere Katastrophen zu suchen sei, und auch bei Eunapios sowie bei Autoren, die mit größerer zeitlicher Distanz schreiben, wie dem Kirchenhistoriker Sokrates, finden sich ähnliche Äußerungen. Die eigene Wahrnehmung der Ereignisse der Jahre 375 bis 378 als kurze, extrem chaotische Umbruchphase, als Kippmoment der römischen Geschichte, verleiht dem 31. Buch des von Ammian verfassten Geschichtswerks seine Kohärenz als eigenständige Erzähleinheit – immerhin in einem Maße, das moderne Interpreten zu Spekulationen darüber verleitet hat, ob der Autor diesen Abschnitt mit den für uns relevanten Geschehnissen ursprünglich als separate Darstellung komponiert haben könnte. Noch Hieronymus hat aus einem Abstand von ca. 30 Jahren im Donauübergang der Goten 376 den Beginn eines 30-jährigen Krieges gesehen: «Dreißig Jahre lang wurde nach dem Zusammenbruch der Donaugrenze in Gebieten mitten im Römischen Reich gekämpft». Auch für ihn stellten der ‹Hunnensturm› und die dadurch ausgelöste Ereigniskette also eine markante Zäsur dar – den Übergang vom Frieden zum dauerhaften Kriegszustand.57 Welche Bedeutung aber – unser letzter Fragenkomplex – besaß der ‹Hunnensturm› tatsächlich für die sogenannte Völkerwanderung? Ohne Zweifel wurde durch das Zusammentreffen von Goten und Hunnen nördlich des Schwarzen Meeres um das Jahr 375 eine Geschehniskette ausgelöst, die in den nachfolgenden Jahrzehnten für alle Beteiligten erhebliche Konsequenzen zeitigte. Die Hunnen waren, so wurde noch vor kurzem festgehalten, «der eigentlich entscheidende Faktor». Ich denke überdies, dass der fatale hunnisch-gotische Konflikt sich nicht schon länger, möglicherweise gar seit den 350er Jahren, abgezeichnet hatte, sondern die Goten hart und unvermittelt traf. Geschwächt von den Folgen der Kriege mit Rom 367 bis 369, zerrissen durch innere Unruhen (Auseinandersetzung zwischen Athanarich und Fritigern, Christenverfolgungen), musste der Terwingen-Verband in jenen entscheidenden Jahren ein ausgesprochen instabiles Gefüge darstellen, dessen Probleme sich auch auf die eng mit ihm assoziierten Greutungen ausgewirkt haben werden. In dieser Phase erschienen vermutlich verschiedene hunnische Gruppen,
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denen militärisch nicht beizukommen war – ganz offenbar weil die Zeit für groß angelegte Verteidigungsmaßnahmen nicht ausreichte. Auch wenn Ammian verschiedene Geschehnisse allzu eng zusammengeschoben haben mag – die Hast und Improvisation, mit der etwa Athanarich viel zu spät auf die hunnischen Angriffe reagierte, und seine offenkundige Ahnungslosigkeit sprechen doch deutlich dafür, dass sich die Machtverhältnisse im nördlichen Schwarzmeerraum und jenseits der Donau sehr plötzlich und sehr radikal verschoben hatten. Die Tatsache, dass die Černjachow-Kultur eher allmählich und ohne größere Zerstörungshorizonte zum Erliegen kommt, widerspricht diesem Befund nicht, denn wir wissen, dass vor allem große Teile der Greutungen von den Hunnen nicht vernichtet, sondern schlicht aufgesogen worden sind. Prozesse von der Komplexität, wie sie sich um 375 vollzogen haben, lassen sich ohnehin nicht linear auf eine archäologische Kultur beziehen.58 Schwieriger stellt sich die Frage nach der Rolle der Hunnen hingegen in der weiteren historischen Perspektive dar. Insbesondere der britische Mediävist Peter Heather hat wiederholt die These vertreten, die Hunnen seien der eigentliche Motor der ‹Völkerwanderung› gewesen: Sie hätten um 375 das Geschehen in Gang gebracht, zu Beginn des 5. Jahrhunderts zumindest indirekt den verheerenden Rheinübergang multiethnischer Verbände in der Neujahrsnacht 406 sowie weitere Einfälle in römische Gebiete (Radagaisus 405, Uldin 408) ausgelöst und schließlich nach dem Tod Attilas 453 die Kontrolle über die zuvor beherrschten Gruppen verloren, so dass diese sich in einer weiteren Woge über die römische Welt hätten ergießen können. Alles in allem könne man den Untergang des (West-)Römischen Reiches großenteils auf die Bewegungen und Aktivitäten der Hunnen zurückführen. Diese scharfe Akzentuierung ihrer Bedeutung ist in der Fachwelt gemischt aufgenommen worden. Heathers Kritiker verweisen vor allem darauf, dass die Hunnen bis an die Wende zum 5. Jahrhundert als Akteure schattenhaft bleiben; der erste namentlich fassbare Hunnenführer Uldin tritt erst ab etwa 400 auf. Zuvor behielten die Hunnen offenbar ihren Gravitationsmittelpunkt im nordpontischen Raum bei und wirkten sich auf das Imperium Romanum ‹allenfalls› dadurch aus, dass sie Druck auf andere Verbände ausübten, den diese dann wiederum an die Römer weitergaben. Auch als Verursacher des Rheinübergangs 406 und späterer Migrationsbewegungen treten sie lediglich indirekt in Erscheinung. Aus diesem Grund ist ihre Bedeutung als ‹Motor› der sogenannten Völkerwanderung schwer zu beurteilen, zumal Letztere sich bis weit in nachhunnische Zeit zieht. Wir werden daher im weiteren Verlauf der Darstellung verschiedentlich auf die Rolle der Hunnen zurückzukommen haben; aber es ist sinnvoll, dies anhand konkreter Situationen zu tun, in denen sie als Akteure wirklich fassbar sind.59
Der ‹Hunnensturm› 2.2
2.2.2 Der Donauübergang der Goten und die römische Niederlage bei Adrianopel (378)
Zunächst kursierten nur wilde Gerüchte, wie immer unzuverlässig, aber dennoch gespenstisch genug, um wachsende Verunsicherung um sich greifen zu lassen. «Schreckliche Gerüchte», so Ammian, «verbreiteten die Nachricht, die gentes des Nordens verursachten neue und ungewöhnlich große Bewegungen: Über das ganze Gebiet von den Markomannen und Quaden bis zum Schwarzen Meer sei eine Menge von unbekannten barbarischen nationes mit unvorhergesehener Gewalt aus ihren Wohnsitzen verdrängt worden und ziehe im Donaugebiet in einzelnen Banden mit ihren Familien umher. Ganz zu Anfang wurde diese Nachricht von den Unsrigen kaum beachtet, und zwar aus dem Grund, weil man es in diesen Gebieten schon gewohnt ist, nichts anderes als Nachrichten über Kriege zu hören, die bei weit entfernten Gruppen geführt oder beigelegt worden sind. Allmählich gingen jedoch zuverlässige Nachrichten über diese Vorgänge ein und wurden durch die Ankunft von Gesandten der Barbaren bestätigt».60 Was die Römer dabei erfuhren, war entsetzlich. Offenbar befand sich das gesamte Barbaricum nördlich der Donau in heilloser Aufregung. Überall kam es zu Scharmützeln und Plünderungen. Der Terwingen-Verband stand am Rand der Auflösung und – schlimmer noch – die greutungische Machtbildung schien kollabiert zu sein. Ursache dafür war die Ankunft fremdartiger Barbaren, die Ammian uns in seinem berühmten Exkurs als tierhafte Mordbande vorstellt: der Hunnen. Raubend und plündernd durch die Steppen rasend, hätten sie die Alanen überfallen – iranische Reiterverbände, die sich um 370 / 75 am Don befanden – und damit eine folgenreiche Kettenreaktion ausgelöst. Nachdem die Hunnen das Gebiet der Alanen einfach überrannt (Huni pervasis Halanorum regionibus), einen Teil der Bewohner erschlagen und den Rest in ihre eigenen Reitergruppen eingegliedert hatten, trafen sie bei ihren weiteren Vorstößen nach Westen auf die gotischen Greutungen.61 Anders als über die Terwingen sind wir über die Greutungen nur ganz unzureichend informiert. Die wenigen Umrisse, die sich abzeichnen, weisen jedoch darauf hin, dass ihre Organisation anders aussah als die ihrer westlichen Nachbarn. Die Greutungen bildeten bis zum Eintreffen der Hunnen offenbar ein größeres ‹Reich› bzw. einen weiträumigen Verband aus, über dessen (wahrscheinlich recht lockere) Struktur und Ausdehnung wir keine näheren Erkenntnisse besitzen. Jordanes widmet diesem Gefüge einen längeren Abschnitt seiner Getica, der aber kaum historischen Wert besitzt; das dort beschriebene ‹Greutungenreich› hätte eine geradezu riesenhafte Ausdehnung besessen, beherrscht von dem er-
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Adrianopel (Hadrianopolis)
Dyrrachium Niederlage des Theodosius
Konstantinopel Thessalonike 380
Ägäis Ionisches Meer Athen
Ansiedlung der Goten (382) 0
50 100 150 km
Karte 7 Die Schlacht von Adrianopel 172
Niederlage des Valens
Der ‹Hunnensturm› 2.2
folgreichen Erobererkönig Ermanarich, der bei Jordanes als Mitglied der AmalerFamilie, d. h. als unmittelbarer Vorfahr des Ostgotenkönigs Theoderich d. Gr. († 526), erscheint. Diese Konstruktion geht wahrscheinlich auf Cassiodor zurück, der unter eben jenem Theoderich eine gotische Geschichte verfasste und darin nicht zuletzt das Ziel verfolgte, dessen Herrschaft mit einem historischen Fundament zu versehen, indem er seiner ‹Dynastie› eine lange, bis in die gotische Urzeit zurückreichende Kontinuität verlieh. In einem derartigen Kontext machte sich ein ‹Vorfahr›, der über ein gewaltiges Reich gebot, natürlich ausgezeichnet. Aus diesem Grund sollte man den Auskünften des Jordanes über Ermanarich und sein angebliches Großreich mit gewissen Vorbehalten begegnen und sich stattdessen vorwiegend auf die Informationen stützen, die Ermanarichs jüngerer Zeitgenosse Ammian bereithält – diese sind allerdings umso spärlicher: Ermanarich erscheint dort als «ein sehr kriegerischer und infolge vieler und mannigfacher Heldentaten bei den benachbarten nationes gefürchteter König» (belicosissimi regis et per multa variaque fortiter facta vicinis nationibus formidati). Seinen Herrschaftsbereich umschreibt der Historiograph mit der auslegungsfreundlichen Formulierung «weit ausgedehnte und reiche Gebiete» (late patentes et uberes pagos), die Greutungen selbst erscheinen als «kriegerische gens» (bellicosa gens). Das alles ist nicht allzu viel, doch scheint Ermanarich selbst eine charismatische, schillernde Figur gewesen zu sein, die immerhin in der Heldensage fortlebte.62 Ammian zufolge widerstand Ermanarich den Angriffen der Hunnen durchaus längere Zeit, soll aber angesichts immer weiterer Gerüchte, in denen die drohende Gefahr fortwährend gewaltigere Ausmaße annahm, den Freitod gewählt haben. Zu seinem Nachfolger als rex wurde Vidimir (Vithimir) «erhoben» (creatus). Mit Hilfe hunnischer Verbände widersetzte er sich eine Weile den andrängenden (wohl von Hunnen kontrollierten) Alanen, fiel aber in der Schlacht. Nun ging die Herrschaft auf seinen noch unmündigen Sohn Viderich über, für den die Heerführer (duces) Alatheus und Saphrax die Regentschaft übernahmen. Sie wichen vor den Hunnen zurück bis in das Dnjestr-Gebiet, wo sie wohl einen Verteidigungswall errichteten. Erst in diesem Zusammenhang soll der «Richter» der Terwingen, Athanarich, von der unmittelbaren Bedrohung Kenntnis erhalten und daraufhin seinerseits eine Verteidigungslinie am Dnjestr gezogen haben; in welchem Verhältnis diese zu dem Wall der Greutungen steht, ob die beiden gotischen Gruppen damals kooperierten oder nicht, lässt sich aus Ammians Text nicht eruieren. Athanarichs Plan ging jedoch nicht auf, denn die Hunnen umgingen das Bollwerk, überschritten den Fluss heimlich bei Nacht und fielen den Terwingen daraufhin in den Rücken. Athanarich sah keinen anderen Ausweg, als dieselbe Taktik wie schon im Krieg gegen Valens anzuwenden und den Rückzug in unzugängliche Gebirge anzutreten (ad effugia properare montium praerup-
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torum) – wahrscheinlich in einen Teil der Karpaten. Ein befestigter Wall, den er, um das Manöver abzusichern, zwischen Pruth und Donau ziehen ließ, erwies sich gegen die hunnische Übermacht als wirkungslos. Athanarich war am Ende. Unter den Terwingen herrschte inzwischen Panik. Immer grauenhaftere Gerüchte über das weitere Vordringen und die Zerstörungskraft der Hunnen machten die Runde; der Krieg hatte die Lebensgrundlage der Goten vernichtet, Hunger und Not herrschten allenthalben. Die Mehrheit der Terwingen scheint Athanarich während des Rückzugs in die Karpaten die Gefolgschaft aufgekündigt zu haben. Nach längeren Beratungen über das weitere Vorgehen unterstellten sich die meisten Terwingen der Führung eines Mannes namens Alaviv und zogen, während Athanarich mit wenigen Getreuen in den Karpaten zurückblieb, an das Ufer der Donau. Dort ersuchten sie, angeblich 200 000 Menschen, demütig und unter flehentlichem Bitten um Aufnahme in das Römische Reich. Man schrieb das Frühjahr des Jahres 376.63 Die gotischen Flüchtlinge, die sich am nördlichen Donauufer versammelt hatten, müssen ein Bild trostlosen Jammers abgegeben haben; klagend und heulend erhoben sie, wie Eunapios vermerkt, ihre Arme Richtung Süden und flehten um Gehör – Gesten, die man freilich auch als formelle Unterwerfung unter das Gebot Roms (deditio) interpretieren konnte. Einige versuchten in ihrer Verzweiflung auf eigene Faust den Strom zu überqueren, wurden aber auf der römischen Seite sofort niedergemacht. Die Verhandlungen für die Goten scheint Alaviv geführt zu haben; er teilte sich das Kommando über den stetig anwachsenden Flüchtlingsstrom mit Fritigern, der gute Kontakte zu Valens und seinem Umfeld unterhielt (s. o.). Ob auch Wulfila sich als Vermittler einschaltete, wie Sozomenos behauptet, ist unklar. In der antichristlichen Polemik wurde später kolportiert, die Barbaren hätten die arglosen römischen Vertreter dadurch getäuscht, dass sie mehrere Personen als Bischöfe und Mönche verkleidet und so den Anschein einer weit fortgeschrittenen Christianisierung erweckt hätten. Trotz aller Manöver zogen sich die Gespräche bis in den Herbst, denn der Kaiser, bei dem die Entscheidung lag, befand sich fernab im syrischen Antiocheia, und die Boten benötigten mehrere Wochen für die beschwerliche Reise. Schließlich aber konnten die Flüchtlinge aufatmen. Valens gab ihrem Ersuchen statt, durchaus nicht uneigennützig: Mit den Persern in Konflikte um Armenien verstrickt und unter chronischem Rekrutenmangel leidend, kam ihm der unerwartete Zuwachs an potentiellen Soldaten recht gelegen. Denn er ersparte seinen Bevollmächtigten mühevolle Zwangsaushebungen auf den Gütern unwilliger Landbesitzer, die stattdessen nun, für die Regierung durchaus lukrativ, Ausgleichszahlungen (das aurum tironicum) leisteten; zudem wurde Valens’ eigene Stellung innerhalb des Kaisergremiums aufgewertet. Freilich sollten die Neuankömmlinge bei ihrer Ankunft im
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Imperium Romanum, wie üblich, zunächst entwaffnet werden, bevor ihre reguläre Ansiedlung in Thrakien erfolgen konnte. Nicht ohne Sarkasmus kommentiert Ammian, dass die Römer in ihrer Gier nach billigen Rekruten besondere Sorgfalt bei der Einholung der Flüchtlinge gezeigt hätten, «damit bloß kein zukünftiger Vernichter des Römischen Reiches zurückgelassen würde, selbst wenn er von einer tödlichen Krankheit befallen war» (ne qui Romanam rem eversurus reliqueretur vel quassatus morbo letali).64 Und so begab sich, vielleicht bei Durostorum (heute Silistra, Nordostbulgarien), eine unübersehbare Menschenmenge in kleinen Booten, mit Flößen und Einbäumen, teilweise auch schlicht aus eigener Kraft schwimmend, zum südlichen Ufer der Donau in das Römische Reich, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Es waren terwingische Goten, aber auch einige Greutungen, Taifalen, versprengte Alanen, sicherlich auch ein paar Hunnen und andere. Die Zahl der Neuankömmlinge auch nur zu überschlagen, überforderte die Möglichkeiten der römischen Amtsträger vor Ort bei weitem. Ammian vergleicht die anströmenden Massen rhetorisch überladen mit den Sandkörnern in der Libyschen Wüste und beklagt die Naivität, mit der Rom nunmehr seine Grenzen geöffnet habe, wo doch das Barbaricum Unmengen bewaffneter Krieger von sich gebe, so wie der Ätna Asche ausspeie. Tatsächlich konfrontierte die Aufnahme einer derart gewaltigen Anzahl an Flüchtlingen die römische Administration mit einer Herausforderung, an der sie geradezu scheitern musste. Schon bei der Überquerung der Donau, die damals wieder einmal Hochwasser führte, verlor ein Teil der Hilfesuchenden das Leben. Doch die eigentlichen Probleme begannen erst in dem Moment, in dem das Flüchtlingsheer römischen Boden betreten hatte. Vielleicht war es schlichte Überforderung, wahrscheinlich kam aber auch ein beträchtliches Maß an zeittypischer Korruption bei den vor Ort agierenden Amtsträgern hinzu. Jedenfalls herrschten bald chaotische Zustände. Die mit Alaviv und Fritigern ausgehandelte geordnete Ansiedlung der Goten schlug ebenso fehl wie ihre vollständige Entwaffnung; stattdessen schwärmten Scharen von Neuankömmlingen aus und verunsicherten das Umland. Gleichzeitig brach die Lebensmittelversorgung angesichts der unüberschaubaren Menschenmassen zusammen. Der comes rei militaris (ein höherer römischer Generalsrang) Lupicinus und der provinziale Militärkommandeur (dux) Maximus versuchten, so jedenfalls berichtet es Ammian, aus der wachsenden Not der Goten Kapital zu schlagen, und verkauften den Hungernden Hundefleisch im Austausch gegen gotische Sklaven, die sie sogar unter deren Adeligen auswählten. Auch andere Vertreter Roms nutzten die willkommene Gelegenheit, um sich am Elend der Flüchtlinge zu bereichern, was insgesamt zwar der üblichen Praxis entsprach, in der aktuellen Situation aber ebenso bitteren wie gefährlichen Groll erzeugte.65
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Nicht nur aus der hochmütigen Behandlung der Neuankömmlinge erwuchsen zunehmende Spannungen. Ganz unvermutet trafen bald auch die vor den Hunnen geflohenen Greutungen unter Viderich und seinen Vormündern Alatheus und Saphrax ein und komplizierten die Situation zusätzlich. Ihr Gesuch um Aufnahme wurde indes rüde abgelehnt. Wahrscheinlich musste der Herrscher über die Welt in der zunehmend unübersichtlichen Gemengelage seine Handlungsmacht und Überlegenheit wirkungsvoll demonstrieren. Und noch ein weiterer alter Bekannter tauchte plötzlich wieder auf: Athanarich. Mit seinen wenigen noch verbliebenen Terwingen hatte er im Hintergrund die Entscheidung über das Ansinnen der Greutungen abgewartet und zog sich nach deren Zurückweisung endgültig zurück – nach Caucalanda, einer nicht lokalisierbaren Landschaft, die man in den Karpaten oder in Siebenbürgen vermutet. Unglücklicherweise war die Region keineswegs unbewohnt, so dass Athanarich zunächst einmal die dort ansässigen Sarmaten vertreiben musste. Zeitgenossen konnten sich nunmehr vollends in ihrer Domino-Theorie bestätigt fühlen: «Die Hunnen haben sich auf die Alanen gestürzt, die Alanen auf die Goten, die Goten auf die Taifalen und Sarmaten» – so kommentiert der Mailänder Bischof Ambrosius die Vorgänge. Derweil rotteten sich die weiterhin unversorgten Terwingen in ihrer grellen Not zu ersten Unmutsbekundungen zusammen und zogen dadurch die Aufmerksamkeit der römischen Truppen auf sich. Dies wiederum nutzten die Greutungen aus, um trotz des römischen Verbots dennoch die Donau zu überqueren.66 Jetzt aber brachen sämtliche Dämme. In dem regionalen Verwaltungszentrum Markianopolis (heute Dewnja), etwa 100 Kilometer südlich der Donau, empfing Lupicinus die Terwingen Alaviv und Fritigern zum Festmahl; diese Geste, in der römischen Welt ganz selbstverständlich und keineswegs anrüchig, sollte offenbar die aktuellen Spannungen lösen und helfen, die Ansiedlungsfragen zu klären – doch alles kam ganz anders. Während ihre Anführer im Prätorium (Statthaltersitz) die Geselligkeit der römischen Amtsträger genossen, hatten sich Terwingen vor der Stadt versammelt und begehrten Einlass, um sich mit notwendigen Lebensmitteln zu versorgen. Römische Soldaten verhinderten dies, es kam zu einem Handgemenge mit Opfern auf römischer Seite. Als Lupicinus davon erfuhr, ordnete er umgehend, vielleicht allzu überstürzt, die Beseitigung der Leibwachen seiner Gäste an – nur so glaubte er offenbar die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Aber seine Maßnahme drang zu den vor der Stadt ausharrenden Goten durch, die sich nun zu finsteren Drohungen verstiegen. Erst als Fritigern unverletzt erschien und seine Leute beschwichtigte, kehrte wieder Ruhe ein. Doch das Band zwischen Römern und Goten war jetzt zerrissen. Fritigern setzte sich an die Spitze seiner Terwingen und jagte mit ihnen davon. Von seinem Gefährten (oder Konkurrenten?) Alaviv hören wir
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seitdem nichts mehr; möglicherweise hat er das Festmahl nicht überlebt. Und noch einen weiteren Abschied gilt es zu vermelden: Ammian verwendet von nun an nicht mehr die Bezeichnung ‹Terwingen›, sondern spricht, vielleicht mit Blick auf die zunehmende Heterogenität des Verbandes (s. u.), nur noch allgemein von ‹Goten›. Fritigern jedenfalls verzichtete fortan auf weitere Exempla römischer Gastfreundschaft und trat mit seinen Leuten in den offenen Aufstand. Das war der Beginn des zweiten Gotenkrieges unter Kaiser Valens.67 Die folgenden Ereignisse sind von hektischer Betriebsamkeit auf beiden Seiten gekennzeichnet, einer fatalen Spirale von Gewaltmaßnahmen und Racheakten, die – befeuert durch verhängnisvolle Fehlentscheidungen des Kaisers – schließlich in der Schlacht von Adrianopel eine katastrophale Entladung erfuhren. Ammian empfand die nun einsetzenden Geschehnisse als zusammengehörigen Komplex und setzte ihn gegenüber den vorangegangenen Ereignissen durch Reflexionen über Roms gefährlichste Auseinandersetzungen mit den Barbaren ab – nicht ohne dabei zu betonen, dass man nicht nur mit den Kimbern, sondern auch mit den Markomannen und selbst Knivas Goten am Ende doch noch fertig geworden sei.68 Fritigerns Goten jedoch brachten zu Beginn des Jahres 377 zunächst einmal den Truppen des Lupicinus eine empfindliche Niederlage bei und zogen, nunmehr ausgestattet mit den Waffen der römischen Gefallenen, marodierend durch das Land; dabei fanden sie rasch Zulauf: Gotische Soldaten, die schon seit längerer Zeit im Römischen Reich gedient hatten, schlossen sich unter ihren sonst nicht bekannten Anführern Suerid und Kolias den Aufständischen an, entlaufene Sklaven, ehemalige Kriegsgefangene, römische Provinziale, Unzufriedene aller Art vergrößerten bald die Plündererscharen, die mit Hilfe der Ortskenntnisse der Hinzugekommenen ganz Thrakien verunsicherten. «Alles verheerten die Barbaren, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht zu nehmen, mit Totschlag und gewaltigen Bränden». Ammian bezeichnet Fritigern fortan als rex; dessen heterogenes, bunt zusammengewürfeltes Heer erhielt die vereinheitlichende Bezeichnung ‹Goten›.69 Kaiser Valens erkannte erst spät, im Verlauf des Jahres 377, dass er eingreifen musste. Er regelte die Angelegenheiten im Osten, soweit es möglich war, beorderte frisches Personal in das Krisengebiet und bereitete seine Abreise aus Antiocheia vor. Auch Gratian (375–383), der Neffe und Mit-Augustus im Westen, wurde mit Blick auf jene Donauregionen, die seiner Obhut unterstanden, allmählich unruhig und stellte Verstärkungen bereit, darunter den tüchtigen Heerführer Frigerid (der allerdings infolge eines Gichtanfalls zunächst einmal ausfiel). Den neuen Kräften gelang es denn auch, einen Großteil der Aufständischen zu stellen. In der Nähe des nicht lokalisierbaren Ortes Ad Salices (er lag wahrscheinlich in
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der Dobrudscha) kam es im Sommer 377 zu einem ersten größeren Zusammentreffen, in dem es den zahlenmäßig unterlegenen römischen Truppen nicht gelang, in die gotische Wagenburg einzudringen. Von schweren Verlusten gezeichnet, gingen beide Heere auseinander – die Römer zogen sich nach Markianopolis zurück, wo die erschöpften Soldaten unter dem Schutz sicherer Mauern Erholung finden konnten. Erfolgreicher war nach seiner Genesung hingegen Frigerid, dem es gelang, den gotischen Anführer Farnobius, der vielleicht ursprünglich aus dem Umfeld von Alatheus und Saphrax und ihrem vorwiegend aus Greutungen, Hunnen und Alanen bestehenden Gefolge stammte, zu besiegen; die von ihm kommandierten Taifalen wurden nach Italien verschafft und dort friedlich angesiedelt. Zu Beginn des Jahres 378 glückte es Frigerid gar, Fritigerns Streitmacht in Thrakien zu isolieren. Alles war nun vorbereitet für den entscheidenden Schlag gegen die Aufständischen. Valens war inzwischen in Konstantinopel eingetroffen und begann seine Truppen zu konzentrieren. «Von überall her versammelte er Kräfte, da er etwas Gewaltiges und Unerwartetes ins Werk setzen wollte». Der Kaiser entbot überdies den erfahrenen General Sebastianus nach Thrakien und brach schließlich selbst am 11. Juni vom Bosporus auf in Richtung Westen. Auch Gratian befand sich mittlerweile auf dem Weg zum Kriegsschauplatz. Ein Einfall der alemannischen Lentienses hatte ihn aufgehalten, aber die Angelegenheiten konnten geregelt werden (Schlacht bei Argentovaria, Elsass) und der Westkaiser war nunmehr in der Lage, seinem Onkel mit frischen Streitkräften Beistand zu leisten.70 Nach ersten militärischen Erfolgen bezog Sebastianus sein Lager in Adrianopel, dem heutigen Edirne in der Westtürkei. Dorthin machte sich auch Fritigern mit seiner Armee, die er längst durch Hunnen und Alanen verstärkt hatte, auf den Weg. Von Melantias hingegen, einem Ort an der Propontis, etwa 30 Kilometer westlich von Konstantinopel, näherte sich die starke Streitmacht des Valens; sie traf wohl Mitte Juli 378 im Raum von Adrianopel ein. Nun also stand die Entscheidung unmittelbar bevor.71 Wie üblich in jener Region waren die ersten Augusttage auch in diesem Jahr ausgesprochen heiß und trocken. Entsprechend kräftezehrend gestalteten sich die langen Fußmärsche durch die ausgedörrte, zerklüftete Landschaft für die Soldaten. Aber der Kaiser verbreitete Zuversicht. Sein junger Neffe Gratian hatte sich gegen die Alemannen bewährt, auch sein General Sebastianus hatte bereits vorgelegt. Es war an der Zeit, dass nun der senior Augustus selbst seine militärische Begabung unter Beweis stellen durfte. Ammian unterstellt Valens, aus Neid und Eifersucht überstürzt in die Schlacht gestolpert zu sein, doch wird man sich die Verhältnisse sicherlich ein wenig komplexer vorzustellen haben. Aus der Perspektive des Kaisers bot sich bei Adrianopel die einmalige Gelegenheit, die Auf-
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ständischen in ihrer Gesamtheit zu stellen, bevor diese sich wieder in schwer zu bekämpfende Einzelgruppen aufspalten konnten. Zudem berichteten seine Späher, dass die Goten sich auf die kleine Station Nike südöstlich von Adrianopel zubewegten; dies aber musste unbedingt verhindert werden, weil dadurch die Verbindungen nach Konstantinopel bedroht worden wären. Hinzu kam, dass die gegnerische Armee von den römischen Vorposten auf lediglich etwa 10 000 Mann geschätzt wurde – eine fatale Fehlkalkulation, wie schon Ammian anmerkt, die aber Valens in seiner Siegesgewissheit bestärkte. So dürften persönliche und politisch-strategische Motive zusammengekommen sein, als der Kaiser in den durchaus kontroversen Überlegungen seines Kriegsrates einen zügigen Angriff durchsetzte – gegen die ausdrückliche Mahnung seines Neffen, er möge doch unbedingt noch seine Ankunft abwarten.72 Damit nahm das Verhängnis für die Römer seinen Lauf. Am frühen Morgen des 9. August setzte sich Valens’ Armee mit ihrem gesamten Marschgepäck von Adrianopel aus in Bewegung, um den Goten entgegenzuziehen. Von Beginn an litten die Soldaten unter der schier unerträglichen Hitze. Der Weg war anstrengend, wand sich auf schwer passierbaren Pfaden durch die Berge und kostete wertvolle Reserven. Etwa acht Stunden war man unterwegs, bis am frühen Nachmittag in der flirrenden Sonnenglut die gotische Wagenburg auf einem Hügel in Sichtweite kam, etwa 17 Kilometer nordöstlich der Stadt (die genaue Lage des Schlachtfeldes ist unbekannt). Fritigern hatte seine Truppen gut geschützt im Innern der mobilen Befestigungen postiert, nur wenige Leichtbewaffnete befanden sich vor den Wagen. Die Römer sanken zunächst erschöpft nieder, um sich Auge in Auge mit dem Feind von der strapaziösen Reise zu erholen. Der Staub hatte ihre Kehlen ausgetrocknet, und zu allem Überfluss hatten die Goten das verdorrte Buschwerk auf den weiten Ebenen in Brand gesteckt. Sengende Hitze und trockener Rauch setzten den ermatteten Soldaten schwer zu. Die Sicht war durch die Feuer getrübt, kaum jemand konnte erahnen, was im gotischen Lager vor sich ging. Mühsam nahm man Aufstellung an, die Infanterie im Zentrum, die beiden Flügel zusätzlich durch starke Kavallerieeinheiten gedeckt, der Kaiser selbst auf der rechten Seite. Die exakten Truppenstärken lassen sich nicht mehr errechnen; moderne Kalkulationen, die im Wesentlichen auf vagen Hinweisen im Text Ammians basieren, schwanken zwischen einer Gesamtstärke von ca. 24 000– 26 000 bis ca. 30 000–40 000 Mann auf der römischen Seite; die Größe des gotischen Heeres dürfte den römischen Streitkräften in etwa gleichgekommen sein. Für beide Seiten kam das Aufeinandertreffen indes zu früh, für Fritigern sogar noch mehr als für Valens. Die römische Schlachtordnung nahm erst langsam Gestalt an, weil insbesondere die Reiter auf dem linken Flügel sich großenteils noch auf dem Marsch befanden und erst allmählich aufschließen konnten.
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Fritigern hingegen musste auf das Eintreffen seiner berittenen Hauptmacht warten, die von Alatheus und Saphrax geführten Greutungen, deren ersehnte Ankunft sich verzögerte. In dieser Situation boten Verhandlungen ein probates Mittel, um Zeit zu gewinnen oder gar den Konflikt vor Ausbruch einer Schlacht beizulegen. Eine erste gotische Delegation wiesen die Römer jedoch brüsk zurück, weil sie als zu niederrangig erachtet wurde. Erst als eine weitere Gesandtschaft im römischen Lager eintraf, zeigte sich Valens gesprächsbereit – nun immerhin in einem Maße, dass er sogar einwilligte, als Friedenspfand römische Geiseln zu stellen. Möglicherweise hatte er inzwischen realisiert, dass seine Armee noch nicht hinreichend auf den Kampf vorbereitet war, und wollte nun doch die Ankunft seines Neffen abwarten; vielleicht aber sah er auch eine echte Chance auf Frieden, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Seine Bereitschaft, Geiseln zu stellen, weist jedenfalls in diese Richtung.73 Das aber war der Moment, in dem Valens die Kontrolle über das Geschehen entglitt. Noch während sich der hohe römische General (comes domesticorum) Richomeres als freiwillige Geisel auf dem Weg in die gotische Wagenburg befand, erblickten zwei römische Eliteeinheiten aus den scholae palatinae (Hofgarde) offenbar unvermittelt eine günstige Gelegenheit, diese zu erstürmen, und griffen ohne Befehl an – vermutlich auf dem linken Flügel. Die Schlacht, über deren Verhinderung soeben noch ernsthafte Gespräche anberaumt worden waren, hatte damit wie aus dem Nichts begonnen. Ihr exakter Verlauf lässt sich aus Ammians Darstellung nur umrisshaft rekonstruieren. Das mag auf den ersten Blick verwundern angesichts der Tatsache, dass der Historiograph als Veteran der römischen Armee doch hätte wissen sollen, worauf es ankam; aber seine Darstellung folgt anderen Prinzipien als unsere Erwartungen. Die kunstvolle Anlehnung an literarische Vorbilder spielte für Ammian eine ebenso wichtige Rolle wie die mehr oder weniger subtile Artikulation seiner Abneigung gegenüber Valens. Fest steht jedenfalls, dass nach dem Überraschungsangriff der sagittarii und scutarii aus den scholae palatinae der gesamte linke römische Flügel vorrückte. In diesem Moment trafen die greutungischen Reiter unter Alatheus und Saphrax ein und attackierten «wie ein Blitz» (ut fulmen) aus den Bergen heraus die römische Kavallerie, die für den Schutz der angreifenden Fußtruppen zuständig war. In Panik zerstreuten sich die römischen Reiter, wodurch die Infanterie ihre Deckung verlor und im gotischen Pfeilhagel ihren Vormarsch abbrechen musste. Inzwischen waren die Greutungen noch weiter vorgedrungen und standen plötzlich sogar im Rücken der römischen Armee. Deren taktische Reserven erkannten das drohende Debakel und ergriffen ebenfalls die Flucht, woraufhin Valens offenbar realisierte, dass es nun nicht mehr um Sieg oder Niederlage, nicht mehr um die Größe des zu erlangenden Ruhmes ging, sondern allein um das nackte Überleben. Der Kaiser
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versuchte daher den Angriff des römischen Zentrums abzubrechen, um einen Zweifrontenkampf zu verhindern, aber das Handgemenge war bereits zu dicht; die zurückweichenden Soldaten wurden Opfer der gotischen Bogenschützen, während Fritigerns Hauptarmee erst jetzt allmählich vorrückte. Sie konzentrierte sich zunächst auf den schon schwer angeschlagenen linken Flügel der Römer und begann von dieser Seite aus, die weitgehend eingekesselte Armee des Valens systematisch zu vernichten. Solange es irgend möglich war, leisteten die durstenden und ermüdeten römischen Soldaten Widerstand. Am Abend jedoch brach auch der rechte Flügel zusammen; in heilloser Flucht zerstreute sich das Heer, zahllose Soldaten fanden in dem anschließenden Blutbad ihr Ende.74 Als sich die Dunkelheit über die brandgeschwärzte Landschaft gesenkt hatte, waren mehr als zwei Drittel der römischen Orientarmee ausgelöscht. Besonders schwer wog der Verlust des größten Teils der militärischen Führungselite, insgesamt 35 hochrangige Offiziere. Unter den Gefallenen befanden sich der nicht immer glücklich agierende General Traian, der betagte, tüchtige Haudegen Sebastianus, der vielversprechende junge Tribun Potentius, unter dessen Vater Ursicinus der Historiograph Ammian selbst lange gedient hatte, und viele andere mehr – ein kaum zu verkraftender Aderlass.75 Und Valens? Man mag dem Kaiser strategischen Weitblick absprechen und ihn mit in die Verantwortung für das militärische Desaster nehmen, aber als Soldat hat er sich bei Adrianopel bewährt. Als die drohende Katastrophe sich abzeichnete, setzte er offenbar all seine Kräfte daran, die kollabierenden Linien zu stabilisieren und unter persönlichem Einsatz den Kampf fortzuführen. Während erfahrene Heerführer wie der Sarmate Victor (magister equitum), der Franke Richomeres oder Saturninus die Flucht ergriffen, harrte Valens ohne Leibwache im Getümmel aus und versuchte unter Einsatz seines Lebens, wenigstens den rechten Flügel noch zu halten. Über sein Schicksal kursierten bald unterschiedliche Gerüchte. Ammian berichtet zunächst, der Kaiser sei unter den einfachen Soldaten kämpfend bei Einbruch der Dämmerung von einem Pfeil niedergestreckt worden. Einer anderen Version zufolge hätten Leibwächter und Eunuchen den schwer verwundeten Herrscher in ein nahe gelegenes Landhaus geschafft. Marodierende Goten jedoch hätten das Gebäude in Brand gesetzt, ohne zu wissen, dass der sterbende Kaiser darin gepflegt wurde. Mitsamt den Insassen sei das Anwesen ein Raub der Flammen geworden, lediglich ein Leibwächter habe sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten und den verärgerten Barbaren davon berichten können, wen sie soeben überhastet verbrannt hatten. Diese Version machte sich bald die nizänische Kirchengeschichtsschreibung zu eigen. Sie entsprach dem, was man von einem ‹arianischen› Häretiker ohnehin erwartete: wie in der Hölle bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Aber auch unter altgläubigen
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Kritikern des Kaisers wurde diese Variante favorisiert. Schon zu Beginn seines 31. Buches behauptet Ammian, das Volk von Antiocheia habe geradezu prophetisch skandiert: «Valens möge lebendig verbrennen!» (vivus ardeat Valens). Größere Wahrscheinlichkeit hat indes jene Version für sich, der zufolge der unglückliche Kaiser während der Schlacht einfach durch einen Pfeil tödlich verwundet worden ist; sie fügt sich jedenfalls deutlich harmonischer in Ammians Bericht als die Geschichte vom brennenden Landhaus. Wie auch immer: Der Leichnam des Valens wurde nie gefunden.76 Tatsächlich hatten die Römer eine der furchtbarsten Niederlagen in ihrer Geschichte erlitten, sicherlich die schwerste militärische Katastrophe der gesamten Kaiserzeit. Nie zuvor war es Barbaren gelungen, auf römischem Territorium eine römische Armee dieser Größenordnung praktisch zu vernichten; und sie waren keineswegs auf unerfahrene Rekruten getroffen. Ammian merkt ausdrücklich an, dass Valens’ Streitkräfte großenteils aus vorzüglichen Soldaten und altgedienten Veteranen bestanden hätten. Umso schwerer wog der Verlust. Für das Verhältnis zwischen Römern und Barbaren bedeutete die Schlacht bei Adrianopel einen Wendepunkt. Die Zeiten, in denen man Barbarenkriege als zweitrangige Abenteuer ansehen und vornehmlich zur Erhöhung des eigenen Ruhmes führen konnte, waren vorüber. Barbaren standen jetzt dauerhaft innerhalb der Reichsgrenzen, kamen nicht nur gelegentlich zu einzelnen Raubzügen vorbei und ließen sich nicht mehr in altvertrauter Praxis einigermaßen friedlich integrieren. Die Eroberungs- und Prestigekriege, die Rom über Jahrhunderte hin jenseits seiner Grenzen geführt hatte, verlagerten sich von nun an dauerhaft auf eigene Territorien. Und: Zum letzten Mal hatte mit Valens ein römischer Kaiser selbst seine Hauptarmee ins Feld geführt; erst Herakleios (610–641) sollte sich wieder persönlich an die Spitze seiner Streitkräfte stellen und groß angelegte Operationen dirigieren. Mit Adrianopel hatte somit in verschiedener Hinsicht ein neues Zeitalter begonnen. Fortan befand sich Rom in der Defensive, das Imperium wurde zunehmend von Barbaren durchdrungen, und innerhalb weniger Generationen wurde es immer schwieriger zu definieren, gegen wen man eigentlich kämpfte, wenn man gegen ‹Barbaren› vorging. Das Barbaricum begann gewissermaßen in das Imperium hinein zu diffundieren. Am Ende dieses Prozesses, nach der Auflösung der territorialen und politischen Integrität des Römischen Reiches, erscheint auch der Terminus ‹Barbar› in neuen Bedeutungsvarianten. Einfache Dichotomien, so sehr man sich an ihnen auch festklammerte, verloren ihre lebensweltlichen Bezüge.77 Zeitgenossen haben diese Zäsur durchaus als solche realisiert. So wie Ammian sein Geschichtswerk, beschließt Hieronymus mit dem «jammervollen Krieg in Thrakien» (lacrimabile bellum in Thracia) und dem Tod des Valens seine Chronik.
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Für den Kirchenhistoriker Rufinus symbolisierte die Schlacht bei Adrianopel den Anfang allen Unheils: «Diese Schlacht bedeutete für das Römische Reich den Ursprung des Übels, damals und auch für die Folgezeit» (quae pugna initium mali Romano imperio tunc et deinceps fuit). Ambrosius sah in den Gotenzügen und den von ihnen angerichteten Verwüstungen (depopulatio) die Prophezeiung Ezechiels vom Angriff Gogs verwirklicht (Gog iste Gothus est). Zuversichtlicher zeigte sich Ammian. Er vergleicht das Ausmaß der Katastrophe mit der Schlacht bei Cannae gegen den Karthager Hannibal im Jahr 216 v. Chr., nicht ohne daraus indirekt die vage Hoffnung zu gewinnen, dass es den Römern wie damals gelingen möge, gestärkt aus den Finsternissen des Schicksals hervorzugehen. Vorerst jedoch lag ihre Welt in Trümmern. Die «Raserei der Zeiten» war über sie hinweggefegt.78
2.2.3 Konsolidierung unter Theodosius I. (379–395)
Die römische Orientarmee vernichtet, allenthalben verstreute und verletzte Soldaten auf der Flucht, die zivile und militärische Infrastruktur auf dem Balkan in Auflösung begriffen, der Kaiser gefallen, sein Leichnam spurlos verschwunden. Ganz Thrakien stand den Goten nun offen, und sie gierten danach, direkt die Früchte ihres Erfolges zu ernten. Gegen das Votum Fritigerns stürmte die siegreiche Armee gleich im nächsten Morgengrauen gen Adrianopel, wo Valens seine Schätze hinterlegt hatte. Ammian bemüht einmal mehr den bei römischen Autoren so beliebten Tiervergleich: Wie Bestien, die durch den Blutgeruch noch wilder geworden seien (ut bestiae sanguinis irritamento atrocius efferatae), hätten die Barbaren sich verhalten, verstärkt – wie so oft während der ‹Völkerwanderung› – durch römische «Verräter und Überläufer» (proditores et transfugae). Ihr Angriff auf die Stadt, deren bis dahin ahnungslose Besatzung völlig überrumpelt wurde, scheiterte aber unter anderem daran, dass die Goten nicht über das erforderliche schwere Belagerungsgerät verfügten. So zogen sie wieder ab und bewegten sich brandschatzend in Richtung Konstantinopel. Die Bevölkerung der Bosporusmetropole war nicht minder unvorbereitet, konnte sich aber glücklich schätzen, dass sich seit kurzem eine Einheit arabischer Soldaten – es handelte sich vielleicht um Leibwachen der Kaiserin Domnica – in der Stadt befand, die sogleich dem Feind entgegenzog. Ammians Botschaft ist recht eindeutig: Wilde Barbaren bekämpft man am effektivsten durch den Einsatz noch wilderer Barbaren – in diesem Fall ging das Kalkül auf: Als die Araber begannen, ihren Gegnern die Kehlen herauszureißen und das ausströmende Blut zu trinken, beschlossen die Goten im
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eigenen Interesse, ihre Aktionsschwerpunkte vorerst zu verlagern. Unter schweren Verlusten zogen sie sich nach Westen bis in die Julischen Alpen, in die Gegenden des heutigen Slowenien und Venetien, zurück, um erst einmal die dortigen Gefilde zu verwüsten. Eine Dauerlösung konnte dies freilich nicht darstellen, zumal mit einer Regeneration der römischen Kräfte zu rechnen war und sich das bald wieder hungernde Gotenheer nur eine gewisse Zeit lang in den geplünderten Gebieten zu versorgen vermochte. Hier beginnen sich jene Probleme abzuzeichnen, die wenige Jahre später Alarich umtreiben und letztlich scheitern lassen sollten.79 Die römische Reaktion auf die Katastrophe von Adrianopel war weit weniger ungestüm. Direkt nach der Schlacht begab sich der Kavalleriekommandeur Victor eilig zu Gratian, der schon bei Castra Martis im heutigen Nordwestbulgarien gestanden hatte, um den Herrscher über die unheilvolle Wendung der Dinge zu unterrichten. Es wird Victor einige Schwierigkeiten bereitet haben, überhaupt bis zum Kaiser vorzudringen, denn der Balkan war verwüstet und unsicher, permanent musste man mit Überfällen durch marodierende Raubscharen rechnen. Schon vor Valens’ Niederlage waren Reisen durch die von den Barbaren attackierten Gebiete höchst gefährlich und ungewiss, wie aus einem Brief des Basileios von Kaisareia hervorgeht. Allmählich drangen die Nachrichten dennoch bis in die übrigen Teile des Römischen Reiches durch. Der für Kleinasien zuständige Feldherr (magister militum) Iulius zog unmittelbar die Konsequenzen und ließ, um einer übergreifenden Abfallbewegung zuvorzukommen, sämtliche gotischen Truppenteile innerhalb seines Kommandobereichs in einer konzertierten Aktion massakrieren. In der Tat kam es nach der Schlacht von Adrianopel, wie Gregor von Nyssa in seinen Predigten anmerkt, offenbar zu durchaus ernstzunehmenden Fällen schwer kontrollierbarer Gewaltausbrüche. Ammian, der die Barbaren ohnehin verachtete, bezeichnet Iulius’ Vorgehen denn auch kurzerhand als «weitsichtige Maßnahme» (consilium prudens).80 Gratian befand sich in einer gefährlichen Lage. Selbst gerade einmal 21 Jahre alt, fehlte es ihm an Erfahrung und Durchsetzungskraft, möglicherweise auch verschiedentlich an Rückhalt; sein Bruder und formeller Mitherrscher Valentinian II. (* 371) war noch ein Kind. Rasch musste eine Lösung für die Probleme im Osten gefunden werden, damit Gratian seinerseits wieder in den Westen zurückkehren und sich den Alemannen widmen konnte, bevor diese seine Abwesenheit für neue Raubzüge nutzten. In dieser heiklen Situation wurde am 19. Januar 379 in der kaiserlichen Residenzstadt Sirmium (heute Sremska Mitrovica, Serbien) der aus dem heutigen Spanien stammende Feldherr Theodosius zum Augustus erhoben – freilich unter ungeklärten Umständen. Ob Theodosius, dessen gleichnamiger Vater erst 376 in Karthago hingerichtet worden war, tat-
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sächlich Gratians erste Wahl war, mag man bezweifeln. Mitunter wurde gar vermutet, mächtige Autoritäten hätten Theodosius dem hilflosen Kaiser aufgezwungen, ja von einer verdeckten Usurpation ist die Rede. Die Vorgänge lassen sich im Einzelnen nicht mehr rekonstruieren. Fest steht indes, dass der neue Herrscher vor schwierigen Aufgaben stand. Bisher in jeder Hinsicht im Westen des Reiches verwurzelt, hatte er sich nunmehr auf die komplizierten religiösen und politischen Verhältnisse im Osten einzustellen; überdies wurde der Balkan von brandschatzenden Barbaren verunsichert. Die Wiederherstellung der Autorität Roms stellte die wichtigste Herausforderung für den neuen Kaiser dar, an deren Bewältigung er sich – gerade auch mit Blick auf seine zukünftige Akzeptanz im Osten – sicherlich würde messen lassen müssen.81 Für die folgenden Jahre steht uns kein Leitnarrativ wie das Geschichtswerk Ammians mehr zur Verfügung – wie angedeutet, liegt die Hoheit über den Plot ohnehin nur teilweise bei uns. Die Balkankriege des Theodosius in den Jahren 379 bis 382, ein zähes Ringen, bei dem mühsam errungene militärische Erfolge wiederholt von Rückschlägen überschattet wurden, lassen sich daher nicht mehr in all ihren Einzelheiten nachvollziehen. Theodosius’ Hauptinteresse dürfte zunächst darin bestanden haben, im Osten wieder eine halbwegs schlagkräftige und organisierte Armee aufzustellen. Die Niederlage bei Adrianopel hatte tiefe Lücken gerissen – 16 ganze Einheiten waren unwiederbringlich verloren –, aber schon zuvor hatten massive Rekrutierungsprobleme die Wirkungskreise der Streitkräfte eingeschränkt. Nicht zuletzt deshalb hatte Valens den Donauübergang der Terwingen so eifrig befürwortet, nachdem er zuvor angeblich sogar Mönche zum Kriegsdienst verpflichtet haben soll. Großen Spielraum besaß Theodosius jedenfalls nicht. Das aurum tironicum, also die Möglichkeit eines ‹Freikaufs› der Landbesitzer von der Rekrutenabstellung, musste er zurücknehmen; Einheiten aus dem Osten wurden auf den Balkan transferiert, hinterließen aber entsprechende Leerstellen an ihren Ursprungsorten, die durch kostspielige Stillhalteabkommen ausgeglichen werden mussten. Bauern, Minenarbeiter und andere wurden kurzfristig bewaffnet, weitere Barbarenverbände, darunter selbstverständlich auch Goten, in Dienst genommen. Die neue Armee des Theodosius war «eine ziemlich bunte Truppe», unübersichtlich und zunächst ineffizient – aber nach größeren Anlaufschwierigkeiten bewährte sie sich schließlich.82 Bereits am 17. November 379 konnte in Konstantinopel ein Sieg über Goten, Alanen und Hunnen vermeldet werden, die Kunde weiterer Erfolge Gratians und Theodosius’ erreichte den Bosporus im Jahr 380. Der neue Herrscher, angewiesen auf positive Nachrichten, zog dementsprechend am 24. November triumphal in Konstantinopel ein. Diese Meldungen täuschen allerdings darüber hinweg, dass sich die Wiederherstellung der Ordnung auf dem Balkan tatsächlich keineswegs
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derart elegant gestaltete. Die Kämpfe waren mühevoll und verbissen, die Verluste auf beiden Seiten hoch; bei einer Gelegenheit wäre Theodosius beinahe selbst in Gefangenschaft geraten. Gleichzeitig scheint es Gratian gelungen zu sein, mit dem Alatheus-Saphrax-Verband einen Separatfrieden zu schließen, der deren friedliche Ansiedlung, wohl in Pannonien, vorsah.83 Umso mehr benötigte der frisch berufene Kaiser nichts dringender als sichtbare Erfolge. Wie gelegen musste ihm da ein unerwartetes Bittgesuch Athanarichs kommen! Der alte Todfeind alles Römischen, der einst geschworen hatte, römischen Boden nie zu betreten, hatte im Jahr 380 offenbar den letzten Rückhalt bei seinen Terwingen verloren und erschien nun demütig in Konstantinopel. Theodosius nutzte diese Gelegenheit zu einer großartigen Inszenierung, zog dem greisen Gotenfürsten vor die Stadt entgegen und empfing ihn in höchsten Ehren. Vielleicht hatte er gehofft, mit dieser Geste demonstrativer Achtung auch Fritigern gewinnen zu können, vielleicht wollte er den entmachteten «Richter» als Vermittler einsetzen; aber bald zerschlugen sich alle weiteren Hoffnungen. Athanarich war nur zum Sterben an den Bosporus gekommen und erlag kaum zwei Wochen später einer Krankheit. Theodosius ehrte ihn mit einem monumentalen Begräbnis.84 Zu diesem Zeitpunkt waren die zermürbenden Kämpfe auf dem Balkan bereits in ihre letzte Phase eingetreten; beide Seiten realisierten allmählich, dass eine Lösung nur auf dem Verhandlungsweg möglich war. Und so verzeichnen die Chroniken denn schließlich für den 3. Oktober 382 jene Nachricht, die die meisten Zeitgenossen mit größter Erleichterung aufgenommen haben dürften: «In diesem Jahr ergab sich die gesamte gens der Goten mitsamt ihrem König der Romania». «Damit», so hat man gemutmaßt, «war im Buch der römischen Institutionengeschichte eine ganz neue Seite aufgeschlagen». Warum?85 Der Vertragsabschluss des Jahres 382, das sogenannte Gotenfoedus, gilt vielfach als erster Schritt auf dem Weg zur Auflösung der territorialen Einheit des Römischen Reiches. Diese weitreichende Bedeutungszuschreibung geht von den mutmaßlichen Bestimmungen des Abkommens aus: Den Goten wurde Siedlungsland auf römischem Boden zugewiesen, vermutlich in den Provinzen Moesia II und Dacia ripensis – zwischen der Donau und dem Balkangebirge (Haemus) und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrer ursprünglichen Heimat; als reichsangehörige Fremde sollten sie dort (wahrscheinlich) steuerfrei und nach ihren eigenen Gesetzen, d. h. weitgehend autonom leben, unter einem Dach mit den römischen Provinzialen, also wohl entsprechend dem System der römischen Truppeneinquartierung (hospitalitas). Sie erhielten überdies Jahrgelder – regelmäßig zu entrichtende finanzielle Zuwendungen –, mussten sich im Gegenzug allerdings dazu verpflichten, den Römern Waffenhilfe zu leisten, wobei ihre Anführer sich dem Oberbefehl
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der römischen Generäle zu fügen hatten. Das auf diese Weise entstandene Gebilde habe «gleichsam als Staat im Staat» Schule gemacht und sich zum Vorbild für weitere Ansiedlungsverträge entwickelt, mit denen die Römer in den folgenden Jahrzehnten allmählich große Teile ihres Imperiums, die sie militärisch nicht mehr hätten halten können, an Barbarenverbände abgetreten hätten. Aus diesen Keimzellen hätten sich, was in der konkreten Situation des Jahres 382 freilich nicht absehbar war, die späteren sogenannten Nachfolgereiche entwickelt.86 Vor allem die englischsprachige Forschung hat vor einigen Jahren begonnen, diese Sichtweise in ihren Grundfesten zu erschüttern. Das Hauptargument ist recht einfach: Die konkreten Bestimmungen des Gotenfoedus von 382 sind nirgendwo überliefert, ja nicht einmal die Existenz eines Vertrages mit den FritigernGoten lasse sich, so die Kritik, beweisen, da Fritigern selbst in unseren Zeugnissen nicht mehr vorkomme. War er bereits vor 382 verstorben? Hatte er seine Führungsposition verloren? Oder ist es möglicherweise nach 378 zu einer Aufspaltung der Goten in mehrere kleinere Gruppen gekommen, die weitgehend unabhängig voneinander agierten? Im letzteren Fall würde die These einer Ansiedlung eines geschlossenen, praktisch autonomen Verbandes jegliche Plausibilität verlieren. Die literarischen Zeugnisse bleiben in diesen Punkten eher vage: Orosius hält fest, dass nach Athanarichs Tod in Konstantinopel «sämtliche gentes der Goten» (universae Gothorum gentes) sich der römischen Herrschaft unterworfen hätten – eine vollmundige Formulierung, die sich kaum ausschließlich auf die wenigen letzten Anhänger des ehemaligen «Richters» beziehen kann, sondern wohl auch die thrakischen Gotengruppen mit umfasst. Der Rhetor Themistios lobt die Politik des Kaisers und seines Verhandlungsführers Saturninus, den wir bereits als flüchtigen Feldherrn bei Adrianopel kennengelernt hatten; es sei gelungen, die kriegerischen Goten nach ihrer Unterwerfung zu Bauern zu machen, und immerhin sei es doch besser, Thrakien werde mit neuen Landwirten gefüllt als mit Leichen. Die Ansiedlung der besiegten Goten sei dementsprechend als Akt besonderer Menschenfreundlichkeit (philanthropía) des Kaisers zu verstehen. Synesios, der spätere Bischof von Kyrene, lässt im Kontext einer wilden Tirade gegen Barbaren in Heer und Verwaltung erkennen, dass die Goten Land erhalten haben, und auch der Panegyriker Pacatus spricht davon, dass die ehemaligen Krieger zu Bauern und römischen Soldaten geworden seien. Im entlegenen Antiocheia tönte der Rhetor Libanios gar, Theodosius habe die Goten zu loyalen Sklaven gemacht. Aus diesen Andeutungen lässt sich jedoch nicht allzu viel Konkretes gewinnen, zumal sich die Nachrichten im Bereich der üblichen rhetorischen Kraftmeiereien bewegen, die nach jeder Auseinandersetzung mit Barbaren zu erwarten gewesen wären – ganz unabhängig davon, zu welchen Bedingungen ihre Beilegung erfolgt war. Erst Jordanes spricht im 6. Jahrhundert explizit davon, dass der gesamte gotische Heeres-
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verband in ein Foederatenverhältnis mit Theodosius eingetreten sei, doch wurde seine Darstellung vor allem mit Blick auf die für das späte 4. Jahrhundert anachronistische Kategorie der Foederaten als Rückprojektion späterer Verhältnisse entlarvt.87 So bleiben uns letztlich nur drei Möglichkeiten, mit dem Problem umzugehen: Vertreter der minimalistischen Position konstatieren, dass wir von einem Vertrag eigentlich nichts Konkretes wissen, und erkennen lediglich an, dass die militärischen Auseinandersetzungen in irgendeiner Weise zu einem Abschluss gekommen sein müssen – immerhin so, dass Zeitgenossen dies als ‹Sieg› über einen gefährlichen Gegner beweihräuchern konnten. Dem steht auf der anderen Seite der Versuch entgegen, einen vollgültigen ‹Vertrag› mit seinen wesentlichen Einzelbestimmungen aus späteren Sachverhalten und Entwicklungen sowie durch eine sehr zugespitzte Interpretation des erhaltenen Materials zu rekonstruieren. Das ist nicht ganz so bequem wie die erste Position, dafür aber methodisch in weitaus höherem Maße angreifbar. Ein dritter Ansatz schließlich nimmt das Fehlen einer expliziten zeitgenössischen Erwähnung eines Vertrages ebenso ernst wie das Verschwinden Fritigerns aus den Quellen und zieht daraus die Konsequenz, dass die Goten sich in kleinere Verbände aufgegliedert haben müssen – durchaus kein ungewöhnlicher Vorgang – und mit jedem von ihnen separat eine Unterwerfung (deditio) mit anschließendem Abkommen ausgehandelt worden sei; damit ließe sich auch der Umstand erklären, dass die Verhandlungen nicht durch den Kaiser selbst (wie im Jahr 369 zwischen Valens und Athanarich), sondern durch einen seiner Bevollmächtigten geführt wurden.88 Trotz der methodischen Bedenken, die mit Blick auf die Rekonstruierbarkeit einzelner Bestimmungen gegen die These eines Einzelvertrages geäußert wurden, halte ich diese dennoch in den Grundzügen für plausibel. Denn weder der minimalistische Ansatz noch der Versuch, den Mangel an Quellenmaterial mit einer Aufspaltung der Goten in kleinere Gruppen zu erklären, werden der zitierten Nachricht in den Consularia Constantinopolitana gerecht. Dort ist ganz eindeutig von einer deditio (in Romaniam se tradiderunt) der gesamten gens der Goten (universa gens Gothorum; in gleicher Weise äußert sich Orosius, s. o.!) an einem einzigen, konkret bezeichneten Tag (3. Oktober) die Rede. Auch ein «König» wird erwähnt, also eine wie auch immer einzuordnende Person, die offensichtlich das Recht der Alleinvertretung der gens für sich in Anspruch nehmen konnte (cum rege suo). Ob es sich dabei um Fritigern handelte oder um jemand anderen, ist unerheblich. Unsere Kenntnis von Namen hängt ohnehin allzu oft nur am Zufall der Überlieferung. Auch die Tatsache, dass der Kaiser sich nicht selbst an den Kriegsschauplatz begeben hat, um mit den Goten zu verhandeln, stellt kein besonders gewichtiges Argument für das Fehlen eines adäquaten Verhandlungs-
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partners dar. Theodosius dürfte damals hinreichend damit beschäftigt gewesen sein, seine eigene Stellung als ‹Fremder› in Konstantinopel zu befestigen – zumal nach den Beschlüssen des Konzils von 381 (das 2. Ökumenische Konzil), in dem ein für Zeitgenossen geradezu radikaler religionspolitischer Schwenk von der homöischen zur nizänischen Lehre vollzogen wurde. Seinen Verhandlungsführer Saturninus ehrte er jedenfalls mit dem Konsulat für das Jahr 383 – ein deutliches Indiz für die hohe Bedeutung, die der Kaiser dem von ihm erwirkten Abkommen beimaß.89 Man wird also wohl doch mit der Existenz eines einzelnen Vertrages aus dem Jahr 382 rechnen dürfen. Über dessen konkrete Inhalte indes mag man diskutieren, doch sprechen die Andeutungen in den genannten Zeugnissen dafür, dass die Goten tatsächlich als geschlossene Einheit angesiedelt wurden (wie auch immer man sich das konkret vorstellen muss). Die Landforderungen jedenfalls, auf denen Alarich in den letzten Jahren vor seinem Tod 410 immer energischer insistieren sollte, sind eigentlich nur dann verständlich, wenn sie sich auf ein unmittelbares, bereits bekanntes Vorbild beziehen konnten, und dieses dürfte kaum in den Vereinbarungen des Jahres 376 zu suchen sein. Denn damals mussten die Terwingen, auf der Flucht vor den Hunnen, aus einer Position der Schwäche heraus mit den römischen Amtsträgern verhandeln. Wie auch immer die in jener Situation getroffenen Übereinkünfte auch ausgesehen haben mögen – der Vertrag des Jahres 382 muss demgegenüber eine deutliche Verbesserung dargestellt haben, zumal Themistios all seine rhetorischen Fertigkeiten aufbieten musste, um die römischen Zugeständnisse gegenüber den Goten als großzügigen Akt kaiserlicher Philanthropie zu präsentieren. Letztlich jedoch zählte das Ergebnis: In der Folgezeit herrschte tatsächlich weitgehend Ruhe – immerhin bis zum Jahr 391 – und Theodosius gewann ein dringend benötigtes Reservoir zusätzlicher Soldaten, was einmal mehr Themistios auf den Punkt bringt: «Wären sie [sc. die Goten] von Grund auf vernichtet worden, hätten wir außer den Thrakern auch noch die Skythen [= Goten] verloren».90 Die Goten zeigten sich also großenteils zufrieden, zumindest einverstanden mit den neuen Rahmenbedingungen, und Theodosius scheint zunächst hinreichend Sensibilität besessen zu haben, um neuerliche Eskalationen zu vermeiden. Als in der Schwarzmeerstadt Tomis (heute Constanţa, Rumänien) der übereifrige römische Garnisonskommandeur Gerontius überraschend auf eine vor den Mauern lagernde gotische Einheit in römischen Diensten losging und unter dem Beifall seiner Leute ein Blutbad anrichtete, erhielt er keineswegs die erhoffte Belohnung, sondern konnte sich letztlich glücklich schätzen, vom empörten Kaiser nicht augenblicklich exekutiert zu werden. Wenige Jahre später kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung zwischen den Gotenführern Eriulf, der als Christ
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die Distanz zu Rom suchte, und Fravitta, einem romfreundlichen Altgläubigen, um die Einhaltung der Abmachungen des Jahres 382; der Konflikt entzündete sich ausgerechnet an der kaiserlichen Tafel und gipfelte in der Ermordung Eriulfs durch Fravitta. Theodosius verzichtete indes vorsorglich auf anmaßende Interventionen und ließ lediglich die streitenden Anhängerschaften der Antagonisten trennen. Fravitta absolvierte in den Folgejahren eine glänzende Karriere in römischen Diensten, die ihn bis zum Konsulat im Jahr 401 führte. Seine Auseinandersetzung mit Eriulf erinnert uns allerdings daran, dass die Frage der Haltung gegenüber Rom unter den Goten weiterhin, wie in den Zeiten Athanarichs und Fritigerns, kontrovers diskutiert wurde – selbst jetzt, da sie feste Siedlungsplätze im Imperium Romanum erhalten hatten.91 Auch wenn die Bevölkerung der Balkangebiete weiterhin stets mit Übergriffen vereinzelter Streifscharen zu rechnen hatte und selbst ein Mönch wie Hypatios um die Mitte der 380er Jahre angesichts hunnischer Plündertrupps Befestigungen anlegen ließ – insgesamt blieb die Lage stabil. Die Goten stellten Soldaten für reguläre Einheiten der römischen Armee, kämpften aber auch als Hilfstruppen in geschlossenen Verbänden für Rom, in solchen Fällen unter ihren eigenen Anführern, die allerdings (noch) außerhalb der römischen Militärhierarchie standen. Theodosius warf im Jahr 388 unter Einsatz gotischer Verbände den Usurpator Maximus nieder, dem im Jahr 383 Kaiser Gratian zum Opfer gefallen war. Auch gegen Eugenius, den nächsten Prätendenten, wurden in großer Zahl Goten eingesetzt. In der Entscheidungsschlacht am Frigidus (einem Nebenfluss des Isonzo, Slowenien), die am 5. / 6. September 394 stattfand, jagte Theodosius den Truppen des Usurpators zunächst seine Goten entgegen, die dabei grauenhafte Verluste erlitten (Orosius bejubelt 10 000 gefallene Barbaren). Nach der Schlacht gingen Gerüchte um, der Kaiser habe diesen Blutzoll gezielt kalkuliert, um die Schlagkraft und Gefährlichkeit der gotischen Soldaten zu reduzieren. Aufkommende Spannungen wurden zusätzlich dadurch genährt, dass deren Anführer sich zurückgesetzt fühlte, da er weder eine selbständige Position in Theodosius’ Heer noch einen römischen Militärrang erhalten hatte. Dennoch bewahrten die Goten dem Kaiser bis zu dessen unvermutetem Tod am 17. Januar 395 die Treue. Als dann aber Stilicho als Sachwalter des noch unmündigen Nachfolgers Honorius und neuer starker Mann im Westen des Römischen Reiches die Goten einfach entließ, brach eine offene Revolte aus. An ihrer Spitze stand der am Frigidus gedemütigte Truppenführer. Sein Name war Alarich.92
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2.2.4 Irrwege zwischen den Reichsteilen: Alarich und die «werdenden Westgoten» (395–410)
Mit Alarichs erstem Auftritt auf der historischen Bühne gewinnt das Geschehen eine neue Dynamik. Das lag zum einen in der Persönlichkeit des ehrgeizigen gotischen Truppenführers begründet: Erstmals fassen wir in Alarich einen Barbaren, der gleichermaßen eine herausragende, institutionell abgesicherte Führungsposition innerhalb seines eigenen Verbandes wie eine angesehene Stellung innerhalb der römischen Militärhierarchie beanspruchte. Zum anderen trat die römische Geschichte mit dem Tod Kaiser Theodosius’ in eine neue Phase ein. Die Herrschaft über das bislang ungeteilte Reich fiel nun seinen Söhnen Arkadios im Osten und Honorius im Westen zu – beide aufgrund ihres noch jugendlichen Alters abhängig von Beratern und mächtigen Einzelpersönlichkeiten in ihrer Umgebung. Zwei distinkte Kaiserhöfe begannen sich herauszubilden, deren Angehörige eifersüchtig auf die Wahrung der jeweils eigenen Interessen bedacht waren, worüber ein allmählicher Entfremdungsprozess einsetzte, dessen fatale Konsequenzen um 400 zwar noch nicht manifest waren, der jedoch schon damals erste Opfer einforderte: Alarich und seine Anhänger wurden im Dauerkonflikt zwischen den Vertretern der beiden Kaiserhöfe regelrecht zerrieben, und da die Ressourcen des Imperium Romanum im frühen 5. Jahrhundert immerhin noch ausreichten, um einen Verband selbst von der Größe des stetig anwachsenden Alarich-Heeres letztlich doch weitgehend unter Kontrolle zu halten, gelang es dem Goten zu keinem Zeitpunkt, sich aus der interessengeleiteten Umklammerung der beiden Reichsteile zu lösen und zu einer politischen Größe mit autonom bestimmten Handlungsalternativen zu emanzipieren. Vor diesem Hintergrund wurde Alarichs Griff nach Rom im Jahr 410 nicht ohne Grund mitunter auch als Verzweiflungstat interpretiert.93 Alarichs Herkunft verliert sich im Nebel der Legende. Den gotischen Sieg bei Adrianopel dürfte er als kleiner Junge bestaunt haben. Zeitgenossen lokalisierten seinen Geburtsort auf der heute nicht mehr existierenden Insel Peuke im Donaudelta, wir dürfen ihn also zumindest irgendwo im Gebiet der unteren Donau vermuten. Gut möglich, dass die Verortung seiner Herkunft ausgerechnet auf einem Eiland im gotisch-römischen Grenzstrom Alarichs Zerrissenheit zwischen Römern und Goten zum Ausdruck bringen sollte. Wer seine Eltern waren, wissen wir nicht. Spekulationen, die ihn mit Alaviv zusammenbringen, spielen mit Namensassonanzen, ohne dass sich daraus nähere Aufschlüsse gewinnen ließen. Ob seine Zugehörigkeit zur Familie der Balthen ihn automatisch zum Verwandten Athanarichs machen muss, wie gemutmaßt wurde, ist ebenfalls ungewiss,
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zumal erst Jordanes die balthische Abkunft Alarichs einführt und damit einen recht offensichtlichen Zweck verfolgt: die Konstruktion einer ‹westgotischen› Königsfamilie in Analogie zu den ‹ostgotischen› Amalern. Wir können also nicht einmal sicher davon ausgehen, dass Alarich sich selbst dessen bewusst war, dass er ein Balthe gewesen sein soll.94 Der junge Gote dürfte zunächst auch nicht sonderlich prominent gewesen sein, und keinesfalls stand er an der Spitze aller Goten im Römischen Reich oder auch nur sämtlicher Goten, die 382 mit Theodosius in ein Vertragsverhältnis eingetreten waren – auch wenn Zeitgenossen ihn und seine Leute als Abkömmlinge der gotischen Flüchtlinge aus dem Jahr 376 betrachteten. Vielmehr müssen wir im späteren 4. Jahrhundert von verschiedenen, oftmals ganz unabhängig voneinander, ja mitunter auch gegeneinander agierenden gotischen Gruppierungen ausgehen, die sich temporär zusammenschließen und dann wieder in ganz neue Einzelverbände zerfallen konnten. Einige dieser Gruppen schimmern in den Quellen hervor. So scheint nach 383 sogar nördlich der Donau noch ein eigenständiger Gotenverband unter der Führung eines Arimir existiert zu haben. Arimir war ein Sohn der christlichen Gotin Gaatha, die zwischen 383 und 392 mit ihrer Tochter Dulcilla das Römische Reich bereiste. Im Jahr 386 versuchten dann Greutungen unter Odotheus die Donau zu überqueren, wurden aber von den Truppen des römischen Generals Promotus regelrecht abgeschlachtet; Theodosius zelebrierte diesen glänzenden Erfolg in Form eines triumphalen Einzugs in Konstantinopel und ließ die Überlebenden in Kleinasien ansiedeln; dort sollten sie im Jahr 399 unter ihrem Kommandeur Tribigild revoltieren (s. u.). Bereits einige Monate vor dem Gemetzel an den Leuten des Odotheus, wohl im Winter 384 / 85, hatte eine weitere gotische Gruppe den Strom überschritten und in römischen Gebieten geplündert.95 Hätte ein Cassiodor oder Jordanes bereits in den Jahren um 400 versucht, eine gotische origo gentis schriftlich niederzulegen, so wäre dieses Unternehmen zum Scheitern verdammt gewesen – nicht etwa, weil entsprechende Traditionen nicht existiert hätten, sondern weil sich noch kein hinreichend stabiler Verband herauskristallisiert hatte, auf den man diese exklusiv hätte beziehen können. Ohne Zweifel muss der Vertrag des Jahres 382 konsolidierend auf eine gotische Ethnogenese gewirkt haben. Aber eine distinkte Einheit tritt uns im ausgehenden 4. Jahrhundert dennoch nicht entgegen, und vor allem war damals keineswegs vorherbestimmt, aus welcher der zahllosen Gruppierungen dereinst die Westgoten hervorgehen würden. Von späteren Gewährsleuten wie Jordanes sind sie zumeist als gefestigte Entität in die Vergangenheit zurückprojiziert worden und erscheinen uns in der Rückschau dadurch gleichsam naturgegeben. Als Alarich im Jahr 391 erstmals in den Quellen erscheint, war er jedoch lediglich einer unter zahllosen gotischen Anführern, die sich durch spektakuläre Aktionen vor ihren Anhängern profilieren
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mussten, um so ihre Anhängerschaften zu erweitern. Dass sich ausgerechnet der Alarich-Verband bald zu den «werdenden Westgoten» entwickeln würde, war für Zeitgenossen jedenfalls nicht annähernd absehbar – auch wenn der Dichter Claudian ihn verschiedentlich als gens bezeichnet; gens musste im frühen 4. Jahrhundert aber nicht zwangsläufig im Sinne von ‹Volk› verstanden werden.96 Wer über eine ‹Teilung› des Römischen Reiches nach Theodosius’ Tod im Jahr 395 räsoniert, sieht sich in aller Regel darauf verwiesen, dass selbstverständlich weiterhin der Einheitsgedanke gepflegt wurde und sich in der Sache zunächst einmal nichts gegenüber früheren Phasen der Mehrkaiserherrschaft – die sich in der Spätantike zum Regelfall entwickelte – änderte; dies gilt auch und erst recht vor dem Hintergrund, dass eine formale Ausdifferenzierung der Administration in einen westlichen und einen östlichen Teil ohnehin schon 364 eingesetzt hatte. Ganz in diesem Sinne findet sich etwa bei Eunapios die programmatische Aussage: «Es ist eine sehr glückliche Sache – ein unzerstörbares, stählernes Bollwerk –, dass die zwei Kaiser sich innerhalb zweier Körper mit einem Kaiserreich zeigen». Tatsächlich gestaltete sich die Sachlage jedoch komplexer, wie schon aus dem Umstand ersichtlich wird, dass andere Stimmen in eine ganz andere Richtung verwiesen: Der christliche Chronist Sulpicius Severus sah zu Beginn des 5. Jahrhunderts in der ‹Teilung› des Imperium Romanum ein Signal für das unmittelbar bevorstehende Weltende.97 Schon die Tatsache, dass die Trennlinie zwischen jenen Gebilden, die sich im 5. Jahrhundert zu einem West- und einem Oströmischen Reich entwickeln sollten, sich auch heute noch in der politischen und religiösen Geographie Europas abzeichnet, lässt erahnen, dass nach 395 Strukturen von beachtlicher Prägekraft entstanden sein müssen. Die Grenze zwischen den beiden Reichsteilen verlief durch die Große Syrte in Afrika und folgte auf dem Balkan dem Lauf der Drina (ein Nebenfluss der Save), die aktuell die beiden Staaten Bosnien-Herzegowina und Serbien voneinander trennt. Damit repräsentiert sie noch heute die Teilung des Balkans in einen katholischen bzw. muslimischen und einen orthodoxen Teil. Diese Zweiteilung war allerdings keineswegs naturgegeben, sondern hat sich im 4. und frühen 5. Jahrhundert erst allmählich und aufgrund der zufälligen Konstellationen nach dem Tod des Theodosius herausgebildet. In den Jahrzehnten zuvor hatte die Mehrkaiserherrschaft eher eine Drittelung des Imperium Romanum in seiner West-Ost-Ausdehnung bewirkt. Diese ergab sich aus den natürlichen Engstellen der großen römischen Heerstraßen (vor allem der sogenannten Via Militaris über den Balkan): am Succi-Pass (der, zwischen Haemus und RhodopeGebirge im heutigen Bulgarien gelegen, die Präfektur Oriens vom Illyricum trennte) und an den Kottischen Alpen zwischen Gallien und Italien. Die Großräume, die dadurch konstituiert wurden, geronnen im Wesentlichen zu den drei
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Kapitel II Sturm an der Donau – Beginn der ‹Völkerwanderung› Pikten Juten
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Karte 8 Das Römische Reich nach dem Tod Theodosius’ I. (395)
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Präfekturen (den höchsten spätantiken Verwaltungseinheiten) Oriens, Italia und Illyricum (inklusive Afrika) sowie Galliae (Gallien, Britannien, Spanien). Die machtpolitischen Dynamiken der spätantiken Mehrkaiserherrschaft nach dem Zusammenbruch der von Diokletian eingerichteten Tetrarchie, d. h. seit der Herrschaft Konstantins, führten dazu, dass im Fall einer Zweikaiserherrschaft beide Augusti stets darauf bedacht waren, sich jeweils zwei Drittel des Reiches zu sichern, um im Fall militärischer Auseinandersetzungen über größere territoriale Ressourcen als der Konkurrent und damit über mehr Steuereinnahmen und ein höheres Rekrutierungspotential zu verfügen. Das hatte wichtige Folgen für die Organisation der Herrschaft und erzeugte zugleich interne Rivalitäten, die auch im Zusammenhang der römischen Niederlage bei Adrianopel eine Rolle gespielt haben könnten.98 Nach dem Tod des Theodosius wurde die den geographischen Voraussetzungen folgende faktische Dreiteilung des Imperium Romanum in eine Zweiteilung überführt, die sich wiederum an alte Vorbilder anlehnen konnte (Octavian –
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Marcus Antonius, Gallienus – Valerian). Theodosius hinterließ seinen Söhnen jedoch insofern eine schwere Bürde, als er die Frage der Zuordnung des östlichen Illyricum nicht präzise geklärt hatte. Diese Region – konkret: die Diözesen (Verwaltungseinheiten unterhalb der Präfektur) Dacia und Macedonia – hatte er in den Wirren, die seine Kaisererhebung orchestrierten, mit übernommen, aber wenige Jahre später an den Westen abgetreten, ohne verbindliche Regelungen für die Zukunft festzulegen. Der Prätoriumspräfekt Rufinos, im Jahr 395 der starke Mann an der Seite des Ostkaisers Arkadios, forderte die Gebiete denn auch sogleich vom Westen zurück, und Stilicho, der nicht in der Lage war, sie zu behaupten, lenkte zunächst ein. Die Ansprüche des Westens blieben aber bestehen, und sie führten unter anderem zur Einrichtung des kirchlichen Vikariats von Thessalonike, mit dessen Hilfe sich Bischof Innozenz I. (402–417) den Zugriff auf das Ostillyricum zu sichern gedachte. Kaiser Justinian (527–565) reagierte später darauf mit der monumentalen Ausgestaltung von Justiniana Prima (vermutlich Caričin Grad, Südserbien) zur Bischofsstadt. Die Ostillyricum-Frage zog sich auf diese Weise bis weit in das Mittelalter hinein.99 In der Situation des Jahres 395 führte sie erstmals zu gravierenden und folgenreichen Verstimmungen zwischen den Reichsteilen – Spannungen, die nicht nur beide Seiten an den Rand eines Krieges trieben, sondern die überdies zur Konsequenz hatten, dass der ständig anwachsende Alarich-Verband zum Spielball zwischen den beiden Kaiserhöfen geriet. Trotz aller gotenfeindlichen Entgleisungen, die sich durch die Zeugnisse jener Jahre ziehen – den Realpolitikern war seit langem klar, dass keine römische Regierung mehr auf eine Armee von der Schlagkraft der Truppen Alarichs verzichten konnte. Diese Einsicht erklärt nicht nur den sonderbar anmutenden Umstand, dass Stilicho die Goten insgesamt fünfmal in militärisch aussichtsreicher Situation hätte unschädlich machen können (392 an der Maritza, 395 bei Larissa, 397 in Elis, 402 bei Pollentia und dann bei Verona), nie jedoch auf diese Option zurückgriff – was ihm schwerste Vorwürfe seitens der Mitlebenden eingetragen hat. Es erklärt auch zu einem nicht geringen Teil die mitunter ziellos wirkenden Bewegungen des AlarichVerbandes, der immer wieder zwischen den Reichsteilen pendelte und versuchte, irgendwo die erstrebte Anbindung zu erhalten, dem aber stets mit einer Mischung aus vorsichtigen Zugeständnissen und von Misstrauen genährter Distanz begegnet wurde: Niemand wollte auf sein militärisches Potential verzichten, aber er sollte zugleich auch keine allzu große Gefahr für die eigenen Kerngebiete darstellen und – vor allem – nicht in die Verfügungsgewalt der jeweiligen Rivalen geraten.100 Unter diesen politischen Rahmenbedingungen wuchs sich die zunächst rein technische Maßnahme der Aufteilung des Gesamtreichs unter den beiden Söh-
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nen des Theodosius rasch zu einem strukturbildenden Moment aus, dessen Konsequenzen für die Mitlebenden in keiner Weise erahnbar waren. Ein rasant verlaufender Entfremdungsprozess von ungewöhnlichen Ausmaßen setzte ein; er ruhte ohne Zweifel auf den kulturellen Differenzen auf, die den griechischen Osten und den lateinischen Westen seit jeher voneinander unterschieden hatten. Doch die Geschwindigkeit, mit der sich nunmehr aus den Reichsteilen weitgehend eigenständige Teilreiche entwickelten, deren Angehörige sich immer weniger zu sagen hatten und spätestens seit den Jahren um 500 kaum noch in der Lage waren, miteinander zu kommunizieren, ist beachtlich. Selbstverständlich wurde die Einheit des Imperium Romanum auch im 5. und 6. Jahrhundert weiterhin propagiert. Der 438 in Kraft gesetzte Codex Theodosianus etwa wurde ausdrücklich für das Gesamtreich konzipiert, und Valentinian III. legte 448 ebenso explizit die Geltung der theodosianischen Novellen für beide Reichsteile (uterque orbis) fest. Auch Justinian verfolgte in ermüdenden Kriegen verbissen den Gedanken des einen, unteilbaren Imperium Romanum. Die Realität aber sah anders aus. In den 470er Jahren lief die für beide Reichsteile gemeinsame Gesetzgebung aus. Zu diesem Zeitpunkt hatte der oströmische Historiograph Priskos bereits erhebliche Probleme damit, was er sich eigentlich unter den «westlichen Römern» vorstellen sollte, die ihm wie ein fremdes Volk erschienen. Rom ist für ihn schon keine Stadt mehr, sondern eine Region, in der es mehrere «Kaiser» bzw. «Könige» gibt. Um das Jahr 500 verabschiedete dann Anastasios (491–518) als erster Herrscher am Bosporus jegliche Ambitionen auf eine Wiedergewinnung der ehemals römischen Territorien im Westen, um sich ganz auf eine Konsolidierung der Lage im Osten zu konzentrieren. Nicht nur vor diesem Hintergrund erscheinen die temporären Rückeroberungen seines Nachfolgers Justinian gleichsam aus der Zeit gefallen.101 Warum sich Alarich im Jahr 391 aufmachte, um mit seinen wohl mehrheitlich gotischen Anhängern plündernd den Balkan zu durchkämmen, wissen wir nicht. Vielleicht war es Beutegier, sicherlich spielte das Bestreben, sich als Anführer zu profilieren, eine Rolle, möglicherweise stand auch eine ganz allgemeine, diffuse Unzufriedenheit mit den obwaltenden Verhältnissen im Hintergrund; nicht zuletzt der Streit zwischen Eriulf und Fravitta hatte ja die Zerrissenheit gotischer Führer in der Frage der Haltung gegenüber den Römern deutlich hervortreten lassen. Die Anwesenheit des hochrangigen Militärs (magister militum per Illyricum) Butherich in Thessalonike im Jahr 390 deutet jedenfalls darauf hin, dass die Region damals erneut von heftigen Unruhen erschüttert wurde, ein Krisengebiet, in dem sich nicht nur der Alarich-Verband eine günstige Position zu verschaffen suchte. In Thessalonike kam es denn auch zu einer folgenreichen Episode: Butherich wurde, nachdem er einen populären Wagenlenker verhaftet hatte, von der
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aufgebrachten Volksmenge gelyncht; der Kaiser musste dieses Verbrechen an seinem Heerführer als Angriff auf die eigene Autorität interpretieren und erließ einen Strafbefehl, den Butherichs gotische Truppen als Lizenz missverstanden, ein grauenhaftes Massaker unter der örtlichen Bevölkerung anzurichten. Der Mailänder Bischof Ambrosius nahm dies zum Anlass, den Kaiser nachdrücklich zu ermahnen und zu dem berühmten ‹Bußakt von Mailand› zu bewegen.102 Die römische Regierung war jedenfalls alarmiert. Die neuerlichen Unruhen auf dem Balkan konnten nicht als Routineangelegenheit behandelt werden, und so begab sich Theodosius persönlich an den Krisenherd. Am Fluss Hebrus (heute Maritza) wollte er den Aufrührern um Alarich entgegentreten und entging, wenn der verworrenen und anekdotenhaften Darstellung des Zosimos zu trauen ist, nur mit knapper Not einem Desaster. Sein erfahrener Heerführer Promotus führte in der Folge die Kämpfe fort, ließ dabei jedoch bald sein Leben, so dass Stilicho in seinem ersten größeren militärischen Kommando die Operationen übernehmen musste und Alarich im Jahr 392 zum Abschluss eines Vertrages zwang. Über dessen Inhalte sind wir nicht informiert, doch erscheint der Gote mit seinen Soldaten im Jahr 394 immerhin in jenem Heer des Theodosius, das in der Schlacht am Frigidus den Usurpator Eugenius besiegte. Wie angedeutet, sah sich Alarich damals durch die hohen Verluste unter seinen Männern und die eigene Zurücksetzung gegenüber den römischen Generälen gedemütigt und grollte den Autoritäten des Reiches ohnehin. Als Stilicho dann auch noch im Januar 395, unmittelbar nach Theodosius’ Tod, alle Auxiliareinheiten entließ und Alarichs Verband damit die wirtschaftliche Grundlage entzog, brach der ganze Unmut, der sich bis dahin angestaut hatte, hervor. So wurde das Jahr 395 aus verschiedenen Gründen zu einem Schicksalsjahr der römischen Geschichte.103 Der Dichter Claudian, Stilichos sprachgewaltiger Lobredner, zeichnet zu Beginn des zweiten Buches seiner gegen Rufinos gerichteten Invektive ein Bild des Grauens: Die finsteren Umtriebe des Prätoriumspräfekten hätten die gesamte römische Welt in Aufruhr versetzt; nahezu überall zögen plündernde Scharen durch die Lande – nicht nur Alarich, sondern auch die Hunnen. Und tatsächlich geriet nicht nur der mittlere Donauraum vor allem durch Markomannen und Quaden unter Druck, sondern es drangen im Sommer 395 erstmals auch hunnische Plünderer über die Kaukasuspässe in Armenien, Kappadokien und Syrien ein, um dort Furcht und Schrecken zu verbreiten. Ob sie indes auch schon im Winter 394 / 95 die zugefrorene Donau überschritten und Thrakien verheerten, wie es Claudian (der die Hunnen allerdings nicht namentlich nennt) nahelegt und einige spätere Zeugnisse zu bestätigen scheinen, und ob diese Gruppen mit den Eindringlingen in Kappadokien und Syrien in irgendeiner Verbindung standen bzw. ihre Angriffe gar koordiniert waren, ist indes mehr als nur zweifelhaft.
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Über die Einordnung der bei den Kirchenhistorikern des 5. Jahrhunderts bezeugten hunnischen Vorstöße über die Donau besteht keine Einigkeit; vor allem aber lässt sich nur schwer kalkulieren, welches Ausmaß die von Claudian erwähnte Attacke auf Thrakien überhaupt hatte. Immerhin ist zu berücksichtigen, dass der Dichter in erster Linie ein schauderhaftes Schreckensbild evozieren wollte und daher in mancherlei Hinsicht übertrieben haben mag. Es ist deshalb auch nur schwer abzuschätzen, welche Wirkung mögliche Nachrichten über hunnische Übergriffe auf das römische Thrakien (wenn diese denn überhaupt stattgefunden haben) auf Alarichs Truppen haben mochten, die just zu derselben Zeit von Stilicho aufgefordert wurden, sich von Italien aus (Theodosius hatte zuletzt in Mailand residiert) in eben jene Gebiete zurückzubegeben.104 Doch auch wenn damals kein hunnischer Angriff auf den Balkan stattgefunden haben sollte – die Lage war dennoch höchst prekär, denn nahezu sämtliche römischen Streitkräfte befanden sich 395 im Westen, wo kurz zuvor die Entscheidungsschlacht im Bürgerkrieg zwischen Theodosius und Eugenius stattgefunden hatte. Und sie standen unter dem Kommando Stilichos. Kaiser Arkadios und seine Berater waren also nahezu hilflos, zumal die wenigen ihnen verbliebenen Soldaten den Hunneneinfall im Osten einzudämmen hatten. Ob Alarich diesen Sachverhalt einkalkuliert hatte, als er sich plündernd donauabwärts auf Thrakien zubewegte, um schließlich gar drohend vor den Toren Konstantinopels aufzumarschieren? Rufinos jedenfalls musste rasch und entschieden handeln und schloss daher mit Alarich ein neues foedus – was ihm seine Gegner selbstverständlich als Verrat auslegten. Gut möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, dass der Gote damals bereits zum magister militum per Illyricum, d. h. zu einem regulären römischen General ernannt worden ist (denn wie hätte Rufinos angesichts seiner aussichtslosen Lage entsprechende Forderungen zurückweisen sollen?). Immerhin zog Alarich sich tatsächlich nach Illyricum zurück – ein geschickter Schachzug des Rufinos, denn die dadurch in Mitleidenschaft gezogenen Gebiete wurden von der weströmischen Regierung beansprucht. «Gelang es nicht, mit Hilfe Alarichs den Stilicho zum Verzicht auf das östliche Illyricum zu zwingen, so sollten die Goten wenigstens den Osten verschonen und zugleich dafür sorgen, daß der verhaßte weströmische Staatslenker des Besitzes an den strittigen Diözesen nicht froh werde». Damit geriet Alarich erstmals zwischen die Fronten des sich zuspitzenden Konfliktes zwischen den beiden Reichsteilen, ohne die erforderliche Autonomie entwickeln zu können, sich daraus zu befreien. Seine einzigen Waffen blieben Plünderung und Verheerung; er konnte Forderungen erheben und Ansprüche formulieren. Aber es gelang ihm bis zuletzt nicht, aus den von anderen festgelegten Zwängen und Logiken, die sein Handeln bestimmten, auszubrechen.105
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Entsprechend den Wünschen des Rufinos begab sich Alarich zunächst nach Makedonien und Nordgriechenland, wo man kaum begeistert gewesen sein dürfte über die Ankunft des neu ernannten magister militum und seiner Soldaten, die nunmehr hemmungsloses Plündern zu regulärer Truppenversorgung umetikettierten. Wollte man im Westen die Ansprüche auf Illyricum aufrechterhalten, so konnte man sich dies nicht bieten lassen. Stilicho reagierte dementsprechend entschlossen und erschien schon im Sommer 395 im thessalischen Larissa, wo sich die Armeen der beiden römischen Generäle monatelang belauerten – bis etwas Seltsames geschah: Stilicho zog sich, angeblich auf Befehl des Ostkaisers Arkadios, zurück und entließ sogar das Ostheer in Richtung Konstantinopel – so jedenfalls die offiziöse Version Claudians, der Stilichos Gehorsam (reverentia) gegenüber dem Kaiser zu akzentuieren suchte. Man hat versucht, andere Gründe für Stilichos Nachgeben zu benennen – etwa einen drohenden Verlust der Kontrolle über die östlichen Einheiten oder die Tatsache, dass seine Familie sich anlässlich der Trauerfeiern für Theodosius I. in Konstantinopel und damit in den Händen der dortigen Regierung befand –, ist aber nicht über Spekulationen hinausgelangt. Vielleicht wollte der General tatsächlich einfach nur vor aller Augen seine grundsätzliche Loyalität gegenüber dem theodosianischen Kaiserhaus beweisen.106 So kehrten die Streitkräfte des Ostens unter Führung des Goten Gainas nach Konstantinopel zurück, wo sie bereits sehnlichst erwartet wurden – allerdings mit unerwarteten Folgen. Denn kaum waren die Soldaten vor der Stadt eingetroffen, griffen sie sich Rufinos und hackten ihn vor den Augen des verblüfften Kaisers in Stücke. War dies ein verspäteter Rachegruß Stilichos, wie Eunapios vermutet und Claudian suggeriert?107 Alarich jedenfalls hing nach dem Tod seines Vertragspartners einmal mehr in der Luft und begann wieder, den Druck zu erhöhen. Das bedeutete neuerliche Plünderungen. Er fiel in Zentralgriechenland ein und richtete schwerste Verwüstungen an. Pagane Autoren wie Eunapios und Zosimos stilisieren Alarichs Einfall zu einem blutigen Ringen zwischen Christen – die nunmehr mit den andringenden Barbaren identifiziert werden – und Altgläubigen im Ursprungsland der Philosophie. So berichtet Zosimos, dass Athen nur deshalb verschont geblieben sein soll, weil die Stadtgöttin Athena gemeinsam mit dem mythischen Helden Achilleus auf den Mauern erschienen sei. Doch vor allem auf der Peloponnes brannten die Städte: Korinth, Argos, Sparta, Mykene, Olympia. Eunapios deutet verschiedentlich an, dass die pagane Kultur entsetzlich unter den Verheerungen durch Alarich und die Männer in «dunklen Kutten» (also wohl Mönche), die ihm nachgefolgt seien, gelitten habe. Dabei hätten sich Akte unsagbarer Grausamkeit ereignet. Da Konstantinopel, beschäftigt mit Hunnenattacken im Osten, keine
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eigenen Initiativen entwickelte, dem Unheil militärisch Einhalt zu gebieten, zog einmal mehr Stilicho im Frühjahr 397 die Reißleine und griff ein – obwohl er damit, wie Eunapios ausdrücklich anmerkt, wiederum auf Territorium des Ostens intervenierte. Auf der Hochebene von Pholoë (Elis) schloss er Alarich ein – und verschonte ihn nach einer Absprache unbekannten Inhalts ein drittes Mal. Wahrscheinlich erforderte ein neuer Krisenherd seine ungeteilte Aufmerksamkeit und unverbrauchte Truppen: In Afrika war ein Aufstand unter dem Statthalter Gildo ausgebrochen, für die weströmische Regierung in höchstem Maße gefährlich, da an den regelmäßigen Getreidelieferungen aus Afrika die Versorgung Roms hing. Die Regierung in Konstantinopel deutete Stilichos Abzug indes als Hochverrat und erklärte den Feldherrn kurzerhand zum hostis (‹Staatsfeind›). Das verschärfte die Spannungen zwischen beiden Reichsteilen noch einmal beträchtlich, zumal Gildo tatsächlich die Getreidelieferungen nach Rom kappte und damit demonstrativ Anschluss an Konstantinopel suchte. Für Alarich, der weiter im politischen Niemandsland umhertappte, gestaltete sich die Lage durch diese Wirren zunehmend prekär, und er musste abermals ein deutliches Signal seiner verzweifelten Entschlossenheit aussenden. Brandschatzend begab sich sein Verband nach Epiros. Nun endlich sah man sich in Konstantinopel genötigt, ein weiteres foedus auszuhandeln. Der neue mächtige Mann am Hof, der Oberkammerherr Eutropios, wies den Goten Wohnsitze in der Emathia tellus, d. h. in Makedonien, zu (wobei wiederum nicht klar ist, wie man sich diese Ansiedlung konkret vorzustellen hat) und schrieb Alarichs Stellung als magister militum per Illyricum fest – ein kluges Strategem, gewann er doch auf diese Weise zugleich bequem einen Puffer gegen weitere Gebietsansprüche aus dem Westen. Einmal mehr manifestiert sich in diesen Vorgängen recht anschaulich, in welcher Weise Alarich innerhalb der politischen Rankünen anderer instrumentalisiert wurde. Doch hätte man meinen können, dass wenigstens nun, da Stilicho erst einmal ausmanövriert und der Gote mitsamt seinem Gefolge hinreichend versorgt war, endlich Ruhe hätte einkehren können. Und tatsächlich hören wir erst im Jahr 401 wieder von Alarich. Das aber war bereits die Folge einer neuerlichen, dramatischen Zuspitzung der Lage.108 Die Leichtigkeit, mit der die heimgekehrten oströmischen Soldaten den bis dahin so mächtigen Rufinos kurzerhand hatten beseitigen können, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Situation am Kaiserhof zu Konstantinopel in jenen Jahren. Dem jungen Herrscher Arkadios mangelte es zumindest vordergründig an Autorität und Durchsetzungsvermögen, woraus sich eine ausgesprochen gefährliche Gemengelage ergab. Denn die Umgebung des Kaisers verwandelte sich nun rasch in einen Tummelplatz für ehrgeizige Persönlichkeiten, die versuchten, die vermeintliche Schwäche des Monarchen für ihr eigenes Fortkommen auszunutzen, und in wechselnden Konstellationen mit- und gegeneinander agierten.
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So bildete sich allmählich ein Kreis aus Missgunst und Intrigen um den Herrscher, der so manchen ambitionierten Amtsträger – Rufinos war nur der erste in einer längeren Reihe – das Leben kostete und in der Hauptstadt mehrfach brisante Momente heraufbeschwor; Arkadios wiederum konnte durchaus seinen Gewinn aus dieser Situation beziehen, denn die instabilen Verhältnisse in seiner Umgebung verhinderten Umstürze und Usurpationen. Potentielle Konkurrenten um den Thron neutralisierten sich gegenseitig. Damals entwickelte sich ein ganz spezifischer Umgang mit Barbaren, der im 5. Jahrhundert zu einem typischen Distinktionsmerkmal zwischen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten werden sollte. Denn im Zuge des Gerangels um Macht und Einfluss in Konstantinopel gerann die Haltung gegenüber Barbaren – insbesondere den Goten – zu einem politischen Argument, dessen unmittelbare Aktualität sich zu manifestieren schien, als es im Jahr 400 dann tatsächlich zu Auseinandersetzungen zwischen der hauptstädtischen Bevölkerung und föderierten Goten kam. Fortan beobachtete man im Osten mit weitaus schärferem Argwohn die Karrieren einflussreicher barbarischer Individuen als im Westen, wo die zunehmend desolaten politischen Rahmenbedingungen allerdings derartige Attitüden ohnehin kaum zuließen.109 Auch wenn die Integration der Goten sich nach dem Vertrag des Jahres 382 grundsätzlich zu bewähren schien, so blieben diese doch in römischer Sichtweise weiterhin Barbaren – ein Stigma, das sich jederzeit aktualisieren ließ und den Boden für vereinzelte Gewaltausbrüche bot, wie etwa die Butherich-Affäre oder auch den Lynchmord an einem Goten in Konstantinopel. Wie angedeutet, hatte sich Theodosius um einen Ausgleich zwischen Neuankömmlingen und Reichsbevölkerung bemüht. Goten kämpften in seinen Armeen, aber andererseits kann von einer verstärkten ‹Barbarisierung› der höheren militärischen und zivilen Positionen unter seiner Herrschaft keine Rede sein. Zwar treten fortan wiederholt Goten in prominenteren Rollen hervor und scheinen dabei die seit Konstantin mehrfach anzutreffenden Alemannen sowie die seit Mitte des 4. Jahrhunderts bevorzugten Franken abzulösen (etwa Munderich, Modares, Butherich, Fravitta, Eriulf, Gainas, Alarich), doch bei der Vergabe der höchsten Militärämter ging es Theodosius offenbar in erster Linie um Loyalität und Verlässlichkeit. Weder das eine noch das andere hat, entgegen älteren Stimmen in der Literatur, etwas mit ‹nationalrömischem› Denken oder einer generellen ‹Germanenfeindlichkeit› bzw. ‹Germanenfreundlichkeit› zu tun. Vielmehr beobachten wir jeweils konkreten Situationen geschuldete Maßnahmen und Konstellationen, die unter dem Gebot standen, größere Gruppen von Menschen möglichst schnell in das Imperium Romanum zu integrieren. Die Wahl der Mittel, auch diese weitgehend situationsgebunden, bot gleichwohl Anlass für erregte Diskussionen, denn die Ansiedlung
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größerer Einheiten auf Reichsgebiet – ganz unabhängig von der Frage, wie sie konkret erfolgte – bedeutete für die Bevölkerung der betroffenen Provinzen erhebliche Belastungen: Mehr Menschen mussten aus denselben Ressourcen versorgt, Land umverteilt werden, der finanzielle Druck nahm zu. Die explizite Beförderung Alarichs zum magister militum durch Eutropios im Jahr 397 dürfte gerade von den städtischen Oberschichten, den Kurialen, mit Ernüchterung zur Kenntnis genommen worden sein. Denn in ihrer Verantwortung lag die termingerechte Ablieferung der Steuern ihrer Städte, und mit der Eingliederung eines Verbandes von der Größe der Anhängerschaft Alarichs in die reguläre Heeresversorgung erhöhten sich die Kosten für die Finanzierung der Truppen – und somit auch die Summen der Abgaben – erheblich.110 So nimmt es nicht wunder, dass Eutropios nach dem Abschluss des Abkommens mit Alarich ein heftiger Sturm entgegenblies. Traditionsbewussten Mitgliedern der Eliten war das Regiment des Eunuchen und ehemaligen Sklaven ohnehin zuwider, und insofern fiel es nicht schwer, «rivalisierende Machtinteressen besonders unter der Parole traditioneller Werte» zu verkaufen. Das in dieser Hinsicht eindrucksvollste und zugleich entlarvendste Beispiel bieten die antiskythischen (d. h. antigotischen) Ausfälle des Synesios von Kyrene, der sich als Mitglied einer Delegation seiner nordafrikanischen Heimatstadt in Konstantinopel aufhielt und dort ebenfalls Zutritt zum machtpolitischen Pokerspiel im Umfeld des Arkadios suchte. In seiner scharfzüngigen Rede De regno, die sich nur vordergründig als Exempel freimütigen Aufbegehrens eines tiefsinnigen Philosophen vor dem Kaiser präsentiert, tatsächlich aber wegen ihres kritischen Inhalts zunächst nur im Kreise weniger Vertrauter zirkuliert haben dürfte, attackierte er vehement das vermeintlich ungebremste Vordringen von ‹Skythen› in die zivilen und militärischen Hierarchien und forderte ein grundsätzliches politisches Umdenken auf allen Ebenen. Aussondern müsse man das «Fremdartige» aus Körpern und Städten (ἐκκρῖναι δὲ δεῖν τἀλλότριον ἀπό τε σωμάτων καὶ πόλεων, Synes. regn. 19,4), so die zentrale Forderung des Kyrenäers. Die «felltragenden» (σισυροφόρος) Barbaren seien aus hohen Ämtern und dem Senat zu entfernen (20,1), «reinigen» müsse der Kaiser das Heer (καθαρτέον δὲ τῷ βασιλεῖ τὸ στρατόπεδον, 20,6), die Barbaren endlich dorthin zurücktreiben, woher sie gekommen seien (nämlich in die «Skythische Wüste»: ἡ Σκυθῶν ἐρημία 21,1–5), denn: «Tugend kennt der Barbar nicht» (ἀλλ’ ἀρετῆς γε τὸ βάρβαρον οὐ ξυνίησιν, 21,3).111 Darin die Auswüchse eines römischen ‹Nationalismus› zu sehen, wie lange geschehen (s. o.), wäre allerdings verfehlt. Vielmehr formierte sich zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes – also spätestens in der ersten Hälfte des Jahres 398 – bereits massiver Widerstand gegen Eutropios, mit dem Ziel, den einflussreichen Eunuchen zu Fall zu bringen. Unter anderem der erfahrene Amtsträger Aurelia-
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nos brachte sich gegen ihn in Stellung und konnte dabei dankbar auf die Invektiven seines Anhängers Synesios zurückgreifen (der sich im Übrigen in anderen Kontexten auch wesentlich konzilianter über Barbaren äußern konnte). Man wählte sich vor allem Eutropios’ Ausgleichspolitik gegenüber Alarich als Angriffsziel und suchte das Abkommen des Jahres 397 zum Ausdruck einer grundsätzlich verfehlten Barbarenpolitik zu stilisieren. Äußerungen dieser Art fanden in der sensiblen Lage um 400 verstärktes Gehör, ja sie konnten gar wie eine selffulfilling prophecy wirken; Letzteres kam in der sogenannten Gainas-Affäre deutlich zum Ausdruck:112 Hintergrund dieser Vorgänge war eine regionale Erhebung gotischer Kavallerietruppen in römischen Diensten, die in Phrygien (Kleinasien) stationiert waren (den Kern bildeten die Überlebenden des Gemetzels an der Odotheus-Gruppe im Jahr 386, s. o.). Unter ihrem Kommandeur, dem comes rei militaris Tribigild, begannen sie das Umland und die angrenzenden Provinzen zu plündern – vielleicht weil ihr Anführer ähnliche Privilegien begehrte, wie sie Alarich kurz zuvor erhalten hatte, möglicherweise auch aus Enttäuschung über mangelnde Anerkennung seiner Leistungen bei der Bekämpfung hunnischer Plünderer. Als sich der Aufstand ausweitete, entsandte die Regierung den Goten Gainas, um die Rebellion niederzuwerfen. Gainas konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine langjährige Karriere im römischen Heer zurückblicken, die er einst als einfacher Soldat begonnen hatte; im Kampf gegen Eugenius hatte er immerhin schon die barbarischen Kontingente des Theodosius, also auch Alarich, kommandiert, 395 schließlich die Truppen des Ostens zurück nach Konstantinopel geführt und dort die Ermordung des Rufinos organisiert. Er war ein Sinnbild für die Aufstiegsmöglichkeiten, die der Dienst unter den Feldzeichen Roms eröffnete. An seinen mutmaßlichen Verwandten Tribigild wagte er sich jedoch nicht heran, sondern suchte zunächst den Verhandlungsweg, indem er die wesentliche Forderung der Aufständischen nach Konstantinopel übermittelte: Absetzung des Eutropios. Obwohl dieser unmittelbar zuvor einen Sieg über die Hunnen in Kleinasien oder Armenien hatte erringen und sich das Konsulat für das Jahr 399 hatte sichern können, wurde der Druck auf ihn nun zu stark. Arkadios musste ihn im August desselben Jahres fallen lassen, man jagte ihn ins Exil und ließ ihn kurz darauf hinrichten. Sein Nachfolger als rechte Hand und wichtigster Berater des Kaisers wurde Aurelianos, der das hochrangige zivile Amt des praefectus praetorio Orientis (Verwaltungschef für den Osten des Reiches) übernahm und im Jahr 400 gemeinsam mit Stilicho das Konsulat bekleidete. Doch nun erhob sich Gainas selbst, mittlerweile mit Tribigild vereinigt, und artikulierte eigene Forderungen: Analog zu Alarich – oder gar zu Stilicho? – beanspruchte auch er, der sich im mühevollen Dienst für das Imperium aufgerieben hatte, nun das höchste Mili-
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täramt (magisterium militum), ferner die Entlassung des Aurelianos und anderer gotenfeindlicher Amtsträger sowie das Konsulat. Um seinen Wünschen den nötigen Nachdruck zu verleihen, rückte er mit seiner sich nun ständig vergrößernden Armee auf Konstantinopel vor, wo man hektisch die Karten neu mischte, sich von Aurelianos trennte, den Verwaltungsfachmann Caesarius zum neuen praefectus praetorio Orientis ernannte und Gainas in seiner Position als Reichsfeldherr bestätigte. Ja, der Kaiser fand sich sogar dazu bereit, in Chalkedon eine persönliche Unterredung mit dem Aufrührer zu führen! Damit konnte Gainas schließlich als mächtigster Feldherr des Ostens in die Bosporusmetropole einziehen. Doch die Bevölkerung der Hauptstadt blieb misstrauisch und registrierte die permanenten Forderungen barbarischer Truppenführer mit Unwillen. Gainas’ Goten verteilten sich in Konstantinopel, die Stadt wurde, wie der Kirchenhistoriker Sokrates es ausdrückt, «barbarisiert» (βεβαρβάρωτο γοῦν ἡ πόλις), ein Komet als Verweis auf die Gefahr, in der man sich befand, gedeutet. Gainas durchschaute indes die komplexen Kommunikationsstrukturen in der Kaiserresidenz nicht; er forderte eine eigene Kirche für seine homöischen Gefolgsleute, was den wortgewaltigen Bischof Johannes Chrysostomos zur Intervention veranlasste. Angst und gegenseitiges Misstrauen griffen um sich, das Klima heizte sich zunehmend auf. Als der Gote seine Soldaten aus begründeter Vorsicht in Richtung Thrakien abziehen wollte, eskalierte die Situation am 12. Juli 400: Die Einwohner der Hauptstadt gingen auf alle Barbaren los, derer sie habhaft werden konnten, und der Kaiser ließ die Treibjagd forcieren. Tausende wurden in dem nun folgenden Gemetzel niedergemacht; die Kirche, in die sich angeblich 7000 Goten geflüchtet hatten, ging in Flammen auf – ein furchtbares Sakrileg, das auch die Anhänger des nizänischen Glaubens mit Entsetzen registrierten. Gainas selbst konnte mit einigen anderen Überlebenden knapp entkommen, doch wurde ihr Haufen von Fravitta, seinem Nachfolger als magister militum, gestellt und geschlagen. Noch einmal gelang Gainas allerdings die Flucht; er ließ die römischen Angehörigen seines Verbandes (der also keineswegs nur aus Goten bestanden hatte) ermorden und versuchte dann, sich über die Donau in das Barbaricum durchzuschlagen. Dort aber fiel er dem Hunnenführer Uldin in die Hände, der seinen Kopf mit freundlicher Empfehlung nach Konstantinopel zurücksandte, wo dieser am 3. Januar 401 eintraf. Die Römer belohnten den eifrigen Hunnen mit Geschenken und statteten ihn mit einem Vertrag aus.113 Dieses sogenannte Gotenmassaker von Konstantinopel ist aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen hatten sich die antigotischen Tiraden, die seit dem Regiment des Eutropios immer mehr zum politischen Argument geronnen waren, im Gotenmassaker plötzlich als handlungsleitend erwiesen – und dies mit weitreichenden Konsequenzen: Nicht nur, dass zahllose Goten in Konstantinopel
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ihr Leben lassen mussten; vielmehr etablierte sich im Osten nunmehr eine politische Doktrin, die auf die Beschränkung ‹skythischer› Kräfte im Reichsdienst zielte. Zeitgenossen haben diese Zäsur durchaus wahrgenommen – ein Umstand, der sich in der bemerkenswert reichhaltigen Überlieferung zum sogenannten Gainas-Aufstand niederschlägt. Der Osten begann sich einzukapseln und abzuschotten, und aufgrund seiner weiterhin respektablen ökonomischen und militärischen Ressourcen gelang dies auch in weitaus höherem Grade als im Westen, wo mit der ersten Dekade des 5. Jahrhunderts ein römisch-barbarischer Diffusionsprozess einsetzte, der letztlich in die Auflösung des Weströmischen Reiches als politischer Einheit mündete. Zum anderen muss Alarich damals erkannt haben, dass nach dem Ende des Eutropios für einen Ausgleich oder gar eine Kooperation mit der Regierung am Bosporus keine realistische Perspektive mehr bestand. Sich antibarbarisch, insbesondere antigotisch zu gerieren, gehörte seit 399 zu den elementarsten Habitusformen, wollte man politischen Einfluss in Konstantinopel gewinnen. Darin unterschied sich Aurelianos nicht von seinem Nachfolger Caesarius, und das Blutbad unter den Anhängern des Gainas musste auf die Mitlebenden geradezu wie eine Befreiung des Ostens aus gotischer Umklammerung wirken; nur wenig später, um 402 / 03, fiel auch der romtreue Fravitta einer Hofintrige zum Opfer. Zu diesem Zeitpunkt hatte Alarich bereits verstanden. Er musste sich in seinen weiteren Bemühungen, Anschluss zu finden, nunmehr nach Westen orientieren.114 So setzte sich der Gote also, da er überdies möglicherweise allmählich den von der hunnischen Westbewegung ausgehenden Druck zu spüren bekam (s. u.), im Herbst des Jahres 401 wieder einmal in Bewegung. Ohne auf größeren Widerstand zu stoßen – Stilicho waren aufgrund vandalisch-alanischer Einfälle in Raetien und Noricum (heute bayerischer und österreichischer Raum) zunächst die Hände gebunden –, zog er über den Balkan, überquerte die Julischen Alpen und stand bereits am 18. November in Italien. Eine Belagerung Aquileias schlug fehl, doch konnten die Goten sich über den Winter 401 / 02 in Venetien ausbreiten. Im Frühjahr 402 wurde es allerdings ernst: Alarich schloss die Kaiserresidenz Mailand ein. Wie weit würde der Gote nun gehen? Kaiser Honorius jedenfalls konnte nur mühsam davon abgebracht werden, sich nach Gallien abzusetzen. Unter den Zeitgenossen verbreitete sich Panik, Katastrophenszenarien machten die Runde, die Befürchtung, das Ende der Welt stehe unmittelbar bevor, befiel Christen ebenso wie Altgläubige. In Rom bereitete man sich auf das Schlimmste vor und besserte die Aurelianische Stadtmauer aus. Aber auch diesmal gelang es Stilicho, der Bedrohung Herr zu werden. Mit Entsatztruppen, die er unter anderem aus Alanen rekrutiert hatte, erreichte er rechtzeitig Mailand und konnte Alarich noch verjagen. Der Kaiser atmete erleichtert auf, zog aber Konsequenzen aus den Er-
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eignissen: Die Residenz wurde nach Ravenna verlegt, das aufgrund seiner Lage zwischen der Adria und unwegsamen Sümpfen als weitaus besser zu verteidigen galt (wenngleich es keineswegs uneinnehmbar war).115 Die Goten standen indes noch immer in Italien, dem Kernland des Römischen Reiches. Hatten sie tatsächlich vor, Rom zu erobern, wie mancherorts orakelt wurde? Oder suchten sie den Weg nach Gallien? Stilicho jedenfalls musste handeln und stellte die Goten bei Pollentia (heute Pollenzo, Piemont) erneut. Den Oberbefehl über die Operationen erhielt der Altgläubige Saulus, der Alarichs Lager am Ostersonntag, den 6. April 402, unerwartet angriff und damit höchstes Unbehagen hervorrief. Wie schon in Konstantinopel während des Massakers an den GainasGoten mussten sich die Römer vorwerfen lassen, ihrerseits entsprechend den Barbaren-Stereotypen zu agieren. Saulus selbst konnte für seinen Übereifer indes nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden; er fiel im Kampf. Immerhin gelang es den Römern, den Goten schwere Verluste beizubringen; sie machten zahlreiche Gefangene, unter anderem Alarichs Frau und Kinder, und erbeuteten die über Jahre hin zusammengeplünderten gotischen Reichtümer. Doch wieder einmal ließ Stilicho nach einigen Verhandlungen seinen geschlagenen Widersacher abziehen – für Zeitgenossen war das Verrat, und Claudian musste sich um Schadensbegrenzung bemühen, indem er beredt auf die Handlungszwänge, denen Stilicho ausgesetzt war, verwies.116 Als die Goten ihren Rückzug bei Verona erneut unterbrachen, erhielt Stilicho ein weiteres Mal Gelegenheit, Kritiker seiner Barbarenpolitik zum Verstummen zu bringen, und er schien sie nunmehr auch endlich nutzen zu wollen. Alarich wurde im Sommer 402 entscheidend geschlagen, die Reste seines Verbandes von Stilicho eingeschlossen. Hunger und Seuchen setzten den zermürbten Goten jetzt zu, massenhafte Desertionen waren die Folge. Alarich war, so schien es, am Ende. Stilicho hätte jetzt nur noch zupacken müssen – doch zum fünften Mal schonte er seinen Gegner. Und während Kaiser Honorius 404 in Rom ausgiebig den Triumph über den Goten zelebrierte, hatte dieser sich bereits mit den Überresten seiner Armee in Richtung Balkan abgesetzt, vermutlich nach Pannonien, «in das faktische Niemandsland zwischen Osten und Westen». Dort hatten die Goten in den nächsten Jahren die Gelegenheit, sich zu regenerieren und ihren Verband zu stabilisieren, bevor sie einmal mehr zum Spielball im Konflikt zwischen den beiden Reichsteilen degradiert wurden: Wohl im Jahr 405 ernannte Stilicho den Gotenführer erneut zum magister militum per Illyricum – und griff damit demonstrativ und massiv in die Souveränität des Ostens ein. Man hat gegen die These, dass Stilicho damit eine militärische Auseinandersetzung mit Konstantinopel vorbereitet haben könnte, in der Alarich dann eine Schlüsselrolle gespielt hätte, eingewandt, dass es für derartige Pläne keine sicheren Anhaltspunkte in
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unseren Zeugnissen gibt. Wer diesen Standpunkt vertritt, muss dann aber die Frage beantworten, warum Stilicho sich erst 405 zu diesem Schritt entschloss und nicht schon unmittelbar nach Alarichs Abzug aus Italien. Er wusste jedenfalls, wie sehr er die Autoritäten am Bosporus mit der Beförderung Alarichs provozierte, und er muss damit ein taktisches Kalkül verfolgt haben.117 Doch wie auch immer dieses ausgesehen haben mag: In den folgenden Monaten überschlugen sich die Ereignisse im Westen, und jede Strategie, die man sich dort bis dahin zurechtgelegt hatte, musste unter der immensen Wucht des Geschehens zerplatzen. Alles begann damit, dass im Jahr 405 ein weiterer Barbarenverband wie aus dem Nichts auftauchte, mordend und plündernd Italien «überschwemmte» (inundavit) und die ohnehin verängstigte Bevölkerung zusätzlich drangsalierte. An seiner Spitze stand der Gote Radagaisus, den unsere Überlieferung als einen der übelsten Gesellen zeichnet, die die ‹Völkerwanderung› überhaupt hervorgebracht hat, «ein Heide, Barbar und wahrhaftiger Skythe, der […] das Morden selbst beim Morden liebte». Auch Radagaisus scheint mit seinen mehrheitlich wohl gotischen Anhängern dem zunehmenden Druck der Hunnen ausgewichen zu sein. Aus dem Donauraum wälzte sich sein rasch anwachsender Verband in Richtung Italien – die Rückführung einiger archäologisch nachweisbarer Zerstörungshorizonte auf seinen Zug wird debattiert – und schob eine gewaltige Zahl von Flüchtlingen vor sich her, deren Belange bald sogar gesetzlich geregelt werden mussten. Zeitgenossen empfanden die Woge, die plötzlich über ihnen niederzuschlagen schien, als regelrechte Urgewalt: Radagaisus habe, so hieß es, geschworen, sämtliche Römer seinen Göttern zu opfern. Die Größe seiner Mannschaft wurde ins Unermessliche übersteigert, Orosius spricht von 200 000, Zosimos gar von 400 000 Mann. Und tatsächlich musste Stilicho alle Reserven zusammenkratzen, die ihm für die Abwehr der neuen Bedrohung zur Verfügung standen. Mit einem bunt gemischten Haufen aus römischen Soldaten, eilig rekrutierten Provinzialen und Sklaven, aus Uldins Hunnen, Alanen und den Goten des Sarus, der sich zuvor von Alarich gelöst hatte, entsetzte der Feldherr das von Radagaisus belagerte Florenz und stellte den Eindringling bei Faesulae (heute Fiesole) zum Kampf. Angeblich fielen dabei 100 000 Radagaisus-Goten, weitere 12 000 gliederte Stilicho später in die römische Armee ein. Und trotzdem soll nach der Gefangennahme der übrigen Feinde der Sklavenmarkt in Italien unter dem Überangebot zusammengebrochen sein. Radagaisus selbst wurde am 23. August 406 hingerichtet. Die Ereignisse verdeutlichen noch einmal in drastischer Weise, dass der Alarich-Verband, der sich während des Radagaisus-Einfalls immerhin ruhig verhielt, weiterhin keineswegs die einzige ‹gotische› Gruppierung darstellte, die im Donauraum unterwegs war. Sie zeigen aber auch, wie rasch ein rollender Schneeball, wenn er sich einmal in Bewegung gesetzt hatte, zu einer gewaltigen, alles mitreißenden Kugel anschwellen konnte – und wie
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schnell er sich wieder zerstäuben ließ. Dass dem Alarich-Verband trotz zahlreicher Misserfolge ein ähnliches Schicksal erspart blieb, verweist auf dessen singuläre Eigenschaften, auf die noch zurückzukommen sein wird. Immerhin konnte man in Italien erst einmal aufatmen – auch wenn kritische Geister bemängelten, dass die Vorgänge um Radagaisus im Wesentlichen Alarich gestärkt haben dürften.118 Die Tatsache aber, dass überhaupt Verbände wie jener des Radagaisus ungehindert die Donau überschreiten und im Imperium Romanum Angst und Schrecken verbreiten konnten, deutet darauf hin, dass den Römern – ähnlich wie im 3. Jahrhundert – allmählich die Reserven ausgingen, um weiterhin ordnend in die Verhältnisse im Barbaricum einzugreifen und zumindest jenseits der Donaugrenze gefährliche Machtkonzentrationen einzuhegen. Ein Grund dafür lag wahrscheinlich in der sich allmählich verdichtenden Präsenz und einer weiteren Westbewegung der Hunnen. Auch in ihrem Fall dürfen wir nicht von einem einzigen, zusammenhängenden oder gar fest geordneten Verband ausgehen; ebenso wenig besaßen sie eine zentralisierte Herrschaftsinstanz. Vielmehr scheinen seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts immer wieder hunnische Einzelverbände weiter nach Westen vorgedrungen zu sein, ohne dass sie sich direkt zu einer Einheit zusammengeschlossen hätten; so lesen wir etwa bei Ammian, dass Hunnen auf der Seite der von Hunnen vertriebenen Goten gegen Hunnen kämpften, und Sozomenos hält ausdrücklich fest, dass Hunnen zunächst nur in kleineren Gruppen mit den Goten zusammengestoßen seien. Insofern ist es streng genommen auch irreführend, von einem ‹Hunnensturm› zu sprechen. Andererseits nahmen römische Zeitgenossen die Geschehnisse im Barbaricum, über die zahlreiche wilde Gerüchte kursierten, in exakt dieser Weise wahr. Nicht ohne Grund verwendet Ammian metaphorische Termini wie procella (‹Sturm›, ‹Orkan›) und turbo (‹Wirbelwind›). Deutlich erkennbar ist jedenfalls, dass in den Jahren um 400 die Präsenz von Hunnen im unteren Donauraum erheblich zugenommen haben muss und dass sie nunmehr begannen, auch die Regionen direkt am Nordufer des Grenzstromes zu okkupieren und sich gar in der Ungarischen Tiefebene, also westlich der Karpaten, auszubreiten. Es ist kein Zufall, dass in jenen Jahren mit Uldin der erste namentlich bekannte Hunnenführer für uns Konturen gewinnt. Für die Römer gestaltete sich diese Entwicklung jedenfalls folgenreich. Denn sie erhöhte massiv den Druck auf andere Gruppen im Barbaricum, die nun verstärkt gezwungen waren, ihrerseits in Richtung des Imperium Romanum auszuweichen. Dies führte nicht nur zum Überfall des Radagaisus auf Italien (405 / 06), sondern auch – und weitaus verhängnisvoller – zum Übergang einer gewaltigen Menschenmasse, deren Kern aus Vandalen, Alanen und Sueben bestand, über den Rhein in der Silvesternacht des Jahres 406 / 07 – ein Ereignis, das für chaotische Zustände zunächst in Gallien und bald auch auf der Iberischen
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Halbinsel sorgte. Es markiert letztlich den Beginn des Kontrollverlusts der weströmischen Regierung über große Teile ihres Territoriums – und damit einen zentralen Faktor im Prozess der Auflösung des Weströmischen Reiches. Da gleichzeitig auch das von Usurpationen erschütterte Britannien allmählich dem Zugriff Ravennas entglitt, war Stilicho gezwungen, etwaige Pläne mit Blick auf Illyricum und den Osten aufzugeben. Die prekäre Lage im Westen führte vielmehr dazu, dass die Animositäten zwischen beiden Reichsteilen, die im Juni 404 in einem vorwurfsvollen Schreiben des Honorius an seinen Bruder Arkadios eine neue Qualität erreicht hatten, vorerst ganz zurückgestellt werden mussten. Offenkundiges Indiz für diese Annäherung ist die Tatsache, dass – anders als wiederholt zuvor – im Jahr 406 die Konsuln des Westens und des Ostens wechselseitig anerkannt wurden. Alarich hingegen, den man zwischenzeitlich sogar verstorben gewähnt hatte, wurde von Stilicho nun umso dringender benötigt: als Helfer, um das auseinanderfallende Reich wieder unter Kontrolle zu bringen.119 Doch der Gote verkaufte sich teuer. Die fortwährenden militärischen Misserfolge dürften an seiner Reputation genagt haben (dies mag beispielsweise den Abfall des Sarus und seiner Leute erklären), zudem musste er seinem Verband endlich eine Perspektive bieten – sei es die Aussicht auf reiche Beute (die im geschundenen Balkanraum nicht unbedingt mehr zu erwarten war), sei es ein neues, lukratives Abkommen mit der Reichsregierung, sei es gar festes Siedlungsland in einer fruchtbaren und sicheren Region. Da Stilicho aufgrund der sich rapide verschlechternden Gesamtsituation kaum Handlungsspielräume besaß, konnte Alarich in die Offensive gehen: Im Jahr 408 drang er in Noricum ein und bezog damit einmal mehr bedrohlich nah vor den Grenzen Italiens Stellung. Die 4000 Goldpfund (= 288 000 solidi), die er nun dem Imperium Romanum abzupressen suchte, sollten wohl in erster Linie seine eigene Führungsposition stabilisieren und die Kohäsion seines Verbandes festigen. Stilicho, der Alarichs Soldaten im Kampf um Gallien fest eingeplant hatte, besaß keine Alternative, als bei den römischen Senatoren darauf zu drängen, die geforderte Summe aufzubringen. Wie beschrieben, isolierte er sich damit innerhalb der weströmischen Aristokratie und erleichterte es seinen Widersachern am Hof, eine Intrige gegen ihn einzufädeln, die schließlich zu seiner Ermordung führte: Als im Mai 408 der Ostkaiser Arkadios verstarb, planten sowohl Honorius als auch Stilicho, nach Konstantinopel zu reisen, um bei der anstehenden Nachfolgeregelung den Einfluss Westroms zu sichern. Während man in Ravenna hin- und herüberlegte, gelang es dem Höfling Olympius, den misstrauischen Kaiser davon zu überzeugen, dass Stilicho für seinen eigenen Sohn Eucherius auf den oströmischen Thron spekuliere. Und so wurde der bis dahin allmächtige Heerführer in die Falle gelockt. Als in Ticinum (heute Pavia) jene Soldaten, die bereits den Marschbefehl gegen den
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Usurpator Konstantin (III.) in Gallien erhalten hatten, meuterten, verbreitete Olympius das Gerücht, Stilicho plane einen Umsturz. Der magister militum wurde daraufhin von Honorius zum hostis erklärt und leistete, nachdem er vergeblich das Kirchenasyl bemüht hatte, bei seiner Verhaftung keinerlei Widerstand – vielleicht ein letztes Indiz seiner bedingungslosen Loyalität gegenüber der theodosianischen Dynastie. Seiner Hinrichtung am 22. August 408 trat er mit stoischem Gleichmut entgegen. Unmittelbar danach setzte eine regelrechte Treibjagd ein: Stilichos Sohn und zahlreiche Anhänger in Schlüsselpositionen, das gesamte ehemalige Netzwerk des Feldherrn, wurden beseitigt. Der neue starke Mann am Hof, Olympius (mittlerweile zum magister officiorum, d. h. Chef der Hofverwaltung, aufgestiegen), veranstaltete ein Blutbad, und zahlreiche ehemalige Gefährten und Soldaten Stilichos sahen keinen anderen Ausweg als die Flucht zu Alarich, dessen Verband infolge dieser Geschehnisse noch einmal beträchtlich anschwoll. Die Geschehnisse erinnerten fatal an das Gainas-Massaker im Jahr 400, doch die Parallelen bleiben an der Oberfläche: Während sich im Fall des Gainas die Empörung der Konstantinopolitaner und interessierter Kreise im Umfeld des Kaisers direkt gegen die barbarischen Truppen richtete, standen im Jahr 408 zunächst lediglich Stilicho selbst und seine unmittelbaren Anhänger im Zentrum der Attacken. Erst im Zuge einer weiteren Eskalation erfolgten auch Übergriffe auf barbarische Soldaten des Feldherrn bzw. auf ihre Familien. Die Aktionen waren jedoch nicht durch ein barbarenfeindliches rhetorisches Feuerwerk, das Synesios’ Rede De regno vergleichbar gewesen wäre, vorbereitet worden und wirkten sich insofern auch nur wenig nachhaltig aus. Viel zu sehr war der Westen im Jahr 408 bereits selbst auf barbarische Streitkräfte angewiesen.120 Alarich jedenfalls hätte gerade in dieser Situation die von Stilicho bereits zugesagten 4000 Goldpfund dringend benötigt – doch Olympius kündigte die Vereinbarung auf. Die Folgen dieser kurzsichtigen Entscheidung waren verheerend. Die Eroberung Roms zwei Jahre später begann sich am Horizont abzuzeichnen, und ein Drama, das sich in drei Akten entfaltete, nahm seinen Lauf.121 1. Akt: Alarichs Versuch, nach Stilichos Sturz in neue Verhandlungen mit Honorius einzutreten, scheiterte. Wieder einmal sah sich der Gote daher gezwungen, den Druck zu erhöhen, und marschierte in Italien ein. Bereits im Oktober 408 stand er vor der Ewigen Stadt und blockierte ihre Versorgung. Zahllose Sklaven nutzten diese Gelegenheit und liefen zu Alarich über. Derweil breiteten sich in Rom Hunger und Seuchen aus, Panik ergriff die Bevölkerung, und entsprechend fielen die Reaktionen aus: Der Senat befahl die Strangulierung Serenas, der Witwe Stilichos, der Alarich so oft hatte entkommen lassen, und der römische Bischof Innozenz I. sah sogar über die Durchführung alter paganer Riten zur Befreiung der Stadt hinweg. Erstaunlicherweise änderte dies aber nichts an der
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Situation, und so nahm der Senat Verhandlungen mit Alarich auf, die schließlich in ein zwar teures, aber letztlich doch akzeptables Resultat einmündeten: Rom konnte sich freikaufen. 5000 Pfund Gold, 30 000 Pfund Silber, 4000 Seidengewänder und 3000 purpurfarbene Felle sowie 3000 Pfund Pfeffer wechselten den Besitzer. Um diese Abgaben aufbringen zu können, mussten nicht nur die Senatoren größere Anteile ihrer Vermögen opfern, sondern es wurden auch wertvolle Kunstgegenstände eingeschmolzen, wie etwa die Statue der Virtus (‹Tapferkeit›). «Als diese nun vernichtet war», so resümiert Zosimos, «ging alles dahin, was es bei den Römern noch an Tapferkeit und Tugend gegeben hatte». So endete Alarichs erster Marsch auf Rom mit einem grandiosen Erfolg für die Goten, und sein Verband zog sich vorerst nach Etrurien zurück.122 2. Akt: So eindrucksvoll das Ergebnis von Alarichs erstem Zug gegen Rom sich auch ausnahm – die anhaltenden Versorgungsschwierigkeiten, die auf dem ständig weiter anwachsenden Verband lasteten, ließen sich auf diese Weise nicht längerfristig bewältigen. Niemand konnte von Pfeffer leben, und in den bereits geplünderten Ortschaften Italiens fanden sich kaum mehr Käufer für all die kostbaren Beutegüter. Alarich war dies sehr wohl bewusst gewesen, als er sich von den Mauern der Urbs zurückgezogen hatte; die Römer hatten ihm deshalb zusichern müssen, sich bei Kaiser Honorius für ihn einzusetzen, und sie hielten sich an die Absprachen. Eine rege Verhandlungstätigkeit setzte ein. Die römischen Senatoren, ja selbst der Bischof von Rom, suchten ein neues Abkommen zwischen der kaiserlichen Regierung und dem Goten zu erwirken, und tatsächlich kam es zu direkten Gesprächen. Sie wurden auf kaiserlicher Seite von Jovius, dem praefectus praetorio Italiae und Rivalen des Olympius, geleitet und waren zunächst durch die Hypothek massiver Forderungen Alarichs belastet: Er beanspruchte nicht nur Geldzahlungen und Versorgungsgüter für seine Leute, sondern darüber hinaus Siedlungsland in Venetien, Noricum und Dalmatien sowie Stilichos Position als magister utriusque militiae, d. h. als ranghöchster Feldherr des Reiches. Honorius durchschaute die Komplexität und Gefährlichkeit der Lage offenbar nicht einmal annähernd, und so wurde die Forderung nach dem Feldherrnrang brüsk zurückgewiesen – eine Demütigung insbesondere auch des Jovius, der dem Kaiser zuvor angeraten hatte, sich den Wünschen des Goten zu beugen. Honorius jedoch blieb stur. Zwar war Olympius als treibende antigotische Kraft zu diesem Zeitpunkt wohl bereits entmachtet, doch nun widersetzte sich ausgerechnet Jovius, offenbar um seine vorangegangene Erniedrigung durch besonderen Übereifer zu kompensieren, mit aller Entschiedenheit einer Einigung mit den Goten. Auch als Alarich, mittlerweile durch zusätzliche Kräfte unter seinem Schwager Athaulf noch weiter gestärkt, seine Wünsche auf ein moderateres Maß zurückfuhr – Getreide und Ansiedlungsmöglichkeiten in Noricum –, blieb die kaiserliche Seite bei ihrer strikt ablehnenden Position.123
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So rückte wieder einmal Rom ins Zentrum des Geschehens, allerdings erhöhte Alarich nun den Druck noch zusätzlich, indem er Ende 409 einen prominenten römischen Aristokraten, den altgläubigen Senator Priscus Attalus, zum Kaiser erhob und damit Honorius’ Autorität offen infrage stellte. Priscus Attalus war ein erfahrener Politiker, ein Spezialist für komplizierte diplomatische Angelegenheiten, der sich unter anderem als Mitglied einer Gesandtschaft profiliert hatte, die nach der ersten Belagerung Roms die Gespräche zwischen Alarich und der kaiserlichen Seite eingefädelt hatte. Von Honorius war er bei dieser Gelegenheit in das hohe Amt des comes sacrarum largitionum (eine Art Finanzminister) befördert worden und wirkte, als Alarich zum zweiten Mal vor den Mauern Roms erschien, als Stadtpräfekt. Die Würden, mit denen Honorius den Senator auszeichnete, deuten darauf hin, dass seine eigentliche Aufgabe darin bestand, Rom loyal an der Seite Ravennas zu halten. Umso geschickter zeigte sich Alarich, als er ausgerechnet Priscus Attalus den Kaiserthron anbot – und natürlich konnte dieser der Verlockung nicht widerstehen. Allerdings hatte sich Alarich in einem entscheidenden Punkt verkalkuliert: Priscus, mittlerweile nach dem gotisch-homöischen Bekenntnis getauft, funktionierte nicht in der Weise, wie es wohl ursprünglich vorgesehen war, als Marionettenkaiser, sondern bemühte sich darum, eigene Akzente zu setzen. Zwar ist über sein Wirken nicht allzu viel bekannt, aber gewisse Konturen zeichnen sich doch ab. Priscus Attalus war offenbar bestrebt, den Rang Roms als Kaiserresidenz zu erneuern (was durchaus nicht völlig der Politik des Honorius widersprach) und die Position des Senats zu stärken. Alarich und die Goten scheint er dabei – was sich als größeres Missverständnis entpuppte – als eine Art Hilfstruppe angesehen zu haben. Zwar beförderte er nun den Gotenführer, wie von diesem gefordert, erneut zum magister militum (allerdings stellte er ihm einen Konkurrenten zur Seite) und zeichnete auch dessen Schwager Athaulf mit einem hohen militärischen Rang aus (comes domesticorum equitum), doch ansonsten versuchte er einen eigenständigen Kurs einzuschlagen – und scheiterte. Nachdem es ihm nicht gelungen war, Afrika unter Kontrolle zu bringen (von dessen Getreide die Versorgung Roms abhängig war), begann sein Stern bereits zu sinken. Gemeinsam mit Alarich setzte er sich in Richtung Ravenna in Bewegung, um Honorius zu Fall zu bringen. Selbst als dieser ihm einen Kompromiss anbot – ein Signal geradezu dramatischer Schwäche! –, forderte er weiterhin die Abdankung des legitimen Kaisers – und geriet dadurch vollends in die Isolation, da auch Alarichs Verhandlungsposition durch die zunehmend absurden Forderungen ‹seines› Usurpators diskreditiert wurde. Als schließlich auch noch 4000 Soldaten aus dem Osten eintrafen – sie waren seinerzeit noch von Stilicho angefordert worden – und die Verteidigung Ravennas übernahmen, musste Alarich handeln: Er setzte den unglücklichen Marionettenkaiser kurzerhand wieder ab, behielt ihn aber unversehrt in seinem Gefolge.124
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3. Akt: Aus Alarichs Sicht war damit die Basis für neue ernsthafte Verhandlungen geschaffen. Wenige Kilometer vor Ravenna errichtete er also sein Lager und bereitete sich auf die anstehenden Gespräche vor – als erneut ein unvorhergesehener Zwischenfall alle Planungen zunichtemachte: Sein alter Rivale Sarus, der sich einige Jahre zuvor im Streit von ihm getrennt und in römische Dienste begeben hatte, griff ihn ganz unvermutet an und zerriss damit endgültig die letzten zarten Gesprächsfäden zum Kaiser. Was Sarus zu diesem Manöver veranlasst haben könnte, ist bis heute ungeklärt. Möglicherweise glaubte er, im Fall eines Ausgleichs zwischen Honorius und Alarich selbst in Schwierigkeiten zu geraten. Bekannt war sein Groll gegen Alarichs Schwager Athaulf, der sich vielleicht auch gegen Alarich selbst gerichtet haben mag. Das Ergebnis der unerwarteten Attacke war jedenfalls verheerend. Alarich, der angesichts des mittlerweile monatelangen Stillstands selbst unter massiven Druck seitens der eigenen Anhänger geriet, war geradezu gezwungen, in spektakulärer Weise zu reagieren, sich selbst als erfolgreicher Heerführer zu inszenieren und vor allem seinen Leuten endlich wieder materielle Güter zuzuführen, nachdem sämtliche Hoffnungen auf einen neuen Ansiedlungsvertrag sich nun erst einmal wieder zerschlagen hatten. Am 24. August 410 zogen seine Truppen in Rom ein.125 Nur im ersten Augenblick soll Kaiser Honorius bestürzt auf die Nachricht vom Ende Roms reagiert haben: Als man dem passionierten Hühnerzüchter erläutert hatte, dass es nicht um seinen Lieblingshahn ‹Roma›, sondern nur um die gleichnamige Stadt gehe, habe er sich merklich erleichtert gezeigt. Ansonsten: Grauen und Entsetzen allenthalben – die römische Welt stand unter Schock. Die Roma aeterna, deren Unbesiegbarkeit Priscus Attalus auf seinen Münzprägungen zuletzt noch regelrecht beschworen hatte, war gefallen. Claudian hatte sein Bellum Gothicum noch stolz mit der Warnung ausklingen lassen, die «verrückten» Barbaren sollten Rom nur nicht geringschätzen (discite vesanae Romam non temnere gentes); andernorts hatte er gedonnert, die römische Herrschaft kenne keine Grenzen – nun aber klagte man selbst in den entlegenen Orten des Ostens über das Schicksal der Urbs – so wie Hieronymus, der das Unfassbare in gedrechselte Worte zu kleiden verstand. Im Prolog seines Ezechiel-Kommentars verlieh der Kirchenvater seiner Beklemmung Ausdruck: Erschüttert habe er Tag und Nacht an nichts anderes denken können, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, «nachdem das strahlendste Licht aller Länder ausgelöscht, ja sogar des Römischen Reiches Haupt abgeschlagen und, um es treffender zu sagen, in einer Stadt der ganze Erdkreis zugrundegegangen ist […].» «Die Stimme stockt», so hält er an anderer Stelle fest, «und Schluchzer unterbrechen die Worte beim Diktieren; eingenommen ist die Stadt, die den ganzen Erdkreis eingenommen hat» – und es folgt eine in endzeitliche Farben getauchte Beschreibung des Schreckensereignisses.126
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Über all der Verzweiflung verlor der Trauernde allerdings nicht seine rhetorischen Fähigkeiten, wie denn überhaupt die meisten erhaltenen Klagen und Auseinandersetzungen mit dem Fall Roms sich intellektuell wie stilistisch auf höchstem Niveau bewegen. Sie verweisen mit der christlichen Heilsgeschichte und den altrömischen Traditionen konsequent auf einen allen gemeinsamen Referenzrahmen, der bald darauf auch die Argumente für die große Auseinandersetzung zwischen Christen und Altgläubigen um die Verantwortung für das Unheil bereitstellen sollte. Nicht ohne Grund bilden für den Christen und Römer Hieronymus ausgerechnet die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier sowie die Eroberung Troias die Referenzpunkte für das fantasievolle Gemälde, das er von der Einnahme Roms 410 zeichnet. Und so entwickelt sich seine Klage über den Untergang der Stadt zu einem rhetorischen Gegenentwurf zu den Lobgedichten auf Rom, die Claudian und Prudentius erst kurz zuvor formuliert und die sich ebenfalls aus dem nunmehr schwer erschütterten Glauben an die ewige und einzigartige Position der Urbs gespeist hatten. Und in der Tat: Wenn Rom nicht mehr standhalten konnte, was war dann überhaupt noch sicher? Die symbolische Bedeutung des gotischen Handstreichs kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Im Selbstverständnis der Römer waren die singuläre Bedeutung ihrer Stadt und ihre göttliche Bestimmung geradezu eine Selbstverständlichkeit – spätestens seit Vergil diese Vorstellungen mustergültig in Worte gekleidet hatte: Hatte Jupiter den Römern denn nicht unbegrenzte Weltherrschaft, ein imperium sine fine, verliehen, und war es nicht der an die Römer gerichtete Auftrag gewesen, die Welt zu beherrschen? Zweifel und Panik auch unter den Christen, die sich als Römer diese Gedanken ebenfalls zu eigen gemacht, die überdies jedoch auch den Tag des Jüngsten Gerichts mit dem Ende Roms verknüpft hatten, da das Imperium Romanum in ihrer Heilsgeschichte das letzte der irdischen Weltreiche war und mit seinem Fall die Wiederkehr Christi erwartet wurde. War es jetzt also so weit? Und wenn ja – warum dann gerade durch die Hand Alarichs, der, zwar Häretiker, aber immerhin doch Christ war?127 Unsicherheit und Verstörung griffen um sich, und jene Endzeitängste, die sich schon im Jahr 401 / 02, als Alarich zum ersten Mal in Italien eingebrochen war, verbreitet hatten (s. o.), schienen nunmehr ihre Bestätigung gefunden zu haben. Altgläubige und Christen wiesen sich gegenseitig die Verantwortung für das Unheil zu: Vernachlässigung der alten Kulte, die Rom groß gemacht hatten, und gotteslästerliches Heidentum – so lauteten die gegenseitigen Vorwürfe. Man hat zutreffend beobachtet, dass die Diskussionen im Anschluss an die Eroberung Roms in auffällig starkem Maße religiös und überraschend wenig politisch konnotiert waren. Aber der religiöse Diskurs transportierte – zumal durch
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den wiederholten Bezug auf Vergil – einen politischen Subtext. Auf dem Feld des Religiösen wurden angesichts der unvorstellbaren Katastrophe politische Argumente indirekt mitverhandelt. Schon in den Jahren vor 410 hatten Spannungen zwischen paganen Senatoren im bedrohten Rom und dem allzu sorglosen christlichen Kaiser im sicheren Ravenna zugenommen. Der Diskurs über die Verantwortung für die Katastrophe war eminent politisch aufgeladen, und er setzte an der Deutung der Geschehnisse an. Wer sich nicht mit einer unmittelbar endzeitlichen Interpretation zufriedengab, konnte sich bald an Augustin, den Bischof der afrikanischen Gemeinde Hippo Regius, wenden; denn er versuchte Roms Fall einen tieferen Sinn zu geben.128 In seinen ersten Predigten nach der Eroberung der Urbs zeigte sich Augustin noch bemüht, das Ereignis zu relativieren: Anders als im Falle Sodoms könne ja gar keine Rede von einer Zerstörung der Stadt sein, sie sei lediglich von der strafenden Hand Gottes gezüchtigt worden. Es habe sich um ein in der Schrift prophezeites Ereignis zur Prüfung und Mahnung der Menschen gehandelt. Endzeitängste seien also gänzlich unangebracht, und im Übrigen sei alles Irdische ohnehin endlich und werde dereinst vergehen – das gelte auch für die Urbs. Wie man an der wechselvollen Geschichte der Stadt ablesen könne, hätten ja auch die paganen Götter Rom nicht beschützen können. Vom Rommythos, mochte er nun traditionell oder christlich konnotiert sein, blieb in einer derartigen Argumentation nichts mehr übrig. Aber der Kirchenvater ließ die Menschen damit nicht allein, sondern präsentierte in seinem monumentalen Hauptwerk Die Gottesstadt (De civitate Dei) eine Alternative und rechnete dabei zugleich mit Vorwürfen gegen die Christen ab, denen zufolge sie für das Unglück verantwortlich waren. Sein Konzept von den zwei Gemeinschaften, der civitas Dei (‹Gottesstadt›) und der terrena civitas (‹irdische Stadt›), benötigte Rom als Kristallisationspunkt realer oder ideeller politischer Ansprüche überhaupt nicht mehr; die irdische politische Einheit besitzt für die von Gott Erwählten keine Bedeutung. Die beiden Gemeinschaften, die in der aktuellen Welt gleichzeitig und in vielfacher Weise vermischt existierten, ohne mit der Kirche und dem weltlichen Staat identisch zu sein, konstituierten sich über ein jeweils spezifisches Verständnis von Liebe: Wer sich selbst zu sehr liebe, gehöre der civitas terrena an, wer aber demütig Gott liebe, der civitas Dei. In sechs Zeitaltern, analog den Lebensstufen eines Menschen, vollziehe sich dieses die Ohnmacht der paganen Götter manifestierende Miteinander der zwei Gemeinschaften, und das letzte dieser Zeitalter – das aktuelle – dauere von der Menschwerdung Christi bis zu seiner Wiederkehr; danach würden die Angehörigen der terrena civitas und der civitas Dei endgültig voneinander geschieden. Und was das Römische Reich anbetreffe: Es sei ja keineswegs so einzigartig wie zumeist behauptet und werde
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aktuell – ebenso wie die Stadt Rom – nur gezüchtigt, nicht aber zerstört. Schlimmer als der Goteneinfall seien die innerrömischen Bürgerkriege gewesen, und die alten Götter hätten ja nicht einmal dieses Grauen verhindern können! Für die mittelalterliche Theologie und politische Philosophie wurden Augustins Darlegungen grundlegend und wirken bis heute prägend auf das abendländische Denken. Ebenfalls von unschätzbarer Bedeutung für das mittelalterliche Geschichtsdenken war aber auch das Werk des Orosius, in dem der Autor den Nachweis zu führen suchte, dass Rom in seiner paganen Geschichte viel schlimmeres Übel zu bestehen hatte und sich die Verhältnisse mit der Christianisierung zunehmend gebessert hätten. Anders als Augustin kann Orosius dabei allerdings nicht auf eine Einbindung Roms in den göttlichen Heilsplan verzichten; zu wichtig ist für sein optimistisches Fortschrittskonzept vor allem die wegen ihrer Koinzidenz mit der Geburt Christi heilsgeschichtlich so bedeutsame Regierung des Augustus.129 Um seine These einer zunehmenden Besserung der Lebensbedingungen in den tempora Christiana untermauern zu können, ist Orosius zudem gezwungen, die Eroberung Roms erheblich zu relativieren. Wie schon ausgeführt, handelt es sich auch für ihn um einen Strafakt Gottes, der weniger durch die Stärke der Feinde als durch den Willen des Herrn vollzogen worden sei. Im Übrigen hätten sich die Goten ja ohnehin auf Plünderungen beschränkt, da Alarich ausdrücklich den Befehl gegeben habe, Blutvergießen zu vermeiden. Im Lager der Altgläubigen sah man die Angelegenheit verständlicherweise ein wenig anders. Die Bestürzung darüber, dass Rom gefallen war, mündete dort, wie skizziert, in eine Trennung der physischen Stadt Rom von den weit gespannten Assoziationen, die sich mit ihr verknüpften, mithin zu einer Emanzipation der Romidee von Rom. Die politischen und ideellen Ansprüche, die sich mit der Urbs verbanden, wurden dabei aber keineswegs aufgegeben. Stattdessen entwickelte sich von nun an die Romidee als metaphysische Größe weiter und fand bereits in dem um 417 verfassten großen Romhymnus des Rutilius Namatianus programmatischen Ausdruck. Wer diesen Text liest, hat zunächst tatsächlich den Eindruck, Rom habe seit den Zeiten Vergils keinerlei Einbußen hinnehmen müssen und gebiete noch immer ebenso stolz über die unterworfenen Völker wie in den zurückliegenden Jahrhunderten. Erneut werden die traditionellen Elemente des klassischen Rompreises angeführt: Segenspendende Weltherrschaft, zivilisatorische und rechtsetzende Gestaltung eines friedfertigen Zusammenlebens, ja selbst die bauliche Pracht der kurz zuvor gebrandschatzten Stadt werden ausdrucksstark apostrophiert. Aber man merkt dann doch bald, dass die Ereignisse des Jahres 410 ihre Spuren hinterlassen haben: Ihren traurigen Fall solle die Stadt auslöschen, mahnt der Autor, und zählt nun vergangene Gelegenheiten auf, bei
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denen Rom aus Niederlagen und Katastrophen immer wieder neue Kraft geschöpft habe – bezeichnenderweise dieselben Beispiele, auf die Augustin und Hieronymus mit ganz anderen Intentionen in demselben Kontext rekurrierten. Und so appelliert Rutilius vor allem an eines: an Roms Fähigkeit, aus Leiden gestärkt hervorzugehen. Dieses Rombild lebt von Projektionen und Wunschvorstellungen, die aus der großen Vergangenheit und den alten Traditionen gewonnen sind. Die Realität sah anders aus und entfernte sich immer weiter von den hehren Idealen.130 Die Romidee benötigte Rom letztlich nicht mehr, sie wurde autonom und damit – wie sich bald zeigen sollte – umso vielseitiger verwendbar. Ihre Renaissance ausgerechnet im Kontext der Ereignisse des Jahres 410 verweist allerdings noch auf einen anderen wichtigen Aspekt: Die symbolische Bedeutung der Eroberung der Urbs steht in einem scharfen Kontrast zu ihrer politischen Relevanz. Rom lebte bereits von seiner großen Vergangenheit, die in den baulichen Monumenten, in den Ahnengalerien der führenden Familien zum Ausdruck kam und in einem eifrigen Vergangenheitsdiskurs sorgsam gepflegt wurde. Politisch war die Einnahme der Stadt hingegen nahezu bedeutungslos. Die kritischen Brandherde lagen eher in Gallien und auf dem Balkan, nicht aber in Italien, und als neues Gravitationszentrum des Imperium Romanum trat allmählich Konstantinopel hervor. Die mangelnde politische Relevanz des Ereignisses und die vergleichsweise rasche Erholung der Stadt mögen zumindest partiell einen Umstand erklären, der auf den ersten Blick erstaunlich anmutet: Sieht man einmal von dem Geschichtswerk des Orosius ab, das insofern einen Ausnahmefall darstellt, als es Geschichte konsequent im göttlichen Heilsplan aufgehen lässt, so fand Alarichs Handstreich offenbar kaum Niederschlag in der zeitgenössischen Historiographie. Lediglich der Altgläubige Olympiodor aus dem ägyptischen Theben († nach 425), der in mehreren diplomatischen Missionen das Reich durchmessen hat, scheint einen ausführlicheren Bericht hinterlassen zu haben; sein Geschichtswerk, wohl einer der wichtigsten historiographischen Entwürfe der Spätantike, ist allerdings nur noch in spärlichen Fragmenten zu greifen – vor allem bei Philostorgios, Sozomenos und Zosimos. Letzterer scheint um 500 die Geschehnisse, die zur Eroberung Roms führten, großenteils auf der Basis Olympiodors dargestellt zu haben – allerdings häufig verworren und widersprüchlich und unmittelbar vor Alarichs Einmarsch abbrechend. Die nachfolgende oströmische Historiographie seit der Mitte des 5. Jahrhunderts verliert sich dann, so sie denn überhaupt auf die Ereignisse des Jahres 410 Bezug nimmt, bereits in verblüffender Unkenntnis und Legendenbildung.131 So berauschend Alarichs Einmarsch in die Ewige Stadt sich auf den ersten Blick auch ausgenommen haben mag – für den Goten selbst bedeutete er letzt-
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lich den Todesstoß. Er hatte keines seiner langfristigen Ziele erreichen können, weder ein hohes Amt noch sichere Ansiedlungsgebiete innerhalb des Römischen Reiches; so reichhaltig die Beute, die man aus den Mauern Roms herausgetragen hatte, auch war, eine Perspektive eröffnete sie nicht. Unter immensem Erwartungsdruck seiner Anhänger agierend, war Alarich geradezu in die Urbs hineingepresst worden und hatte sich durch seinen Handstreich endgültig jeder weiteren Verhandlungsbasis benommen. Vielleicht hatte er den strategischen Wert Roms auch schlicht überschätzt. Ohne Zweifel hatte sich für jeden Zeitgenossen eine Katastrophe geradezu kosmischen Ausmaßes abgezeichnet, als die Stadt in Flammen aufgegangen war; aber die Druckstellen, unter denen die weströmische Regierung ächzte und an denen sie tatsächlich ernsthaft verwundbar war, lagen anderswo. Man hatte sich einer gefährlichen Usurpation zu erwehren (Konstantin III.), rang um die Kontrolle zentraler Regionen wie Gallien und Hispanien, nachdem man Britannien faktisch schon hatte aufgeben müssen; mit den geplünderten oder besetzten Landschaften gingen Steuereinnahmen und Truppenrekrutierungsreservoirs gewaltigen Ausmaßes verloren, das Reich büßte seine militärische Schlagkraft ein, schrumpelte zusammen und der Kaiser war von einem bluttriefenden Intrigennetz eingeschnürt, das sich in jenem Machtvakuum entfalten konnte, welches Stilichos Exekution hinterlassen hatte. Ganz nüchtern betrachtet war Rom angesichts dieses Schreckensszenarios nur eine weitere Stadt, die brannte, aber bedeutenden politischen Zugewinn versprach ihr Besitz nicht. Alarich wird das gewusst und insofern nicht ohne Grund den raschen Abzug seiner Armee am 27. August forciert haben. Drei Tage nach dem Beginn der Plünderung verließen die Goten die Urbs und begaben sich auf den Marsch nach Süden. Einzig das kornreiche Sizilien oder gar die wohlhabenden Weiten Nordafrikas versprachen jetzt noch Gewinne auf längere Sicht – zumal die kalte Jahreszeit heranrückte und die Ressourcen Italiens erschöpft waren. So brachen die Goten bis zur Straße von Messina durch – und scheiterten an den Herausforderungen ihrer Überquerung. Eine geheimnisvolle Statue, so wurde erzählt, soll ihnen den Übergang verwehrt haben; einmal mehr wurde der Verband zur Umkehr genötigt. Man wandte sich zunächst zurück nach Norden und bezog angesichts der einsetzenden Winterkälte in Süditalien Quartier. Da erkrankte Alarich und verstarb unerwartet noch im Jahr seines größten militärischen Triumphes in Cosentia (heute Cosenza). Jordanes berichtet, Kriegsgefangene hätten ihm im kurzfristig verlegten Bett des Flusses Busento das Grab geschaufelt und seien danach, um dessen Ort nicht preisgeben zu können, hingerichtet worden. Nicht zuletzt August von Platens bekannte Ballade Das Grab im Busento (1820) wurde von dieser Geschichte inspiriert. Aber schon während der ‹Völkerwanderung› selbst wuchs der Gote zu einer Heldengestalt mit mythi-
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schen Zügen, wie einmal mehr die historisch weitgehend wertlose Darstellung, die Jordanes ihm widmete, aufzeigt.132 Dies ist insofern verwunderlich, als sich die konkreten Erfolge des Goten in eher bescheidenen Grenzen bewegen. Fast jede wichtige Schlacht hat er verloren, einzig die Einnahme Roms ist ihm gelungen; zuletzt hinterließ er einen ziellos umherirrenden Verband – alles in allem eine bestenfalls durchwachsene Bilanz. Und dennoch muss er ein besonderes Charisma besessen haben, wie nur wenige seiner Zeitgenossen. Aus den schriftlichen Zeugnissen erfahren wir darüber – wie über seine Persönlichkeit insgesamt – allerdings kaum etwas. ‹Gotische› Quellen existieren nicht, und die römische Überlieferung – namentlich die lateinischen Dichter (Claudian, Prudentius, Rutilius Namatianus und Paulinus von Nola) – ziehen alle verfügbaren Register einer Rhetorik des Hasses. Doch gilt es gerade im Fall Claudians die stark zweckgebundene Ausrichtung seiner Verse, die der Überhöhung Stilichos dienten, zu berücksichtigen. Für die meisten Zeitgenossen stellte der homöische Christ offenbar eher ein Rätsel dar; dafür steht Orosius mit seinem höchst inkonsistenten Alarich-Bild, wenn er den Goten ebenso als Beschützer der Römer wie als Feind des Imperiums imaginiert. Andernorts findet sich gar die Behauptung, der Gotenführer sei von einem Dämon gegen Rom getrieben worden. Auf das besondere Charisma Alarichs, den die ältere Literatur als «eine der kraftvollsten, sympathischsten Heldengestalten der germanischen Urzeit» verklärt hat und der neuerdings als «eine der wichtigsten Figuren in der gesamten Geschichte des späten römischen Imperiums» beschrieben wurde, können wir daher nur vage rückschließen – allerdings mit einer gewissen Plausibilität. Denn nur eine Persönlichkeit von besonderer Durchsetzungskraft dürfte in der Lage gewesen sein, in den Wirren der Jahre um 400 trotz wiederholter Rückschläge, trotz teilweise exzeptioneller Verluste und in Konkurrenz zu möglichen Alternativen wie Radagaisus oder Sarus seinen Verband nicht nur zusammenzuhalten, sondern auch noch kontinuierlich zu erweitern.133 Das führt uns auf eine zentrale Frage: Wodurch wurde die Kohäsion dieses Verbandes überhaupt gewährleistet? Und wie hat man ihn sich konkret vorzustellen? Über diese Frage hat die Forschung lange gerätselt und unterschiedliche Antworten angeboten, die sämtlich nur am Grad ihrer inneren Plausibilität beurteilt werden können, wobei die Evokation eines «Gefühl[s] der nationalen Zusammengehörigkeit» sicherlich die geringste Überzeugungskraft besitzt. Zeitgenossen haben dieses Problem dagegen nicht in einer Weise reflektiert, die nachhaltige Spuren hinterlassen hätte. Aber vielleicht ist das bereits ein erster Hinweis: Man sah in Alarichs Anhängerschaft schlicht einen Barbarenverband, der sich plündernd durch Territorien des Reiches wälzte und den es entsprechend zu bekämpfen galt. Jedes Zugeständnis, jegliche Form eines Kompromisses wurde
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Kapitel II Sturm an der Donau – Beginn der ‹Völkerwanderung›
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zunächst einmal als Signal der Schwäche gegenüber Reichsfeinden gewertet; zwischen einer marodierenden Armee, einer Beute- bzw. Gewaltgemeinschaft und einem wandernden ‹Volk› wurde – durchaus verständlich – analytisch nicht differenziert. Dass man hingegen so entschieden zwischen den Alarich-Goten und anderen Gruppen, nicht zuletzt auch ‹den› Römern, zu trennen vermochte, dürfte das Resultat einer institutionellen Besonderheit gewesen sein: Spätestens seit dem Jahr 395, vielleicht auch schon seit 391 – das Datum ist umstritten – führte Alarich den Königstitel – genauer gesagt: einen Titel, den lateinische Autoren mit dem Terminus rex wiedergeben. Das mag sogar der tatsächlichen Bezeichnung, die Alarich sich zugelegt hatte, entsprochen haben, denn er hat den Titel auf dem Boden des Imperium Romanum erworben und musste ihn in irgendeiner Weise verständlich gegenüber den Römern kommunizieren; Letzteres war mit einem etablierten antiken Terminus leichter als mit einem weithin unbekannten gotischen Wort. Zwar wurde darüber spekuliert, in welcher Beziehung der lateinische rex zu einem gotisch-terwingischen reiks gestanden haben mag, doch bleibt hier vieles im Ungewissen. Wir wissen auch nicht, welche konkreten Kompetenzen Alarich dadurch erworben hatte, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt als rex auftrat. Freilich war er nicht der einzige gotische rex seiner Zeit; Gestalten wie Radagaisus oder gar Sarus erscheinen in unseren Zeugnissen mit derselben Bezeichnung, aber Alarich muss ihnen doch etwas vorausgehabt haben: Als der Historiograph Olympiodor sich auf diplomatischer Mission zu den Hunnen befand, traf er dort mit verschiedenen Anführern zusammen, die er jeweils als ῥήξ (‹rex›, gesprochen: ‹rix›) bezeichnete; auch ein Gotenführer in Pannonien erscheint bei ihm als ῥήξ. Herrscher über größere Verbände nennt Olympiodor hingegen nicht ῥήξ, sondern φύλαρχος / phýlarchos (Anführer einer φυλή, eines ‹Stammes›) oder ἡγεμών / hegemôn (‹Anführer›) – so auch alle gotischen Herrscher von Alarich bis Wallia († 418), die er offenkundig jeweils als ordnungsgemäße «Nachfolger» (διάδοχοι / diádochoi) ansieht. In seiner Wahrnehmung stand der phýlarchos also über dem rex, den er offenbar nur als eine Art Teilherrscher bzw. Anführer von kleineren Teilverbänden ansah. Jedenfalls galten ihm alle Nachfolger Alarichs als ranggleich – nämlich als Monarchen. Niemand würde aber nun bestreiten, dass der Alarich-Verband spätestens nach dem reibungslosen Übergang der Herrschaft von Alarich auf Athaulf monarchisch organisiert war. Da Olympiodor terminologisch nicht zwischen diesen späteren Monarchen und Alarich selbst differenziert, muss auch Alarich bereits als ‹König› wahrgenommen worden sein, und zwar in einer Position, die jene eines rex wie Radagaisus oder Sarus deutlich überragt haben muss. In den antiken Zeugnissen erscheint Alarich mitunter gar als tyrannus – ein Terminus, der in der Spätantike vorwiegend den illegitimen Thronprätendenten bezeichnet. Ungeachtet der rhe-
Der ‹Hunnensturm› 2.2
torischen Übertreibung und moralischen Diffamierung, die hinter dieser Wortwahl stehen mag, verweist sie doch zumindest auch auf die Möglichkeit, in der von Alarich reklamierten Stellung einen Anspruch zu sehen, der letztlich gar auf den Kaiser zielen konnte.134 In der Erhebung Alarichs zum ‹König› über seinen Verband darf man ein wichtiges Element der (west-)gotischen Ethnogenese vermuten. Der Zusammenhalt der Anhängerschaft Alarichs muss erheblich dadurch gestärkt worden sein, dass die Mitglieder der Gruppe nun einen Identifikationspol erhielten, der eine institutionelle Fundierung besaß; dass diese Institutionalisierung bereits unter Alarich einen recht hohen Grad erreicht haben muss, geht aus der Weitergabe des Königstitels an seinen Nachfolger Athaulf hervor; anders als im Fall des Radagaisus zerfiel der Verband nämlich nicht nach dem Ende des Anführers, der folglich bereits zu Lebzeiten mehr war als ein ephemerer warlord oder ‹Heerkönig›; Charisma und institutionelle Verankerung als Monarch flossen somit in der Person Alarichs zusammen. Dagegen gibt es keinerlei Anhaltspunkte für die These, dass Alarich das ‹Königtum› vor allem deshalb für sich habe beanspruchen können, weil er der Familie der Balthen entstammte; wahrscheinlicher ist eher der umgekehrte Prozess: Erst durch die Prominenz Alarichs dürfte seine Familie einen besonderen Rang erhalten haben. Wir dürfen jedenfalls nicht die Anfänge des ‹Königs› als subalterner Kommandeur eines römischen Hilfstruppenkontingents, einem anderen Goten (Gainas) untergeordnet, vergessen.135 Alarichs ‹Königtum› hatte wohl nur noch wenig mit der Stellung der terwingischen reiks oder ‹Richter› gemein. Seine Führungsposition hatte sich konsequent auf römischem Territorium ausgebildet, und sein Verband entwickelte sich ebenfalls auf dem Gebiet römischer Provinzen von einem Hilfstruppenkontingent unter Theodosius I. hin zu einer bunt gemischten Großgruppe in den Jahren bis 410. Ihr gehörten sicherlich nicht nur Goten, sondern auch Barbaren vielfältiger Herkunft sowie römische Provinzialen, entlaufene Sklaven usw. an – man denke nur an die gewaltigen personellen Zuwächse, die Alarich etwa nach der Radagaisus-Katastrophe, nach den Massakern im Gefolge der Hinrichtung Stilichos oder vor den Mauern Roms erfuhr. Zosimos zufolge soll der Verband zuletzt eine Größe von 40 000 Angehörigen erreicht haben, über deren soziale Zusammensetzung wir indes nichts wissen. Jene, die 410 die Ewige Stadt stürmten, waren jedenfalls mitnichten sämtlich Goten (auch wenn sie summarisch Gothi genannt wurden) – und es waren vor allem auch nicht nur kriegführende Männer: Aus der römischen Hilfstruppe hatte sich allmählich eine gens bzw. natio entwickelt, eine heterogene Identitätsgruppe, in der unsere modernen Kategorien ‹Armee› und ‹Volk› zusammenflossen und die ihre innere Kohärenz vornehmlich durch die Ausrichtung auf den ‹König› gewann. Dessen Position war immerhin
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Kapitel II Sturm an der Donau – Beginn der ‹Völkerwanderung›
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derart gefestigt, dass man ihm auch Niederlagen, Misserfolge und eine allgemeine Perspektivlosigkeit – zumindest bis zum August 410 – nachsah. Darüber hinaus könnten auch ‹weiche› Faktoren wie die gotische Sprache und die homöische Liturgie auf Grundlage der Wulfila-Bibel eine identitätsstiftende Wirkung entfaltet haben, vielleicht sogar die Tatsache, dass die Römer in Alarichs Anhängern die direkten Nachfahren jener Terwingen sahen, die 376 die Donau überschritten hatten; möglicherweise hatte sich Alarichs Gefolge diese Sichtweise zu eigen gemacht und daraus ein weiteres Argument zur Traditionsbildung und Förderung des Zusammenhalts geschmiedet.136 Um es noch einmal zu betonen: Dieser Prozess vollzog sich vollständig auf römischem Boden. Es ist daher grundsätzlich verfehlt, den Alarich-Verband als Musterbeispiel für (ein-)wandernde ‹Völker› anzusehen – ganz im Gegenteil: Ohne die Mitwirkung Roms hätte sich das, was Herwig Wolfram als die «werdenden Westgoten» bezeichnet hat, nie entwickeln können. Aus diesem Grund wird man auch der Königserhebung Alarichs eine doppelte Bedeutung zuweisen müssen: Sie festigte den Verband nach innen, symbolisierte aber auch seine Geschlossenheit nach außen – insbesondere gegenüber den Autoritäten des Imperium Romanum. Komplementär dazu verhält sich Alarichs permanenter Anspruch auf eine hohe Position innerhalb der römischen Militärhierarchie: Ebenso wie das ‹Königtum› bewirkte das Amt des magister militum eine institutionelle Verfestigung und stärkte somit die Kohäsion der Gruppe. Gleichzeitig konnte für deren Mitglieder ein Status innerhalb der römischen Welt definiert werden, denn dort – und nur dort – bewegte sich ja der Verband: Alarichs Leute wurden nun wie reguläre Soldaten bezahlt, und der Anführer selbst erhielt Zugang zur höchsten politischen Bühne des Reiches, wobei das ‹Heermeisteramt› infolge der von Stilicho initiierten Konzentration der wichtigsten militärischen Kompetenzen in einer Person noch attraktiver wurde. ‹Königtum› und magisterium militum korrespondierten jedenfalls, ja bedingten einander und konstituierten in ihrer Verzahnung den besonderen Weg, den Alarich im Unterschied zu anderen Barbarenführern eingeschlagen hatte: Er hatte sich nicht einseitig für den Dienst im Imperium Romanum entschieden und dabei den Verzicht auf eine Führungsposition innerhalb eines barbarischen Kontextes in Kauf genommen (wie etwa Gainas oder Fravitta); er hatte sich aber auch nicht mit seinem Barbarenverband vollständig außerhalb der römischen Strukturen verankert und das Reich lediglich als Plünderreservoir betrachtet (so wie Radagaisus). Alarichs Position changierte vielmehr zwischen den Strukturen des Imperium Romanum (das er nie verließ) und der Welt des Barbaricum (die er wohl nur aus Erzählungen kannte). Daraus gewann sein Verband eine bis dahin unbekannte Geschlossenheit und innere Kohäsionskraft, insbesondere mit der Fundierung
Der ‹Hunnensturm› 2.2
auf dem Amt des magister militum darüber hinaus auch eine Vorbildwirkung für spätere Akteure; dem gotischen ‹König› selbst erwuchsen daraus indes zugleich die Ursachen für sein persönliches Scheitern.137 Letzteres resultierte konkret aus dem Umstand, dass es Alarich bis zuletzt nicht gelang, sich aus der Abhängigkeit vom Römischen Reich und seinen Autoritäten zu emanzipieren, in die er sich selbst dadurch begeben hatte, dass er sein und seines Verbandes Schicksal an die Erfüllung seiner Forderungen – vor allem das Amt des magister militum – geknüpft hatte. Bis zuletzt blieb ihm die nötige Autonomie versagt, um nach einer möglichen Landnahme – die sich freilich erst für die letzten Jahre seiner Aktivitäten zu einem zentralen Ziel entwickelte – ein auch politisch unabhängiges und militärisch hinreichend abgesichertes Gebilde aufzubauen, so wie es dann nach 418 seinen Nachfolgern, den westgotischen Königen des Tolosanischen Reiches, gelingen sollte. Selbst im römischen Westen, der im ersten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts eine höchst turbulente Phase durchmachte, hatten sich die Strukturen noch nicht so weit gelockert, dass die Etablierung eines unabhängigen gotischen regnum möglich gewesen wäre. Stattdessen wurde Alarich immer wieder zum Spielball der widerstreitenden Machtinteressen politischer Amtsträger im Osten und im Westen degradiert. Dadurch wurde sein Verband zwar mehrfach vor der Vernichtung bewahrt (weil man sein militärisches Potential benötigte), aber er verblieb umso mehr in Abhängigkeit, und selbst die Eroberung Roms sollte an dieser Situation zunächst nichts ändern. Alarich wurde auf diese Weise zum ersten prominenten Opfer des sich zuspitzenden Entfremdungsprozesses zwischen dem römischen Westen und dem römischen Osten; nicht sein Pendeln zwischen gentilen und römischen Strukturen wurde ihm also zum Verhängnis, sondern sein innerrömisches Changieren zwischen den Reichsteilen, seine mangelnde interne Festlegung.138 So kann man abschließend resümieren, dass ausgerechnet Alarich, der vielfach als Inbegriff des ‹germanischen› Heldenkönigs der ‹Völkerwanderungszeit›, ja sogar als früher Exponent des «Gedanken[s] eines römischen Reiches deutscher Nation» gilt, in jeder Hinsicht ein Produkt römischer Politik und römischer Strukturen war (auch wenn er sie partiell aufbrach) – beginnend mit seiner Funktion als untergeordneter Anführer eines barbarischen Truppenkontingents über seine zahllosen Anläufe, eine feste Einbindung in die römische Militärhierarchie zu erreichen, bis hin zu seiner Einsetzung eines römischen Usurpators und zum Ausspielen seiner letzten, allerdings weit überschätzten Trumpfkarte in Gestalt der ‹Ewigen› Stadt Rom.139
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KAPITEL III
Regni nostri maxima pars: Afrika – Verwundbare Südgrenze des Römischen Reiches
3.1
Am Rande der Wüste Kapitel Afrika – Verwundbare Südgrenze desAm Römischen 3.1III Rande derReiches Wüste
Einen ungemein langen Zeitraum umspannt die Geschichte des römischen Nordafrika: von der Zerstörung Karthagos 146 v. Chr. bis zur endgültigen Einnahme der Stadt durch die Araber im Jahr 698. In diesen mehr als acht Jahrhunderten entwickelten sich die Landstriche nördlich der Sahara von einem zunächst nur wenig beachteten römischen Außenposten zu einer der Kernregionen des Imperium Romanum. Mit Beginn der Kaiserzeit wurden sich die Römer zunehmend der strategischen Bedeutung und des wirtschaftlichen Leistungspotentials ihrer afrikanischen Provinzen bewusst, ab dem 2. Jahrhundert beschleunigte sich der Romanisierungsprozess, und selbst aus den Turbulenzen des 3. Jahrhunderts ging Afrika nur geringfügig geschwächt hervor. Die Versorgung Roms und Italiens wurde zu großen Teilen durch afrikanisches Getreide bestritten, Feinkeramik aus der Region (Terra sigillata /African Red Slip Ware [ARS]) begann seit dem späten 1. Jahrhundert die Mittelmeermärkte zu beherrschen und wurde noch bis in das 7. Jahrhundert produziert, die Vernetzungen zwischen den regionalen Eliten und der italischen Senatsaristokratie waren intensiv, nicht zuletzt aufgrund der geographischen Nähe. Umso herber traf der Verlust großer Teile der nordafrikanischen Provinzen an die Vandalen seit 429 die weströmische Regierung; eines der am dichtesten urbanisierten Gebiete der antiken Welt, wirtschaftlich auch damals noch weitgehend gefestigt, wurde faktisch aus dem Reichsverband herausgelöst. Erhebliche finanzielle Einbußen (Steueraufkommen), ökonomische und strategische Beeinträchtigungen waren die Folge. Als sich nach dem gescheiterten
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Kapitel III Afrika – Verwundbare Südgrenze des Römischen Reiches
Abb. 11 Fragment einer Terrakottaschale (ARS), 4. /5. Jahrhundert
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Rückeroberungsversuch 468 abzeichnete, dass Afrika für längere Zeit dem Zugriff der weströmischen Zentralregierung entzogen bleiben würde, hatte auch diese ausgespielt. Historiker sehen unter anderem im dauerhaften Verlust der afrikanischen Provinzen einen wichtigen Grund für den Untergang der römischen Herrschaft im Westen.1 Zum römischen Nordafrika zählten in der Spätantike (von Osten nach Westen) die Provinzen Tripolitana (Hauptstadt: Leptis Magna / heute Lebda), Byzacena (Hadrumetum / Sousse), Africa Proconsularis (Karthago), Numidia (Cirta / Constantine), Mauretania Sitifensis (Sitifis / Sétif), Mauretania Caesariensis (Caesarea / Cherchel) und Mauretania Tingitana (Tingis / Tanger). Während Letztere einen Außenposten der hispanischen Diözese (Verwaltungsbezirk) darstellte, bildeten die übrigen Provinzen gemeinsam die Diözese Africa. Das römische Afrika umfasste somit die lateinischsprachigen Landstriche des heutigen Maghreb und zog sich über einen mitunter nur um die 50 Kilometer breiten Streifen vom Atlantik bis zum Beginn der griechisch geprägten Kyrenaika in der Großen Syrte (die sich im Osten anschließenden Gebiete im heutigen östlichen Libyen und Ägypten waren Teile der Diözese Oriens, die zum Osten des Römischen Reiches gerechnet wurde) – insgesamt also eine Strecke von ca. 2600 Kilometern Luftlinie.2 Heute befinden sich auf diesem Gebiet die nördlichen Teile Marokkos und Algeriens, ferner Tunesien und das westliche Libyen. Die naturräumliche Gestalt dieser Länder ist einerseits durch die Gebirgszüge des Atlas sowie andererseits durch drei sich streifenartig von Westen nach Osten erstreckende Klimazonen
Am Rande der Wüste 3.1
geprägt, die in erheblichem Ausmaß die Lebensweise der antiken Bevölkerung beeinflussten. Im heutigen Algerien zieht sich der Tellatlas entlang der Ebenen der Mittelmeerküste (höchste Erhebung 2308 m), im Süden abgelöst durch das Hochland der Schotts und den Saharaatlas, der die Nordgrenze der großen Wüste bildet. Östlich von Tell- und Saharaatlas, bis in das heutige Tunesien hineinragend, erhebt sich der Aurès, der am Djebel Chelia (Ostalgerien) 2326 m Höhe erreicht. Die höchsten Berge Tunesiens liegen in der Dorsale (bis 1544 m), einem Ausläufer des Tellatlas, der sich in Richtung des Kap Bon erstreckt. Südlich der Dorsale geht die Landschaft in Steppen und schließlich in die Wüste über. Die westliche Verlängerung des Tellatlas bildet das Rif-Gebirge im Norden des heutigen Marokko, das sich bis zur Straße von Gibraltar zieht. Hier und in den südlich angrenzenden Ebenen befand sich in römischer Zeit das Zentrum des wilden westlichen Nordafrika. Reist man von dort aus weiter gen Süden, so trifft man auf die Gebirgszüge des Mittleren Atlas (bis 3356 m), des Hohen Atlas (bis 4167 m) und des Antiatlas, der nach Süden hin in die Sahara übergeht. Die östlichste Region des römischen Nordafrika war Tripolitanien, das den Westen des heutigen Libyen und einen schmalen Teil Tunesiens umfasste. Eine ausgedehnte Ebene, die Djeffara, erstreckt sich dort entlang der Mittelmeerküste, halbkreisförmig von den Erhebungen des Djebel Dahar (im Südosten Tunesiens) und den Sanddünen der Sahara umgeben. Von den drei Klimazonen war die nördlichste, entlang der Mittelmeerküste verlaufend, wirtschaftlich von zentraler Bedeutung: Hier fällt eine jährliche Niederschlagsmenge von 400 mm, so dass in großem Umfang Oliven und Getreide angebaut werden konnten. Südlich davon schloss sich ein zweiter Streifen an, die Steppengebiete im heutigen Tunesien und die algerischen Hochplateaus umfassend, in der die Niederschlagsmenge bei 100 mm liegt. Olivenanbau ist dort noch möglich, Getreide erfordert bereits aufwendige Bewässerungsmaßnahmen, die in einigen Regionen indes erfolgreich umgesetzt werden konnten. Ansonsten zeichnet sich diese mittlere Zone vor allem durch günstige Weidegründe aus. Jenseits der südlichen Gebirgszüge des Atlas schließlich erstrecken sich die Sand- und Geröllweiten der Sahara, in der Landwirtschaft ausgeschlossen und Viehhaltung allenfalls in Verbindung mit erheblicher Mobilität, d. h. in Form von (Semi-) Nomadismus, möglich ist. Die lange Südgrenze des Römischen Reiches fiel insofern mit den naturräumlichen Beschränkungen zusammen.3 Die afrikanischen Provinzen, deren militärische Sicherung in der Spätantike einem hochrangigen Offizier mit dem Titel comes Africae unterstand, waren keineswegs homogen, und ihre Entwicklung verlief auch durchaus unterschiedlich. Das Zentrum bildeten die Africa Proconsularis (Zeugitana) sowie die angrenzenden Gebiete Numidiens und der Byzacena; diese Regionen, d. h. im Wesentlichen
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Kapitel III Afrika – Verwundbare Südgrenze des Römischen Reiches
Mittelmeer Mauretania Caesariensis
Rusguniae
Chullu
Hippo Regius (Annaba) Thabraca (Tabarka)
Hippo Diarrhytus Utica
Saldae Icosium Igilgili Karthago (Algier) Rusuccuru (Bougie) Rusicade Bulla Regia Thignica Milev Uthina (Oudhna) Iol Caesarea Calama 1 2 Thibilis Thuburbo Maius Castellum Zucchabar Cuicul 3 Cirta Tingitanum Sicca Auzia Oppidum Sitifis Thubursicu Thagaste Thanaramusa Novum Portus Magnus Hadrumetum (Sousse) Numidarum Maktar Madaurus Althiburos Mina Diana Zarai Tasaccora Mascula Ammaedara (Haïdra) Castra Nova Boghar Lambaesis Thysdrus (El Djem) Numerus Tiaret Theveste Thamugadi Sufetula (Sbeïtla) Syrorum Altava Frenda Chanzy Bou Saada N u m i d i e n Pomaria Taparura Thelepte Saïda Cohors (Sfax) Dousson Djelfa Breucorum africa Badias Oujda Capsa proconsularis Ad Maiores Gemellae Tadmit
N
Cartennae
S
ˇ
Messad
Chott Djerid
I. Djerba Tacapae Gightis Sabratha
Oea (Tripoli) Leptis Magna
Cidamus
0
100
200
300km
1 Simitthus (Chemtou) 2 Thubursicu 3 Thugga (Dougga)
Karte 9 Das spätrömische Nordafrika
228
das heutige Nord- und Zentraltunesien sowie Ostalgerien, erreichten in der Kaiserzeit und Spätantike mit Hunderten von Städten einen Grad an Urbanisierung wie keine zweite Landschaft im Westen des Imperium Romanum. Der Afrikaner Tertullian schwärmt um 200, es existierten inzwischen mehr Städte als einst Häuser (tantae urbes quantae non casae quondam). Im Gegensatz zur Proconsularis und ihrer Umgebung galten die mauretanischen Provinzen – sie waren erst unter Caligula (37–41) gewonnen und unter Claudius (41–54) eingerichtet worden – als rauhe, schwer zugängliche Unruhegebiete. Sie wurden phasenweise stärker befestigt, doch etablierten die Römer dort nur rudimentäre Verwaltungsstrukturen. Teile dieser Regionen, darunter der Zentralort Volubilis (in der Nähe des heutigen Meknès, Marokko), wurden nach der Mitte des 3. Jahrhunderts aufgegeben und den Berbern überlassen.4 Die zahlreichen Städte schufen die Grundlage für den wirtschaftlichen und demographischen Aufschwung, der das römische Nordafrika insbesondere seit der hohen Kaiserzeit kennzeichnete und seine Provinzen zur Kornkammer Roms aufsteigen ließ. Vor allem Öl, Getreide, garum (Fischsauce) und qualitativ hochwertige Keramikprodukte zählten zu den Erzeugnissen, deren Export bis in das 5. Jahrhundert hinein den Wohlstand der afrikanischen Bevölkerung sicherte –
Am Rande der Wüste 3.1
hinzu kamen wertvolle Luxuswaren aus dem (Sub-)Saharahandel. Die dafür erforderlichen ausgedehnten Landgüter, die sich weitgehend im Besitz weniger Personen aus der Reichsaristokratie oder den lokalen städtischen Oberschichten befanden, wurden hauptsächlich von Pächtern bewirtschaftet, die an die Scholle gebunden blieben (coloni), saisonal verstärkt durch (vielfach berberische) Wanderarbeiter. Sklaven kamen in Afrika hingegen seltener zum Einsatz. Trotz seiner peripheren Lage bildete der Landstrich nördlich der großen Wüste damit eine Kernregion des Imperium Romanum.5 Eine Besonderheit Nordafrikas beruhte in dem Umstand, dass die römische Bevölkerung, ihrerseits heterogener Herkunft aus verschiedenen Gebieten des Reiches, sich zu einer engen Kooperation mit den ansässigen Berberstämmen gezwungen sah. Diese lebten keinesfalls nur in den Regionen südlich des Limes, sondern waren teils als steuerpflichtige Bewohner der Provinzen und römische Bürger vollständig in das Alltagsleben integriert, pendelten teils mit ihren Viehherden und Produkten zwischen den römischen und angrenzenden Gebieten, lebten mitunter aber auch von Überfällen auf Siedlungen und Gehöfte. Schon die Karthager hatten sich mit den Berbern auseinanderzusetzen, die in den antiken Zeugnissen als Libyer, Numider oder Mauren – all diese Begriffe sind unscharf, ihre Verwendung daher nicht unproblematisch – erscheinen. Sie trugen mit zur Vielgestaltigkeit des antiken Nordafrika bei, das neben den römischen auch punische und berberische Traditionen integrierte. Dem Kirchenvater Augustin (354–430) zufolge wurde um die Wende zum 5. Jahrhundert auf dem Land (Neu-)Punisch gesprochen, und selbst Prokop reklamiert für seine Zeit (6. Jahrhundert) noch die Existenz des Punischen. Sprachen der Berber und eine eigene Schrift (Tifinagh) haben sich bis heute gehalten. Die Berber untergliederten sich in einzelne, zumeist unabhängig voneinander, mitunter aber auch in Koalitionen agierende Gruppen, die tribal organisiert waren und häufig als Nomaden oder Halbnomaden (die Übergänge sind fließend) auf festen Routen ihren Viehherden folgten. Ebenso wie in Europa und Asien konnte es auch unter den berberischen Verbänden, von denen wir einige namentlich kennen, zu Ethnogeneseprozessen kommen. Möglicherweise stellen die inschriftlich als Quinquegentanei und in den literarischen Quellen als Quinquegentiani bezeugten Gruppen, deren Überfälle zwischen 260 und 304 / 05 römische Gegenmaßnahmen in der Mauretania Caesariensis (große Kabylei, Algerien) provozierten, eine Konföderation aus unterschiedlichen Teilverbänden dar. In den Wüstengebieten jenseits der Grenzzone lebten jene Berber, mit denen auszukommen die größten Schwierigkeiten bereitete, da sie in der Lage waren, römische Siedlungen anzugreifen, und über ausgedehnte Rückzugsgebiete verfügten. Die römische Verwaltung behandelte diese Gruppen, zu denen unter anderem
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Kapitel III Afrika – Verwundbare Südgrenze des Römischen Reiches
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die bereits von Herodot erwähnten Garamanten zählten, mit ausgesprochener Behutsamkeit. In der breiten Grenzzone wiederum bewegten sich nichtsesshafte Stämme, deren Wanderungen zwischen den Steppen- bzw. Wüstengebieten und den nördlicheren Hochebenen, die auf römischem Gebiet lagen, das Militär sorgfältig beobachtete. Ihre Stammesführer wurden vielfach in die römische Grenzsicherung eingebunden und durften römische Titel (princeps gentis) führen, was ihre Position innerhalb der indigenen Gemeinschaften festigte. Faktisch agierten sie autonom. Von römischen Amtsträgern (praefecti gentis), zunächst italischen Rittern, später zunehmend Angehörigen der Oberschichten afrikanischer Städte, wurden jene Berbergruppen verwaltet, die sich mobil auf römischem Gebiet aufhielten und nicht einfach einzelnen Städten zuteilen ließen. Trotz ihrer vielfach weiterhin nichtsesshaften Lebensweise waren diese Gruppen weitgehend in das Provinzleben eingebunden; so ermöglichten ihnen etwa die saisonalen Viehtriebe zwischenzeitliche Beschäftigungen als Wanderarbeiter auf den ausgedehnten römischen Landgütern.6 Der Umgang mit den nomadischen Stämmen Nordafrikas fiel den Römern zunächst nicht leicht, denn die nichtsesshafte Lebensweise ließ sich nur schwer mit der antiken Stadtkultur vereinbaren. Die ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit können in diesem Sinne auch als eine Phase des Abtastens und Experimentierens verstanden werden. Der schwierige Anpassungsprozess spiegelt sich in zahlreichen kleineren Konflikten, die in diesem Zeitraum ausgetragen wurden, führte insgesamt jedoch zu erfolgreichen Lösungen, da die römische Administration in der Lage war, flexibel auf die besonderen Herausforderungen zu reagieren, die sich in Afrika ergaben; Mobilität einzelner Gruppen wurde allmählich als Alltagsphänomen in den Lebensrhythmus der Provinzialbevölkerung integriert. Die Einführung des ausschließlich hier bezeugten Amtes des praefectus gentis stellte nur eine der zahlreichen Maßnahmen dar, die das Zusammenleben erleichtern sollten. Wichtig war vor allem eine demonstrative Einbindung indigener Stammesführer in die Grenzsicherung, ein System, das sich grundsätzlich bewährte. Die römischen Amtsträger kooperierten eng mit ihren berberischen Partnern, die häufig über weitreichenden Grundbesitz in den Provinzen verfügten. Für das 2. und 3. Jahrhundert etwa sind regelmäßige Treffen mit ihnen in der Mauretania Tingitana bezeugt.7 Insgesamt war das Zusammenleben von Pragmatismus geprägt, der allen Seiten zugutekam. Selbstverständlich ergossen traditionell gebildete Römer wie Synesios auch über die nomadischen Berber die altvertrauten abschätzigen Stereotype, aber gerade das Schrifttum des Kyrenäers zeigt gleichzeitig auf, wie eng Römer und Berber, ob sesshaft oder nicht, miteinander verbunden waren, wie sehr beide vom wechselseitigen Austausch und von funktionierenden, gemein-
Am Rande der Wüste 3.1
sam koordinierten Maßnahmen zur Grenzsicherung profitierten. Ältere schematische Vorstellungen, wonach die Romanisierung grundsätzlich vor den Gebirgen des Atlas haltgemacht oder jene Gruppen, die nicht sesshaft wurden, nicht oder nur partiell erfasst habe, sind mittlerweile infrage gestellt worden. Letztlich entstand in Afrika ein regelrecht symbiotisches Verhältnis zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen, das sich bis in die Spätantike zunehmend verfestigte; geradezu paradigmatisch repräsentiert die Familie des Nubel und seiner Söhne, über die wir noch zu handeln haben, diesen Sachverhalt. Im 4. Jahrhundert blickte ein großer Teil der Bewohner nordafrikanischer Städte auf indigene Wurzeln zurück. Selbst die im 3. Jahrhundert aufgegebenen Gebiete der Mauretania Tingitana haben einen erkennbaren Grad an Romanisierung beibehalten. Nirgendwo sonst, so wurde vor einigen Jahren gefolgert, ist es vergleichbar schwierig, eine Differenzierung zwischen ‹römisch› und ‹nichtrömisch› vorzunehmen wie an der Südgrenze des Imperium Romanum.8 Diese Grenze verlief freilich nicht in Form einer starren, klar definierten Linie entlang der nordafrikanischen Wüstengebiete. Wie bereits angedeutet, kannte man im Altertum keine Staatsgrenzen im modernen Sinne. Angemessener ist es, von Grenz- oder Kontaktzonen zu sprechen, die je nach Region, nach den naturräumlichen Bedingungen und nach den jeweils im Umfeld ansässigen Bevölkerungsgruppen ganz unterschiedlich ausgestaltet sein konnten. Diese Kontaktzonen schufen Räume des Übergangs, in denen es zumeist schwierig ist, allein aufgrund archäologischer Indizien klare Differenzierungen und Zuordnungen auszumachen. Antike Reichsgrenzen zogen keine exakt kartographierbaren Trennlinien, sondern leiteten symbolisch von einem Innen in ein Außen über; sie dienten weniger der Abschottung als der Regulierung, Kanalisierung und Kontrolle von Austausch, beiderseitigem Grenzverkehr und selbstverständlich der Beobachtung auswärtiger Barbaren. Kontakte zwischen Bevölkerungen diesseits und jenseits einer Grenze waren zumeist eng – so eng immerhin, dass beide Gruppen häufig ein gemeinsames, eigenständiges Profil gewinnen konnten, das sie selbst als Grenzbevölkerung und ihren unmittelbaren Aktionsradius jeweils als spezifische Grenzzone auszeichnete.9 Ohnehin war es aussichtslos, ein Gebiet wie das römische Nordafrika mit seiner gewaltigen West-Ost-Ausdehnung durch Truppenverbände, einen durchgehenden Wall, eine Mauer oder ähnliche Vorrichtungen umfassend abzusichern. Die Römer haben einen derartigen Versuch denn auch nie unternommen, wenngleich sie selbstverständlich Forts und manchmal auch Mauern oder Gräben errichteten sowie die Infrastruktur durch die Anlage von Straßen ausbauten (fossatum Africae). Ihnen ging es vor allem um die Kontrolle der Transhumanzrouten nomadischer Bevölkerungsgruppen sowie die Kanalisierung ihrer Wanderungen.
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Sperranlagen sollten die Berber hauptsächlich daran hindern, auf ihren Weidezügen römische Kontrollposten zu umgehen oder landwirtschaftlich genutzte Areale mit ihren Herden zu übertrampeln. Da die Grenzzone sich, wie angedeutet, vornehmlich im Übergangsbereich zwischen Steppen und Wüsten befand, stellte sie ein wichtiges Durchzugsgebiet der Nomaden dar. Dies ermöglichte vielfache Kontakte mit der römischen Provinzialbevölkerung, barg aber aufgrund des permanenten Aufeinandertreffens sesshafter und nichtsesshafter Gruppen auch ein stetes Konfliktpotential, das es einzuhegen galt.10 Wir können beobachten, dass die Grenzsicherung im Süden des Römischen Reiches seit der Mitte des 3. Jahrhunderts schrittweise umorganisiert wurde; auch dabei zeichnen sich Resultate des allmählichen Lernprozesses ab, den die Amtsträger in den vergangenen beiden Jahrhunderten durchlaufen hatten. Man wurde flexibler gegenüber den besonderen Herausforderungen in der Region, und das bedeutete: Die Organisation der Überwachung und Verteidigung großer, nur dünn besiedelter Gebiete wurde auf kleinere, flexibel und in überschaubaren Sektoren agierende Einheiten übertragen. Für Tripolitanien lässt sich dieser Prozess inschriftlich grob nachvollziehen. Er ging zunächst mit der Einführung eines praepositus limitis Tripolitani (seit etwa 400: dux provinciae Tripolitanae) einher, der die Oberaufsicht über einzelne Offiziere führte, denen verschiedene Sektoren des Grenzgebietes zur Überwachung zugeordnet waren. Die aus dem frühen 5. Jahrhundert stammende Notitia Dignitatum, eine Art ‹Verwaltungshandbuch› des spätrömischen Reiches, weist einzelne Limessektoren der afrikanischen Provinzen sorgfältig aus. Grenzkastelle dienten der Unterbringung der jeweils zuständigen Truppenkörper; sie wurden im ausgehenden 3. und frühen 4. Jahrhundert durch zusätzliche Kleinkastelle vom Typus des Centenarium ergänzt, die besonders gefährdete Punkte der Grenze absichern sollten, allerdings nur wenigen Personen Platz boten und somit eher als ‹Polizeistationen› zu interpretieren sind. Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Systems war die verstärkte Einbeziehung der indigenen Bevölkerung (gentiles) in die Überwachungs- und Verteidigungsmaßnahmen (möglicherweise auch in die Besatzung der Centenaria); die römischen Titel (tribunus, decurio) und Insignien, mit denen sich lokale Anführer im Gegenzug zieren durften, schufen die Ausgangsbasis für jene Bezeichnungen, unter denen die Herrscher der Berberkönigtümer, die in der ausgehenden Spätantike entstehen sollten, auftraten. Zunächst einmal übernahmen die Berberführer jedoch wichtige Aufgaben in der Grenzsicherung, unter anderem indem sie eintreffende Nomaden kontrollierten und ihnen Eide abnahmen, wie etwa Augustin bezeugt: «Wie ich gehört habe, pflegen die Barbaren im Gebiet der Arzuger dem Decurio, der dem Limes vorsteht [gemeint ist wohl der praepositus limitis], oder dem Tribun [wohl ein Berberführer in römischen Diensten] Eide zu
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leisten, indem sie bei ihren jeweiligen Gottheiten schwören». Prinzipiell bedeutete die verstärkte Einbeziehung der Berber in die Limesorganisation aber die Möglichkeit einer Reduktion der eigenen Grenztruppen (limitanei) und damit eine erhebliche Entlastung der regulären römischen Streitkräfte, so dass der comes Africae in der Regel über eine ausreichend große Feldarmee verfügen konnte. Dieser Ausgestaltungsprozess der Grenzverteidigung im Süden des Imperium Romanum, der bis in die Vandalenzeit hinein für weitgehend stabile Verhältnisse sorgte, erfolgte in mehreren Schritten; er war durchdacht und planvoll organisiert, kann also nicht lediglich als situative Reaktion auf Unruhen im 3. Jahrhundert interpretiert werden.11 Jene zeitweiligen Turbulenzen resultierten wahrscheinlich vorwiegend aus einem römischen Expansionsschub, der unter Septimius Severus (193–211) eingeleitet worden war – ein Kaiser, der selbst aus Afrika (Leptis Magna) stammte und folgerichtig seiner Herkunftsregion, in der es Anfang der 190er Jahre unruhig zu werden drohte, besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. Unter den Severern wurde die römische Grenze nach Süden vorgeschoben; neue Kastelle, zum Teil bereits tief in der Wüste gelegen, dienten der Sicherung der hinzugewonnenen Gebiete. Septimius Severus erwies mit diesem Vorgehen nicht nur seiner Heimat Respekt, sondern gehorchte auch den Maximen römischer Außenpolitik, unter denen die fortschreitende Expansion eine zentrale Stellung einnahm. Selbstverständlich war sich jeder Zeitgenosse der Tatsache bewusst, dass das imperium sine fine, welches die Götter den Römern angeblich verheißen hatten, räumliche (und zeitliche) Grenzen besaß, aber diese galt es ständig zu erweitern, denn am Anspruch auf immerwährende Herrschaft über die gesamte Oikoumene wurde bis in die Spätantike nicht gezweifelt. Für die afrikanischen Provinzen hatte die severische Expansion allerdings fatale Folgen. Denn die Übernahme der Kontrolle über wichtige Oasen, die Ausdehnung der landwirtschaftlich genutzten Zone und die Besetzung weiter südlich gelegener Transhumanzrouten beeinträchtigte die Lebensweise der nomadischen Berber ganz beträchtlich und führte zu einer empfindlichen Störung eines sensiblen Gleichgewichts. Folgerichtig reagierten verschiedene Berbergruppen mit Gewalt.12 Mustert man die literarischen Zeugnisse, so gewinnt man rasch den Eindruck, auch Afrika sei von der übergreifenden ‹Krise› des 3. Jahrhunderts mitgerissen worden und habe unter den reichsweit um sich greifenden Bedrückungen und Unsicherheiten geächzt. Gerade Cyprian, in den Jahren 248 /49 bis 258 Bischof von Karthago, gilt als einer der Hauptzeugen für verbreitete Depressionen und Endzeiterwartungen, doch vermag er bei näherer Betrachtung kaum konkrete Bedrohungen der afrikanischen Provinzen zu benennen. Eine vollends andere Sprache spricht schließlich der inschriftliche und archäologische Befund; er hat
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in den letzten Jahren zur Differenzierung und Korrektur verbreiteter älterer Stimmen geführt, die auch für Afrika einen Niedergang im 3. Jahrhundert postuliert haben. Mittlerweile konnten hinreichend Belege dafür beigebracht werden, dass die Provinzen im Süden des Imperium Romanum nur geringe und temporäre Einbußen zu verzeichnen hatten, insgesamt jedoch weiterhin prosperierten.13 Unruhiger wurde es allerdings auch in Afrika, doch zogen sich die Probleme nie über längere Zeiträume hin und erfassten lediglich einzelne Regionen des Landes. Schwerpunkte bildeten offensichtlich der Osten der Provinz Mauretania Caesariensis und angrenzende Gebiete der Numidia in den 250er Jahren sowie im ausgehenden 3. Jahrhundert.14 Von einer ersten Erhebung im Gebiet der Stadt Auzia in der Mauretania Caesariensis hören wir für die Zeit um 227; sie konnte jedoch im Rahmen einer begrenzten Aktion durch den Statthalter unterdrückt werden. Ihre Hintergründe sind ebenso ungewiss wie die Herkunft der aufrührerischen «Räuberbande» (turba et factio) unter einem einheimischen Anführer. Auch die Frage, ob bei diesen Vorgängen bereits die in unterschiedlichen Kleingruppen agierenden Bavares oder gar die Quinquegentanei eine Rolle gespielt haben, lässt sich nicht mehr klären. Jedenfalls scheinen die Unruhen zunächst keine weiteren Gebiete betroffen zu haben. Gefährlicher wurde die Lage hingegen zeitweise, als es zwischen 253 und 260 in Mauretanien zu einer größeren Rebellion kam, der sich verschiedene einheimische (Teil-)Stämme, die Musulamii, Bavares, Quinquegentanei und Anhänger eines gewissen Faraxen (gentiles Fraxinenses), anschlossen. Der Aufstand erfasste auch Numidien, vielleicht – aber dies ist umstritten – sogar die westlichen Teile der Africa Proconsularis. Zum ersten Mal seit der Erhebung des Tacfarinas († 24 n. Chr.) waren damals jedenfalls die afrikanischen Kernprovinzen schwerwiegenden Bedrohungen ausgesetzt. Um die Unruhen einzudämmen, wurde die legio III Augusta wieder aufgestellt. Kaiser Gordian III. (238–244) hatte sie im Jahr 238 aufgelöst, weil sie die Usurpation seines Großvaters Gordian I. in Thysdrus (heute El Jem, Tunesien) niedergeworfen hatte. Nun aber wurden Soldaten dringend benötigt. Unter der Leitung des dux per Africam Numidiam Mauretaniamque M. Cornelius Octavianus musste um 258 als Notmaßnahme sogar ein provinzübergreifendes Sonderkommando eingerichtet werden. In den frühen 260er Jahren scheint sich die Lage dann aber wieder stabilisiert zu haben.15 Erst im ausgehenden 3. Jahrhundert kam es zu erneuten Beeinträchtigungen; einmal mehr erforderten die Angriffe von Bavares und Quinquegentanei resolute Gegenmaßnahmen. Im Jahr 297 / 98 musste Kaiser Maximianus (286–305) gar persönlich eingreifen, um die Ruhe in Afrika wiederherzustellen.16 Letztlich blieben jedoch all diese Störungen regional begrenzt und vermochten die afrikanischen Provinzen Roms nicht ernsthaft in Gefahr zu bringen. Offenbar
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wussten einzelne Berbergruppen, die nach der Ausdehnung der römischen Gebiete ihre Existenzgrundlagen gefährdet sahen, um die Mitte des 3. Jahrhunderts keinen anderen Ausweg mehr, als die generelle Schwächung der militärischen Schlagkraft des Imperiums in jenen Jahren auszunutzen und mit ihren Vorstößen für Verwirrung zu sorgen und Beute zu machen; dabei konvergierte ihr Vorgehen offensichtlich mit dem stets präsenten Räuberunwesen, so dass es nicht nur aufgrund der ohnehin problematischen Trennung zwischen ‹Römern› und ‹Barbaren› in Nordafrika, sondern auch aus dieser Perspektive schwierig ist, überhaupt von ‹Einfällen› zu sprechen. Nach der Etablierung des provinzübergreifenden Kommandos unter Cornelius Octavianus um 258 und der persönlichen Intervention eines Kaisers 40 Jahre später konnten die Unruhen jedoch recht zügig reguliert werden. Der Bestand der afrikanischen Provinzen Roms war jedenfalls zu keinem Zeitpunkt bedroht, und auch die militärische Präsenz, die sich in der Kaiserzeit auf ca. 10 000 Soldaten (eine Legion und ihre Hilfstruppen) beschränkt haben dürfte – eine verblüffend geringe Anzahl angesichts der gewaltigen Ausdehnung des Grenzstreifens –, musste nicht erhöht werden, im Gegenteil: Im 3. Jahrhundert konnten aus Afrika sogar Truppen abgezogen und an brisantere Konfliktschauplätze verlegt werden. Wenngleich die Römer erneut aus den Erfahrungen lernten und die unter den Kaisern der Severerdynastie weit vorgeschobenen Grenzen an einigen Stellen korrigierten – vor allem durch die Aufgabe weit im Inland gelegener Stützpunkte und des südlichen Teils der Mauretania Tingitana –, stellte das 3. Jahrhundert somit auch unter militärisch-strategischen Gesichtspunkten keine scharfe Zäsur in der Geschichte Nordafrikas dar. Bis in das 5. Jahrhundert blieb Roms langgezogene Grenze im Süden trotz ihrer Verwundbarkeit im Wesentlichen stabil. Die eigentlichen Gefahren lauerten denn auch weniger südlich dieses Limes als an anderen Stellen – darauf wird noch zurückzukommen sein.17 In den letzten Jahren wurden vor allem die römischen Städte Nordafrikas und ihre ländlichen Umgebungen intensiver erforscht, so dass es mittlerweile möglich ist, einen recht differenzierten Eindruck von ihrer Entwicklung zu gewinnen. Zunehmend zeichnet sich ab, dass Prosperität und innere Dynamik weder im 3. noch im 4. Jahrhundert längerfristige Beeinträchtigungen erfuhren. Ein klarer Schnitt zwischen Kaiserzeit und Spätantike lässt sich für Afrika somit nicht ziehen. Noch immer spielten Inschriften eine tragende Rolle für die Repräsentation von Amtsträgern und wohlhabenden Persönlichkeiten (angesichts der sonst deutlich zurückgehenden Inschriftenproduktion im Westen des Imperium Romanum ein interessanter Sachverhalt), noch immer scheinen – zumindest in den Kerngebieten – die traditionellen Institutionen städtischer Selbstverwaltung (ordo, curia) in hohem Ansehen gestanden und ihre Funktionen ausgeübt zu haben,
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und noch immer hielten die lokalen Eliten mit auffälliger Verbissenheit an überkommenen Traditionen fest (Kaiserkult, traditionelle Namen). Man hat dieses Phänomen mitunter als einen regionalen ‹Konservativismus› gedeutet, auch als Ausdruck eines Bemühens, die eigene romanitas demonstrativ zur Geltung zu bringen. In jedem Fall handelte es sich um einen Habitus, den man sich leisten können musste. Und so sind nicht nur die Inschriften, sondern auch die intensive Bautätigkeit im öffentlichen Raum, die im 4. Jahrhundert, vielfach finanziert durch kaiserliche Amtsträger, noch einmal einen erkennbaren Aufschwung nahm, letztlich auch als Zeugnisse eines weiterhin anhaltenden, Städte und ländliche Regionen umgreifenden Wohlstandes zu interpretieren. Die Exporte florierten; in einigen Gegenden der Africa Proconsularis legte man noch im 4. Jahrhundert prachtvolle Villen an. Berühmt sind die hochwertigen Mosaikarbeiten, die sich aus dem römischen Afrika erhalten haben. Sie zeigen Pflanzen, mythologische Szenen, Jagd- und Tiermotive, Bankette und Situationen in der Arena und wurden in der Vergangenheit großenteils in die frühere und hohe Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert) datiert. Mittlerweile jedoch sind die Archäologen vorsichtiger geworden: Zahlreiche Mosaike gehören wohl eher in das 4. Jahrhundert oder sind gar noch später anzusetzen. Selbst in der Vandalenzeit (ab 429) wurden noch Villen mit imposantem Mosaikschmuck errichtet.18 Die andere Seite der Medaille gerät über diesen Befunden häufig aus dem Blickfeld. Wie überall im Imperium Romanum existierte auch in Nordafrika eine Unterschicht, deren Alltag von bitterer Armut geprägt war, die am Rande des Existenzminimums dahinvegetierte. Nicht ohne Grund beklagt Augustin das trostlose Elend auf dem Lande (tristitia rusticana). Die sozialen Gegensätze scheinen im spätantiken Nordafrika eine besondere Sprengkraft entwickelt zu haben, die sich nicht zuletzt im Phänomen der sogenannten Circumcellionen entlud, das Historikern weiterhin Rätsel aufgibt. Klassische Definitionen sehen in diesen Gruppen fanatische Aufständische, deren Gewaltakte vor allem im 4. Jahrhundert die afrikanischen Provinzen erschüttert haben. Mittellose, verschuldete Landarbeiter, die sich (arbeitsuchend) in der Nähe der Vorratshäuser (cellae) herumtrieben (Augustin: cellas circumiens rusticanas), sollen sich seit etwa 340 in Numidien ausgebreitet und Überfälle auf Großgrundbesitzer verübt haben, um Schuldenlisten zu verbrennen. Wir kennen mit Axido und Fasir zumindest zwei Namen von Anführern derartiger Banden; sie ließen sich «Führer der Heiligen» (sanctorum duces) nennen. Diese Begrifflichkeit verweist bereits darauf, dass die sozialen Ursachen dieser Revolten sich mit religiösem Fanatismus verbunden zu haben scheinen, der die Übergriffe der Circumcellionen – sie selbst bezeichneten sich als agonistici («Streiter [für den Herrn]») – in besonderer Weise prägte und mit zu ihrer außergewöhnlichen Brutalität beitrug. Mit Keulen (statt mit Schwer-
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tern) sollen sie ihre Opfer niedergeprügelt haben, dabei selbst das Martyrium suchend – weshalb sie sich angeblich mitunter selbstmörderisch auf römische Soldaten warfen, von hohen Klippen direkt in den Tod stürzten oder auch selbst verbrannten. Wie stark die religiöse Komponente bei den Circumcellionen tatsächlich ausgeprägt war (mit den cellae könnten auch Märtyrerschreine bzw. Kapellen gemeint sein), ist freilich umstritten. Unser Hauptzeuge, Augustinus, bringt sie mit den sogenannten Donatisten in Verbindung, die er als katholischer Bischof von Hippo Regius (heute Annaba, Nordostalgerien) selbst leidenschaftlich bekämpfte; sein Urteil ist also keineswegs unvoreingenommen, und man sollte die zahlreichen Schauergeschichten über die Circumcellionen, die zum Jahr 484 letztmalig erwähnt werden, durchaus mit Skepsis betrachten. Ungeachtet aller Unklarheiten scheinen sich jedoch im spätantiken Nordafrika tatsächlich soziale und religiöse Spannungen zu einem explosiven Gemisch verbunden zu haben.19 Das donatistische Schisma prägte allerdings über das gesamte 4. Jahrhundert hin die Geschichte des römischen Afrika und verlor erst mit der Invasion der Vandalen an Bedeutung. Seine Ursachen reichen weit zurück in die hohe Kaiserzeit. Als die Christianisierung des Imperium Romanum die afrikanischen Provinzen erfasste, erstanden der neuen Religion dort wortgewaltige Apologeten, deren Schriften überhaupt erst die Grundlage für eine lateinische christliche Literatur legten: Minucius Felix (Anfang 3. Jahrhundert), Tertullian (um 200), Cyprian († 258). Aber das afrikanische Christentum zeichnete sich von Anfang an auch durch eine besondere Rigidität aus, die erstmals in den Werken Tertullians unverblümt zum Ausdruck kommt und die Grundierung für die späteren Konflikte im donatistischen Schisma bildet. Konkreter Anlass für die Auseinandersetzung war eine doppelte Bischofswahl in Karthago unmittelbar nach dem Ende der großen diokletianischen Christenverfolgungen 311 /12. Derartige Doppelwahlen stellten im antiken Christentum keine Seltenheit dar, aber der Fall des Caecilianus, der damals zum Bischof von Karthago geweiht wurde, war doch außergewöhnlich gelagert, denn er brachte geradezu eruptiv all jene innergemeindlichen Verwerfungen und Traumatisierungen ans Tageslicht, welche die voraufgehenden Verfolgungen unter den Christen zurückgelassen hatten. Zahlreiche aufrechte Kämpfer waren damals für ihren Glauben als Märtyrer in den Tod gegangen, andere hatten indes überlebt, und viele fragten sich: Warum eigentlich? Hatten sie heimlich mit den Verfolgern paktiert, ihnen gar christliche Schriften oder liturgisches Gerät ausgeliefert? Unsicherheit und Misstrauen scheinen allenthalben um sich gegriffen zu haben. Auf der einen Seite standen die strahlenden Märtyrer und Bekenner, die in Afrika traditionell besonders hohes Ansehen genossen – immerhin war Cyprian von Karthago während der Christenverfolgung unter Kaiser
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Valerian als leuchtendes Exempel vorangegangen –, auf der anderen Seite jene, die verdächtigt wurden, ihre Gemeinde verraten zu haben, die traditores (‹Auslieferer›, ‹Verräter›). Caecilians Gegner fochten vor diesem Hintergrund seine Wahl an: Ein traditor, Felix von Apthugni, sei an seiner Weihe beteiligt gewesen (ein Vorwurf, der sich später als konstruiert herausstellte), diese könne daher nicht akzeptiert werden. Der Gegenkandidat Maiorinus wandte sich mit seinen Parteigängern direkt an Kaiser Konstantin, dem die sich rasch ausweitende Affäre in den nächsten Jahren erhebliche Mühe bereitete und der mit der Einberufung eines großen Konzils nach Arles im Jahr 314 zur Lösung des Konflikts einen Schritt von geradezu universalhistorischer Bedeutung vollzog: Die Akzeptanz der Rolle eines Schlichters und die damit verbundenen Maßnahmen wie Einberufungen von Konzilien durch die Kaiser sollten bald zu jener komplexen Verschlingung weltlicher und kirchlicher Sphären – also grob dessen, was wir heute ‹Staat› und ‹Kirche› nennen – führen, die über Jahrhunderte hin immer wieder neue Konflikte generiert hat.20 Vorerst blieb das afrikanische Schisma jedoch ungelöst, denn die Entscheidungen des Kaisers und der von ihm eingesetzten Gremien fielen stets zugunsten der Caecilianer aus, was die Donatisten – so benannt nach Donatus, dem Nachfolger des Maiorinus – nicht hinzunehmen bereit waren. So spalteten sich allmählich die Christen Nordafrikas in eine katholische und eine donatistische Kirche – und jede beanspruchte die Rolle der wahren, einzig die Tradition Cyprians repräsentierenden Gemeinschaft, mit der Folge, dass bald in den meisten Städten jeweils zwei Bischöfe amtierten. Die Auseinandersetzung ließ sich durch Entscheide oder Gewaltmaßnahmen einer zunehmend verunsichert lavierenden Zentralregierung nicht lösen, denn sie rührte an die Grundfesten der christlichen Theologie. Zur Debatte stand nicht weniger als die Frage nach der Wirksamkeit der Sakramente: Beruhte diese auf der Reinheit des Spenders (worauf die Donatisten beharrten) oder auf der sakramentalen Gegenwart Christi? Und wie ließ sich vor diesem Hintergrund überhaupt die Kirche definieren? Wer gehörte ihr an und wer nicht? – Fragen, die nicht zuletzt Augustinus seit Antritt seines Episkopats in Hippo Regius 395 tief beschäftigt haben und deren Reflexion mit zum Entstehen seines theologischen Lehrgebäudes beigetragen hat.21 Zunächst aber regierte vielerorts die Gewalt. Offensichtlich machten sich donatistische Bischöfe – allen voran Parmenian von Karthago – die soziale Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung zunutze und zielten auf weitere Eskalationen. In diesem Kontext könnte es zur Vereinnahmung verschiedener Circumcellionen-Gruppen (die ihrerseits höchst inhomogen waren) gekommen sein. Die Unruhen erschütterten in mehreren Wellen die afrikanischen Provinzen und führten nicht nur zu gesetzlichen Maßnahmen, sondern auch zu militärischen
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Interventionen – allerdings ohne dass die Donatisten nachgegeben hätten. Erst ihre theologische Niederlage auf dem Religionsgespräch (collatio) von Karthago im Juni 411, bei dem Augustin eine tragende Rolle spielte, zwang sie endgültig in die Defensive (s. u.). Bis 418 /19 bekämpfte Augustin die Donatisten in seinen Schriften; bereits wenige Jahre später aber standen die Vandalen im Land, dessen Bevölkerung ihnen möglicherweise auch wegen ihrer sozialen und religiösen Zerrissenheit kaum wirksamen Widerstand entgegensetzte.22
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Ein Mann hieß Nubel. Ammian präsentiert ihn uns als «eine Art König» (velut regulus), als mächtigste Persönlichkeit unter den Mauren (per nationes Mauricas potentissimus). Wesentlich mehr erfahren wir allerdings nicht – immerhin noch so viel, dass er den Iubalenern angehörte und mindestens sechs Söhne und eine Tochter hatte: Sammac, Firmus, Gildo, Mascezel, Mazuca, Dius und Cyria. Nach Nubels Tod wurde Sammac von Firmus ermordet, vielleicht im Streit um das Erbe des Vaters, das – ganz charakteristisch für einen spätrömischen Aristokraten – gewaltige Landflächen umfasst haben muss. Sammac selbst hatte bis dahin auf einem befestigten, stadtartigen Gut namens Petra in der Kabylei (Nordalgerien) residiert, auf dem er uns in einer elaborierten Hexameter-Inschrift entgegentritt: «Ein Bollwerk ewigen Friedens sichert seine Umsicht, auch das römische Gemeinwesen (rem Romanam) schützt überall er mit treuer Rechten, indem er mit einer Befestigung den einem Fluss vorgelagerten Berg sichert; aus dessen Bezeichnung abgeleitet nannte er sie [sc. die Befestigung] Petra. Nunmehr kommen die benachbarten gentes zusammen, um Kriege zu beenden, mit dem Begehren, in Deine Bündnisse [zu gelangen], Sammac, damit virtus in Begleitung von fides bei jeder Pflicht Eintracht wahrt, stets mit den Triumphen des Romulus verbunden». Römischer kann man sich kaum präsentieren: Sammacs ordnende Hand überführt kriegerische Berber in das römische Vertragssystem (foedera) und sichert dadurch die Region – klar erkennbar ist die Funktion eines Vermittlers zwischen römischen und indigenen Interessen. In virtus (Tapferkeit) und fides (Treue) verkörpert Sammac römische Kerntugenden und handelt stets zum Ruhme Roms, wovon die Inschrift im programmatischen Schlusssatz kündet. Schon sein Vater Nubel scheint in römischen Diensten gekämpft zu haben. Sollte ein inschriftlich bezeugter Flavius Nuvel mit ihm identisch sein (wofür einiges
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spricht), so hätte Nubel eine Reitereinheit kommandiert und gemeinsam mit seiner Ehefrau Nonnica (Monnica?) eine Kirche zur Aufbewahrung einer Kreuzreliquie in Rusguniae (Cap Matifou, Mauretania Caesariensis) gestiftet. Wir erfahren aus derselben Inschrift überdies, dass Nubels Vater Saturninus einen römischen Namen trug, ritterlichen Ranges war (vir perfectissimus) und ein hohes (Ehren-)Amt innehatte (ex comitibus). Über mindestens drei Generationen hin war die afrikanische Familie also in der römischen Welt und ihren Institutionen verankert.23 Sammacs Ermordung durch seinen Bruder Firmus hatte indes schwerwiegende Konsequenzen. Denn das Opfer stand in enger Verbindung zu dem Militärgouverneur Nordafrikas (comes Africae), Romanus. Letzterer wird uns in der Überlieferung (Ammian, Zosimos) in finstersten Farben vorgeführt, und tatsächlich wird man seine Amtsführung nicht unbedingt zu den Ruhmesleistungen römischer Administration zählen müssen. Die von ihm mitverantworteten Turbulenzen begannen allerdings bereits vor Sammacs Untergang. Seit dem Winter 363 / 64 verübten die berberischen Austurianer, eine im späteren 4. Jahrhundert in Bewegung geratene Konföderation, deren Rückzugsgebiete wohl südlich der Großen Syrte lagen, Überfälle auf Ortschaften in der Tripolitana, immerhin bis in das Umland von Leptis Magna. Wie üblich in derartigen Situationen, forderten die Bewohner der bedrohten Stadt Hilfe beim comes Africae an, und dieser – Romanus – erschien auch mit einer ansehnlichen Streitmacht; allerdings weigerte er sich, in das Geschehen einzugreifen, bevor man ihm nicht Versorgungsgüter in reichlichem Umfang sowie nicht weniger als 4000 Kamele zur Verfügung gestellt habe. Während Ersteres durchaus den Usancen römischer Truppenausstattung entsprach, war das sture Beharren auf den Kamelen, selbst wenn diese zur Nachschubsicherung für eine mögliche Strafexpedition tief in das Wüstengebiet benötigt wurden, ein Akt der blanken Erpressung, dem die Bevölkerung von Leptis Magna nicht nachgeben konnte und wollte. Daraufhin zog Romanus wieder ab und überließ die Stadt ihrem Schicksal. Das Nachspiel folgte unmittelbar: Auf dem alljährlichen tripolitanischen Provinziallandtag empörte man sich über die Amtsführung des Romanus und beauftragte zwei Gesandte damit, Kaiser Valentinian I. (364–375) darüber Bericht zu erstatten. Deren Ausführungen bei Hofe wurden jedoch durch die Intervention des magister officiorum Remigius – ein Verwandter des Romanus, der von diesem rechtzeitig vorgewarnt worden war – hintertrieben, so dass der Kaiser sich zu keiner Entscheidung durchringen konnte und den Fall vertagte. Dies wiederum verschaffte den Austurianern hinreichend Zeit, um abermals das Umland von Leptis zu versengen. Valentinian kochte (wie so oft) auf diese Nachricht hin vor Wut und entsandte den Tribun und notarius Palladius, um den Soldaten vor Ort das ausstehende Donativ (das Antritts-
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geschenk eines neuen Kaisers an das Heer) auszuzahlen und die Angelegenheit gründlich zu untersuchen. Auch diese Personalie erwies sich indes als Fehlgriff, denn Palladius strich das Geld selbst ein und kam mit Romanus dahingehend überein, dass keiner von beiden den anderen beim Kaiser denunzieren solle. Die Austurianer hatten inzwischen erneut die Provinz attackiert und sich dieses Mal sogar einer achttägigen Belagerung von Leptis Magna erdreistet. Palladius jedoch kehrte gelassen zum Kaiser zurück und meldete, er habe keine besonderen Vorkommnisse in Nordafrika ausmachen können. Nun rollten Köpfe: Valentinian, mehrfachen Fehlinformationen aufgesessen, ließ irrtümlich die Beschwerdeführer aus Leptis hinrichten. Erst Jahre später kam der wahre Sachverhalt ans Licht. Nach der Niederschlagung des Firmus-Aufstandes, um 376 / 77 (s. u.), entdeckte man Auszüge aus der hochverräterischen Korrespondenz zwischen Palladius und Romanus. Der Fund bewirkte, dass Palladius und Remigius Selbstmord begingen und die überlebenden Vertreter von Leptis Magna rehabilitiert wurden. Einzig Romanus gelang es, wieder einmal über seine Kontakte am Hof, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.24 Man könnte die ‹Romanus-Affäre› als letztlich bedeutungslose Banalität im Kuriositätenkabinett römischer Anekdotensammlungen ablegen; das aber würde dem grundsätzlichen Charakter des zugrunde liegenden Problems nicht gerecht. Denn die Episode illustriert nicht nur bereits ein gutes Jahrzehnt vor dem Gotenübergang über die Donau die fatalen Folgen skrupelloser Selbstbereicherung römischer Amtsträger in kritischen Situationen; sie verweist auch auf ein fundamentales Strukturproblem der Administration eines vormodernen Weltreichs: Die Kommunikations- und Austauschwege waren lang, mitunter allzu lang, und unter Rahmenbedingungen, die nicht durch Telefon und Internet, ja nicht einmal durch motorisierte Verkehrsmittel definiert wurden, entstanden Reibungsverluste sowie beachtliche Freiräume für Missverständnisse, Fehlinformationen und Täuschungen. Auch wenn Nordafrika nicht allzu weit entfernt von Sizilien lag und umfassend in die überregionalen Netzwerke eingebunden war, so zählte es doch räumlich zur Peripherie des Imperium Romanum und wurde, solange sich keine größeren Probleme ergaben, der Verwaltung von Amtsträgern überlassen, die weitgehend selbständig agieren konnten. Zum letzten Mal hatte 297 / 98 mit Maximian ein römischer Kaiser den Boden Afrikas betreten (s. o.); auf den üblichen Reiserouten der spätantiken Herrscher lag die Region jedenfalls nicht. Die fatalen Entscheidungen Valentinians in der ‹Romanus-Affäre› resultieren unmittelbar aus diesen Grundbedingungen und verweisen damit zugleich darauf, wie hilflos ein Kaiser dem Informationsfluss von außen, den er kaum selbst zu beherrschen vermochte, ausgeliefert war. Auch die vielfältigen Überlappungen in den Kompetenzen spätantiker Amtsträger, die eine gegenseitige Kontrolle bewir-
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ken sollten, verhinderten nicht, dass der Herrscher über die Welt von der Loyalität seiner Beauftragten abhängig war. Dagegen schützten einzig körperliche Präsenz und persönliche Kontrolle – aber der Kaiser konnte sich nicht überall aufhalten, und in Afrika befand er sich höchst selten. Dies jedoch führte dazu, dass die Verselbständigungstendenzen römischer Amtsträger in jener Region besondere Ausmaße annahmen und – in Wechselwirkung mit den Reaktionen der Bevölkerung – einen Entfremdungsprozess gegenüber der Zentralregierung beschleunigten, dessen Folgen sich im Moment der Ankunft der Vandalen 429 als verheerend erweisen sollten. Paradigmatisch dafür steht bereits im 4. Jahrhundert das Wirken des Romanus, der auch für die erste größere Erschütterung des römischen Nordafrika in jener Zeit eine Mitverantwortung trägt: die Erhebung des Firmus (372–375).25 Was war geschehen? Nachdem Firmus (der einzige bekannte Nubel-Sohn mit römischem Namen) seinen Bruder Sammac ermordet hatte, drang er darauf, die Bluttat vor dem Kaiser zu rechtfertigen, soll jedoch von Romanus, einmal mehr im Verbund mit dem magister officiorum Remigius, daran gehindert worden sein. Auf diese Weise in die Enge getrieben, habe Firmus keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als in den offenen Aufstand zu treten. Ob es sich dabei um eine echte Usurpation gehandelt hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären, aber einige Indizien sprechen dafür – neben einem Diadem und einem Purpurmantel, d. h. kaiserlichen Insignien, die Firmus verwendet haben soll, vor allem das explizite Zeugnis des Zosimos (der allerdings nicht zu den zuverlässigsten spätantiken Historiographen gehört). Valentinian jedenfalls entsandte einen seiner besten Männer nach Afrika, um die Ordnung möglichst rasch wiederherzustellen: Der magister equitum (Oberkommandant der Kavallerie) Theodosius, Vater des späteren gleichnamigen Kaisers und von Ammian als gestrenger, tugendversessener Truppenführer in der Tradition altrömischer Feldherren gezeichnet, traf 373 mit frischen Streitkräften aus Gallien in der Mauretania Sitifensis ein. Er erkannte recht bald, dass ihm ein schwieriger Zermürbungskrieg gegen hochbewegliche Guerillakrieger bevorstand, die überdies noch Zulauf von Teilen der Provinzialbevölkerung, ja sogar von Einheiten der römischen Armee erhielten; hier deutete sich im Kleinen an, was sich wenige Jahre später, freilich in ganz anderen Dimensionen, an der Donau wiederholen sollte. Die folgenden Auseinandersetzungen erwiesen sich denn auch als kräftezehrendes Ringen, in dem Theodosius mehrmals beträchtliches Lehrgeld zu entrichten hatte und das beiden Seiten schwere Opfer abverlangte; unter anderem Sammacs ehemaliger Landsitz Petra wurde in diesen Kämpfen verwüstet, die Stadt Caesarea (Cherchel) ging in Flammen auf, auch Icosium (Algier) wurde in Mitleidenschaft gezogen. Endlich jedoch gelang es Theodosius durch die Kombination erfolgreicher militärischer Manöver, die er
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zunehmend den geographischen Bedingungen anpasste, und geschickter Diplomatie gegenüber einzelnen Berberführern, die zwischenzeitlich bedrohlich angeschwollene Koalition des Firmus zu zerschlagen und den Aufrührer schließlich so zu isolieren, dass ein berberischer rex – der Isaflenser Igmazen, zunächst ein Sympathisant des Firmus – ihn in seine Gewalt bringen und dem römischen General ausliefern konnte; wohlweislich hatte sich der Insurgent zuvor allerdings selbst das Leben genommen.26 Die Geschichte vom Aufstand des Firmus, wie Ammian sie vor uns ausbreitet, enthält sämtliche Ingredienzien, die ältere Thesen, wonach es sich um einen ‹Volksaufstand› der Berber gehandelt habe, auf den ersten Blick überzeugend erscheinen lassen. Konsequent grenzt der Historiograph die «Römer», ja «die Unsrigen», von den «Mauren» bzw. den «Barbaren» ab, die er genussvoll als Angehörige exotischer Stämme mit schwer auszusprechenden Namen vorstellt. Aber das scheinbar so plausible Panorama erweist sich rasch als geschickt verbrämtes Konstrukt. Denn keineswegs kämpften hier nur Römer gegen Berber oder gar Sesshafte gegen Nomaden. Das zeigt sich schon daran, dass Ammian in seiner Darstellung wieder einmal tief in die Mottenkiste altvertrauter Barbarentopik greift, um den Feind zu charakterisieren: Die Barbaren sind im Kampf zunächst furchterregend, vor allem wegen ihrer großen Anzahl, aber letztlich doch ungeordnet und feige; Firmus agiert unversöhnlich, emotionsgeladen, verschlagen und treulos, der Römer Theodosius kann sich bei seinen diplomatischen Bemühungen, die Koalition des Aufrührers aufzubrechen, auf die notorische Wankelmütigkeit der Barbaren verlassen. Ammian hat seine Farben also mit dickem Pinsel aufgetragen und übertüncht damit Verhältnisse, die durchaus komplizierter waren: Denn so wie auf Seiten des Theodosius natürlich auch Berber kämpften – und es wurden im Verlauf der Auseinandersetzungen ihrer immer mehr –, setzte Firmus auf Provinziale und Überläufer aus dem römischen Heer. Ja, mehr noch: Selbst die Kirche kompromittierte sich verschiedentlich, so dass sogar ein großer Teil der (mittlerweile untereinander in Gruppen gespaltenen) Donatisten unter der Bezeichnung Firmiani bekannt werden konnte. Gerade die Familie des Firmus steht für die Schwierigkeit, den Konflikt in ethnische Kategorien zu fassen: Von den damals noch lebenden sechs Kindern des Mauren und Römers Nubel kämpften mit Firmus, Mascezel, Dius, Mazuca und der wohlhabenden Cyria fünf auf der einen, mit Gildo immerhin einer auf der anderen Seite – und diese Festlegungen waren keineswegs in Stein gemeißelt. Jahre später sollte sich ausgerechnet Gildo gegen das Regiment Stilichos und die weströmische Regierung erheben und wurde von seinem Bruder Mascezel, der nun auf der ‹römischen› Seite agierte, niedergerungen. Die Konflikte um Romanus und Firmus, die Ammian als Folge bzw. als Auswüchse gefährlicher barbarischer Aktionen beschreibt, be-
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wegten sich also bei näherer Betrachtung ganz in einem innerrömischen Rahmen – sowohl geographisch (Tripolitanien bzw. Mauretania Caesariensis) als auch politisch.27 Wenn der Aufstand des Firmus aber nicht durch ethnisch konnotierte Faktoren befördert wurde – wo müssen wir dann seine Ursachen suchen? Tatsächlich scheint Firmus selbst schlicht in eine ausweglose Situation geraten zu sein und sah seine einzige Option in der Flucht nach vorne. Einem ähnlichen Muster war auch die Usurpation des fränkischstämmigen Offiziers Silvanus im Jahr 355 in Köln gefolgt. Die rein persönliche Zwangslage des Firmus erklärt aber noch nicht, warum die Revolte sich derartig rasch zu einem gefährlichen regionalen Flächenbrand auswachsen konnte. Hier wird man nicht nur auf die bereits erwähnten sozialen und religiösen Spannungen zu verweisen haben, sondern auch auf den Umstand, dass auf dem Land offenbar eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Regiment der römischen Amtsträger vorherrschte. Nur so ist zu erklären, dass sich nicht allein mittellose Abenteurer dem Aufrührer anschlossen, sondern auch wohlhabende Grundbesitzer. Romanus und andere hatten möglicherweise den Bogen schlichtweg überspannt. Sollte diese These zutreffen, dann wäre allerdings auch die vor einigen Jahren geäußerte Kritik an der Darstellung der ‹RomanusAffäre› durch Ammian zumindest partiell zu relativieren. Demzufolge habe der Historiograph, der keine Gelegenheit ausließ, um Romanus zu denunzieren, die von den Austurianern im Verbund mit korrupten römischen Amtsträgern verursachte Not gezielt aus der Perspektive der landbesitzenden Stadtbevölkerung von Leptis Magna, also der Kurialen, überzeichnet, um von deren eigenen Versäumnissen in der Pflege und Instandhaltung des Limes abzulenken. In der Tat dürfte es im 4. Jahrhundert zu einer Vernachlässigung der Befestigungen und Sperranlagen gekommen sein – dies bezeugen nicht zuletzt kaiserliche Gesetze, die diesem Missstand entgegenwirken sollten. Ob daraus aber im Umkehrschluss eine prinzipielle Entlastung des Romanus und anderer Beauftragter des Kaisers abgeleitet werden kann, ist eine ganz andere Frage. Einmal mehr dürfte sich die Gemengelage weitaus komplexer gestaltet haben, als unsere zumeist einseitigen Zeugnisse es vermitteln. Wahrscheinlich haben im Verlauf des 4. Jahrhunderts die Überfälle nomadischer Gruppen auf römische Siedlungen tatsächlich zugenommen und dabei eine neue Qualität erreicht; jedenfalls bezeugt auch Synesios für die an Tripolitanien angrenzende Kyrenaika konfliktreiche Bewegungen der Berber. Die Gründe dafür mögen in einer von den wohlhabenderen Grundbesitzern zumindest mit zu verantwortenden Vernachlässigung der Grenzanlagen ebenso wie in der Amtsführung römischer Magistrate und Generäle gelegen haben – mangelnde Pflichterfüllung also auf allen Seiten. Unübersehbar ist jedenfalls, dass es im 4. Jahrhundert zunehmend unruhig wurde in den bis dahin so prosperieren-
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den Landstrichen am Rande der großen Wüste. Unübersehbar ist aber auch, dass diese Unruhen sich nur schwer in ethnische Kategorien fassen lassen. Dafür steht nicht zuletzt die Familie Nubels. Und schließlich zeichnet sich eine Tendenz ab, die einige Jahrzehnte später verheerende Konsequenzen für das Imperium Romanum zeitigen sollte: Falls Firmus tatsächlich den Augustus-Titel beanspruchte (was – wie angedeutet – nicht ganz sicher, aber immerhin wahrscheinlich ist), so hätte er sich damit bemerkenswerterweise nicht um Anerkennung außerhalb Afrikas bemüht. Ammian zufolge hat er sich sogar «aus der Botmäßigkeit des Reiches losgesagt» (ab imperii dicione descivit); er wollte die von ihm kontrollierte Region also letztlich aus einem einheitlichen römischen Herrschaftsverband herausbrechen – ein Phänomen, das wir im 5. Jahrhundert im Westen des Reiches allenthalben beobachten können, das in Afrika jedoch schon früher eingesetzt zu haben scheint; auch von Firmus’ Bruder Gildo wird berichtet, er habe bei seinem Aufstand 397 / 98, von dem noch zu handeln sein wird, Afrika aus dem Reichsverband herauszulösen versucht (Africam excerptam a societate reipublicae). Auf der politischen Bühne zunehmend unabhängig agierender Einzelpersönlichkeiten, die das Imperium Romanum von innen heraus geradewegs zu zerreißen drohten, war Firmus jedenfalls einer der Ersten, die ihren Hut in den Ring warfen. Hatte er dabei zunächst noch aus einer für ihn alternativlosen Zwangslage heraus agiert, so sollte sich dies für nachfolgende Aufrührer ändern. Sein Bruder Gildo konnte gegen Ende des 4. Jahrhunderts bereits in deutlich größerer Autonomie über das eigene Vorgehen entscheiden.28 Vorerst jedoch war mit der Niederringung des Firmus ein gefährlicher Krisenherd beseitigt. Theodosius hatte guten Grund, sich bei seinem triumphalen, vielleicht allzu anmaßenden Einzug in Sitifis (triumphanti similis) ausgiebig feiern zu lassen. Sein Freund, der einflussreiche Senator Quintus Aurelius Symmachus, während der Firmus-Krise selbst als proconsul Africae aktiv und in der Region mit weiträumigen Landgütern ausgestattet, gratulierte dem siegreichen Feldherrn in einem überschwänglichen Brief. Wenige Monate später jedoch, Anfang 376, wurde Theodosius in Karthago enthauptet. Über die Hintergründe dieser Exekution eines der verdienstvollsten Generäle seiner Zeit ist viel spekuliert worden. Sie lassen sich nicht mehr vollends aufklären, aber vieles deutet darauf hin, dass es nach dem plötzlichen Tod Valentinians I. im Jahr 375 und der Thronerhebung seines erst vierjährigen Sohnes Valentinian II. zu Rangeleien unter den einflussreichsten Persönlichkeiten des Reiches kam, aus denen vor allem der magister peditum (Oberkommandant der Infanterie) Merobaudes gestärkt hervorging – und zu deren Opfern der ältere Theodosius zählte, der zu jenem Zeitpunkt, als die wichtigen politischen Entscheidungen getroffen wurden, unglücklicherweise im fernen Afrika weilte und dadurch keine Möglichkeit besaß, selbst aktiv in die Machtkämpfe einzugreifen.29
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Für das Imperium Romanum sollte sich der Umstand, dass sowohl die ‹Romanus-Affäre› als auch der Firmus-Aufstand letztlich nur begrenzte Gebiete und insbesondere nicht die Kernregionen des römischen Afrika erschüttert hatten, als Glücksfall erweisen. Denn aufgrund der sozialen und religiösen Spannungen, die im 4. Jahrhundert jene Landstriche belasteten, barg jeder noch so zarte Funke die Gefahr, einen veritablen Flächenbrand auszulösen. Und natürlich wurden prominente Persönlichkeiten, die während der betreffenden Dekaden in Nordafrika agierten, unweigerlich in die dort brodelnden Kontroversen hineingerissen, ohne dass wir in jedem Einzelfall entscheiden könnten, ob einzelne Individuen sich das Potential der intern jeweils gut vernetzten religiösen Gruppierungen zunutze gemacht haben, ob es sich eher umgekehrt verhielt oder ob nicht vielmehr beiderseitige Interessen zusammengefunden haben. Romanus jedenfalls stand unter den Donatisten im Ruf eines Verfolgers – er dürfte also die kaiserlichen Richtlinien mit einiger Unnachgiebigkeit exekutiert haben. Ältere Thesen, wonach sich sein Rivale Firmus weithin auf Donatisten und Circumcellionen gestützt habe, sind inzwischen vorsichtig relativiert worden, ohne dass sich letztlich Klarheit darüber gewinnen ließe, wie eng die Verbindungen zwischen ihm und den Donatisten tatsächlich waren. Unmittelbar nach der Niederschlagung des Firmus-Aufstandes wurden die Kaiser jedenfalls wieder gesetzgeberisch gegen die Donatisten aktiv. Darüber hinaus deutet Augustin an, der donatistische Bischof von Rusicade (heute Skikda, Algerien) habe seine Stadt dem Firmus ausgeliefert, doch auch diese Nachricht ist nicht unumstritten. Als entschiedener Widersacher der Donatisten mag Augustin gezielt Verbindungen zwischen seinen kirchlichen Gegnern und dem politischen Aufrührer insinuiert haben.30 Ähnliche Konnexe wurden auch von modernen Historikern hergestellt. So wurde der sogenannte Donatismus unter anderem als Ausdruck einer Revitalisierung indigener, vor allem auf dem Land anzutreffender religiöser Traditionen gedeutet, die separatistische Tendenzen gegenüber dem Imperium Romanum befördert hätten. In dieses Konzept fügte sich der Firmus-Aufstand als vermeintliche Erhebung der einheimischen Berber gegen die Römer trefflich ein, so dass enge Verbindungen zwischen Firmus und den Donatisten von vornherein plausibel erscheinen mussten. Die diesem Konstrukt zugrunde liegende Interpretation des Donatismus steht indes auf tönernen Füßen. Eine ethnische Komponente lässt sich also auch aus dieser Perspektive nicht in die Erhebung des Firmus einbringen, jedenfalls nicht als handlungsleitende Prämisse.31 Dennoch zeichnete sich im Verlauf des 4. Jahrhunderts, wie angedeutet, in zunehmendem Maße ab, dass Nordafrika sich vom imperialen Gesamtverband allmählich entfernte, und die im Kontext der donatistischen Kontroversen entstandenen Verwerfungen dürften in diesem Prozess zumindest eine gewisse Rolle
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gespielt haben. Bezeichnend ist jedenfalls die Tatsache, dass der Donatismus mit der vandalischen Eroberung des Landes rasch an Bedeutung verlor, nachdem er sich seit dem Religionsgespräch von Karthago 411 theologisch ohnehin bereits in einer schwierigen Lage befunden hatte. Die Entfremdungstendenzen gegenüber dem Reichsverband lassen sich aber keinesfalls ausschließlich mit den Auseinandersetzungen um den Donatismus erklären, sondern sie erwuchsen aus den afrikanischen Provinzen insgesamt heraus. Deutlich wird dies vor allem daran, dass sie sich archäologisch zunächst in den Kerneinheiten römischen Lebens, den Städten, abzeichnen.32 Seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert beginnen die Städte Nordafrikas ihr Antlitz zu verändern; betroffen waren zunächst vor allem die öffentlichen Räume. Eine Reihe von fora wurde aufgelassen oder neuen Funktionen zugeführt; parallel dazu dehnten sich genuin christliche Bereiche aus. In Hippo Regius etwa, dem Bischofssitz Augustins, wurde das forum in einen Friedhof umgewandelt (wie überhaupt die Anlage von Gräbern innerhalb der Stadtkerne eine charakteristische Entwicklung dieser Zeit darstellt), andere Städte begannen ihre fora mit Gotteshäusern zu schmücken. Dass mit den fora ausgerechnet die Zentren des politischen Lebens einer antiken Stadt einen tiefgreifenden Transformationsprozess durchliefen – und dies nicht nur vereinzelt, sondern archäologisch breit dokumentiert –, kann keine zufällige Entwicklung darstellen. Ganz offensichtlich nahm ihre Bedeutung als Repräsentationskern städtischer Selbstverwaltung ab; damit wiederum wurde ein entscheidendes Bindeglied zwischen der übergreifenden Administration des Imperium Romanum und der jeweils lokalen Bevölkerung geschwächt. Die Städte Afrikas brachen gewissermaßen aus der imperialen Verankerung, die sich bis dahin in der geradezu obsessiven Aufrechterhaltung traditioneller römischer Institutionen manifestiert hatte, heraus. Den Bewohnern Nordafrikas entglitt das Reich – und umgekehrt. Das bedeutet nicht, dass damit auch die römische Lebenskultur aufgegeben worden wäre – ganz im Gegenteil. So wurde beispielsweise weiterhin größerer Aufwand in die Instandhaltung von Bädern investiert, auf dem Land wurden kontinuierlich Villen mit kunstvoller Mosaikausstattung angelegt und niemand hätte die zentrale Bedeutung des Christentums als Identifikationsmerkmal römischer Zivilisation angezweifelt; noch in vandalischer und postvandalischer Zeit entstanden zudem beachtliche literarische Erzeugnisse. Aber der öffentliche Raum als Nukleus des Politischen schrumpfte seit dem späteren 4. Jahrhundert zusammen. Private Bauten dehnten sich auf Kosten von fora und Straßen aus, und zuletzt – mit der Ankunft der Vandalen – verschwinden auch die Inschriften. Gleichzeitig lassen sich in einigen bis dahin prosperierenden Regionen (etwa im heutigen Tunesien), vor allem aber auch im Westen Nordafrikas, erste Anzeichen für einen Rückgang der Bevölke-
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rung und der Intensität der Landnutzung ausmachen. Damit gingen strukturelle Veränderungen einher, die abermals darauf hindeuten, dass das Imperium Romanum sich in Afrika auf dem Rückzug befand. So scheint der Güteraustausch zwischen der weiterhin vitalen Küstenregion und dem Hinterland zurückgegangen zu sein – offenbar weil Im- und Exporte über das Mittelmeer infolge der allmählichen Destabilisierung des Weströmischen Reiches schwieriger und die afrikanischen Binnenregionen dabei von ihnen abgekoppelt wurden; indirekte Nutznießer dieser Entwicklung waren die Grundbesitzer, die ihre stattlichen Anwesen nun zu veritablen Festungen ausbauten und sich zu lokalen, letztlich unabhängigen Magnaten aufwarfen. Sammac mit seinem stadtähnlichen Gut könnte bereits einer von ihnen gewesen sein. Ein anderer war sein Bruder Gildo. Er überwarf sich nach einer Phase wachsender Spannungen endgültig im Jahr 397 mit der von Stilicho geführten Regierung des Westreiches, lehnte sich demonstrativ an Konstantinopel an (wo Stilicho, wie gesehen, zum hostis erklärt wurde) und trat in den offenen Aufstand. Erneut erschütterten die Eskapaden eines hochrangigen Amtsträgers die Region und dürften zur weiteren Entfremdung der dort ansässigen Bevölkerung vom imperialen Rahmen beigetragen haben; Gildos Erhebung stellte somit gleichermaßen ein Symptom wie einen Beschleunigungsfaktor einer für das Gesamtreich fatalen Entwicklung dar.33 Dabei hatte alles recht vielversprechend begonnen. Als der ältere Theodosius in Afrika den Kampf gegen den Insurgenten Firmus aufnahm, konnte er ausgerechnet auf dessen Bruder Gildo als loyalen Unterfeldherrn zählen. Dieser war der Familie des Theodosius offenbar in irgendeiner Weise näher verbunden, denn um das Jahr 385 / 86 wurde er von dessen Sohn, dem gleichnamigen Kaiser, zum comes Africae berufen und erhielt damit das Oberkommando über sämtliche in dieser Diözese stationierten Streitkräfte – eine wahrhaft umfassende Verfügungsgewalt. Theodosius scheint damals Fingerspitzengefühl mit seiner Personalentscheidung bewiesen zu haben: In einer schwierigen Phase, als er sich zumindest scheinbar ausgleichend auf den Usurpator Magnus Maximus zubewegte, der im Jahr 383 im Westen die Herrschaft an sich gerissen und Gratian in den Tod getrieben hatte, musste ihm daran gelegen sein, zumindest das ressourcenreiche Afrika vor dem direkten Zugriff des Rivalen zu sichern, zugleich aber auch die beanspruchte Vorrangstellung gegenüber dem noch verbliebenen Westkaiser, Gratians Halbbruder Valentinian II., zu unterstreichen. Gildo schien für diese heikle Aufgabe der richtige Mann zu sein, obwohl – oder vielleicht besser: gerade weil – er ebenso gute Kontakte zu Maximus pflegte, an dessen Seite er unter dem Vater des Kaisers gegen Firmus gefochten hatte. Theodosius war dessen selbstverständlich gewärtig; in Afrika scheint er also ganz bewusst auf einen Mann des Ausgleichs
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gesetzt zu haben. Gildo befand sich damit von vornherein in einer komplizierten Lage, aber er machte das Beste daraus und hielt sich als comes Africae zunächst alle Optionen offen. Aus Inschriften wissen wir, dass er sowohl Maximus im Verbund mit Valentinian II., Theodosius und dessen Sohn Arkadios wie auch Maximus allein mitsamt seinem Sohn Victor als Herrscher anerkannte. Möglicherweise unterstützte er den Usurpator sogar durch ein geschicktes Spiel mit den afrikanischen Ressourcen. Ein Verhalten dieser Art lässt sich kaum illoyal nennen, zumal Theodosius selbst seinen Konkurrenten Maximus zunächst unbehelligt walten ließ, ja im Jahr 386 sogar dessen Prätoriumspräfekten Euodius als Konsul akzeptierte. Nicht einmal der Dichter Claudian, der später Stilichos Krieg gegen den «Tyrannen» Gildo in epischen Tönen besang, vermochte für diese Phase von einem offenen Aufbegehren zu sprechen.34 Theodosius dürfte seine Entscheidung indes bald bereut haben, denn sein Vertrauensmann in Nordafrika verstand es geschickt, aus seiner zunächst prekären Situation im Spannungsfeld der Ansprüche dreier konkurrierender Herrscher neue Handlungsspielräume zu gewinnen. Er agierte zunehmend unabhängig. Guten Willens ließ er sämtliche Personalentscheidungen und Gesetze, die Theodosius aus dem fernen Konstantinopel für Afrika erließ, passieren und nahm damit hin, dass seine Gefilde, die eigentlich der italischen Prätoriumspräfektur und damit der Administration Valentinians II. (Mailand) zugehörten, nunmehr vom machtbewussten Theodosius verwaltet wurden (vielleicht infolge einer Übereinkunft zwischen Letzterem und Valentinian II.); doch Gildos faktische Autonomie in Afrika focht dies nicht an. Und so musste Theodosius Wege finden, den immer eigenwilligeren General enger an sich zu binden. Drei Strategien zeichnen sich ab: Zum einen scheint der Kaiser eine Drohkulisse aufgebaut zu haben, indem er in Ägypten Truppen für eine mögliche Intervention in Gildos Machtbereich mobilisieren ließ; dies dürfte den Potentaten am wenigsten beeindruckt haben. Wirkungsvoller war da schon seine Ernennung zum comes et magister utriusque militiae per Africam, die vor dem 30. Dezember 393 erfolgt sein muss – eine ganz außerordentliche Auszeichnung für Gildo, zugleich aber auch sichtbare Demonstration seiner Abhängigkeit vom Kaiser. Den größten Druck dürfte indes ein Heiratsbündnis erzeugt haben, das Theodosius geschickt einfädelte, indem er Gildos Tochter Salvina, die in vornehmen Kreisen immerhin als «hochadelige Ehefrau» (nobilissima coniux) gehandelt wurde, mit Nebridius, dem Neffen seiner eigenen Gattin Flacilla, vermählte und dadurch die ohnehin bestehenden Beziehungen zwischen beiden Familien noch vertiefte. Gildo wurde auf diese Weise in die höchsten Kreise Konstantinopels eingebunden, und die Tatsache, dass das Ehepaar mitsamt seinen beiden Kindern Wohnsitz am Bosporus nahm, verschaffte dem Kaiser überdies potentielle Geiseln, sollte der afrikanische ‹Heermeister› einmal allzu sehr über die Stränge schlagen.35
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Letzterer bemühte sich dessen ungeachtet, die bis dahin gewonnenen Handlungsspielräume weiter auszubauen. Als Theodosius 394 gegen den Usurpator Eugenius zu Felde zog und Gildo um Unterstützung ersuchte, verweigerte dieser die Stellung von Truppen, ja ließ – wie schon im Fall des Magnus Maximus – vielmehr zu, dass der Usurpator gewissen Einfluss auf Afrika nehmen konnte (Einsetzung von Amtsträgern, Sicherung der Getreidezufuhr Roms), und wartete ansonsten den Ausgang des Bürgerkrieges in sicherer Entfernung ab.36 Mit Theodosius’ unerwartetem Tod im Januar 395 änderten sich jedoch schlagartig die Rahmenbedingungen. Die sich rasch zuspitzenden Rivalitäten zwischen Mailand und Konstantinopel brachten Gildo in eine prekäre Lage, denn sein Machtbereich gehörte weiterhin formal zum Westteil des Imperium Romanum, doch hatte er sich unter Theodosius’ Herrschaft persönlich allzu eng an Konstantinopel binden lassen, und die nunmehr aufbrechenden Konflikte erforderten auch vom comes Africae eine Positionierung. Gildo entschied sich für Konstantinopel; dort befand sich seine Familie, dort hatte er über Salvina seine Kanäle in das Haus des Theodosius und das Umfeld des neuen Kaisers Arkadios etabliert, von dort hatte er Gesetze und Befehle entgegengenommen, von dort war seine Politik auch nach dem Ableben des Theodosius weiterhin unterstützt worden. An Stilicho hingegen band ihn nichts, und spätestens, als Konstantinopel diesen im Jahr 397 zum hostis erklärte, bestand überhaupt kein Grund mehr, ihm weiter die Treue zu halten und dadurch die engen Verbindungen nach Konstantinopel, wo mit Arkadios immerhin der senior Augustus residierte, abzubrechen. Gildos ‹Aufstand›, den Claudian als Usurpation eines finsteren Barbaren beschrieb, bestand also schlicht darin, dass der comes Africae sich im Ringen der beiden Kaiserhöfe für Konstantinopel entschied, obwohl das von ihm verwaltete Gebiet formal Mailand unterstand.37 Sichtbarer Ausdruck dieser Entscheidung war die Tatsache, dass Gildo im Jahr 397 die Getreidezufuhr für Rom aussetzte und sich demonstrativ Arkadios unterwarf. Daraufhin entschied man in Mailand, Gildos Bruder Mascezel mit Truppen auszustatten und dem Insurgenten, der selbstverständlich seinerseits zum hostis publicus erklärt wurde, entgegenzusenden. Mascezel, ein glühender Christ, hatte schon unter Firmus gegen Gildo gekämpft und harrte nach einer weiteren Familientragödie im Hause Nubels des Momentes der Rache. Denn Gildo hatte seine Kinder ermordet. Im Frühjahr 398 trafen die stilichotreuen Einheiten Mascezels beim Fluss Ardalio (in der Nähe von Theveste, Nordostalgerien) auf Gildos Armee; dieser aber wurde von seinen Soldaten verlassen – glaubt man Orosius, so liefen zunächst seine ‹römischen› Truppen zum Gegner über, dann flohen die ‹Barbaren›. So brach der Aufstand innerhalb weniger Monate in sich zusammen. Gildo versuchte zu entkommen – bezeichnenderweise nicht zu ‹seinen› Berbern,
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sondern per Schiff nach Konstantinopel. Aber es blieb beim Versuch. Sein Schicksal verliert sich im Dunkel der Überlieferung. Er wurde entweder exekutiert (Orosius) oder starb durch Selbstmord (Zosimos), gegen seine Anhänger (Gildonis satellites) erfolgte ein Strafgericht. Um sicherzugehen, dass von Nubels Familie in Zukunft kein weiteres Unheil mehr ausgehen würde, ließ Stilicho später auch Mascezel ermorden.38 Erneut hatte Afrika eine schwere Erschütterung bestehen müssen. Wie schon im Fall des Firmus wurde in der Forschung über die Ursachen der Erhebung spekuliert, und einmal mehr zeichnete sich rasch das Bild eines Aufbegehrens ‹der› Berber gegen ‹die› Römer ab. Entsprechende Deutungen können mit Claudians unvollendetem Epos De bello Gildonico allerdings nur auf den ersten Blick einen Kronzeugen anführen. Ganz ähnlich wie schon Ammian die Ereignisse um Firmus schematisch als Aufeinandertreffen von Römern und Barbaren verzeichnet und dabei auf Erzählmuster älterer römischer Historiographie (Tacitus zum Tacfarinas-Aufstand, Sallusts Bellum Iugurthinum) zurückgegriffen hatte, so lehnt sich auch Claudian an traditionelle Vorbilder an, lässt ‹Völker› mit anachronistischen Namen aufmarschieren, akzentuiert seinerseits einen Gegensatz zwischen Barbaren (bzw. Mauren) und Römern und stattet Gildo mit geläufigen Versatzstücken antiker Tyrannentopik aus. Der Lobdichter Stilichos benötigte diese stereotype Stilisierung umso mehr, als er ja die wahre Ursache der Erhebung, den Konflikt zwischen Mailand und Konstantinopel, in den Gildo als allzu selbständig agierender regionaler Truppenführer hineingezogen worden war, nach Möglichkeit verschleiern musste. Aus diesem Grund hebt er im Bellum Gildonicum auch die vermeintliche Eintracht der beiden Kaiser im Kampf gegen den Aufrührer geradezu beschwörend hervor. An anderer Stelle jedoch muss auch Claudian eingestehen, dass letztlich vor allem die Auseinandersetzungen zwischen den beiden römischen Kaiserhöfen den fatalen Verlauf der Ereignisse in Afrika beschleunigt haben, wenn er explizit Konstantinopel die Schuld daran gibt.39 Einmal mehr hatte sich mit Gildo nicht ein einheimischer «Maure» gegen eine römische Zwingherrschaft aufgelehnt, sondern lediglich ein ambitionierter Aristokrat sein Blatt überreizt. Wie schon sein gescheiterter Bruder Firmus hatte Gildo offenbar die Hoffnung gehegt, in Afrika einen möglichst eigenständigen Herrschaftsraum aufzubauen. Nachdem es ihm über Jahre hin möglich gewesen war, dieses Vorhaben voranzutreiben – die fehlende Selbständigkeit Valentinians II. und die Usurpationen des Maximus und Eugenius, die Theodosius zum vorsichtigen Taktieren nötigten, hatten seine Spielräume erweitert –, erzwang der Streit zwischen Mailand und Konstantinopel schließlich auch von ihm eine klare Positionierung und damit letztendlich eine militärische Intervention der weströmischen Regierung in Afrika. Wie Alarich wurde somit auch Gildo im Ringen
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um Anerkennung und Unabhängigkeit zugleich vom Konkurrenzkampf der beiden Kaiserhöfe zerrieben. Jegliche Form von Berberromantik wäre hier fehl am Platz – im Gegenteil: Als spätrömischer Aristokrat war Gildo derart wohlhabend, dass nach der Konfiskation seines überbordenden Landbesitzes sogar ein eigener Amtsträger zu dessen Verwaltung geschaffen werden musste, der comes Gildoniaci patrimonii. Ohnehin dürfte Land ein wichtiger Faktor im Kontext der GildoErhebung gewesen sein. Zahlreiche italische Senatoren besaßen größere Güter in Afrika und waren mit den dortigen Eliten eng verbunden. Diese Netzwerke und ihre materiellen Grundlagen erschienen offenbar nach Gildos sichtbarer Hinwendung zu Konstantinopel unmittelbar bedroht. Insofern ist nicht auszuschließen, dass die energische Intervention Stilichos in Afrika auch auf Drängen der betroffenen Senatoren erfolgte.40 Religionspolitisch gilt Gildo als Anhänger der Donatisten und enger Vertrauensmann des donatistischen Bischofs Optatus von Thamugadi (Timgad, Algerien), der nach dem Ende der Revolte im Gefängnis starb. Auch hier ist allerdings Vorsicht geboten, denn unser Hauptzeuge für diese Einschätzung heißt wiederum Augustin, und der Bischof von Hippo, der in den Donatisten vornehmlich Gildonis satellites sieht, ist in dieser Angelegenheit bekanntlich keine unverdächtige Autorität. Möglicherweise war die Anhängerschaft Gildos unter den sogenannten Donatisten also begrenzter, als es auf den ersten Blick erscheint, und wenn er sich ihnen tatsächlich in besonderem Maße zugewandt haben sollte, so könnte dies schlicht aus dem Umstand resultieren, dass sie in den 390er Jahren die Mehrzahl unter den nordafrikanischen Christen bildeten.41 Tatsache ist jedoch, dass sich unter seiner Herrschaft einige Donatisten radikalisierten und der Konflikt auf eine weitere Zuspitzung hinsteuerte. All die Angebote, die den Donatisten bei verschiedenen Gelegenheiten unterbreitet wurden (Konzil von Hippo 393, Konzilien von Karthago 397, 401 und 403) und ihnen eine Eingliederung in die katholische Kirche ermöglichen sollten, wurden rigoros abgelehnt. Die Verhärtungen, die möglicherweise von verschärften Gewaltakten der Circumcellionen begleitet wurden, wirkten sich auch auf Augustinus aus, der seine zunächst konziliante Position allmählich aufgab und seit der Jahrhundertwende sogar staatliche Zwangsmittel befürwortete. In diesem Zusammenhang gelangte auch die berüchtigte Wendung coge intrare («zwinge sie, einzutreten») zur Geltung, eine Verschärfung des compelle intrare («dränge sie, einzutreten»), mit dem im Vulgata-Text die Formulierung ἀνάγκασον εἰσελθεῖν («nötige sie, einzutreten») aus dem Gleichnis vom großen Abendmahl (Lk 14,23) wiedergegeben worden war. Augustin schuf damit eine argumentative Basis für rigide Zwangsmaßnahmen, mit der in späteren Jahrhunderten wiederholt brutale Gewalt gegen Häretiker und Ketzer gerechtfertigt werden sollte. Parallel dazu
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arbeitete der Kirchenvater allerdings auch seine Ekklesiologie aus, indem er – unter anderem unter Rückgriff auf Gedanken des donatistischen Theologen Tyconius – die Kirche als ein corpus permixtum konzipierte, in dem auch Sünder ihren Ort fänden, da die Trennung zwischen Unkraut und Weizen erst mit dem Jüngsten Gericht erfolge – ein entschlossener Gegenentwurf zum rigoristischen Kirchenverständnis der Donatisten. Auch in der Sakramentenlehre versuchte Augustin den Donatisten ihre Argumentationsgrundlage zu entziehen, indem er Christus als wahren Spender der Sakramente verankerte und damit die Frage nach der moralischen Qualifikation des vollziehenden Priesters für irrelevant erklärte. Augustins Auseinandersetzung mit den Donatisten in den beiden Dekaden um die Wende zum 5. Jahrhundert entwickelte insofern Konsequenzen, die für die weitere Geschichte der christlichen Kirche und Theologie von fundamentaler Bedeutung waren.42 Die sogenannten Donatisten, intern mittlerweile in unterschiedliche Fraktionen zerfallen und seit den 390er Jahren mit starken Persönlichkeiten wie Aurelius von Karthago (Bischof seit 391) und Augustinus von Hippo konfrontiert, gerieten nach der Gildo-Revolte aber auch aus anderer Richtung zunehmend unter Druck. Nachdem die katholische Seite im Jahr 404 den Kaiser um Anwendung der Häretikergesetze auf die Donatisten ersucht hatte, erging am 12. Februar 405 das sogenannte Unionsgesetz des Honorius. Es rief die Kircheneinheit aus, erklärte die Donatisten endgültig zu Häretikern (d. h. sie wurden nicht mehr nur als Schismatiker angesehen, was als weniger bedenklich galt) und verfügte scharfe Maßnahmen gegen sie: unter anderem die Überführung ihres kirchlichen Eigentums an die katholische Kirche, das Verbot ihrer Gottesdienste und der Wiedertaufe, die Exilierung renitenter Kleriker. Damit waren neue Rahmenbedingungen geschaffen worden, die von vornherein ein Ungleichgewicht auf der Konferenz von Karthago Anfang Juni 411 erzeugten – einem Religionsgespräch, das die kaiserliche Regierung wohl auch infolge der desolaten Lage in Gallien nach dem Rheinübergang barbarischer Verbände 406 / 07 und der Eroberung Roms durch Alarich 410 angeordnet hatte. Wenigstens in Afrika, der Kornkammer Roms, sollten stabile Verhältnisse halbwegs aufrechterhalten werden. Dem hohen Amtsträger (tribunus et notarius) Flavius Marcellinus, ein Freund Augustins, kam die Aufgabe zu, die Veranstaltung zu leiten, auf der es der katholischen Seite unter maßgeblicher Mitwirkung des Bischofs von Hippo gelang, zentrale Positionen der Donatisten, darunter die ein Jahrhundert zuvor erhobenen Vorwürfe gegen Caecilian von Karthago, zu entkräften. Die auf den drei Sitzungstagen vorgebrachten Stellungnahmen wurden protokolliert und den Akteuren jeweils zur Unterschrift vorgelegt; auf diese Weise bieten uns die großenteils erhaltenen Aufzeichnungen (gesta) einen singulären Einblick in den Verlauf der Verhandlungen. Am 8. Juni
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411 endete das Religionsgespräch mit einem vollständigen Sieg der katholischen Seite um Augustinus. Marcellinus bestätigte umgehend die weitere Geltung der antidonatistischen Gesetze, wenige Monate später scheiterten die Donatisten auch mit einem Revisionsantrag. Von nun an verloren sie zunehmend an Einfluss. In ganz Afrika, so hält Orosius fest, seien der katholischen Kirche Friede und Einheit (pax et unitas) zurückgegeben, die Spaltung überwunden worden. Das sei vor allem dem umsichtigen Wirken des Marcellinus zu verdanken gewesen.43 Und wie bereits der ältere Theodosius nach seinen Erfolgen gegen Firmus fiel auch Marcellinus wenig später, am 13. September 413, durch das Richtschwert des Henkers. Er war nicht zuletzt ein Opfer der sich allmählich überschlagenden Ereignisse in der Umgebung des matten Kaisers Honorius nach Stilichos Tod im Jahr 408 geworden. Das Machtvakuum, das der einflussreiche magister militum hinterlassen hatte, versuchten in rascher Folge mehrere Figuren erfolglos auszufüllen – zunächst sein unmittelbarer Rivale, der magister officiorum Olympius, dann der praefectus praetorio Italiae Jovius, nach ihm der kaiserliche Kammerherr (praepositus sacri cubiculi) Eusebius, den wiederum der magister militum Allobich beseitigte, bevor er seinerseits ein blutiges Ende fand. Erst dem General Constantius, der später als Constantius III. kurzfristig den Thron besteigen sollte (Februar bis September 421), gelang es, eine stabile Position zu errichten; er hatte dem umtriebigen Olympius die Ohren langgezogen und bei dieser Gelegenheit auch gleich abgeschnitten, den Konkurrenten dann totschlagen lassen. Wichtiger für seinen Aufstieg waren aber seine militärischen Erfolge gegen den Usurpator Konstantin (III.) (407–411) in Gallien (davon wird noch zu handeln sein), daneben auch seine entschiedenen Maßnahmen mit Blick auf Nordafrika. Dort hatte im Jahr 408 ein gewisser Heraclianus das Amt des comes Africae antreten dürfen, wohl als Belohnung für seinen Mut, bei der Ermordung Stilichos das Schwert geführt zu haben. Heraclianus dankte dem Kaiser seine Beförderung zunächst mit unverbrüchlicher Treue: Als der von Alarich im Jahr 409 eingesetzte Marionettenusurpator Priscus Attalus zur Festigung seiner und der Goten Position auf Afrika zuzugreifen suchte, hielt Heraclianus die Diözese auf der kaiserlichen Seite und trug mit der Sperrung der Kornzufuhr nach Rom sowie der Ermordung von Priscus’ Emissär Constans sogar maßgeblich dazu bei, dass die Herrschaft des römischen Senators eine überschaubare Episode blieb. Gleichzeitig vermochte er mit dieser Handlungsweise aber auch die Bedeutung Afrikas und des dort residierenden comes mit eindrucksvoller Wucht zu demonstrieren. Einmal mehr bahnte sich nun dort die Herrschaft eines zunehmend unabhängig schaltenden Militärs an. Die Eroberung Roms wenige Monate später konnte Heraclianus gelassen aus der Distanz verfolgen; dass sich in diesem Zusammenhang Scharen von Flüchtlingen in seinen Verfügungsbereich ergossen, dürfte seine Stellung nur
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noch weiter gestärkt haben. Der Kirchenvater Hieronymus (347–420) beklagt sich bitterlich über die Behandlung der Heimatlosen durch den comes, der immerhin im Jahr 413 das Konsulat erreichte und nun nach den Sternen griff. Es war wohl weniger das Bestreben, selbst den Kaiserthron zu besteigen, als vielmehr die Furcht vor dem zunehmenden Einfluss des Constantius auf Honorius, die Heraclianus diesen letzten Schritt gehen ließ: Mit einer stattlichen Flotte von angeblich 3700 Schiffen (was sicherlich übertrieben ist) segelte er nach Italien, um persönlich in die erbittert geführten Rangeleien am Hof zu Ravenna einzugreifen. Dort erwartete ihn allerdings der kaisertreue Feldherr Marinus, der dem Aufrührer entgegentrat und ihn auf seiner Flucht zurück bis nach Karthago verfolgte. Der gescheiterte Prätendent wurde zum hostis publicus erklärt und noch im Jahr 413 umgebracht – ein Donnerhall, den man selbst im fernen Konstantinopel registrierte. Marinus veranstaltete sogleich einen mörderischen Rachefeldzug gegen Heraclianus’ Getreue – oder jene, die er dafür hielt. Im Verlauf dieser Hinrichtungswelle fiel auch der Kopf des Marcellinus, ohne dass wir über die Hintergründe Näheres wüssten. Zu spät wurde der übereifrige Marinus ausgebremst und in den Ruhestand versetzt, Marcellinus immerhin posthum rehabilitiert. Der Machtkampf zwischen Heraclianus und Constantius war jedenfalls zugunsten des Letzteren entschieden. Er durfte 414 das Konsulat bekleiden und finanzierte die in diesem Jahr besonders aufwendigen Antrittsfeiern aus dem ihm vom Kaiser übereigneten Vermögen des Heraclianus. Deutlicher konnte man seinen Sieg im aristokratischen Wettstreit nicht zum Ausdruck bringen.44 Mit Heraclianus hatte einmal mehr ein allzu ambitionierter General die afrikanischen Provinzen als Ausgangsbasis für einen gefährlichen Aufstand gewählt. Der Umstand, dass Zeitgenossen ihn nicht mit anderen Usurpatoren jener Jahre, wie Konstantin (III.) oder Priscus Attalus, auf dieselbe Stufe stellten (er wird nur vereinzelt als tyrannus bezeichnet), deutet nicht nur auf die zunächst wohl eher begrenzten Ziele des Heraclianus hin (Widerstand gegen Constantius’ Aufstieg), sondern vor allem auch auf die Sonderstellung Afrikas. Dennoch ist Heraclianus, um seine Interessen durchzusetzen, deutlich weiter gegangen als seine ‹Vorgänger›; keiner von ihnen hatte es gewagt, das römische Machtzentrum direkt anzugreifen. Dies illustriert nicht nur, welche Auswirkungen dessen allmähliche Erosion, insbesondere nach der symbolbeladenen Eroberung Roms 410, zeitigte; es verweist auch erneut auf die zunehmende Entfremdung zwischen Zentrum und Peripherie – das Fundament, auf dem die rasche Eroberung zentraler nordafrikanischer Gebiete durch die Vandalen wenige Jahre später aufruhen sollte.45 Heraclianus war indes keineswegs der letzte jener unduldsamen afrikanischen Potentaten des ausgehenden 4. und frühen 5. Jahrhunderts. Ihre Reihe endet mit dem comes Africae Bonifatius, dessen Karriere sich wie die seines Vorgängers
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ebenfalls nur dann erschließt, wenn man sie in ihren Verschlingungen mit den übergreifenden Entwicklungen im Reich betrachtet.46 Nachdem es Constantius nicht zuletzt über die Ausschaltung seines Rivalen Heraclianus gelungen war, sich längerfristig als ‹Heermeister› (magister utriusque militiae) im Westen zu etablieren, stieg er rasch zum neuen Hoffnungsträger in desolaten Zeiten auf. Bereits ein flüchtiger Blick in die schwelgerischen Verse des zeitgenössischen Dichters Rutilius Namatianus genügt, um zu erahnen, welche Hoffnungen und Erwartungen damals in den Feldherrn gesetzt wurden, dem einige zutrauten, den auseinanderfallenden Westen des Imperium Romanum, das Britannien bereits aufgegeben hatte und in Gallien und Spanien seit 407 mehr oder weniger hilflos die Plünderungszüge barbarischer Verbände hinnehmen musste, wieder zu konsolidieren. Als es Constantius tatsächlich gelang, die ehemaligen Alarich-Goten unter ihrem König Wallia 418 /19 in Aquitanien anzusiedeln und eine Neuorganisation Südgalliens einzuleiten, schien ein seliges Zeitalter anzubrechen. Schon zuvor war der römische Hoffnungsträger mit den höchsten Ehrungen eingekleidet worden. Dazu zählte die Auszeichnung als patricius, die fortan in Kombination mit dem ‹Heermeister›-Titel ein zentrales Fundament der Machtstellung ambitionierter Generäle bilden sollte; am Tag des Antritts seines zweiten Konsulats (1. Januar 417) durfte er gar die Prinzessin Galla Placidia, Tochter des großen Kaisers Theodosius I. und 410 von den Goten aus Rom entführt, ehelichen. Honorius war sich durchaus darüber im Klaren, was er an dem geschickten Feldherrn hatte, der nicht zuletzt seinem eigenen Regiment neue Sicherheit zu verschaffen wusste, und erhob ihn nolens volens am 8. Februar 421 zum Mitkaiser. Zeitgenossen waren überzeugt, dass sich nun alles zum Guten wenden müsse. Doch dann verstarb die Lichtgestalt nach kurzer Herrschaft bereits im September an einer Krankheit – und abermals begann der mörderische Machtpoker um den weitgehend handlungsunfähigen Honorius.47 Es gelang jetzt dem magister militum Castinus – trotz eines demütigenden Misserfolgs gegen die Vandalen in Spanien 422 –, die Hoheit über das neu eröffnete Spiel zu erringen. Er gewann die Gunst des Kaisers und manövrierte dabei selbst die ambitionierte Galla Placidia aus, die schließlich, als es gar zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Faktionen in Ravenna kam, um ihr Leben fürchten und mit ihren Kindern Honoria und Valentinian Zuflucht in Konstantinopel suchen musste. Theoretisch hätte Castinus zu diesem Zeitpunkt bequem in die Fußstapfen Stilichos und Constantius’ III. treten können, aber es kam anders. Denn Honorius erlag am 15. August 423 einem Leiden – und nun wurde es spannend. Wie würde Konstantinopel, wo seit 408 Honorius’ Neffe Theodosios II. die Herrschaft innehatte, auf die Thronvakanz in Ravenna reagieren?48
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Zunächst einmal: gar nicht. Vielleicht wurden am Bosporus unterschiedliche Szenarien diskutiert, vielleicht kam es dort zu Kontroversen über das weitere Vorgehen, vielleicht hatte man aber auch schlicht beschlossen, das Reich wieder unter einem einzigen Kaiser – Theodosios II. – zu vereinen. Für den Westen jedenfalls vergingen Monate qualvollen Wartens auf eine Nachricht aus dem Osten – doch nichts dergleichen geschah. Castinus versuchte seine Stellung zu festigen, doch ihm erstand in Afrika ein mächtiger Rivale: Bonifatius. Letzterer hatte sich unter Constantius im Heer hochgedient und sollte 422 Castinus im Kampf gegen die Vandalen in Spanien unterstützen. Es kam indes zu Konflikten zwischen den beiden Generälen, in deren Folge Bonifatius von Castinus abfiel und sich nach Afrika absetzte, wo er – zunächst ohne höhere Legitimation – die comitiva Africae übernahm, die Ravenna aber offenbar bereits 423 anerkannte. Als nun Castinus nach dem Tod des Kaisers und infolge des Schweigens am Bosporus seine eigene Position zu festigen suchte, intervenierte Bonifatius, indem er sich zum Fürsprecher Galla Placidias und ihres Sohnes, des 419 geborenen Knaben Valentinian (III.), aufwarf und die Getreidelieferungen nach Italien zurückhielt. Der dadurch erzeugte Druck führte dazu, dass am 20. November 423, vielleicht mit Unterstützung oder zumindest der Duldung des Castinus, ein ziviler Amtsträger des Honorius, der primicerius notariorum Johannes, zum Kaiser erhoben wurde. Nun endlich reagierte Konstantinopel, denn eine Ablösung der theodosianischen Dynastie im Westen wollte man keinesfalls hinnehmen, und so erfolgte eine militärische Intervention mit dem Ziel, den ungeliebten Sohn der Kaisertochter Galla Placidia und des (im Osten nie anerkannten) Constantius III. – nämlich Valentinian III. – in Ravenna auf den Thron zu heben. Johannes wurde im Jahr 425 gestürzt und beseitigt, und auch Castinus, der unter dem Usurpator 424 das Konsulat bekleidet hatte, war hinreichend kompromittiert, um mit ihm unterzugehen. Alles deutete darauf hin, dass Bonifatius, der Afrika erfolgreich gegen den Zugriff des Johannes verteidigt hatte, nunmehr der neue starke Mann hinter dem Kinderkaiser Valentinian III. (425–455) werden würde. Aber wieder kam es anders.49 Die oströmische Administration, die kein Hehl daraus machte, dass Valentinian III. ein Kaiser von Theodosios’ Gnaden war, wollte vertrauenswürdige Personen in den höchsten Ämtern sehen. Bonifatius aber hatte sich durch sein eigenmächtiges Verhalten während des Feldzuges gegen die Vandalen 422 und durch seine Unterstützung Galla Placidias und Valentinians in einer Phase, als man in Konstantinopel offenbar eher über eine Zusammenführung der Reichshälften unter der Herrschaft Theodosios’ II. nachdachte, als unzuverlässiger Abenteurer desavouiert. Das ‹Heermeister›-Amt mitsamt dem patricius-Titel wurde daher dem bis dahin völlig unbekannten Felix übertragen, Bonifatius mit der Würde
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eines comes domesticorum vertröstet. In hellem Zorn begab sich der Gedemütigte von Ravenna zurück nach Afrika, und jedem war klar, dass Felix’ Position auf höchst wackeligen Füßen ruhen musste, solange Bonifatius die wichtige Diözese kontrollierte und ein weiterer ambitionierter Feldherr, über den noch zu sprechen sein wird – Aetius –, nicht hinreichend in das neue Machtgeflecht eingebunden war.50 Felix blieb somit kaum eine andere Wahl, als auf seiner Autorität zu beharren und energisch gegen Bonifatius vorzugehen, sofern er überhaupt Aussichten auf eine dauerhafte Machtstellung gewinnen wollte. Er berief den comes Africae daher ab, was dieser selbstverständlich ignorierte. Nun mussten die Waffen sprechen. Unter den Kommandeuren Mavortius, Gallio und Sanoeces scheiterte 427 eine erste Intervention in Afrika, wo Bonifatius seine Position zunehmend festigen konnte. Erfolgreicher gestaltete sich ein zweiter Anlauf 427 /28, dieses Mal unter dem comes Sigisvult, dem es immerhin gelang, Bonifatius aus Karthago zu vertreiben, wenngleich er ihn nicht endgültig niederzuringen vermochte. Die Folgen dieses innerrömischen Waffengangs legten sich schwer über die afrikanischen Provinzen. Berberüberfälle nahmen zu, die Zivilbevölkerung wurde von den umherziehenden Soldaten drangsaliert, der Klerus protestierte gegen das homöische Bekenntnis, dem Sigisvult ebenso wie Ehefrau und Tochter des Bonifatius anhingen, von Spanien aus drohte eine Invasion der Vandalen, die bereits Sevilla erobert hatten (425) und mit ihrer Flotte die Balearen und Mauretanien plünderten. Der heraufziehende Feuersturm war kaum mehr zu übersehen. In dieser Situation blieb lediglich die Aufnahme von Verhandlungen, und diese endeten in einer Wiedereinsetzung des Bonifatius in das Amt des comes Africae – und damit einer massiven Schwächung der Position des Felix, der denn auch im Jahr 430 ermordet wurde. Aber auch Bonifatius hatte innerhalb und außerhalb Afrikas Kredit verspielt; vom Osten aus wurde er weiterhin mit Argusaugen beobachtet, und im Westen konnte der zukünftige starke Mann Aetius sein Scheitern kaum erwarten. Der Bürgerkrieg hatte die afrikanischen Provinzen in einem desolaten Zustand zurückgelassen, wie wir dem Briefwechsel Augustins entnehmen können. Weder Bonifatius noch einem anderen Amtsträger war es vergönnt, die erforderlichen Wiederaufbauarbeiten anzugehen. Im Mai 429 setzten 80 000 Menschen, vorwiegend Vandalen und Alanen, unter der Führung Geiserichs über die Meerenge von Gibraltar nach Afrika über und begannen ihren Zug entlang der Mittelmeerküste nach Osten.51 Die Geschichte des spätantiken römischen Afrika, einer der wohlhabendsten Regionen des Imperium Romanum, lässt sich als schleichender, doch zunehmend manifester Entfremdungsprozess schreiben. Vielleicht waren sich die Verantwortlichen in der römischen Reichsorganisation angesichts der weitgehenden
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Ruhe, die in den nordafrikanischen Provinzen herrschte, ihrer Sache allzu sicher und ließen die Amtsträger vor Ort in einer Weise gewähren, die Sonderidentitäten förderte und die Anbindung an das Gesamtgefüge schwächte. Die Aufstände und Unruhen, die wir beschrieben haben, wirken jedenfalls wie eine sich allmählich verengende Spirale, aus der es schließlich kein Entrinnen mehr gab: Als die Vandalen im Land standen, brach binnen kürzester Zeit jeglicher Widerstand zusammen. Ohne Zweifel lassen sich Romanus, Firmus, Gildo, Heraclianus und Bonifatius nicht uneingeschränkt miteinander vergleichen oder gar als Repräsentanten einer linear verlaufenden Entwicklung verstehen. Jeder von ihnen handelte aus anderen Motivlagen heraus und sah sich mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen konfrontiert. Dennoch stehen ihre Erhebungen für eine zunehmend um sich greifende Tendenz, die Sonderstellung Nordafrikas innerhalb des Reiches zu verstärken und damit indirekt eine Herauslösung der Region aus dem Imperium Romanum zumindest als Möglichkeit vorzubereiten; dies zeigt sich insbesondere an Heraclianus und Bonifatius, gerade weil ihre Aufstände nur vor dem Hintergrund ihrer engen Verflechtung mit der Reichspolitik verständlich sind. Hinzu kamen die massiven sozialen Spannungen und die mit ihnen zumindest teilweise zusammenhängenden scharfen religiösen Kontroversen. Sie mögen Entfremdungseffekte bei der lokalen Bevölkerung ausgelöst haben, die sich durch das ungeschickte Agieren so manchen Amtsträgers (Romanus!) verstärkt haben könnten. So wurde das römische Afrika in der Spätantike vor allem von innen heraus zunehmend destabilisiert. Mit der ‹Völkerwanderung› lässt sich diese Entwicklung in ihren frühen Stadien zunächst noch nicht in Verbindung bringen; wir haben gesehen, dass auch die Nubel-Söhne Sammac, Firmus und Gildo zwar einerseits als mächtige Berberführer aufzutreten vermochten und insofern organisch in die indigenen Kontexte eingebunden waren, sich andererseits aber im Lichte unserer literarischen Quellen ganz im Handlungszusammenhang spätrömischer Aristokraten bewegten. Die Destabilisierung der Landstriche nördlich der Sahara entfaltete indes eine Dynamik, die für Rom bald nicht mehr kontrollierbar war. Die Ankunft der Vandalen markiert nur einen der Höhepunkte innerhalb dieses Prozesses. Er wurde vor allem gekennzeichnet durch gefährliche Neuformierungen der Berber, die allmählich den Druck auf die Südgrenze des Imperium Romanum erhöhten und gerade in der Vandalenzeit dann einen permanenten Gefahrenherd darstellten.52 Vorboten dieser Entwicklung zeichneten sich bereits seit dem späteren 4. Jahrhundert ab, nicht zuletzt in den Überfällen der Austurianer auf die Umgebung von Leptis Magna (s. o.). Unmittelbarer Auslöser ihrer Attacken könnten schwere Erdbeben in den 360er Jahren gewesen sein, die möglicherweise zu einer Ressourcenverknappung und daraus resultierenden Unruhen geführt haben – so
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jedenfalls eine Vermutung, die in der Forschungsliteratur diskutiert wird. Ob damit aber auch die tiefere Ursache für die zunehmenden Übergriffe benannt ist, bleibt fraglich. Denn nicht nur Leptis Magna wurde im ausgehenden 4. Jahrhundert bedroht; seit 405 (bis mindestens 412) kam es in der Kyrenaika (Pentapolis) zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der römischen Bevölkerung und mobilen Berbergruppen, wohl ausgelöst durch eine unglückliche Reform der regionalen Militärorganisation – aber wiederum ist fraglich, ob dabei Anlass und Ursache zusammenfallen, zumal vereinzelte Überfälle auch schon in den Jahren unmittelbar zuvor verzeichnet werden. In den südlichen Randgebieten des römischen Afrika brachen 417 Unruhen aus – offensichtlich eine mittelfristige Folge der Wirren, die Heraclianus ausgelöst hatte. Sie wurden von Bonifatius energisch bekämpft, doch dieser verstrickte sich, wie gesehen, selbst in Bürgerkriege, die erneute Angriffe der Berber auslösten, so dass Augustin gar pathetisch von einer «Verwüstung Afrikas» (vastatio Africae) durch Barbaren sprechen konnte.53 Mögen es auch immer wieder konkrete Anlässe gewesen sein, die einzelne Übergriffe und Attacken auslösten, so ist doch unverkennbar, dass der Druck berberischer Verbände auf das römische Afrika in der Spätantike insgesamt zunahm. Dahinter steht auch ein im 4. Jahrhundert einsetzender Neuformierungsprozess unter den Berbern, dessen Verlauf wir mangels eindeutiger Zeugnisse nur schwer nachvollziehen können, der aber sicherlich in einem Wechselverhältnis mit jenem Phänomen, das wir als ‹Entfremdung› umschrieben haben, wirkte und letztlich in die Errichtung berberischer Kleinkönigreiche in vandalischer bzw. postvandalischer Zeit mündete. Im Zusammenhang dieser komplexen Veränderungen scheinen sich neue, größere Konföderationen stabilisiert zu haben, wie etwa die Laguatan, zu denen wohl auch die Austurianer zu rechnen sind. Große Gebiete, die zunächst unter Kontrolle der Römer standen oder zumindest von ihnen beansprucht wurden, gingen dabei verloren bzw. durchliefen einen Retribalisierungsprozess (vor allem die Mauretaniae Caesariensis und Tingitana), d. h. es kam zur Neuetablierung und Verfestigung traditioneller Stammesstrukturen. Letztere waren nie ganz verloren gegangen, sondern lediglich in unterschiedlichem Maße zurückgedrängt worden. Dies könnte nicht zuletzt auch aus besonderen Bedingungen der Landnutzung in den Kernregionen des römischen Nordafrika resultiert haben. Ein inschriftlich erhaltenes Gesetz, die lex Manciana, sah die Möglichkeit vor, dass Kleinbauern (coloni) zu bestimmten Bedingungen (u. a. Abgabe eines Drittels des Ertrages) freies Land für sich beanspruchen und sogar vererben durften, wenn sie bereit waren, es zu kultivieren. Dieses System, das in einer lex Hadriana noch weiter ausdifferenziert wurde, führte zur Ausdehnung landwirtschaftlich genutzter Flächen sowie größerer Anwesen – vielleicht auf Kosten der regionalen Stammesgruppen, deren Gebiete dadurch eingeschränkt
Das Imperium entfernt sich 3.2
wurden und die sich deshalb zunächst weiter zurückziehen mussten. Wie auch immer man die Auswirkungen der lex Manciana auf die Landnutzung einschätzen mag – in der Spätantike jedenfalls kehrte sich der beschriebene Prozess tendenziell um. Das römische Kernland in Nordafrika (Africa Proconsularis, Byzacena, das heißt im Groben das heutige Tunesien) wurde nun zunehmend von Berberverbänden eingekreist, deren Druck sich gerade die Vandalen nur mit äußerster Mühe erwehren konnten, ohne dabei entscheidende Erfolge zu erzielen. Jetzt gerieten ausgerechnet sie in die Rolle derjenigen, welche die römische Lebensweise gegen noch unzivilisiertere Barbaren zu verteidigen hatten – so sah es im 6. Jahrhundert jedenfalls der oströmische Historiograph Prokop. Die permanente Auseinandersetzung mit den Berbern entwickelte sich zu einem gravierenden Strukturproblem des Vandalenreiches.54 Nicht nur der skizzierte Entfremdungsprozess und die damit einhergehenden, sich kontinuierlich verstärkenden Konflikte mit berberischen Gruppen schufen indes die Ausgangsbasis für die überraschend leichten Erfolge, die die Vandalen in Afrika zunächst erringen konnten. Hinzu kamen übergreifende Probleme, die sich als gravierende Hemmnisse für die Handlungsfähigkeit des spätrömischen Reiches und seiner Repräsentanten erwiesen: So lähmten insbesondere die religiösen Konflikte im 4. und frühen 5. Jahrhundert die Administration Afrikas auf allen Ebenen; gerade die Auseinandersetzungen um die sogenannten Donatisten und ihre Untergruppen, um die Circumcellionen, aber auch Verwerfungen zwischen Nizänern und Homöern forderten ihren Tribut. Letztere markierten einen klanggewaltigen cantus firmus, der die gesamte Vandalenzeit begleiten sollte, aber eben schon zuvor durchaus scharfe Dissonanzen barg, wie etwa die Kritik an Pelagia, der Frau des Bonifatius (und später des Aetius) belegt, die vom ‹Arianismus› zum nizänischen Katholizismus konvertierte, ihre Tochter jedoch von einem homöischen Priester taufen ließ. Neben den quälenden religiösen Kontroversen dürften aber auch die sich seit dem Tod des Theodosius I. zuspitzenden Differenzen zwischen den beiden römischen Kaiserhöfen im Osten und im Westen ihren Anteil am faktischen Ausscheiden Afrikas aus dem Reichsverband seit 429 gehabt haben. Gildo jedenfalls wurde ganz ähnlich wie Alarich nahezu zwangsweise in die Konflikte hineingerissen, und auch Bonifatius geriet vor allem deshalb in eine prekäre Situation, weil er als Gehilfe Galla Placidias den politischen Interessen, die man am Hof Theodosios’ II. verfolgte, nicht genehm war. So erweist sich der Einmarsch der Vandalen unter Geiserich in das römische Afrika letztlich als Resultat eines komplexen Bündels verschiedener miteinander verflochtener Ursachen. Sie alle bewirkten aber vor allem eines: dass die ehemals wohlhabendste Region im Westen des Römischen Reiches nicht in der Lage war, sich gegen die Eindringlinge, deren Ankunft sicherlich keine allzu große Über-
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Kapitel III Afrika – Verwundbare Südgrenze des Römischen Reiches
raschung darstellte, angemessen zu verteidigen. Insofern stellte die Vandaleninvasion in weit geringerem Ausmaß, als immer wieder zu lesen ist, eine echte Zäsur dar. Vielmehr erweist sie sich als logische Konsequenz eines langwierigen Entfremdungsprozesses, der zu tiefgreifenden sozialen und politischen Verschiebungen geführt hatte und bei dem sich weniger die Frage stellte, ob Afrika aus dem Reichsverband ausscheiden würde, sondern vielmehr wann und in welcher Weise. Die Antwort gab im Jahr 429 der Vandale Geiserich.55
KAPITEL IV
Jenseits des Bosporus: Der Osten des Römischen Reiches
4.1
Der Aufstieg der Sa- sa- niden, das strategische Dilemma Roms und die Araber
4.1.1 Ein Kaiser kommt der Welt abhanden - IV DerSaOsten des Rom Römischen Reiches 4.1 sa niden, und dieKapitel Araber
Im dritten Feldzug, als Wir gegen Karrhai und Edessa vorstießen und Karrhai und Edessa belagerten, (da) marschierte Kaiser Valerian gegen Uns, und es war mit ihm […] (eine Heeres)macht (von) 70 000 (Mann). Und auf der jenseitigen Seite von Karrhai und Edessa hat mit Kaiser Valerian (eine) große Schlacht für Uns stattgefunden, und wir nahmen Kaiser Valerian mit eigenen Händen gefangen und die übrigen, den Prätorianerpräfekten und Senatoren und Offiziere, (alle) welche auch immer Führer jener (Heeres)macht waren, alle diese ergriffen wir mit den Händen und deportierten sie in die Persis. Und die Provincia Syria und die Provincia Cilicia und die Provincia Cappadocia brandschatzten und verwüsteten und erbeuteten und eroberten Wir. In jenem Feldzug eroberten Wir aus dem Reich (der) Römer […] alle diese Städte mit ihren (jeweiligen) Umländern: 36 (an Zahl).1
Kaum jemand konnte sich großartigerer Erfolge gegen die römische Übermacht rühmen als der persische Herrscher Shapur (Šābuhr) I. (239 /40–270 / 72). In eindrucksvoller Erhabenheit kündet in Naqš-i Rustam, der Grabstätte achaimenidischer Großkönige bei Persepolis, nahe der heutigen Stadt Schiras (Iran), eine dreisprachige Inschrift (in Mittelpersisch, Parthisch und Griechisch) von seinen überwältigenden Siegen gegen die Römer, namentlich gegen die Kaiser Gordian III. (238–244), Philippus Arabs (244–249) und Valerian (253–260). Gordian
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Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches Ne
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Smyrna Sardes Teos Kolophon Ephesos Maiandros
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Alexandreia Antiocheia
Kreta Laodikeia Paphos
Zypern
Apameia Epiphania
Salamis
Arados Emesa Marathos Tripolis Byblos Libanon Heliopolis (Baalbek)
Mittelmeer
Sidon Tyros
Damaskus
Akkon
(Ptolemais)
Gerasa Samaria Sichem Philadelphia
(Amman)
Paraitonion
(Marsa Matruh)
Jerusalem
(Rosette) Pharos Alexandreia
(Abukir)
Pelusion
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Gaza
Naukratis Heliopolis/On (Kairo) Memphis
(Sakkara)
Ammonium (Oase Siwa)
Aila il
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Karte 10 Der Osten des Römischen Reiches
Rotes Meer
Aqaba
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Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1 (Tiflis)
Schwarzes Meer
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Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
Abb. 12 Naqš-i Rustam, Ka‘ba-i Zardušt 266
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
Abb. 13 Triumphrelief Shapurs I. aus Bīšāpūr (Shapur reitet über den gefallenen Kaiser Gordian III.)
hatte während eines Feldzuges gegen die Perser den Tod gefunden, wodurch sein Nachfolger Philippus in prekärer Lage zu einem demütigenden Friedensschluss (εἰρήνην αἰσχίστην) gezwungen worden war. Höhepunkt der persischen Erfolge aber war die Verschleppung Valerians in der Nähe der römischen Stadt Edessa (heute Şanlıurfa, Südosttürkei) im Jahr 260 – die erste und einzige Gefangennahme eines römischen Kaisers überhaupt. Mit Valerian gerieten zahlreiche hochrangige Amtsträger und Aristokraten, darüber hinaus auch Handwerker und Ingenieure und natürlich Tausende von Soldaten in die Gewalt der Perser. Shapur siedelte sie in seinem eigenen Reich an. Das Schicksal Valerians verliert sich im Dunkeln, er starb als Gefangener und steht damit für eine Schmach, die sich für immer in das Gedächtnis der Römer einbrennen sollte. Angeblich diente sein Rücken dem sāsānidischen Großkönig als Hilfe beim Besteigen seines Pferdes; nach Valerians Tod, so hieß es, habe Shapur dem Unglücklichen gar die Haut abziehen, sie rot einfärben und in einem Tempel ausstellen lassen – all dies war möglicherweise nicht lediglich Ausdruck der ganzen Abscheu, mit der man sich des gedemütigten Kaisers, der zudem Christen verfolgt hatte, bald erinnern sollte, sondern könnte tatsächlich dem persischen Herrscher zur Demonstration seines unfassbaren Erfolges gedient haben. Ein Triumphrelief aus Bīšāpūr (bei Kāzerūn, Iran) fasst Shapurs Ruhmestaten gegen die Römer synchron in einem Bild zu-
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Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
Abb. 14 Triumphrelief Shapurs I. aus Naqš-i Rustam (Shapur, zu Pferd vor dem knienden Kaiser Philippus Arabs, packt den Arm des gefangenen Kaisers Valerian)
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sammen: Aufrecht auf einem Pferd sitzend trampelt der Perser über den gefallenen Gordian; vor ihm fleht Philippus auf Knien um Frieden, hinter ihm steht Valerian, dessen angeblich eigenhändige Gefangennahme Shapur durch den kräftigen Griff um seine Handgelenke versinnbildlicht.2 Schwere Zeiten waren für das Imperium Romanum angebrochen. Knapp ein Jahrzehnt zuvor war Kaiser Decius auf dem Schlachtfeld von Abrittus gegen die Goten gefallen (251). Usurpationen, regionale Sezessionsbewegungen, Seuchen und wirtschaftliche Turbulenzen rissen das Reich in jenen Strudel, der allgemein als ‹Krise des 3. Jahrhunderts› bekannt ist und deren Höhepunkt man häufig in der Gefangennahme Valerians gesehen hat; erst in den 260er und 270er Jahren gelangen Herrschern wie Gallienus (260–268), Claudius II. Gothicus (268–270), Aurelian (270–275) und Probus (276–282) mühevolle Konsolidierungen, die durch die Reformen Diokletians und Konstantins dann systematisiert und verstetigt wurden, so dass das Imperium Romanum seit Beginn des 4. Jahrhunderts mit erneuertem Antlitz an Stabilität gewann.3 Die Ursachen für die schwierige Lage, in die das Römische Reich vor allem um die Mitte des 3. Jahrhunderts trudelte, sind vielfältig. Der Druck auf die Grenzen nahm zu – vor allem im Westen und Norden aufgrund jener soziopolitischen
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
Veränderungen im Barbaricum, die, wie skizziert, zur Ausbildung größerer und schlagkräftiger Verbände führten. Sie erforderten die Mobilisierung umfangreicherer Ressourcen an der Peripherie, und die unmittelbar bedrohten Regionen suchten ebenso wie die Soldaten die Nähe zum Kaiser. War ein solcher nicht vor Ort, so konnte er nun immer rascher ausgerufen werden und musste sich dann im unweigerlich nachfolgenden Bürgerkrieg gegen seinen Vorgänger behaupten. In atemlosem Tempo wechselten die Herrscher über das Römische Reich in dem halben Jahrhundert zwischen dem Ende der severischen Dynastie (235) und der Thronbesteigung Diokletians (284). Nicht weniger als 70 Personen – solche, die wir in der Rückschau als legitim betrachten, und solche, die wir Usurpatoren nennen – rangen in jenen Dekaden um den Kaiserthron, und nur den wenigsten von ihnen war ein natürlicher Tod vergönnt. Wären lediglich die Flussgrenzen an Rhein und Donau bedroht gewesen, hätten die etablierten Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Ordnung wahrscheinlich noch greifen können; die verhängnisvolle Zuspitzung erfolgte indes durch den Umstand, dass Rom in ein strategisches Dilemma geriet. Denn nicht nur an Rhein und Donau oder auch im Schwarzmeerraum wurde man mit neuen, ressourcenzehrenden militärischen Herausforderungen konfrontiert, sondern auch im Osten. In den 20er Jahren des 3. Jahrhunderts wurde mit Artabanos IV. der letzte Herrscher des zerfallenden Partherreiches – bis dahin der wichtigste Nachbar des Imperium Romanum im Osten – gestürzt. An seine Stelle trat Ardashir (Ardaxšīr) I. (224–239 /40), der erste Großkönig aus dem Haus der Sāsāniden. Ihm und seinen Nachfolgern gelang eine grundlegende Neustrukturierung des Reiches, und in den persischen Sāsāniden erwuchs Rom fortan ein machtvoller Rivale, Partner und Gegner im Osten, der erst um die Mitte des 7. Jahrhunderts im Gefolge der arabischen Expansion von der historischen Bühne weichen sollte.4 Bereits unter Ardashir I. trat ein neues Moment persischer Außenpolitik zutage: eine kraftvoll-expansive Programmatik, die sich vor allem gegen das Römische Reich richtete – ob aus einer ideologischen Anlehnung an die einstige Größe der von Alexander d. Gr. gestürzten persischen Achaimeniden (6.–4. Jahrhundert v. Chr.) heraus oder aus anderen Gründen (Legitimation der neuen, gewaltsam an die Macht gelangten Dynastie durch spektakuläre kriegerische Erfolge), ist umstritten. Rom jedenfalls sah sich plötzlich mit einem im Vergleich zu den Parthern weitaus aggressiveren und wirkungsvolleren Gegner konfrontiert; das aber löste einen Jahrzehnte währenden Mehrfrontenkrieg aus: War ein Kaiser gerade an Rhein oder Donau aktiv, so drohten die Sāsāniden sogleich die Entblößung der Ostgrenzen auszunutzen – und umgekehrt. Erst im ausgehenden 4. Jahrhundert ließ sich zumindest ein temporärer Ausweg aus diesem strategischen Dilemma finden (weil der äußere Druck auf beide Großreiche zunahm, s. u.), und
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Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
270
nicht zuletzt der nachhaltige Umstrukturierungsprozess, den das Imperium Romanum zwischen dem 3. Jahrhundert und der Spätantike durchlaufen hat, dürfte zumindest in Teilen durch die neuen Herausforderungen im Osten mit erzwungen worden sein.5 Dass Rom im Osten ungleich gefährlichere und effizienter organisierte Nachbarn besaß als im Westen, war Zeitgenossen seit langem bekannt – spätestens nachdem M. Licinius Crassus im Jahr 53 v. Chr. mit einem gewaltigen Truppenaufgebot in der Schlacht bei Karrhai (Ḥarrān) untergegangen war und dabei auch noch die symbolträchtigen römischen Feldzeichen verloren hatte. Erst Augustus war es durch kluge Diplomatie geglückt, diese gemeinsam mit den letzten überlebenden Gefangenen wieder auszulösen (20 v. Chr.), ein Schachzug, der in der herrscherlichen Repräsentation ebenso sorgsam orchestriert wurde wie später auf der anderen Seite die Gefangennahme Valerians. Römisch-parthische Kriege wurden auch in den beiden nachfolgenden Jahrhunderten geführt, aber am Tiber wusste man nun um die Schlagkraft des Gegners, und Situationen von der Brisanz wie jene des Jahres 53 v. Chr. sollten sich daher nicht mehr wiederholen. Die entscheidende Veränderung der geopolitischen Lage brachte in den 220er Jahren der erwähnte Sturz des letzten parthischen Arsakiden durch die Sāsāniden, die aus lokalem persischen Adel im Partherreich hervorgegangen waren. Der erste sāsānidische Šāhānšāh («König der Könige»), Ardashir I., wurde nach letzten Kämpfen gegen die Reste der parthischen Herrschaft im Jahr 226 zu Ktesiphon auf den Thron gehoben, und die neue Dynastie setzte sogleich eine ungeheure Dynamik frei. Ardashir I. und Shapur I., seinem Sohn und Nachfolger, glückte eine umsichtige Gratwanderung zwischen Reform und Kontinuität. Ältere, schwerfällige Strukturen des Partherreiches wurden neu organisiert; Zentralisierungsmaßnahmen halfen, die gewaltigen Ressourcen des Reiches zu bündeln und auf die Herrscher zu konzentrieren, deren Position durch eine enge Kooperation mit der in den unterschiedlichen Phasen der Sāsānidenzeit mitunter mächtigen zoroastrischen Priesterschaft sowie durch die Etablierung einer unverhohlen expansiven Herrschaftsprogrammatik gestärkt wurde. Auf diese Weise wurden die materiellen und ideologischen Voraussetzungen für das Vorgehen gegen das Imperium Romanum geschaffen, das, wie angedeutet, von einer enormen, für Zeitgenossen überraschenden Aggressivität gekennzeichnet war und Rom sogleich in verzweifelte Abwehrkämpfe verstrickte.6 Bereits Ardashir I. ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der sāsānidischen Programmatik aufkommen. Angeblich soll er an Kaiser Severus Alexander (222– 235) die Forderung gerichtet haben, Rom solle sich aus Syrien und Kleinasien zurückziehen, und bereits in den Jahren 230–232 unternahm er einen ersten Vorstoß auf römisches Gebiet, der allerdings von Alexander Severus abgewehrt wer-
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
den konnte. Doch dessen Ermordung im Jahr 235 und die nachfolgenden Unsicherheiten schufen die Gelegenheit für neue Angriffe. In diesen Kontext gehört der Zug Gordians III., der römische Städte, die von den Sāsāniden erobert worden waren, zurückgewinnen und die Perser auf eigenem Territorium stellen wollte. Sein Unternehmen scheiterte. Nicht erst nach Gordians Tod verbreiteten die Sāsāniden Angst und Schrecken im gesamten römischen Osten. Der von Philippus 244 geschlossene Friede wurde bereits 252 von Shapur I. gebrochen. Wichtige Städte hatten in jenen Jahren unter den Auseinandersetzungen zu leiden, so die syrische Metropole Antiocheia, aber auch Nisibis, Karrhai, Hatra, Hierapolis und zahlreiche weitere. Den Höhepunkt der persischen Erfolge markierte schließlich die Gefangennahme Valerians. Die Perser befanden sich auf dem Gipfel ihrer Macht – Rom lag am Boden. Aber es erholte sich: Diokletian (284–305) und Galerius (305–311) gelang es, die Lage zu stabilisieren; beim Friedensschluss von Nisibis im Jahr 298 agierte das Imperium Romanum erstmals wieder aus einer Position der Stärke heraus. Fortan begegnete man sich militärisch auf Augenhöhe, mit jeweils wechselnden Erfolgen. Konstantin starb, bevor er seinen geplanten Feldzug gegen Shapur II. (309–379) in die Tat umzusetzen vermochte; Julian (360–363) fiel in einem Scharmützel auf persischem Gebiet, sein Nachfolger Jovian (363 / 64) war dadurch gezwungen, den Sāsāniden die strategisch bedeutende Grenzfestung Nisibis abzutreten.7 Wohl im Jahr 387 kam es schließlich zu einer Teilung Armeniens, womit einer der Hauptstreitpunkte zwischen den beiden Großmächten zumindest nominell beigelegt werden konnte. Immer wieder hatten sich bis dahin die militärischen Auseinandersetzungen auf Armenien hin zugespitzt (und auch nach 387 blieb diese Region umstritten). Das Land lag strategisch wichtig für den Zugang zum Kaukasus, weshalb sowohl Rom als auch die Perser sich um die Absicherung von Einflusssphären bemühten. Und noch ein weiterer Punkt barg zumindest in der Spätantike Konfliktpotential: die Sicherung der sogenannten Kaukasischen bzw. Kaspischen Tore – ein Engpass im Kaukasus, der wiederholt als Einfallspforte für Plünderscharen aus Mittelasien gedient hatte und an dessen Verteidigung beide Mächte naturgemäß ein reges Interesse besaßen. Die konkrete militärische Überwachung des Gebietes übernahmen die Perser, ließen sich dies aber von den Römern teuer bezahlen. Letztere wiederum waren eifrig darum bemüht, dem Eindruck entgegenzuwirken, sie seien den Sāsāniden tributpflichtig, und so kam es vermutlich seit 363 zu okkasionellen Geldzahlungen an die Perser, um die Kontrolle der Kaukasuspässe zu gewährleisten. Der Umstand, dass einzelne persische Großkönige diese Zahlungen ihrerseits als römische Tributpflicht interpretierten und entsprechende Forderungen an die Kaiser richteten, bot mitunter Anlass für neue militärische Konfrontationen. Nicht zuletzt der römisch-persische Krieg
271
Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
272
502–506 resultierte aus einer derartigen Situation; bis in das späte 6. Jahrhundert sind Geldforderungen an die Römer bezeugt.8 Nach dem Friedensschluss Jovians 363 und der formellen Einigung über Armenien beruhigte sich die Lage an der römisch-persischen Grenze immerhin bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts. Den Grund für diese außergewöhnlich lange Friedenszeit, die nur durch kurz aufflackernde Kriege in den Jahren 421 /22 und 440 /41 temporär gestört wurde, wird man allerdings nicht in grundsätzlich veränderten Haltungen gegenüber dem jeweiligen Nachbarn sehen können. Die Sāsāniden waren ebenso wenig von ihren Ansprüchen abgerückt, wie die Römer selbstverständlich weiterhin die Herrschaft über den gesamten bewohnten Erdkreis, die Oikoumene, postulierten. Aber ein gewisser Pragmatismus prägte nun die Beziehungen zwischen beiden Mächten. Der grenzüberschreitende Austausch florierte, Handel wurde über offiziell vereinbarte Posten abgewickelt (z. B. Nisibis, später auch Dara), diplomatischer Kontakt gepflegt, der gegenseitige Respekt spiegelte sich im Zeremoniell, römischer und persischer Kosmos beeinflussten sich gegenseitig. Allein die Perser wurden unter all den Barbaren, die das Imperium Romanum umgaben, als gleichwertige Gesprächspartner anerkannt. Dem Gelehrten und Diplomaten Petros Patrikios erscheinen im 6. Jahrhundert die beiden Monarchien als zwei strahlende Augen (der Welt); im wechselseitigen Schriftverkehr bezeichneten sich beide Herrscher als «Brüder» – man verkehrte also auf gleicher Ebene miteinander.9 Freilich waren im 5. Jahrhundert beide Parteien geradezu zum Frieden gezwungen. Die Römer waren seit 375 vor allem im Westen in zunehmende Abwehrkämpfe gegen andringende Barbaren verstrickt; der Westen verlor dabei allmählich seine territoriale Integrität und schließlich auch das Kaisertum. Das Oströmische Reich konnte sich zwar halten, doch auch dort blieb man von den allgemeinen Entwicklungen nicht unberührt, und insbesondere in den 440er Jahren kostete die Auseinandersetzung mit den Hunnen immense Ressourcen. Das strategische Dilemma der Römer, das mit dem Aufstieg der Sāsāniden seinen Anfang genommen hatte, bereitete also auch im Osten während des 5. Jahrhunderts Mühen, wenngleich vielleicht nicht in demselben Ausmaß wie im 3. Jahrhundert. Aber es war den Mitlebenden immerhin so weit gewärtig, dass die oströmische Administration einen Mehrfrontenkrieg auch unter Inkaufnahme beträchtlicher Kosten (Geldzahlungen vor allem an Hunnen und Perser) unbedingt zu vermeiden suchte. Mit einer ähnlich gefährlichen geopolitischen Lage wie Rom sahen sich indes auch die Perser konfrontiert, und nur deshalb gewannen die Jahrzehnte des Friedens im 4. und vor allem 5. Jahrhundert überhaupt an Stabilität. Mehr noch als die Römer, die ihr Territorium zunächst durch einen Ring barbarischer Verbände, die
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
als Puffer dienten, vor gefährlichen Angriffen aus der eurasischen Steppenzone abzusichern vermochten, waren die Sāsāniden dieser Bedrohung ausgeliefert, denn ihr Reich grenzte im Norden und Osten über Tausende von Kilometern direkt an die Graslandzone und war daher den Einfällen berittener Kriegergruppen in weitaus höherem Maße ausgesetzt als das Imperium Romanum. Im 5. Jahrhundert waren es vor allem die (H)ephthaliten (auch als ‹Weiße Hunnen› bekannt) – ein Verband, der damals einen weit ausgreifenden Herrschaftsbereich jenseits des Kaspischen Meeres mit Zentrum in Sogdien und Baktrien errichtet hatte –, die den Persern zu einer fundamentalen Bedrohung erwuchsen, zumal seit 464 Dürren und Hungerkrisen an den Ressourcen des Sāsānidenreiches zehrten. Der Großkönig Perozes (Pērōz) I. (459–484), über lange Jahre hin in Auseinandersetzungen mit den Hephthaliten verstrickt, fiel 484 im Kampf gegen sie – ein Ereignis, das eine schwere Krise im Perserreich auslöste. Einer seiner Nachfolger, Kabades (Kavād) I. (488–497; 499–531), konnte sich gegen seine innenpolitischen Gegner nur durch ein Bündnis mit den Hephthaliten durchsetzen, brachte sich auf diese Weise aber in fatale Abhängigkeiten und suchte die dadurch erforderlichen Geldsummen von den Römern zu erpressen – woraus schließlich der römisch-persische Krieg 502–506 resultierte.10 Römer und Perser waren im 5. Jahrhundert also geradezu zum Frieden gezwungen, und der Grund dafür beruhte in einer geopolitischen Gesamtkonstellation, die durch die Koordinaten der ‹Völkerwanderung› bestimmt wurde. Dass die oströmische Regierung mit Beginn des 6. Jahrhunderts erneute militärische Konfrontationen wagte, resultierte dementsprechend aus einer Verschiebung dieser Koordinaten: Unter Anastasios (491–518) setzte sich offenbar die Einsicht durch, dass der ehemalige Westen des Imperium Romanum ohnehin verloren war, größere Kraftanstrengungen in dieser Hinsicht daher nutzlos und angesichts der generellen Lage auch nicht erforderlich erschienen. Man konnte sich also auf den Osten konzentrieren und gegenüber den neuerlichen Forderungen der Perser nicht nur Härte zeigen, sondern gar einen Krieg riskieren. Als Justinian (527–565) hingegen im Jahr 531 den ‹Ewigen Frieden› mit den Sāsāniden schloss, vertraute er allzu gutgläubig auf dessen Stabilität und blickte – in Abwendung von der Politik des Anastasios – wieder auf den Westen. Diesen Fehler nutzte Chosroes (Xusrō) I. (531–579) im Jahr 540 gnadenlos aus, indem er den Frieden brach und das Römische Reich erneut in einen Mehrfrontenkrieg verwickelte. Damit begann eine Serie neuer römisch-persischer Konflikte, die schließlich auch die Ressourcen der Sāsāniden derartig erschöpften, dass sie nach der Niederlage gegen Byzanz 628 dann zu Beginn der 640er Jahre den Arabern weichen mussten.11 273
Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
Schwarzes Meer Amaseia
Ankyra
Archaiopolis Mcheta ˇ V I R U Cˇ A N Ugarma
Neokaisareia
Hałhał
Satala
Sebasteia
Kaspisches Meer ARDAN Ałuen
ˇ A R M I N A / Vałarsapat ARMENIA
Partav
Garni ´
Kaisareia
SIGAN
Ikonion
Van-See
Antiocheia
Nisibis A R B AY E S TA N Arbela/Arbıl
Hierapolis
es rat ph
Eu
Emesa
Dura
Hatra
(240/41 von Sasaniden erobert)
Gandzak
GILAN
SYARZUR
Amol
N O D Sˇ I R A G A N
Karka d Bet Selok [Paikulı]
Ram Peroz/Rag
GARMAKAN Eran-asan-kart-Kafat/ Hulwan
Dast-Kart ˇ
Tyros
Adurbadagan
ADURBADAGAN
Edessa
Mittelmeer
Urmia-See
Tigris
Tarsos Seleukeia
Kapałak
BALASAGAN
MAD
ASURESTAN
Bostra
Ktesiphon/Tısifon
Kaisareia
Tigris
HUZESTAN Bet Lapat
[Qa’in/al-Hawarnaq]
MAISAN [Furat Maisan]
[Tang-e Boraq] ˇ Rustam] [Naqs-i ˇ [Bısapur]
Gor
Rotes Meer
274
Sasanidenreich (um 270) Römisches Reich (im 4. Jh.) Grenze zum Römischen Reich (im 3. Jh.) Hauptstadt Residenz/Provinzhauptstadt Hafen Straße Fundort bedeutender mitteliranischer Inschriften (bis zum 3. Jh.) Bet Lapat. mitteliranischer Name Dura sonstige Sprachen [Siraf ] späterer bzw. moderner Name
Karte 11 Das Reich der Sāsāniden
[Sıraf ]
Persischer Golf Hagar
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
Westtürken [Kat]
Samarkand
O
xo
s
Merv
WIRKAN MARV ˇ Aparsahr/Nev-Sahpuhr ˇ
K U Sˇ A N Sˇ A H R PART
Kavul
ˇ Paskibur
HAREV
ˇ [Ramsahristan] [Haggıabad] ˘˘ ˇ Ragab] [Naqs-i
SAGESTAN
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du
Stahr
In
KIRMAN TURESTAN PARADAN [Hormuz]
MAKURAN
HINDESTAN
Straße von Hormuz
[Ad-Dur]
Golf von Oman
Mazun
MAZUN
[Masqat]
Arabisches Meer 0
100
200
300 km
275
Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
4.1.2 Bündnisse, Befestigungen, Allianzen mit den Söhnen der Wüste: Roms Antwort auf die sa-sa-nidische Bedrohung
276
Die Römer benötigten Jahrzehnte, um sich angemessen auf die permanente Bedrohung aus dem Osten einzustellen. Seit dem 4. Jahrhundert zeichnet sich ab, dass man letztendlich wieder auf bewährte, allerdings den regionalen Gegebenheiten angepasste Instrumente zurückgriff: die systematische Anlage von Befestigungen und Garnisonen sowie die Kontaktaufnahme mit regionalen Eliten außerhalb des römischen Territoriums, die auch im Osten wichtige Defensivfunktionen für das Reich wahrnehmen sollten. Nach ersten Konsolidierungsmaßnahmen unter Aurelian, Probus und Carus wurden vor allem unter Diokletian und seinem Caesar Galerius entscheidende Schritte zur Grenzsicherung in die Wege geleitet. Die Tetrarchen sahen eine ihrer Hauptaufgaben darin, nach langen Jahren steter Unsicherheit das Imperium Romanum als Ganzes durch Stabilisierung der Grenzen wieder in ruhigeres Fahrwasser zu überführen (nicht zuletzt der Donauraum profitierte davon in besonderem Maße, s. u.). Als zudem im Jahr 298 die Perser vorerst niedergerungen waren, konnten gerade im Osten die Aktivitäten noch einmal intensiviert werden. Unter Rückgriff auf Strukturen, die schon Jahrhunderte zuvor, namentlich unter den Kaisern Vespasian (69–79) und Septimius Severus (193–211), etabliert worden waren, wurden nun Heeres- und Handelsstraßen ausgebaut und durch Ketten von Kleinkastellen (vorwiegend vom Typus quadriburgium) gesichert. Die bekannteste unter ihnen, die sogenannte strata Diocletiana, führte vom Legionslager Sura (am Euphrat, nahe dem heutigen ar-Raqqa in Nordsyrien) über ar-Ruṣāfa (Resafa) / Sergiopolis, Palmyra und Damaskos bis zum Legionslager Bostra (Bosra, Südsyrien). Sie fand ihre Fortsetzung in einer weiteren Nord-Süd-Verbindung, die von Bostra im Hawrān bis Aila (heute Aqaba, Jordanien) am Roten Meer reichte und schon in der Spätantike als limes Arabicus bekannt war. Ammian weist ausdrücklich auf die umsichtigen Befestigungen im römisch-arabischen Grenzgebiet hin. Verstärkt wurde die Kastellkette – der «innere Limes» – durch einzelne, in die Steppe bzw. Wüste vorgeschobene Forts, deren Besatzungen die Bewegungen persischer Truppen und nomadischer Gruppen beobachteten. Auf diese Weise sollten die wohlhabenden Städte im römischen Syrien und an der Levanteküste, stets verlockende Ziele für Beute- und Kriegszüge, erneut an Sicherheit gewinnen. Die Anlage der Befestigungen erfolgte parallel zum Neuzuschnitt der römischen Provinzen und zur Einrichtung spezieller Militärbezirke; so wurde die Region innerhalb des arabischen Limes einem dux Arabiae unterstellt, der neben den Grenzgarnisonen auch mobile Reiterreserven
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1 Samosata (Samsat) ? Nisibis
Edessa (Urfa)
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Antiocheia Tell el Hagg ˘˘ Antakya Dibsı Farag˘ Meskene
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(Bosra)
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Sa’ane Bostra
Gerasa
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Diyatheh Quttein Imtan Kahf
W ad
i
Legionslager Kastell
Außenposten
1. Hälfte 1. Jh. 2. Hälfte 1. Jh. 1. Hälfte 2. Jh. 2. Hälfte 2. Jh. 1. Hälfte 3. Jh. unbestimmt
Straße
VI A N OVA TR A I A N A
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l-Druz bel e
Aseikhin Hallabat Azraq Philadelphia n Uweinid S i r h a (Amman)
Massada Muhattet el-Haj Arad Leijun Elusa Nessana Mezad Tamar Mampsis Bint Oboda Da’ajaniya Petra Udruh
ARABIA
Dura Europos
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(Tadmor)
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Damaskos
Kaisareia
Palmyra
fragliche Straße
Higaz
Khalde Kithara
0
Hisma
Karte 12 Die römisch-arabische Grenzregion
50
100
150 km
Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
kommandierte. Ihr Aktionsradius umfasste eine tiefgestaffelte Grenz- und Kontaktzone, in der persische Angriffe ebenso wie – vor allem in den südlicheren Gebieten – Beutezüge der Araber abgefangen werden sollten. Der Chronist Johannes Malalas resümiert entsprechend im 6. Jahrhundert: «Es baute aber eben dieser Diokletian auch am Limes Kastelle von Ägypten bis hin zu den Grenzen des Perserreiches; er setzte in ihnen limitanei (Grenztruppen) ein, wobei er auch Vorsorge insofern traf, als er für jede Provinz duces bestellte, die von den Kastellen ins Land hinein mit einer großen Streitmacht verlegt waren, um jeweils zur Hilfe ausrücken zu können». In ihrem Verlauf vom Euphrat bis zum Roten Meer folgte die Grenzzone ungefähr dem Rand jenes Gebietes, in dem mit 200 mm pro Jahr noch hinreichend Niederschläge fallen, um Ackerbau ohne aufwendige Bewässerungsmaßnahmen zu betreiben, d. h. des Fruchtbaren Halbmonds. Südlich dieses Streifens, in der Syrischen Wüste und im Norden der arabischen Halbinsel, lebten hingegen (teil-)nomadische Gruppen, die – ähnlich wie in Nordafrika – die ansässige Bevölkerung und Verwaltung mit ganz eigenen Herausforderungen konfrontierten.12 Die Grenzzone im römischen Osten war also recht breit und trug damit dem Umstand Rechnung, dass auch hier eine strikte, lineare Trennung von sesshaften und nomadischen Lebensformen schlechterdings nicht möglich war. Die Übergänge (z. B. verschiedene Formen des Teilnomadismus) waren fließend und banden römische und nichtrömische Bevölkerungsteile eng aneinander; insbesondere die nichtsesshaften Gruppen waren auf die Möglichkeit, Agrarprodukte zu erwerben, angewiesen. Im römischen Osten bildeten sich also ganz eigentümliche Grenzgesellschaften heraus, wie sie, selbstverständlich mit differenten Signaturen, auch im Nordwesten und Süden anzutreffen sind.13 Im Verlauf des 3. Jahrhunderts hatten Angriffe arabischer Gruppen auf römische Gebiete zugenommen. Die Relevanz des Problems geht nicht zuletzt aus dem Umstand hervor, dass Diokletian den Arabern um das Jahr 290 persönlich entgegentrat. Selbstverständlich zeichnen unsere antiken Gewährsleute auch diese in den üblichen Kategorien der Barbarentopik. So lässt etwa der Kirchenvater Hieronymus den Asketen Malchos von einem Araberüberfall, der sich um 350 zugetragen haben muss, berichten:14
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Wenn man nahe von Beroia (heute Aleppo) nach Edessa (Şanlıurfa) reist, dann liegt in der Nähe der öffentlichen Straße eine Einöde, welche Sarazenen (= Araber), die ohne festen Wohnsitz sind, ständig nach allen Richtungen hin durchstreifen. Aus Furcht vor ihnen schließen sich die Reisenden in jenen Gegenden zusammen, um durch vereinten Widerstand die drohende Gefahr abzuwenden. In meiner Begleitung waren Männer, Frauen, Greise, Jünglinge und Kinder, im Ganzen ungefähr siebzig Personen. Plötzlich stürzten, auf Pferden und Kamelen reitend, Ismaeliten (= Araber) gegen uns heran, mit flatterndem Haar, das Haupt mit einem Turban
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
umwunden. Halbnackt waren sie, nur bekleidet mit einem Mantel und weiten Schuhen. Von der Schulter hing der Köcher herab, während die schlaffe Bogensehne schwirrte; auch trugen sie lange Speere. Jedoch waren sie nicht gekommen, um zu kämpfen, sondern um Beute zu machen. Wir wurden ausgeraubt, zerstreut und nach allen Richtungen verschleppt. […] Zusammen mit einer Frau kam ich bei der Verteilung der Beute in den Dienst desselben Herrn. Hoch oben auf den Kamelen wurden wir weggeführt oder vielmehr geschleppt. Durch die Wüste hindurch hingen wir mehr als wir saßen, so dass wir beständig zu fallen fürchteten. Halbrohes Fleisch war unsere Nahrung, Kamelmilch unser Trank.
Altbekannte Stereotype wie das absonderliche Aussehen, eine eigentümliche Kampfesweise oder auch der Verzehr halbrohen Fleisches erinnern deutlich an Ammians berühmte Beschreibung der Hunnen. Wie schwierig es ist, sich allein auf Grundlage der literarischen Überlieferung von den spätantiken Arabern ein Bild zu machen, zeigt Ammians sogenannter Sarazenen-Exkurs, der in der Forschung nicht ohne Grund vielfach seinem Hunnen-Exkurs an die Seite gestellt worden ist:15 Die Sarazenen, die wir uns niemals zu Freunden oder Feinden wünschen sollten, schwärmten weit und breit umher und verwüsteten alles, was zu finden war, in kürzester Zeit, ähnlich Raubgeiern, die, wenn sie eine Beute aus der Höhe erblicken, diese in raschem Anflug zu ergreifen suchen und, wenn sie sie erfasst haben, nicht länger verweilen. […] Bei diesen Stämmen (gentes), deren Gebiet von Assyrien bis zu den Katarakten des Nils und den Grenzgebieten der Blemmyer reicht, sind alle Männer Krieger von gleichem Rang. Halbnackt, in bunte Umhänge bis zu den Hüften gehüllt, ziehen sie auf ihren schnellen Pferden und schlanken Kamelen im Frieden wie in Kriegszeiten umher. Keiner von ihnen fasst jemals einen Pflug an oder pflegt einen Baum und erwirbt durch Pflügen seinen Lebensunterhalt. Vielmehr durchstreifen sie stets weit ausgedehnte Landgebiete, ohne Haus, ohne festen Wohnsitz und Gesetze. Sie ertragen dieselbe Himmelsgegend keine längere Zeit, und die Sonne desselben Landstrichs gefällt ihnen nicht lange. Sie führen ein Leben ständig in Bewegung; ihre Weiber mieten sie gegen Lohn für eine bestimmte Zeit mit einem Vertrag, und damit es den Schein einer Ehe gibt, überreicht die zukünftige Gattin als Mitgift ihrem Mann eine Lanze und ein Zelt, um nach einem bestimmten Tag davonzugehen, falls sie diese Wahl getroffen hat. Mit unglaublicher Leidenschaft geben sich bei ihnen beide Geschlechter der Liebe hin. So streifen sie zeit ihres Lebens weit umher. Das Weib heiratet woanders, gebiert an einem anderen Ort und zieht die Kinder fern davon auf, und niemals besteht für sie die Möglichkeit, sich auszuruhen. Für alle bietet das Fleisch wilder Tiere Nahrung, außerdem Milch, die es hier im Überfluss gibt und die die Hauptnahrung ist. Dazu kommen verschiedene Kräuter und Vögel, falls sie solche fangen. Die meisten von ihnen kennen, wie ich selbst gesehen habe, weder den Gebrauch von Getreide noch Wein. So viel über dieses gefährliche Volk (natio).
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Einmal mehr werden Barbaren hier als Gegenbild zur antiken Zivilisation gezeichnet, wobei der Aspekt des Nomadismus zur Steigerung und Illustration der Andersartigkeit in besonderer Weise betont (und zugleich verzerrt) wird. Nach antiker Ansicht impliziert die mobile Lebensform wie bei den Hunnen eklatante politische und gesellschaftliche Defizite; den Arabern, so Ammian, fehlen daher Gesetze (leges) und eine soziale Schichtung, ja nicht einmal basale Institutionen wie die Ehe sollen existiert haben. Stattdessen herrsche – dies einer der verbreitetsten Barbarentopoi – sexuelle Zügellosigkeit vor, und wie bei Hieronymus ziehen die Araber selbstverständlich halbnackt durch die Lande. Ihre nomadische Lebensweise verhindere nicht nur Ackerbau, sondern reduziere ihre Nahrungsgrundlage vor allem auf Fleisch und Milch – Letztere, auch von Hieronymus hervorgehoben, galt seit der homerischen Ilias als Symbol für Nomadismus. Doch Ammians Araber gehen sogar noch weiter: Mit ihrem Verzicht auf Getreide und Wein enthalten sie sich grundlegender Nahrungsmittel der antiken Kultur. Sie sind eben, darin wiederum den Hunnen vergleichbar, das schlechthin Andere. Man möchte mit ihnen möglichst nichts zu tun haben – nicht als Freunde, nicht als Feinde (nec amici nobis umquam nec hostes optandi).16 Jenseits der literarischen Räume jedoch hatte man durchaus miteinander zu tun – nicht nur im Alltagsleben innerhalb der Grenzzone, sondern auch auf politischer Ebene. Denn im Osten vertrauten die Römer gleichfalls auf ihre bewährte Politik, mit den Anführern bzw. Eliten einzelner Verbände durch die Vergabe von Ehrungen und Geschenken Übereinkünfte zu erzielen und dadurch weitgehende Ruhe an den Grenzen herzustellen; ebenso wie im Verhältnis zu anderen Gruppen ließ die in den literarischen Zeugnissen geläufige Kennzeichnung der Araber als unzivilisierte Barbaren weiterhin hinreichend Raum für ein pragmatisches Miteinander. Der Begriff ‹Araber› stand eben nicht nur für Nomadismus und Wildheit, sondern war auf verschiedenen Ebenen ausdeutbar. Bis in das 2. /3. Jahrhundert, solange politische Einheiten wie das sogenannte Nabatäerreich um die Wüstenstadt Petra (Jordanien), die Karawanenoase Palmyra oder das nordmesopotamische Kult- und Handelszentrum Hatra (Nordirak) noch als Puffer zwischen Römern und Persern wirkten und gleichzeitig Ordnungsmächte für die umherziehenden Stämme darstellten, ließen sich beispielsweise die Angehörigen jener Gemeinwesen kollektiv als ‹Araber› bezeichnen; und schließlich umriss das Wort auch schlicht sämtliche Bewohner der Syrischen Wüste und der arabischen Halbinsel, die Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr. das «äußerste Land der bewohnten Erde» genannt hatte.17 Die typischen Muster und Probleme, wie wir sie für das Verhältnis zwischen Nomaden und Sesshaften bereits am Beispiel der Hunnen und Berber kennengelernt haben, treten also auch entlang der Ostgrenzen des Imperium Romanum
Sa- sa- niden, Rom und die Araber 4.1
zutage: einerseits ein Ineinandergreifen von Sesshaftigkeit und Nomadismus in den Kontaktzonen, ein enger, geradezu symbiotischer Austausch; andererseits die permanente Gefahr von Übergriffen und Konflikten, die kurzfristig, ja punktuell Fremdheit und Zugehörigkeit, Innen und Außen vergegenwärtigten. Es waren nicht zuletzt die über Jahrhunderte gesammelten Erfahrungen im Umgang mit mobilen Gruppen in Nordafrika, Syrien und Arabien, auf welche die Römer später zurückgreifen konnten, als sie sich mit den Hunnen konfrontiert sahen. Insgesamt aber blieb die Situation an der Ostgrenze so lange weitgehend entspannt, wie jenseits des Reiches Gemeinwesen existierten, die vermittelnde Funktionen wahrnehmen und Druck aus den Steppen und Wüsten abfangen konnten. Doch die Lage veränderte sich. Das Nabatäerreich, eine Machtbildung Handel treibender arabischer Stämme, die sich seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. im Nordwesten Arabiens konsolidiert hatte und phasenweise den gesamten Raum zwischen Sinai, Syrien und Nordarabien kontrollierte, wurde im Jahr 106 durch Kaiser Traian annektiert und in die Provinz Arabia überführt. Die Oasenstadt Palmyra, deren Eliten – darunter zahlreiche Araber – in eigenem Interesse (Schutz der lukrativen Karawanen) die Sicherung der Steppen- und Wüstengebiete zwischen Euphrat und den römischen Ostprovinzen übernommen hatten und die unter ihrem lokalen Herrscher Odainathos seit 260, als sich die ‹Krise› des Römischen Reiches dramatisch zuspitzte, sogar selbständig die Abwehr der Perser organisierte, wurde im Jahr 272 von Aurelian niedergerungen und als Ordnungsmacht liquidiert – allzu hoch hatte nach Odainathos’ Tod (267 / 68) seine Witwe Zenobia gepokert, indem sie für ihren Sohn Vaballathus die Herrschaft übernommen und den Einflussbereich des sich ausbildenden Teilreichs von Palmyra zunehmend auf Kosten des Imperium Romanum zu erweitern versucht hatte. Das Königreich Hatra schließlich, das zunächst den Schutz der Westflanke des Partherreiches gewährleistet, sich nach dem Aufstieg der Sāsāniden jedoch Rom zugewandt hatte, wurde im Jahr 240 /41 von Ardashir I. und Shapur I. zerstört.18 Damit trafen Römer und Sāsāniden nun nahezu direkt aufeinander, und nicht nur dies: Die sich zwischen den Großreichen bewegenden Araber erhöhten fortwährend ihren Druck; ungemein aussichtsreich mussten angesichts der prekären Lage des Imperium Romanum im 3. Jahrhundert Beute- und Plünderungszüge erscheinen. Aber auch gravierende Veränderungen innerhalb der arabischen Welt, freilich nur schwer zu fassen, dürften zu einer neuen Gesamtkonstellation beigetragen haben. Wahrscheinlich war es, ganz ähnlich wie jenseits von Rhein und Donau, zu sich verstärkenden Migrationsprozessen und zur Entstehung neuer Konföderationen gekommen (vielleicht abermals als Resultat römischer und persischer Einflussnahmen). Jedenfalls ist auffällig, dass seit dem 3. Jahrhundert arabische ‹Könige› und neue Stammesbezeichnungen fassbar werden, ferner
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inschriftliche Texte, die sich allmählich in Richtung des klassischen Arabisch bewegen. Überdies geriet der Karawanenhandel seit der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts zunehmend in Schwierigkeiten. Stämme, die bis dahin von ihm profitiert hatten, verarmten, Renomadisierungsprozesse bei bereits sesshaften Bevölkerungsgruppen dürften die Folge gewesen sein; allerorten lassen sich Entladungen und Konvulsionen ausmachen.19 Die innerarabischen Verhältnisse zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert sind allerdings nur schwer ergründbar. Vermutlich setzten sich im 3. Jahrhundert nordarabische Stämme in Bewegung, wenngleich auch für diesen Raum letztlich unklar bleibt, in welchem Verhältnis homonyme Gruppen, die von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten bezeugt sind, zueinander standen. Wie in den Gebieten jenseits von Rhein und Donau wird man jedenfalls auch in Arabien nicht von regelrechten Massenmigrationen ausgehen können. Der islamische Universalgelehrte aṭ-Ṭabarī († 923) schildert im Kontext seines Exkurses über den Ursprung der Laḫmiden Wanderungs- und Neuformierungsprozesse unter den Arabern, deren Kenntnis auf mündliche Überlieferungen aus vorislamischer Zeit zurückgeht. Der Grad ihrer Historizität lässt sich kaum noch ermitteln, allerdings fügen sich die Geschichten in ein Gesamtbild, das durch punktuelle weitere Zeugnisse partiell gestützt, zumindest nicht grundsätzlich widerlegt wird. Demzufolge könnte es zu Beginn des 3. Jahrhunderts zum Vordringen arabischer Stämme aus dem Nordosten der Halbinsel bis in das Gebiet zwischen Euphrat und Hawrān gekommen sein. Vor allem die Konföderationen der Salīḫ und der Tanūḫ dürften in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt haben. Der Geograph Klaudios Ptolemaios weiß im 2. Jahrhundert von Thanuitai, die er in Nordostarabien ansiedelt; in welchem konkreten Zusammenhang diese mit den späteren Tanūḫ stehen, ist freilich kaum zu klären. Zwischen den einzelnen arabischen Verbänden, palmyrenischen Truppen, den Sāsāniden und den Römern dürfte es in der Folgezeit zu heftigen Spannungen und Konflikten gekommen sein – nicht zuletzt aufgrund der wichtigen Lage Arabiens für den Indien-Fernhandel, an dem Römer wie Sāsāniden gleichermaßen interessiert waren. Allmählich kristallisiert sich dabei die Konföderation der Laḫmiden heraus, deren Anführer wahrscheinlich auch die Herrschaft über große Teile der Tanūḫ übernahmen. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts erscheint mit ‘Amr ibn ‘Adī, der auch außerhalb von aṭ-Ṭabarīs Weltgeschichte bezeugt ist, ein bereits mächtiger Herrscher über die Laḫmiden, die sich nunmehr um das Zentrum al-Ḥīra (beim heutigen Naǧaf, Irak) gruppierten. ‘Amr unterwarf sich dem Perserkönig und fungierte fortan in dessen Auftrag als Herrscher über jene Araber, die den Grenzen des Sāsānidenreiches vorgelagert waren. In seiner großen persisch-parthischen Inschrift aus Paikuli führt der Sāsānide Narseh (293– 302) «‘Amr, König der Laḫmiden» als einen seiner Untertanen.20
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Römer und Perser arbeiteten also mit ähnlichen Mitteln und suchten Anführer auswärtiger Gruppen zur Stabilisierung der Grenzen an sich zu binden. Selbstverständlich griffen sie dadurch direkt und indirekt in das soziale Gefüge auch der arabischen Stämme, mit denen sie interagierten, ein. Dabei wurden Identitätsbildungs- und Neuformierungsprozesse angestoßen oder beschleunigt, die wichtige Grundlagen für die Ausgestaltung der arabischen Welt im 7. Jahrhundert darstellten, mithin für die islamische Zeit bedeutsam wurden. Nicht nur aus dieser Perspektive ist es daher angebracht, die spätere Entstehung des Islam nicht als eine von außen in den spätantiken Kosmos hereinbrechende Heimsuchung, sondern als eine aus ebendiesem Kontext heraus erwachsene Entwicklung zu verstehen.21 In der griechisch-römischen Welt wurden die Veränderungen innerhalb der arabischen Gemeinschaften durchaus registriert: Seit dem 3. Jahrhundert sprach man nicht mehr von Arabes oder Σκηνῖται / Skenítai (‹Zeltbewohnern›), sondern von Saraceni (Σαρακηνοί) bzw. – in syrischen Texten – ṭayyāyē. Ammian weist ausdrücklich auf diesen neuen Wortgebrauch hin, wenn er die «skenitischen Araber, die man später Sarazenen nannte» (Scenitas Arabas, quos Saracenos posteritas appellavit), erwähnt. Vor einigen Jahren wurde die These aufgestellt, das Wort ‹Sarazene› sei vom arabischen širkat (‹Konföderation›) abzuleiten; sollte dies zutreffen, dann würde die veränderte Terminologie tatsächlich neue Konstellationen innerhalb der arabischen Welt reflektieren. Die Araber selbst fanden freilich andere Erklärungen für die Bezeichnung ‹Sarazene› und bezogen diese auf Sarah, die Ehefrau des biblischen Abraham. Gemeinsame Merkmale wie Schweinefleischverbot und Beschneidung hatten seit jeher die Araber mit den Juden in Verbindung gebracht, doch galten sie als Nachkommen Ismaels, jenes Sohnes, den Abraham mit Sarahs Magd Hagar gezeugt hatte (Ismaeliten bzw. Hagarener). Mit der Berufung auf Sarah sollte, so antike Exegeten, eine gleichwertige Verknüpfung mit Abraham und der jüdischen Geschichte hergestellt werden.22 In der Etablierung dauerhafter Bündnisse mit arabischen Gruppen zeigten sich die Perser zunächst flexibler als die Römer, indem sie schon früh, seit dem ausgehenden 3. Jahrhundert, auf die Laḫmiden bzw. die über den Laḫmidenverband herrschende Dynastie der Naṣriden setzten. Mit ‘Amr ibn ‘Adī beginnt die lange Liste der mit den Sāsāniden alliierten Araberherrscher. Bereits sein Sohn Imru’ al-Qays († 328), der sich offenbar zum Herrscher über nahezu alle nordarabischen Stämme aufgeschwungen hatte und auch Vorstöße in den Süden der Halbinsel unternahm, gelangte zu einiger Berühmtheit. Aṭ-Ṭabarī beschreibt ihn als von den Persern eingesetzten Bevollmächtigten «über die Grenzregionen der Araber der Rabī‘a, Muḍar und anderer Stämme, die damals in den Wüsten des ‘Irāq, des Ḥiğāz und des Zweistromlandes lebten». Sein Grab wurde allerdings in an-
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Abb. 15 Inschrift des Imru’ al-Qays († 328) aus an-Namāra
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Namāra, etwa 120 Kilometer südöstlich von Damaskos, also in römischem Einflussbereich gefunden. Möglicherweise wechselte er irgendwann die Seiten, weil er – wie aṭ-Ṭabarī behauptet – Christ wurde; oder er kam während eines Plünderungszuges auf römischem Territorium zu Tode. Seine Grabinschrift gehört aus unterschiedlichen Gründen zu den bedeutendsten Monumenten der vorislamischen arabischen Geschichte. In (spät-)nabatäischer Schrift verfasst, stellt sie das früheste Zeugnis für die Verwendung der arabischen Sprache dar und feiert überdies Imru’ al-Qays als «König aller Araber» – ein Befund, der naturgemäß zahllose Deutungsversuche nach sich gezogen hat, insbesondere mit Blick auf die frühislamische Zeit. Können wir hier erstmals einen ethnisch konnotierten Gebrauch des Terminus ‹Araber› als Manifestation einer spezifischen Eigenwahrnehmung fassen? Während in der älteren Forschung gerne eine Kontinuitätslinie von Imru’ al-Qays bis Mohammed gezogen wurde, ist man heute vorsichtiger. Zuletzt wurde auf das breite, keineswegs ausschließlich ethnisch festgelegte Bedeutungsspektrum des Wortes ‘arab hingewiesen. Dennoch spiegelt sich im Monument selbst, in Text und Wahl der Sprache, ein besonderes Selbstbewusstsein, das umso mehr aufhorchen lässt, als wir uns in einer Phase befinden, in der römisch-arabische Kontakte sich zunehmend verdichteten. Nicht alle Araber präsentierten sich stolz in der Inschrift von an-Namāra, wohl aber ein einzelner arabischer Verband, der besonderes Vertrauen in seinen Anführer setzte und diesem unter den Augen der Römer ein ehrenvolles Denkmal schuf. Wir werden also zu Zeugen eines allmählich beginnenden Neuformierungsprozesses innerhalb der arabischen Gruppen: Einzelne Verbände unter prominenten Anführern, die weit ausgreifende Ansprüche stellen («König aller Araber»), gewinnen in Auseinandersetzung mit Römern und Persern an Profil. Dies ist der eigentlich entscheidende Aspekt, dessen kontinuierliche Spur es bis in die frühislamische Zeit weiterzuverfolgen gilt.23
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Über die Berufung von Phylarchen und Ethnarchen – Ämter, die im Nahen Osten, wenngleich in anderen Funktionen, bereits Tradition besaßen – sowie durch die Etablierung eines strategós (nomádon) wurden die Beziehungen zu den mobilen Gruppen im Grenzgebiet reguliert; in all diesen Fällen sind konkretere Aussagen, die den tatsächlichen Alltag sowie die Umsetzung römischer politischer Maximen betreffen, nicht möglich. Seit dem 2. Jahrhundert ergänzten die Römer ihre Legionen durch arabische Hilfstruppen (auxilia). Diese wurden großenteils aus den Streitkräften des aufgelösten Nabatäerreiches gewonnen und unter eigenen Führern überwiegend außerhalb der arabischen Provinzen eingesetzt. Ab dem 4. Jahrhundert begann man dann offenbar, größere arabische Verbände vertraglich zu binden. Constantius II. (337–361) könnte erstmals Araber für den Kampf gegen die Sāsāniden verpflichtet haben; sein Nachfolger Julian (360–363) rückte davon wohl zunächst ab, nahm aber im Krieg gegen die Perser dankbar die Unterwerfung arabischer Führer (reguli) entgegen, die seine Truppen unterstützen konnten. Für die mobilen Wüstenbewohner bedeuteten die permanenten römischpersischen Konflikte, wie der Chronist Josua Stylites im frühen 6. Jahrhundert festgehalten hat, ein profitables Geschäft. Systematische Bemühungen, mit unterschiedlichen arabischen Gruppen zu Übereinkünften zu gelangen, setzten allerdings erst unter Valens (364–378) ein. Wie solche Abkommen im Einzelnen aussahen, welchen Formalisierungsgrad sie besaßen und in welcher Weise sie mit jenen Verträgen vergleichbar waren, die mit Goten oder anderen Verbänden geschlossen wurden, ist schwer einzuschätzen. Zwar erscheinen in der Notitia Dignitatum aus dem frühen 5. Jahrhundert arabische Einheiten im römischen Heer, doch kann aus deren Namen nicht zwangsläufig geschlossen werden, dass ausschließlich Araber in diesen Verbänden kämpften. Wichtig waren für Römer und Sāsāniden ohnehin vor allem jene arabischen Gruppen, die selbständig Territorien der jeweils feindlichen Großmacht verheerten. Im 5. Jahrhundert jedenfalls scheinen die Römer vor allem auf die Salīḫ sowie auf die Ḥuğriden, die herrschende Dynastie bei den Kinda, gesetzt zu haben. Allerdings zeichnet sich eine klare Struktur imperialer Politik gegenüber den Arabern nicht vor dem 6. Jahrhundert ab: Nun banden die Römer mit den Ǧafniden die Herrscher über die Konföderation der Ġassāniden (mit Zentrum im Hawrān) an sich, während die Perser sich vor allem auf die Naṣriden und den hinter ihnen stehenden Verband der Laḫmiden (um das südirakische al-Ḥīra) stützten. Die komplementäre Strategie an der Ostgrenze des Imperium Romanum, einerseits auf Befestigungen, andererseits auf arabische Verbündete und deren Plünderungszüge in sāsānidisches Territorium zu setzen, tritt damit sichtbar zutage.24 Wollten die Römer unter den Arabern neue Partner gewinnen, so kam in der Spätantike dem Aspekt der Christianisierung eine besondere Bedeutung zu;
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möglicherweise steht dieser Sachverhalt bereits, wie angedeutet, hinter der Grabinschrift für Imru’ al-Qays. Es geht hier weniger um Zwangsmissionierung oder einen forcierten Kampf gegen pagane Kulte; vielmehr profitierten beide Seiten davon, wenn ein arabischer Stammesführer die Religion der Römer annahm. Fortan stand ihm der Zugang zu den höchsten Eliten des Reiches offen – der patriciusTitel oder gar Audienzen beim Kaiser selbst waren nun möglich; er galt nicht mehr als unzivilisierter Barbar und heimatloser Geselle, sondern als Teil der römischen Welt, und dies wiederum stärkte seine Stellung innerhalb der Herkunftsgemeinschaft. So entstanden im Laufe der Zeit gerade durch Christianisierungsprozesse neue, zunehmend römisch geprägte Eliten jenseits der Ostgrenzen des Imperium Romanum, die sozialen Strukturen der Stammesgesellschaften veränderten sich durch eine verstärkte Ausrichtung auf das Reich hin; der Kontakt mit den römischen Eliten erschloss zudem neue ökonomische und kulturelle Ressourcen und beschleunigte die Sesshaftwerdung nomadischer Gruppen. Das Bekenntnis zu jener Religion, die die Araber längst durch wandernde Asketen, Eremiten und Wundertäter kennengelernt hatten, eröffnete den Männern aus der Wüste mitunter ungeahnte Möglichkeiten.25 Exemplarisch dafür steht die Geschichte des Aspebetos, eines arabischen Anführers (phýlarchos), der zunächst als Heide im Dienst des Perserkönigs stand. Abgestoßen von den Grausamkeiten, die um 420 den Christen im Sāsānidenreich widerfuhren, soll er diesen zu Hilfe geeilt und dadurch selbst ins Visier der Verfolger geraten sein. Er floh daraufhin mit seinem Stamm zu den Römern und erhielt die Aufsicht über die unter römischer Kontrolle stehenden Araber als Phylarch (τὴν φυλαρχίαν τῶν ἐν Ἀραβίᾳ ὑποσπόνδων Ῥωμαίοις Σαρακηνῶν). Sein Sohn Terebon, seit längerem siech und von einem Dämon besessen, wurde von dem berühmten Asketen Euthymios geheilt, woraufhin der ganze Stamm des Aspebetos zum Christentum übertrat. Dieser selbst erhielt nun von Euthymios den programmatischen Namen Petros, sein Verband wurde auf Weisung des Asketen sesshaft. Schließlich erreichte Euthymios gar, dass Aspebetos-Petros von Juvenal, dem Bischof von Jerusalem, zum ersten Bischof der in Palästina lagernden Araber geweiht wurde. Er nahm am Konzil von Ephesos 431 teil und starb hochangesehen vor 451.26 Es sind vor allem hagiographische und kirchenhistorische Texte, die uns Geschichten wie diese überliefern. So berichtet etwa der Kirchenhistoriker Sozomenos im 5. Jahrhundert von einem anderen Fall: Der arabische Phylarch Zokomos habe einem Mönch gegenüber seine Kinderlosigkeit beklagt und sei von diesem mit der Verheißung entlassen worden, er werde einen Sohn bekommen, sofern er nur Christ werde; und tatsächlich sei es genau so geschehen, woraufhin Zokomos und sein gesamter Stamm sich hätten taufen lassen. «Seitdem, so heißt es, war
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dieser Stamm gesegnet und volkreich und bei den Persern und den anderen Sarazenen gefürchtet». In der von Hieronymus verfassten Vita des Hilarion (4. Jahrhundert) ist zu lesen, wie der Heilige nach Heilungswundern und Gebeten die sarazenischen Bewohner einer ganzen Stadt zum Christentum bekehrt haben soll, und dem Asketen Symeon Stylites gelang es angeblich allein durch sein ehrfurchtgebietendes Auftreten, Araber scharenweise zur Konversion zu bewegen.27 Nicht immer allerdings vollzog sich die Hinwendung zu Rom in derart geordneten, ja gesegneten Bahnen, und nicht immer überwölbte die Religion mögliche profane Motive, doch blieb sie als bedeutsamer Integrationsfaktor stets präsent. Mitunter drängten arabische Anführer durchaus mit Gewalt in die römische Sphäre, um eigene Machtinteressen durchzusetzen oder ökonomische und soziale Vorteile zu gewinnen. Für diese Variante steht der Abenteurer Amorkesos (Imru’ al-Qays). Er übernahm um das Jahr 473 in einem Handstreich das Eiland Iotabe im Norden des Roten Meeres – ein kleiner, wenngleich strategisch eminent wichtiger Fleck, von dem aus sich die Schiffspassagen in den Indopazifik und damit der Indienhandel kontrollieren ließen. Amorkesos hatte zuvor in persischen Diensten gestanden, sich dann aber verselbständigt und größere Teile Arabiens und der römischen Provinz Palaestina III erobert, bevor er sich schließlich auf Iotabe niederließ. Dort vertrieb er die römischen Zollbeamten und errichtete ein unabhängiges Regime. Kaiser Leon I. (457–474) blieb zunächst nichts anderes übrig, als den umtriebigen warlord gewähren zu lassen; immerhin hielt dieser die Handelsrouten vorerst offen und stellte eine fortwährende Bedrohung für die Perser dar. Aus diesem Grund ernannte der Kaiser Amorkesos zum phýlarchos und ließ ihm noch weitere Ehrungen zuteilwerden, darunter einen Platz unter den höchsten patricii in Konstantinopel. Zuvor hatte der Aufrührer einen Bischof als Unterhändler eingesetzt und von sich selbst behauptet, er sei Christ; diese Geste verschaffte Leon offenbar gewisse Handlungs- und Argumentationsspielräume in Konstantinopel, als es daran ging, um Zustimmung für die Einigung mit Amorkesos zu werben. Aber eine Dauerlösung konnte all dies nicht bleiben, denn die Besetzung der Insel brachte den Römern durchaus auch gewaltige Nachteile, insbesondere den Verlust der Zölle (die jetzt an Amorkesos gingen) und unkalkulierbare Abhängigkeiten und Unsicherheiten hinsichtlich der Passagen durch das Rote Meer. Unter Anastasios nutzten die Römer daher eine Unaufmerksamkeit des Araberführers und stellten im Jahr 498 die römische Herrschaft auf Iotabe wieder her.28 Heftige Konflikte gingen auch jenem Vertrag voraus, der 378 zwischen Valens und einer Arabergruppe (sie wird mitunter mit der Konföderation der Tanūḫ identifiziert) unter der Führung einer Frau namens Mavia geschlossen wurde. Auch in diesem Fall beziehen wir unsere Kenntnis der Episode einzig aus der
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kirchenhistorischen Überlieferung, die politische Konstellationen – etwa eine dem Konflikt möglicherweise vorausgegangene römische Forderung, Hilfstruppen für den Kampf gegen die Goten zu stellen – weitgehend ausblendet. In ihrem Zentrum steht stattdessen das heroische Auftreten des Asketen Moses gegenüber Lukios, dem homöischen Bischof von Alexandreia; die Irritationen, für die Mavia zuvor mit ihren Übergriffen gesorgt hatte, bilden lediglich einen Rahmen für die erbauliche Episode, mit der die Kirchenhistoriker wohl vor allem auf eine weitere Niederlage des ‹häretischen› Kaisers Valens und seiner Amtsträger und Gesinnungsgenossen gegenüber den Vorkämpfern der ‹Orthodoxie› hinweisen wollten. So viel ist gleichwohl rekonstruierbar: Nach dem Tod eines namentlich nicht genannten, mit den Römern vertraglich verbundenen (ὑπόσπονδοι Ῥωμαίων) Araberführers in den 370er Jahren übernahm dessen Witwe Mavia seine Position (Mauvia Saracenorum gentis regina), löste das Bündnis und begann im Winter 377 / 78 die römischen Provinzen hinter dem limes Arabicus weiträumig zu verheeren (vehementi bello). Offensichtlich zeigte sich das regionale Militärkommando mit der Situation überfordert, und man begann nach Verhandlungslösungen zu suchen. Mavia jedoch verweigerte jegliche Zustimmung zu einem Abkommen, sollte nicht zuvor der in der Wüste lebende Asket Moses zum Bischof für ihren Verband geweiht werden. Um endlich zu einer friedlichen Übereinkunft zu gelangen, ordnete schließlich Kaiser Valens selbst die Ordination des Eremiten an, der kurzerhand nach Alexandreia verschleppt wurde, um die Weihe zu empfangen. Dort kam es dann zu dessen mutigem Aufbegehren gegen den homöischen Ortsbischof, welcher schließlich nachgab und verbannte nizänische Bischöfe die Ordination in der Wüste vollziehen ließ. Moses, wohl selbst arabischer Abstammung, machte sich daraufhin auf den Weg zu Mavias Verband und sorgte dafür, dass dieser «ausgesprochen wilde Stamm» (gens ferocissima) fortan in Frieden lebte und den katholischen Glauben pflegte. Mavia ihrerseits band sich an die römische Elite, indem sie ihre Tochter dem schillernden magister equitum Victor, Konsul des Jahres 369, in die Ehe gab. Überdies schickte sie, wahrscheinlich als Bestandteil ihres neuen Vertrages mit den Römern, eine Truppeneinheit nach Konstantinopel. Es waren dies jene Araber, die nach der Katastrophe von Adrianopel 378 die Bosporusmetropole vor den anrückenden Goten bewahrten.29 Forschungen zur Geschichte der Araber in vorislamischer Zeit haben sich in den letzten Jahren vielfach von älteren Erklärungsmodellen, die ausschließlich von festgefügten Stammes- und Clanstrukturen ausgegangen waren, emanzipiert und stattdessen Spannungen, Migrationen und permanente Neuformierungsprozesse auf der arabischen Halbinsel und in der Syrischen Wüste seit dem 3. Jahrhundert herausgearbeitet. In der Tat müssen die Veränderungen phasenweise gewaltige Ausmaße angenommen haben. Dieser Sachverhalt spiegelt sich
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nicht zuletzt darin, dass ab dem 3. Jahrhundert neue Großverbände wie die Salīḫ, die Tanūḫ oder die Laḫmiden sichtbar werden; auch das verstärkte Auftreten von ‹Königen› (mlwk) bzw. Personen, die entsprechende Rollen beanspruchten – man denke etwa an Imru’ al-Qays und seine Grabinschrift –, verweist darauf, dass Dinge in Bewegung geraten waren: Soziale Hierarchien differenzierten sich aus und verfestigten sich. Letztlich scheinen im arabischen Raum ähnliche Mechanismen gegriffen zu haben wie in den Gebieten jenseits von Rhein und Donau, in denen sich im 3. Jahrhundert ebenfalls größere Verbände unter weiträumig agierenden Anführern formierten. Aus diesem Grund ist die arabistische Forschung seit einiger Zeit in einen fruchtbaren Dialog mit Historikern getreten, die analoge Vorgänge im nördlichen Barbaricum erforschen.30 Dennoch gilt es auch Unterschiede zu beachten: Wie verschiedene Gruppen im Norden pendelten arabische Verbände seit dem 3. Jahrhundert ebenfalls in zunehmendem Maße zwischen ihrer eigenen Welt und dem Imperium Romanum (und dem Sāsānidenreich!) und wurden dadurch in dynamische Prozesse hineingesogen, die sie unter zunehmenden personellen und strukturellen Veränderungsdruck setzten. Doch anders als etwa Goten, Vandalen oder Franken gelang es keiner arabischen Gruppe, sich dauerhaft auf dem Boden des Römischen Reiches zu etablieren und autonome Herrschaftsgebilde zu errichten; wir finden auch keine Araber in den höchsten militärischen und zivilen Rängen der römischen Führung. Offensichtlich waren die Ambitionen der meisten arabischen Anführer anders gelagert als jene ihrer Kollegen weiter im Norden (eventuell als Folge einer doch stärker verwurzelten Stammes- bzw. Clanstruktur), möglicherweise lastete auf ihnen aber auch schlicht weniger Druck. Für die Römer entfalteten sie jedenfalls – zumindest bis zum 7. Jahrhundert – ein weitaus geringeres Gefahrenpotential als Gestalten wie Alarich, Attila oder Geiserich; dies sollte sich erst ab den 630er Jahren ändern, dann allerdings umso radikaler. Dadurch, dass arabischen Verbänden der Sprung in das Imperium nicht gelang, behielten sie indes auch stets eine größere Distanz zu diesem und bewahrten sich damit weitere Handlungsspielräume. Insbesondere an den Ǧafniden, im 6. Jahrhundert die wichtigsten Bündnispartner der Römer, lässt sich anschaulich studieren, wie geschickte Araberführer einerseits die Nähe zum Imperium und die daraus zu gewinnenden Vorzüge suchten, sich aber andererseits ein hohes Maß an Autonomie und Handlungsfreiheit erhielten. Die Araber verblieben, wie es der Historiker Greg Fisher zuletzt ausgedrückt hat, in einer Position «in-between».31
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Bedrohung und Konsolidierung
4.2.1 Herrscher und Hauptstadt: Das Kaisertum in Konstantinopel 4.2 Bedrohung und Konsolidierung
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«Geht es Euch jetzt besser, seitdem das weihevolle Kaiserzeremoniell eingeführt worden ist und Ihr in Eurem Schlafgemach lebt, da ihr wie die Lurche – wenn überhaupt – kaum einmal in die Sonnenwärme hervorlugt, um nicht von den Menschen dabei ertappt zu werden, dass Ihr selbst Menschen seid?» Wir hatten Synesios, den Verfasser dieser Zeilen, bereits an anderer Stelle als wortgewaltigen Agitator kennengelernt, der in seiner Rede De regno (wohl 398 entstanden) harsch die Gotenpolitik des Arkadios attackierte; auch persönlich war der Kaiser vor Kritik durch den Mann aus Kyrene nicht gefeit. Denn eine neue Form der Herrschaftsausübung begann sich seit dem Tod des Theodosius (395) im östlichen Teil des Römischen Reiches allmählich zu etablieren. Der Kaiser setzte sich nicht mehr an die Spitze seiner Armeen, zog nicht einmal mehr von Residenz zu Residenz; er mauerte sich nachgerade ein im Palast zu Konstantinopel, verschwand hinter seinem aufwendigen Zeremoniell, wurde unzugänglich, ja unsichtbar für den größten Teil der Reichsbevölkerung. Mit Synesios stehen wir am Anfang dieser Entwicklung: Der spätere Bischof von Kyrene konnte Arkadios noch einigermaßen hoffnungsvoll zur Umkehr mahnen und mit dem Ideal des kriegstüchtigen Kaisers, des basileús polemikós, konfrontieren. Doch sein Aufruf verhallte ungehört, der Herrscher mutierte zu einem ‹Palastkaiser› (princeps clausus), der Konstantinopel kaum noch verließ. Der im 6. Jahrhundert wirkende Johannes Lydos suchte dieses Phänomen mit einer fiktiven Anweisung Theodosius’ I. zu erklären, der zufolge er seinen Söhnen Arkadios und Honorius untersagt haben soll, persönlich Truppen ins Feld zu führen. Der an die Hauptstadt gebundene Kaiser geriet jedenfalls allmählich zur Normalität: Kandidos, ein Historiograph aus der Zeit um 500, merkt explizit an, dass die Herrschaft an der Kontrolle über die Kapitale hing. Ein Versuch des Maurikios (582–602), selbst einen Feldzug zu unternehmen, erschien im 7. Jahrhundert als wider die göttliche Ordnung gerichtete Absurdität, und Herakleios (610–641) musste sich von seinem General Priskos gar vorhalten lassen, er gehöre in seinen Palast und habe beim Heer nichts verloren. Der erste Kaiser, der längere Etappen seiner Herrschaftszeit in der 330 von Konstantin I. gegründeten Bosporusmetropole zubrachte und deren Ausbau zu einer würdigen Residenzstadt mit großem Eifer
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vorantrieb, war Theodosius I. Der endgültige Rückzug der Kaiser nach Konstantinopel erfolgte dann unter seinem Sohn Arkadios (395–408), der sich insgesamt nicht einmal ein Jahr lang außerhalb der Hauptstadt aufhielt; noch deutlicher tritt die Tendenz unter seinem Nachfolger Theodosios II. (408–450) hervor, der nur für anderthalb seiner 42 Regierungsjahre Konstantinopel verließ. Der erste oströmische Herrscher, der wieder längere Phasen jenseits der Mauern der Kapitale verbrachte und dabei ausgedehnte Feldzüge durchführte, war Herakleios zu Beginn des 7. Jahrhunderts. Die zwei Jahrhunderte zwischen Arkadios und Herakleios werden entsprechend als Periode des ‹hauptstädtischen Kaisertums› bezeichnet.32 Über die Gründe für den Rückzug des oströmischen Kaisers nach Konstantinopel lässt sich debattieren. Zuletzt wurde mit großem Nachdruck die These vertreten, die Herrscher hätten sich durch diesen Schritt von der Übermacht des Heeres emanzipiert. In der Tat können wir beobachten, dass noch im 4. Jahrhundert die Streitkräfte bei Kaisererhebungen und Usurpationen eine zentrale Rolle spielten, wohingegen ihre (innen-)politische Bedeutung in der Phase des ‹hauptstädtischen Kaisertums› entscheidend zurückging. Der Kaiser war nun in der Lage, das Heer von seiner Zentrale aus zu kontrollieren, ohne sich zugleich in dessen Abhängigkeit zu begeben. Denn jene Einheiten, die in Konstantinopel zum Schutz der Herrscher noch verblieben waren, stellten – anders als etwa die Prätorianer im kaiserzeitlichen Rom – keine echte Gefahr dar: Zahlenmäßig ohnehin nicht sonderlich stark, besaßen sie kaum die Möglichkeiten, um gegen Kaiser und Stadtbevölkerung effektiv vorzugehen; zudem waren die Loyalitätsbande, die Gardetruppen und Herrscher aneinander fesselten, ganz besonders eng. Für die Streitkräfte außerhalb der Hauptstadt hingegen war es nahezu unmöglich, militärisch gegen diese vorzugehen – zumal nach der Vollendung der theodosianischen Mauern im Jahr 413. Erst den Kreuzfahrern im Jahr 1204 sollte es gelingen, dieses Bollwerk zu überwinden. Vor solchem Hintergrund könnte der junge Kaiser Arkadios möglicherweise ganz bewusst die Entscheidung getroffen haben, sich vor den Soldaten dauerhaft in die Hauptstadt zurückzuziehen. Der Kirchenvater Ambrosius (339–397) verweist jedenfalls unmittelbar nach Theodosius’ Tod nicht ohne Grund auf die Gefährlichkeit der Truppen für die Herrschaft seiner jungen Nachfolger, und spätestens nachdem Arkadios zum hilflosen Zeugen wurde, wie die aus Italien zurückgekehrte Armee des Ostens den mächtigen Rufinos ungehindert zerstückeln konnte, dürfte er sich ernsthafte Gedanken über seine eigene Position gemacht haben.33 Ein mögliches Sicherheitsinteresse der Kaiser gegenüber der Armee kann aber nicht allein für die Entstehung des ‹hauptstädtischen Kaisertums› verantwortlich gemacht werden. Denn schon Theodosius I. verbrachte, wie angedeutet, einen
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großen Teil seiner Herrschaftszeit am Bosporus, und dieser erfahrene Militär dürfte keine allzu großen Berührungsängste gegenüber den Truppen gehegt haben; auch einige spätere ‹hauptstädtische› Kaiser konnten auf eine soldatische Vergangenheit zurückblicken. Es kamen daher wohl verschiedene Faktoren zusammen: die günstige Lage der Stadt, die kurze Kommunikationswege zu den damals aktuellen Brennpunkten auf dem Balkan und im Westen garantierte, aber auch die Ostgrenze weiterhin noch in Reichweite sah; ein programmatischer Rückbezug auf Konstantin I., den ersten christlichen Kaiser, der diesen Herrschaftssitz begründet hatte; die lokale Präsenz einer ebenfalls seit Konstantin sich neu formierenden, strikt dem Kaiser verpflichteten Führungsschicht (‹Dienstadel›), die sich vor allem im neuen Senat materialisierte, sowie die im 4. Jahrhundert allmählich entstandene profane und sakrale Infrastruktur der Stadt, die zahlreiche Abläufe und Vorgänge des Regierungs- und Verwaltungsalltags erheblich vereinfachte. Die Etablierung Konstantinopels als dauerhafter Residenz führte zu einer Neuformierung des Kaisertums im Osten, das nunmehr regelrecht mit der Stadt verschmolz und sogar terminologisch eine Einheit mit ihr bilden konnte. Fortan war der Kaiser gezwungen, sich mit jenen Gruppen, die das Leben innerhalb der Stadt gestalteten und dominierten, zu arrangieren; denn von ihrer Akzeptanz hing die Stabilität der Herrschaft ab. Neben den Vertretern des Klerus mit dem Bischof bzw. Patriarchen an der Spitze sowie den vor Ort befindlichen Eliten, als deren institutionelles Zentrum der neu gegründete Senat am Bosporus allmählich Fuß fasste, galt die größte Aufmerksamkeit der Stadtbevölkerung. Diese war durchaus gefährlich: Stets leicht erregbar, kollektive Zornesausbrüche zu mitunter blutigen Aufständen aufwirbelnd, verstand sie sich als Hüterin der ‹Orthodoxie› (deren Definition allerdings flexibel blieb) und forderte diese von den Kaisern als Erweis ihrer Beauftragung durch Gott und damit als sichtbares Zeugnis für ihre Legitimität permanent ein. So entwickelte sich neben der Versorgung (Getreidelieferungen) und Unterhaltung (u. a. Wagenrennen) der Massen die Demonstration ‹orthodoxer› Frömmigkeit allmählich zu einer der wichtigsten Herrschaftsaufgaben in der Hauptstadt und begann die kaiserliche Repräsentation nachhaltig zu beeinflussen. Denn nur wenn der Kaiser plausibel den Eindruck vermittelte, er werde dem hohen Anspruch, der sich mit seinem göttlichen Auftrag verband, hinreichend gerecht, konnte er seiner eigentlichen Bestimmung, der imitatio Christi (μίμησις θεοῦ / mímesis theoú), nachkommen und seine Herrschaft in legitimer Weise ausgestalten. Ostentative Frömmigkeitsbezeugungen nahmen daher in Konstantinopel seit Beginn des 5. Jahrhunderts rasant zu: Kirchenbauprojekte, Reliquientranslationen, Bitt- und Bußprozessionen, öffentliche gemeinsame Gebete usw. begannen den Alltag der Konstantinopolitaner zu rhythmisieren und
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dienten dazu, die ‹Orthodoxie› des Kaisers und seine bedingungslose Unterwerfung unter Gott unter Beweis zu stellen. Die Herrscher nutzten diese Anlässe, um die Identität Konstantinopels als Zentrum des Reiches sowie die Einheit von Kaiser, Stadt und Einwohnerschaft im Rausch der religiösen Erfahrung zu fundieren. Kaiser und Volk erhielten somit durchaus mannigfache Gelegenheiten zur gegenseitigen Begegnung und Kommunikation – ganz unsichtbar war der Herrscher zumindest in der Hauptstadt also keineswegs, und insbesondere die Wagenrennen im Hippodrom, denen der Kaiser von seiner direkt mit dem Palast verbundenen Loge (dem Kathisma) aus beiwohnte, boten der Bevölkerung hinreichend Raum, um in Sprechchören Stimmungen, Wünsche und Forderungen zu artikulieren. Nur mit Hilfe derartiger Orte und Gelegenheiten einer rituellen Begegnung war es den Herrschern überhaupt möglich, den hohen kommunikativen Anforderungen, die ein solches sogenanntes Akzeptanzsystem an die beteiligten Akteure stellt, gerecht zu werden. Wie wir bereits am Beispiel Augustins gesehen hatten, wurden diese neuartigen Entwicklungen in Konstantinopel von aufmerksamen Zeitgenossen im Westen durchaus als Besonderheit registriert. Doch weder Mailand noch Ravenna waren dazu geeignet, einen ähnlichen Rahmen für ‹hauptstädtische Herrschaft› zu entfalten. Ravenna etwa, der wichtigsten Residenzstadt im Westen seit dem frühen 5. Jahrhundert, fehlte es schlicht an kritischer Bevölkerungsmasse, um diese in den Rang einer einflussreichen Akzeptanzgruppe aufsteigen zu lassen; überdies war die Armee dort weiterhin stets in der Umgebung des Kaisers präsent, zumeist vertreten durch ranghohe Generäle und deren Gardetruppen. Über zivile Institutionen wie einen Senat, der die hofnahen Eliten aggregierte, verfügte Ravenna hingegen nicht, und der lokale Bischof gelangte nie zu reichsweiter Bedeutung – allzu nah war die Tiberstadt, die als Objekt einer im 5. Jahrhundert durchaus eifrigen herrscherlichen Politik immerhin erahnen ließ, dass allenfalls sie ein ähnliches Potential wie Konstantinopel zu entfalten vermocht hätte, wenn denn nur die Ereignisgeschichte ein wenig anders verlaufen wäre.34 Seit etwa 400 entwickelte die Bosporusmetropole, vor allem auch infolge der rasant zunehmenden Kirchenbautätigkeit, eine eigene, hochsemantisierte christliche Topographie, so dass sie in zeitgenössischer Perspektive mitunter als «eine einzige Kirche», seit ca. 500 als ‹Neues Jerusalem› und schließlich (seit dem späteren 6. Jahrhundert) als Stadt der Gottesmutter erscheinen konnte. In diesem Kontext materialisierte sich eine geradezu überbordende herrscherliche Frömmigkeit, die uns im Quellenmaterial allenthalben entgegenschlägt. So soll der Palast unter Theodosios II. gar einem Kloster geglichen haben; man verbrachte den Tag, wie berichtet wird, mit frommen Übungen und gemeinsamem Hymnengesang. Theodosios selbst wird mitunter in eine priesterähnliche Rolle ge-
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rückt, seine Schwester Pulcheria gelobte Jungfräulichkeit und entwickelte über diese Form der Marien-Imitatio nicht nur ein hohes Ansehen unter der Bevölkerung, sondern zugleich auch gewaltigen politischen Einfluss.35 Letzterer Aspekt ist von besonderer Bedeutung. Denn ganz unabhängig von der heute kaum noch zu klärenden Frage, wie fromm die Kaiser des 5. bis 7. Jahrhunderts tatsächlich waren – ihre demonstrative Unterwerfung unter Gott, die sich seit Theodosios II. insbesondere im besonders verdichteten Aggregatszustand der permanenten Demut manifestierte, eröffnete ihnen neue Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines soziopolitischen Rahmens, den die junge Hauptstadt in einer bis dahin singulären Weise geschaffen hatte. So konnte beispielsweise eine «gewaltige Bedrohung, wie es sie seit Anbeginn nicht gegeben hatte» (ἀπειλὴ μεγάλη, οἵα οὐ γέγονεν ἀπ’ ἀρχῆς), – gemeint ist ein Erdbeben im Jahr 447 – in den Erweis «des Großmuts des menschenliebenden Gottes» (τῆς τοῦ φιλανθρώπου θεοῦ μακροθυμίας) transformiert werden, indem Theodosios II. sich als vorbildlicher Büßer an die Spitze einer Prozession stellte. Gerade in der symbolischen Selbsterniedrigung äußerte sich, wie man schon in der Antike wusste, ein Höchstmaß an Machtfülle: «Denn wer seinen Rang nicht mehr anders steigern kann, der kann nur auf eine Weise noch wachsen, wenn er sich selbst erniedrigt, wobei er sich seiner Größe gewiss sein kann» – so bereits der jüngere Plinius im Jahr 100 n. Chr. Und tatsächlich scheint das ‹hauptstädtische Kaisertum› seine wesentliche Funktion, eine stabile Herrschaftsausübung zu gewährleisten, zunächst weitgehend erfüllt zu haben. Der Chronist Johannes Malalas merkt jedenfalls an, dass Theodosios II. vom ganzen Volk und vom Senat geliebt worden sei – und eben darum ging es ja. Man kann sogar noch weiter gehen: Lässt man die zwei Jahrhunderte des ‹hauptstädtischen Kaisertums› Revue passieren, so zeigt sich, dass die oströmische Monarchie trotz aller temporären Gefährdungen letztlich eine erstaunliche Stabilität entwickelte, die auch von den Mitlebenden als solche wahrgenommen wurde. Gerade die sogenannten Kinderkaiser Arkadios und Theodosios II. erwiesen sich dabei insofern als zentrale Wegbereiter, als sie es waren, die das Kaisertum an die spezifischen soziopolitischen Rahmenbedingungen der sich etablierenden Residenz anpassten. Von einem ‹Niedergang› des Kaisertums, verschuldet durch vermeintlich ungeeignete, allenfalls zu vertiefter Frömmelei fähige Herrscher, wie häufig in der älteren Literatur zu lesen ist, kann also keine Rede sein. Wir werden vielmehr Zeugen einer strategischen, ohne Zweifel nicht immer bewusst gesteuerten Neuausrichtung des Kaisertums, die auch für jene Geschehnisse, die mit dem ‹Völkerwanderungs›-Komplex zusammenhängen, von Bedeutung ist. Denn die spezifischen Verhältnisse, die sich im Zentrum des Ostens seit etwa 400 etablierten, bestimmten in erheblichem Maße die Wahrnehmung historischer Entwicklungen. Die neue Hauptstadt des Christentums verstand sich
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als letztes Bollwerk gegen die andrängenden Barbaren; ihr Fall würde, so die bald vorherrschende Ansicht, den Untergang der irdischen Welt einläuten.36
4.2.2 Die Ausbildung eines ‹Hofes› in Konstantinopel
Nur wenig wissen wir über die Person des Arkadios, und die spärlichen Informationen rücken ihn in kein allzu positives Licht. Mild und ruhig, so heißt es, sei er zwar gewesen, energisch und tatkräftig auch, doch einfältig – und vor allem: willenlos, «wie ein Stück Vieh» von seinen Beratern beherrscht. Derartige Werturteile eignen sich kaum, um ein konsistentes Bild dieses Kaisers zu gewinnen. Sie verweisen vielmehr darauf, dass die Veränderungen, die sich unter seiner Herrschaft vollzogen, offenbar auf zwiespältige Reaktionen gestoßen sind. Nicht nur Synesios artikulierte ein in seiner Umgebung verbreitetes Unbehagen, wenn er dem in das Palastinnere zurückgezogenen, lichtscheuen Lurch den kriegstüchtigen Kaiser vergangener Zeiten entgegenhielt, sondern allein der Umstand als solcher, dass der Herrscher sich nunmehr dauerhaft in Konstantinopel niedergelassen hatte, musste Konsequenzen nach sich ziehen, die das Urteil über Arkadios polarisierten. Dabei ging es vor allem um eines: die Herausbildung eines stabilen Kaiserhofes und die damit verbundenen Konflikte um Rang und Einfluss, die mitunter (nicht nur) diskursiv auf bestimmte Felder ausgelagert werden konnten, wie etwa den Streit um den Einfluss von Barbaren am Hof, in Verwaltung und Militär. Die spannungsreiche Dynamik dieses Prozesses manifestiert sich bereits in der Tatsache, dass keines der zentralen Ämter in der Umgebung des Kaisers aus seiner institutionellen Anlage heraus verlässliche Voraussetzungen schuf, um den jeweiligen Inhabern allseits anerkannte Führungsrollen zu garantieren. Vielmehr beobachten wir einen komplexen Prozess der Ausponderierung, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog und von den Herrschern möglicherweise ganz gezielt offengehalten wurde, um gefährlichen Machtkonzentrationen neben dem Thron entgegenzuwirken. So stützte etwa Rufinos (Konsul 392), der Erste in der langen Reihe jener Gestalten, die sich besonderen Einfluss auf den Kaiser zu sichern suchten, seine Stellung auf das hochrangige Verwaltungsamt des praefectus praetorio Orientis (392–395); sein ‹Nachfolger› Eutropios (Konsul 399) hingegen agierte etwa von 395 bis 399 als oberster Kammerherr (praepositus sacri cubiculi) und reduzierte in dieser Zeit die Kompetenzen des Prätoriumspräfekten zugunsten jener des magister officiorum, der an der Spitze der Palastverwaltung stand; Aurelianos (Konsul 400), eine weitere zentrale Gestalt jener Jahrhundertwende, stieg als Stadtpräfekt Konstantinopels auf (393 / 94)
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und wirkte dann wiederum als praefectus praetorio Orientis (399; 414–416); die östliche Prätoriumspräfektur hatte auch Caesarius (Konsul 397) zunächst inne (395–397), doch konnte er sich nicht gegen den Kammerherrn Eutropios behaupten und sein Amt erst in einem zweiten Anlauf zur Basis größerer Einflussnahme ausbauen (400–403); in ähnlicher Weise versuchte auch Eutychianos (Konsul 398), der Bruder des Aurelianos, zu agieren (praefectus praetorio Orientis 397– 399, 399–400, 403 / 04–405). Deutlich wird jedenfalls, dass hohe Ämter allein zur Ausübung besonderen Einflusses nicht hinreichten; hinzu kamen ‹weichere›, für uns analytisch allerdings nur schwer fassbare Faktoren wie Kaisernähe, Vernetzung in der hofnahen Aristokratie, auch Kontakte zur Ehefrau des Herrschers – und zunehmend: Frömmigkeit.37 Zwei wichtige Aspekte kristallisieren sich unter Arkadios’ Herrschaft allmählich heraus: Zum einen spielten militärische Amtsträger im Osten eine zunehmend untergeordnete Rolle, und dieser Prozess einer allmählichen Entmachtung des militärischen Sektors wurde von den Angehörigen der zivilen Eliten auch mit großem Nachdruck vorangebracht – ganz anders als im Westen, wo gleichzeitig die Generäle einen systematischen Ausbau ihrer Kompetenz- und Einflusssphären betrieben (Stilicho, Constantius III.). Die gegenläufigen Entwicklungen im Osten manifestieren sich unter anderem in Kompetenzverlagerungen und in Prozessen gegen verdiente Feldherren Theodosius’ I.: Hochdekorierte magistri militum wie Flavius Abundantius und Flavius Timasius wanderten jetzt ins Exil (396), und der Argwohn gegenüber den Generälen nahm noch einmal zu, nachdem Gainas aus Konstantinopel vertrieben worden war; selbst jener Feldherr, der Gainas’ Truppen über die Donau gejagt hatte – Fravitta –, wurde in ein Komplott verstrickt und bezahlte dieses mit seinem Leben (402 / 03). Es ging hier nicht, wie so häufig zu lesen ist, um die Ausschaltung barbarischer oder gar ‹germanischer› Feldherren, sondern um die Zurückdrängung von Militärs insgesamt. Arkadios hatte zwar das Gotenproblem (Alarich, Gainas) von seinem Vater Theodosius geerbt, doch bemühte man sich im Osten nunmehr vorrangig, Konflikte diplomatisch zu lösen, bevor zu den Waffen gegriffen wurde. Diese nach Theodosius’ Tod sich zunehmend abzeichnende Politik resultierte zunächst sicherlich auch daraus, dass dem Osten temporär keine hinreichend schlagkräftige Streitmacht zur Verfügung stand; doch selbst nach deren Rückkehr aus Italien (Ende 395) blieb es grundsätzlich beim Primat der Diplomatie – dies mit eine der Erklärungen für die unentschlossen wirkende Schaukelpolitik gegenüber Alarich. Zum anderen beobachten wir nunmehr, dass einflussreiche Amtsträger in mitunter rascher Folge abgelöst wurden; erst mit dem Prätoriumspräfekten Anthemios (Konsul 405) gelang es einer einflussreichen Person wieder, sich länger zu halten (405–414). Man mag diese Amtswechsel auf die Schwäche des Kaisers zurückführen, der in der Tat in mancher Situation nur
Bedrohung und Konsolidierung 4.2
über sehr eingeschränkte Handlungsspielräume verfügte; allerdings könnte sich hinter diesem Phänomen auch ein Bemühen verbergen, letztlich doch die entscheidenden Fäden selbst in der Hand zu behalten. Immerhin haben die häufigen Ab- und (Wieder-)Einsetzungen hoher Magistrate keineswegs die Ausbildung langfristiger, stabiler Karrieren behindert.38 Bereits am 27. April 395, also nur drei Monate nach dem Tod seines Vaters, heiratete Arkadios die fränkischstämmige Aelia Eudoxia. Ihr Vater Bauto (Konsul 385, gemeinsam mit Arkadios) hatte unter Valentinian II. und Theodosius I. zu den wichtigsten Feldherren des Reiches gezählt. Gleichwohl erscheinen Mutmaßungen zweifelhaft, wonach die Ehe mit Blick auf eine ‹fränkische› Fraktion, zuletzt repräsentiert durch den Offizier Arbogast, der sich nach dem Scheitern der Eugenius-Usurpation (394) das Leben genommen hatte, geschlossen worden sein soll; denn sie überdehnen wohl die Reichweite eines ‹fränkischen Identitätsbewusstseins›. Vielmehr dürfte Arkadios eine starke Verbindung zu den militärischen Eliten gesucht haben, was aus seiner Position heraus nur allzu verständlich erscheint. Und einmal mehr spielten Konkurrenzkämpfe im Umfeld des Kaisers eine Rolle: Die Ehe wurde von Eutropios eingefädelt, der auf diesem Wege wohl versuchte, Rufinos zu schwächen; dieser hatte sich zuvor erfolglos darum bemüht, seine eigene Tochter dem Kaiser zur Frau zu geben, und wurde durch das Arrangement des Eutropios nunmehr empfindlich getroffen. Hinzu kam, dass Eudoxia nach dem Tod ihres Vaters (vor 388) im Haus eines Sohnes des Promotus aufgewachsen war, Letzterer ein erklärter Gegner des Rufinos. Eudoxia jedenfalls entwickelte sich rasch zu einer zentralen Figur im Ränkespiel am Hof des Arkadios. Dabei profitierte sie, seit 400 in den Rang einer Augusta erhoben, nicht nur von ihrem exzeptionellen Kinderreichtum (sie verstarb bereits 404 als fünffache Mutter an den Folgen einer Fehlgeburt), sondern vor allem auch von ihrer Frömmigkeit, die sie in mitunter spektakulären Gesten demonstrierte. Johannes Chrysostomos, in den Jahren 398–404 Bischof von Konstantinopel, bezeugt mehrfach die Gottesfürchtigkeit der Kaiserin, so etwa anlässlich der Translatio heute unbekannter Märtyrerreliquien von der Sophienkirche in Konstantinopel zum Martyrium des heiligen Thomas in Drypia, einem Vorort der Hauptstadt (400 / 02). Die Kaiserin selbst, so der Bischof in seiner Predigt, habe unter Verzicht auf Hofstaat, Leibwachen und einen Wagen gemeinsam mit dem Volk zu Fuß den Schrein in einer nächtlichen Lichterprozession begleitet und dabei permanent berührt. Wie eine Dienerin sei Eudoxia den Reliquien gefolgt, habe ihr Purpurkleid mit dem Gewand der Demut (ταπεινοφροσύνη) vertauscht. Szenen wie diese haben in der Vergangenheit immer wieder dazu gedient, den Osten des Römischen Reiches mit dem Dunst byzantinischer Schwüle zu umgeben. Die fränkischstämmige Kaiserin dürfte indes kaum die in derartigen Vorstellungen transportierte These vom
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Wirken eines wie auch immer gearteten ‹Orientalismus› in Konstantinopel untermauern.39 Eudoxias Einfluss nahm beständig zu; schließlich war ihre Position so stark, dass sie die Exilierung des Johannes Chrysostomos, der in der Bevölkerung höchstes Ansehen genoss, in seinen scharfzüngigen Predigten aber auch vor Kritik an der Kaiserin nicht zurückgescheut war, zu betreiben vermochte. Nach einer ersten Verbannung im Jahr 403, die rasch wieder aufgehoben wurde, musste der streitbare Asket im Jahr 404 die Hauptstadt endgültig verlassen. Er starb 407 im Exil.40 Auch sonst waren die ersten Jahre der Herrschaft des jungen Kaiserpaares ereignisreich: Die Konflikte um Alarich schwelten, 397 verschärften der Gildo-Aufstand und die Erklärung Stilichos zum hostis die Spannungen zwischen Konstantinopel und Ravenna massiv. Die Gainas-Affäre (400) brachte die Regierung an den Rand der Handlungsunfähigkeit. In Kleinasien und angrenzenden Regionen nutzten in den Jahren von 404 bis 408 isaurische Plündererscharen das durch die Revolte Tribigilds hinterlassene Durcheinander, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Für Irritationen sorgten bald auch verstärkte Beutezüge verschiedener Berbergruppen, vor allem der Maketen und Austurianer, im Gebiet der Kyrenaika (Pentapolis) seit 405; sie fügen sich zwar in das Gesamtbild zunehmender Unruhen an der afrikanischen Südgrenze des Imperium Romanum seit dem späteren 4. Jahrhundert, wurden aber erst durch politische Maßnahmen Konstantinopels – konkret: eine verunglückte Reform der Militärorganisation Libyens – zu einer wirklichen Bedrohung. Es war ausgerechnet der uns bereits bekannte Synesios, der in dieser Situation seine Ambitionen auf eine Karriere am Kaiserhof aufgab und selbständig die Verteidigung seiner Heimatprovinz organisierte.41 Und dennoch: Der gefährlichste Gegner Ostroms in jenen Jahren waren die Hunnen.
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Erste Auseinandersetzungen mit den Hunnen im Osten
4.3.1 Der Hunnenkrieg des Jahres 395 4.3 Erste Auseinandersetzungen mit den Hunnen im Osten
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So spärlich unser erhaltenes Material über den großen Hunneneinfall des Jahres 395 auch ist – im Gedächtnis der Mitlebenden hinterließ der ausgedehnte Plünderungszug tiefe Spuren. «Überall Leid, überall Wehklagen und immer wieder das
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Bild des Todes» (ubique luctus, ubique gemitus et plurima mortis imago), hielt Hieronymus rhetorisch formvollendet fest, indem er innenpolitische Turbulenzen (Ermordung des Rufinos, Beseitigung der Feldherren Abundantius und Timasius) und Barbareneinfälle zu einem finsteren Schreckensbild amalgamierte. Der syrischsprachige Dichter Kyrillonas, selbst Zeuge des Geschehens, komponierte einen ausdrucksvollen Klagegesang, in dessen Verlauf er die hunnische Invasion mit gleichzeitigen Dürren, Heuschreckenplagen und Erdbeben zu einem apokalyptischen Gesamtpanorama verdichtete und Gott um ein Ende des Strafgerichts anflehte. Noch im 6. Jahrhundert kursierten Hymnen und Predigten, die im Angesicht jener Hunnenangriffe entstanden waren; einer ihrer Verfasser, ein sonst nicht bekannter Absamias, wird zuweilen mit Kyrillonas identifiziert.42 Die Verheerungen, die das erste massive Eindringen der Hunnen in das Imperium Romanum anrichtete, müssen gewaltig gewesen sein. «Tot sind die Kaufleute, verschwunden die Gelübde, verwitwet die Frauen, aufgehört hat das Opfer», klagt Kyrillonas und ereifert sich dann in bemerkenswerter Schärfe: «Wenn mich die Hunnen, o Herr, besiegen werden, warum habe ich dann meine Zuflucht zu den heiligen Märtyrern genommen? Wenn ihre Schwerter meine Söhne erwürgen werden, warum habe ich dann Dein erhabenes Kreuz umfasst? Wenn Du ihnen meine Städte überliefern willst, wo bleibt dann der Ruhm Deiner heiligen Kirche?»43 Die Hunnen stießen im Jahr 395 vom Don aus wohl über den Darielpass im Kaukasus (Caspia claustra) nach Süden vor, überrannten Armenien und drangen tief in das Römische Reich ein. Große Teile des römischen Armeniens, Syriens und Kleinasiens (Kappadokien, Kilikien) gingen in Flammen auf; bis Edessa (heute Şanlıurfa) und Antiocheia (heute Antakya) gelangten die hunnischen Reiter. Nach dem Kaukasusübergang scheinen sich die Angreifer in drei Gruppen aufgeteilt zu haben. Eine erste überquerte nach schweren Verwüstungen römischer Gebiete den Euphrat und wurde danach von römischen Streitkräften gestellt, die den Eindringlingen eine vernichtende Niederlage beibrachten und angeblich niemanden entkommen ließen – vielleicht ein Racheakt für das von den Hunnen angerichtete Massaker nach der brutalen Erstürmung der Tigrisfestung Ziatha, in die sich die Zivilbevölkerung von Amida (heute Diyarbakır) geflüchtet hatte. Eine weitere Gruppe durchquerte plündernd Kleinasien, Syrien und Palästina (Richtung Jerusalem). Der dritte Verband scheint sich nach Osten gegen das Perserreich gewendet zu haben. Wenn ein in den Fragmenten des Priskos überlieferter Bericht sich auf diese Ereignisse bezieht (was nicht unumstritten, aber doch wahrscheinlich ist), dann kennen wir sogar die Namen der Anführer dieser Gruppe: Basich und Kursich, «Männer der königlichen Skythen». Ein syrischer Chronist aus dem 8. Jahrhundert, der sich auf einen Zeitzeugenbericht stützen konnte, beschreibt ihren Zug durch römische Gebiete bis tief nach Klein-
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asien; zahllose Gefangene hätten die Hunnen gemacht, bevor sie sich schließlich Richtung Euphrat und Tigris gewandt hätten, um auch ins Perserreich einzufallen. Dort seien sie brandschatzend und weitere Menschen verschleppend bis zur Hauptstadt Ktesiphon vorgestoßen (ohne diese zu erobern), auf die Nachricht eines anrückenden persischen Heeres hin jedoch wieder zurückgewichen. Den Persern sei es immerhin gelungen, einen Teilverband der Invasoren aufzureiben und ihnen die Beute abzunehmen – darunter 18 000 römische Gefangene, die man direkt für sich behielt. Basich und Kursich hätten sich – so nun wieder Priskos – über den Kaukasus zurückgezogen, wahrscheinlich über die Engstelle von Derbent (Dagestan) am Kaspischen Meer, von wo aus die Hunnen auf brennende Ölfelder blickten.44 Wir hatten bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass der Hunneneinfall des Jahres 395 kaum im Zusammenhang mit jenem Donauübergang von Barbaren stehen dürfte, der im Winter 394 / 95 erfolgte und von Claudian nur kurz angerissen wird. Ein eventueller Zangenangriff auf das Römische Reich hätte jedenfalls recht weit entwickelte Kommunikations- und Koordinationsstrukturen bei den Hunnen vorausgesetzt, wie sie um 400 noch nicht angenommen werden können (es existierte ja noch kein organisiertes ‹Hunnenreich›); vor allem aber die Tatsache, dass die über den Kaukasus vorgedrungenen Hunnen nicht nur römische, sondern auch persische Gebiete verheert haben, spricht gegen einen groß angelegten Angriff auf das Imperium Romanum. Wir müssen die hunnische Invasion des Jahres 395 im Osten wohl eher als gewaltigen Raubzug ansehen, bei dem es vor allem um das Einsammeln materieller Güter sowie den Erwerb von Sklaven ging; möglicherweise spielten auch Versorgungsprobleme innerhalb der hunnischen Verbände in der Steppe eine Rolle; Letzteres jedenfalls deutet Priskos an, der von einer Hungersnot unter den Hunnen spricht.45 Die von den Hunnen hinterlassenen Verheerungen müssen verschiedentlich katastrophal gewesen sein. Rasch machten, wie so oft in derartigen Situationen, Verratsgerüchte die Runde. Vor allem Rufinos rückte dabei einmal mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit; er habe, so der Vorwurf, die Hunnen aus eigenen Machtinteressen herbeigeholt. Tatsächlich jedoch war der Osten des Römischen Reiches schlichtweg handlungsunfähig, weil seine Hauptmacht sich infolge des Bürgerkriegs gegen Eugenius 394 weiterhin in Italien befand und damit in den Ostprovinzen nicht eingesetzt werden konnte. Insofern bedeuteten schon kleinere Erfolge wie die Vernichtung der hunnischen Reitergruppe, die den Euphrat überschritten hatte, durch noch verbliebenes römisches Militär herausragende Leistungen. Nicht ohne Grund hatte Rufinos ja umgehend die Rücksendung des Ostheeres von Stilicho gefordert.46 Im Jahr 396 herrschte gespannte Ruhe. Zeitgenossen rechneten mit dem
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Schlimmsten: einem erneuten Angriff der Hunnen. Städte wurden gesetzlich angewiesen, Befestigungen anzulegen oder auszubessern; für fortifikatorische Maßnahmen wurden Finanzmittel bereitgestellt. «Noch ist nicht ein Jahr darüber verflossen, seit jene auszogen, mich verwüsteten und meine Kinder gefangen nahmen; und siehe, sie drohen nun wiederum, zum zweiten Male unser Land zu demütigen», orakelt ein verängstigter Kyrillonas – doch die Befürchtungen blieben unbegründet. Die Hunnen kehrten vorerst nicht zurück.47 Anders im Folgejahr: Offenbar kam es nun erneut zu hunnischen Attacken, wenn auch wohl in geringeren Ausmaßen. Unsere Evidenz – wir können einzig auf Claudians giftige Ausfälle gegen Eutropios zurückgreifen – ist spärlich und wenig aussagekräftig, so dass mitunter gar bezweifelt wurde, es sei überhaupt ein weiterer Hunnenangriff erfolgt. Doch so weit wird man nicht gehen müssen. Wir wissen nämlich, dass nach der Entmachtung der hohen oströmischen Generäle der Oberkammerherr Eutropios selbst im Jahr 397 die Führung der Truppen übernahm und einen Sieg erfocht – wo und in welchem Ausmaß, ist freilich unbekannt; lediglich Armenien und Kappadokien lassen sich grob als Kampfgebiete ausmachen. Die allgemeine Erleichterung darüber, dass man offenbar wieder in der Lage war, den Hunnen die Stirn zu bieten, schlug sich jedenfalls in den üppigen Ehrungen nieder, die Eutropios nach seiner triumphalen Rückkehr zuteilwurden: Im Jahr 399 durfte er, als einziger Eunuch jemals und vom Westen nie anerkannt, das Konsulat bekleiden; er erhielt den patricius-Titel, seine Leistungen wurden mit Ehrenstatuen gefeiert. Der Hunnensieg führte Eutropios auf den Gipfel seiner Karriere – bis er noch im Jahr 399 jäh über die Gainas-Revolte stürzte und sämtliche Auszeichnungen, schließlich sogar sein Leben verlor.48 Die Wucht, mit der die Hunnen ihre Invasion über den Kaukasus vortragen konnten, deutet darauf hin, dass sich ihr Gravitationszentrum in den 390er Jahren weiterhin in den Regionen nördlich des Schwarzen Meeres befand und (noch) nicht, wie vielfach vermutet, im Gebiet jenseits der unteren Donau. Hätten sie von dort aus zunächst den langen Ritt bis zu den Kaukasuspässen auf sich nehmen müssen, so hätten sie sicherlich einen großen Teil ihrer Schlagkraft durch Erschöpfung eingebüßt. Das Vordringen der Hunnen nach Westen vollzog sich also in recht trägem Tempo – aber es nahm allmählich Gestalt an: Als Gainas nach dem Gemetzel an seinen Truppen im Jahr 400 über die Donau ins Barbaricum floh, wurde er dort vom Hunnen Uldin abgefangen, der damals bereits über einen beträchtlichen Verband verfügt haben muss (s. u.).49 Die hunnischen Angriffe des Jahres 395 hatten indes auch Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Ostrom und den Sāsāniden. Denn sie rückten die Notwendigkeit einer energischen Verteidigung der Kaukasuspässe, die im Interesse beider Großmächte lag, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Chronist Josua
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Stylites führt im frühen 6. Jahrhundert, als die Perser die römische Führung wieder einmal um Geld zur Finanzierung der Defensivmaßnahmen angegangen hatten, gerade den Hunneneinfall des Jahres 395 als mahnendes Beispiel an. In den Jahren um 400 musste man in Konstantinopel jedoch zunächst einmal registrieren, dass die hunnischen Kräfte auch nördlich der Donau allmählich zunahmen – eine Entwicklung, die sich mit dem Namen Uldins, des ersten für uns sicher greifbaren Hunnenherrschers, verbindet.50
4.3.2 Uldin und der erste römisch-hunnische Vertrag
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Wie weit sich Uldins Einflussbereich erstreckte, ist schwer auszumachen. Der Hunne war jedenfalls dazu in der Lage, innerhalb kurzer Zeit sowohl in Thrakien (404 / 05) als auch in Italien (405 / 06) zu intervenieren, so dass sein Aktionszentrum bereits nördlich der Donau, also westlich der Schwarzmeersteppen, gelegen haben muss. Der Kirchenhistoriker Sozomenos hält für das Jahr 408 immerhin fest, Uldin habe die Führung «über die Barbaren nördlich der Donau» innegehabt (Οὔλδης ὁ ἡγούμενος τῶν ὑπὲρ τὸν Ἴστρον βαρβάρων) – die Hunnen waren damals also bereits in die heutige Walachei vorgedrungen und begannen sich allmählich im unteren Donauraum zu etablieren. Seit der Herrschaft Uldins können wir schemenhaft die Formierung jener hunnisch dominierten Kriegerkonföderation verfolgen, die dann unter Attila ihre größte Ausdehnung erreichen sollte, wenngleich weder Uldin noch Attila jemals über alle Hunnen bzw. hunnischen Verbände geherrscht haben. Machtbildung und Machtsicherung scheinen unter Uldin nach denselben Mechanismen funktioniert zu haben wie unter Attila: Das Römische Reich diente vornehmlich als Reservoir für Prestigegüter, Beute und Gefangene; barbarische Verbände jenseits des Imperiums, die in den Dunstkreis der Hunnen gerieten, wurden entweder gezwungen, sich unter eigenen Anführern der Koalition anzuschließen, oder mussten ausweichen. Konkurrenz konnte der im Entstehen begriffene Großverband jedenfalls nicht zulassen. Dies wird uns gleich bei der ersten Gelegenheit, zu der uns Uldin entgegentritt, vor Augen geführt. Der Hunne ergriff Gainas, der sich nach dem Massaker der Konstantinopolitaner an seinen Truppen (400) über die Donau abgesetzt hatte, und schickte seinen Kopf dem Kaiser – eine nicht ganz alltägliche Form der ersten (?) Kontaktaufnahme, die indes Früchte trug: Arkadios schloss 401 ein Abkommen mit dem neuen mächtigen Mann jenseits der Donau und leitete damit eine Serie oströmisch-hunnischer Verträge ein, die bis zum Jahr 449 die Spielräume der Regierung in Konstantinopel zunehmend einengen sollten. Diese Entwicklung
Erste Auseinandersetzungen mit den Hunnen im Osten 4.3
war indes zum Zeitpunkt jener ersten Übereinkunft, über deren konkreten Inhalt wir nicht informiert sind, noch nicht absehbar. Lediglich von «Geschenken» an Uldin im Vorfeld des Vertragsabschlusses ist die Rede. Konstantinopel dürfte zunächst vor allem deshalb an einem Abkommen mit Uldins Hunnen interessiert gewesen sein, weil es eine Ordnungsmacht im unmittelbar angrenzenden Barbaricum benötigte, mit deren Hilfe sich die unruhige Donaugrenze sichern ließ.51 Die sich in Uldins Wirken abzeichnende Verschiebung des hunnischen Schwerpunkts nach Westen scheint sich allerdings mittelfristig nicht allzu vorteilhaft auf das Imperium Romanum ausgewirkt zu haben. Der von den Hunnen ausgeübte Druck auf andere Verbände jenseits der Reichsgrenzen nahm jetzt nämlich bedrohlich zu. Es wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass der Einfall des Goten Radagaisus in Italien 405 / 06 wahrscheinlich eine mittelbare Folge der hunnischen Westbewegung darstellte; auch Andeutungen Claudians, wonach Stilicho im Jahr 401 unter größeren Anstrengungen Vorstöße der Vandalen und Alanen in Raetien und Noricum, also an der oberen Donau, unterbinden musste, lassen aufhorchen. Es waren unter anderem vandalisch-alanische Verbände, die dann in der Silvesternacht 406 / 07 nicht mehr zu halten waren und den Rhein in Richtung Gallien überquerten. Und vielleicht spielte die zunehmende hunnische Präsenz an der unteren Donau auch eine Rolle bei Alarichs Entschluss, im Herbst 401 in Richtung Italien zu ziehen. Offenkundig ist jedenfalls, dass die Verhältnisse im Barbaricum nördlich der Donau um 400 in Bewegung gerieten.52 Uldin selbst ließ sich durch die Ergebnisse des Vertragsschlusses 401 nur kurzfristig zufriedenstellen; um seine kontinuierlich anwachsende Kriegerkonföderation zusammenzuhalten, benötigte er zusätzliche Beute ebenso wie Kriegsruhm. Seine Entscheidung, im Winter 404 / 05 das römische Thrakien zu plündern, findet insofern eine plausible Erklärung in dem Druck, der offenkundig auch auf dem Hunnenführer lastete. Weitaus erstaunlicher und mit Blick auf die Ausdehnung des von Uldin kontrollierten Raumes aufschlussreich ist die Tatsache, dass er sich bereits 405 / 06 in Italien einfinden konnte, um dort im Verbund mit Stilicho und dem Goten Sarus die Streitmacht des Radagaisus erfolgreich und, wenn man unseren Zeugnissen glaubt, ausgesprochen gewinnbringend niederzuringen. Ob im Zusammenhang dieser Initiative gar ein formaler Vertrag zwischen der weströmischen Regierung und den Hunnen geschlossen wurde, ist allerdings umstritten.53 Unruhig und letztlich unkontrollierbar blieben die Hunnen ohnehin ganz unabhängig von etwaigen Verträgen. Bereits im Sommer 408 überquerte Uldin erneut mit gewaltiger Heeresmacht (πλείστην ἔχων στρατίαν) die Donau und verwüstete die thrakischen Provinzen. Beide römische Regierungen befanden sich damals in prekärer Situation, und die Hunnen dürften dies registriert haben:
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Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
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Im Westen spitzten sich die Konflikte um den Umgang mit Alarich und seinen Forderungen dramatisch zu, gipfelnd in der Ermordung Stilichos am 22. August 408. Im Osten kam es zu gefährlichen Spannungen mit den Persern; überdies war am 1. Mai desselben Jahres Kaiser Arkadios gestorben. Nichts also kam nun ungelegener als ein erneuter Einfall der Hunnen. Doch Uldin ließ sich nicht aufhalten. Ohne dass wir Aussagen über die Gründe treffen könnten, waren die Römer dem hunnischen Angriff militärisch offenkundig nicht gewachsen. In großer Hast wurden Gegenmaßnahmen eingeleitet. Ein Gesetz vom 11. April 408 weist Herculius, den Prätoriumspräfekten für Illyricum, an, alles Erforderliche für den Ausbau von Stadtbefestigungen sowie die Beschaffung von Lebensmitteln zu tun – ohne dabei auf etwaige Privilegien der Betroffenen Rücksicht zu nehmen. Dennoch fiel Uldin mit Castra Martis (heute Kula, Nordwestbulgarien) eine strategisch wichtige Stadt (durch Verrat) in die Hände, so dass die römische Militärführung vor Ort sich schließlich gezwungen sah, Verhandlungen mit den Hunnen aufzunehmen. Diese allerdings verliefen ergebnislos, da Uldin willkürlich Tributleistungen festlegte, die selbstverständlich nicht akzeptabel waren. «Da zeigte er auf die aufgehende Sonne», so berichtet Sozomenos, «und behauptete, es sei für ihn leicht zu bewerkstelligen, wenn er wolle, alles Land, das sie bescheint, zu unterwerfen».54 So absurd diese Aussage auf den ersten Blick auch wirken mag, so ernst wird man sie doch nehmen müssen. Denn gerade die übertriebene Großspurigkeit, mit der Uldin offensichtlich aufgetreten ist, veranschaulicht ein Kommunikationsverhalten, das typisch ist für hunnische (und später auch awarische) Herrscher und in besonderer Weise bei Attila, der mehrfach krude Ambitionen auf die Weltherrschaft artikuliert haben soll, hervortritt. Die Diplomatie der Hunnenführer bestand aus einem kunstvollen Gemisch aus kontrollierter Freundlichkeit, harschen Forderungen und Drohungen sowie kalkulierten Zornesaufwallungen, verbunden jeweils mit eindrucksvollen symbolischen Gesten.55 In der Situation des Jahres 408 waren mit Uldins feierlicher Inszenierung jedoch sämtliche direkten Gespräche abrupt beendet. Stattdessen setzten sich die römischen Emissäre nun mit Uldins Vertrauten und Unterführern (πρὸς τοὺς ἀμφὶ τὸν Οὔλδην οἰκείους καὶ λοχαγούς) in Verbindung und gewannen diese kurzerhand durch Bestechung. Damit war Uldins Ende besiegelt: Mit wenigen verbliebenen Getreuen sah er sich plötzlich einer Koalition aus Römern und ehemaligen Gefolgsleuten gegenüber; mühsam und unter hohen Verlusten rettete er sich noch über die Donau – und verschwindet danach aus der Überlieferung.56 Für die römische Seite hieß es nun, den direkten Auswirkungen des Hunneneinfalls beizukommen und für die Zukunft die Gefahr vergleichbarer Überraschungsmomente zu minimieren. Sozomenos berichtet, dass die Flucht Uldins
Erste Auseinandersetzungen mit den Hunnen im Osten 4.3
über die Donau chaotisch verlaufen sein muss. Der Hunne habe im Durcheinander des Rückzugs die Skiren verloren, einen zahlenmäßig recht großen Teilverband (ἔθνος […] ἱκανῶς πολυάνθρωπον), der sich offenbar auch unter hunnischer Herrschaft noch eine eigene Identität erhalten hatte. Die Römer hieben Teile der Skiren direkt nieder, der Rest wurde in Ketten nach Konstantinopel verbracht. Um die von ihnen ausgehende Bedrohung zu reduzieren, wurden die Überlebenden verteilt: Man verkaufte sie als Sklaven oder verschenkte sie gar an Landbesitzer, mit der Auflage, dass die Gefangenen nie wieder Europa betreten dürften. «Eine Menge von ihnen», so der Kirchenhistoriker weiter, «blieb unverkauft und bekam an verschiedenen Orten ihren Aufenthalt zugewiesen». Der Autor selbst will in Bithynien noch auf vereinzelte Skiren getroffen sein, die dort Land bestellten. Ein Gesetz vom 12. April 409 bestätigt Sozomenos’ Darstellung. Es ist an den Prätoriumspräfekten des Ostens, Anthemios, gerichtet und legt die Bedingungen für die Ansiedlung der Skiren fest. Die Konstitution hat in der Vergangenheit größeres Forschungsinteresse auf sich gezogen, weil sie zwei kontrovers diskutierte Problemkreise berührt: zum einen die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des sogenannten spätrömischen Kolonats – ein Sammelbegriff für verschiedene Formen freier und nicht freier Landbearbeitung in der Übergangsphase zwischen Spätantike und Frühmittelalter –, zum anderen den diffizilen Komplex der Ansiedlung barbarischer Verbände auf römischem Territorium. Die Hoffnungen, aus dem (unvollständig überlieferten) Text Rückschlüsse auf prinzipielle Muster und Vorgehensweisen ziehen zu können, haben sich allerdings als trügerisch erwiesen, da das Gesetz sehr spezifische, der konkreten Situation geschuldete Maßnahmen formuliert. Landbesitzer erhielten die Gelegenheit, aus dem Bestand der Skiren ihre Arbeitskräfte zu verstärken, und zwar «unter keinem anderen Recht als dem des Kolonats» (non alio iure quam colonatus), d. h. in diesem Fall mit unauflösbarer Bindung an die Scholle und verbindlich festgelegten Leistungen bzw. Abgaben, die über den jeweiligen Landbesitzer als Steuern an die Zentraladministration zu entrichten waren. Dass den neu gewonnenen Bauern der Aufenthalt in den nahe ihren Herkunftsgebieten gelegenen Regionen Thrakien und Illyricum strikt untersagt war (dies hatte ja auch Sozomenos vermerkt), spiegelt in besonderer Weise die Situationsgebundenheit des Gesetzestextes. Andererseits zeichnen sich trotz aller Spezifik auch Aspekte ab, die in entsprechenden Regelungen immer wieder thematisiert werden: die dem römischen Sicherheitsbedürfnis geschuldete Zerschlagung und Zerstreuung unterworfener Verbände, der Versuch, die angesiedelten Personen in die Steuerverwaltung einzubinden, sowie – im Fall der Skiren allerdings recht kryptisch formuliert – ihre Einbeziehung in das Rekrutierungssystem für die römische Armee.57 Erhebliche Probleme bereitete der Regierung indes auch der umgekehrte Fall:
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Kapitel IV Der Osten des Römischen Reiches
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römische Provinzbewohner, die auf der Flucht vor drohenden Barbarenangriffen von römischen Landbesitzern ergriffen und versklavt oder direkt von Barbaren verschleppt und dann an wohlhabende Römer verkauft worden waren. Man bemühte sich ostentativ, für diese Fälle Abhilfe zu schaffen, indem man Regelungen erließ, die darauf zielten, möglichst jedem römischen Bürger seine Freiheit zu restituieren; inwieweit die entsprechenden, mit schweren Strafandrohungen einhergehenden Gesetze tatsächlich beachtet wurden, ist allerdings schwer einzuschätzen.58 Andere Maßnahmen hatten vorausblickenden Charakter: Schon im Jahr 408 war die Verstärkung der Befestigungsanlagen thrakischer Städte gesetzlich angeordnet worden. Eine Konstitution aus dem Jahr 410 sieht vor, sämtliche Zugangsmöglichkeiten zum Oströmischen Reich abzuriegeln bzw. genauestens zu kontrollieren. Zwei Jahre später wurden Landbesitzer in den Provinzen explizit auf die Beteiligung an allfälligen Strukturmaßnahmen verpflichtet. Zeitgleich wurde zudem ein aufwendiges Programm zur Verstärkung der Donauflotte aufgelegt, und bereits 413 konnten die theodosianischen Landmauern vollendet werden, jenes gewaltige Bollwerk, das über ein Jahrtausend hin das oströmisch-byzantinische Konstantinopel vor auswärtigen Gegnern beschirmen sollte und sich noch heute eindrucksvoll im Zentrum Istanbuls vor dem Betrachter erhebt. Ganz offensichtlich war die oströmische Regierung der Bedrohung gewahr, die sich jenseits der Donau, in unmittelbarer Nähe zur Hauptstadt, allmählich verdichtete.59 Die aktuelle Gefahr, die von Uldins Übergriffen ausging, war indes spätestens zum 23. März 409 gebannt, wie einem Gesetz zu entnehmen ist, das an diesem Tag promulgiert wurde. Nur knapp waren die Römer einer größeren Katastrophe entkommen, weil es ihnen geglückt war, ihr militärisches Versagen durch diplomatische Geschicklichkeit zu kompensieren. Offenbar waren sie bereits zu Beginn des 5. Jahrhunderts so umfassend über die Struktur hunnischer Verbände informiert, dass sie um die labile Position des Anführers und den auf ihm permanent lastenden Druck wussten; wenn es gelang, den Hunnenherrscher zu isolieren – in diesem Fall durch die Aufhebung seines Monopols bei der Verteilung materieller Güter –, dann drohte seine Position zu erodieren. Ohne Zweifel barg diese Strategie gefährliche Risiken, denn niemand hatte ja wissen können, ob und zu welchen Bedingungen die hunnischen oikeíoi kai lochagoí – also wohl jene Personengruppe, die Priskos als logádes bezeichnet – tatsächlich die Seiten wechseln würden. Doch scheint die Kriegerkonföderation im Jahr 408 noch ausgesprochen locker gefügt, die Position des Anführers recht schwach verankert gewesen zu sein. Hier lassen sich bis zur Herrschaft Attilas Verfestigungs- und Institutionalisierungstendenzen beobachten – jedoch ohne dass sich an den grundsätzlichen Strukturen etwas geändert hätte: Auch Attila musste sich seine
Erste Auseinandersetzungen mit den Hunnen im Osten 4.3
Stellung in langwierigen Kämpfen sichern und auch seine Position blieb keineswegs unantastbar. Wir werden sehen, dass auch in seinem Fall die oströmische Führung einmal mehr versuchte, den hunnischen Gesamtverband dadurch entscheidend zu schwächen, dass sie auf sein Haupt – den Herrscher selbst – zielte.60 Was aus Uldin wurde, wissen wir nicht. Sein Großverband jedenfalls scheint in kleinere Gruppen zerfallen zu sein, die an verschiedenen Orten aufblitzen, ohne dass eine übergreifende Führungsperson kenntlich würde. Kaiser Honorius soll im Jahr 409 angeblich 10 000 frei verfügbare hunnische Reiter – tatsächlich waren es sicherlich deutlich weniger – für den Kampf gegen Alarich gewonnen haben, und auch auf dessen Seite fochten Hunnen. Gleichzeitig konnte der weströmische General Generidus im mittleren Donauraum umfangreiche Militäroperationen durchführen, ohne dass er auf organisierten hunnischen Widerstand gestoßen wäre. Das Ende Uldins bedeutete offenkundig auch das (vorläufige) Ende seiner Kriegerkonföderation.61 So schien es denn, als würde Arkadios’ Sohn Theodosios II., der 408 im zarten Alter von sieben Jahren die Nachfolge seines Vaters antrat, ein zumindest nach außen gesichertes Reich übernehmen: Die Hunnengefahr war vorerst gebannt, und umfangreiche Sicherungsmaßnahmen sollten zukünftigen Attacken entgegenwirken; an der Ostgrenze herrschte nach dem – leider nur schlecht bezeugten – Vertragsabschluss mit den Sāsāniden 408 für längere Zeit Ruhe, die Berberübergriffe in der Pentapolis in den Jahren von 405 bis 412 wirkten sich nicht auf die Stabilität des Gesamtgefüges aus; sogar der Handelsboykott, den Honorius auf Anraten Stilichos gegenüber dem Osten verhängt hatte, wurde in einem Gesetz vom 10. Dezember 408 wieder aufgehoben; infolgedessen entsandte Konstantinopel 410 eine 4000 Mann starke Truppeneinheit nach Italien, um die weströmische Regierung im Kampf gegen Alarich zu unterstützen. Niemand konnte im Jahr 408 absehen, dass die eigentlichen Herausforderungen auf Theodosios und seine Berater noch warteten – freilich nicht an der Ostgrenze, wo es im 5. Jahrhundert nur zu vereinzelten, rasch beigelegten Konflikten mit den Persern kam, sondern einmal mehr in den Balkangebieten, denen die schlimmsten Prüfungen durch die Hunnen erst noch bevorstanden.62
KAPITEL V
Ringen um die Rheingrenze: Der Westen des Römischen Reiches
5.1
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert
5.1.1 Ein verschütteter Feldzug tritt zutage Kapitel DerUnsicherheiten Westen des Römischen Reiches 5.1V Zunehmende im 3. Jahrhundert
Unvorstellbar: 300 bis 400 Meilen, also etwa 450 bis knapp 600 Kilometer tief soll Kaiser Maximinus (235–238) im Jahr 235 (oder 236) mit gewaltiger Streitmacht in das rechtsrheinische Germanien vorgedrungen sein. Dort brandschatzte er Dörfer, vernichtete Ernten und führte etliche Gefangene sowie reichhaltige Beute siegreich davon. Sein Vorgänger Severus Alexander (222–235), unmittelbar zuvor von den eigenen Soldaten ermordet, hatte diesen Feldzug noch konzipiert, als Vergeltungsakt für brutale Überfälle im Jahr 233 /34. Damals hatten Verbände aus dem Barbaricum – nennen wir sie Alemannen – die Konzentration römischer Streitkräfte an der Perserfront ausgenutzt, um die grenznahen Regionen Obergermaniens und Raetiens weiträumig zu verheeren, dabei auch mehrere römische Kastelle in der Wetterau zerstört, die Region um Kempten verwüstet und waren vielleicht sogar bis nach Gallien gelangt.1 Nun also führte Maximinus das von Severus Alexander begonnene Werk zu Ende und drang in die Germania ein. «Dabei hegte er den Plan», so lesen wir in der Historia Augusta, «die nördlichen Gebiete bis zum Ozean unter römische Herrschaft zu bringen; er hätte dies auch vollbracht, wenn er noch länger gelebt hätte, wie Herodian, ein griechischer Autor, sagt». Unter modernen Interpreten genießen nun allerdings gerade die Kaiserbiographien aus der im 4. Jahrhundert
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Kapitel V Der Westen des Römischen Reiches
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entstandenen Historia Augusta und ihr Referenzautor Herodian (ca. 180 – nach 238) nicht unbedingt den allerbesten Ruf, was ihre Zuverlässigkeit angeht. Vor allem aber waren Historiker sich angesichts der generellen geostrategischen Situation der Römer in jenen Jahren – gekennzeichnet von einem beginnenden Zweifrontenkampf gegen die Sāsāniden im Osten und zunehmenden Barbarenüberfällen an Rhein und Donau – weitgehend sicher, dass allein die Vorstellung größer angelegter Militäroperationen mitten im Barbaricum, rund 300 Kilometer vom Limes entfernt, geradezu absurd sei. Schon im Jahr 1620 wurde daher der Text der Historia Augusta in einer bis heute akzeptierten Weise korrigiert: Nicht von 300–400 (trecenta vel quadringenta), sondern wohl eher von 30–40 Meilen (triginta vel quadraginta) müsse im Ursprungstext die Rede gewesen sein: Kleinere Vorstöße ins Barbarengebiet erschienen für die Jahre um 235 jedenfalls noch plausibel, aber keine weiträumigen Invasionen mit übergreifenden strategischen Zielsetzungen mehr.2 Die Archäologie hat uns eines Besseren belehrt. Im Sommer 2008 wurde am Nordwestrand des Harzes, am sogenannten Harzhorn bei Kalefeld (Landkreis Northeim, Niedersachsen), ein antikes Schlachtfeld entdeckt, das mit naturwissenschaftlichen und archäologischen Methoden recht bald in das Jahrzehnt 230–240 n. Chr. datiert werden konnte; mittlerweile besteht kein Zweifel mehr daran, dass die reichhaltigen Militaria-Funde vom Harzhorn in den Kontext jener Germanen-Expedition des Maximinus Thrax gehören müssen, über deren angebliche Ausdehnung man bisher allenfalls schmunzeln zu können meinte. Der Befund ist indes eindeutig: Eine starke und gut ausgestattete römische Armee, bestehend aus Legionären (die Anwesenheit der legio IIII Flavia Felix lässt sich sogar aus einem Inschriftenfund erschließen), Auxiliarverbänden (regulären Hilfstruppen), Reiterei und Tross, begleitet von osrhoenischen Bogenschützen und Speerschleuderern aus Nordafrika, überdies ausgerüstet mit schwerer Artillerie (Torsionsgeschütze), befand sich auf einem damals häufig benutzten Pfad, der den norddeutschen Raum über das Leinetal mit der hessischen Senke, der Wetterau und damit dem Weg nach Mainz, der Hauptstadt der obergermanischen Provinz, verband. Am Harzhorn wand sich die Strecke durch sumpfiges Gelände zwischen zwei Anhöhen hindurch – heute die Trasse der Autobahn A 7. Hier hatte sich offenbar der Widerstand gegen die Römer formiert; barbarische Kämpfer hielten die Engstelle und die Anhöhen besetzt und versuchten den Rückmarsch der kaiserlichen Armee aufzuhalten. Aus den Funden – der Ausrichtung der erhaltenen Pfeilspitzen und Geschossbolzen sowie der Verteilung römischer Schuhnägel – lässt sich das Geschehen, das darauf folgte, rekonstruieren: Offenbar nahmen die Römer die gegnerischen Stellungen zunächst massiv unter Feuer, bevor die Infanterie in mehreren Säulen auf eine der An-
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
Ostsee Nordsee
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Karte 13 Die Schlacht am Harzhorn
Germanen an der Nordsee und im nördlichen Nordwestdeutschland Rhein-Weser-Germanen mit Übergängen (im Süden) Elbgermanen Übergangsbereich zwischen Elbgermanen und Rhein-Weser-Germanen
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Kapitel V Der Westen des Römischen Reiches
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höhen vorrückte und diese nach harten Kämpfen, die sich über mehrere Kilometer hinzogen, einnehmen konnte. Das römische Heer entging dadurch gerade noch einmal einem ähnlichen Debakel wie in der Varus-Schlacht 9 n. Chr. und konnte nach Süden durchbrechen – aber offenbar so hastig, dass keine Zeit mehr blieb, um das verbrauchte Kriegsmaterial wieder einzusammeln. Nur aus diesem Grund ist es uns heute möglich, den Schlachtverlauf derart präzise zu rekonstruieren. Man kann nun spekulieren: Handelt es sich bei dem Fundplatz gar um den Ort jener Schlacht «in einem sehr großen Sumpf» (ἐπὶ […] τινι ἕλει μεγίστῳ), in welcher der Kaiser selbst, so jedenfalls Herodian und die Historia Augusta, sich durch besonderen Wagemut ausgezeichnet haben soll und über deren Verlauf er dann eiligst Senat und Volk von Rom Bericht erstattete, ja die er später sogar als Teil seines Germanenkrieges in bildlichen Darstellungen vor dem Senatsgebäude präsentieren ließ?3 Wie auch immer man das Geschehen am Harzhorn in seinen Einzelheiten beurteilen mag – es zwingt Historiker zu einer grundsätzlichen Neubewertung der römischen Barbarenpolitik unmittelbar vor Beginn der sogenannten Reichskrise: Trotz der Bedrohung, die sich mit den Sāsāniden im Osten erhob, waren die Römer offenbar noch immer fähig und willens, umfangreiche strategische Operationen im Barbaricum durchzuführen; Severus Alexander hatte für die Vorbereitung des Germanenkrieges immerhin sogar seinen Perserfeldzug unterbrochen – freilich mit fatalen Konsequenzen (worin sich bereits das strategische Dilemma Roms im 3. Jahrhundert andeutet). «In jedem Falle aber wird man nun nicht mehr bezweifeln können, dass die römische Führung auf die Herausforderungen durch neue gefährliche Invasionen aus dem Barbaricum in der 1. Hälfte des 3. Jh. n. Chr. […] mit einer über viele hundert Kilometer ausgreifenden Niederwerfungsstrategie in Germanien zu antworten versuchte». Der Kampf um die Rheingrenze des Imperium Romanum, der mit Unterbrechungen bis zum Jahr 406 andauern sollte, war geradezu mit einem Paukenschlag eröffnet worden.4 Mit dem Ende der Severerdynastie und der Thronbesteigung des Maximinus Thrax treten wir in jene Phase der römischen Geschichte ein, die allgemein unter der (irreführenden) Bezeichnung ‹Reichskrise› bzw. ‹Krise des 3. Jahrhunderts› (ca. 235–284) bekannt ist und schon mehrfach in unserer Darstellung angesprochen wurde. Wie angedeutet, ist sie strukturell gekennzeichnet durch ein strategisches Dilemma Roms, das sich infolge des Aufstiegs der Sāsāniden im Osten sowie deutlich zunehmender Angriffe auf die Rhein- und Donaugrenzen – zwei Faktoren, die eine wechselseitige Steigerungsdynamik entwickelten – eines nahezu permanenten militärischen Drucks zu erwehren hatte, dem die Kaiser nur noch partiell standzuhalten vermochten. Mit diesen außenpolitischen Bedrängnissen, und teilweise dadurch bedingt, gingen innere Turbulenzen einher,
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
insbesondere eine rasche Fluktuation der Kaiser, Usurpatoren und Prätendenten, von denen kaum einer eines natürlichen Todes starb, deren Ansprüche jedoch eine Kette von Bürgerkriegen auslösten, durch die wiederum die Grenzen entblößt und auswärtige Gegner zu weiteren Attacken eingeladen wurden. Wirtschaftliche Probleme, Seuchenzüge und zunehmende Regionalisierungstendenzen bis hin zur temporären Abspaltung von Teil- und Sonderreichen verstärkten das allgemeine Unsicherheitsgefühl und leiteten auf unterschiedlichen Ebenen Transformationsprozesse ein, die sich insbesondere unter der Herrschaft Diokletians und Konstantins an der Wende zum 4. Jahrhundert zu einer neuen Formation auskristallisierten, die wir ‹Spätantike› nennen. Zu den einschneidenden Erfahrungen, mit denen umzugehen Zeitgenossen während des stürmischen 3. Jahrhunderts lernen mussten, gehört die Konfrontation mit grundlegend veränderten sozialen und militärischen Strukturen im Barbaricum, wie sie sich bereits in den Markomannenkriegen Marc Aurels (161–180; die Kriege: 166–182) abgezeichnet hatten: Die kleinteilige, vergleichsweise leicht beeinflussbare und kontrollierbare Welt jenseits des Limes hatte sich verändert; den Römern standen nun schlagkräftige, häufig wohlorganisierte und überregional operierende Großverbände aus Kriegern unterschiedlicher Herkunft gegenüber, die in zunehmender Frequenz beutesuchend in das Imperium Romanum eindrangen und sich mit den traditionellen Instrumenten der Grenzsicherung kaum mehr beherrschen ließen. Dazu zählen die uns bereits bekannten gotischen Gruppen, die seit 238 begannen, den Schwarzmeer- und Ägäisraum zu plündern; dazu zählen vor allem aber auch jene Verbände, die uns im 3. Jahrhundert erstmals unter den Bezeichnungen ‹Alemannen›, ‹Franken› und ‹Sachsen› begegnen.5 Über die Gründe, die zur Ausbildung dieser Großverbände geführt haben, ist viel gerätselt worden. Als allzu simpel haben sich dabei lineare Wanderungstheorien erwiesen, in deren Mittelpunkt vermeintliche Zusammenschlüsse kleinerer Gruppen aufgrund von Migrationen oder dadurch entstandenen militärischen Drucksituationen standen. Auch Thesen, wonach die übergreifenden Großgruppen «durch kulturelle Elemente Zusammenhalt gewonnen» hätten oder lediglich durch Veränderungen von ‹Stammesnamen› entstanden seien, konnten sich nicht durchsetzen. Stattdessen geht die Forschung heute, wie bereits skizziert, von komplexen sozialen Ausdifferenzierungsprozessen innerhalb des Barbaricum aus, die insbesondere auf verdichtete Kontakte zum Imperium Romanum seit der Zeitenwende zurückgeführt werden.6 Um die wichtigsten Punkte noch einmal kurz zu rekapitulieren: Die rechtsrheinische Welt, wie wir sie aus dem spärlichen Material zwischen Caesar und Tacitus, also grob für den Zeitraum von 50 v. Chr. bis 100 n. Chr., rekonstruieren können, ist gekennzeichnet von überschaubaren, sozial kaum differenzierten,
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bäuerlich geprägten Gruppen, deren Wirkungskreise eher kleinräumig waren und die aufgrund fehlender Möglichkeiten, Überschüsse zu erzeugen, nur ansatzweise eine distinkte Adelsschicht oder gar Könige hervorzubringen in der Lage waren. Die Römer interagierten mit diesen Gruppen entsprechend den bewährten Grundprinzipien ihrer Außenpolitik: Man sicherte die neuralgischen Grenzen militärisch ab (allmählicher Ausbau des Limes), aber ohne dadurch Austausch und Handel zu unterbinden – im Gegenteil. Die für Kontaktzonen typischen ‹Grenzgesellschaften› bildeten sich heraus. Die römische Führung versuchte über Verträge, die Anwerbung von Hilfstruppen, Geschenke sowie Geldund Subsidienzahlungen, ein friedliches Gleichgewicht in den Grenzgebieten aufrechtzuerhalten, und intervenierte immer nur dann militärisch – zumeist in Form kurzfristiger Strafexpeditionen –, wenn einzelne Gruppen oder Anführer allzu große, bedrohlich anmutende Wirkungskreise entfalteten. Alles in allem ein System, das sich in den ersten beiden Jahrhunderten der Kaiserzeit weitgehend bewährte.7 Aber diese Art der Grenzsicherung war auch mit langfristigen Kosten verbunden – für die Römer umso fataler, als sie die entsprechenden Zusammenhänge offenbar strukturell nicht durchschauten und daher nicht in der Lage waren, rechtzeitig gegenzusteuern bzw. die Grundprinzipien ihrer Politik zu überdenken: Mit den römischen Waren, die ins Barbaricum gelangten und dort als kostbare Prestigegüter galten, veränderten sich allmählich die sozialen Strukturen vor Ort. Wer in der Lage war, entsprechende Produkte zu erwerben oder zu akkumulieren, wer gar nach langjährigem Dienst in der römischen Armee mit Geld und einem reichhaltigen Erfahrungsschatz heimkehrte, genoss hohes Ansehen und stieg innerhalb der bäuerlichen, weitgehend durch Mangelwirtschaft gekennzeichneten Gemeinschaften auf. Soziale Schichtungen bildeten sich heraus, distinkte Eliten begannen sich auszudifferenzieren – ein Prozess, der vor allem durch ‹Geschenke› und Subsidien befördert wurde, die von römischer Seite an aufstrebende Anführer ausgegeben wurden, um in ihnen verlässliche Ansprechpartner jenseits der Grenzen zu gewinnen. Wir können all diese Entwicklungen nicht nur aus soziologischen Modellen extrapolieren, sondern auch archäologisch nachvollziehen – insbesondere in den sogenannten Fürstengräbern, deren Ausstattung vor allem seit dem 2. Jahrhundert auf tiefgreifende soziale Veränderungen im rechtsrheinischen Barbaricum hinweist.8 Mit den neuen sozialen Formationen ging die Ausbildung einer zuvor nicht nachweisbaren Kriegerschicht einher: Die sich ausdifferenzierenden Eliten versammelten Anhängerschaften um sich herum, um den eigenen Wohlstand zu demonstrieren bzw. zu vergrößern und durch die Umverteilung von Beute sowie militärische Erfolge innerhalb des sich verändernden Sozialgefüges weiter aufzu-
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
steigen. Der aus der Perspektive des Barbaricum geradezu enorme Reichtum der römischen Provinzen, den so mancher als Hilfstruppensoldat oder Händler aus eigener Anschauung kannte, muss eine ungeheure Ausstrahlungskraft entfaltet haben. «Für die von Mangelerfahrungen geprägte, jenseits der Grenzen des Imperium Romanum lebende bäuerliche Bevölkerung dürften die benachbarten römischen Provinzen ein extrem attraktives Beuteziel dargestellt und Übergriffe im Grenzbereich geradezu provoziert haben». Kriegergruppen schlossen sich so allmählich unter charismatischen Anführern zusammen und erhielten im Erfolgsfall weiteren Zuzug. So dürften allmählich größere Verbände entstanden sein, die zwar nicht die überkommenen bäuerlichen Strukturen verdrängten oder gar ablösten, aber doch – zumindest in der Sichtbarkeit von außen – überlagerten, zumal sich bäuerliche und kriegerische Existenzen nicht grundsätzlich ausschlossen. Unsere literarische Überlieferung berichtet vorzugsweise von Auseinandersetzungen und Konflikten, während Inschriften und archäologische Befunde auch Rückschlüsse auf friedliches Zusammenleben im Alltag zulassen.9 Folgt man diesem Modell, so erscheinen die seit dem 3. Jahrhundert (bzw. in Ansätzen schon seit den Markomannenkriegen des 2. Jahrhunderts) zunehmend bezeugten Großverbände im Wesentlichen als Produkte römischer Politik bzw. direkter und indirekter römischer Einflussnahme auf die Verhältnisse im Barbaricum – eine Vorstellung, die so manchem Historiker indes nicht vollends behagt. Aus diesem Grund wird auch die Migrationsthese noch nicht gänzlich aufgegeben, sondern – wenngleich in weitaus differenzierterer Form als noch vor wenigen Jahrzehnten – weiterhin diskutiert. Tatsächlich lassen sich im archäologischen Befund Veränderungen ausmachen, die in den Dienst der Annahme größerer Wanderungsbewegungen gestellt worden sind, so etwa siedlungsgeographische Schwerpunktbildungen bzw. Verschiebungen fort vom Ostseeraum und von der Niederelbe hin zu den Gebieten an mittlerer Elbe und Saale bzw. im Thüringer Becken sowie die damit verbundene Verlagerung lokaler Machtzentren; all dies wurde unter anderem mit einem allmählichen Nord-Süd-Drift elbgermanischer Bevölkerungselemente bis in die Regionen der Rhein-Weser-Germanen hinein erklärt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die so benannten Gruppen keine historisch bezeugten Verbände darstellen, sondern Entitäten, die aus archäologischen Funden erschlossen wurden – mithin moderne Konstrukte: Während den Rhein-Weser-Germanen verschiedene Fundplätze im Vorfeld der Rheingrenze während des 1. bis 3. Jahrhunderts zugeordnet werden, umfasst die sogenannte elbgermanische Kultur das östlich daran anschließende Elbegebiet. Vorbehalte dieser Art schließen verstärkte Wanderungsbewegungen im 2. und 3. Jahrhundert freilich nicht grundsätzlich aus; sie verweisen allerdings auf die erhebliche methodische Problematik, die mit ihrer Annahme einhergeht – zumal
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auch für die Bewohner des Thüringer Beckens enge Verbindungen zur römischen Welt feststellbar sind. Vor allem aber beobachten wir die Entstehung von Großverbänden im 3. Jahrhundert keineswegs ausschließlich im rechtsrheinischen Barbaricum, sondern auch in davon weit entfernten Regionen der Peripherie des Imperium Romanum, so etwa im nördlichen Schwarzmeerraum, auf der arabischen Halbinsel und sogar in Nordafrika (Quinquegentiani). Vielleicht sollte daher vorsichtiger und sehr grundsätzlich nur von dynamischen Prozessen innerhalb des Barbaricum gesprochen werden, die auch mit Migrationsvorgängen verbunden gewesen sein könnten, sich aber wohl kaum ursächlich auf diese reduzieren lassen. Gerade die überregionale Perspektive spricht vielmehr dafür, die Entstehung der Großverbände des 3. Jahrhunderts vorwiegend auf soziale Ausdifferenzierungsprozesse im Kontext sich verdichtender Kontakte mit dem Imperium Romanum zurückzuführen.10
5.1.2 Falsch gestellte Frage: Woher kamen die Alemannen?
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Über die Ursprünge der Alemannen, die in romanischen Sprachen den Deutschen ihren Namen geben, ist nicht nur unter Historikern, sondern insbesondere auch in der provinzialrömischen Archäologie viel nachgedacht worden, mit der Folge, dass die entsprechende Forschungsliteratur mittlerweile nahezu unüberschaubare Ausmaße angenommen hat. Der Fokus unseres Abrisses soll allerdings weniger auf der Herkunftsproblematik liegen – nicht zuletzt, um unergiebige Diskussionen über eventuelle Migrationswege ohnehin kaum fassbarer Gruppen zu vermeiden. Stattdessen wird es zunächst um die Anfänge jener Konfrontation der (provinzial-)römischen Bevölkerung mit zunehmend gefährlichen und allmählich weiter ausgreifenden Gemeinschaften gehen, die im obergermanisch-raetischen Raum und in angrenzenden Regionen große Teile des 3. bis 5. Jahrhunderts geprägt hat.11 Frühe Kontakte zwischen Römern und Alemannen im 3. Jahrhundert spiegeln sich in literarischen und archäologischen Zeugnissen. Plastischer ist in diesem Fall zunächst einmal das archäologische Material. In Heldenbergen an der Nidder, heute ein Stadtteil der Gemeinde Nidderau (Wetterau), befand sich seit Beginn des 2. Jahrhunderts ein römisches Kastell mit kleiner Zivilsiedlung (vicus) im Rückraum des Limes, der in jener Region eine Ausbuchtung bildete, die die fruchtbaren Gebiete der heutigen Wetterau umschloss. Wohl im Jahr 233 müssen sich dort Szenen unvorstellbarer Grausamkeit abgespielt haben: Der gesamte vicus ging in Flammen auf, die Gebäude verkohlten oder stürzten ein. Diese
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
Obergermanischer Limes Raetischer Limes (Steinmauer) Legionslager Römische Stadt Vicus Militärische Befestigung (Kastelle) Römisches Landgut (villa) Dorf Moderner Ort Provinzgrenze Straße
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Karte 14 Südwestdeutschland in der römischen Kaiserzeit
Brandkatastrophe scheint im Zusammenhang mit heftigen Kämpfen gestanden zu haben. Das archäologische Fundmaterial weist den Gebrauch von Wurf- und Schusswaffen aus, was für eine zumindest teilweise offene Schlacht spricht; aber auch Zweikämpfe Mann gegen Mann lassen sich aus den Verletzungen der gebor-
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Kapitel V Der Westen des Römischen Reiches
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genen Knochen rekonstruieren. Berittene Kämpfer kamen zum Einsatz, in jedem Fall war reguläres römisches Militär in die Vorgänge verwickelt. Nach dem Ende der Kämpfe – die Ausgräber sprechen eher von einem Massaker – blieb ein Ruinenfeld zurück, das nicht mehr wieder aufgebaut wurde. Die Trümmer waren übersät mit unbestatteten Leichen junger Männer; einige Knochen wurden Monate nach dem Ereignis, von Hunden, Füchsen oder Wölfen zernagt, notdürftig verscharrt, andere blieben einfach liegen. Im Anschluss an das Gemetzel müssen die Sieger noch einmal plündernd das Schlachtfeld durchmessen haben; dabei wurden Gegnern, die bereits bewusstlos oder gefallen waren, mutwillig die Schädel zertrümmert. Ein schwacher Trost: Die Bewohner von Heldenbergen waren offenbar vorgewarnt. Denn unter den Opfern finden sich ausschließlich kampffähige Männer, keine Frauen und Kinder; die Vorratsspeicher der Häuser waren ausgeräumt, als sie niederbrannten. Verschiedene Indizien deuten also darauf hin, dass der Ort vor der Ankunft der Plünderer evakuiert worden war. Nach dem Blutbad des Jahres 233 wurde er aufgegeben. Er gehört wahrscheinlich in den Horizont jener Attacken auf römische Gebiete, die der großen GermanenExpedition des Kaisers Maximinus vorausgingen.12 Immer unsicherer gestalteten sich damals die ohnehin prekären Lebensverhältnisse, immer bedrohlichere Ausmaße nahmen die Übergriffe aus dem Barbaricum an. Grabinschriften weisen jetzt mehrfach die vielsagende Formel latronibus interfectus («von Räubern ermordet») auf. Städte umgaben sich zunehmend mit Mauern – sicher nicht nur aus Gründen der Repräsentation oder infolge eines Mentalitätswandels, sondern aufgrund realer Ängste –, so etwa Mainz in den 250er Jahren, in den 270ern dann sogar die Tiberstadt selbst (Aurelianische Mauern). Als vorbildlich ausgegrabener Fundplatz mag Heldenbergen exemplarisch für das Schicksal zahlreicher größerer und kleinerer Ansiedlungen in den Nordwestregionen des Imperium Romanum seit dem 3. Jahrhundert stehen. Die Attacke auf den vicus war indes kein simpler Raubüberfall, sondern Teil eines organisierten Plünderungszuges, dem man mit Evakuierungen und militärischem Widerstand beizukommen versuchte. Ein ähnliches Grauen scheint zeitnah auch ein römisches Landgut im bayerischen Harting (Regensburg) eingeholt zu haben: In zwei Brunnenschächten fanden sich dort die Gebeine von 13 Personen, allesamt gewaltsam getötet. Männern, Frauen und Kindern waren brutal die Schädel eingeschlagen worden, die Leichen hatte man offenbar zerstückelt, Frauenschädel deuten auf Skalpierungen hin; verschiedene Indizien, vor allem die Form der Verstümmelungen, legen einen Opferkontext nahe. Ein vergleichbares Bild zeigt sich in Kaiseraugst (Schweiz), wo ebenfalls gespaltene Schädel in einem Brunnen versenkt wurden, und in Nida (Frankfurt a. M.) fanden sich in einem Brunnenschacht die Skelette eines Mannes, einer Frau und eines Kleinkindes – sie alle durch Keulen (?),
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
Abb. 16 Funde aus dem Hort von Neupotz
Schwerter und Beile «bestialisch ermordet». Vor derartigen Überfällen könnte die Familie des Dativius Victor aus Nida geflohen sein. Der ehemalige decurio (Ratsherr) begann in seiner neuen Heimat Mainz aus Dankbarkeit gegenüber der dortigen Bevölkerung mit der Anlage eines Ehrenbogens, den seine Söhne schließlich vollenden ließen.13 Die Angreifer führte vor allem die Suche nach Beute in Form wertvoller materieller Güter und Sklaven in römisches Territorium. Vielleicht im Jahr 277 / 78 verloren alemannische Plünderer auf dem Rückweg ins Barbaricum mehr als 1000 erbeutete Metallgegenstände mit einem Gesamtgewicht von rund 700 Kilogramm im Rhein bei Neupotz (Ldkr. Germersheim, Rheinland-Pfalz); es ist denkbar, dass sie beim Flussübergang von Booten der römischen Rheinflotte gestellt worden waren und dabei Teile ihres Raubgutes im Wasser versanken. Der Hort von Neupotz beeindruckt wegen der Menge der geborgenen Gegenstände, stellt jedoch keineswegs den einzigen Fund seiner Art dar. So fanden sich unter anderem bei Hagenbach (Ldkr. Germersheim, Rheinland-Pfalz) die 109 Kilogramm schweren Reste von insgesamt 346 alemannischen Beutestücken, die bei einer Rheinüberquerung verloren gegangen sein müssen. Noch heller ist indes das Schlaglicht, das die Inschrift eines 1992 bei Bauarbeiten in Augsburg entdeckten Victoria-Altars auf die Unsicherheiten jener Zeit wirft. Der Text ist von eminenter Bedeutung für die Entschlüsselung zentraler politischer Vorgänge im Kontext der sogenannten Reichskrise und stellt zudem ein wichtiges Zeugnis für Ethnogeneseprozesse im nördlichen Barbaricum dar (dazu s. u.). Der ritterliche Statthalter Marcus Simplicinius Genialis löste mit der Weihung nach siegreicher Schlacht ein Gelübde gegenüber der Göttin Victoria ein: Niedergemacht und in die Flucht geschlagen (caesos fugatosque) hatte er am 24. und 25. April 260 zahlreiche Barbaren – Juthungen
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Kapitel V Der Westen des Römischen Reiches
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bzw. Semnonen –, indem er ihnen ein offenbar kurzfristig improvisiertes Heer aus Soldaten der Provinz Raetien, aus in Germanien stationierten Abteilungen und einer lokalen Bürgerwehr (a militibus prov(inciae) Raetiae sed et Germanicianis itemque popularibus) entgegengeworfen hatte. Die Barbaren hatten sich offenkundig auf dem Rückweg von einem Raubzug über die Alpen nach Oberitalien befunden, als der Feldherr sie beim heutigen Augsburg stellte. Viele Tausend gefangene Italiker habe er, so rühmt er sich, «herausgehauen» (excussis multis milibus Italorum captivor(um)) – ein deutlicher Hinweis darauf, welches Ausmaß barbarische Beutezüge im 3. Jahrhundert annehmen konnten.14 Wir können – und sollten – bereits die Invasoren des Jahres 233 ‹Alemannen› nennen, ohne damit allerdings fruchtlose Debatten um ihre ethnische Herkunft zu verknüpfen. Die Gebiete zwischen Main, Oberrhein und Donau wurden jedenfalls seit dem frühen 3. Jahrhundert in immer kürzeren Abständen von Plündererscharen heimgesucht, für die sich in unseren Quellen allmählich die Bezeichnung ‹Alemannen› etabliert – ganz so, wie die etwa gleichzeitig im Niederrheingebiet erscheinenden Raubgruppen als ‹Franken› und die in ihrem nördlichen Rückraum agierenden Verbände als ‹Sachsen› klassifiziert wurden. Für die römische Provinzialbevölkerung änderte sich im Verlauf der nun anbrechenden Jahrzehnte vieles. Denn die Plünderer wurden alsbald begleitet oder abgelöst von weiteren Fremden, die nicht wie die mobilen Krieger weiterzogen, sondern blieben. Die Bevölkerung der grenznahen Regionen begann sich dadurch zu verändern; einige Provinzialrömer wanderten ab, andere suchten sich mit den Neuankömmlingen zu arrangieren. Der militärische Widerstand der Römer, in mehreren Militärreformen neu organisiert, ließ in einigen Gebieten nach; sie wurden aufgegeben, die Ansässigen ihrem Schicksal überlassen. So zog sich die römische Administration langsam aus dem zwischen Oberrhein und Donau gelegenen Landkeil, der die Provinzen Germania Superior und Raetia voneinander trennte (dem sogenannten Decumatland), zurück, doch wurde dieser dadurch nicht automatisch oder gar unmittelbar ‹alemannisch›, sondern komplexe Akkulturationsprozesse, die ohnehin den Alltag in den Kontaktzonen geprägt hatten, setzten sich nun unter veränderten Rahmenbedingungen fort; auch hielten sich ehemals römische Institutionen und Strukturen, einen allmählichen Wandlungsprozess durchlaufend, noch über Jahrhunderte hin. Diese Neuformierungsprozesse konnten friedfertig verlaufen, aber dafür gab es keine Gewähr. Vor einem Blutbad wie in Heldenbergen konnte sich entlang der Rheingrenze während des 3. Jahrhunderts jedenfalls niemand sicher fühlen.15 Angesichts dieser Umstände mutet die Forschungsdebatte um die Ersterwähnung der Alemannen geradewegs akademisch an. Und doch ist sie nicht ohne Belang. Denn es geht letztlich um die Frage, wann die Kriegergruppen und Zu-
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1 Kastell gesichert Kastell vermutet Limes Provinzgrenze Straße
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Karte 15 Decumatland und Limes
zügler im Umfeld des Obergermanisch-Raetischen Limes – einer ca. 550 Kilometer langen, weitgehend symbolischen Demarkationslinie zwischen Rhein und Donau, die durch Kastelle, Wehrtürme, Mauerstücke, Wälle und Palisaden visualisiert wurde – in römischer Perspektive als einheitlicher Verband kategorisiert worden sind. Während die ältere Literatur recht unbekümmert die Ersterwähnung der Alemannen mit den Germanienfeldzügen des Kaisers Caracalla im Jahr
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213 in Verbindung gebracht hatte, war man zwischenzeitlich skeptischer: Denn die entsprechende Passage des Historiographen Cassius Dio, eines Zeitgenossen immerhin, ist nur in späten byzantinischen Auszügen erhalten, an deren Zuverlässigkeit Anstoß genommen wird. Auch am Quellenwert eines berühmten Fragments des ebenfalls im 3. Jahrhundert wirkenden Historiographen Asinius Quadratus über den Namen der Alemannen wurden Zweifel geäußert, denn auf diesen Text können wir ebenfalls nur indirekt über ein Zitat des Agathias aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts zugreifen. Gleichermaßen stehen Berichte über Kämpfe mit den Alemannen im 3. Jahrhundert, die sich ein Jahrhundert später in der lateinischen Historiographie finden, im Verdacht, lediglich Rückprojektionen aus der Zeit der Verfasser zu enthalten. In der neuesten Literatur schwenkt das Pendel jedoch tendenziell wieder zurück. Vor allem der Althistoriker Bruno Bleckmann konnte überzeugende Argumente dafür zusammentragen, dass die suspekten Zeugnisse für Erwähnungen der Alemannen seit dem Jahr 213 durchaus ernst zu nehmen sind. Schon im frühen 3. Jahrhundert – so die Konsequenz – haben Römer also umherziehende Kriegerscharen jenseits des Oberrheins als irgendwie zusammengehörig betrachtet und unter dem Alemannennamen subsumiert. Dabei griffen sie offenkundig auf eine Selbstbezeichnung dieser Personen zurück. Das wiederum bedeutet aber: Wichtige, wenngleich vielleicht nicht unbedingt die entscheidenden Schritte der alemannischen Ethnogenese vollzogen sich bereits zu Beginn des 3. Jahrhunderts und nicht erst – wie die Skeptiker unter Rekurs auf die erste unumstrittene Erwähnung im Jahr 289 vermuteten – nach der Aufgabe des sogenannten Decumatlandes, also in der zweiten Jahrhunderthälfte.16 Keineswegs wird durch diesen Frühansatz ausgeschlossen, dass die Ethnogenese der Alemannen weitgehend in Konfrontation mit den Römern erfolgte. Denn es waren ja ohne Zweifel die Römer, die eine Selbstbezeichnung marodierender Kriegerscharen als «Vollmenschen» bzw. «Menschen schlechthin» oder gar als «Menschen insgesamt» (Ala-Mannen) aufgriffen, sie zum Teil pejorativ missdeuteten als «zusammengelaufene und vermischte Menschen» (ξύγκλυδές εἰσιν ἄνθρωποι καὶ μιγάδες) – so Asinius Quadratus – und recht bald auf ein Gebiet zwischen Mainz und der Donau bezogen, das erstmals unter Constantius I. (293–306) im Jahr 297 als Alamannia erscheint. Verschiedene Kriegergruppen aus dem Hinterland des Barbaricum hatten, teils in wechselseitiger Konkurrenz, teils temporär kooperierend, in dieser Region seit dem 3. Jahrhundert zunehmend für Unruhe gesorgt und sich nach ihren Überfällen zumeist rasch wieder zurückgezogen. Eine zentrale Leitungsstruktur besaßen diese Scharen nicht. Noch im 4. Jahrhundert beschreibt Ammian recht anschaulich das Agieren alemannischer Kriegerverbände unter mehreren Anführern (reges, regales), die sich manchmal
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
zusammenschlossen, aber nie eine dauerhafte monarchische Spitze oder übergreifende Institutionen ausbildeten. Insofern ist die Bezeichnung der Alemannen als ‹Großverband› oder gar ‹Großstamm› letztlich auch eher irreführend.17 Nach einer ersten Phase, die vornehmlich durch kurzfristige Plünderungszüge gekennzeichnet war, begannen sich etwa ab der Wende zum 4. Jahrhundert einzelne Kriegergruppen in den Gebieten zwischen Oberrhein und Donau festzusetzen, indem sie die Vorbevölkerung entweder ermordeten, vertrieben oder mit ihr so zusammenwuchsen, dass vielfach auch ehemalige Provinzialrömer allmählich zu ‹Alemannen› wurden. Diesen vielschichtigen Prozess als ‹Landnahme› zu bezeichnen, ist insofern problematisch, als dadurch ein langwieriger Ethnogenesevorgang, der sich weitgehend auf römischem Boden, zumindest aber in stetem Kontakt mit römischer Bevölkerung vollzog, auf vermeintlich gezielte Inbesitznahmen großflächiger Territorien reduziert und damit letztlich wieder auf das Migrationsparadigma zurückgeführt wird. Die alemannischen Kriegerverbände waren aber zunächst lediglich auf Beute aus. Und der mittelkaiserzeitliche Limes wurde auch nicht einfach ‹überrannt›, sondern der Rückzug Roms aus dem sogenannten Decumatland erfolgte seit 260 auf unterschiedlichen Ebenen – dem Abzug von Militär, das anderweitig benötigt und phasenweise von kurzfristig zusammengewürfelten lokalen Milizen ersetzt wurde, dem graduellen Rückbau administrativer Strukturen, der Aufgabe von Kastellen und Besatzungen und der Abwanderung größerer Bevölkerungsteile. Gruppen von Neuankömmlingen rückten nach, übernahmen, allerdings auf niedrigerem Niveau, verlassene Dörfer und Villen (wie z. B. in Wurmlingen, Kr. Tuttlingen) oder gründeten Ansiedlungen – seit dem 4. Jahrhundert entstehen jene Höhensiedlungen, in denen man zumindest teilweise die Sitze alemannischer Anführer vermutet. Vieles spricht dafür, dass die Aufgabe des schwer zu verteidigenden Winkels zwischen Oberrhein und Donau vor allem eine Folge der Kämpfe zwischen Kaiser Gallienus (253 /260–268) und dem Usurpator Postumus (260–269) war, der als Herrscher über das sogenannte Gallische Sonderreich zumindest Teile Raetiens kontrolliert haben muss – also eine strategische Entscheidung im Kontext eines innerrömischen Bürgerkrieges. Auch die nahezu gleichzeitige Aufgabe Dakiens erfolgte ja aus prinzipiellen strategischen Erwägungen heraus.18 Die römische Führung begann sehr bald, auf die sich zunehmend lokal verankernden neuen Verbände zuzugreifen, ihr militärisches Potential zu nutzen, und trug damit zur Verfestigung der gesellschaftlichen Strukturen bei den Zuzüglern bei. Gerade unter Konstantin I. (306–337) und seinen unmittelbaren Nachfolgern gelangten mehrere Alemannen in hohe Offiziersränge, bevor sie dann seit Valentinian I. (364–375) allmählich von fränkischstämmigen Konkurrenten abgelöst wurden (s. u.). Als Einheiten in der spätantiken römischen Armee tauchen mehr-
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Kapitel V Der Westen des Römischen Reiches
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fach alemannische Gruppen mit Namen auf, die auf regionale Bezugspunkte verweisen: Brisigavi aus dem Breisgau, Bucinobantes aus dem Buchenwaldland, Lentienses aus dem Linzgau, Raetovarii aus Raetien. Diese regional verankerten Bezeichnungen bildeten sich jedoch erst allmählich heraus; die solchermaßen kategorisierten Gruppen waren ebenso wenig ‹ursprünglich› wie die Alemannen insgesamt. Signifikant ist das Fehlen einer alemannischen Ursprungserzählung (origo gentis). Archäologisch gesichert sind immerhin enge Verbindungen der Neuankömmlinge zum mitteldeutsch-elbgermanischen Raum. Dieser jedoch strahlte gleichzeitig bis nach Mecklenburg, Böhmen und Gallien aus, so dass es kaum möglich ist, eine lineare Migration mit fest fixierbaren Ausgangs- und Endpunkten zu rekonstruieren. Ohne Zweifel erfolgte bis weit in das 4. Jahrhundert hinein ein steter Zustrom von Menschen über jahrhundertealte Verkehrs- und Handelsrouten, doch müssen wir uns diesen eher als allmähliches Einsickern vorstellen, ein Prozess, der seinerseits eingebunden war in etablierte mitteleuropäische Handels-, Kontakt- und Migrationsnetze; und die entscheidenden Schritte einer alemannischen Ethnogenese erfolgten – wie angedeutet – ohnehin erst in Konfrontation mit der römischen Seite. Es ist deshalb auch nicht möglich, ältere, etwa bei Tacitus im 1. Jahrhundert n. Chr. bezeugte ‹Stammesnamen› als ‹Vorläufer› o. ä. der Alemannen zu interpretieren, sondern die Sachlage ist ungleich komplexer. Vergangene Versuche, die Alemannen linear aus den Semnonen abzuleiten, sind inzwischen aufgegeben worden, ohne dass damit in Abrede gestellt würde, dass Semnonen an der Ethnogenese der Alemannen beteiligt gewesen sein könnten. Der bereits erwähnte Augsburger Siegesaltar feiert einen römischen Sieg über «Barbaren aus der gens der Semnonen bzw. (?) der Juthungen» (barbari gentis Semnonum sive Iouthungorum). Die Juthungen standen also ihrerseits (als Jungmannschaft oder als Abkömmlinge bzw. Traditionsträger?) mit Semnonen in Verbindung, und Ammian sieht in ihnen einen «Teil der Alemannen» (Alamannorum pars). Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass die Semnonen schon bei Tacitus als ältester und angesehenster Verband unter den Sueben, einer übergreifenden Konföderation, erscheinen. Die Tatsache, dass die Bezeichnung Suebi (‹Schwaben›) für die Alemannen seit dem 6. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt, könnte für ein jahrhundertelanges gleichsam subkutanes Fortleben älterer Identitäten sprechen – sagt aber ihrerseits kaum etwas über Herkunft und etwaige ursprüngliche Zugehörigkeiten ‹der› Alemannen aus.19 Letztere scheinen sich, um das Wesentliche zu resümieren, schlicht aus heterogenen und in ihrer Zusammensetzung zumindest anfangs durchaus fluiden Kriegergruppen herausgebildet zu haben. Deren Angehörige entstammten unterschiedlichen Verbänden, zu denen mitunter noch Verbindungen bestehen konnten, ohne dass daraus ethnische Zuweisungen resultieren mussten; viel-
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
mehr brachten die einzelnen Krieger verschiedene Traditionselemente in die sich konstituierenden Neuformationen ein. Namentlich ihre Anführer dürften vielfach Kontakte zu römischen Autoritäten aufgenommen und durch Geschenke, Subsidien oder Aufnahme in die römische Armee ihre jeweiligen Verbände so weit stabilisiert haben, dass diese für Zeitgenossen allmählich als feste Größen innerhalb der grundsätzlich lose organisierten Alemannen-Konföderation, die man zwischen Main und Donau geographisch als Alamannia lokalisierte, sichtbar wurden. Eine Einwanderung ‹der› Alemannen, einer «volkreichen und grandios vom Pferd aus kämpfenden gens» (so Aurelius Victor im 4. Jahrhundert), als festgefügter Formation in den heutigen südwestdeutschen Raum ist mithin ausgeschlossen. «Vielleicht ist daher die Frage nach der Herkunft der Alemannen einfach falsch gestellt; sie kommen nirgends her, sondern sind das Ergebnis der Ethnogenese im Vorfeld des spätrömischen Limes, wobei die ‹zusammengekommenen Armeen› aller Krieger oder Männer, der Alamanni ihre Ursprünge überall haben können».20
5.1.3 Die frühen Franken: Expansion statt Migration
Mobile, plündernde Kriegerscharen wird man auch als Keimzellen der frühen Franken zugrunde legen müssen. Dass sie von Priamos, dem letzten König von Troia, abstammen sollten, hätte die Angehörigen dieser Verbände im 3. Jahrhundert sicherlich selbst am meisten überrascht. So aber wurde es später erzählt: Flüchtlinge aus dem eroberten Troia hätten sich auf ihrer Wanderung aufgeteilt. Die eine Gruppe sei nach Makedonien gezogen (aus ihr seien später Philipp II. und Alexander der Große hervorgegangen), die andere habe in heftigen Kämpfen Asien durchquert und sich zwischen Rhein, Donau und dem Ozean angesiedelt. Dort sei es zu einer erneuten Spaltung gekommen. Unter ihrem König Francio habe eine Gruppe Europa durchmessen und sich am Rhein niedergelassen (wo die Gründung eines zweiten Troia gescheitert sei), die andere sei an der Donau geblieben. Man habe Letztere nach ihrem König Turquotus / Torcoth als ‹Türken› (gens Turquorum / Torci / Turchi) bezeichnet, während der zum Rhein abgewanderte Teil nach Francio ‹Franken› (Franci) genannt worden sei.21 Diese fränkische Troia-Legende ist erst mit der sogenannten Fredegar-Chronik im 7. Jahrhundert greifbar, war aber in Grundzügen bzw. Einzelelementen möglicherweise bereits dem Bischof und Historiographen Gregor von Tours gegen Ende des 6. Jahrhunderts bekannt. In Fredegars Version trägt sie unübersehbar die Signaturen politischer Konstellationen des 6. / 7. Jahrhunderts, vor allem mit
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Kapitel V Der Westen des Römischen Reiches
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Blick auf die wichtige Rolle der Türken, die als politischer Faktor erst im zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts Konturen gewinnen. Vorrangig manifestiert das Konstrukt ein Bemühen, die Franken im Horizont der griechisch-römischen Mythhistorie zu verankern – immerhin galten auch die Römer als Nachkommen geflohener Troianer, ein Mythos, an den Vergil in seiner Aeneis gleichermaßen wortgewaltig wie wirkmächtig angeknüpft hatte. Die Franken sollten zudem mit dem biblisch-antiken chronologischen Gerüst, wie es spätestens seit der Chronik des Eusebios (frühes 4. Jahrhundert) verfügbar war, synchronisiert werden, um dadurch ihr ungemein hohes Alter hervorzuheben. Damit jedoch wurde die Vorstellung einer einheitlichen, kompakten gens, deren wechselnde Gestalt auf fest fixierbare ‹Spaltungen› und nicht auf permanente Neuformierungsprozesse zurückgeführt werden kann, weit in die Vergangenheit zurücktransportiert, über die ersten Zusammenschlüsse variabler Kleingruppen zu ‹Franken› im 3. Jahrhundert hinweg – mithin: Hier wurde ein Identitätsbewusstsein konstruiert, das für die Frühzeit der Franken vollkommen anachronistisch ist. Diese Form der fränkischen Ursprungserzählung kann nicht sonderlich alt gewesen sein. Offenbar besaßen die Franken zunächst keine genuine origo gentis – ein Merkmal, das sie, wie vieles andere auch, mit den Alemannen teilten.22 In wechselnden Konstellationen und Zusammensetzungen operierten seit dem 3. Jahrhundert unterschiedliche Kriegerverbände im Gebiet des Niederrheins bis zur Nordseeküste. Wo sie erschienen, verbreiteten sie Furcht und Schrecken; man sah in ihnen verwegene Piraten, denen kein Abenteuer zu riskant war. So sollen um 280 einige gefangene, nach Kleinasien verschleppte Franken den Römern über das Meer entkommen sein; nach der Plünderung von Syrakus hätten sie den Atlantik erreicht und seien von dort in ihre Heimat zurückgesegelt. Geschichten wie diese verschafften den fränkischen Raubgruppen hohen Respekt, und ihr tollkühnes Kriegertum dominiert dementsprechend unsere Überlieferung. Für den Antiochener Libanios (4. Jahrhundert) etwa bedeutete der Frankenname schlicht ‹Gepanzerte›.23 Die Kehrseite der Medaille zeigt sich indes in den rohen Gewaltakten, von denen auch die fränkischen Aktionen gekennzeichnet waren und die gleichermaßen zu Unsicherheit und Furcht beitrugen wie die parallelen Vorstöße der Alemannen. Massaker, wie jene sie etwa in Heldenbergen verübten, gehören auch bei den Franken zu den frühesten Indizien ihrer Existenz. So richteten fränkische Plünderer im römischen Kastell Gelduba (Krefeld-Gellep), wohl im Jahr 259, ein fürchterliches Blutbad an, von dem noch heute die Überreste zahlreicher Erschlagener zeugen. Sechzehn Opfer und zwei Pferde mussten in großer Eile in einem unterirdischen Mithraeum (Mithras-Heiligtum) verscharrt werden.24 Wie im Fall der Alemannen wird auch für die Franken eine Debatte über den Zeitpunkt ihrer Ersterwähnung geführt. Zeugnisse, die auf die Mitte des 3. Jahr-
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
Abb. 17 Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana mit der Landschaftsbezeichnung Francia
hunderts hindeuten, gelten als suspekt: Eine Nachricht der notorisch unzuverlässigen Historia Augusta bringt den späteren Kaiser Aurelian mit einem erfolgreichen Abwehrkampf gegen Franken im Raum Mainz in Verbindung (um 255), doch könnten hier auch andere Raubgruppen gemeint gewesen sein, denn Mainz lag eher an der Peripherie des fränkischen Einzugsgebietes. Um 259 sollen dann Francorum gentes (interessant ist der Plural) Gallien und Spanien verheert, Tarraco (Tarragona) gebrandschatzt haben und teilweise gar bis Afrika vorgedrungen sein – so jedenfalls Aurelius Victor gut ein Jahrhundert nach den Ereignissen, die er zur Illustration eines wilden, die gesamte Oikoumene erfassenden Katastrophenszenarios heranzieht und dabei möglicherweise gezielt übersteigert. Dem byzantinischen Geschichtsschreiber Johannes Zonaras (12. Jahrhundert) zufolge soll überdies Kaiser Gallienus (253 /260–268) Krieg auch gegen Franken geführt haben, eine Nachricht, die man kaum pauschal als spätes Produkt byzantinischer Gelehrsamkeit wird abtun können, denn Zonaras konnte auf zuverlässiges zeitnahes Material zurückgreifen. Ein dux Pompeianus, der den Beinamen Francus trug, kämpfte schließlich im Jahr 272 unter Aurelian gegen die palmyrenischen Truppen der Zenobia. Alles in allem fällt es daher trotz aller gebotenen Skepsis schwer, die verstreuten Nachrichten über die Existenz des Frankennamens um die Mitte des 3. Jahrhunderts gänzlich zu verwerfen; vielmehr besitzt gerade das
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späte Zeugnis des Zonaras erhebliches Gewicht. Die frühesten unangefochtenen Belege stammen indes, wie im Fall der Alemannen, aus der Zeit der Tetrarchie, so dass insgesamt auch für die Franken von beginnenden Ethnogeneseprozessen während des 3. Jahrhunderts auszugehen ist, die um 400 bereits zu Formationen geführt haben müssen, welche von den Römern ganz selbstverständlich als ‹Franken› bezeichnet werden konnten. Sicherlich nicht zufällig begegnet seit dem frühen 4. Jahrhundert auch die Landschaftsbezeichnung Francia für die Gebiete östlich des Niederrheins (etwa auf der als Tabula Peutingeriana bekannten spätantiken Karte).25 Hervorgegangen sind die Franken aus unterschiedlichen kleineren Verbänden, deren Namen teilweise bereits in der frühen Kaiserzeit bezeugt sind – was allerdings nichts über ihre Zusammensetzung, Identität und mögliche Migrationsprozesse bis zum 3. Jahrhundert aussagen muss. Gregor von Tours, der sich in diesem Fall auf den wohl um 400 wirkenden Historiographen Sulpicius Alexander stützt, zählt einige von ihnen auf: Brukterer, Chamaven, Ampsivarier, Chatten. Ammian ergänzt diese Liste um die (Ch)attuarier. In der Forschung hat man zudem Tubanten, Hasuarier, Usipeter und Tenkterer sowie – zumindest teilweise – Chauken zu den Gruppen gerechnet, die allmählich in den Franken aufgegangen sein könnten. Allerdings stellten die Franken keinen simplen Zusammenschluss all dieser Verbände dar; vielmehr bildeten deren Angehörige jeweils Kriegergemeinschaften unterschiedlicher und stets variabler Zusammensetzung aus; Mitglieder dieser Gemeinschaften konnten einem oder mehreren der genannten älteren Verbände angehören und wurden offenbar, teils temporär, teils dauerhaft, unter dem zunehmend prestigeträchtigen Frankennamen zusammengeführt. Die Anführer der einzelnen Kriegergemeinschaften erscheinen in den römischen Zeugnissen unter verschiedenen Bezeichnungen (z. B. regales, duces), darunter auch als ‹Könige› (reges) – als solcher ist am frühesten Gennobaudes bezeugt, der sich 288 den Römern unterwarf. Ein allen gemeinsames Königtum oder übergreifende Institutionen wurden aber, wie bei den Alemannen, zunächst nicht ausgebildet, und der Frankenname war – dies möglicherweise eines seiner Erfolgsrezepte – immerhin so weit dehnbar, dass er auch die Beibehaltung und Entwicklung unterschiedlicher Teilidentitäten zuließ. Erinnert sei etwa an jenen Franken aus der Budapester Grabinschrift, der sich rühmte, gleichzeitig als römischer Soldat gedient zu haben; der römische Offizier Mallobaudes war im Jahr 378 zugleich ‹König› eines fränkischen Teilverbandes (domesticorum comes rexque Francorum); auf der Tabula Peutingeriana treten die Chamaven als Chamavi qui et Franci hervor; Ammian spricht von Franken, «die man (Ch)attuarier nennt» (quos Atthuarios vocant); in karolingischer Zeit schließlich erscheinen von neuem die Bezeichnungen kaiserzeitlicher Verbände (Brukterer, Chamaven) – ein ähn-
Zunehmende Unsicherheiten im 3. Jahrhundert 5.1
liches Phänomen wie der späte Rückgriff auf den Suebennamen bei den Alemannen und damit möglicherweise doch etwas mehr als nur ein Ausdruck exzeptioneller Gelehrsamkeit. Keine hinreichende Grundlage im Quellenmaterial findet hingegen die schematische Zweiteilung der Franken in Salier / Salfranken und Ribuarier / Rheinfranken, die vor allem in älteren Handbüchern noch anzutreffen ist. Auch eine Ableitung der Franken aus der von Tacitus erwähnten Stammesgruppe der Istväonen ruht auf schwachen Grundlagen. Insgesamt ist festzuhalten, dass «nichts […] darauf hin[deutet], daß es sich um einen geschlossenen, zu gemeinsamem Auftreten fähigen Stammesverband handelte, wie man früher annahm».26 Ausführlich wurde über die Bedeutung des Namens ‹Franken› nachgedacht. Im Allgemeinen wird er heute als Selbstbezeichnung fränkischer Krieger gedeutet, die sich forsch als die ‹Kühnen›, die ‹Mutigen› gesehen haben – die Interpretation ‹die Freien› dürfte hingegen erst sekundär hinzugekommen sein. Die Römer, stets auf der Suche nach möglichst einfachen Methoden, um das komplexe Geschehen im Barbaricum zu kategorisieren, übernahmen den Frankennamen jedenfalls dankbar zur Bezeichnung ihrer Gegner und Partner jenseits des Niederrheins bzw. nördlich der Alemannen. Und wie im Fall der Alemannen (und etwa auch Gepiden) fehlte es auch nicht an Versuchen, den Frankennamen spöttisch-pejorativ umzudeuten. So findet man in der Historia Augusta ein aufschlussreiches Wortspiel mit Franci und frangere (‹zerbrechen›): Bei den Franken sei es üblich gewesen, lachend die Treue zu brechen (quibus familiare est ridendo fidem frangere). Im Laufe der Zeit begann der Frankenname dann den Germanenbegriff, den man offenbar seit dem späten 3. Jahrhundert zunehmend als unzulänglich empfand und daher weniger verwendete, zu verdrängen – eine Entwicklung, die im Osten seit dem 6. Jahrhundert dazu führte, dass ‹Franken› zum Synonym für ‹Germanen› schlechthin wurden.27 Eine zielgerichtete Migration früher fränkischer Gruppen ist nicht nachweisbar. Stattdessen beobachten wir auch bei ihnen, wie im Verlauf der Plünderungszüge Niederlassungen erfolgten, die sich zunehmend in linksrheinische Gebiete erstreckten bzw. von der Nordseeküste aus Richtung Süden ausgriffen, so dass eine breite Kontaktzone entstand, in der Austausch, Kommunikation und ein allmähliches Zusammenwachsen den Normalfall darstellten. Diese Niederlassungen wurden von den Römern häufig befördert, denn auch in den Franken sah man in erster Linie wertvolles soldatisches Potential, und gerade die militärische Wildheit der Franken wurde auch wiederholt hervorgehoben. Schon Postumus, der Begründer des sogenannten Gallischen Sonderreiches, soll seine Truppen mit Franken verstärkt haben. Seit dem 4. Jahrhundert wurden dann immer wieder besiegte oder auch erfolgreiche fränkische Gruppen in Gallien angesiedelt, in ver-
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schiedenen Rechtsverhältnissen: als dediticii (‹bedingungslos Unterworfene›) oder laeti (ehemalige Kriegsgefangene, die in geschlossenen Verbänden als schollengebundene Bauern angesiedelt wurden), später dann auch als foederati (‹Vertragspartner›). Für ehrgeizige Persönlichkeiten eröffneten sich insbesondere in der römischen Armee sagenhafte Aufstiegschancen, und einige Franken wussten sie zu nutzen. Seit den 380er Jahren zeichnet sich deutlich ab, dass fränkischstämmige Soldaten zunehmend Alemannen aus hohen römischen Offiziersrängen verdrängen (um ihrerseits gegen Ende des 4. Jahrhunderts von Goten abgelöst zu werden). Schon einige Jahrzehnte zuvor sind sie allerdings sichtbar: Im Jahr 355 hatte der Franke Silvanus in seiner Eigenschaft als römischer General (magister peditum) sogar selbst in Köln nach dem Purpur gegriffen – dies allerdings in einem Verzweiflungsakt, nachdem er erfahren hatte, dass seine Beseitigung betrieben wurde. Seine ‹Herrschaft› währte denn auch nur 28 Tage, danach wurde er von eigenen Soldaten niedergemacht. Erfolgreicher als Silvanus agierte zunächst der ebenfalls fränkischstämmige Feldherr Arbogast, auf den an anderer Stelle noch ausführlicher zurückzukommen sein wird.28 Aus archäologischer Perspektive ist der Prozess der Entstehung der Franken eher unspektakulär verlaufen. Im Fundmaterial sind keine größeren Zäsuren erkennbar; vielmehr weisen die mit den Rhein-Weser-Germanen in Verbindung gebrachten Siedlungsplätze, die nun fränkisch wurden, einen hohen Grad an Kontinuität auf. Sie bezeugen damit ebenfalls ein allmähliches Hineindiffundieren der Franken in die römische Welt, das Akkulturationsprozesse über Jahrhunderte hin ermöglichte. Das bis in das 7. Jahrhundert belegte Gräberfeld in Krefeld-Gellep steht symptomatisch für diese schleichende Form der fränkischen Expansion bzw. das insgesamt organische Zusammenwachsen der (provinzial-)römischen und der fränkischen Sphäre. Sie wurde befördert durch die allmähliche Herausbildung neuer politischer Strukturen, nachdem weite Teile Nordgalliens, in denen seit dem 4. Jahrhundert wiederholte Ansiedlungen fränkischer Gruppen erfolgt waren, ab etwa 400 der kaiserlichen Kontrolle entglitten waren. Alte Eliten und die Anführer der expandierenden fränkischen Kriegerverbände konstituierten nun eine neue Oberschicht, unter der sich der Alltag in einer postimperialen Welt neu organisierte. Als Chlodwig, dessen Name gemeinhin für den Beginn eines fränkischen Reiches steht, sich gegen Ende des 5. Jahrhunderts aufmachte, um Konkurrenten und Widersacher zu beseitigen und einen Machtkonzentrationsprozess von bis dahin einmaliger Sogwirkung einzuleiten, kam er nicht als fremder Eroberer: Als Verwalter der Provinz Belgica II ging er aus einem Residuum der römischen Administration hervor und war selbst, wie erst kürzlich noch einmal dezidiert hervorgehoben worden ist, «ein Kind Galliens, und zwar – als um 465 Geborener – mindestens in der vierten Generation».29
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Kampf um die Rheingrenze im 3. und 4. Jahrhundert 5.2 Kampf um die Rheingrenze im 3. und 4. Jahrhundert
Anders als zerklüftete Gebirgszüge eignen sich Flüsse nur selten, um scharfe politische oder gar kulturelle Grenzen zu konstituieren – im Gegenteil: Sie erleichtern Kommunikation und Austausch, transportieren Güter, Menschen und Ideen und schaffen damit ideale Voraussetzungen für die Entstehung übergreifender Kontaktzonen. Die langen Flussgrenzen schotteten das Imperium Romanum keineswegs gegenüber der Außenwelt ab, sondern öffneten es für Eindrücke aus dem Barbaricum und bereiteten zugleich die Grundlagen, um römische Lebensweise in die Gefilde jenseits des Limes hinein zu vermitteln. All dies lässt sich während der römischen Kaiserzeit exemplarisch am Rhein beobachten. Ein langgestreckter Streifen, auf dem römische und barbarische Sphäre eng ineinandergriffen, hatte sich seit augusteischer Zeit herausgebildet. Es sind vor allem inschriftliche und archäologische Zeugnisse, die das Zusammenwachsen der Bevölkerungen diesseits und jenseits des Stromes beleuchten; die Schriftquellen hingegen thematisieren das Außergewöhnliche, das in den Augen der Mitlebenden Berichtenswerte: Überfälle, Konflikte, Gewalt. Ihr Gewicht nimmt für das 3. Jahrhundert erheblich zu.30 Seit den 230er Jahren gewann das strategische Dilemma Roms zunehmend an Brisanz: Der immense Druck, den die Sāsāniden aufzubauen begannen, erforderte Ressourcenkonzentrationen und führte damit unweigerlich zu einer Schwächung der Grenzen. Die gotischen Raubzüge seit dem Jahr 238, Angriffe auf die Rheinprovinzen wie der Alemannenüberfall des Jahres 233 /34, bald auch fränkische Beutejagden, brachten die Kaiser in eine prekäre Lage: Das Reich, seit dem Ende des 2. Jahrhunderts ohnehin demographisch geschwächt und wirtschaftlich an Leistungsfähigkeit nachlassend (ein zunächst schleichender Prozess, der vor allem die lokalen Eliten in einigen Gebieten schwer in Mitleidenschaft zog), ließ sich nicht mehr hinreichend sichern; die neuralgischen Zonen waren zu weit voneinander entfernt; die vorhandenen Streitkräfte, den Anforderungen nicht mehr gewachsen, gingen vielfach eigene Wege und erhoben kurzerhand ihre Kommandanten vor Ort zu Kaisern. Bürgerkriege, die zusätzliche Ressourcen verschlangen, waren die Folge und generierten ihrerseits neue Attacken aus dem Barbaricum. In jenen Regionen, die besonders von auswärtigen Übergriffen betroffen waren, setzte die Bevölkerung vielfach auf Eigeninitiativen (Aufstellung von Milizen, Errichtung von Befestigungen), Funktionsträger vor Ort versuchten die Lage zu stabilisieren. Einige von ihnen
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sind uns bereits begegnet: M. Simplicinius Genialis, der im Jahr 260 mit einem offenkundig bunt zusammengewürfelten Haufen die von einem Raubzug zurückkehrenden Juthungen bei Augsburg abfing und Tausende von Verschleppten befreite; Odainathos von Palmyra († 267), der sich bei der Abwehr regionaler Usurpatoren und insbesondere der Perser auszeichnete und von Kaiser Gallienus, der keine Kapazitäten freimachen konnte, um den zunehmend autonom agierenden Potentaten niederzuringen, zum dux Romanorum und corrector totius Orientis ernannt wurde; oder auch Postumus († 269), der Begründer des sogenannten Gallischen Sonderreiches, das seine mehrjährige Existenz (260–274) nicht zuletzt den Abwehrkämpfen gegen die Franken verdankte, deren Erfolg die reguläre römische Regierung nicht mehr zu garantieren vermochte – zu einem Zeitpunkt, an dem spätere Historiographen das Imperium Romanum unmittelbar vor dem Zusammenbruch sahen (deleto paene imperio Romano). Neu ausgerufene Herrscher und Prätendenten konnten häufig auf die Unterstützung der je lokalen Bevölkerung setzen, deren Sicherheitsbedürfnis nach der Präsenz eines Kaisers verlangte. Nicht ohne Grund spielte die Rheinregion in diesem Kontext während des 3. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle.31 Verunsicherung und Angst sind indes auch anderweitig greifbar oder doch zumindest vorauszusetzen: Von der zunehmenden Tendenz, Stadtmauern zu errichten oder zu renovieren, war bereits die Rede. Auch die deutlich erkennbare Häufung von Hortfunden bietet breiten Raum für Spekulationen; möglicherweise hielt es so mancher Zeitgenosse für geboten, sein Vermögen lieber zu vergraben, als es der Gefahr eines plötzlichen Überfalls auszusetzen (aber für das Verbergen von Münzen lassen sich auch ganz andere Gründe in Betracht ziehen). Wehrtürme (burgi) und Kleinkastelle wurden an den Einfallstraßen in Niedergermanien, Raetien und Teilen Galliens angelegt, um größere Sicherheit vor andringenden Raubscharen zu gewährleisten; sie wurden nach dem verheerenden Frankeneinfall 275 / 76 um höher gelegene Fluchtburgen ergänzt. Kontroverse Diskussionen hat schließlich die disparate, keineswegs eindeutige literarische Überlieferung ausgelöst. War sie bis in die 1980er Jahre hinein noch regelmäßig als Ausweis einer weit ausgreifenden Angst gedeutet worden – die Kennzeichnung des 3. Jahrhunderts als ‹Age of Anxiety› entwickelte sich geradezu zum geflügelten Wort –, so ist man inzwischen um präzisere Differenzierungen bemüht und sträubt sich vielfach dagegen, die gesamte Literatur jener Zeit als Reflex eines ‹Krisenbewusstseins› bzw. einer ‹Krisenempfindung› zu interpretieren. Exemplarisch steht dafür die Tatsache, dass ausgerechnet eines der Schlüsselzitate für diese Sichtweise, Cyprians Behauptung mundus ecce nutat et labitur («siehe, die Welt wankt und fällt zusammen»), in einer Region (Nordafrika) festgehalten wurde, die von den Turbulenzen der Jahre um 250 / 60 relativ unberührt geblieben
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ist. Gleichwohl wird man konstatieren dürfen, dass die Lebensverhältnisse gerade für Bevölkerungsteile in grenznahen Gebieten bzw. an wichtigen Verkehrsadern, die das Landesinnere erschlossen, tatsächlich deutlich unsicherer wurden; dass dies auch einen Niederschlag in der Wahrnehmung der eigenen Zeit gefunden haben wird, darf man füglich annehmen. Inwiefern allerdings Literatur als deren Spiegel angesehen werden sollte und ob man so weit gehen kann, sie als Ausdruck eines verbreiteten ‹Krisenbewusstseins› zu interpretieren, wird weiterhin diskutiert.32 Im 3. und 4. Jahrhundert bestimmte ein komplexes, mitunter schwer rekonstruierbares Wechselverhältnis aus auswärtigen Angriffen und römischen Abwehrmaßnahmen die Rhythmen der Geschichte an der Rheingrenze des Imperium Romanum. Grob zeichnen sich dabei fünf Phasen ab:33 1. Phase (ca. 213–276): Der Ausbau des obergermanisch-raetischen Limes nach dem Ende der Markomannenkriege sowie die Germanienfeldzüge Caracallas im Jahr 213 könnten bereits eine Reaktion auf erhöhten äußeren Druck gewesen sein. Zunehmend ungemütlich wurde die Lage für die gallischen und germanischen Provinzen dann allerdings mit dem erwähnten großen Alemanneneinfall des Jahres 233 /34, der Severus Alexander zum verhängnisvollen Abbruch eines Perserfeldzuges zwang und die weit ausgreifende Germanienexpedition seines Nachfolgers Maximinus nach sich zog. Trotz dieser offenbar eindrucksvollen Demonstration römischer Militärpräsenz im Barbaricum blieb die Lage anschließend jedoch eher instabil. Kleinere Beutezüge auswärtiger Plündererscharen scheinen sich allmählich zu einer Dauerbelastung für die grenznahe Bevölkerung entwickelt zu haben, und nach dem Schlachtentod des Decius im Kampf gegen die Goten (251) sowie dem Abzug größerer Truppenverbände von Rhein und Donau in den Osten durch Valerian (253 /54) verdichteten diese sich zu einer kaum noch kontrollierbaren Angriffsserie. Insbesondere um 256 /57 erfolgten mehrere fränkische und alemannische Einfälle, denen sich ab 257 Gallienus entgegenstemmte. Einen ersten Höhepunkt erreichte das Geschehen in den Jahren 259 / 60, nahezu zeitgleich mit der Gefangennahme Valerians durch die Perser: «Unter diesen Konsuln», so ein lakonischer Vermerk in der römischen Konsulliste zum Jahr 261, «brachen viele Feinde in das Römische Reich ein». Im Bereich des obergermanisch-raetischen Limes kam es 259 / 60 zu verheerenden Plünderungen, juthungische bzw. alemannische Kriegerverbände durchstreiften Gallien und Oberitalien, wo Gallienus in der Nähe von Mailand einen überwältigenden Sieg erfochten haben soll; die ebenfalls unter Gallienus neu errichtete Festung im Legionslager Vindonissa (Windisch, Schweiz) reflektiert die Dynamik der Ereignisse jener Jahre ebenso wie der schon mehrfach erwähnte Augsburger Siegesaltar des M. Simplicinius Genialis. Auch am Niederrhein spitzte sich die Situation
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zu. Das Kastell Gelduba etwa wurde damals überrannt, fränkische Raubscharen drangen bis weit über die Maas hinaus vor; es ist dies jener Raubzug, der einige verwegene Abenteurer sogar bis nach Spanien (Tarraco) und Afrika geführt haben soll. Münzhortfunde in Tongern, Amiens, Beauvais, in den Regionen Trier, Metz, Toul und Chalon-sur-Saône werden als Indiz für eine zunehmende Verunsicherung der Bevölkerung gedeutet. Zaghafte Konsolidierungserfolge zeichnen sich dann seit den späten 260er Jahren ab: Claudius II. Gothicus (268–270) besiegte im Herbst 268 eingefallene Alemannen am Gardasee, Aurelian (270–275) gelang es um 270 / 71, einen Juthungen- bzw. Alemanneneinfall in Oberitalien abzuwehren und plündernde Scharen über die Donau zurück ins Barbaricum zu treiben; im Jahr 274 zwang er Tetricus, den letzten Herrscher des Gallischen Sonderreiches, in die Knie – wodurch das Niederrheingebiet allerdings kurzfristig von neuem für auswärtige Einfälle geöffnet wurde. Entsprechend katastrophal gestaltete sich daher im Anschluss an die Ermordung Aurelians der große Frankeneinfall des Jahres 275 / 76 (dem sich wahrscheinlich auch Alemannen anschlossen): Trier wurde geplündert, ebenso Gelduba und Vetera II (nahe Xanten), andere römische Niederlassungen vollständig zerstört. Entlang der Maas drangen Plündererscharen tief in römische Gebiete ein. «Nordgallien versank für ein Jahrzehnt im Chaos».34 2. Phase (ca. 276–305): Aufbauend auf den ersten Erfolgen der Kaiser seit Gallienus, leitete die kurze Herrschaft des Probus (276–282) eine längere Konsolidierungsphase ein. Die Einzelheiten der Gallienfeldzüge dieses tatkräftigen und nimmermüden Monarchen verlieren sich allerdings im Nebel der unpräzisen Angaben des Zosimos (um 500) und der verzerrenden Darstellung der Historia Augusta. Letztere gipfelt in einem fiktiven Schreiben des Probus an den Senat, in dem der Kaiser sich gerühmt haben soll, «ganz Germanien in seiner vollen Ausdehnung» (omnis qua tenditur late Germania) unter Kontrolle gebracht und die Unterwerfung von neun reges entgegengenommen zu haben. Insgesamt 400 000 Feinde seien erschlagen, 16 000 Rekruten für die römischen Truppen aus den Reihen der Überlebenden gewonnen worden, 70 Städte habe man befreit, das gesamte Beutegut den Eindringlingen wieder entrissen. «Es werden nun die gallischen Fluren von Rindern der Barbaren gepflügt, erbeutete germanische Zugtiere bieten unseren Bauern den Nacken dar, zur Ernährung unserer Leute lassen wir das Vieh verschiedener gentes weiden, Pferdezucht wird bereits für unsere Reiterei betrieben, unsere Speicher sind voll von barbarischem Getreide. Was soll ich noch mehr sagen? Allein den Boden lassen wir ihnen noch, alles von ihnen besitzen wir» – markige Worte, vor denen sicherlich der Kaiser selbst in Ehrfurcht erblasst wäre, wenn er sie denn wirklich so formuliert hätte. Sieht man einmal von den offenkundig maßlos übertriebenen Zahlen- und Raumangaben
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ab, so entspricht die Verpflichtung besiegter Barbaren auf Getreide- und Viehlieferungen sowie auf die Stellung von Geiseln und Rekruten jedenfalls grundsätzlich den geläufigen Mechanismen zeitgenössischer römischer Außenpolitik, könnte also durchaus von Probus praktiziert worden sein; denkbar ist ebenso, dass sich tatsächlich einige Anführer der bekämpften Verbände – Zosimos nennt in leicht verändertem Kontext einen gewissen Semno – direkt dem Kaiser unterworfen haben. Anderes hingegen (so etwa die große Zahl der angeblich zurückgewonnenen Städte) mutet an wie eine Rückprojektion aus den Kriegszügen Julians (360–363). Im Ergebnis war es Probus jedenfalls gelungen, in mehreren Feldzügen der Jahre 277 / 78 zunächst die Alemannen am Oberrhein in die Schranken zu weisen und dabei sogar noch einmal ins Decumatland vorzustoßen sowie weiter nördlich die Franken halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Weitere Kämpfe gegen Longionen (= Lugier?), Burgunder und Vandalen schlossen sich, offenkundig zum Schutz Italiens, an.35 Die Erfolge des Kaisers, der als [restitutor pr]ovinciarum et operum [publicorum] gefeiert wurde und seit 279 den Siegestitel Germanicus Maximus führte, kamen indes keineswegs aus dem Nichts. Die zunächst vorwiegend situationsbezogene Zusammenziehung einzelner (Elite-)Einheiten (vexillationes) aus verschiedenen Truppenverbänden zu mobilen, häufig durch lokale Milizen verstärkten Eingreiftruppen, bei denen nunmehr der Reiterei eine wachsende Bedeutung zukam, erhöhte seit Gallienus und den gallischen Sonderkaisern die Reaktionsschnelligkeit der römischen Armee in beträchtlichem Ausmaß. Denn jetzt standen bewegliche Streitkräfte zur Verfügung, die in der Lage waren, den blitzartig operierenden Plündererscharen rasch entgegenzutreten, ohne dass dafür erst größere Truppenbewegungen eingeleitet werden mussten. Dabei setzte man zunächst offenbar vor allem darauf, beutebeladene Raubgruppen auf ihrem Rückweg in das Barbaricum abzufangen – ein Vorgehen, das der provinzialrömischen Bevölkerung schreckliche Opfer abverlangte, aber allmählich eine Stabilisierung der Lage herbeiführte. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leisteten wahrscheinlich Patrouillenboote, die von Köln und Mainz aus auf dem Rhein kreuzten und dadurch die Möglichkeiten unkontrollierter Flussübergänge reduzierten. Probus scheint zudem in deutlich höherem Ausmaß als seine Vorgänger besiegte Barbaren auf verlassenen Fluren angesiedelt und in die römische Armee eingegliedert zu haben. Demgegenüber bleibt das angebliche Festungsbauprogramm, das ihm vielfach zugeschrieben wird, weitgehend im Dunkeln. Zwar lässt sich nachweisen, dass seit Mitte des 3. Jahrhunderts kleinere Befestigungen und Wachttürme im Hinterland der Grenze (vor allem in der Germania inferior, der Belgica und Teilen von Raetien) entstanden, die nach den großen Plünderungszügen 275 / 76 vielfach ausgebaut wurden, doch scheint es sich dabei vorwiegend
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um situative Maßnahmen gehandelt zu haben, die keinem groß angelegten strategischen Konzept folgten. «Das nur schemenhaft erkennbare Verteidigungskonzept des späteren 3. Jhs. […] wirkt […] eher wie eine verzweifelte Reaktion auf die Zeitumstände».36 Und so blieben die Verhältnisse für die Bewohner der unmittelbar gefährdeten Regionen weiterhin unsicher und bedrückend – zumal Probus in den Jahren 280 / 81 in Abwehrkämpfe gegen den aufbegehrenden Offizier Proculus verstrickt wurde, der sich nach einem Sieg über eingefallene «Alemannen, die man damals noch Germanen nannte» (Alamannos, qui tunc adhuc Germani dicebantur), selbst zum Kaiser hatte ausrufen lassen. Probus konnte den Usurpator zwar niederwerfen, doch erfolgte gleichsam im Windschatten dieser Auseinandersetzungen jene bereits erwähnte tollkühne Raubfahrt ausgebrochener fränkischer Gefangener, die sich beutesuchend von Kleinasien durch das Mittelmeer bis zum Atlantik durchschlagen konnten, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen, und damit das ohnehin reichlich beschädigte Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung weiter erodieren ließen.37 Eine nachhaltige, mehrere Jahrzehnte währende Stabilisierung der Lage gelang erst unter der Tetrarchie; sie verbindet sich vor allem mit den Namen Maximian (285–305), Carausius († 293) und Constantius I. (293–306). Maximian, innerhalb des von Diokletian eingerichteten Systems der Mehrkaiserherrschaft mit dem Westen betraut, rang in mehreren Feldzügen Unruhestifter und aufsässige Verbände nieder: Noch als Caesar trat er 285 / 86 den Bagauden in Gallien entgegen – gewaltsam aufbegehrende Gruppen, die in den Quellen despektierlich als bewaffnete Bauern und Räuber beschrieben werden (manus agrestium ac latronum, quos Bagaudas incolae vocant / rusticani), in Gestalt des Amandus aber immerhin einen Anführer fanden, der eigene Münzen prägte, auf denen er als Augustus erscheint. Wahrscheinlich wird man in den Bagauden gewaltbereite Zusammenschlüsse innerhalb der Landbevölkerung, deren Angehörige angesichts der trostlosen Lage ihr Glück selbst in die Hand nahmen, zu sehen haben. Die entscheidenden römischen Offensiven erfolgten dann in den Jahren von 286 bis 288: Während Carausius den Auftrag erhielt, die gallische Nordseeküste und Britannien gegen fränkische und sächsische Piraten zu sichern und auf seinen Erfolgen bald eine eigene Usurpation aufbaute (Ende 286 oder Winter 287 / 88?), gelang es Maximian in mehreren Feldzügen – auch jenseits des Rheins –, eingedrungene Barbarengruppen zu isolieren und zurückzudrängen, während Diokletian durch eine gleichzeitige Überquerung des raetischen Limes den Druck auf das Barbaricum erhöhte. Römische Militäroperationen an der Nordseeküste leisteten zudem einen Beitrag zur Eindämmung der Piraterie. Das energische Vorgehen zahlte sich aus: Maximian selbst durfte die Unterwerfung des fränkischen An-
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führers Gennobaudes entgegennehmen; Barbaren wurden in den Gebieten der Treverer und Arvier (Nervier?) angesiedelt.38 Mit der Erhebung des Constantius I. zum Caesar (293) und seiner Beauftragung mit der Sicherung Britanniens und Galliens führten die Tetrarchen ihre Konsolidierungspolitik konsequent fort: Während Maximian sich nach Afrika begab, gelang es Constantius, den Usurpator Carausius († 293) und dessen Nachfolger Allectus († 296 / 97) niederzuringen und damit Nordgallien sowie Britannien wieder in den Reichsverband zu integrieren. Gleichzeitig rückte er unbarmherzig gegen plündernde Barbaren vor: Allein in der Schlacht bei Langres (Nordostfrankreich) sollen 60 000 Alemannen im Kampf gegen seine Truppen gefallen sein – eine selbstverständlich weit übertriebene Zahl, die jedoch immerhin andeutet, welchen Eindruck Constantius’ Entschlossenheit auf Mitlebende machte. Weitere harte Kämpfe in den Jahren 300–304 trugen sodann allmählich zur Sicherung der Rheingrenze gegen barbarische Übergriffe bei.39 Die Rückgewinnung der militärischen Kontrolle ging mit einer weitreichenden Umstrukturierung der Grenzverteidigung einher. Die Römer zogen sich nun dauerhaft hinter den sogenannten Donau-Iller-Rhein-Limes zurück, der mit starken Festungen, ergänzt durch Kleinkastelle (burgi) und befestigte Wachtposten an den zentralen Einfallrouten im Hinterland, gesichert wurde; ihre allmähliche Anlage lässt sich bis in die Zeit Valentinians I. (364–375) verfolgen. Die Umstrukturierung der Streitkräfte, insbesondere der Ausbau hochmobiler, unmittelbar handlungsfähiger Einheiten (comitatenses) und die Einsetzung von duces als (mitunter auch über Provinzgrenzen hinweg agierende) Kommandanten der lokal verankerten Grenztruppen (limitanei), wurde energisch vorangetrieben, Abkommen mit rechtsrheinischen Verbänden sollten die vorerst gewonnene Stabilität festigen; all diese Maßnahmen wurden begleitet von großzügigen Ansiedlungen barbarischer Gruppen auf römischem Territorium sowie der verstärkten Aufnahme kampferprobter Krieger in das Heer. Auf diese Weise beruhigte sich die Situation an Rhein und unterer Donau tatsächlich noch einmal bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts – Erfolge, die in der zeitgenössischen Panegyrik entsprechend gepriesen und nochmals übersteigert wurden: «Alles, was ich jenseits des Rheines erblicke, ist römisch».40 3. Phase (ca. 306–355): Konstantin I., im Jahr 306 von den Truppen seines verstorbenen Vaters Constantius I. zum Augustus ausgerufen, schloss nahtlos an das zupackende Vorgehen der Tetrarchen an. Ob er allerdings mit seinen Feldzügen im Niederrheingebiet, die er nahezu direkt nach der Kaisererhebung anging, noch auf wirklich ernsthafte militärische Bedrohungen reagierte, ist alles andere als sicher: Neu auf den Thron gelangte Herrscher hatten ihre Eignung stets in Form militärischer Siege zu erweisen, und dies galt zumal für Usurpatoren wie
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Konstantin, deren Legitimationsdefizit zunächst einmal besonders hoch erschien. So mag es dem jungen Herrscher vielleicht ganz gelegen gekommen sein, dass es seinen Vorgängern noch nicht gelungen war, die Unruhen an der Nordflanke des Römischen Reiches vollends unter Kontrolle zu bringen, und dass der Tod seines Vaters möglicherweise neuen Druck auf die Grenzen erzeugt hatte. Folgerichtig finden wir den in Eburacum (York) ausgerufenen Kaiser bereits Ende 306 (oder Anfang 307) am Rhein – und dies durchaus erfolgreich: Nach nur wenigen Monaten durfte sich die staunende Bevölkerung Triers bereits behaglich daran ergötzen, wie zwei fränkische Heerführer, Ascaricus und Merogaisus, in der Arena von wilden Tieren zerfetzt wurden. Auch in der Folgezeit behielt Konstantin die Initiative: 307 / 08 durchzog er plündernd die Gebiete der Brukterer östlich des Rheins und attackierte die Franken noch einmal im Jahr 310. Als Demonstration römischer Stärke ließ er damals auch die imposante Steinbrücke von Köln zum Kastell Divitia (Deutz) errichten, in deren Umgebung der römische Offizier Viatorinus zu einem unbekannten Zeitpunkt sein Leben ließ, «getötet», wie es in der Grabinschrift heißt, «im Barbarenland bei Deutz von einem Franken» (occisus in barbarico iuxta Divitia a Franco). Dass Konstantin gerade in jenen Monaten überdies seine angebliche Abstammung von Claudius II. Gothicus proklamierte – ein Kaiser, von dem man nicht viel mehr wusste, als dass er ein furchteinflößender Kriegsherr im Kampf gegen auswärtige Eindringlinge gewesen war –, resultierte zwar in erster Linie aus seinem Bestreben, sich vom (pseudo-)dynastischen Gedanken der Tetrarchie zu distanzieren, mag aber auch mit dem Bedürfnis zusammenhängen, sich selbst ebenfalls als unermüdlichen Barbarenbezwinger zu inszenieren. Wiederholte Feldzüge gegen fränkische und alemannische Gruppen schlossen sich daher auch in den Jahren nach 310 /12 an, bevor Konstantin nach dem ersten Krieg gegen seinen Konkurrenten Licinius (316) seinen Sohn Crispus mit der Bewachung der Rheingrenze betraute und sich selbst an die Donau begab (317 /18). Crispus scheint im Jahr 319 /20 einen größeren Erfolg über die Franken errungen zu haben, und sein Halbbruder Konstantin II. († 340), für den seit 331 der Titel Alamannicus nachweisbar ist, erfocht wohl im Jahr 328 einen Sieg gegen Alemannen. Münzabbildungen jener Zeit zeigen Personifikationen einer trauernden Francia bzw. Alamannia.41 Von Bedeutung sind Konstantins Aktivitäten am Rhein allerdings weniger aufgrund ihrer militärischen Auswirkungen denn als Initialzündung eines Phänomens, das man in der Literatur mitunter etwas voreilig unter das assoziationsschwere Etikett der ‹Barbarisierung› bzw. ‹Germanisierung der römischen Armee› gefasst findet und das auch Zeitgenossen nicht unberührt gelassen hat.42 Schon die mutmaßlichen Vorgänge um die Kaisererhebung Konstantins durch die in York versammelten Soldaten, bei denen ausgerechnet ein alemannischer
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Truppenführer (Alamannorum rex) namens Crocus – vielleicht ein enger Gefolgsmann des Constantius I. – eine tragende Rolle gespielt haben soll, wirken in diesem Zusammenhang programmatisch. Das tatsächliche Ausmaß der ‹Barbarisierung› des Heeres – also der zunehmenden Rekrutierung von Soldaten aus Gebieten, die außerhalb der direkten Kontrolle des Imperium Romanum lagen – sowie die Gründe für die seit Konstantin forcierte Integration nichtrömischer Kämpfer in die Streitkräfte werden indes seit Jahrzehnten diskutiert und dabei – methodisch nicht immer vorbildlich – mit der großen Frage nach den Ursachen für das Ende des Römischen Reiches vermengt. Die bisher errechneten statistischen Werte basieren auf einer sehr schmalen Materialbasis und sind aus diesem Grund nicht eindeutig interpretierbar; folgerichtig finden sich höchst divergierende Auslegungen in der Forschung. Die Tatsache, dass die Zahl nichtrömischer Soldaten auf unterschiedlichen Ebenen seit Beginn des 4. Jahrhunderts signifikant zunahm – zumal nach verlustreichen Schlachten (z. B. Mursa 351, Adrianopel 378) –, lässt sich jedoch wohl kaum bestreiten; Ausmaß und Auswirkungen bleiben dagegen kontrovers. Eine systematische Untersuchung möglicher Gründe für diese Entwicklung ist bisher noch nicht erfolgt. Einmal mehr sind wir daher auf Vermutungen angewiesen, doch vermag vielleicht ein kursorischer Blick auf die Situation des Imperium Romanum in den Jahren um 300 erste Aufschlüsse zu erbringen.43 Verglichen mit den turbulenten Jahrzehnten um die Mitte des 3. Jahrhunderts gelangte das Reich unter der Tetrarchie wieder in weitaus ruhigeres Fahrwasser: An den Grenzen kehrte allmählich Ruhe ein, das Kaisertum erfuhr eine neue, auch ideologisch fundierte Stabilität. Herrscher fanden nunmehr erstmals seit Jahrzehnten hinreichend Muße und Handlungsspielräume, um konzeptionell neue Maßnahmen zu erproben. Diese Erholungsphase fiel zusammen mit der grundlegenden Umgestaltung der römischen Streitkräfte – ein Prozess, den wir seit Gallienus greifen können und der auch unter Diokletian und Konstantin noch keineswegs abgeschlossen war. Gerade der militärische Sektor war also um 300 in besonderer Weise offen für Innovationen, und neue Einheiten ließen sich in dieser Situation leicht aufstellen – die für ihre Kampfkraft und das schauderhafte Kriegsgeheul (barritus) berühmten Cornuti und Bracchiati könnten dazugehört haben. Ganz ungewöhnlich war die Aufnahme fremdstämmiger Soldaten in die Armee allerdings ohnehin nicht: Als Auxiliartruppen hatten entsprechende Verbände seit Jahrhunderten die Legionen verstärkt, und schon einige Kaiser des 3. Jahrhunderts – wir hatten dies vor allem bei Probus beobachten können – scheinen in verstärktem Maße auf nichtrömische Kämpfer zurückgegriffen zu haben, auch in höheren Rängen. Die Anwesenheit des Alemannen Crocus an Constantius’ Sterbebett war also mitnichten ein Zufall.44
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Konstantin dürfte einen bereits im Gang befindlichen Prozess lediglich beschleunigt, vielleicht auch ein wenig systematisiert haben, und er hatte gute Gründe dafür: Als Usurpator benötigte er zunächst einmal möglichst rasch eine schlagkräftige Truppe, um seine Herrschaft, ja sein schlichtes Überleben abzusichern. Dies galt zwar grundsätzlich auch für all die zahlreichen Prätendenten des 3. Jahrhunderts, doch befand sich Konstantin ihnen gegenüber in einer komfortableren Situation: Existenziellen Bedrohungen von außen musste er zunächst nicht entgegentreten, was seine Bewegungsspielräume beträchtlich erweiterte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, dass seine eilig aufgenommenen Feldzüge am Rhein tatsächlich vor allem dem Erwerb militärischer Meriten, der Beschäftigung der Soldaten und der Anbahnung wichtiger Kontakte dienten – gerade Letzteres war von essentieller Bedeutung, wollte ein römischer Herrscher das Rekrutierungsreservoir für seine Truppen erweitern. Und tatsächlich wissen wir, dass selbstverständlich nicht nur auf Barbaren eingehauen, sondern auch ernsthaft mit ihnen verhandelt wurde – unter Konstantin ebenso wie zuvor unter den Tetrarchen. Ein verstärktes Bemühen um Ansiedlung barbarischer Gruppen – auch dies spätestens seit Probus als zunehmend verwendetes Instrument erkennbar – half, die frisch etablierten Verbindungen zu festigen und längerfristig verfügbare Soldaten zu gewinnen (u. a. als dediticii und laeti) – wobei weiterhin unklar ist, wie sich derartige Rekrutierungen konkret vollzogen: Ammian deutet gelegentlich an, dass aus barbarischen Verbänden kleinere Gruppen geformt und dann um bereits etablierte Kräfte ergänzt wurden. Die neuen Einheiten erhielten oft ethnische Namen (Batavi, Bructeri, Heruli, Brisigavi usw.); doch dürfte sich ihre tatsächliche personelle Zusammensetzung im Laufe der Jahre vielfach rasch verändert haben, so dass lediglich die Ethnonyme gleichsam als Schalen stabil blieben. Einige Kontingente führten sogar Namen, die auf Jahrhunderte verwiesen, die längst Geschichte waren: Cimbri, Medii, Celtae, Latini, Sabini. Spätestens diese Beispiele machen deutlich, dass die ethnisch anmutende Bezeichnung einer Einheit nicht das Geringste mit der Herkunft ihrer Angehörigen zu tun haben musste.45 Dennoch lässt die spätrömische Armee ein barbarisches Gepräge erkennen, das sie signifikant von den Streitkräften der früheren Kaiserzeit abhebt: Der barritus galt als barbarisch, die Schilderhebung von Anführern und Herrschern hielt seit dem 4. Jahrhundert Einzug (Kaiserproklamation Julians 360); die Bewaffnung der Truppen passte sich den auswärtigen Gegnern an (Langschwerter: spathae), römische Soldaten trugen nun Hosen (die als barbarische Kleidung galten) und eine kürzer geschnürte, langärmelige Tunica. Der ‹barbarische› Halsreif (torques) kam in Mode und spielte sogar eine Rolle bei der Kaisererhebung. Werkstätten, in denen verzierte Waffenausrüstungen produziert wurden,
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trugen die klangvolle Bezeichnung barbaricaria. All diese ‹barbarischen› Elemente, denen sich noch weitere hinzufügen ließen, wirken jedoch wie ein buntes, ungeordnetes Konglomerat. Systematische Übernahmen von identifizierbaren Barbarengruppen sind in den meisten Fällen denn auch gar nicht nachweisbar. Offenbar genügten zumeist vage barbarische Anmutungen, um bestimmten Objekten und Praktiken Eingang in das römische Heer zu verschaffen. Dies aber bedeutet: Die ‹Barbarisierung› der Streitkräfte erfolgte zu einem großen Teil auch von innen heraus. Im Rückgriff auf uralte Barbarenstereotypen schuf sich das spätrömische Militär eine eigene, ‹barbarische› Identität, die offenbar der Stärkung des Corpsgeistes und der Abgrenzung gegenüber der zivilen Welt galt. Die Soldaten formten gewissermaßen die altvertraute Römer-Barbaren-Dichotomie um in eine Differenzierung zwischen Soldaten und Zivilisten, die durch den habitus barbarus visualisiert wurde – und diese Praxis zeigte Wirkung: Als der Caesar Julian im Jahr 356 mit seinen Truppen vor Troyes (Nordostfrankreich) erschien, verschlossen die Bewohner ihm eilig die Tore, weil sie seine Soldaten mit einem marodierenden Barbarenverband verwechselten. Das Missverständnis konnte aufgeklärt werden.46 Nach seiner Ausrufung 306 musste Konstantin nahezu permanent Krieg im Innern führen oder sich zumindest hinreichend militärisch absichern, bevor er 324 endlich die Alleinherrschaft erkämpft hatte. Sein Bedarf an kostengünstigen (Barbaren waren deutlich preiswerter als reguläre römische Soldaten!), loyalen Truppen ließ also keineswegs nach, und die Gewinnung auswärtiger Kämpfer erfuhr möglicherweise dadurch noch eine zusätzliche Eigendynamik, dass Konstantin und Licinius in ihrem entscheidenden Kräftemessen massiv auf Terwingen (Licinius) und Franken (Konstantin) zurückgriffen.47 Wir werden also mit einem ganzen Bündel von Ursachen für den qualitativen Sprung in der sogenannten Barbarisierung des römischen Heeres seit Konstantin rechnen müssen, bei dem die allgemeinpolitische Situation des frühen 4. Jahrhunderts ebenso in Rechnung zu stellen ist wie die spezifischen Bedürfnisse Konstantins, sich neu in der Armee herausbildende Identitätsmuster und letztlich vielleicht auch schlicht finanzielle Aspekte: Die Anwerbung preiswerter barbarischer Soldaten ersparte unerfreuliche Rekrutierungsmaßnahmen in den Provinzen und versorgte die Regierung mit zusätzlichem Geld, da Landbesitzer nunmehr keine Rekruten mehr aus ihren wertvollen Arbeitskräften zu stellen brauchten, sondern eine finanzielle Ersatzabgabe (aurum tironicum) leisten konnten. Dass damit insgesamt eine Entwicklung eingeleitet wurde, der moderne Historiker besondere Tragweite zumessen, konnte den Akteuren selbst noch nicht bewusst sein.48 Die zunehmende Integration von Barbaren in die für das 4. Jahrhundert auf etwa 600 000 Mann geschätzten Streitkräfte erfasste indes auch die höchsten
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militärischen Ränge. Konstantin nutzte offenbar die Umformung der römischen Armee, um sich zunehmend mit alemannisch- und fränkischstämmigen Heerführern zu umgeben, und ab der Mitte des 4. Jahrhunderts sind entsprechende Personen in zunehmender Zahl im höchsten Feldherrnamt – dem des magister militum (das seinerseits erst unter der konstantinischen Dynastie ausgeformt wurde) – belegt. Der Rückgriff auf barbarische Heerführer, die in ihren Heimatverbänden häufig machtvolle und angesehene Stellungen bekleideten, brachte den Kaisern eine Reihe von Vorteilen: Barbaren waren ihnen häufig besonders loyal verpflichtet und reduzierten das Usurpationsrisiko, da sie aufgrund ihrer Herkunft selbst nicht als kaiserfähig galten und – zumindest zu Beginn des 4. Jahrhunderts – noch nicht über hinreichende Ressourcen verfügten, um als Kaisermacher aufzutreten (Crocus stellt insofern eine Ausnahme dar, als er lediglich wider die Prinzipien der Tetrarchie, aber sicherlich unter allgemeiner Zustimmung der stets dynastisch denkenden ‹römischen› Truppen dem leiblichen Sohn eines Herrschers auf den Thron verholfen hat). Das hinderte sie natürlich nicht daran, in zunehmendem Maße Machtkonzentrationen neben dem Kaiserthron aufzubauen, eine Entwicklung, die vor allem für den Westen des Römischen Reiches seit Merobaudes († nach 383), Arbogast († 394) und Stilicho († 408) immer deutlicher hervortritt, aber auch im Osten während des 5. Jahrhunderts zumindest phasenweise erkennbar ist. Den barbarischen Heerführern, denen es rasch gelang, zu höchsten Ehren aufzusteigen (Konsulat und patricius-Titel, beides jedoch noch nicht unter Konstantin), eröffneten sich in der römischen Militärhierarchie geradezu märchenhafte Karriereperspektiven, und auf der römischen Seite existierten keinerlei Berührungsängste: Mit üppigen Geld- und Edelmetallgeschenken (Münzen und Multipla, Silberbarren und -schalen, goldene Fibeln, Armreifen und Fingerringe) band man die Generäle an sich, und viele dieser tatkräftigen Männer heirateten seit dem 4. Jahrhundert in die höchsten Kreise der Reichsaristokratie ein – Eudoxia, die Tochter des Franken Bauto, ehelichte 395 sogar den römischen Kaiser Arkadios. Sie pflegten intensive Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten und fanden Einlass in gelehrte Zirkel, deren Angehörige sich aufgrund ihrer besonderen Bildung von den breiteren Massen distanzierten; die Kluft verlief hier also nicht entlang der Linie Römer – Barbar, sondern zwischen gebildeten Eliten und dem Rest der Bevölkerung. Richomeres etwa, wie Bauto fränkischer Abkunft, besaß engere Verbindungen zu hochgelehrten Zeitgenossen wie dem Senator Symmachus und dem Redner Libanios. Auch andere barbarischstämmige Feldherren in römischem Dienst, wie Modares und Hellebichus, bewegten sich ganz selbstverständlich in höchsten Kreisen. Bezeichnend ist Zosimos’ Urteil über den gotischstämmigen General Fravitta, wonach dieser «von der Herkunft her zwar ein Barbar, sonst aber ein Grieche war, nicht
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nur aufgrund seiner Lebensweise, sondern auch wegen seines Charakters und Glaubens». Dieser Amalgamierungsprozess, der in Figuren wie Arbogast, Stilicho oder auch Aspar († 471) weitere prominente Ausprägungen findet, vollzog sich seit dem mittleren 4. Jahrhundert rasch und relativ geräuschlos; er hat dazu geführt, dass man mitunter vom «spätrömischen Militäradel» als einer distinkten, ethnisch übergreifenden Schicht gesprochen hat. Dabei entstanden konkurrierende aristokratische Netzwerke, die für politische Prozesse von erheblicher Bedeutung waren.49 Die Rekrutierung barbarischstämmiger Soldaten und Offiziere schritt offenbar seit Konstantin zügig voran und wurde weder von grundsätzlichen Unterschieden in der Lebensweise untergraben (Ammian etwa berichtet nicht ohne Rückgriff auf Barbarentopik, dass Alemannen urbane Siedlungen «wie mit Netzen umspannte Gräber» gemieden hätten) noch von der Tatsache, dass die Kaiser natürlich weiterhin Siege über Barbaren zur Festigung ihrer eigenen Stellung benötigten und extensiv zelebrierten – aussagekräftig sind in dieser Hinsicht vor allem Münzbilder und -legenden, mitunter aber auch schlicht die politische Praxis (Angriffe auf Barbaren). Schwieriger wurde die Situation allerdings wohl während der Usurpation des Magnentius (350–353). Nach allem, was sich erkennen lässt, stützte dieser sich vornehmlich auf die römische Gallien-Armee, die seit konstantinischer Zeit einen hohen Anteil fränkischstämmiger Kämpfer (u. a. laeti) aufwies. Demgegenüber scheint Constantius II., der durch die MagnentiusErhebung in ernsthafte Schwierigkeiten geriet, versucht zu haben, alemannische Gruppen zu Einfällen in Gallien zu bewegen, um die Kräfte seines Widersachers zu binden. Möglicherweise trug diese Strategie tatsächlich dazu bei, dass seine Truppen schließlich in der Schlacht bei Mursa (heute Osijek, Kroatien) – einem der mörderischsten Gemetzel, das die römische Bürgerkriegsgeschichte jemals hervorgebracht hat – den Sieg davontrugen (351). Allein: Die Geister, die der Kaiser gerufen hatte, wurde er nun nicht mehr los – Alemannen griffen fortan weiterhin Gallien an, und so war Constantius schließlich genötigt, sich selbst an den Ort des Geschehens zu begeben. Sein Alemannenfeldzug im Jahr 354 weist allerdings eine Reihe von Auffälligkeiten auf: Zum einen erreichte Constantius kampflos einen Vertragsabschluss (was ihn nicht daran hinderte, den Ehrentitel Alamannicus Maximus anzunehmen); zum anderen machten sonderbare Gerüchte vom Verrat einiger alemannischstämmiger Offiziere im römischen Heer die Runde, die aber ohne Konsequenzen blieben. Scheute sich der Kaiser also, mit der nötigen Härte gegen seine alemannischen ‹Freunde› vorzugehen? Die Lage blieb jedenfalls instabil, so dass Constantius im Jahr 355 erneut Präsenz zeigen musste; doch anstatt dieses Mal energisch den Kampf am Rhein aufzunehmen, wandte er sich kurzfristig gegen die Lentienses in der Bodenseeregion, die Raetien
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überfallen hatten. Fortschritte gab es erst ab November 355, als Julian die Anwesenheit des Kaiserhauses im von Alemannen bedrängten Gallien zu sichern begann – zunächst freilich ausdrücklich nicht als Oberbefehlshaber. Damit begann der Aufstieg des Neffen Konstantins, denn entgegen den allgemeinen Erwartungen erwies er sich als ein ausgesprochen fähiger Heerführer, der rasch das Vertrauen der Soldaten und bald auch das militärische Kommando gewann und die Alemannen innerhalb von zwei Jahren aus den Grenzprovinzen verjagte – mit der berühmten Schlacht bei Argentorate (Straßburg) 357 als dramatischem Höhepunkt.50 Die Alemannen indes fühlten sich verraten: Julian, so ihr Vorwurf, habe gegen die Intentionen des Constantius (der sie ja eingeladen hatte) gewirkt, und seine Usurpation im Jahr 360 bestärkte sie in ihrer Haltung.51 Die skizzierten Vorgänge um Constantius’ Einladung an alemannische Gruppen und ihre Folgen könnten ein interessantes, bereits angedeutetes Phänomen im Zusammenhang der ‹Barbarisierung des römischen Heeres› zumindest partiell erklären: Die Verdrängung hochrangiger alemannischstämmiger Offiziere und ihre Ablösung durch Franken in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Während fränkischstämmige Feldherren seit der Herrschaft Valentinians I. (364– 375) in zunehmender Zahl belegt sind, wurden Alemannen als Angehörige eines «furchterregenden Verbandes» (immanis natio) mehrfach erkennbar gedemütigt: Dies beginnt bereits mit der offenen Brüskierung einer alemannischen Delegation, die nach Valentinians Krönung die üblichen Geschenke einforderte, aber mit geringeren Gaben unverrichteter Dinge heimgeschickt wurde (365); prompt machten die Betroffenen in Form eines Einfalls ihrem Groll Luft, und Valentinian sowie sein Nachfolger Gratian wurden nun in eine Kette von Auseinandersetzungen mit Alemannen verstrickt, die erst im Jahr 378 mit einem überwältigenden römischen Sieg bei Argentovaria (im heutigen Elsass) einen Abschluss fanden. Signifikant ist sodann der Umstand, dass der Usurpator Procopius (365 / 66) sich auf zwei alemannische Offiziere stützte, die schon Julian abgesetzt hatte (Agilo und Gomoar); Valens (der wiederum den Alemannen Vadomar(ius) gegen sie hatte vorgehen lassen) ließ sie später wahrscheinlich beide hinrichten. Und schließlich die Begründung, mit der Valentinian sich weigerte, seinem Bruder Valens militärische Unterstützung gegen Procopius zu gewähren: Er habe sich um Wichtigeres zu kümmern, nämlich die Alemannen – den hostis totius orbis Romani («Feind des gesamten römischen Erdkreises»). Angesichts der allenfalls marginalen Gefahr, die damals für die römische Welt von alemannischen Gruppen ausging, eine markante rhetorische Volte, die offenbar das mittlerweile geschwundene Ansehen der Alemannen zum Ausdruck bringen sollte. Sie ging einher mit gezielten Aktionen gegen alemannische Größen: Vithicabius, der Sohn
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Vadomars, wurde 368 beseitigt, gegen Macrianus ging man entschieden, aber erfolglos vor, Fraomar(ius) wurde 372 nach Britannien abgeschoben und Hortar(ius) im selben Jahr exekutiert.52 Die Ausschaltung der Alemannen seit Mitte des 4. Jahrhunderts blieb nicht ohne Folgen: Während fränkischstämmige, seit theodosianischer Zeit dann auch zunehmend gotische Offiziere an Prominenz gewannen, verschwinden Alemannen zumindest als Individuen allmählich aus den Quellen: Nach dem Jahr 378 ist nahezu ein Jahrhundert lang kein Alemanne mehr namentlich bezeugt.53 Sollten die geschilderten Vorgänge tatsächlich den Hintergrund für das Phänomen darstellen, dass in den erhaltenen Quellen seit Mitte des 4. Jahrhunderts Alemannen in höheren römischen Rängen durch Franken abgelöst werden, so ließe sich daraus zumindest eine weitere wichtige Erkenntnis gewinnen: Die römische Führung machte offenbar einen Unterschied zwischen ‹Franken› und ‹Alemannen›. Ethnische Zuschreibungen konnten sich also unter bestimmten Rahmenbedingungen durchaus handlungsleitend auswirken – man denke nur an die systematischen Exekutionen gotischstämmiger Soldaten in römischen Diensten unmittelbar nach der Schlacht bei Adrianopel. Die Römer besaßen Kategorien, mit deren Hilfe sie Sortierungen vornahmen – und unterstützten damit wiederum indirekt Ethnogeneseprozesse bei den Barbaren, die allmählich zu dem wurden, was die Römer in ihnen sahen. Dass unter Valentinian I. Franken besondere Förderung genossen, könnte sich sogar in der (allerdings erst viel später ausgeformten) fränkischen origo gentis niedergeschlagen haben; ausgerechnet Valentinian I. kommt dort nämlich eine besondere Rolle zu. Und möglicherweise erklärt dieser Zusammenhang auch die auffällige Hervorhebung Pannoniens in der fränkischen Ursprungsgeschichte – es handelte sich um die Heimat dieses Kaisers.54 An der Rheingrenze gewannen die Römer infolge der ausgreifenden Operationen Konstantins und seiner Söhne allmählich die Kontrolle zurück – wohlgemerkt: auf dem rein militärischen Sektor. Die Alemannen, von Konstantin II. um 328 entscheidend in die Schranken verwiesen, gerieten jedenfalls erst durch die Usurpation des Magnentius wieder in Bewegung – und dies, wie erwähnt, höchstwahrscheinlich auch nur deshalb, weil Constantius II. selbst sie gegen den Prätendenten gehetzt hatte. Auch die Erfolge des Crispus 319 /20 zeigten Wirkung: Von fränkischen Übergriffen hören wir nichts mehr bis in die Zeit um 341; damals nutzten einige Raubgruppen den Konflikt zwischen Konstantin II. und Constans zu Plünderungszügen im gallischen Niederrheingebiet. Constans († 350) gelang es aber, sie 342 einzuhegen und für die Folgezeit unter Aufsicht zu stellen. Was ihm hingegen versagt blieb, waren nachhaltige Erfolge im Kampf gegen das kontinuierliche Einsickern von Franken in römisches Territorium; möglicherweise
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nahm seit Constans’ Herrschaft sogar die Niederlassung von Franken in Toxandrien zwischen Maas, Dijle und Schelde (s. u.) allmählich Gestalt an. Eines ist jedenfalls unübersehbar: Die fränkische Expansion hatte inzwischen als schleichender, aber unaufhaltsamer Prozess eingesetzt, und innere Tumulte wie etwa jene bluttriefenden Auseinandersetzungen, die durch die Erhebung des Magnentius ausbrachen und indirekt zur kurzlebigen Usurpation des Silvanus führten (355), beförderten entsprechende Entwicklungen. Alemannen- und Frankeneinfälle – Letztere einhergehend mit erheblichen Zerstörungen und gipfelnd in der Plünderung der von Verteidigern weitgehend entblößten Stadt Köln 355 – erforderten jedenfalls nach der Niederringung der Aufrührer eine anhaltende kaiserliche Präsenz an der Rheingrenze und schufen damit eine der Voraussetzungen für die Ernennung Julians zum Caesar und für seine Entsendung in das unter alemannisch-fränkischen Angriffen ächzende Gallien.55 4. Phase (355–364): Julian, so berichtet es Ammian, «träumte bereits vom Kampfgetöse und dem Abschlachten von Barbaren» (pugnarum fragores caedesque barbaricas somniabat). Hinreichend Möglichkeiten, sich in dieser Hinsicht zu entfalten, fand der militärische Novize unmittelbar darauf am Rhein vor; sie ebneten ihm den Weg auf den Kaiserthron. Zunächst jedoch präsentierte sich dem tatendurstigen Caesar ein desolates Bild: Barbarische Raubgruppen schweiften seit dem von Magnentius entfachten Bürgerkrieg weitgehend ungehindert durch Gallien und rieben dabei mitunter auch die ein oder andere römische Truppenkolonne auf. Welche Belastungen solche Streifzüge für die ansässige Bevölkerung mitgebracht haben müssen, lässt sich nur noch annähernd erahnen. Die grenznahen Städte, geplündert und niedergebrannt, boten kaum noch Schutz; Straßburg, Brumath, Zabern, Seltz (Elsass) sowie Speyer, Worms und Mainz befanden sich in den Händen barbarischer Scharen, am Rhein hatte nicht einmal eine Handvoll römischer Kastelle den Angriffen standgehalten. Unabhängig davon vollzogen sich offenbar bereits seit längerem schleichende alemannische Ansiedlungsprozesse auf römischem Boden. Nach einem ersten Achtungserfolg bei Brotomagus (Brumath) machte sich der Caesar zunächst daran, Köln zurückzugewinnen, und tatsächlich gelang ihm eine rasche Übereinkunft mit den dort lagernden «Königen der Franken» (Francorum regibus). Danach rückte die Oberrheinregion in den Fokus kaiserlicher Aufmerksamkeit: Constantius II. hatte im Jahr 356 einigen alemannischen Gruppen einen Frieden aufzwingen können; mit seinem prachtvollen Rombesuch im Folgejahr war es ihm sodann gelungen, ein für die Mitlebenden offenbar wirkungsvolles Signal herrscherlicher Präsenz im Westen zu setzen. Nun plante er in Reaktion auf suebische (= alemannische) Überfälle in Raetien einen groß angelegten Zangenangriff auf die Alemannen im heutigen südwestdeutschen Raum: Der magister peditum Barbatio, mit 25 000
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Soldaten aus Italien nach Rauracum (Kaiseraugst, Schweiz) entsandt, sollte über die südliche Flanke das Vorrücken Julians und seiner Mitstreiter von Westen unterstützen. Doch die römischen Planungen wurden bald von der Realität eingeholt. Zunächst musste Julian gegen einige laeti-Gruppen vorgehen, die sich selbständig gemacht hatten und das Umland von Lyon verheerten. Dennoch gelang es dem Caesar, auf Inseln in den damals sumpfigen, sich weithin verästelnden, mäandrierenden Läufen des Oberrheins alemannische Dörfer niederzubrennen und die überlebenden Bewohner zu verjagen; Zabern im Elsass wurde zurückgewonnen und neu befestigt – die Dinge schienen nun doch allmählich ins Rollen zu geraten. Da ließ sich Barbatio, der angeblich ohnehin beständig damit beschäftigt war, aus Feigheit und Neid auf den Caesar dessen Pläne zu hintertreiben, bei Rauracum von einem alemannischen Überraschungsüberfall übertölpeln und in die Flucht schlagen.56 Der Plan eines groß angelegten Feldzugs war damit vorerst gescheitert, ja es kam sogar noch schlimmer: Nachdem ein Überläufer den Alemannen hinterbracht hatte, dass Julian aktuell nur über kümmerliche 13 000 Mann verfügte, fand sich eine Koalition aus sieben alemannischen ‹Königen› (Alamannorum reges) zusammen: An ihrer Spitze stand der rex nobilissimus Chnodomar(ius), ein erfahrener Streiter, der bereits Decentius († 353), den Caesar des Usurpators Magnentius, besiegt und «viele reiche Städte zerstört und verwüstet» hatte. Ammian, der keine besondere Sympathie gegenüber Alemannen hegt, schildert «König Chnodomar» (rex Chnodomarius) als unstete, hochfahrende Persönlichkeit – wagemutig, selbstbewusst, arrogant, doch eine eindrucksvolle Erscheinung im Gefecht: «Chnodomar […] trug einen flammendroten Helmbusch und ritt vor dem linken Flügel, kühn (audax) und im Vertrauen auf die ungeheure Kraft seiner Arme, wo ein hitziger Kampf zu erwarten war, riesenhaft (immanis), hochaufgerichtet auf schäumendem Ross, gestützt auf einen Wurfspeer von fürchterlicher Länge. Durch seine glänzende Rüstung war er unter den anderen leicht zu erkennen, selbst ein tüchtiger Kriegsmann und ein Feldherr, der anderen an Tüchtigkeit überlegen war» – kurzum: ein klassischer Barbar. Ihm zur Seite stand sein Neffe Serapio, ein Beispiel für das nahtlose Ineinandergreifen der römischen und der barbarischen Sphäre zu jener Zeit: Fasziniert von Geheimlehren aus dem griechischsprachigen Raum (offensichtlich ägyptischen Sarapis- bzw. Isis-Sarapis-Mysterienkulten), mit denen er als Geisel in Gallien in Berührung gekommen war, hatte sein Vater Mederich den Knaben Agenarich einst in Serapio umbenannt. Der aber führte nun gemeinsam mit Chnodomar das antirömische Bündnis; ihnen folgten insgesamt fünf weitere ‹Könige› (reges). Ammian nennt ihre Namen: Vestralpus, Urius, Ursicinus, Suomar(ius) und Hortar(ius). Zehn weitere ‹Unterkönige› bzw. Anführer (regales) sowie «eine große Anzahl an Adeligen»
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(optimatum series magna) standen unter ihrem Kommando – und schließlich: angeblich 35 000 Mann unter Waffen. Die furchteinflößende Streitmacht begab sich nach Straßburg und forderte – natürlich vor allem von «barbarischer Wildheit» (barbara feritate) getrieben – von Julian, die Römer möchten sich aus den Ländern, die man mit Tapferkeit und Schwert erobert habe, umgehend zurückziehen – ein Anliegen, das Julian geschmeidig weglächelte. Damit war eine militärische Auseinandersetzung unausweichlich.57 Wie umsichtig die von Ammian als außerordentlich gepriesenen Vorbereitungsmaßnahmen Julians tatsächlich waren, bleibt im Dunkeln. So manchem römischen Soldat dürfte jedoch unbehaglich geworden sein, als sich herumsprach, dass allein der Rheinübergang des ungeheuren Alemannenheeres sich über drei Tage und Nächte hin erstreckt hatte. Doch war die Schlacht nun unvermeidlich. Letzte aufmunternde Worte des Caesar sollten die zahlenmäßig weit unterlegenen römischen Linien stabilisieren, dann gingen die Armeen aufeinander los. Der ehemalige Soldat Ammian hat uns eine ausführliche Beschreibung des Kampfverlaufs hinterlassen, die – gemessen an anderen antiken Beispielen dieses Genres – durchaus konsistent wirkt, auch wenn der Historiograph sie insgesamt als Aufeinandertreffen ungestümer barbarischer Urgewalten gegen routinierte römische Kampfeskunst und Erfahrung zeichnet.58 Die Alemannen richteten ihre Hauptattacke zunächst gegen die römische Kavallerie auf dem rechten Flügel, und der heftige Angriff zeigte Wirkung. Die römische Ordnung drohte zusammenzubrechen; fliehende Reiter brandeten gegen die eigene Infanterie, die nur mit Mühe standzuhalten vermochte. Als Julian das drohende Unheil wahrnahm, begab er sich umgehend zum Brennpunkt, allseits an seinem Drachenbanner, das «sich wie eine abgelegte Schlangenhaut im Winde blähte», erkennbar. Es gelang ihm, die Reitertruppen durch aufbauende Zurufe zu stabilisieren, und das Geschehen verlagerte sich nunmehr auf die Fußtruppen. Ammian beschreibt ein intensives Hin- und Herwogen der Kämpfe, in denen die Alemannen stets in der Offensive blieben, die Römer jedoch – unter anderem aufgrund des tapferen Einsatzes eines Bataver-Kontingents – ihre Reihen geschlossen zu halten vermochten. Ganz plötzlich habe sich dann eine leidenschaftliche Gruppe alemannischer Adeliger (ardens optimatium globus), unter ihnen die ‹Könige› (reges), erhoben und sei tief in die römischen Reihen vorgedrungen, gefolgt von der Masse der Krieger. Doch die Römer hielten auch dieser Attacke stand und hieben die sich vorkämpfenden Alemannen nieder, wobei der allmählich anwachsende Leichenstapel ihnen neue Zuversicht vermittelte. Schließlich brach der Angriff der Barbaren zusammen und löste sich in eine ungestüme Flucht zum Rhein auf. Die Römer verfolgten ihre Gegner nur bis zum Ufer, schlugen auf sie ein und beschossen jene, die sich verzweifelt in die Fluten stürzten. Ammian fährt fort:59
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Dann entrissen sie den Barbaren selbst die Waffen und stießen sie ihnen in die Eingeweide. Keiner, der Wunden hieb, kühlte seinen Zorn am Blut, und keiner sättigte seine Rechte an dem vielen Morden oder ging aus Erbarmen davon, wenn einer um Gnade flehte. Die meisten lagen tödlich getroffen am Boden und forderten Erlösung durch einen schnellen Tod. Andere, halbtot und kaum noch atmend, suchten brechenden Auges noch einen Lichtstrahl zu erhaschen. Manchen waren die Köpfe durch balkenstarke Geschosse abgerissen und hingen nur noch lose an der Kehle. Ein Teil der Barbaren glitt auf dem schlammigen und schlüpfrigen Boden im Blut der Gefährten aus und wurde von Haufen darüber Stürzender erstickt, ohne dass die Körper von einer Waffe getroffen wurden. Sobald diese günstige Wendung eingetreten war, drängten die Sieger eifriger nach, und die Schwerter wurden stumpf von den dicht fallenden Hieben. Glänzende Helme und Schilde wurden mit Füßen getreten. Von höchster Not bedrängt, suchten die Barbaren trotz der Behinderung durch die hohen Berge von Leichen in den Schutz des Stromes zu flüchten, der ihnen allein blieb. Denn er floss dicht hinter ihrem Rücken. Unsere Soldaten waren den Fliehenden trotz des Gewichts ihrer Waffen unermüdlich in schnellem Lauf auf den Fersen. Daher glaubten manche von diesen, sich der Gefahr durch schwimmen entziehen zu können, und vertrauten ihr Leben den Fluten an. Aus diesem Grund verbot der Caesar, der das Kommende mit raschem Blick erfasste, zusammen mit den Tribunen und Heerführern durch tadelnde Zurufe den Unsrigen, dem Feind zu hitzig zu folgen und sich in die strudelnden Tiefen zu stürzen. Streng wurde darauf geachtet, dass sie am Ufer stehenblieben und von dort aus die Germanen mit Geschossen verschiedenster Art durchbohrten. Manchen hatte seine Schnelligkeit dem Tod entkommen lassen, aber nun ging er durch das Gewicht des getroffenen Körpers in der Tiefe des Flusses unter. Wie in einer Theatervorstellung der aufgehende Vorhang vieles Wunderbare erblicken lässt, so konnte man hier ohne Furcht zusehen, wie manche des Schwimmens Unkundige sich an kräftige Schwimmer anklammerten und andere auf dem Wasser wie Baumstämme dahintrieben, wenn sie von Schnelleren abgeschüttelt wurden. Manche wurden von den Fluten erfasst und verschlungen, als ob der reißende Strom mit ihnen rang. Viele trieben auf ihren Schilden dahin und versuchten, den steilen Kämmen der entgegenstürmenden Wogen durch Kurven zu entgehen. So kamen sie nach vielen Fährnissen an das jenseitige Ufer. Schäumend vom Blut der Barbaren, veränderte der Strom seine Farbe und erstaunte selbst über die ungewöhnliche Zunahme seiner Wassermassen.
Die Römer zählten insgesamt 247 Gefallene, darunter vier Feldherren höheren Ranges. Seitens der Alemannen sollen insgesamt 6000 Soldaten auf dem Schlachtfeld geblieben sein; hinzu kamen zahlreiche, die auf der Flucht im Rhein ertrunken waren. Der römische Sieg war also überwältigend. Ob man ihn deshalb gleich den Punischen Kriegen und den Kämpfen gegen Kimbern und Teutonen an die Seite stellen muss, wie Ammian es tut, sei dahingestellt – wie denn überhaupt die Gefahr besteht, das Geschehen allein aufgrund seiner singulären Überlieferung überzubewerten. Chnodomar selbst gelang es, aus dem verlorenen Gefecht halb-
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wegs unbeschadet herauszustolpern. Sein Gesicht verhüllend, begab er sich zum Flussufer, wurde aber nach einem Sturz vom Pferd erkannt und umstellt. In derart aussichtsloser Lage kapitulierte er, und mit ihm seine 200 engsten Gefolgsleute. Nach der Schlacht unterwarf er sich bedingungslos der römischen Herrschaft; Julian ließ ihn an den Hof des Constantius verbringen, danach wurde er nach Rom geleitet, wo er später an einer Krankheit verstarb.60 Germanien niedergeworfen; den Strom des frostklirrenden Rheins befriedet; das Blut mordgieriger Könige vergossen bzw. ihre Hände in Ketten gebunden – so das stolze Fazit Ammians. Für Julian bedeutete der Sieg bei Straßburg, erfochten im Spätsommer 357, einen militärischen Erfolg von unermesslicher Strahlkraft, den er dankbar annahm. Ammian rechtfertigt ausdrücklich die ausgreifende Siegespropaganda des Caesar (dieser hatte über die Schlacht sogar eine eigene, nicht erhaltene Schrift verfasst) mit Verweis auf Constantius II., der sich – obwohl damals weit vom Geschehen entfernt – den Sieg bei Straßburg selbst zugeschrieben habe, ein Verhalten, das allerdings ganz üblich und in keiner Weise ehrenrührig war.61 Für den modernen Betrachter sind die Ereignisse vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie einigen Aufschluss über die Komposition des Alemannenverbandes geben. Sie zeigen nämlich, dass ein solcher überhaupt nicht existiert hat. Das gewaltige Heer, das Chnodomar und Serapio hinter sich versammelten, war mitnichten eine homogene Einheit, es war kein Stamm und schon gar kein Volksaufgebot, sondern stellte nicht mehr dar als eine situativ zusammengeführte Koalition, einzig zu dem Zweck, den an die Römer gerichteten Gebietsansprüchen den nötigen Nachdruck zu verleihen. Dieser Befund lässt sich an verschiedenen Beobachtungen festmachen: Zum einen traten keineswegs alle waffenfähigen Alemannen bei Straßburg den Römern entgegen. Wichtige Gruppen, wie etwa die Lentienses, fehlten. Ein weiterer, von den «Königsbrüdern» (regii fratres) Gundomad und Vadomar(ius) geführter Verband (die Brisigavi) war mit Rom alliiert, doch meuterten ihre Leute und schlossen sich Chnodomar an. Sie ermordeten Gundomad und brachten Vadomar, der eifrig versicherte, dies alles sei gegen seinen Willen geschehen, in eine peinliche Situation. Weitaus signifikanter aber ist die Tatsache, dass sich im Heer der Alemannen offenbar auch bezahlte Söldner befanden sowie Männer, denen man Gegenleistungen zugesagt hatte. Nicht ohne Grund sieht Ammian im Aufgebot Chnodomars denn auch eine Art Vielvölkerheer (ex variis nationibus), und die Soldaten dieser Streitmacht standen nicht unbedingt im allerengsten Vertrauensverhältnis zu ihren Anführern: Unmittelbar vor der Schlacht forderten sie jedenfalls, die regales sollten nicht zu Pferd, sondern zu Fuß kämpfen, um sich nicht im Fall einer drohenden Niederlage eilig aus dem Staub machen zu können. Chnodomar kam diesem Anliegen als Erster nach.62
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Die innere Hierarchie der Kommandeure war offenbar fein ausdifferenziert: Chnodomar und Serapio überragten an Macht die anderen fünf ‹Könige› (potestate excelsiores ante alios reges), die ihnen wiederum am nächsten kamen (potestate proximi reges). Unterhalb dieser sieben Hauptleute rangierten die zehn königlichen Anführer (regales) und «eine große Anzahl an Adeligen» (optimatum series magna). Erkennbar ist, dass einige der alemannischen ‹Könige› miteinander verwandt waren, auch Beispiele einer doppelten ‹Königs›-Herrschaft sind überliefert: Chnodomar war der Onkel Serapios, die Brüder Gundomad und Vadomar herrschten gemeinsam über ihren eigenen Verband. Ammian kennt darüber hinaus die Brüder Macrianus und Hariobaudes, ‹Könige› der Bucinobanten. Offenbar spielte im Herrschaftsgefüge alemannischer Gruppen eine dynastische Komponente zumindest eine gewisse Rolle: Dem ‹König› Mederich folgte sein Sohn Agenarich / Serapio, der bei Straßburg mit Chnodomar das Kommando führte, obwohl ihm gerade erst der Bart gesprossen war und er noch keine nennenswerten Großtaten, die ihn besonders qualifiziert hätten, vollbracht haben konnte. Der bereits mehrfach erwähnte Vadomar wurde von seinem Sohn Vithicabius beerbt. Diese dynastischen Verknüpfungen dürfen jedoch nicht zu der fälschlichen Annahme verleiten, dass eine gesamtalemannische Herrscherdynastie existiert hätte. ‹Die› Alemannen sind das Resultat römischer Kategorisierungsbemühungen. Tatsächlich scheinen die einzelnen Gruppen weitgehend unabhängig voneinander und unter je eigenen Herrscher(dynastie)n agiert zu haben, und zwar sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten. Wir können also auch nicht von einem typischen Heerkönigtum sprechen. Die faktische Zersplitterung der Alemannen manifestiert sich am deutlichsten in dem Umstand, dass mit der Kapitulation Chnodomars keineswegs ein allgemeiner Friede geschlossen war. Vielmehr waren die Alemannen «noch nicht zu einer Einheit zusammengeführt» (nondum in unum coactos); Julian musste mühsam mit jedem einzelnen ‹König› verhandeln und Abkommen schließen – eine Aufgabe, die in den nächsten Monaten den größten Teil seiner Kapazitäten beanspruchen sollte.63 Nachdem der Caesar sämtliche Opfer der Schlacht, gleichermaßen Freund und Feind, hatte bestatten lassen, überschritt er bei Mainz den Rhein und signalisierte den Barbaren, dass es ihm ernst war: Seine Truppen durften alles plündern und niederbrennen, was sie vorfanden – und darin besaßen sie Erfahrung. Eine verfallene Festung aus der Zeit Traians (98–117) wurde erneuert und mit Soldaten besetzt. Das harte Durchgreifen zeigte Wirkung: Die ersten Delegationen alemannischer Führer fanden sich ein. Julian gewährte großmütig einen zehnmonatigen Frieden. Aufräumarbeiten derweil allerorten: Barbatio zerschlug einen Juthungenverband, der Raetien angegriffen hatte, und Julian konnte auf dem Rückweg in sein Winterlager zu Reims eine 600 Mann starke fränkische
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Plündererschar zur Kapitulation zwingen. Franken waren auch jene Salii, die sich in Toxandrien niedergelassen hatten (s. o.) und von Julian im Jahr 358 attackiert wurden. Man einigte sich schließlich darauf, dass sie – wohl als dediticii – ihre Wohnsitze behalten durften; Chamaven hingegen, die sich ebenfalls auf römischem Territorium angesiedelt hatten, wurden verjagt und schließlich in ein Vertragsverhältnis gebracht, das sie dazu verpflichtete, Rheinmündung und Ärmelkanal zu überwachen, damit die in Britannien stationierten römischen Truppen weiterhin mit Getreide beliefert werden konnten. Gleichzeitig mussten die aufwendigen Bemühungen um Abkommen mit jedem einzelnen alemannischen Anführer fortgesetzt werden: Suomarius und Hortarius, Mitglieder der ehemaligen Sieben-Könige-Koalition, unterwarfen sich kniefällig, lieferten artig römische Gefangene aus und verpflichteten sich zur Versorgung römischer Einheiten sowie zur Mithilfe beim Wiederaufbau der Städte. Nach einem dritten Rheinübergang der Römer im Jahr 359 und erneuten Brandschatzungen folgten schließlich Verträge mit Macrianus und Hariobaudes, mit Vadomar sowie – durch diesen vermittelt – den bei Straßburg besiegten ‹Königen› Urius, Ursicinus und Vestralpus. Ein jeder von ihnen hatte persönlich vor dem Caesar zu erscheinen und die Gefangenen zu übergeben; dabei gelangten weitere von Barbaren eroberte Städte wieder unter römische Kontrolle.64 Damit war die römische Herrschaft am Rhein wiederhergestellt; viel Zeit und Aufwand wurde in die Reparatur der Infrastruktur, den Wiederaufbau der Städte sowie Entlastungen der notleidenden Bevölkerung (Steuern) investiert. Julian hatte ganze Arbeit geleistet, und seine Ausrufung zum Kaiser, zu Beginn des Jahres 360 durch die Truppen in Paris erfolgt, hatte aus der gallischen Perspektive gute Gründe. Die Folge dieses Usurpationsaktes war jedoch, dass der Prätendent nun gen Osten ziehen musste, um seinem Cousin Constantius II. die Stirn zu bieten. Um aufkeimenden Unruhen während seiner Abwesenheit vorzubeugen und zugleich die Truppen bei Laune zu halten, sollten offensichtlich Exempla statuiert werden: Der frisch gekorene Augustus setzte ein weiteres Mal über den Rhein und überfiel die ahnungslosen fränkischen (Ch)attuarier. Und auch die Alemannen erreichte die Druckwelle der neuen Situation (361): Julian intervenierte noch einmal im Breisgau und verhaftete den mit Rom alliierten Vadomar, der – offenbar als potentieller Aufrührer – nach Spanien abgeschoben wurde. Mit den Siegestiteln eines Alamannicus Maximus und Francicus Maximus geschmückt, machte sich der Usurpator schließlich die Donau entlang auf den Weg nach Osten. Nur der frühzeitige Tod des erkrankten Constantius noch im Jahr 361 verhinderte einen erneuten römischen Bürgerkrieg.65 5. Phase (364–406): Im Umfeld der Schlacht bei Straßburg treffen wir zum ersten Mal auf den Tribun Valentinian, einen aus Pannonien stammenden Solda-
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ten, den die Truppen nach dem Tod Julians (363) und der episodischen Herrschaft Jovians († 364) am 26. Februar 364 zum Kaiser erhoben. Auf Drängen des Heeres ernannte Valentinian nur einen Monat später seinen jüngeren Bruder Valens zum Mitherrscher und überließ ihm etwas später den Ostteil des Reiches (ohne Illyricum). Formal wurden Administration, Hofstaat und Armee damals zum ersten Mal geteilt. Nachdem Valentinian seinen Bruder in den Osten entlassen hatte, sollte er ihn nie mehr wiedersehen.66 Die Art und Weise, wie der frisch gekürte Augustus den Alemannen entgegentrat, steht sinnbildlich für die Schwierigkeiten, adäquate Interpretationsmodelle für römische Außenpolitik zu entwickeln. Im Fall Valentinians reicht das Deutungsspektrum von der energischen Bekämpfung eines offenkundig bedrohlichen Gegners am Rhein über die Instrumentalisierung grundsätzlich doch eher ungefährlicher Barbarengruppen für herrschaftsstabilisierende und repräsentative Zwecke bis zur Umsetzung eines geradezu obsessiven Bedürfnisses, sich in der Bekämpfung auswärtiger Feinde zu beweisen. Für alle Positionen lassen sich gute Argumente finden, und vielfach wird man wohl auch mit Überschneidungen zu rechnen haben, zumal die zeitgenössische Wahrnehmung der potentiellen Bedrohlichkeit einer Barbarengruppe sich durchaus von modernen Einschätzungen unterscheiden kann. Ein zumindest subjektives Bedürfnis, das Imperium Romanum zu verteidigen, sowie der Drang, militärische Erfolge zu erringen, scheinen auch im Fall Valentinians eng ineinandergegriffen zu haben. Anders dürfte sich jedenfalls die für seine Herrschaft charakteristische Kombination demonstrativoffensiver und langfristig ausgerichteter defensiver Maßnahmen kaum erklären lassen.67 Letztere manifestieren sich in den intensiven Bemühungen des Kaisers, den insbesondere unter Diokletian verstärkten Donau-Iller-Rhein-Limes sowie die Donaugrenze durch Restrukturierungen und eine Verdichtung der Kastellketten weiter zu stärken, und zwar – wie Ammian festhält – «von Raetien bis zum Ärmelkanal den ganzen Rhein entlang». Diese Baumaßnahmen sind literarisch und archäologisch gut bezeugt. Einen besonderen Akzent setzte Valentinian dadurch, dass er auch auf rechtsrheinischem Gebiet befestigte Brückenköpfe anlegen oder ausbauen ließ, die den weiterhin bestehenden Anspruch Roms auf Kontrolle des grenznahen Barbaricum signalisierten; sie fanden sich etwa bei Mainz, Jechtingen-Sponeck (Sasbach, Baden-Württemberg), Basel und Wyhlen (Ldkr. Lörrach). Hinzu kamen spezielle burgi, die eigens konstruiert waren, um das Anlanden von Booten zu ermöglichen. In der Panegyrik gar zu regelrechten Städten aufgewertet, waren sie allerdings kaum als Aufmarschzentren für geplante Großangriffe konzipiert – dafür waren sie zu klein –, sondern sollten eher die Flussflotten unterstützen, denen Valentinian insgesamt gesonderte Aufmerksamkeit zuwandte.68
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Des Kaisers Bemühen, Konflikte mit Alemannen für eigene Interessen zu instrumentalisieren – die Barbaren also in herkömmlicher Weise als materia vincendi heranzuziehen –, lässt sich durchaus schlüssig aus seiner Politik am Rhein ableiten. Im Hintergrund, so wurde vermutet, könnte ein Unbehagen gestanden haben, in den Osten zu gehen; denn dort wäre möglicherweise die Erwartung an ihn herangetragen worden, sich in eine neue, riskante Auseinandersetzung mit den Persern zu werfen, um den 363 von Jovian geschlossenen, in den Augen zahlreicher Mitlebender schmachvollen Frieden aufzulösen. Im Westen hingegen erschienen die Verhältnisse weitaus weniger kompliziert: Mit den Alemannen standen bekämpfbare, aber letztlich nicht universal bedrohliche Gruppen zur Verfügung, an denen der junge Kaiser Konturen gewinnen konnte, insbesondere mit Blick auf die vorbildlichen Leistungen Julians; in den Rheinprovinzen besaß er zudem die nötige Distanz, um den italischen Senatoren (die ihn großenteils nicht sonderlich schätzten) ausweichen zu können, befand sich aber zugleich nahe genug an Italien, um situativ rasch eingreifen zu können. Eine Reihe von Indizien wurde jedenfalls angeführt, um aufzuzeigen, dass von den Alemannen, die Valentinian bald als Hauptgegner der römischen Welt identifizieren sollte, faktisch keine besondere Gefahr ausging: die Gemächlichkeit, mit der sich der Kaiser an den Rhein begab, die kalkulierte Demütigung der ersten alemannischen Delegation, die lediglich ihre traditionellen Geschenke in Empfang nehmen wollte und schließlich Valentinians Verhalten im Angesicht der gefährlichen Revolte des Procopius, eines Abkömmlings der Familie Konstantins I. Als dieser sich 365 / 66 im Osten erhoben hatte und Valens seinen Bruder um Hilfe bat, harrte dieser, seinen Ratgebern folgend, lieber im Westen aus, um den Alemannen als dem «Feind der gesamten römischen Welt» (s. o.) entgegenzutreten, anstatt lediglich für den Erhalt der Herrschaft eines engen Familienmitglieds zu streiten. Diese kompromisslose, hingebungsvolle Haltung ließ sich in der Öffentlichkeit gut vermitteln, bewahrte den Kaiser zugleich aber auch davor, einen gefahrvollen Marsch nach Osten mit unkalkulierbarem Ausgang antreten zu müssen. Dementsprechend zogen sich die Kämpfe mit den Alemannen, die auf die Brüskierung ihrer Gesandtschaft seit Herbst 365 mit Einfällen in die grenznahen Regionen Galliens (Gallicanos limites) reagiert hatten, denn auch über einen längeren Zeitraum hin, bis unmittelbar nach dem Eintreffen der Meldung vom Sieg über Procopius bei Nakoleia (Phrygien) zügig mit ihnen aufgeräumt werden konnte. Valentinians Heerführer (magister equitum) Jovinus, Nachfolger des zuvor eher erfolglosen magister peditum Dagalaifus, zersprengte zunächst zwei kleinere alemannische Verbände, bevor ihm unmittelbar darauf bei Catalauni (Châlons-en-Champagne) ein weithin beachteter Erfolg gelang. Nicht nur er, sondern auch Dagalaifus wurden in den Jahren 366 und 367 als Lohn für ihren
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Einsatz gegen den ‹Hauptfeind› der römischen Welt mit dem Konsulat ausgezeichnet.69 Wie instabil die eigene Position indes weiterhin war, musste Valentinian erkennen, als er im Jahr 367 ernsthaft erkrankte und sogleich über mögliche Nachfolger spekuliert wurde. Grund genug, um nach der Genesung direkt den achtjährigen Gratian zum Augustus zu erheben und damit den dauerhaften Anspruch einer neuen Dynastie allseits sichtbar zu zementieren. Auch militärische Erfolge waren in dieser Hinsicht traditionell hilfreich; und so begaben sich Vater und Sohn 368 gemeinsam über den Rhein in das Alemannengebiet, um den Ruhm des Reiches zu mehren und nach siegreichen Kämpfen selbst den Titel Alamannicus Maximus anzunehmen. Spektakuläre Inszenierungen wie ein Vorstoß in den Neckarraum und gar ein Zug zur Quelle der Donau im Jahr 369 (370?) oder eben auch die gezielte Anlage römischer Brückenköpfe jenseits von Rhein und Donau vermittelten der gesamten Oikoumene ein eindrucksvolles Bild von den überragenden Fähigkeiten der sich etablierenden Dynastie. Valentinian, der seine stete Sorge um das Wohl der Bevölkerung auch in einer ungemein regen Gesetzgebungstätigkeit zum Ausdruck brachte, ließ es sich daher natürlich gerne gefallen, dass in panegyrischen Kontexten gar mit der baldigen Einrichtung einer neuen, rechtsrheinischen Provinz Alamannia gerechnet wurde.70 In dieser Weise lässt sich die Matrix beschreiben, in welche die Alemannenkriege Valentinians I. einzuordnen sind – von der Brüskierung der alemannischen Gesandten und den damit einsetzenden Plünderungszügen durch römische Gebiete bis hin zum Friedensschluss mit dem machtvollen Alemannenführer Macrianus im Jahr 374 (s. u.). Ob man dabei eher dem Aspekt der Herrschaftssicherung und -repräsentation oder aber der Notwendigkeit eines entschiedenen Vorgehens gegen gefährliche Gegner zuneigt, hängt von der grundsätzlichen Einschätzung der Bedrohlichkeit alemannischer Gruppen für das dritte Viertel des 4. Jahrhunderts ab – eine Frage, die in der Forschung kontrovers diskutiert wird und sich auf Basis des vorhandenen Quellenmaterials auch kaum eindeutig wird beantworten lassen. Die Tatsache jedenfalls, dass Valentinian in der Lage war, einschüchternde Strafexpeditionen durchzuführen und Gestalten wie Macrianus zu Übereinkünften zu zwingen, weist immerhin darauf hin, dass das Imperium Romanum an der Rheingrenze während der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts noch selbst das Heft des Handelns in den Händen hielt. Aktion stand weiterhin vor reiner Reaktion. Nur ein Jahrhundert später sollte sich die Lage bereits ganz anders gestalten. Gleichwohl: Auch wenn die Alemannen unter Valentinian I. das Reich nicht existenziell zu bedrohen vermochten, für die jeweils betroffene Bevölkerung ging jeder einzelne Plünderungszug mit katastrophalen Konsequenzen einher: Mord, Vergewaltigung, Raub, Verschleppung und Entwurzelung. Ein
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Schlaglicht auf die Situation wirft eine Konstitution, die Valentinian am 14. Juni 366 in Reims erließ: Personen, die durch Barbaren entführt worden waren, sollten möglichst bald zurückkehren und ihre Ländereien und Sklaven wieder in Besitz nehmen. Eine andere, nur wenige Wochen ältere Bestimmung weist Provinzstatthalter an, flüchtige Kolonen, also schollengebundene Bauern, zurück auf ihre Güter zu führen. Hinter beiden Gesetzen zeichnet sich die chaotische Situation ab, die alemannische Überfälle hinterlassen hatten: Menschen waren fortgezerrt worden, befanden sich auf der Flucht oder hatten – wie offenbar zahlreiche Kolonen – schlicht die Gelegenheit ausgenutzt, um sich davonzumachen.71 Die Ereignisgeschichte im Einzelnen zu rekonstruieren, stellt ein komplexes Unterfangen dar: Zwar können wir bis zum Jahr 367 auf einen weitgehend kohärenten und klar strukturierten Bericht Ammians zurückgreifen, doch erkaufen wir uns diesen bequemen Zugriff durch die Abhängigkeit von einem einzigen Leitnarrativ. Ab dem Jahr 368 werden Ammians Nachrichten lückenhafter, selektiver; Valentinian war gegenüber dem kraftstrotzenden Julian und der fehlerbehafteten, tragischen Figur Valens kein Kaiser, der das besondere Interesse des Historiographen auf sich gezogen hat. Die Grundlinien seines Vorgehens bleiben jedoch weiterhin erkennbar.72 Nachdem man die alemannischen Gesandten beleidigt und damit entsprechende Reaktionen hervorgerufen hatte, standen die Jahre 365 / 66 außenpolitisch im Zeichen römisch-alemannischer Auseinandersetzungen, die Jovinus, wie angedeutet, nach dem Untergang des Usurpators Procopius im Osten siegreich beenden konnte – freilich unter hohen Verlusten, die vielleicht im Hintergrund der spontanen Massakrierung des namentlich nicht bekannten alemannischen rex durch die Soldaten direkt nach der Schlacht standen.73 Der überraschende Überfall einer alemannischen Streifschar unter einem regalis namens Rando auf das römische Mainz sowie die Ermordung von Vadomars Sohn und Nachfolger Vithicabius durch einen seiner eigenen Männer (der von der römischen Seite bestochen war) bildeten sodann den Auftakt einer längeren Ereigniskette: Im Jahr 368 überschritten Valentinian und Gratian, wie bereits erwähnt, gemeinsam den Rhein (wohl nicht den Main), konnten jedoch, unbefriedigend für die tatendurstigen Herrscher, lediglich die Ackerflächen der zurückweichenden Alemannen verheeren. Valentinian selbst wäre sogar beinahe in einem unerwarteten alemannischen Hinterhalt umgekommen; immerhin brachte das sich daran anschließende Gefecht bei Solicinium (nicht lokalisiert) den von der römischen Seite erhofften Sieg. Die Lage blieb jedoch vorerst instabil: Verbreitete Plünderungen, überdies im Jahr 370 ein sächsischer Einfall in Nordgallien (der aber zurückgeschlagen werden konnte), dürften einmal mehr für Unsicherheit und Existenzängste gesorgt haben. Es gab jedoch auch Profiteure. Der
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Dichter Ausonius, Erzieher Gratians und Konsul 379, begleitete den Kaiser ins Feld und wurde mit dem alemannischen (von ihm als Suebin bezeichneten) Sklavenmädchen Bissula entlohnt; die Anmut der blauäugigen, rotblonden Erwerbung (oculos caerula flava comas) besingt er in einigen wohlkomponierten Versen.74 Valentinian indes demonstrierte Handlungsstärke: Er identifizierte den mit Rom verbündeten Alemannenführer Macrianus, dessen Herrschaftsbereich sich wahrscheinlich entlang des Mains erstreckte und darauf verweist, dass alemannische Führer im 4. Jahrhundert in der Lage waren, größere Räume unter ihre Kontrolle zu bringen, als Urheber allen Übels; für ein gemeinsames Vorgehen gegen den angeblich aufsässigen Barbar wurden die Burgunder, traditionelle Gegner der Alemannen, gewonnen. Während der Feldherr Theodosius – der Vater des gleichnamigen Kaisers, wir waren ihm bereits in Nordafrika begegnet – von Raetien aus erfolgreich alemannische Verbände attackierte, zahlreiche Kämpfer niedermachen und die Gefangenen in der Poebene ansiedeln konnte, scheiterte die römisch-burgundische Offensivaktion kläglich, weil die Burgunder zu früh am vereinbarten Treffpunkt erschienen und die Abwesenheit der Römer ihrerseits als feindseligen Akt deuteten (370). Nun galt es zunächst, die von dem erzürnten Burgunderheer ausgehende Bedrohung (terrori nostris fuere vel maximo) einzufangen, bevor Valentinian selbst sich auf einen Feldzug begab, um Macrianus direkt zu ergreifen – ganz so, wie es Jahre zuvor Julian gelungen war, sich Vadomars zu bemächtigen. Der Alemanne wich dem kaiserlichen Heer jedoch geschickt aus und entkam zuletzt, so dass Valentinian mit Fraomar(ius) lediglich einen ihm ergebenen neuen ‹König› an seiner Statt installieren konnte (371 / 72), der indes von Macrianus um 372 / 73 wieder gestürzt und später von den Römern nach Britannien abgeschoben wurde (s. o.). Dass der Alemannenführer trotz einer zeitweise höchst prekären Lage seine Position zu behalten vermochte, verweist auf eine feste Verankerung seiner Stellung, deren Grundlagen wir aber nicht kennen. Zu einem Ausgleich mit Macrianus kam es schließlich im Jahr 374, und die zu diesem Zweck ersonnene Inszenierung erinnert ein wenig an die Friedensgespräche, die wenige Jahre zuvor, 369, Valens mit dem terwingischen ‹Richter› Athanarich geführt hatte: Bei Mainz erschien der Alemanne, begleitet von seinen Kämpfern, am Ufer des Rheins und wartete, bis der Kaiser sich auf einem Boot vom anderen Ufer her in gemessenem Abstand angenähert hatte. Man erörterte nun über den Strom hinweg die umstrittenen Punkte und schloss anschließend einen feierlichen Vertrag (foedus), der den rex wieder zum Alliierten Roms erhob. Er sollte dem Imperium Romanum zeit seines Lebens ein loyaler Partner bleiben.75 Der Alltag in den grenznahen Regionen um 360 / 70 ist hinter all diesen Geschehnissen nur schwer zu fassen. Das literarische Material reflektiert, wie bereits
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angemerkt, zumeist Ausnahmesituationen; doch scheint in Ammians Erzählung mehrfach hindurch, dass die Bevölkerung auch jenseits der Großereignisse immer wieder von Raubzügen und Überfällen marodierender Plünderer geplagt wurde. Immerhin führte vor allem das groß angelegte Bauprogramm Valentinians zu einer erkennbaren Stabilisierung der Rheingrenze. Dass nicht alle Barbaren ausschließlich als Räuber und Plünderer agierten, spiegelt hingegen der archäologische Befund, der auf enge Beziehungen und regen Austausch verweist. Ein singuläres Beispiel für friedliche Kontakte bietet die Lobrede auf Valentinian I., die der Senator Quintus Aurelius Symmachus Anfang 370 vortrug. Dort wird berichtet, wie der Kaiser im Jahr 369, begleitet von starker Heeresmacht, wohl bei Alta Ripa (Altrip, Rheinland-Pfalz) auf einer Pontonbrücke über den Rhein ging und ein alemannisches Dorf aufsuchte, dessen ärmliche Behausungen den Festredner erschaudern ließen. Die Bevölkerung, bewaffnete Männer, Frauen und Kinder, hatte sich freilich vor Ankunft der Streitmacht zurückgezogen. Die Römer verzichteten auf Brandschatzungen und zogen weiter zu einer aufgegebenen colonia (evtl. Lopodunum / Ladenburg), um dort aus den verfallenen Gebäuden Material für die Anlage einer Befestigung an der Neckarmündung zu gewinnen (vermutlich Mannheim-Neckarau). Die Bewohner des alemannischen Dorfes standen ihnen dabei hilfreich zur Seite. Die von Symmachus beschriebene, nicht leicht zu entschlüsselnde Szenerie lässt sich in verschiedene Richtungen interpretieren. Nicht unplausibel ist die Vermutung, dass die Ansiedlung Sitz eines regionalen Anführers (eines rex?) gewesen sein könnte – spekuliert wurde über Hortarius (der in jenem Gebiet lokalisiert wird) oder einen seiner Nachfolger. Dieser scheint jedenfalls eng mit Rom kooperiert zu haben: Seine direkt am Rheinufer gelegene Siedlung war weder bewacht noch befestigt, sondern lediglich temporär geräumt worden; die Römer kamen auch gar nicht zum Plündern, sondern erhielten sogar Unterstützung bei ihrem Festungsbau. Möglicherweise diente das ansehnliche Heer, mit dem der Kaiser persönlich aufmarschierte, einzig dem Zweck, Eindruck zu erzeugen und dadurch die bereits bestehende Allianz zu festigen. Ähnliche Koexistenzen und Kooperationen werden auch andernorts, etwa im Fall des Zähringer Burgberges beim heutigen Freiburg, vermutet. Sie relativieren das vollmundig vorgetragene Diktum vom «Feind der gesamten römischen Welt» ein wenig und verweisen darauf, dass die Lage jenseits der imperialen Rhetorik weitaus komplexer war. Überhaupt ist davon auszugehen, dass die von Valentinian energisch vorangetriebene Anlage römischer Brückenköpfe in rechtsrheinischem Gebiet in den meisten Fällen nur in Absprache mit den ansässigen Barbaren erfolgt sein kann. Vereinzelt provozierte sie indes auch heftigen Widerstand. So forderte etwa im Jahr 369 eine Delegation alemannischer optimates (Adeliger?) unter Verweis auf frühere Absprachen einen sofortigen Bau-
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stopp für eine Festung (munimentum) am Mons Piri (vermutlich im Raum Heidelberg) und ließ, einmal abgewiesen, daraufhin den gesamten Bautrupp bis auf einen einzigen Mann massakrieren.76 Hatte sich die Situation an der Rheingrenze somit insgesamt deutlich stabilisiert, erreichten Valentinian, gerade in der Nähe von Basel mit einem weiteren Festungsbau befasst (Robur), unheilvolle Nachrichten von der mittleren Donau. Einfälle von Sarmaten und Quaden erforderten dringend seine persönliche Anwesenheit. Es war schwer für einen Kaiser, in Zeiten wie diesen einige Momente der Ruhe zu finden.77 Unter die Bezeichnung ‹Sarmaten› werden seit der Antike unterschiedliche iranischsprachige Reiterverbände mit einem Hintergrund in der eurasischen Steppe gefasst. Schon Herodot kannte Sarmaten, die er aufgrund der Sprachverwandtschaft mit den Skythen im nördlichen Schwarzmeerraum in Verbindung brachte. Sarmatische Verbände drifteten seit dem 6. /5. Jahrhundert v. Chr. aus den Regionen östlich des Don allmählich nach Westen, wo sie von Zeitgenossen in unterschiedlicher Weise wahrgenommen wurden, so etwa als Jazygen, Roxolanen und Alanen. Mit den Römern zunächst noch verbündet, mussten Jazygen und Roxolanen, inzwischen vergesellschaftet mit den germanischsprachigen Markomannen und Quaden, unter Marc Aurel (161–180) in harten Kämpfen niedergerungen werden; Rom zwang sie schließlich zur Bereitstellung von Truppen – die lanzenbewehrten sarmatischen Panzerreiter galten als furchterregende Angriffswaffe –, die unter anderem in Britannien stationiert wurden. Im 3. Jahrhundert schließlich drangen Sarmaten in das Banat zwischen Theiß und Donau vor, von wo aus sie sich zu einer ständigen Bedrohung der Donauprovinzen entwickelten; eine Reihe römischer Feldzüge zwischen 286 und 313 diente ihrer Einhegung, und auch Konstantin I. wurde, wie wir gesehen haben, in Auseinandersetzungen mit Sarmaten verwickelt. In diesen Jahren erscheinen sie weiterhin in Verbindung mit den germanischsprachigen Quaden.78 In welchem Verhältnis die Quaden des 4. Jahrhunderts zu jenen Quaden stehen, die der Geograph Strabon in augusteischer Zeit möglicherweise erstmals erwähnt, lässt sich wohl nicht mehr ermitteln. Quaden erscheinen seit der frühen Kaiserzeit jedenfalls häufig in Verbindung mit Markomannen, unter Marc Aurel, wie angedeutet, als deren enge Alliierte. Im 4. Jahrhundert vermochte Constantius II. zunächst quadisch-sarmatische Angriffe auf Pannonien und Moesien mühsam einzudämmen (357–359) und in die Quadorum regna vorzustoßen, doch erwiesen sich beide Gruppen weiterhin als Unruheherd. Valentinian dürfte also um die Bedrohlichkeit der Lage gewusst haben, als er die Nachrichten von erneuten Überfällen erhielt. Immerhin hatte er unmittelbar zuvor den Donaulimes zwischen Aquincum (Budapest) und Solva (Esztergom) massiv befestigen lassen,
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und es waren offenbar just diese Aktivitäten, an denen sich der neue Konflikt entzündete: Die Quaden protestierten 374 gegen die Anlage römischer Kastelle auf ihrem Gebiet. Der zuständige Militärbefehlshaber (dux per Valeriam) Valerius Marcellianus lud daraufhin den Quadenkönig Gabinius zu einem Gastmahl ein und ließ ihn dort hinterrücks ermorden – eine durchaus bewährte Strategie, in der gegenwärtigen Situation allerdings nicht die allerklügste Lösung. Denn Quaden und Sarmaten brachen daraufhin im Verbund in die Provinzen Valeria und Pannonia II ein. Valentinian musste handeln. Im Jahr 375 begab er sich von Trier an die Donau (Carnuntum, Niederösterreich) und organisierte persönlich die weiteren Befestigungsarbeiten, bevor er im Herbst einen groß angelegten Zangenangriff auf die Eindringlinge führte und dabei alles abschlachten ließ, was ihm in den Weg kam. Die Quaden hatten verstanden. Sie suchten den Kaiser in seinem Winterlager in Brigetio (heute Komárom, ungarisch-slowakische Grenze) auf, boten Rekruten an und flehten um Frieden; dabei versäumten sie es allerdings nicht, noch einmal darauf hinzuweisen, dass sie den römischen Festungsbau für keine allzu schlaue Idee hielten. Nun platzte dem Kaiser, ohnehin berüchtigt für seine abrupten Zornesaufwallungen, endgültig der Kragen – und dabei auch ein Blutgefäß im Kopf. Diener konnten den vom Schlag getroffenen, langsam niedersinkenden Herrscher über die Welt gerade noch auffangen und in seine Gemächer schleifen. Eilige medizinische Notversorgung schlug fehl. Valentinian bemühte sich noch, letzte Anweisungen zu geben, aber sein Sprachvermögen hatte bereits versagt. Unbändiger Groll funkelte aus seinen Augen, als er sie für immer verschloss.79 Der Tod des 54-jährigen Kaisers am 17. November 375 an der Donau steht sinnbildlich für eine temporäre Verlagerung der Brennpunkte an den Grenzen. Nur wenige Monate später, im Frühjahr 376, erschienen die von Hunnen bedrängten Terwingen am Donauufer und begehrten Einlass in das Imperium Romanum – mit den bereits beschriebenen Folgen. An der Rheingrenze wurde es hingegen kurzfristig etwas ruhiger. Alemannen (Lentienses) konnten, wie bereits erwähnt, unter Valentinians Sohn Gratian im Jahr 378 hinreichend eingeschüchtert werden (Schlacht bei Argentovaria, s. o.) und scheinen in der Folgezeit vor allem mit sich selbst beschäftigt gewesen zu sein; größere Gefahr ging von Franken aus. Und einmal mehr trugen vor allem innerrömische Verwerfungen zur Verschärfung der Lage bei: War es nach der Ermordung Gratians im Konflikt mit dem Usurpator Magnus Maximus 383 noch gelungen, die unmittelbar darauf in Raetien eingefallenen Juthungen mit hunnisch-alanischer Hilfe zurückzuschlagen, so scheinen im Jahr 388, nach Maximus’ Zug Richtung Italien (387) und angesichts der nunmehr fehlenden Kaiserpräsenz am Rhein, fränkische Angriffe auf die Provinz Germania II (das ehemalige Niedergermanien) erneut schwere Verwüstun-
Insider und Outsider 5.3
gen verursacht zu haben. Unsicherheit am Niederrhein kennzeichnet auch die Folgezeit: Fränkischen Einfällen im Jahr 389 versuchte Valentinian II. auf dem Verhandlungsweg entgegenzuwirken; nach seinem Tod (392) führte der Feldherr Arbogast, auf dessen Waffen sich die Herrschaft des Usurpators Eugenius stützte, Strafexpeditionen in fränkische Gebiete rechts des Rheines durch. Der Thronprätendent konnte sich daraufhin mit Alemannen und Franken erneut vertraglich einigen, so dass zahlreiche Barbaren mit ihm gegen Kaiser Theodosius I. ins Feld zogen und dort ihr Ende fanden: Das Heer des Eugenius unterlag in der Schlacht am Frigidus am 5. / 6. September 394.80 Damit brachen die Jahre vor dem großen Sturm an: Stilicho, nach Theodosius’ Tod (395) unermüdlich mit der Aufrechterhaltung der Ordnung im Westen beschäftigt, versuchte so gut es ging, durch Feldzüge und Verträge die Rheingrenze insbesondere gegenüber den Franken stabil zu halten. Doch der quälenden Unsicherheit, bedingt durch immer neue Überfälle und Blitzattacken, war nicht mehr beizukommen. Die Kaiser begannen, anstelle Triers das besser geschützte und für die Kommunikation mit dem Osten ohnehin günstiger gelegene Mailand als Residenz zu bevorzugen, bevor sie sich ab 402 im befestigten Ravenna einschlossen. Und auch die gallische Prätoriumspräfektur, d. h. die gesamte Zivilverwaltung der nordwestlichen Provinzen, zog sich allmählich von Trier nach Arles zurück. Die Folgen dieses Prozesses, der zunächst nicht unbedingt als dauerhafte Reform geplant gewesen sein muss, traten erst in den nachfolgenden Dekaden zutage: Der nördliche Teil Galliens entglitt zunehmend der Kontrolle der römischen Regierung. Lokale Potentaten gewannen an Bedeutung. Eine neue Ordnung begann sich aus den über Jahrhunderte hin gefestigten Verhältnissen herauszuschälen.81
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Insider und Outsider 5.3 Insider und Outsider
Am wichtigsten war, dazuzugehören. Bis auf wenige Ausnahmen – namentlich Hunnen, Awaren, Vandalen und später die Araber – strebten die meisten Individuen und Verbände eine Integration in das Imperium Romanum an; eine solche konnte natürlich unterschiedliche Gesichter aufweisen, aber die generelle Tendenz ist eindeutig. Wir hatten allerdings bereits festgestellt, dass die Kriterien für Zugehörigkeit im Verlauf der Spätantike zunehmend diffus wurden. Die einstmals fixe Innen-Außen-Dichotomie funktionierte nicht mehr in derselben
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Geschmeidigkeit wie noch in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit, zumal im Westen des Reiches; ganze Gruppen von Grenzgängern stellten sie infrage und demontierten damit auch die lebenspraktische Tauglichkeit präziser rechtlicher Kategorien (die uns in der Gesetzgebung durchaus noch begegnen). Gleichzeitig erwiesen sich altvertraute Barbarenstereotype entweder als unbrauchbar, um Neuankömmlinge zu erfassen, oder wurden – schlimmer noch – offenkundig mitunter von ‹Römern› selbst verkörpert. Dass Barbaren einerseits mit höchsten Ämtern und Titeln ausgezeichnet, andererseits aber auch aufgrund ihrer Herkunft zutiefst verachtet werden konnten, erzeugte Statusinkonsistenzen, Ratlosigkeit und Konfliktpotentiale. Etablierte Orientierungsmuster versagten. Eine Folge dieses Erosionsprozesses war ein geradezu manisches Festhalten an überkommenen Kategorien, die sich nur noch notdürftig an den Alltag anpassen ließen, auf der diskursiven Ebene indes alternativlos erschienen. So erklärt sich das Phänomen, dass noch im 5. Jahrhundert und darüber hinaus in literarischen Texten altbekannte Stereotype fortdekliniert wurden, während sich die dahinterstehenden Lebenswelten in ihrer für Mitlebende kaum noch begreifbaren Komplexität den über Jahrhunderte hin erprobten Beschreibungsmustern weitgehend entzogen – ein Sachverhalt, der dem modernen Historiker den Zugriff ungemein erschwert.82 Das Problem der Zugehörigkeit blieb indes bestehen, und es verschärfte sich jeweils in Situationen extremen Drucks oder massiver Bedrohung, denn dann stellte sich in besonderer Dringlichkeit die Frage, wer dazugehörte und wer nicht. Aus dieser Perspektive lässt sich die gesamte ‹Völkerwanderung› als permanenter Aushandlungsprozess um Zugehörigkeit und Abgrenzung – kurz: um Identitätsbildung und -stabilisierung interpretieren. Allerdings verschob sich mit der allmählichen Desintegration des Römischen Reiches der Bezugsrahmen. An die Stelle der übergreifenden, universalen Ordnung des Imperium Romanum traten nunmehr kleinräumigere, enger gefasste Gebilde, die zwar großenteils ebenfalls den Anspruch erhoben, Teil des traditionellen, umfassenden Ganzen zu sein, sich dabei aber auf Bindungsstrukturen stützten, deren Anknüpfungspunkte weitaus stärker als zuvor auf regionale und lokale Bezugsgrößen wie Städte, Landschaften und regna verwiesen.83 Im 4. Jahrhundert zeichnet sich diese Entwicklung zunächst nur schemenhaft am Horizont ab. Die Handlungshoheit lag weitgehend noch bei den Römern selbst, gewissermaßen den Akteuren im ‹Innen›, so dass sie vorerst das Ringen um Zugehörigkeit im Sinne ihrer jeweiligen Interessen zu regulieren vermochten. Traditionelle Elemente römischer Politik sind dabei weithin noch erkennbar, etwa die gezielte Förderung einzelner Barbarenführer und der Versuch, sie gegen andere auszuspielen, daneben auch die Kaltstellung oder Beseitigung allzu umtriebiger Figuren. Dass etwa der Alemanne Macrianus, mit dem Valentinian I. im
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Jahr 374 feierlich zu einer Übereinkunft gelangt war, später ausgerechnet in fränkischem Gebiet (in Francia) im Kampf gegen den «kriegerischen König» (bellicosus rex) Mallobaudes fiel, dürfte kaum Zufall gewesen sein. Die Römer werden seinen Angriff auf die unsteten, gefährlichen Franken ebenso willkommen geheißen haben wie seinen Tod. Dass Mallobaudes, der zuvor lange als römischer Offizier gedient hatte, den Hinterhalt gegen Macrianus gar im Auftrag der kaiserlichen Regierung gelegt haben könnte, wie mitunter gemutmaßt wurde, erscheint durchaus plausibel: Den Römern wäre es damit gelungen, den einen Barbar zu schwächen und den anderen ganz zu beseitigen. Der Umstand, dass in derartigen Fällen nicht mit einer ‹fränkischen›, ‹germanischen› oder gar ‹gesamtbarbarischen› Solidarität gerechnet werden konnte, spielte ihnen in die Karten. Als etwa dem fränkischstämmigen Offizier Silvanus die mörderische Intrige gegen seine Person hinterbracht wurde (355), erwog er kurzfristig eine Flucht zu den Franken, «von denen er abstammte» (unde oriebatur). Man machte ihm dann jedoch unmissverständlich deutlich, dass diese ihn entweder töten oder gegen eine Belohnung ausliefern würden (Francos […] interfecturos eum aut accepto praemio prodituros). Silvanus verzichtete also, ließ sich seinerseits zum Kaiser ausrufen und wurde dann eben aus dieser Stellung heraus ermordet. Tatsächlich bewegten sich im 4. Jahrhundert die meisten Schachfiguren noch auf jene Felder, auf die man sie verschob. Doch begann sich der Kontrollverlust schleichend in die römische Politik hineinzufressen.84 Der alemannische rex Vadomar(ius), dessen Herrschaftsgebiet sich «gegenüber von Kaiseraugst» (contra Rauracos) im Einzugsbereich des Zähringer Burgbergs den Oberrhein entlang erstreckte, machte den Römern zunächst schwer zu schaffen: Die von ihm und seinem Bruder Gundomad geführten Brisigavi (‹Breisgau-Leute›) brachen in der durch die Magnentius-Usurpation verursachten chaotischen Situation wiederholt plündernd in Gallien ein; erst die persönliche Präsenz Constantius’ II. führte, wie dargelegt, im Jahr 354 zu einem Bündnisvertrag, an den sich die beiden reges auch drei Jahre später noch gebunden fühlten, als die Brisigavi von ihnen einen Anschluss an die Sieben-Könige-Koalition Chnodomars forderten. Die rigiden Strafexpeditionen Julians nach dem römischen Sieg bei Straßburg veranlassten Vadomar 359, im römischen Lager zu erscheinen und erneut ein Abkommen zu besiegeln. Dies hinderte ihn freilich nicht daran, die Auslieferung seiner Gefangenen zu verschleppen und 360 erneut römisches Territorium zu brandschatzen. Nach Julians Usurpation scheint er versucht zu haben, dessen zunächst prekäre Lage auszunutzen. Um sich den Rücken für den Marsch gen Osten freizuhalten, ließ dieser ihn daraufhin internieren und schickte ihn nach Spanien; die Wohnsitze seiner Leute wurden verheert, sein Sohn Vithicabius beerbte ihn als ‹König›. Damit endet die Geschichte von Vadomar, dem rex
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über die alemannischen Brisigavi – ein klassisches Beispiel für das Schicksal eines aufsässigen Barbarenführers, dem die Mittel fehlten, um gegenüber Rom eine ernsthafte Gefahr auszustrahlen.85 Erstaunlich ist indes, dass man den streitbaren ‹König› am Leben ließ. Hätte seine Ermordung ein unkalkulierbares Risiko für Julian angesichts der drohenden Konfrontation mit Constantius II. bedeutet? Wohl kaum, denn dafür war Vadomar als regionaler Potentat letztlich doch zu unbedeutend. Hatte Julian also darauf spekuliert, später noch einmal auf den offenkundig tüchtigen Kämpfer zurückzugreifen? Dem Alemannen jedenfalls stand noch eine interessante Karriere bevor: Julian oder auch Jovian (363–364) entsandte ihn als Feldherrn mit dem Titel dux Phoeniciae an die Ostgrenze des Imperium Romanum, eine Position, die Vadomar allerdings bald wieder verlor. Nicht ohne Hohn nennt Ammian ihn einen «Ex-General und Ex-Alemannenkönig» (ex duce et rege Alamannorum), doch Valens vertraute ihm immerhin so sehr, dass er ihm ein sensibles Kommando im Kampf gegen den Usurpator Procopius übertrug, und einige Jahre später führte Vadomar gemeinsam mit dem comes Traianus sogar die Römer zu einem Sieg gegen die Perser.86 Vadomars Karriere als römischer Offizier gilt als Musterbeispiel für die Möglichkeiten, die sich barbarischen Anführern im römischen Kontext eröffneten, sofern sie nur die erforderliche militärische Befähigung mitbrachten. In der Tat wirkt die Laufbahn des abgesetzten rex auf den ersten Blick bestechend. Aber Vadomar war längst nicht mehr Herr seiner selbst: In Julians Gefangenschaft ganz unerwartet mit dem Leben davongekommen, hatte er seine Herrschaft über die Brisigavi verloren und wurde nunmehr zum Agenten römischer Interessen umgeformt. Fortan setzte man ihn in Regionen ein, die denkbar weit entfernt von seiner Heimat lagen. Die Möglichkeit, «wegen einer dringenden Angelegenheit» (poscente negotio) Urlaub zu nehmen, wie es von einem anderen Alemannen in römischem Dienst bezeugt ist, wurde ihm sicherlich nicht eingeräumt. Schlimmer noch: Er erlangte offensichtlich auch keinen Zugang zu den einflussreichen Zirkeln der römischen Führungsschicht; politische Wirkungsmöglichkeiten blieben dem «ganz furchtbaren Kerl» (immanissimus homo) also versagt, und dies resultierte sicherlich nicht aus vermeintlichen Ausgrenzungsbemühungen fränkischstämmiger Generäle im späteren 4. Jahrhundert, denn diese besaßen – wie angedeutet – kein kollektives Identitätsbewusstsein, das eine Exklusion ‹der› Alemannen bedingt hätte. Offenkundig zählte für die Römer – und als solche agierten auch die barbarischstämmigen Offiziere – allein Vadomars militärischer Wert, und dieser scheint außerordentlich gewesen zu sein: «An Kraft und Kühnheit ragte er unter den Germanen heraus» – anders als sein Sohn Vithicabius, der als nutzlos galt und dessen man sich kurzerhand hinterrücks entledigte (s. o.). Ob
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und wie Vadomar auf diese Bluttat reagiert hat, wissen wir nicht. Er erfüllte jetzt mechanisch seinen Dienst im römischen Osten, bar jeglicher Rückkehrmöglichkeit, ohne weitere Aufstiegschancen. Der hochrangige römische Offizier Vadomar blieb bis zuletzt ein Outsider.87 Im Fall des Flavius Merobaudes, dem man aufgrund seines Namens eine fränkische Abstammung attestiert (die allerdings nirgends explizit bezeugt ist), lagen die Verhältnisse ganz anders: Er verkörperte einen echten Insider. Auch wenn es vielleicht ein wenig zu hoch greift, ihn als den «erste[n] der allgewaltigen magistri militum germanischer Herkunft am weströmischen Kaiserhof» zu bezeichnen, besaß er doch ohne Zweifel maßgeblichen Einfluss auf politische Entscheidungen von größter Tragweite: So war die Erhebung des vierjährigen Valentinian II. zum Augustus nach dem unerwarteten Tod Valentinians I. im Jahr 375 wohl vor allem sein Werk, und auch in der Folgezeit tritt er mehrfach als machtvoller politischer Akteur in Erscheinung. Er bewahrte den der Korruption überführten comes Africae Romanus vor der Todesstrafe und hielt, als Gratian 377 Truppen zum Kampf gegen die Goten in den Osten beorderte, eigenmächtig einige Kontingente zum Schutz Galliens zurück, mit denen im Folgejahr die Lentienses niedergerungen werden konnten. Seine überragende Bedeutung kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass er sogar zweimal, in den Jahren 377 (gemeinsam mit Gratian, eine besondere Ehrung) und 383, das Konsulat bekleiden durfte – ein Privileg, das ansonsten nur Mitgliedern der Kaiserfamilie zukam. Seinen Aufstieg pflasterte der General, der erstmals unter Julian als Offizier begegnet und von Valentinian I. zum magister peditum erhoben wurde, indes mit Leichen. Die von ihm vordergründig zur Sicherung der Dynastie und zur Beruhigung der Armee betriebene Erhebung Valentinians II. zum Augustus, über die man die Kaiser Valens und Gratian erst nachträglich informierte, machte ihn zugleich zur einflussreichsten Persönlichkeit hinter dem neuen Kaiser und erlaubte ihm die Entsorgung missliebiger Konkurrenten in der Militärführung: Der populäre Sebastianus wurde auf einen entfernten Posten abgeschoben und der ältere Theodosius hingerichtet. Nachdem Valentinian II. einmal inthronisiert war, jedoch altersbedingt noch keine eigenständigen Entscheidungen zu treffen vermochte, begab sich Merobaudes an Gratians Hof nach Gallien, wo damals die Musik spielte, und sicherte für ihn die Rheingrenze. Als der junge Kaiser sich dann allerdings 383 dem Usurpator Magnus Maximus entgegenstellen musste, scheint Merobaudes in der entscheidenden Schlacht übergelaufen zu sein; offensichtlich erschien ihm die Perspektive, den Prätendenten endgültig auf den Thron zu hieven, reizvoller als weiterer Dienst im Gefolge Gratians, dessen Ansehen unter den Soldaten ohnehin begrenzt war. Trotz dessen anschließender Ermordung fand Merobaudes’ Aufstieg bald danach jedoch ein jähes Ende. Aus unbekannten Gründen musste er unter Maximus Selbstmord begehen.88
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Merobaudes’ Entscheidung für Maximus und sein nachfolgender Untergang ebneten dem fränkischstämmigen Bauto den Weg. Er mobilisierte barbarische Verbände gegen Maximus und wurde der wichtigste Feldherr im Umfeld Valentinians II. Als magister equitum wirkte er an den Gotenkriegen des Theodosius I. mit und erreichte im Jahr 385 ebenfalls das Konsulat (die traditionelle Lobrede hielt der junge Augustinus). Bestens vernetzt mit hochrangigen Angehörigen der römischen Eliten (Symmachus), galt sein Einfluss als derart übergewaltig, dass man ihm gar vorhielt, er maße sich als Hintermann eines ‹Kinderkaisers› selbst die Herrschergewalt an. Nach seinem Tod wurde seine Tochter Eudoxia dem oströmischen Kaiser Arkadios in die Ehe gegeben (395).89 Tiefer ins Zentrum der römischen Führungselite und ins Herz des Reiches vorzudringen, als es Bauto gelungen war, schien kaum möglich. Doch wird man in seinem Fall ähnlich wie für Merobaudes berücksichtigen müssen, dass die ‹Kinderkaiser› Gratian und Valentinian II. ihrem Aufstieg nur wenig entgegenzusetzen hatten, sich wahrscheinlich sogar eher dankbar mit mächtigen und scheinbar loyalen Militärs umgaben, die sie gegenüber undurchsichtigen und gefährlichen Figuren rund um die Kaiserhöfe abschirmten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Valentinian II. nicht nur seine Ausrufung einem mächtigen General verdankte, sondern dass auch sein mysteriöses Ende mit dem Wirken eines solchen zusammenhängt: Der fränkischstämmige, «aus seiner Heimat verbannte Barbar» (barbarus exul) Arbogast begann seine Karriere im Gefolge Bautos, ließ sich nach dessen Tod ohne kaiserliche Verfügung vom Heer zum magister militum erheben und avancierte rasch zum wichtigsten Ratgeber Valentinians II.; faktisch führte nunmehr er im Westen die Regentschaft. Nicht zuletzt mit seinen Kriegszügen gegen Maximus sowie später gegen fränkische Raubgruppen sicherte er die Integrität des Imperium Romanum und seines unselbständigen Kaisers. Als dieser jedoch versucht haben soll, sich aus der Umklammerung des magister militum zu lösen, kam es zur Katastrophe: Arbogast soll Valentinian offen verhöhnt haben, dieser könne ihn nicht einer Stellung berauben, die er ihm überhaupt nicht verliehen habe. Kurz darauf (392) fand man den erst 21-jährigen Kaiser erhängt im Palast auf – bis heute ist unklar, ob es sich um Selbstmord gehandelt hat. Arbogast jedenfalls erhob am 22. August 392, drei Monate nach Valentinians Tod, Eugenius zum Augustus des Westens und führte dessen Truppen als magister militum 394 in die Entscheidungsschlacht am Frigidus gegen Theodosius I. Nach der Niederlage stürzte er sich in sein Schwert.90 Unter dem Blickwinkel eines fortschreitenden Kontrollverlusts der römischen Führung lässt sich die Reihe der barbarischstämmigen Feldherren von Merobaudes bis Arbogast und dann weiter von Stilicho bis hin zu Ricimer und Gundobad recht einfach als eine Geschichte der zerfallenden kaiserlichen Zentralmacht,
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manifest im Wirken übermächtiger thronnaher Generäle, interpretieren – und genau so ist der Desintegrationsprozess des Weströmischen Reiches denn auch zumeist aufgeschlüsselt worden: Je tiefer die barbarischen Heerführer, so die geläufige Lesart, in das Herz des Imperium Romanum vordrangen, desto mehr beschleunigten sie, namentlich durch die schrittweise Entmachtung der Kaiser, dessen Auflösung. Anders gewendet: In dem Moment, in dem die Barbaren zu machtvollen Insidern aufzusteigen begannen, war es um das Reich geschehen. Tatsächlich jedoch dürfte die Herkunft der sogenannten Heermeister kaum etwas mit dem Ende Westroms zu tun gehabt haben: Unter zunehmendem äußeren (Barbareneinfälle) und inneren (Bürgerkriege) Druck, der den über Jahrhunderte hin stabilen institutionellen, territorialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmen des Imperium Romanum wachsender Spannung aussetzte und schließlich sprengte, mussten die Eigeninteressen der maßgeblichen politischen Akteure, seien sie römischer oder barbarischer Herkunft, zwangsläufig eine deutlichere Sichtbarkeit, wahrscheinlich auch wachsende Bedeutung gewinnen; realisieren ließen sie sich indes weiterhin nur innerhalb des imperialen Kontextes und der von ihm bereitgestellten Institutionen und Handlungsräume. Das zunehmend unabhängige Wirken der ‹Heermeister› war also nicht Ursache, sondern eher eine Folge der beschleunigten Wandlungsprozesse, und exakt an dieser Stelle ist der bereits mehrfach angesprochene Kontrollverlust zu verorten: Die Jahre der Regentschaft Stilichos (395–408), in der man gemeinhin die von Merobaudes, Bauto und Arbogast vorgezeichneten Entwicklungen erstmals kulminieren sieht, repräsentieren weniger den Übergang der Handlungshoheit von ‹römischen› Autoritäten auf eine barbarischstämmige Persönlichkeit als vielmehr das Entgleiten der Handlungsautonomie überhaupt. Dadurch jedoch wurden verschärfte Stresssituationen erzeugt, in denen Fragen der Zugehörigkeit, des ‹Innen› und ‹Außen›, plötzlich aktualisiert wurden. Erinnern wir uns: Erst das Scheitern Stilichos warf die Frage nach seiner Herkunft offen auf. Die ehemaligen Outsider aus dem Barbaricum schoben sich also keineswegs im Verlauf des 4. Jahrhunderts allmählich in das ‹Innen›, um dort eine wie auch immer geartete zersetzende Wirkung zu entfalten; sie stehen vielmehr sinnbildlich für eine zunehmend übergreifende, Römer und Barbaren gleichermaßen umfassende Führungselite, der ihr Dirigierstab aus den Händen glitt. Immer schwieriger wurde es seit den Jahren um 400, einen Vadomar zu domestizieren und fügsam zu instrumentalisieren. Die barbarischen ‹Heermeister› der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, die ihre Machtstellungen großenteils in spezifischen Ausnahmesituationen – vor allem der Herrschaft der sogenannten Kinderkaiser – auszubauen vermochten, stellten nicht mehr dar als ein Symptom, und ihre katalytische Wirkung im um sich greifenden Desintegrationsprozess resultierte nicht aus ihrer Herkunft. Statt-
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dessen repräsentieren auch sie lediglich den zunehmenden Verlust von Handlungsspielräumen. Schachfiguren auf die avisierten Positionen zu verschieben und dabei auch noch zu günstigen Resultaten zu gelangen, gestaltete sich immer schwieriger.
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Koexistenz und Konflikt Koexistenz und Konfl5.4 ikt
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Wie aber hat man sich die Folgen des Eindringens barbarischer Gruppen konkret vorzustellen? Welche Auswirkungen zeitigten die sich seit dem 3. Jahrhundert kontinuierlich vollziehenden Ansiedlungsprozesse für die Bevölkerungen in den Grenzgebieten? Wie ging man mit den Überfällen und durch sie verursachten Unsicherheiten auf der Alltagsebene um, jenseits der hohen Politik? Bei dem Versuch, diese Fragen einzukreisen, lassen uns die literarischen Zeugnisse weitgehend im Stich. Einigen Aufschluss indes erlaubt der archäologische Befund, wenngleich sich dieser nur selten eindeutig präsentiert und dadurch unterschiedlichen Interpretationen Raum gibt. Das römische Gallien, also jenes Territorium, das zusammen mit den germanischen Provinzen maßgeblich von Raubzügen über den Rhein betroffen war, lässt sich entlang einer Linie von der Loire bis zum heutigen Basel grob in zwei Großräume gliedern: den Norden, in dem für die heutige Bretagne aufgrund ihrer exponierten Lage noch einmal gesonderte Bedingungen galten, sowie den dichter besiedelten und auch wirtschaftlich potenteren Süden. Während Letzterer fest in die mediterranen Handels- und Verkehrsnetze integriert war, ist im Norden eine deutlich stärkere Orientierung auf das rechtsrheinische Barbaricum hin erkennbar. Afrikanische Feinkeramik (ARS) etwa erreichte nur wenige Plätze am Oberrhein; demgegenüber wurden regionale Eigenproduktionen in das Barbaricum, sogar bis nach Skandinavien exportiert. Die Barbareneinfälle und inneren Verwerfungen des 3. Jahrhunderts haben offensichtlich vor allem das nördliche Gallien stark mitgenommen. Etwa ein Drittel bis die Hälfte aller römischen Landhäuser (villae), die im 2. Jahrhundert noch bewirtschaftet werden konnten, wurden bis zum 4. Jahrhundert aufgegeben; zahlreiche andere konnten zwar gehalten werden, jedoch nur auf einem erkennbar reduzierten Niveau. Landsitze wurden befestigt und markieren damit eine beginnende Militarisierung der Region, die sich bis in das frühe Mittelalter hinziehen sollte. Einige Orte, wie z. B. Noviomagus (Nijmegen), wurden praktisch vollständig verlassen (um 270).91
Koexistenz und Konflikt 5.4
Ungleich besser die Situation im Süden: Zwar kam es auch dort zu Auflassungen (so wurde z. B. Aventicum /Avenches nahezu aufgegeben, ebenso die Colonia Augusta Raurica /Augst, die um 270 geräumt und im frühen 4. Jahrhundert in das Castrum Rauracense / Kaiseraugst verlegt wurde), doch konnten sich die meisten Güter auf hohem Niveau behaupten. Auch Südgallien geriet indes in den Strudel der um sich greifenden Unsicherheit: Seit den 270er Jahren wurden in ganz Gallien Städte mit neuen Mauerringen umgeben – in so großer Anzahl, dass über zentral gesteuerte Mauerbauprogramme spekuliert wird. Die Befestigungen umfassten zumeist nur noch geringe Areale: Tongern in der Provinz Germania II etwa wurde von vormals 136 Hektar auf ein ummauertes Gebiet von 43 Hektar reduziert, Caesarodunum (Tours) von 70 Hektar im 2. Jahrhundert auf 9 Hektar Mitte des 4. Jahrhunderts; die Befestigungen von Samarobriva (Amiens), Soissons und Beauvais (Belgica II) umgriffen lediglich noch 9–10 Hektar, und in Bavay (Nordfrankreich) erhielt nur der Forumbereich eine Umwallung. In Lutetia (Paris) wurde einzig das schmale Gebiet der Île de la Cité mit einem Mauerring eingefasst, der nicht mehr als 9 Hektar umschloss, gegenüber einer bis dahin bebauten Fläche von gut 45 Hektar. Zahlreiche öffentliche Gebäude fielen diesem radikalen Schrumpfungsprozess zum Opfer oder wurden in die neuen Wälle hineinverbaut: In Amiens, Tours und Vesunna (Périgueux) betraf dies das Amphitheater, in Famars (Nordfrankreich) die Thermen. Lange Zeit galten die Ummauerungen der gallischen Städte der Forschung als Indizien für kurzfristige Panikreaktionen auf aktuelle Bedrohungen. Die Errichtung der Wälle zog sich jedoch über einen längeren Prozess bis weit in das 4. Jahrhundert hinein, und die meisten Mauern weisen eine solide Konstruktion, mitunter sogar ornamentale Elemente auf. All dies spricht eher für einen planvollen Umgestaltungsprozess, bei dem möglicherweise noch andere Faktoren als reine Angst, Unsicherheit oder ein drängendes Verteidigungsbedürfnis eine Rolle gespielt haben; doch scheinen Letztere zumindest dominiert zu haben. In den Gemeinden (civitates) wurden offenbar gezielt befestigte Areale (castra) angelegt, die im Fall plötzlicher Attacken als Rückzugsort für die umwohnende, tendenziell zurückgehende Bevölkerung fungierten, einen sicheren Sitz für Angehörige der Verwaltung boten und Lebensmittelreservoirs bargen. Sie stehen damit sinnbildlich für eine langfristige Umstellung auf unsicherere Lebensverhältnisse.92 Einzig Orte, die eine besondere Rolle in der zentralen Reichsverwaltung spielten und deshalb über größere Ressourcen verfügten, wurden mit weitläufigeren Mauerringen ausgestattet – so etwa das für die Versorgung des Kaisersitzes Trier unentbehrliche Metz – und natürlich die Residenzen selbst. Trier, das alte Zentrum der Provinz Gallia Belgica, profitierte in der Spätantike in besonderem Maße von der kaiserlichen Präsenz. Seit 293 eine der Münzstätten des Reiches, avan-
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cierte Trier unter Constantius I., Konstantin I. und seinen Söhnen, sodann unter Valentinian I. und Gratian zum bevorzugten Aufenthaltsort für Herrscher, die das Rheingebiet im Blick behalten wollten, ohne selbst unmittelbaren Gefährdungen ausgesetzt zu sein. Die Stadt erfuhr daher im späten 3. und 4. Jahrhundert ausgreifende Um- und Ausbaumaßnahmen, während in anderen gallischen Orten die öffentliche Bautätigkeit markant zurückging. Vor allem die Palastanlagen mit der Aula und den Kaiserthermen wurden großzügig ausgestaltet, aber auch Zirkus und Amphitheater erhielten nun ein imperiales Gepräge. Mit der Abwanderung der Prätoriumspräfekten nach Arles und dem großen Rheinübergang barbarischer Verbände 406 / 07 setzte jedoch auch in Trier ein Schrumpfungsprozess ein; Amphitheater und Thermen wurden zu befestigten Anlagen umgestaltet, die Münzprägung erlosch kurz nach dem Untergang des Eugenius. Salvian vermeldet allein vier Plünderungen der Stadt im 5. Jahrhundert, wohl im Zeitraum zwischen 410 /11 und 428 bzw. 435. Auch die ehemalige Residenzstadt vollzog nun die Entwicklung anderer gallischer Orte nach.93 Im Süden Galliens präsentiert sich die Lage vielschichtiger als im Norden, allerdings mit letztlich ähnlichen Tendenzen: Auch dort sind die Anlage neuer Befestigungen um reduzierte Gebiete sowie das Verbauen älterer Monumente erkennbar, doch scheinen weniger die Bedrohungen des 3. und 4. Jahrhunderts den Anlass für größere Umgestaltungsmaßnahmen geboten zu haben als vielmehr Ereignisse des frühen 5. Jahrhunderts, bei denen Südwestgallien nunmehr stärker in Mitleidenschaft gezogen wurde.94 Eine Reihe von Personen, die über die erforderlichen Ressourcen verfügten, versuchte aus den unmittelbar bedrohten Gebieten zu entkommen. Das Bibelwort «Wenn sie euch verfolgen in einer Stadt, flieht in eine andere» vor Augen, packte Orosius seine Habseligkeiten und begab sich angesichts der in Spanien wütenden Barbaren nach Nordafrika. Als besonders gefährdet galten naturgemäß die Regionen am Rhein. Symmachus jedenfalls behauptete um 400, «dass niemand aus unseren Gegenden [= Italien] sich noch in die Nachbarschaft des Rheins begibt», und tatsächlich gab der ein oder andere im 4. und 5. Jahrhundert entnervt und verzweifelt auf. Für einige Flüchtlinge wurde Italien zur Stätte eines Neubeginns, so etwa für die Brüder Minervius, Florentinus und Protadius aus Trier; Letzterer, Stadtpräfekt Roms im Jahr 400 / 01, musste sich dem Zeugnis des Rutilius Namatianus zufolge mit bescheidenen Gütern in Umbrien zufriedengeben. Aus dem nordwestgallischen Raum stammte vielleicht das jugendliche Geschwisterpaar Remus und Arcontia, das 442 in Rom bestattet wurde. Vor allem aber lässt sich ein Drift von Nord- nach Südgallien beobachten. Der aus Köln stammende christliche Amtsträger Geminus fand gegen Ende des 4. Jahrhunderts seine letzte Ruhestätte in Arles, und in Vienne lag das Grab des kleinen Mau-
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ricius, der, wahrscheinlich in Trier gebürtig, schon als Dreijähriger verstarb. Ein Rückzug in die innere Emigration, damals mehrfach propagiert, ging mitunter einher mit dem Entschluss, sein Leben dem Glauben zu widmen. Insbesondere die vor dem heutigen Cannes gelegene Inselgruppe Lerinum (Lérins) gelangte in diesem Zusammenhang zu größerer Prominenz: Hier gründete um 410 der Eremit Honoratus von Arles, Spross einer in Gallien ansässigen Aristokratenfamilie, ein Kloster, das sich bald zum Anziehungspunkt ehemals gut situierter Flüchtlinge und Aussteiger entwickelte und eine Reihe berühmter Persönlichkeiten wie Hilarius von Arles, Salvian von Marseille, Lupus von Troyes oder Faustus von Riez hervorgebracht hat. Weniger klar fassbar sind Fluchtbewegungen innerhalb der breiteren Bevölkerungsschichten, doch auch solche müssen erfolgt sein. Wie bereits angedeutet, wies Valentinian I. in einer Bestimmung aus dem Jahr 366 die Rückführung flüchtiger Kolonen auf ihre Hufen an.95 Dass seit dem 3. Jahrhundert ein kontinuierliches Einsickern von Neuankömmlingen sowie partiell auch deren systematische Ansiedlung (etwa als laeti, gentiles oder dediticii) in den gallischen und germanischen Provinzen erfolgte, ist hinlänglich bekannt. In das späte 4. Jahrhundert etwa gehört eine ehemals römische Hügelfestung bei Furfooz (in der Nähe von Namur, Belgien), die nun offenbar von einigen aus dem Barbaricum zugewanderten Familien bewohnt wurde; eine andere befestigte Siedlung befand sich im frühen 5. Jahrhundert im mittleren Maastal, bei Vireux-Molhain. Die um 300 großenteils zerstörte römische Villa bei Voerendaal (Prov. Limburg, Niederlande) wurde gegen Mitte des 4. Jahrhunderts mit Wohnstall- und Grubenhäusern überbaut. Beim nahegelegenen Gennep entstand um 400 eine völlig neue Ansiedlung, die 127 nachweisbare Grubenhäuser umfasste. Man mag darüber spekulieren, ob hier ein Wohnplatz von laeti lag oder gar ein Ort jener Salii, deren Niederlassung Julian bestätigt hatte (s. o.) und die nun fleißig expandierten.96 Bemühungen, Barbaren archäologisch auf römischem Territorium nachzuweisen, sind aus methodologischer Perspektive in den letzten Jahren kritisiert worden. Und tatsächlich sprechen gewichtige Gründe dafür, in diesem Punkt ausgesprochen vorsichtig zu sein. Wir hatten in der Einleitung bereits angemerkt, auf welch wackeligem Fundament Versuche stehen, in den sogenannten Reihengräbern Hinweise auf barbarische laeti zu sehen. Weitaus plausibler erscheint es, die neuartigen Bestattungspraktiken auf verstärkten sozialen Stress zurückzuführen, der freilich indirekt wiederum den Zuzug von Barbaren reflektiert: Im Zuge der phasenweise chaotischen Verhältnisse in den Grenzregionen mussten sich zivile und militärische Autoritäten vielfach zurückziehen, und unter den verbliebenen Provinzialen sowie den Neuankömmlingen kam es zu konfliktträchtigen Aushandlungsprozessen um sozialen Rang und Einfluss.
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Die Waffenbeigaben der ‹Reihengräber› könnten diese Auseinandersetzungen spiegeln.97 Exemplarisch lässt sich die Koexistenz von Provinzialen und Neuankömmlingen anhand der großen, 6200 Gräber umfassenden Nekropole von Gelduba (Krefeld-Gellep) verfolgen, die vom 1. bis in das ausgehende 7. Jahrhundert belegt wurde. Die Gräber weisen seit dem 4. Jahrhundert verstärkt Waffen auf, zudem seit dem 5. Jahrhundert bei Frauen Kleidungselemente (Fibelpaare), die man als ‹westgermanisch› identifiziert hat; diagnostiziert wurden darüber hinaus ein langsamer Übergang von der rechtsrheinisch bevorzugten Brandbestattung zur linksrheinisch praktizierten Körperbestattung (ab Mitte des 3. Jahrhunderts) sowie eine allmähliche West-Ost-Ausrichtung der Gräber (seit Mitte des 4. Jahrhunderts). Interpretationen, die in diesen Befunden Hinweise auf eine ‹Frankisierung› ehemals provinzialrömischer Gebiete (durch Zuzug von foederati) oder doch wenigstens einen kulturellen Verschmelzungsprozess gesehen haben – wir wissen, dass die Verteidigung der Niederrheingrenze im 4. Jahrhundert allmählich an barbarische Foederateneinheiten überging –, erscheinen inzwischen problematisch. Denn das ‹Fränkische› an den Grabfunden beruht auf der modernen Zuweisung bestimmter Fundelemente an ‹Franken›, und die Verschmelzungstheorie setzt scharf voneinander abgrenzbare Kulturen voraus, wie sie für Grenzlandschaften a priori unwahrscheinlich sind. Deutet man hingegen die sich über Jahrhunderte hinziehenden Veränderungen in der Bestattungspraxis als Indizien für das Entstehen und Vergehen sozialer Stresssituationen, so treten allmählich die Konturen eines langwierigen Transformationsprozesses hervor, der mehrfach scharfe Zäsuren, aber auch Phasen der Ruhe und eines relativen Wohlstandes (erste Hälfte des 4. Jahrhunderts) aufwies und der in den lokalen Gemeinschaften für Ansässige ebenso wie für Neuankömmlinge von tiefgreifenden Umwälzungen gekennzeichnet gewesen sein muss. Neue soziale Ordnungen und Hierarchien schälten sich entlang des Rheins und im Hinterland heraus, am eindrucksvollsten wohl repräsentiert in den alemannischen Höhensiedlungen. Der Übergang in die poströmische Phase erfolgte also auch aus der archäologischen longue durée-Perspektive keineswegs schmerzfrei. Auf einzelne bezeugte Fälle mitunter exzessiver Gewalteruptionen (Heldenbergen, Harting u. a.) hatten wir bereits hingewiesen. Erinnert sei auch noch einmal an Ammians beiläufige Bemerkungen, wonach im 4. Jahrhundert marodierende Kriegergruppen plündernd die Lande durchzogen; einige Anführer solcher Banden kennen wir sogar namentlich, darunter den Krieger Charietto, der von Julian gebändigt und in Dienst genommen wurde. Er war mitnichten ein Einzelfall. Die Nekropole Krefeld-Gellep zeigt aber auch, dass es auf lokaler Ebene ganz offensichtlich gelungen sein muss, sich trotz all der äußeren Wirrnisse zu organisieren und das Funktionieren gemeinschaftlicher
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Institutionen aufrecht zu erhalten, und sei es nur in Gestalt eines Friedhofs. Wann und aus welchen Gründen aber die Bewohner der Ansiedlung begonnen haben, sich selbst Franci zu nennen und damit verbundene Identitätsangebote zu resorbieren, bleibt uns verschlossen. Einfache Erklärungsmodelle wie z. B. das eines Elitenaustausches dürften jedenfalls zu kurz greifen.98 In jüngerer Zeit wurden verstärkt christliche Grabinschriften herangezogen, um nähere Aufschlüsse über die Transformationsprozesse zu gewinnen, die sich in Spätantike und Frühmittelalter an den Nordwestgrenzen des Imperium Romanum vollzogen. Die Ergebnisse der Auswertung von ca. 1200 Inschriften (-fragmenten) zeigen sehr deutlich, wie einerseits – vor allem im Niederrheingebiet – ganze Landflächen verödeten und aufgegeben wurden, wie andererseits die römische Restbevölkerung begann, sich in schmale Enklaven zurückzuziehen – so vor allem die Täler von Mosel und Rhein. Der inschriftliche Befund korreliert dabei mit den Resultaten der Orts- und Flurnamenforschung. Er verweist überdies darauf, dass die einheimische Bevölkerung am Oberrhein offenbar deutlich früher zurückgewichen bzw. unsichtbar geworden ist als am Niederrhein – wahrscheinlich infolge des allmählichen Einsickerns alemannischer Gruppen. Im Mittelrheinraum scheint der Verlust epigraphisch fassbarer römischer Traditionen hingegen eine unmittelbare Folge des großen Barbareneinfalls 406 / 07 gewesen zu sein. Auch wenn sich in ehemaligen römischen Zentren wie Köln und vor allem Trier noch erstaunliche Kontinuitäten fassen lassen, so deutet der inschriftliche Befund insgesamt ebenfalls auf langwierige Umformungsprozesse hin, die von harten Verlusterfahrungen geprägt gewesen sein müssen.99 Viel zu wenig erfahren wir demgegenüber über jene Fälle, in denen die Koexistenz offenkundig funktionierte, und wenn, dann handelt es sich zumeist um Schlaglichter auf individuelle Schicksale, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Was der hochrangige Aristokrat Ausonius mit seinem blonden Alemannenmädchen Bissula – sofern sie denn jemals mehr war als eine literarische Imagination – tatsächlich angestellt hat, werden wir nicht mehr eruieren. Gerne wüssten wir auch Näheres über die Ehe zwischen dem vir devotissimus Faustinianus, einem Angehörigen der kaiserlichen Leibwache (domesticus), und seiner Frau, einer civis Alamanna, der er im Jahr 423 zu Florenz ein ehrendes Gedächtnis setzte. Warum betonte Faustinianus in derart auffälliger Weise die alemannische Abkunft (als civis – ‹Bürgerin›) seiner «liebenden Gattin» (amantis coniugis)? Fränkische Truppen wiederum versuchten, so viel ist bekannt, an der Jahreswende 406 / 07 hartnäckig und letztlich erfolglos, den großen Rheinübergang multiethnischer Verbände zu verhindern (s. u.). In welchem Verhältnis sie zur ansässigen Bevölkerung standen, deren Teil sie nun faktisch waren, und ob
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sie noch für eine abstrakte Idee eines territorial integren Imperium Romanum fochten oder lediglich ihre eigene Existenz und die ihrer Nachbarn zu bewahren versuchten, lässt sich nicht mehr ermitteln.100
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Zündeln am gallischen Scheiterhaufen 5.5 Zündeln am gallischen Scheiterhaufen
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Für römische Soldaten gab es wahrscheinlich weitaus attraktivere Truppenstandorte als das wolkenverhangene, windumtoste Britannien – «das äußerste Ende der Welt». Im Verlauf des 1. Jahrhunderts war die Insel weitgehend erobert worden, wobei es den Römern allerdings nie gelang, ihren wilden Nordzipfel unter Kontrolle zu bringen. Das im Jahr 122 von Hadrian (117–138) veranlasste vielschichtige Befestigungswerk (‹Hadrianswall›), das sich durch die Landenge zwischen dem Solway Firth und dem River Tyne bei Newcastle zog, bildete über Jahrhunderte hin die Nordgrenze des Imperium Romanum. Jenseits seiner Tore, im heutigen Schottland, lebten verschiedene Barbarengruppen, die von den Römern zumeist unter den Sammelbegriff ‹Pikten› (= ‹die Bemalten›?) gefasst wurden. Ihre Überfälle banden immer wieder römische Kräfte: Constantius I. etwa rang 305 «Kaledonier und andere Pikten» (Calidones aliique Picti) nieder und nahm daraufhin den Siegesbeinamen Britannicus Maximus an. Auch Constans I. (343) und Julians General Lupicinus (360) mussten sich im hohen Norden gegen Pikten und mit ihnen verbündete Skoten, die von Irland aus einfielen (und seit etwa 500 in das heutige Schottland einsickerten), bewähren. Im 4. Jahrhundert nahm der Druck auf Britannien zu: Ammian berichtet von Angriffen der Dicalydones und Verturiones – zwei gentes der Pikten –, ferner der Skoten, Attacotti und Sachsen. Eine barbarica conspiratio (‹Barbarenverschwörung›), an der sich Pikten, Skoten und Attacotti beteiligt haben sollen, wurde 367 / 68 von Valentinians I. General Theodosius niedergeworfen, und um das Jahr 383 musste Magnus Maximus einen erneuten Überfall der Pikten und Skoten abwehren. Selbst Stilicho wurde in den 390er Jahren in Kämpfe gegen Pikten, Skoten und Sachsen verwickelt.101 Britannien war für die Römer ein rauhes, schwer zugängliches Land, das letztlich nie vollständig im Imperium ankam und zu Beginn des 5. Jahrhunderts ebenso rasch wie unwiederbringlich verloren ging (s. u.). Die antike Stadtkultur zu implementieren, fiel auf der weiterhin keltisch geprägten Insel schwer; entsprechende Anstrengungen setzten häufig in Form der Anlagerung römischer Siedler an ein Militärlager oder ein keltisches oppidum (befestigte Siedlung) an.
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Abb. 18 Teilstück des Hadrianswalls in der Nähe von Housesteads Crag
Vor allem der Norden und der Westen Britanniens entzogen sich weitgehend dem römischen Einfluss. Im Süden bzw. Südosten und von dort aus zunehmend in Richtung Norden hingegen schritt der Romanisierungsprozess erkennbar voran. Insbesondere seit dem 3. Jahrhundert entwickelten sich Landwirtschaft und Handel, prosperierende römische villae prägten das Bild bis in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts. Wie angedeutet, nahmen aber seit den 360er Jahren die Überfälle von Pikten, Skoten und Sachsen, die in wechselnden Allianzen den römischen Teil der Insel attackierten, beständig zu. Gleichzeitig entglitt Britannien allmählich den kontinentalen, sich bis in den östlichen Mittelmeerraum erstreckenden Handels- und Austauschnetzen; man war zunehmend auf sich allein gestellt – ein Umstand, der die Usurpation des Magnus Maximus (383 von den Soldaten in Britannien zum Kaiser ausgerufen), aber auch die Kaisererhebungen der Jahre 406 / 07 (s. u.) mitbedingt haben könnte.102 Vor allem die Sachsen (‹Schwertleute›, ‹Leute mit scharfen Klingen›), die sich selbst angeblich für «die stärksten aller dort [= im Niederrhein- und Nordseegebiet] lebenden Barbaren, an Mut, Kraft und Stärke im Kampf,» hielten, treten seit dem 3. Jahrhundert zunehmend in Erscheinung. Wie die Franken und Alemannen werden auch sie von undurchdringlichen Ranken wissenschaftlicher Kontroversen überwuchert, die ihre Entstehung und Ersterwähnung betreffen. ‹Sachsen› begegnen erstmals im späten 3. Jahrhundert. Offenkundig handelte es
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sich bei ihnen um ähnlich strukturierte Raubgruppen wie die Franken (mit denen sie bei Beutezügen mitunter kooperierten). Ihr Gravitationszentrum umfasste zunächst die Gebiete des heutigen Nordwestdeutschlands zwischen Elbe und Weser – eine Lage, die sie für räuberische Ausflüge nach Nord(west)gallien und Britannien prädestinierte. Und dort verbreiteten sie Furcht und Schrecken: «Die gallischen Länder aber suchten Franken und ihnen benachbarte Sachsen heim, überall, wo jeder gerade einen Einfall zu Wasser oder zu Lande unternehmen konnte. Dabei machten sie auf grausame Weise Beute, legten Feuer an und schlachteten sämtliche Gefangenen ab». Besonderes Spezifikum der als ‹Sachsen› bezeichneten Kriegerverbände könnte ihre Vorliebe für Angriffe von der See aus gewesen sein. Keramikscherben aus Trier, die in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts datieren, zeigen Abbildungen paddelnder Angreifer in symmetrisch gebauten Booten. Orosius beschreibt die Sachsen als eine gens, «die an den Küsten des Ozeans und in unzugänglichen Sümpfen lebt, furchterregend aufgrund ihres Kampfmutes und ihrer Beweglichkeit». Bereits im späteren 3. Jahrhundert, vor allem unter Probus und der Tetrarchie, hatte man angesichts der von ihnen ausgehenden Bedrohung mit der Anlage einer Kette von Wachttürmen und Kastellen begonnen. Sie dienten dem Schutz der südlichen und südöstlichen Küstenlinie Britanniens sowie der nord- und nordwestlichen Gebiete Galliens, sollten die Bevölkerung im Rückraum vor fränkisch-sächsischen Piratenangriffen bewahren, aber auch die Schifffahrtswege absichern. Dieses sogenannte litus Saxonicum wurde einem eigenen Militärkommandanten unterstellt. Beim Versuch, die Sicherheit Britanniens wiederherzustellen, tat sich namentlich der bereits erwähnte Carausius hervor, der von Bononia (heute Boulogne-sur-Mer) aus die Piraterie eindämmte, sich aber 286 selbst zum Kaiser ausrufen ließ und Britannien sowie Teile Galliens unter seine Kontrolle brachte. Sein Nachfolger Allectus wurde 296 von Constantius I. besiegt, das Carausius-Reich daraufhin wieder in den imperialen Gesamtverband eingegliedert.103 Wenden wir uns nun jenen turbulenten Jahren zu, in denen Alarich wie ein Stachel im Fleisch des römischen Reichskörpers festsaß, nach gewinnbringender Beschäftigung für seine Soldaten suchend, und letztlich doch nur als Instrument in den Planungen, die an den römischen Kaiserhöfen ersonnen wurden, agierend: Wir hatten gesehen, dass Stilicho mehrfach Alarichs Goten hätte vernichten können, diesen entscheidenden Schritt aber wiederholt scheute, weil er ihr militärisches Potential nicht nutzlos verschwenden wollte. Stilicho ging es unter anderem um das Illyricum, und gerade als sich um 405 der Konflikt zwischen Ravenna und Konstantinopel um diese Region dramatisch zuspitzte, überfiel auch noch der Heerhaufen des Radagaisus Italien und verlangte dem römischen magister militum alles ab, um der Bedrohung halbwegs Herr zu werden. Das war der Moment,
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in dem ganz unerwartet Britannien die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die jahrelange Vernachlässigung der zunehmend abgekoppelten Insel, die inzwischen offenbar regelmäßigen sächsischen Plünderungszügen ausgesetzt war, durch die kaiserliche Regierung und eine damit einhergehende Unzufriedenheit und Enttäuschung zeigten nun erste sichtbare Auswirkungen: Britannien nahm sein Schicksal selbst in die Hand. Unmittelbarer Anlass war entgegen den Behauptungen spätantiker Historiographen wahrscheinlich nicht der Rheinübergang barbarischer Verbände 406 / 07 – denn dies ist aus Gründen der Chronologie nicht möglich –, sondern der Ausbruch einiger Reste der geschlagenen RadagaisusArmee aus Italien nach Gallien und die damit einhergehende Gefahr von Neuformierungsprozessen und bewaffneten Plünderungszügen Richtung Britannien. Die dort noch verbliebenen Truppen erhoben nun ihren eigenen Kaiser, zunächst einen gewissen Marcus, der sich aber offenbar nur wenige Tage hielt; danach Gratianus, der immerhin erst nach vier Monaten ermordet wurde, und schließlich Konstantin (III.), hervorgegangen aus den Reihen der einfachen Soldaten (ex infima militia), der seinen ohnehin – und zumal in Britannien! – verheißungsvollen Namen noch dadurch veredelt hatte, dass er seine Söhne Constans und Julian genannt und damit demonstrativ auf die Dynastie des großen Namensvettern Bezug genommen hatte. Dem fernen Norden war damit ein neuer Hoffnungsträger erstanden.104 Die Erhebung Konstantins erfolgte wahrscheinlich im Februar 407. Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatte die Katastrophe bereits ihren Lauf genommen: In der Silvesternacht 406 / 07 hatten barbarische Verbände – vermutlich in der Umgebung von Mainz – begonnen, den Rhein zu überqueren. Dass dieser damals zugefroren gewesen sein soll, wie in der Literatur seit Edward Gibbon (1737–1794) durchgängig zu lesen ist, wird nirgendwo bezeugt; vielleicht haben die Invasoren ja auch einfach Boote oder gar die Rheinbrücke bei Mainz benutzt. Konkrete Informationen über diese Vorgänge, die innerhalb weniger Jahre eine Kettenreaktion auslösten, welche mittelbar zum Verlust Britanniens sowie großer Teile Galliens, Spaniens und Nordafrikas führte, besitzen wir nicht. Hieronymus präsentiert uns im Jahr 409 /10 einen regelrechten Völkerkatalog: Zahllose, nachgerade grauenhafte Scharen hätten ganz Gallien in Besitz genommen – Quaden, Vandalen, Sarmaten, Alanen, Gepiden, Heruler, Sachsen, Burgunder, Alemannen sowie – wahrscheinlich – aufsässige Provinzialen aus Pannonien (hostes Pannonii). Wie exakt der im fernen Bethlehem residierende Kirchenvater über die Zustände in Gallien informiert gewesen sein kann, wird kontrovers diskutiert. Selbst aber wenn er über zuverlässige Nachrichten verfügt haben sollte, so hatte er kaum vor, einen akkuraten Bericht vorzulegen. Seine Darstellung ist an die gallische Witwe Geruchia gerichtet und soll die vornehme Dame vor einer erneuten Eheschlie-
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ßung warnen – mit dem Argument, sich angesichts des gegenwärtigen Elends doch besser ganz auf das Seelenheil zu konzentrieren. «Antworte mir, teuerste Tochter in Christus: Unter solchen Umständen gedenkst du zu heiraten?» (responde mihi, carissima in Christo filia, inter ista nuptura es?). Die Überzeugungskraft seines Briefes hing also an der Wucht des literarisch entfalteten Unheils, das rhetorisch entsprechend aufgeplustert wurde. Demzufolge präsentiert uns der Kirchenvater eher einen den Gepflogenheiten antiker Barbarentopik verpflichteten Namenskatalog als eine authentische Liste. Apokalyptisch konnotierte Bibelzitate wie der Psalmvers «Auch Assur hat sich zu ihnen geschlagen» (etenim Assur venit cum illis, Ps 82 [83],9) trugen das Ihrige dazu bei, die schaurige Wirkung der frommen Mahnungen zu erhöhen.105 Wer damals tatsächlich den Rhein überschritten hat, ist somit unklar. Die späteren Ereignisse zeigen, dass hasdingische und silingische Vandalen, Sueben (die wohl aus mitteldanubischen Markomannen und Quaden hervorgegangen waren und einen traditionsreichen Namen angenommen hatten) sowie iranischsprachige Alanen die Kerngruppen gebildet haben müssen; sie dürften aber von weiteren Scharen unterschiedlichster Herkunft, darunter sicherlich auch unzufriedene römische Provinzialen, entlaufene Sklaven und Deserteure, begleitet worden sein. Vermutlich handelte es sich dabei nicht lediglich um plündernde Kriegergruppen (wie bei den frühen Alemannen, Franken und Sachsen), sondern um größere Verbände, die auch Frauen und Kinder umfassten. Die Tatsache, dass ihr Vorstoß offenbar vollkommen unerwartet erfolgte und dass zuvor keine größeren Auseinandersetzungen mit Alemannen, Burgundern oder Franken, deren Gebiete sie durchqueren mussten, stattgefunden hatten, dass die Invasoren also extrem flink und beweglich agiert haben müssen, führte zu der Vermutung, ihre Anzahl sei insgesamt doch überschaubar gewesen. Restlos überzeugend ist diese Schlussfolgerung freilich nicht, denn unsere Unkenntnis eventueller Konflikte im Vorfeld des Rheinübergangs kann durchaus auch Folge einer lückenhaften Überlieferung sein. Und schließlich: Ganz konfliktfrei verlief der Einfall in das Imperium Romanum ohnehin nicht. Zwar hatte Stilicho große Teile der Garnisonen am Rhein abgezogen, da er die Soldaten im Kampf gegen Alarich, Radagaisus sowie für seine Illyricum-Pläne benötigte (und es am Rhein in den Jahren zuvor ruhig geblieben war), doch waren die gallischen Provinzen damit keineswegs schutzlos jedem Angreifer ausgeliefert. Fränkische Foederaten hatten die Aufgabe der Grenzsicherung übernommen, und sie kamen ihren Verpflichtungen durchaus nach: In den Gefechten, die sie den Angreifern lieferten, sollen angeblich 20 000 hasdingische Vandalen gefallen sein (ein, wenn auch wohl übertriebener, Hinweis auf die beträchtliche Anzahl der Neuankömmlinge) – unter ihnen ihr Herrscher Godegisel, der Vater Geiserichs. Lediglich den Alanen unter Respen-
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dial war es zu verdanken, dass die Vandalen ihrer völligen Vernichtung entgingen. Doch auch die Alanen selbst mussten bluten: Einer ihrer Teilverbände unter Goar ging zu den Römern über. Am Ende jedoch waren die Franken gezwungen, die Eindringlinge ziehen zu lassen, und diese machten sich nun über Gallien her. Als erste Stadt fiel Mainz in ihre Hände, wo eine große Menschenmenge in einer Kirche abgeschlachtet wurde (in ecclesia multa hominum milia trucidata); Worms, Reims, Amiens, Arras, Boulogne-sur-Mer, Tournai, Speyer und Straßburg gingen in Flammen auf. Aus der Aufzählung betroffener Städte und Regionen bei Hieronymus lässt sich keine plausible Route der Invasoren rekonstruieren; sie dürften sich ohnehin in verschiedene Untergruppen aufgespalten haben, doch scheinen sie sich bis zum Frühjahr 409 vorwiegend auf die nordgallischen Provinzen Belgica I und II sowie Germania I konzentriert zu haben.106 Über die Gründe für den im Ergebnis verheerenden Rheinübergang 406 / 07 lässt sich trefflich spekulieren. Gemutmaßt wurde, bei den Eindringlingen habe es sich um Reste der zerstreuten Radagaisus-Mannschaften gehandelt. Diese Vermutung geht einher mit der Annahme, die Zahl der Angreifer sei nicht allzu hoch gewesen; sie dürfte aber daran scheitern, dass die versprengten Scharen des Radagaisus bei Zosimos als gesonderter Verband genannt werden: Es dürfte sich um jene Gruppierungen gehandelt haben, die 406 die Alpen von Italien nach Gallien überquerten und damit die erwähnten Usurpationen in Britannien auslösten (s. o.). Plausibler erscheint dagegen die andernorts bereits angedeutete These, wonach die Ereignisse am Rhein eine indirekte Folge des weiteren Vordringens hunnischer Teilverbände vom Schwarzmeerraum an die untere Donau und in die Ungarische Tiefebene darstellten. Bereits die vandalisch-alanischen Einfälle in Raetien, gegen die Stilicho 401 vorgehen musste, können als Vorbote dieser Entwicklung betrachtet werden; vor allem aber die Angriffe des Radagaisus 405 und des Hunnen Uldin im Jahr 408, vielleicht auch die Ankunft der Burgunder 411 /13 am Mittelrhein, sprechen dafür: Der von den Hunnen ausgehende Druck in Richtung Westen nahm zu – ein Eindruck, den auch die archäologischen Befunde vermitteln, die darauf hindeuten, dass es in den Regionen östlich des Rheins und der fränkisch-alemannischen Pufferzonen um 400 zu erheblichen sozialen Verwerfungen gekommen sein muss. Darin mag die Ursache dafür liegen, dass sich nicht nur mobile Kriegergruppen, sondern ganze Wagenkolonnen in Richtung Rhein aufmachten.107 Rätselhaft bleibt allerdings, warum Stilicho nicht in Gallien intervenierte. Möglicherweise verfügte er eben doch nicht über jene Handlungsmöglichkeiten, die ihm für die Phase nach der Niederringung des Radagaisus im Sommer 406 allgemein zugerechnet werden – aber wir wissen nicht warum. Vielleicht scheute er auch die unmittelbare Konfrontation mit Konstantin III., der unmittelbar nach seiner Ausrufung im Februar 407 nach Gallien übergesetzt und bis Lyon vorge-
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drungen war, wo er erst einmal die Alpenübergänge nach Italien sicherte. Wäre Stilicho seinerseits persönlich nach Gallien ausgerückt, hätte er jedenfalls erst einmal mit dem Usurpator die Waffen kreuzen müssen, der – solange man ihn unbehelligt ließ – in eigenem Interesse die Barbarengefahr in Gallien eindämmen musste. Aber möglicherweise sah Stilicho damals die Schwerpunkte seiner Politik auch schlicht in anderen, weiter östlich gelegenen Regionen (Illyricum).108 Konstantin wurde rasch in Gallien und Spanien als Herrscher anerkannt; nachdem er seine Position in Lyon konsolidiert hatte, begab er sich an die Stabilisierung Nordgalliens, indem er die Barbarengruppen diesseits und jenseits des Rheins vertraglich zu binden suchte. Große Symbolwirkung dürfte dabei die Wiedereröffnung der Münzstätte Trier entfaltet haben: Gallien war nun trotz des um sich greifenden Elends wieder Sitz eines Kaisers! Im Frühsommer 408 gelang dem Restitutor rei publicae sogar der Zugriff auf Arles, das bis dahin offenbar noch unter der Kontrolle Ravennas hatte gehalten werden können. Nunmehr befand sich auch Südgallien in seinen Händen, zumal der Gote Sarus (wir hatten ihn bereits als Widersacher Alarichs kennengelernt), der den Usurpator Anfang 408 im Auftrag Stilichos angegriffen hatte, nach einigen ersten Erfolgen schließlich doch zurück nach Italien getrieben werden konnte. Ebenso wie die von Stilicho zwecks eines Gallienfeldzugs im Sommer 408 zu Pavia anberaumte Heeressammlung illustriert die Sarus-Episode, dass der römischen Führung die Niederringung eines Usurpators weiterhin wichtiger war als der Kampf gegen die in Gallien eingedrungenen Barbaren.109 Konstantin setzte nun auf einen Ausgleich mit Ravenna – seine Münzen propagierten die Eintracht aller römischen Herrscher –, arbeitete aber zugleich an der Etablierung einer eigenen Dynastie. Zu diesem Zweck holte er im Frühjahr 408 seinen Sohn Constans, einen Mönch, aus dem Kloster, ernannte ihn zum Caesar und entsandte ihn nach Spanien, wo dieser große Mühe hatte, eine Rebellion zweier Verwandter des Honorius, die nicht einmal offizielle Ämter innehatten und lediglich ihre eigenen Bauern und Sklaven bewaffnen konnten, niederzuschlagen. Wie auch immer: Die Sicherung Spaniens gelang; Constans ließ dort seinen Feldherrn Gerontius zurück und begab sich mit den gefangenen Aufrührern zu seinem Vater nach Arles, der sie umgehend hinrichten ließ, was wiederum in Ravenna keine allzu großen Jubelstürme auslöste.110 Folgt man der Überlieferung, so gab sich Konstantin, im irrigen Glauben, die erstrebte Übereinkunft mit Honorius dennoch erzielt zu haben, in Arles der Trunk- und Fresssucht hin und ließ sich sogar als Konsul feiern, obwohl seine Gesandten in Ravenna kaum Erfolge erzielten. Die Ermordung Stilichos im August 408, anlässlich der erwähnten Sammlung des Heeres, könnte derartige Fehleinschätzungen der eigenen Lage befördert haben.111
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Mit dem Jahr 409, das der Usurpator siegesgewiss als Konsul eingeläutet hatte, begann denn auch bereits sein Niedergang. In Spanien sagte sich – die Gründe sind ungewiss – Gerontius von ihm los und erhob in Tarraco (Tarragona) seinen Klienten (oder gar Sohn?) Maximus zum Kaiser. Die von Constans (mittlerweile zum Augustus befördert) zur Bewachung der Pyrenäenpässe abkommandierte Einheit der Honoriaci verlegte sich lieber selbst aufs Plündern und ermöglichte den Barbaren damit ein Vordringen auf die Iberische Halbinsel. Oder hatte Gerontius sie gar selbst gerufen, wie Zosimos suggeriert? Tatsache ist jedenfalls, dass im Jahr 409 ein Süddrift der bis dahin weitgehend auf Nordgallien beschränkten barbarischen Raubgruppen erfolgte. Nun gerieten auch Südgallien und Spanien in den Sog der Ereignisse. Gerontius versuchte die Barbaren für seine eigenen Anliegen zu mobilisieren, doch er verlor angesichts der zunehmend chaotischen Situation vollends die Kontrolle.112 Ähnlich düster sah es für Konstantin III. aus: In Britannien und Nordgallien brach der Verdruss über sein Regiment nun offen durch. Den konkreten Anlass könnten erneute Attacken der Sachsen gebildet haben, aber sie dürften lediglich eine tief verankerte Unzufriedenheit mit der Reichszentrale und der mangelnden Aufmerksamkeit für die Insel verstärkt haben. Signifikant ist, dass in späterer britannischer Tradition bereits der Usurpator Magnus Maximus (383–388) als letzter römischer Kaiser galt. Er soll substantielle Teile der Britannien-Armee abgezogen haben, als er 383 nach Gallien übersetzte; doch müssen immerhin hinreichend Soldaten auf der Insel verblieben sein, um im Jahr 407 Konstantin III. mit einer schlagkräftigen Armee auszustatten.113 Zosimos zufolge vertrieb man nun (409 /10) die «Amtsträger der Römer» (Ῥωμαίων ἄρχοντας) – d. h. wohl die von Konstantin eingesetzten Bevollmächtigten – von der Insel und nahm die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand. Wie das im Einzelnen gemeint sein soll, ist unklar; möglicherweise verbirgt sich hinter der sonderbaren Nachricht das Bemühen der britannischen civitates, ihre Belange fortan vollends eigenständig in die Hand zu nehmen und von der lokalen Ebene aus zu regulieren, da an die Zentralregierung keine hinreichende Anbindung mehr bestand. Dies war jedenfalls der Moment, in dem Britannien faktisch aus dem Reichsverband ausschied – historisch gesehen der erste Brexit: Die imperiale Ordnung löste sich dort auf, weil das Imperium keinen Zugriff mehr bekam. Angeblich soll Honorius im Jahr 410 ein Sendschreiben an die Städte (!) Britanniens (πρὸς τὰς ἐν Βρεττανίᾳ […] πόλεις) verfasst haben, in dem er ihnen mitteilte, dass sie ihr Schicksal fortan selbst in die Hand nehmen müssten, weil ihm keine Kapazitäten mehr zur Verfügung stünden. Über dieses Zeugnis ist viel nachgedacht worden, denn es wirkt im Kontext der römischen Geschichte recht kurios, innerhalb des Geschichtswerks des Zosimos seltsam fehlplatziert und
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überdies sprachlich verunglückt. Wollte man wirklich annehmen, dass eine Regierung, die an nahezu allen Fronten verbissen um die Aufrechterhaltung der Reichseinheit rang, eine ganze Diözese derart lapidar verabschiedet haben soll? Oder handelte es sich nur um eine temporäre, reversibel gedachte Maßnahme, die den aktuell knappen Ressourcen geschuldet war? Verschiedene Möglichkeiten, mit dem angeblichen Schreiben des Honorius umzugehen, wurden diskutiert, darunter eine Überforderung des Zosimos mit der westlichen Geographie (Verwechslung von Bologna [lat. Bononia] mit Boulogne-sur-Mer [lat. ebenfalls Bononia]) sowie auch die Annahme einer schlichten Verschreibung im Verlauf der Textüberlieferung: Nicht die Städte Britanniens (Βρεττανίᾳ / Brettanía), sondern diejenigen in Bruttium (Βρουττίᾳ / Bruttía, Italien) hätten sich selbst um ihre Belange kümmern sollen; beide Möglichkeiten würden immerhin dazu passen, dass der Kontext des Briefes bei Zosimos ein rein italischer ist. Andererseits wurden nach 410 aber tatsächlich keine erkennbaren Anstrengungen mehr unternommen, Britannien in den Reichsverband zu redintegrieren, und dem in Ravenna eingeschlossenen, von einer giftigen Hofkamarilla umgebenen Kaiser mag möglicherweise mehr zuzutrauen sein als allgemein angenommen. Die Frage muss daher letztlich offenbleiben, zumal man sich das Herausbrechen Britanniens aus dem Imperium Romanum ohnehin nicht als punktuellen ‹Verwaltungsakt› wird vorstellen können, sondern eher als allmählichen Prozess, der bereits früher eingesetzt haben muss und der selbstverständlich nicht das abrupte Ende einer römisch geprägten Lebenswelt bedeutete. Von nun an aber schritt dieser Prozess rasch voran. Britannien verschwand aus dem Horizont der antiken Oikoumene. Als sich um die Mitte des 6. Jahrhunderts der Historiograph Prokop mit der Insel beschäftigte, stieß er nur noch auf geheimnisvolle Wunderberichte: So soll die Umwelt jenseits des Hadrianswalls lebensfeindlich, ja tödlich gewesen sein – und schlimmer noch: Von der Festlandküste aus, so wurde ihm berichtet, starteten nachts Fährleute und ruderten die unsichtbaren Seelen der Verstorbenen (τὰς τῶν ἀποβιούντων ἀνθρώπων ψυχάς) über den Ärmelkanal – Britannien war jetzt eine Insel der Toten.114 Mit Britannien verlor Westrom letztlich auch den Zugriff auf die Aremorica (die heutige Bretagne). Darüber hinaus entwickelten sich große Teile Nordgalliens nun zu schwer kontrollierbaren Gewalträumen; hier residierten und agierten zwar noch über Jahrzehnte hin ‹römische› Generäle, die sich mit römischen Titeln und Ämtern schmückten, aber letztlich losgelöst von der Zentrale als warlords ihre eigenen Interessen verfolgten; u. a. Chlodwig sollte aus diesem Personenkreis hervorgehen.115 Konstantin III. versuchte 410 seine angeschlagene Position ein letztes Mal offensiv zu festigen, indem er einen lange geplanten Italienzug unternahm – mög-
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licherweise sogar in Abstimmung mit Honorius bzw. dessen Beratern, die sich dadurch Entlastung gegen Alarich versprochen haben könnten. Der Usurpator kam jedoch nur bis zum Po; dort erfuhr er vom Tod des Generals Allobich, der im Verdacht gestanden hatte, zu ihm überzulaufen, und zog sich hektisch wieder zurück nach Arles. Danach überschlugen sich die Ereignisse: Constans, nach verlorener Schlacht von Gerontius aus Spanien verjagt und verfolgt, wurde von diesem in Vienne gestellt und ermordet, woraufhin sich der siegreiche Feldherr an die Belagerung Konstantins in Arles begab. Als jedoch ein kaiserliches Heer unter Constantius – er sollte in den Folgejahren zum großen Hoffnungsträger (und kurzzeitig zum Kaiser) im römischen Westen aufsteigen – und Wulfila anrückte, wechselte der größte Teil der Truppen des Gerontius die Seiten. Dem Aufrührer blieb nur die Flucht zurück nach Spanien, wo er ein grausiges Ende fand: Sein eigenes Haus, umzingelt von seinen eigenen Soldaten, ging in Flammen auf; als alles um ihn herum sich im Feuerbrand auflöste, enthauptete Gerontius seinen letzten Getreuen sowie seine Frau. Danach stürzte er sich in sein Schwert. Maximus gelang es immerhin, sich zu den Barbaren durchzuschlagen.116 Konstantin III. erging es nicht allzu viel besser: Constantius hatte die von Gerontius abgebrochene Belagerung fortgesetzt und den Usurpator bald zur Aufgabe zwingen können. Dieser hatte sich vorsichtshalber noch rasch zum Priester weihen lassen, doch auch dieser Schachzug nutzte ihm nichts mehr: Während seiner Überstellung nach Ravenna wurde er ermordet.117 Trotz seines Scheiterns mit langem Anlauf hatte Konstantin bis zuletzt Anhänger besessen – vor allem innerhalb der gallischen Aristokratie –, die sich nun um einen neuen Kandidaten versammelten und mit Hilfe des Alanen Goar und des Burgunderkönigs Gunthiarius / Gundicharius den gallorömischen Aristokraten Jovinus zum Kaiser ausriefen, einmal mehr ein deutliches Signal, dass man sich von der Zentralregierung in Ravenna nicht mehr allzu viel versprach – und ein interessantes Indiz dafür, wie die Loyalität der in Gallien beheimateten Eliten nun allmählich auf die neuen starken Männer überging. Das war ein Modell, das bald Schule machen sollte. Jovinus fasste schnell Fuß und erlangte die Kontrolle über jene Teile Galliens, die Konstantin III. zuletzt noch verblieben waren. Abzusichern versuchte er sich dadurch, dass er, vermittelt durch den ehemaligen Usurpator Priscus Attalus, in Verhandlungen mit Alarichs Nachfolger Athaulf eintrat. Als dieser jedoch 412 über die Alpen nach Gallien zog, kam es zum Konflikt – und wieder einmal spielte Sarus eine Hauptrolle: Er hatte sich entschlossen, von Honorius zu Jovinus überzulaufen, wurde jedoch von seinem alten Rivalen Athaulf abgefangen und ermordet. Dies wiederum führte zu einer unerwarteten Annäherung zwischen den Goten und Ravenna, die Jovinus in die Isolation drückte; da nutzte es auch nichts mehr, dass er hastig seinen Bruder Sebastianus
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zum Mitherrscher erklärte. Im Jahr 413 tötete Athaulf Sebastianus, kurz darauf auch einen weiteren Bruder, Sallustius. Jovinus wurde in Valentia (Valence, Südostfrankreich) belagert, geriet in Gefangenschaft und wurde dem praefectus praetorio Galliarum Dardanus übergeben, der ihn augenblicklich hinrichten ließ – und mit ihm zahlreiche gallische Adelige; noch eine Generation später hegte man in Gallien Groll ob dieses grausamen Blutbads.118 Damit neigte sich das Jahr 413 dem Ende zu. Honorius hatte den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen – weniger aufgrund eigener Tatkraft oder gar Stärke, sondern aufgrund kontingenter Umstände und strategischer Fehler seiner Gegner. Aber die Verluste, die das Imperium Romanum aus den turbulenten Jahren von 406 bis 413, die weithin von der Plünderung Roms durch Alarich überschattet werden, davongetragen hatte, waren enorm: Auf der Iberischen Halbinsel breiteten sich barbarische Verbände vorerst unkontrolliert aus. Was dies für die einheimische Bevölkerung bedeutete, hat Orosius stimmungsvoll angedeutet. Britannien hatte sich aus dem römischen Reichsverband gelöst. Ein zeitgenössischer Text bringt den Sachverhalt knapp auf eine Formel: «Die britannischen Provinzen sind dem römischen Namen für immer verloren gegangen», und in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts kann der angelsächsische Mönch Beda festhalten: «Seit dieser Zeit [sc. 410] regierten die Römer nicht mehr in Britannien». Letzteres galt im Übrigen auch für die Aremorica, deren Bewohner in der ‹Schlacht auf den Katalaunischen Feldern› 451 zwar auf weströmischer Seite gegen Attilas Hunnen antraten, dort aber letztlich wie ein foederierter Barbarenverband erscheinen. Zudem verwandelten sich, wie angedeutet, weite Teile Nordgalliens in Kampfgebiete unterschiedlicher warlords. Am Mittelrhein – vermutlich – setzten sich die Burgunder fest und begründeten ihr erstes ‹Reich›, und mit Athaulfs Alpenübergang 412 standen nunmehr auch die Westgoten in Gallien.119 Wir können nur erahnen, was diese Umwälzungen für die ansässige Bevölkerung bedeutet haben mögen. Von der permanenten Bedrohung durch Plünderungen, Verschleppungen und Mord kann man sich kaum plastische Vorstellungen machen. Nicht nur Barbarengruppen, sondern auch – nicht immer scharf voneinander abgrenzbar – entlaufene Sklaven und Bauern, Räuberbanden und Deserteure zogen marodierend durch die Lande. Ostentativ drohten ihnen kaiserliche Gesetze mit der ganzen Härte der Regierung. Vielerorts dürften die überkommenen administrativen Strukturen dennoch zusammengebrochen sein, ganze Landstriche verödeten. Wir finden Reflexe dieser Zustände in den Werken einiger gallischer Dichter und Literaten. Ihre Klagelieder sind selbstverständlich rhetorisch überhöht und nicht frei von Übertreibungen und Verzerrungen; doch vermögen sie auch heute noch zu faszinieren und vermitteln zumindest eine Anmutung dessen, was vor allem in Gallien zu Beginn des 5. Jahrhunderts geschehen ist.120
Zündeln am gallischen Scheiterhaufen 5.5
«Wenn man das Verderben des Unheils denn ertragen muss – wehe! –, im Gemetzel schon eines ganzen Jahrzehnts werden wir niedergestreckt von vandalischen und gotischen Schwertern: Keine Burgen auf Felsen, keine Orte, in hochragenden Bergen errichtet, keine Städte an Flussmündungen erwiesen sich als stark genug, all die Arglist und die Waffen barbarischen Rasens zu überwinden: Wir haben das Äußerste erduldet! Ich will nicht beklagen, dass Volk ohne Unterschied ausgelöscht worden ist; auch ob des Todes unserer Anführer mag ich nicht grollen […]. Aber unschuldige Knaben und Mädchen – was haben sie verbrochen, denen ihr kurzes Leben gar keine Möglichkeit für Sünden gegeben hatte?» – so erhebt der Verfasser eines Carmen de providentia Dei wehklagend die Stimme. Endzeitlich-resignativer Fatalismus umweht viele dieser Texte. Trübsinnig blickt das dichterische Ich eines als Epigramm des Paulinus bekannten Werks (entstanden direkt nach der Barbaren-Invasion) um sich und verweist auf die verheerenden Zerstörungen: «Denn über Ackerfluren, Reichtümer der Menschen und die Bebauer des Landes ist jetzt erstmals, da der eigentlich doch unverletzbare Friedensvertrag gebrochen worden ist, der Barbar hergefallen». «Der Frieden ist der Welt abhanden gekommen» (pax abiit terris), klagt der anonyme Autor (Prosper von Aquitanien?) eines an seine Gattin gerichteten Gedichts mit Blick auf das nahende Weltgericht. «Mit Schwert, Seuche, Hunger, Gefangenschaft, Kälte oder Hitze – auf tausendfache Weise rafft ein einziger Tod die elenden Menschen dahin» (ferro peste fame vinclis algore calore, / mille modis miseros mors rapit una homines). Kriege tosten allerorten, Herrscher (reges) würden von Herrschern niedergemacht: «Ruchlose Zwietracht wütet in einer verstörten Welt» (impia confuso saevit discordia mundo). Angesichts des unfassbaren Unheils verweist der Verfasser des Carmen de providentia Dei, der selbst die Folgen eines Barbarenangriffs aufzuarbeiten hatte und nun sein Heil in asketischer Weltflucht suchte, auf das umsichtige Wirken der göttlichen Vorsehung und ruft die leidgeschüttelten Menschen zur Buße auf; materielle Verluste, so heißt es, lohnten keine Klage: «Lasst uns nicht durch geiferndes Gejammere den gerechten Zorn Gottes heraufbeschwören, indem wir sein Gericht missbilligen!»121 So mancher Autor verband die desolaten Zustände mit rabiater Zeitkritik. «Doch wehe», so der Verfasser des Epigramms des Paulinus, «wenn uns der Sarmate etwas verwüstet, wenn der Vandale etwas in Brand steckt oder der flinke Alane etwas geraubt hat – wir bemühen uns, es in einen scheinbar früheren Zustand wiederherzustellen, mag auch die Hoffnung zweifelhaft und das Unterfangen mühselig sein. Jene Dinge jedoch, die durch unser eigenes waghalsiges Tun verloren gegangen sind, geben wir auf, und wir dulden es, in langer Vernachlässigung eines trägen Geistes zu verschmutzen; den Hals haben wir in Ketten gelegt und von den Handschellen der Sünde werden wir als Beute gebunden».
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Die in schier endloser Monotonie wiederholten, erbitterten Auslassungen Salvians von Marseille stellen schließlich den Kulminationspunkt dieser Art von Zeitkritik dar: «Alle aber, von denen wir reden, sind entweder Vandalen oder Goten; doch über die Häretiker unter den Römern, deren Menge zahllos ist, sprechen wir nicht!» Aussagen wie diese sind immerhin geprägt von dem Grundgedanken, durch eine rechtzeitige Umkehr im Diesseits eine Verbesserung der aktuellen Situation zu erreichen. Andere waren da weniger optimistisch. Orientius, Bischof von Auch (Gascogne), verbindet in seinem Commonitorium (Mahnruf) Gegenwartskritik mit tristen Endzeitgedanken: «Erschöpft blickt alles auf das greisenhafte Ende, und schon läuft am letzten Tag die Zeit ab. Sieh doch, wie rasch der Tod die ganze Welt in seine Gewalt gebracht und wie viele Völker die Wucht des Krieges niedergeschmettert hat. Nicht dichter Wald, nicht die Unzugänglichkeit hochragenden Gebirges, nicht mächtige Flüsse mit ihren reißenden Strudeln, nicht feste Kastelle, nicht durch Mauern gesicherte Städte, nicht das weglose Meer, nicht die Trostlosigkeit in der Einöde, nicht Höhlen und auch nicht Grotten mitten unter den Felsklippen waren imstande, die barbarischen Scharen auszumanövrieren». Es war vor allem der Chronist Hydatius, der vom entlegenen Aquae Flaviae (heute Chaves, Nordportugal) aus das Ende der Welt vor Augen sah: «Und da so die vier Plagen des Schwertes, des Hungers, der Krankheit und der wilden Tiere überall auf der ganzen Welt wüten, gehen die vom Herrn durch seine Propheten verkündigten Weissagungen in Erfüllung».122 Ganz gleich, ob gepaart mit Zeitkritik, Aufrufen zur Umkehr, Weltflucht oder konkreten Endzeiterwartungen – den meisten Mitlebenden blieb letztlich keine andere Wahl, als fassungslos auf das Geschehen zu blicken, das sich um sie herum vollzog. Mit Gallien, insbesondere dem bis dahin wohlhabenden Süden, war eine Kernprovinz des Reiches in den Strudel der Ereignisse gerissen worden. «Einige», so noch einmal Orientius, «lagen da herum als Fraß für Hunde; brennende Häuser gaben für viele, denen sie das Leben raubten, den Scheiterhaufen. In Dörfern, Häusern, auf dem Land und auf den Wegen, in allen Gauen und auf sämtlichen Straßen hierhin und dorthin: Tod, Schmerz, Untergang, Schmutz, Brände und Trauer. Ganz Gallien rauchte in einem einzigen Scheiterhaufen».123
KAPITEL VI
Pax abiit terris: Ein Jahrhundert der Bürgerkriege
6.1
Des Kaisers neue Kleider VI Ein Jahrhundert der Bürgerkriege 6.1 Des Kaisers neueKapitel Kleider
Seit dem 19. Jahrhundert hat eine Reihe von Gesetzen aus den turbulenten Jahren um 400 wiederholt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Während Stilicho sich 397 in Griechenland befand, um Alarichs Streifzüge einzuhegen, und der Konflikt mit dem comes Africae Gildo sich allmählich zuspitzte, schienen ganz andere Sorgen die Kaiser Arkadios und Honorius umzutreiben: Sie richteten «an das Volk» (ad populum) ein Verbot von Hosen (bracae) und geschlossenen Lederschuhen (tzangae), das innerhalb der Stadt Rom gelten und mit Vermögenskonfiskation und Verbannung sanktioniert werden sollte. Nur zwei Jahre später wurde diese Anordnung sogar wiederholt, dieses Mal in einem Gesetz an den Stadtpräfekten Flavianus, das erneut mit der Vertreibung aus der Urbs drohte. In der Forschung herrschte ein weitgehender Konsens darüber, dass diese Texte darauf zielten, einer allmählichen Übernahme barbarischer, ja ‹germanischer› Kleidungsgewohnheiten durch die römische Bevölkerung entgegenzuwirken. «In drei Gesetzen», so heißt es in einem prominenten jüngeren Handbuch zur Spätantike, «verbot Honorius germanische Tracht in Rom: Hosen, Pelze, lange Haare». Diese Deutung erschien umso plausibler, als sie sich auf Aussagen zeitgenössischer Autoren wie Claudian, Ammian, Synesios, Rutilius Namatianus und viele andere stützen konnte, die Barbaren mit ebendiesen Attributen in Verbindung brachten. Das allmähliche Einsickern barbarischer Elemente in den römischen Alltag habe, so mutmaßte man, entsprechende Moden hervorgebracht, die schließlich in konservativen Kreisen auf Kritik gestoßen seien und die Regierung zu gesetzlichen Maßnahmen veranlasst hätten, um die Würde der alten Reichshauptstadt zu bewahren – zumal in einer Phase, in der die Romidee zu grandioser Entfaltung
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gelangt sei. Dass die Kaiser sich mit derartigen Anweisungen ihrerseits in eine prominente Tradition eingereiht hätten, werde durch Parallelen aus den Zeiten des Augustus (31 v. Chr. – 14 n. Chr.) oder Hadrians (117–138) nahegelegt.1 Widerspruch wurde indes vor einigen Jahren von Vertretern der Archäologie formuliert: Mit dem plausibel belegbaren Hinweis darauf, dass Hosen und Lederschuhe bereits seit dem 3. Jahrhundert im Imperium Romanum durchaus verbreitet gewesen seien, ist Philipp von Rummel der These von einem Verbot barbarischer bzw. ‹germanischer› Kleidung entgegengetreten. Er konnte aufzeigen, dass insbesondere die tzangae, aber auch die langen Beinkleider viel eher im militärischen Kontext verortet werden müssen; sie stellten offenbar Elemente jener artifiziellen ‹Selbstbarbarisierung› des spätrömischen Heeres dar, die wir bereits an anderer Stelle diskutiert haben. Dass diese Kleidungsstücke nunmehr für Rom verboten wurden, interpretiert von Rummel vor dem Hintergrund des Bemühens, den militärischen und den zivilen Sektor strikt voneinander zu trennen und die Tiberstadt vor einem wachsenden Einfluss des Militärs zu schützen. Insofern sind die angeführten Kleidergesetze (in denen im Übrigen nirgends von barbari oder gar Germani o.ä. gesprochen wird) möglicherweise in einer Linie zu sehen mit einer Konstitution aus dem Jahr 382, in der Senatoren in Konstantinopel das Anlegen militärischer Kleidung verboten wurde, um die besondere Würde des Senats durch die althergebrachte toga zu symbolisieren, ferner mit einer weiteren Verordnung aus dem Jahr 397, in der den militärisch organisierten agentes in rebus (kaiserliche Sonderbeauftragte), den palatini (Angehörige der Zentraladministration) und anderen milites das Betreten Roms untersagt und dadurch der senatorisch-zivile Charakter des altehrwürdigen Reichszentrums hervorgehoben wurde.2 Schwieriger verhält es sich allerdings mit einem weiteren Gesetz, das im Codex Theodosianus unter demselben Titel gelistet wird und von den Interpreten daher als Fortführung der Bestimmungen der Jahre 397 und 399 gesehen wurde: Im Jahr 416 wiesen die Kaiser Honorius und Theodosios II. den römischen Stadtpräfekten Probianus an, Sorge dafür zu tragen, dass längere Haare (maiores crines) und Fellkleidung (indumenta pellium) aus dem Stadtbild eliminiert würden. Auch für diese Form des Auftretens lassen sich zunächst einmal hinreichend Zeugnisse beibringen, die eine Verortung im barbarischen Kontext nahelegen, so dass es für die ältere Forschung unproblematisch erschien, in der Konstitution eine direkte Fortsetzung der Kleidergesetze aus den 390er Jahren zu sehen. Von Rummel indes plädiert dafür, auch in diesem Fall eher «eine militärische Haarmode der Spätantike, die vielleicht einen barbarischen Ursprung hat», in Betracht zu ziehen und die Fellbekleidung somit ähnlich einzuordnen: «In diesem Fall wären Felle und lange Haare nicht abwertend als Merkmale eines barbarischen Äußeren
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anzusehen, sondern, vergleichbar mit der ebenfalls durchaus respektierten Militärtracht früherer Zeiten, als unpassend und unerwünscht intra urbem sacratissimam».3 Gegenüber einem barbarischen Kontext – sei es, dass entsprechende Zeugnisse nun lediglich ethnographische Topoi reflektieren oder tatsächlich in historische Lebenswelten verweisen – sowie gegenüber weiteren ‹Langhaar-Milieus› (z. B. Philosophen) nehmen sich die Belege für eine Verortung der üppigen Frisuren im Militär jedoch auffällig schmal aus, und auch die Fellbekleidung fand zwar diesseits und jenseits des Barbaricum Verbreitung, aber nichts davon verweist auf eine spezifische Fokussierung auf den militärischen Bereich, so dass von Rummel selbst einräumen muss, seine Ansiedelung der maiores crines und der indumenta pellium im soldatischen Zusammenhang bleibe «letztlich auch unsicher».4 Aber nicht nur diese Unsicherheiten sollten uns davor warnen, das Gesetz des Jahres 416 voreilig mit dem Verbot von Hosen und Lederschuhen aus den 390er Jahren zusammenzubringen: Gegenüber den weitgehend stabilen Jahren der frühen Stilicho-Zeit bewegen wir uns nunmehr in einem tiefgreifend veränderten historischen Zusammenhang. Ein unheilvolles Jahrzehnt lag hinter dem Weströmischen Reich, das zwischen 405 und 416 von einer schweren Verlegenheit in die nächste getrudelt war. Erinnern wir uns: Der Rheinübergang barbarischer Verbände 406 / 07 hatte zur beschriebenen Destabilisierung der Lage in großen Teilen Galliens und Spaniens geführt; Nordgallien und Britannien hatten sich aus dem Reichsverband gelöst; Italien ächzte unter den Folgen des Radagaisus-Einfalls 405 / 06 und der gotischen Plünderungen, die in der Eroberung Roms 410 kulminiert waren. Nach der Ermordung Stilichos 408 mussten mehrere chaotische Jahre vergehen, bis sich mit Constantius (III.) eine neue Führungsfigur etablieren konnte, die in der Lage war, den zentrifugalen Tendenzen wirksam entgegenzusteuern. Doch auch ein Hinweis innerhalb des Gesetzes von 416 selbst sollte aufhorchen lassen: Die Kaiser untersagten explizit auch Sklaven das Tragen langer Haare und Fellkleider; ein rein militärischer Kontext wird dadurch nahezu ausgeschlossen, denn Sklaven spielten in den Truppen keine signifikante Rolle. Welchem Zweck aber diente dann das dezidierte Vorgehen gegen diese spezifische Form des Auftretens?5 416 war das Jahr der Restauration: Constantius, der Bezwinger des Usurpators Konstantin (III.), hatte sich inzwischen als Nachfolger Stilichos und neuer starker Mann an der Seite des Kaisers fest etabliert. Ihn zierte der patricius-Titel, der die Nähe zum Herrn der Welt sichtbar zum Ausdruck brachte und den selbst Stilicho noch nicht geführt hatte. In jenem Jahr 416 war es Constantius sogar gelungen, zu einer formalen Übereinkunft mit den Goten zu gelangen, die unter Alarichs Nachfolger Athaulf 412 Italien Richtung Gallien verlassen hatten und seitdem
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dort einen beängstigenden Unruhefaktor darstellten. Honorius hatte das Restaurationswerk seines neuen Vorzeigegenerals mit der Verleihung des Konsulats 414 entlohnt und designierte ihn nun sogar zum zweiten Mal, für das Jahr 417, zum Konsul. Gleichzeitig hatte der Wiederaufbau der Stadt Rom sichtbare Fortschritte genommen, so dass der Kaiser nunmehr den Höhepunkt der Festlichkeiten einleiten konnte: Sein Rombesuch im Jahr 416 kulminierte in einem großartigen Triumph über den von Alarich eingesetzten Usurpator Priscus Attalus, der nicht hingerichtet, sondern lediglich öffentlich verstümmelt und exiliert wurde und damit letztlich zum Symbol der Milde und Senatsfreundlichkeit des Kaisers geriet. Die «Neugründung» (synoikismós) der Tiberstadt als Hort senatorischer Tradition unter dem Schirm des Kaisers war damit auch symbolisch abgeschlossen, die große Krise – so die unmissverständliche Botschaft an die Bevölkerung – überwunden. Selbst Galla Placidia, die Tochter des großen Theodosius I., von Alarich 410 aus Rom verschleppt und 414 in eine Ehe mit Athaulf gepresst, war Constantius inzwischen zurückerstattet worden und wartete nun mehr oder minder frohgesinnt darauf, den aufstrebenden Hoffnungsträger zu ehelichen, der sich damit noch enger an das Kaiserhaus binden konnte. Die Vermählung war für den 1. Januar 417, den Beginn seines zweiten Konsulats, geplant.6 In diese sorgfältig inszenierte Jubelstimmung fällt das Verbot der langen Haare und Fellkleider vom 12. Dezember 416. Hier ging es nicht um eine Aufwertung ziviler Würdenträger gegenüber den Militärs (deren prominentester Exponent Constantius ja selbst war). Anzunehmen ist eher, dass gezielt mit Assoziationen gespielt wurde, die man bis dahin recht vage vorwiegend mit einem barbarischen Kontext, insbesondere auch mit Goten, in Verbindung gebracht hatte: Goten, so wusste etwa der Philosoph und Geschichtsschreiber Eunapios zu berichten, äußerten ihre Anmaßung durch Schütteln ihrer langen Haare; Sidonius Apollinaris sollte später die Praxis der Goten belächeln, ihren Gefallenen die Häupter abzuschlagen, damit sie nicht mehr aufgrund der langen Haare als Goten zu erkennen seien; Prokop schließlich weiß in der Mitte des 6. Jahrhunderts von einem Berber, der einen Goten an den Haaren fortgeschleift haben soll. Unabhängig davon, welche tatsächlichen Bräuche sich hinter Äußerungen dieser Art verborgen haben mögen – in der römischen Vorstellungswelt verbanden sich lange Haare mit Barbaren, insbesondere mit Goten, und Ähnliches gilt für Fellkleider. Diese scheinen in den Diskursen jener Jahre sogar eine besondere Rolle gespielt zu haben: Rutilius Namatianus, Stadtpräfekt Roms 414, wirft Stilicho in seinem 417 entstandenen Gedicht vor, Rom an seine «felltragenden Spießgesellen» (satellites pelliti) verraten zu haben. Interessant ist, dass dies ausgerechnet in einem Kontext geschieht, in dem Constantius III. zum leuchtenden Gegenbild des angeblichen Verräters Stilicho aufgebaut wird. Die Profilierung des Constan-
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tius und des von ihm repräsentierten Restaurationswerks scheint also auch durch eine Abgrenzung von Stilicho und barbarischen Fellträgern erfolgt zu sein. In diesem Aspekt dürfte der Schlüssel zum Verständnis des Gesetzes liegen: In einer Zeit der Tumulte und der Orientierungslosigkeit versuchten Honorius und seine Administration, allen voran der tatkräftige Constantius, neue Ordnung zu stiften und klare Grenzen zu ziehen. Die Botschaft, dass die Jahre des Unheils nun endgültig vorüber seien, wurde durch emblematische Marker angereichert und damit plastischer ausgestaltet. Lange Haare und Felle, weithin assoziiert mit Barbaren, sollten für das Überwundene stehen, die Neugründung Roms und der anstehende Ehebund Galla Placidias und Constantius’ für die glückliche Gegenwart und glänzende Zukunftsperspektiven. Mit dem Verbot barbarischen Auftretens, das im Übrigen ausdrücklich nicht nur für die Stadt Rom selbst, sondern auch für die angrenzenden Regionen, also die zuvor von den Goten verheerten Landstriche galt, sollte ein beschämendes Kapitel römischer Geschichte endlich abgeschlossen werden.7 Die Frage, ob man sich Barbaren, insbesondere Goten, in jener Zeit tatsächlich als fellbehängte Langhaarzottel vorstellen muss, bleibt davon gänzlich unberührt. Im Kontext des Gesetzes von 416 fungieren diese Merkmale lediglich als Anknüpfungspunkte frei im Raum wabernder Assoziationen, die sich geduldig einer instrumentellen Nachethnisierung fügten. Und dies ist kein Einzelfall: Im 6. Jahrhundert etwa berichtet Prokop von jugendlichen Rowdies in Konstantinopel, die offenbar ebenfalls an ihrer Haarpracht kenntlich waren. Prokop freilich bezieht diese in klassizistischer Manier auf die längst nicht mehr existenten Massageten, die er wiederum mit den Hunnen identifiziert, was die Forschung als Anhaltspunkt genommen hat, um aus der Nachricht des Historiographen Rückschlüsse auf die angeblich von Hunnen bevorzugten Frisuren zu ziehen.8 Sinnbildlich steht das Gesetz aus dem Jahr 416 indes auch für die Komplexität der politischen Prozesse jener Phase – eine Komplexität, die durch den Umstand noch erhöht wird, dass wir nur sehr punktuellen Einblick in die Zusammenhänge gewinnen. Die Karriere des Constantius lässt sich in diesem Sinne als programmatisch lesen. Folgt man dem Urteil der antiken Überlieferung, so fassen wir in dem tatkräftigen General einen der letzten Verteidiger der Integrität des zerfallenden Imperium Romanum im Westen. Aufopferungsvoll und uneigennützig habe er den Kampf gegen Usurpatoren und Barbaren aufgenommen, und was er tat, «geschah […] mehr für das darbende Reich, als für seine eigene Person. […] Dass er die Leiden der bedrückten Untertanen mitempfand und ihre Lasten nach Kräften zu erleichtern suchte, beweist eine ganze Reihe von Gesetzen, die unter seinem Einfluss gegeben sind» – so resümierte im Jahr 1920 der kulturpessimistische Althistoriker Otto Seeck. Urteile dieser Art basieren auf antiken Zeugnis-
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sen, die namentlich auf die militärischen Leistungen des Constantius abheben. Vor allem aber seine Beurteilung durch Orosius erwies sich als wirkmächtig: «Damals endlich spürte das Gemeinwesen, welchen Nutzen es aus einem Feldherrn bezog, der endlich einmal Römer war, und welchen Schaden es bis dahin erlitten hatte, da es über lange Zeiten hin barbarischen Generälen unterworfen war». Damit war das Drehbuch für Constantius’ Rolle als heroischer Barbarenbekämpfer und Restaurator der alten Ordnung entworfen; alles Weitere fügte sich dieser Vorgabe: den gefährlichen Usurpator Konstantin niedergeworfen, die Westgoten zunächst eingehegt, dann vertraglich gebunden und schließlich friedlich angesiedelt; die Autorität der Regierung über die gallische Präfektur wiederhergestellt; die 410 entführte Kaiserschwester ausgelöst; als dreifacher Konsul (414, 417, 420), patricius (spätestens seit März 416) und Ehegatte der Befreiten in engstem Bündnis mit dem Kaiser agierend, der ihn im Jahr 421 zum Mitherrscher ernannte; durch eine unerwartete Krankheit am 2. September 421 jedoch aus dem Leben gerissen, wodurch das Weströmische Reich eine seiner letzten tragenden Säulen verlor.9 Doch Constantius besitzt zwei Biographien. Die andere, weniger vordergründig aus unseren Zeugnissen hervorquellende, aber mindestens ebenso plausibel rekonstruierbare, liest sich etwa so: Nach der Ermordung Stilichos nutzt ein ehemaliger Offizier des Theodosius I. die Gunst der Stunde, um sich in der Umgebung des Kaisers zu positionieren, indem er Stilichos ‹Nachfolger›, den zwielichtigen magister officiorum (Vorsteher der Palastverwaltung) Olympius, kurzerhand erschlägt. Im Konflikt zwischen Ravenna und dem Usurpator Konstantin III. ergreift er sodann die Initiative und ringt Letzteren glücklich in Arles nieder. Konkurrenten in den eigenen Reihen werden rücksichtslos kaltgestellt: Wulfila, gegen Konstantin noch Mitkommandant, verschwindet in der Bedeutungslosigkeit, der praefectus praetorio Galliarum Dardanus, gleichzeitig mit Constantius an der Wiederherstellung der Ordnung in Gallien arbeitend, wird in die von ihm begründete geistliche Gemeinschaft Theopolis (‹Gottesstadt›) abgedrängt, Heraclianus, der sich von Afrika aus dem Aufstieg des Constantius entgegenstellt, von dessen Feldherrn Marinus geschlagen und anschließend beseitigt. Die Finanzierung der Spiele anlässlich des Konsulatsantritts am 1. Januar 414 aus dem konfiszierten Vermögen des afrikanischen Rivalen symbolisiert eindrucksvoll die Durchsetzungskraft der neuen Lichtgestalt gegenüber Gegnern und Konkurrenten. Mit derselben Tatkraft tritt er Athaulfs Westgoten entgegen. Doch nicht für das Wohl des Gemeinwesens bekämpft er sie, sondern um einen Vertrag zu verhindern, der Athaulf – nach der Hochzeit mit Galla Placidia immerhin Schwager des Honorius – in die Position eines magister militum bringen könnte und somit zum Konkurrenten des mächtigen Generals vor dem Kaiser würde aufsteigen las-
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sen. Er setzt den unglücklichen Priscus Attalus, von den Goten längst aufgegeben, gefangen und zwingt diese nach Athaulfs Tod gar zur Auslieferung der Kaiserschwester – dies wiederum ermöglicht Honorius seinen Triumphzug in Rom und dem patricius Constantius eine noch engere Bindung an das Kaiserhaus durch Heirat der nun wieder verfügbaren Galla Placidia. Die Konsolidierungserfolge, die mit Constantius’ Politik einhergehen, sprechen für sich, so dass der Kaiser nach einigem Zögern bereit ist, die letzten Konsequenzen zu ziehen: Am 2. Februar 421 wird der General, dem Galla inzwischen einen Sohn geschenkt hat (den späteren Kaiser Valentinian III., geb. 419), zum Mitherrscher erhoben, seine Gattin erhält den Augusta-Titel. Constantius hat sein Ziel erreicht: Er ist Teil der herrscherlichen Familie, selbst einer der drei Kaiser im Imperium Romanum – und Honorius muss fürchten, an den Rand gedrängt zu werden. In Konstantinopel durchschaut man das Spiel freilich und erkennt Constantius’ Herrschaft nicht an. Einmal mehr plant dieser daher, Tatsachen für sich sprechen zu lassen, und rüstet zum Bürgerkrieg. Inmitten dieser Vorbereitungen rafft ihn eine Krankheit dahin.10 Das Dilemma ist offenkundig: zwei Lebensbilder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Da sich beide aus dem erhaltenen Material heraus begründen lassen, lohnt es nicht, über wahr oder falsch zu streiten. Wichtiger ist, welche Schlussfolgerungen wir aus diesem widersprüchlichen Befund ziehen können: Mit Beginn des 5. Jahrhunderts werden die politischen Prozesse und ihre Hintergründe zunehmend schwerer nachvollziehbar; innere Machtkämpfe und Bürgerkriege um Führungspositionen neben dem Kaiserthron und jenseits der Residenz erschütterten das Weströmische Reich, das spätestens seit 406 / 07 sichtbar von den Rändern her zernagt wurde und vom Zentrum her zu kochen begann. Das Phänomen der zunehmend unkontrollierbar agierenden warlords, unter die man auch zahlreiche namentlich nicht immer bekannte Landbesitzer und ihre allmählich anschwellenden ‹Privatarmeen› (buccellarii) wird rechnen müssen – man versuchte sie gesetzlich einzuhegen –, kristallisiert sich nunmehr als dominierendes Strukturelement spätrömischer politischer Interaktion heraus. Das daraus resultierende Bild erscheint nicht nur dem modernen Betrachter als Zustand wachsender Unordnung; auch Zeitgenossen dürften verwirrt auf eine Welt geblickt haben, die aus den Fugen zu geraten drohte. Sie reagierten auf diese Situation mit dem Bemühen, aus ihren tradierten Erfahrungs- und Wissensbeständen heraus die Ordnung zu stabilisieren bzw. eine neue, übersichtliche Ordnung zu stiften. Dies geschah vielfach durch eine besonders pointierte Hervorhebung der überkommenen Römer-Barbaren-Dichotomie, die es weiterhin ermöglichen sollte, jene klaren Grenzen zu ziehen, die faktisch schon längst nicht mehr existierten. Honorius’ Kleidergesetz aus dem Jahr 416 dürfte in diesen Kontext gehören, viel-
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Abb. 19 Sogenanntes Halberstadt-Diptychon (im Mittelalter wurden die Relieftafeln zu einem Bucheinband umgearbeitet)
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leicht auch das Konsuldiptychon aus dem Halberstädter Domschatz, das unter dem Konsul Constantius III. (417) gefesselte Barbaren in hockender Position zeigt; aber auch die verzweifelten und letztlich irreführenden Versuche des Orosius, Römer und Barbaren noch klar voneinander zu scheiden, lassen sich dazu zählen. Durch Bemühungen dieser Art wurde Komplexität im Alltag reduziert und Orientierung in Strukturen, die sich in bis dahin ungewohnter Weise ausdifferenzierten, ermöglicht – dies allerdings nur scheinbar: Denn längst waren Barbaren ein integraler Bestandteil der römischen Lebenswelt geworden, sei es als Individuen oder als Gruppen in wechselnden Konstellationen und Kompositionen. Entscheidend war vielmehr, welche Interessen ein Akteur oder Kollektiv verfolgte und mit welchen Mitteln deren Durchsetzung angegangen wurde. Wenn es dabei zu temporären Überlappungen zwischen Eigeninteressen und der (vermeintlichen!) Haltung der römischen Regierung kam, konnten Zeitgenossen und spätere Historiker leichter das Attribut ‹römisch› vergeben als in anderen Fällen, in denen man schnell mit dem Etikett ‹barbarisch› bei der Hand war. Doch ließen sich entsprechende Kennzeichnungen durchaus auch intentional oder gar instrumentell vergeben, denn der Handlungsrahmen gestaltete sich zunehmend diffus.
Des Kaisers neue Kleider 6.1
Die Bezeichnung des in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in Nordgallien agierenden warlord Syagrius im Geschichtswerk Gregors von Tours – um nur ein Beispiel zu nennen – bringt diesen Sachverhalt anschaulich zum Ausdruck: Wenn Gregor den traditionell für barbarische Herrscher reservierten Titel rex auf einen ‹Römer› bezieht und vom Romanorum rex spricht, so spielt er offenbar gezielt mit ethnischen Markern, die wiederum ihre spezifische Bedeutung erst innerhalb der Debatten seiner eigenen Zeit, des späten 6. Jahrhunderts, entfalteten. Dies wiederum schließt allerdings nicht aus, dass bereits Syagrius selbst diesen Titel geführt haben könnte.11 Constantius III. jedenfalls dürfte kaum als ‹Römer› den Kampf gegen ‹Barbaren› aufgenommen haben, sondern er war in erster Linie um sein persönliches Fortkommen bemüht – was in dieser Phase bedeutete: Anbindung an das Kaiserhaus. Wenn er dabei auch für das «darbende Reich» kämpfte, so dürfte dies vor allem aus dem Eigeninteresse heraus geschehen sein, jene Strukturen zu erhalten, innerhalb derer sich der eigene Machtgewinn am sichersten realisieren ließ. Das mühsame Heraustreten der Akteure aus diesen spätrömischen Strukturen – ein Prozess, der selbst im fortgeschrittenen Mittelalter noch nicht vollständig abgeschlossen war – stellt im lateinischen Westen eines der Hauptmerkmale der sogenannten Völkerwanderungszeit dar. Dieses Ringen um die Realisierung von Eigeninteressen korrespondiert mit der Partikularisierung des (west-)römischen Herrschaftsbereichs im 5. Jahrhundert, bei der bereits vorhandene Regionalisierungstendenzen mit destabilisierenden Barbarenüberfällen einhergingen. Je weiter sich einzelne Regionen der Kontrolle der kaiserlichen Administration entzogen, desto schneller verwandelten sie sich in Handlungsfelder für Kriegsherrn und Gewaltunternehmer. Der Umstand, dass jene Kaiser, die in den dafür entscheidenden Phasen herrschten – also Gratian, Valentinian II., Honorius und Valentinian III. –, aus unterschiedlichen Gründen (zunächst vor allem wegen ihres jugendlichen Alters) nicht in der Lage waren, die militärische Machtausübung strikt auf ihre Person zu zentrieren und damit die Emanzipation der ‹Heermeister› als militärischer Gestalter imperialer Politik mitansehen mussten, trug erheblich zur Komplexität der Situation bei: Denn letztlich handelte es sich bei diesen mächtigen Generälen um ebensolche warlords, wie sie nun in verstärktem Maße in einzelnen Regionen des zerfallenden Reiches auftraten; von ihren ‹Kollegen› in Nordgallien und andernorts unterschieden sie sich lediglich darin, dass die römischen Ämter und Titel, mit denen man sich ohnehin überall schmückte, durch den Aspekt der Kaisernähe eine besondere Aufladung erfuhren (z. B. in Gestalt des patricius-Titels) und daher eine höhere Legitimität ausstrahlen sollten. Letzteres funktionierte indes nur so lange, wie der durch den Kaiser repräsentierte imperiale Handlungsrahmen in dieser
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Hinsicht Anerkennung fand; bereits Constantius III. soll aber, nachdem er endlich den Augustus-Titel erhalten hatte, die mit der neugewonnenen Position verbundenen Einschränkungen beklagt haben, und in gleicher Weise bemitleidete Sidonius Apollinaris das Schicksal des späteren Kaisers Petronius Maximus (455). Die Entlassung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus im Jahr 476 durch den Truppenführer Odoaker lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Eingeständnis der Tatsache lesen, dass der Kaiser sein legitimatorisches Potential für die faktische Herrschaft eines warlord endgültig verloren hatte. Die Zäsur hatte sich angedeutet: Bereits der Kaisermacher und patricius Gundobad, einer der letzten in der Reihe der spätrömischen ‹Heermeister› neben dem Kaiserthron, hatte es im Jahr 474 vorgezogen, sich aus Italien nach Gallien zu begeben, um dort als Burgunderkönig zu herrschen; die Position neben einem Marionettenkaiser besaß keine hinreichende Attraktivität mehr für ihn. Das waren die Voraussetzungen, unter denen auch ein Romanorum rex wie Syagrius agieren konnte.12 Nach dem Tod Constantius’ III. im Jahr 421 war es freilich noch nicht so weit. Allerdings zeichnet sich nunmehr bereits, beschleunigt durch den Tod des Honorius 423, eine zunehmende Instabilität der Lage ab, denn die territorialen Einbußen des Reiches durch Barbareneinfälle und der fortschreitende Kontrollverlust verringerten Steueraufkommen und Rekrutierungspotentiale für das Militär. Die Ressourcen wurden knapper, während das Kaisertum an Autorität verlor. Dadurch verschärfte sich der Konkurrenzkampf der ambitionierten Generäle. Nicht nur aus diesem Grund hat man die Geschichte des 5. Jahrhunderts als nahezu kontinuierliche Kette von Bürgerkriegen gelesen, in die naturgemäß auch barbarische Heerführer involviert waren, denn sie verfügten häufig über größere Armeen und verfolgten auch eigene Interessen innerhalb des Imperium. Strikte Trennlinien zwischen einem ‹römischen› Innen und dem ‹barbarischen› Außen lassen sich (im Westen) nun definitiv nicht mehr ziehen – ja man kann sogar pointiert behaupten, dass die meisten Bürgerkriege jener Zeit sich innerhalb einer weitverzweigten aristokratischen Großfamilie abspielten, in welche selbstverständlich auch die Barbarenführer (mit Ausnahme der Hunnen) einheirateten. Aus der Perspektive dieses Bürgerkriegsgeschehens und einer damit einhergehenden Unfähigkeit, überkommene Strukturen zu reformieren, wurde daher die bereits erwähnte These entwickelt, das Römische Reich sei keineswegs in den Wirren einer ‹Völkerwanderung› untergegangen, sondern habe schlicht Selbstmord begangen. Erst dann sei es zu einer ‹Barbarisierung› Europas gekommen. Der Fall Roms gewissermaßen als Voraussetzung der ‹Völkerwanderung›, nicht als deren Folge!13 Das durch den Tod des Constantius hinterlassene Machtvakuum an der Seite
Der «letzte Römer» und die Hunnen 6.2
des Kaisers versuchte, wie bereits an anderer Stelle angedeutet, im Konflikt mit Galla Placidia und ihrem Verbündeten Bonifatius zunächst der magister militum Castinus auszufüllen. Er kompromittierte sich allerdings durch die Duldung oder gar Unterstützung des Usurpators Johannes. Letzterer, ein hoher Amtsträger aus der kaiserlichen Zivilverwaltung, hatte am 20. November 423 den weströmischen Kaiserthron bestiegen, da Konstantinopel seit dem Tod des Honorius am 15. August desselben Jahres keine Anstalten unternommen hatte, der Vakanz abzuhelfen. Erst nach dieser Usurpation reagierte man am Bosporus und vertrieb den Prätendenten mit Hilfe einer Interventionsarmee, um Galla Placidias Sohn, den sechsjährigen Valentinian (III.), einzusetzen und damit die Kaiserherrschaft innerhalb des theodosianischen Hauses zu halten. Das jedoch führte dazu, dass ein anderer junger Mann, der gehofft hatte, seinen Gewinn aus der labilen Situation zu ziehen, sich gehörig die Finger verbrannte: Es handelt sich um den späteren ‹Heermeister› Flavius Aetius, dem wir uns nunmehr zuwenden müssen.14
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Der «letzte Römer» und die Hunnen
6.2.1 Die Hunnen zwischen Uldin und Ruga 6.2 Der «letzte Römer» und die Hunnen
Aetius hatte in jungen Jahren längere Zeit als Geisel bei den Hunnen verbracht, um die Einhaltung römisch-hunnischer Verträge zu gewährleisten, und besaß dementsprechend gute Kontakte zu den Reiterkriegern – sie sollten ihm später noch mehrfach von Nutzen sein. In der unübersichtlichen Bürgerkriegssituation des Jahres 425 setzte er indes zunächst auf Johannes und organisierte in dessen Auftrag eine ansehnliche, angeblich 60 000 Mann umfassende hunnische Söldnerarmee, die dem Usurpator den Thron erhalten sollte. Allein, er kam drei Tage zu spät. Denn als er mit den Verstärkungen in Italien eintraf, hatten oströmische Truppen soeben Ravenna besetzt, Johannes exekutiert und kontrollierten nun die Apenninhalbinsel. Ein unentschiedenes Gefecht zwischen seinen Hunnen und der oströmischen Armee unter Aspar rettete Aetius zumindest das Leben, ja er konnte auf diesem Wege sogar eine Amnestie und einen hohen Rang in der Militärhierarchie erzwingen – freilich gegen die Zusage, die beutegierigen und gefährlichen Hunnen mit Gold auszuzahlen und umgehend zurückzuschicken.15 Das war sicherlich weniger, als sich der ehrgeizige Militär zunächst hatte erhof-
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fen dürfen. Denn die geringen Informationen, die wir über seine Herkunft besitzen, weisen darauf hin, dass seine Ausgangsposition durchaus komfortabel war. Aetius wurde in Durostorum (heute Silistra, Nordostbulgarien), einem Truppenstandort an der Donau, geboren. Sein Vater Gaudentius stammte aus der Grenzprovinz Scythia am Donaudelta und gehörte, verheiratet mit einer wohlhabenden Italikerin, der militärischen Elite des Reiches an. Wahrscheinlich hatte er im Jahr 394 Kaiser Theodosius I. auf dessen Feldzug gegen Eugenius begleitet, nach dem Gildo-Aufstand war er mit der heiklen Mission betraut worden, als comes Africae die abtrünnige Diözese (den mehrere Provinzen umfassenden Verwaltungsbezirk) neu zu organisieren. Gemeinsam mit Jovius, der nach der Ermordung Stilichos kurzfristig eine wichtige Rolle spielte, war er in Nordafrika gegen pagane Kulte vorgegangen und hatte schließlich ein hohes Feldherrnamt in Gallien bekleidet, wo er zu einem unbekannten Zeitpunkt vor 425 umkam. Sämtliche Indizien deuten jedenfalls darauf hin, dass Gaudentius und sein Sohn Aetius das Vertrauen des weströmischen Kaiserhofes genossen und entsprechend gut vernetzt waren – und dies gleichermaßen vor und nach der Ermordung Stilichos. In dieses Bild passt der Umstand, dass Aetius mit der Tochter des comes domesticorum (Kommandant der kaiserlichen Leibwache) Carpilio eine gute Partie machte. Dann aber verschwindet er bis 425 aus der Überlieferung – und zählt nach seiner Rückkehr auf die politische Bühne plötzlich zu den Gegnern des theodosianischen Kaiserhauses. Über die Gründe für diesen Positionswechsel ist viel spekuliert worden – angesichts fehlender Quellengrundlagen ein müßiges Unterfangen. Grundsätzlich wird man allerdings davon ausgehen müssen, dass in der zunehmend fragmentierten politischen Landschaft des 5. Jahrhunderts aristokratische Bündnisse fragiler, zielgerichteter und damit kurzfristiger wurden; mit den verfügbaren Ressourcen im langsam kollabierenden Hesperium Imperium (Westreich) verringerte sich auch die Halbwertzeit politischer Loyalitäten – ein Phänomen, das eine Kette von Bürgerkriegen generierte, dadurch seinerseits an Dynamik gewann und nach dem Ende des Kaisertums im Westen (476) auch den Osten erreichen und massiv erschüttern sollte. Mit Beginn des 5. Jahrhunderts zeichnen sich jedenfalls charakteristische Handlungsmuster hochrangiger Militärführer ab: «Im Vordergrund des Handelns stand immer die Klärung der internen Machtfrage, unabhängig davon, ob diese Priorität dem Gesamtnutzen des Reiches förderlich war oder nicht. Reelle Einbußen des anscheinend prinzipiell für unzerstörbar gehaltenen Reiches wurden bewußt in Kauf genommen».16 Nicht nur vor diesem Hintergrund war Aetius mit der Entlassung der Hunnen ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko eingegangen, denn nunmehr war er möglichen Attacken seiner Rivalen nahezu ungeschützt ausgesetzt; wollte er sich im Kreis der ambitionierten Generäle behaupten, so musste er sich eine neue Basis
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verschaffen. Dass die vorerst von Konstantinopel aus kontrollierte neue Regierung unter Valentinian III. ihn sogleich als comes rei militaris nach Gallien abschob (so wie der unruhige Bonifatius als comes domesticorum auf Afrika beschränkt wurde), dürfte ihm daher nicht unwillkommen gewesen sein.17 Woher aber kamen die von Aetius rekrutierten Hunnen? Jede mögliche Antwort auf diese Frage muss spekulativ bleiben, da wir den exakten Verlauf des OstWest-Drifts hunnischer Gruppen im ersten Viertel des 5. Jahrhunderts nicht nachzeichnen können und dementsprechend große Spielräume für Mutmaßungen und unsichere Kalkulationen bestehen. Sicher ist jedoch, dass hunnische Verbände seit etwa 400 westlich des Schwarzmeerraumes im Gebiet der unteren Donau präsent waren. Dies belegen die Aktivitäten Uldins, der im Winter 404 / 05 und dann noch einmal 408 die oströmischen Balkanprovinzen zu plündern vermochte und im Jahr 405 / 06 keine Schwierigkeiten hatte, Stilicho in Italien gegen Radagaisus zu unterstützen. Wie bereits angedeutet, scheint sein Untergang 408 zunächst ein Machtvakuum im Barbaricum hinterlassen zu haben: Der römische Feldherr Generidus konnte jedenfalls recht unbehelligt an der mittleren Donau, zwischen dem heutigen Süddeutschland und Kroatien, agieren, und Honorius gelang es 409, im Ringen mit Alarich seine Streitkräfte um angeblich 10 000 Hunnen, die frei verfügbar waren, zu verstärken. All dies bedeutet indes keineswegs, dass mit Uldins Ende ein übergreifendes ‹Hunnenreich› zusammengebrochen sein muss; ebenso wenig wird sein Scheitern zu einer signifikanten Verringerung hunnischer Präsenz nördlich der unteren und eventuell auch der mittleren Donau geführt haben. Auch Uldin vermochte stets nur einzelne Teilverbände, aber sicherlich nicht alle Hunnen zu kontrollieren, und nach seiner Niederringung dürften andere Herrscher mit jeweils begrenztem Operationsradius an seine Stelle getreten sein. Sie sind für uns großenteils nicht greifbar. Umso wertvoller ist ein kurzes Fragment aus dem Geschichtswerk Olympiodors, das uns allerdings nur in Form einer sehr gerafften Zusammenfassung des Photios aus dem 9. Jahrhundert vorliegt.18 Berichtet wird darin, dass der umtriebige, in mannigfaltigen diplomatischen Missionen aktive Historiograph sich gemeinsam mit seinem gelehrigen Papagei, der stets in seiner Begleitung anzutreffen war, auf eine gefährliche Seereise (die er dann auch literarisch entsprechend ausgearbeitet hat: ἐκτραγῳδεῖ) zu den Hunnen und zu einem Donatus begeben habe. Dieser sei mit einem Eid getäuscht und hinterrücks ermordet worden, woraufhin Charaton, «der Erste unter den Königen» (ὁ τῶν ῥηγῶν πρῶτος), in Zorn geraten sei und nur durch «kaiserliche Geschenke» (βασιλικοῖς δώροις) wieder habe besänftigt werden können. Die Episode, die in die Jahre 412 /13 gehört, stellte offenbar einen Höhepunkt innerhalb des Geschichtswerks dar, denn Olympiodor beschloss damit das 10. Buch. Sie
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bleibt indes erratisch und weitgehend rätselhaft. Vor allem über die Identität des Donatus wurde spekuliert: Sein römischer Name nährte die Vermutung, er sei von den Römern zu den Hunnen übergelaufen und habe bei diesen zuletzt eine hochrangige Position bekleidet, doch dies ist keineswegs zwingend. Vielleicht war Donatus ebenso wie Charaton ein hunnischer rex. Immerhin zeigt sich an Olympiodors Bericht, dass die Hunnen zu Beginn des 5. Jahrhunderts weiterhin keine einheitliche Größe bildeten. Sie folgten verschiedenen ‹Königen› (reges), unter denen Charaton eine Zeitlang als herausragend gegolten haben muss. Der Kontext der Mission Olympiodors und die Umstände der Ermordung des Donatus bleiben hingegen ebenso im Dunkeln wie der Ort, an dem sich die Geschehnisse zutrugen. Geht man davon aus, dass das von Olympiodor durchquerte Meer die Adria war – wofür einiges spricht –, dann ließe sich das Wirkungsfeld der Charaton-Hunnen im mittleren Donauraum verorten. Dort vermochten sie offenbar beträchtlichen Druck zu entwickeln, dem die römische Seite mit «kaiserlichen Geschenken» beikommen musste.19 Ab den 420er Jahren ist hunnische Präsenz zwischen der Ungarischen Tiefebene und dem Karpatenbogen allerdings unübersehbar, und sie strahlte von dort in verschiedene Richtungen aus. Die Tatsache, dass in den 440er Jahren bereits hunnische Königsgräber in dieser Region bezeugt sind (in der Nähe des Ortes Margus, heute Dubravica in Serbien), verweist mit besonderer Deutlichkeit auf den Westdrift des hunnischen Gravitationszentrums. Mit Ruga, dem rex Chunorum, tritt uns in dieser Phase wieder ein machtvoller Herrscher entgegen, der sich etwas konkreter fassen lässt. Es dürften die unter seinem Kommando stehenden Hunnenverbände gewesen sein, die im Jahr 422 Thrakien überfielen und sich zu einer ernsthaften Bedrohung für Konstantinopel auswuchsen. Die Ereignisse, die der Chronist Marcellinus Comes ein Jahrhundert später recht lakonisch in die Worte «die Hunnen verwüsteten Thrakien» (Hunni Thraciam vastaverunt) komprimiert, scheinen erhebliche Erschütterungen ausgelöst zu haben. Offenbar nutzten die Hunnen einen römischen Truppenabzug aus, der angesichts einer drohenden Auseinandersetzung mit den Persern erfolgt war, und stießen direkt in die nunmehr verwundbaren Regionen Thrakien und Makedonien vor. Die Überlieferung zu diesen Ereignissen ist schwer zu deuten, nicht zuletzt deshalb, weil es zu Verwechslungen mit einem späteren Hunneneinfall im Jahr 434 kam. Die oströmische Regierung jedenfalls forcierte die Waffenstillstandsverhandlungen mit den Persern und sandte eilig Truppen zurück nach Thrakien, nachdem man zuvor versucht hatte, die entstandenen Lücken durch die Ansiedlung von Goten zu schließen. Die Situation scheint indes derart brenzlig gewesen zu sein, dass die Besitzer der Grundstücke, auf denen die Theodosianischen Landmauern zum Schutz der Hauptstadt errichtet worden waren, jetzt gesetzlich dazu ver-
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pflichtet wurden, Einquartierungen von Soldaten zu akzeptieren. Letztendlich konnte die Bedrohung von der Hauptstadt abgewendet werden, doch musste sich die römische Seite vertraglich dazu bereit erklären, den Hunnen fortan jährlich 350 Goldpfund zu entrichten. Das Abkommen handelte der einflussreiche oströmische magister militum Plinthas aus, der – wie vage Indizien nahelegen – versucht haben könnte, die offiziellen Kontakte zu den Hunnen für sich zu monopolisieren; auch Vertragsverhandlungen boten im spätrömischen Reich Gelegenheiten, individuelle Handlungsräume zu erweitern. Für das Hinterland von Konstantinopel jedenfalls war nun eine Phase heftigster und hochgefährlicher Auseinandersetzungen eröffnet, die sich letztlich über das gesamte 5. Jahrhundert hinziehen sollten.20 Ruga versuchte augenscheinlich recht offensiv auf die politischen Entwicklungen im Ost- und Weströmischen Reich einzuwirken, um möglichst hohe materielle Gewinne abzuschöpfen, die sein eigenes Prestige innerhalb der Hunnenkonföderation stärkten und diese gleichzeitig weiter anwachsen ließen. Es waren offenbar seine Krieger, mit denen Aetius im Jahr 425 in den weströmischen Bürgerkrieg eingriff, und Ruga dürfte sich nicht nur die Bereitstellung dieser Truppen reichlich entlohnen lassen haben, sondern auch ihren Abzug (s. o.). Die in den Quellen immer wieder beschworene «Freundschaft» zwischen Aetius und den Hunnen, die auch in der modernen Forschung wiederholt bemüht wurde, um politische Entscheidungen zu interpretieren oder gar moralisch zu bewerten, darf hingegen getrost in das Reich der Fantasie verwiesen werden. Richtig ist, dass Aetius aus seiner Geiselhaft bei den Hunnen über hervorragende Kontakte verfügte, die er in kritischen Situationen einbringen konnte. Aber diese Kontakte und eine intime Kenntnis der inneren Struktur hunnischer Verbände bedeuteten den einzigen Vorsprung, den er gegenüber seinen Konkurrenten besaß; auch er musste selbstverständlich jeden ‹Gefallen›, den die Hunnen ihm erwiesen, goldwert bezahlen und war dementsprechend stets darum bemüht, hinreichend Ressourcen zu erschließen, um sich das Wohlwollen seiner ‹Freunde› zu erhalten. Letztlich stellten die Hunnen für ihn nicht mehr dar als ein schier unerschöpfliches Reservoir erfahrener Krieger, das sich situativ einsetzen ließ. Mit der Anwerbung eines hunnischen Söldnerheeres hatte er immerhin in aller Deutlichkeit demonstriert, dass sich inzwischen in unmittelbarer Nähe Italiens und Konstantinopels ein gefährliches, schwer kontrollierbares militärisches Potential versammelt hatte. Möglicherweise steht die Einsicht, an dieser prekären geostrategischen Lage etwas ändern zu müssen, hinter einer rätselhaften Nachricht des Marcellinus Comes, wonach die Römer im Jahr 427 die seit 50 Jahren von den Hunnen gehaltenen pannonischen Provinzen wieder unter ihre Kontrolle gebracht hätten. An dieser Notiz ist so gut wie alles umstritten: So wissen wir weder sicher, ob die
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Initiative zu dieser Rückeroberung von Ost- oder von Westrom ausging, noch können wir sagen, um welche Regionen es konkret ging und was hinter der Behauptung steckt, die Hunnen hätten diese seit 50 (!) Jahren besessen (dies würde in die Jahre des großen terwingisch-greutungischen Donauübergangs führen). Offenbar scheint es 427 zu einem römischen Sieg über hunnische Verbände in Pannonien gekommen zu sein, der in besonderer Weise gegenüber der Bevölkerung zelebriert worden sein könnte. Ob dabei jene hunnischen Gruppen, die sich unter Rugas Herrschaft befanden, größere Beeinträchtigungen erlitten, ist allerdings unklar. Von etwaigen Vergeltungsmaßnahmen Rugas hören wir jedenfalls nichts. Ohnehin dürfte aber ein machtvoller Hunnenführer, der traditionellerweise eher Personen denn Territorien als Objekte seiner Herrschaft betrachtete, kaum Notiz davon genommen haben, wenn römische Autoritäten bestimmte Gebiete für sich deklarierten.21 Wenngleich Ruga in den 420er Jahren sicherlich die zentrale Figur im mittleren Donauraum war, so gebot auch er keineswegs über alle Hunnen. So berichtet etwa der Historiograph Priskos von den hunnischen Akatziren ausdrücklich, sie hätten zahlreichen Herrschern (πολλῶν ἀρχόντων) unterstanden, «je nach Stämmen und Familienverbänden» (κατὰ φῦλα καὶ γένη) – und dies sogar noch zur Zeit Attilas. Es blieb also weiterhin dabei, dass mehrere ‹Könige› untereinander konkurrierten oder nebeneinander existierten, mitunter vielleicht in gegenseitiger Absprache. Letzteres wäre im Fall Rugas vorstellbar, denn wir wissen, dass sein Bruder Oktar ebenfalls über einen eigenen Hunnenverband geherrscht haben muss. Oktars Hunnen scheinen sich weiter westlich als diejenigen Rugas bewegt zu haben. Der Kirchenhistoriker Sokrates überliefert eine ebenso erbauliche wie erratische Geschichte über Auseinandersetzungen zwischen rechtsrheinischen Burgundern und den Verbänden Oktars (der bei Sokrates Uptar heißt). Die Episode dient dem Autor als Hintergrund für die angebliche kollektive Christianisierung der Burgunder, die ihrerseits nicht unproblematisch ist und zahlreiche Fragen aufwirft. Demzufolge hätten die Burgunder, ein Verband friedliebender Handwerker (τέκτονες / téktones), so schwer unter permanenten hunnischen Überfällen gelitten, dass sie göttlichen Schutz gesucht und sich an einen gallischen Bischof gewandt hätten, um die christliche Taufe zu empfangen. Als Christen hätten sie sodann frischen Mut gefasst und sich den hunnischen Aggressoren mutig entgegengestellt – und dies mit Erfolg: Nachdem der Hunnenherrscher Uptar / Oktar sich bei einem abendlichen Festmahl überfressen habe und geplatzt sei, hätten die Burgunder die führerlose Hunnenschar angegriffen und vernichtet.22 Einzig Sokrates überliefert diese Geschichte, die in der Forschung als Ansammlung «traditionelle[r] Wundermotive» und «Absurditäten» disqualifiziert
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worden ist. Weder die rechtsrheinische Lokalisierung der Burgunder noch ihre kollektive Kennzeichnung als friedvolle Handwerker noch die Massentaufe vermochten Historiker bislang zu überzeugen, und auch die interessante Todesart Oktars / Uptars wirkt wenig vertrauenerweckend. Dennoch dürfte die merkwürdige Episode, die um das Jahr 430 anzusiedeln ist, nicht nur die Tatsache spiegeln, dass die Hunnen weiterhin unter verschiedenen Anführern agierten; sie deutet auch an, welchen Aktionsradius hunnische Übergriffe in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bereits erreichten.23 Während Oktar unter ungeklärten Umständen zerplatzte, tobte in Italien einmal mehr ein mörderischer Bürgerkrieg zwischen den mächtigen Generälen neben dem Kaiserthron. Der magister militum Flavius Felix, der offenbar nach der Installierung Valentinians III. von oströmischer Seite eingesetzt worden war, um das Regime des Knaben militärisch abzusichern und im Fahrwasser Konstantinopels zu halten, hatte 427 /28 eine Interventionsarmee nach Nordafrika entsandt (die auch hunnische Kontingente umfasste), um sich seines Rivalen Bonifatius zu entledigen – und war gescheitert. Bonifatius musste als comes Africae bestätigt werden und Felix’ Position geriet dadurch in eine gefährliche Schieflage, die er nicht mehr aufzufangen vermochte. Im Jahr 430 fiel er in Ravenna einem Attentat zum Opfer, hinter dem offenbar Aetius steckte, der behauptete, seinerseits lediglich einem Mordanschlag durch Felix zuvorgekommen zu sein.24 Aetius hatte für seine neue Offensive in Richtung der höchsten ‹Heermeister›Stelle einen wohlbedachten Moment gewählt: Nicht nur, dass Felix sich nach dem Scheitern des Afrika-Unternehmens in einer labilen Situation befand; Aetius selbst hatte seinen Aufenthalt in Gallien konsequent dazu genutzt, sich eine neue Machtbasis mit hinreichend materiellen und immateriellen Ressourcen zu erarbeiten, um sich im entscheidenden Moment aus der Deckung wagen zu können. Er hatte 428 in erfolgreichen Kämpfen gegen Franken die römische Rheingrenze restituiert und damit eine Leistung vollbracht, die den Kaiser geradezu nötigte, ihm nunmehr die Würde eines magister equitum per Gallias zu verleihen. Nur der patricius-Titel hob Felix jetzt noch gegenüber Aetius heraus, und dieser bewies weiter unbändige Tatkraft: Im Winter 429 /30 fing er einen westgotischen Angriff auf Arles ab und nahm Anaolsus, den Anführer der gotischen Streifschar, gefangen. Eingefallene Juthungen wurden zurückgeschlagen, und in Noricum – also außerhalb seines engeren Zuständigkeitsbereichs – kämpfte der Feldherr ebenfalls gegen Barbaren, auch im Folgejahr. Während Aetius sich so als erfolgreicher Truppenführer präsentierte und eine grundlegende Neuordnung Galliens in Angriff nahm, die auch eine allmähliche Aussöhnung mit den seit den Zeiten Konstantins III. und des Jovinus (411–413) verbitterten gallischen Aristokraten umfasste, wurde Felix zunehmend in die Enge getrieben. Vollends verlor er seine
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Handlungsfähigkeit, als 429 die Vandalen in Afrika eindrangen und die militärischen Ressourcen des Reiches zu binden drohten. In dieser Situation fiel er dem Attentat zum Opfer und ebnete damit Aetius den Weg zu höchsten Würden. Dieser bewies Umsicht und blieb zunächst, weiterhin militärische Meriten einsammelnd, im sicheren Gallien, während Bonifatius in Afrika allmählich die Kontrolle verlor. Dass Aetius nicht selbst gezwungen wurde, auf diesem kritischen Kriegsschauplatz einzugreifen, verdankte er der Ankunft eines oströmischen Entsatzheeres unter Aspars Führung, das den Verteidigungskrieg übernahm und so indirekt Aetius’ Position konsolidierte. Doch Aspars Kriegführung stockte. Im Jahr 432 wurden die römischen Kräfte Aspars und des Bonifatius sogar empfindlich von Geiserich geschlagen, ein langwieriger, wenig aussichtsreicher Stellungskrieg deutete sich an. Für Aetius, im Jahr 432 erstmals Konsul, wurde es damit allmählich ungemütlich, denn die Vandalen plünderten die ausgedehnten afrikanischen Güter italischer Senatoren, und die Bevölkerung Roms befürchtete eine Einstellung der Getreidelieferungen. Der Kaisermutter Galla Placidia, die sich durch den Tod des Felix zunehmend dem oströmischen Diktat zu entziehen vermochte, eröffneten sich dadurch unverhoffte Handlungsoptionen: Rasch berief sie ihren ehemaligen Verbündeten Bonifatius, der ihr schon während der Krise der Jahre 423–425 zur Seite gestanden hatte, aus Afrika zurück nach Ravenna, beförderte ihn zum höchsten Feldherrn (magister utriusque militiae), möglicherweise gar zum patricius, und setzte Aetius ab, der 425 gegen das theodosianische Kaiserhaus agiert hatte und in Ravenna aktuell offenbar keine durchsetzungsfähigen Fürsprecher besaß. Aetius selbst traf zu spät in Italien ein und konnte die radikale politische Neuordnung nicht mehr verhindern – wohl aber bekämpfen: Im Winter 432 /33 kam es bei Rimini zur Schlacht zwischen seinen Truppen und denen des Bonifatius. Dem frisch beförderten ‹Heermeister› gelang es, seinen Rivalen in die Flucht zu schlagen – aber der militärische Sieg blieb wertlos, denn Bonifatius erlag wenig später einer Verwundung, die er im Kampf empfangen hatte. Umgehend berief Galla Placidia seinen Schwiegersohn Sebastianus zum magister utriusque militiae – Aetius sollte nicht die geringste Möglichkeit erhalten, noch einmal zurückzukehren. Sebastianus ging sogleich ans Werk und versuchte Aetius zu beseitigen; der aber entkam dem Attentat, floh nach Rom und von dort aus über Dalmatien und Pannonien zu den Hunnen.25 Mit Rugas Unterstützung gelang Aetius noch 433 die Restitution: Wie bereits 425 zog er einmal mehr mit hunnischen Söldnern in Italien ein. Ein Hilferuf der weströmischen Regierung an die Westgoten verhallte ungehört, so dass Sebastianus nach Konstantinopel fliehen musste und Galla Placidia gezwungen war, sich den neuen Machtverhältnissen zu fügen: Aetius wurde zum magister utriusque militiae befördert und erhielt damit das umkämpfte ‹Heermeister›-Amt.
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Zudem ehelichte er Bonifatius’ Witwe Pelagia, wodurch er sich dessen Vermögen und politische Verbindungen (Klienten) aneignen konnte. Am 5. September 435 schließlich verlieh ihm Kaiser Valentinian III. den patricius-Titel. Zuvor war es in Afrika zu einem formellen Friedensschluss mit den Vandalen gekommen (11. Februar 435), der die Lage kurzfristig entspannte; Aspar war bereits Ende 434 nach Konstantinopel zurückgekehrt. Der vorläufige Waffenstillstand in Nordafrika konnte die trübe Gesamtsituation des Weströmischen Reiches indes nur unzureichend aufhellen. Die jahrelangen Bürgerkriege nach dem Tod des Honorius hatten tiefe Furchen hinterlassen. In Gallien breiteten sich Westgoten und Burgunder aus, marodierende Bagauden, alanische und fränkische Raubgruppen durchstreiften die Lande; auch Spanien ächzte unter Plünderungszügen unterschiedlicher Verbände aus Barbaren, Abenteurern, entlaufenen Sklaven und Deserteuren. Als besonders verheerend erwies sich jedoch das allmähliche Versiegen der Steuerquellen. Mit jedem Landstück, das der Kontrolle der Regierung entglitt, verringerte sich das Steueraufkommen, mit Folgen, die allmählich dramatische Ausmaße annahmen. Gleichzeitig begannen die Bewohner der von Unruhen und Kriegen heimgesuchten Regionen, ihre Situation grundsätzlich neu zu bewerten. Von Ravenna war kaum noch Hilfe zu erwarten, ein schleichender Prozess der Umorientierung hin zu neuen Potentaten und potentiellen Patronen nahm Gestalt an. In Gallien scheint Aetius sich mit einigem Erfolg in die Position eines solchen Kraftzentrums gebracht zu haben, ohne freilich seine Ambitionen in Richtung Ravenna aufzugeben. Während die mächtigen Generäle in ressourcenzehrenden Auseinandersetzungen um die prestigereiche Position neben dem Kaiser rangen, torkelte die lateinischsprachige Welt in traumwandlerischer Ahnungslosigkeit der poströmischen Phase entgegen.26 Ruga dürfte die turbulenten Geschehnisse im Weströmischen Reich aufmerksam beobachtet haben. Dass Aetius ihm seine abermalige Unterstützung durch Landabtretungen in Pannonien entlohnte, wie mitunter gemutmaßt wird, ist angesichts der Tatsache, dass Land für die Hunnen keinen allzu gewichtigen Faktor darstellte, eher zweifelhaft. Der Feldherr wird wohl eher mit blankem Gold bezahlt haben. Doch allein die Tatsache, dass einer der wichtigsten politischen Akteure nun bereits zum zweiten Mal um Hilfe bei Ruga nachsuchte und hunnische Söldner nach Italien führte, dürfte dessen Ansehen nochmals erhöht haben – so sehr, dass er sich unmittelbar darauf erneut forsche Töne gegenüber Konstantinopel leisten konnte. Einige hunnische Teilverbände hatten sich auf die römische Seite begeben, was Ruga zu scharfem Protest und demonstrativen Kriegsvorbereitungen veranlasste. Die Römer brachten eine Gesandtschaft auf den Weg, um die strittigen Fragen zu lösen, doch zu einem neuen Vertrag mit Ruga kam es nicht mehr. Der mächtige Hunnenherrscher fiel unerwartet einem Blitzschlag zum Opfer.27
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Die Bedrohung, die von Ruga ausging, scheint die Gemüter in Konstantinopel durchaus bewegt zu haben. Bereits in den 440er Jahren kursierten legendenhafte, endzeitlich aufgeladene Berichte über die Umstände seines Todes: Nicht nur, dass der Hunnenherrscher nach eifrigem Gebet des frommen Kaisers Theodosios II. von einem gottgesandten Blitz getroffen worden sein soll; auch seine Mannschaften seien im Anschluss daran durch eine Seuche und himmlisches Feuer hingerafft worden. Sokrates berichtet, Bischof Proklos von Konstantinopel (434–446) habe anlässlich der Ereignisse eine Predigt über Ezechiel 38,2; 22, einen Schlüsseltext der biblischen Apokalyptik, gehalten. Die Worte des Proklos sind leider nicht überliefert, doch ist offensichtlich, dass der Bischof die damals wohl schon geläufige Identifikation der Hunnen mit den apokalyptischen Völkern Gog und Magog bemüht und Ruga möglicherweise mit Rosch gleichgesetzt hat. Das Wirken des unbändigen Hunnenherrschers und sein spektakuläres Ende erhielten dadurch sogar eschatologische Qualität.28
6.2.2 Attila – Konflikt und Expansion
Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass die eigentliche «Geißel Gottes» eben erst damit beschäftigt war, ihre ersten spektakulären Auftritte auf der weltpolitischen Bühne vorzubereiten. Sein Heer soll 500 000 Mann umfasst haben. Ein Mann, zur Erschütterung der ‹Völker› in die Welt geboren, Furcht aller Länder, der, ich weiß nicht, durch welches Schicksal, alle in Schrecken versetzte durch den furchtbaren Ruf, der von ihm verbreitet war. Denn er schritt hochmütig umher, hierhin und dahin seine Augen rollend, damit die Macht des Stolzen auch in der Bewegung des Körpers sichtbar wurde. Er liebte die Kriege, mäßigte sich aber selbst und war überaus klug im Rat. Von demütig Bittenden ließ er sich erweichen, gnädig war er gegen die, die er einmal unter seine Befehlsgewalt aufgenommen hatte; von kleiner Gestalt, breiter Brust, ziemlich großem Kopf, winzigen Augen, schwachem Bartwuchs und grauem Haar, platter Nase, dunkler Hautfarbe – diese Zeichen seiner Abstammung trug er.
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Das waren die Worte, mit denen um 550 der Historiograph Jordanes versuchte, ein Bild des Hunnenherrschers Attila erstehen zu lassen – zu einer Zeit, da der Tod des machtvollen Kriegsherrn bereits ein ganzes Jahrhundert zurücklag und sich andere Brennpunkte in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit geschoben hatten. Und dennoch hatte der Schrecken, den Attila unter Zeitgenossen verbreitet haben muss, noch immer nichts von seiner Wirkung verloren. Das «Zeit-
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alter Attilas» (Attilana tempora) war weiterhin gegenwärtig und blieb mit den immer gleichen Assoziationen behaftet: Plünderung, Verschleppung, Mord und Zerstörung. Heute wissen wir, dass all die schauderhaften Vorstellungen, die sich seit Jahrhunderten mit dem bekanntesten Hunnenherrscher verbinden, nicht unbedingt daraus resultieren müssen, dass er tatsächlich ein «hinterlistiges, gieriges Schlitzohr» gewesen wäre, ein «Choleriker», getrieben von «Jähzorn» und «Goldgier», wie er erst kürzlich wieder charakterisiert worden ist. Anstatt antike Verdikte und Stereotypen wie diese fortzuschreiben, gesteht man heute zumeist ein, über den ‹wahren› Attila mangels belastbaren Materials keine sicheren Aussagen treffen zu können, und analysiert daher vor allem seine politischen Schachzüge und Finten im Kontext der strukturellen Rahmenbedingungen seiner von Reiternomaden dominierten Kriegerkoalition und ihrer Beziehungen zum Imperium Romanum. Auf die Tatsache, dass die ihrerseits ebenso heterogenen und nur lose miteinander verflochtenen hunnischen Gruppen die von ihnen unterworfenen und absorbierten Verbände (Ostgoten, Gepiden, Rugier, Skiren usw.) nur über militärische Erfolge, Beuteverteilungen und das kontinuierlich zunehmende militärische Prestige des Anführers zusammenzuhalten vermochten, haben wir bereits an anderer Stelle hingewiesen – ein Sachverhalt, der den auf dem Hunnenherrscher lastenden Druck, permanent weitere kriegerische Erfolge zu generieren, nicht nur konsequent aufrechterhielt, sondern sogar konstant steigerte, im Fall eines Misserfolgs ohnehin, aber gerade auch nach spektakulären Beutezügen und militärischen Siegen. Denn vor allem diese ließen die hunnische Konföderation zunehmend anschwellen und erzeugten Erwartungen und Ansprüche auf Seiten der Krieger, denen gerecht zu werden immer schwieriger wurde. Dies in etwa sind die ‹innenpolitischen› Koordinaten, innerhalb derer Attila sich bewegte. ‹Außenpolitisch› hatte er seinen Blick – abgesehen von diversen Barbarenverbänden, die er unter seine Kontrolle zu bringen versuchte – insbesondere auf die beiden Teile des Imperium Romanum gerichtet, zunächst auf den wohlhabenderen und strategisch näherliegenden Osten, seit Ende der 440er Jahre dann vor allem auf den Westen. Denn aus der Perspektive der Hunnen war das Römerreich in erster Linie eines: ein gigantisches Reservoir an materiellen und menschlichen Beutestücken, die nur darauf warteten, geraubt oder erpresst zu werden, um dadurch ihrerseits das Fortbestehen der expandierenden hunnischen Kriegerkoalition zu gewährleisten.29 Über die Anfänge Attilas wissen wir nichts. Sein Vater Mundzuk war ein Bruder Rugas, dieser also, ebenso wie Oktar / Uptar, Attilas Onkel; ein weiterer Bruder Rugas hieß Oebarsios und lebte zumindest noch im Jahr 449, als er bei einem Bankett Attilas den Ehrenplatz neben dem Herrscher einnahm. Offenbar war es also nach dem plötzlichen Tod Rugas 434 gelungen, die Herrschaft über den hun-
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nischen Kriegerverband innerhalb einer Familie zu halten – freilich nicht ohne jegliche Widerstände. Denn die neuen Anführer – Attila und sein älterer Bruder Bleda – beeilten sich, entgegen Rugas schroffen Kriegsdrohungen zunächst einen Vertrag mit den Römern abzuschließen (den sogenannten Vertrag von Margus 434 /35, s. u.), um unmittelbar danach gegen «die Völker in Skythien» (τὰ ἐν τῇ Σκυθικῇ ἔθνη) zu Felde zu ziehen und Krieg gegen die Sorosger zu führen. Die lose gefügte Koalition, die Ruga hinterlassen hatte, musste mit eiserner Faust zusammengehalten werden.30 Die Samtherrschaft Bledas und Attilas wurde immer wieder als Argument für ein angeblich genuines ‹Doppelkönigtum› bei den Hunnen herangezogen; sie fügte sich scheinbar organisch zu den Herrscherpaaren Charaton und Donatus oder auch Oktar und Ruga. Steppenimperien, so wurde argumentiert, seien häufig in Form eines westlichen und eines östlichen Flügels organisiert gewesen, so etwa die Xiong-nu oder auch die zentralasiatischen Rouran, die man mit den Awaren in Verbindung gebracht hat. Vor diesem Hintergrund habe Bleda zunächst die ‹östlichen› Verbände, Attila hingegen die ‹westlichen› kontrolliert, eine Mutmaßung, die man in Malalas’ Bezeichnung Attilas als Abkömmling der «gepidischen Hunnen» bestätigt sah, denn dies müsse sich auf die Hunnen in der Ungarischen Tiefebene als westlichem Flügel des Hunnenreiches beziehen. Die Ermordung Bledas durch Attila (dazu s. u.) habe dieses Gleichgewicht zunächst aus den Fugen gebracht, wenngleich Attila mit der Einsetzung seines Sohnes Ellak zum Herrscher über die Akatziren (also eher östlich situierte Verbände) einen Versuch der Ausponderierung unternommen habe. Später hätten dann die Attila-Söhne Ernak und Dengizich wiederum versucht, eine west-östlich strukturierte Doppelherrschaft zu etablieren.31 Die These eines hunnischen ‹Doppelkönigtums› steht indes auf ausgesprochen wackeligen Beinen: Abgesehen davon, dass die Analogien zu den Xiong-nu und den Rouran viel zu vage sind, als dass man sie zu einem stringenten Argument formen könnte, fehlen auch bei den genannten Beispielen hinreichend klare Indizien für eine traditionell begründete, west-östliche Doppelherrschaft. Ob Charaton und Donatus gleichgewichtige Herrscher waren, ist jedenfalls mehr als fraglich (der Wortlaut des betreffenden Olympiodor-Fragments deutet eher das Gegenteil an). Auch über das Verhältnis zwischen Oktar und Ruga wissen wir nichts; die Geschichte Oktars erzählt Sokrates gänzlich unabhängig von der seines Bruders, so dass über eventuelle Aufteilungsmodalitäten der Herrschaft keine validen Aussagen getroffen werden können, und Jordanes’ Formulierung germani Octar et Roas, qui ante Attilam regnum tenuisse narrantur («die Brüder Oktar und Ruga, die vor Attila die Herrschaft innegehabt haben sollen») verweist lediglich auf eine gleichzeitige Herrschaft, ohne diese auf spezifische Traditionen zurück-
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zuführen oder gar strukturell zu begründen (was punktuelle gegenseitige Absprachen nicht ausschließt). Dass aber bei zwei zeitgleich aktiven Anführern im Gebiet nördlich der Donau sich der eine westlich vom anderen bewegt haben muss, wäre zunächst einmal ohnehin zu erwarten gewesen. Gleichermaßen existieren keinerlei Hinweise darauf, dass Bleda und Attila ihre gemeinsame Herrschaft aus irgendwelchen traditionellen Begründungszusammenhängen heraus legitimiert haben, die auf ein altes ‹Doppelkönigtum› verweisen würden, sondern sie haben offensichtlich jeder für sich über eine Gruppe von Verbänden geherrscht und sich verschiedentlich zu gemeinsamen Aktionen zusammengefunden. Die angebliche ost-westliche Doppelherrschaft der Brüder Ernak und Dengizich schließlich beruht schlicht auf einem Missverständnis der antiken Zeugnisse, in denen es eher um eine temporäre Zusammenarbeit geht (s. u.). Nicht einmal aus der vermeintlich ‹gepidischen› Abstammung Attilas lässt sich etwas gewinnen: Sie basiert wahrscheinlich ebenfalls auf einem Missverständnis des Malalas oder einer intermediären Quelle, die den Priskos-Text ausgeschrieben hat; doch selbst wenn sich in Attilas Familie (γένος / génos) tatsächlich gepidische Elemente befunden hätten, so hätte dies selbstverständlich auch für seinen Bruder Bleda gegolten und damit für eine vermeintliche West-Ost-Aufteilung der hunnischen Herrschaft nichts bedeuten können. Demgegenüber verweisen Priskos’ Ausführungen über die (wohl hunnischen) Akatziren darauf, dass dort auch noch um die Mitte des 5. Jahrhunderts weiterhin mehrere Anführer, möglicherweise in hierarchischer Anordnung, miteinander konkurrierten. Vorerst wird man das mystische ‹Doppelkönigtum› der Hunnen somit als hartnäckiges Phantom der Forschung betrachten müssen.32 Wie angedeutet, mussten Bleda und Attila nach Rugas Tod ihre Herrschaftsansprüche zunächst einmal gewaltsam durchsetzen. Der in dieser Situation mit Konstantinopel geschlossene Vertrag von Margus sollte ihnen die dafür erforderlichen Bewegungsspielräume verschaffen, verweist mit den recht harten Bedingungen für die Römer aber auch darauf, dass die Hunnen sogar in dieser kritischen Übergangsphase als gefährliche Bedrohung wahrgenommen wurden. Der umtriebige magister militum Plinthas übernahm, formal auf Vorschlag des Senats, persönlich die Aufgabe, mit den neuen Hunnenführern zu verhandeln; an seiner Seite befand sich der ebenfalls hochrangige Amtsträger Epigenes als Berater, ganz so, wie im Jahr 449 der Historiograph Priskos dem oströmischen Gesandten Maximinos zur Hand gehen sollte.33 Am Rande des Ortes Margus, nahe der Mündung der Morava in die Donau, wurde die römische Delegation von den «skythischen Königen» erwartet (οἱ βασίλειοι συνῄεσαν Σκύθαι). Die Hunnen empfingen ihre Gesprächspartner auf dem Rücken ihrer Pferde, und weil die römischen Gesandten es unter ihrer
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Würde ansahen, nun ihrerseits zu Fuß vor die Reiter zu treten, verharrten auch sie im Sattel. Am Ende der Gespräche stand eine Übereinkunft, die für die Römer zwar kostspielig war, aber keineswegs unvorteilhaft: Der Vertrag von Margus sollte künftige Überfälle auf die Balkanprovinzen verhindern und letztlich auch die Hunnen als Ordnungsmacht im Barbaricum nördlich der Donau stabilisieren, was zunächst einmal durchaus im Interesse Konstantinopels lag. Für dieses Ziel war man zu beträchtlichen Zugeständnissen bereit: Man akzeptierte die Verdoppelung des den Hunnen jährlich zu entrichtenden Betrages auf 700 Goldpfund (= 50 400 solidi) sowie die Festlegung einer Summe von 8 solidi pro Person als Lösegeld für den Freikauf römischer Kriegsgefangener von den Hunnen. Darüber hinaus sicherte Ostrom den neuen hunnischen Herrschern zu, keine Bündnisse mit ihren Feinden bzw. potentiellen Angriffszielen zu schließen sowie sichere Marktorte für den Austausch zwischen Hunnen und Römern zur Verfügung zu stellen; Ersteres dürfte Bleda und Attila dabei geholfen haben, ihre Position im Hunnenverband weiter zu konsolidieren, Letzteres war sogar insgesamt für die mobile Kriegerkoalition überlebenswichtig, der es strukturell bedingt weiterhin an agrarischen Produkten mangelte. Vor allem aber bestanden die Hunnen darauf, dass die Römer keine Flüchtlinge aus ihrem Machtbereich mehr aufnehmen durften und jene, die bereits übergelaufen waren, wieder zurückzusenden hatten. Die funktionale Trennung zwischen der römischen Welt als produzierendem, auszubeutenden Güter- und Menschenreservoir sowie den Hunnen als jenen, die römische Produkte und Arbeitskräfte systematisch abschöpften, musste unbedingt aufrechterhalten werden, um den Fortbestand des Hunnenverbandes, in dem der größte Teil landwirtschaftlicher Erzeugnisse von außen eingeholt wurde und die Verteilung römischer Güter dem Erwerb von Prestige und damit der inneren sozialen Differenzierung diente, abzusichern. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Barbarengruppen der ‹Völkerwanderungszeit› strebten die Hunnen aufgrund ihrer reiternomadischen, auf die Formung einer expandierenden Kriegergemeinschaft hinzielenden Prägung nicht nach Integration in das Imperium Romanum, sondern setzten auf Abgrenzung und die Etablierung einer eigenen Machtsphäre, die sich nur sehr unzureichend als ‹Reich› bezeichnen lässt. Aus ihrer Perspektive war man entweder Römer oder entschied sich für die «hunnische Alternative». Ein Pendeln zwischen beiden Bereichen oder gar ein langsamer Diffusions- bzw. Integrationsprozess hätte die Struktur des Hunnenverbandes ausgehöhlt und die Kriegerkoalition kollabieren lassen. Man mag eine Ironie des Schicksals in dem Umstand sehen, dass – wie noch zu zeigen ist – eben jener Prozess ausgerechnet von Attila selbst eingeleitet werden sollte. Zunächst einmal jedoch wird uns das Motiv der Rückgabe von Flüchtlingen und Überläufern begleiten; es ist im Übrigen auch für die ähnlich strukturierten Awaren charakteristisch.34
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Die strikte Trennung der Machtsphären war den Hunnen ein zentrales Anliegen. Wie ernst sie es damit meinten, zeigte sich unmittelbar nach Vertragsschluss: Die Römer überstellten den Hunnen eine erste Gruppe Flüchtlinge, darunter die «Kinder aus der königlichen Familie Mama und Atakam» (παῖδες Μάμα καὶ Ἀτακὰμ τοῦ βασιλείου γένους). Sie wurden noch an der Grenze als weithin sichtbare Warnung von den Hunnen gekreuzigt.35 Nicht auszuschließen ist, dass Mama und Atakam zuvor bewusst aus dem hunnischen Einflussbereich herausgeschafft worden waren, weil Bleda und Attila in ihnen potentielle Konkurrenten um die Führung gesehen haben könnten. In diesem Fall besäßen wir ein Indiz dafür, dass unter den Hunnen allmählich dynastisches Denken um sich griff. Belege gibt es dafür aber nicht. Der Herrscherwechsel scheint sich jedenfalls nicht ohne beträchtliche Verwerfungen innerhalb der Kriegerkonföderation vollzogen zu haben. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich nunmehr offenbar ganze hunnische Kriegergruppen aus dem Gesamtverband gelöst haben müssen, um ihr Glück an anderen Orten zu suchen. Zu ihnen könnte eine Schar von Rugiern unter der Führung eines sonst nicht bezeugten Valips gehört haben. Sie eroberte und plünderte irgendwann zwischen 434 und 441 das römische Noviodunum (heute Isaccea in der rumänischen Dobrudscha) und verschanzte sich dort, als Entsatztruppen zur Rückeroberung der Stadt eintrafen. Während der nun folgenden heftigen Gefechte setzten die Rugier die Kinder gefangener Römer als menschliche Schutzschilde ein und zwangen die Belagerer dadurch, eine Übereinkunft zu unterzeichnen.36 Es war aber vor allem Aetius, der in jenen Jahren bereitwillig hunnische Krieger aufnahm, um mit ihnen seine eigene militärische Schlagkraft zu verstärken. Hunnen kamen fortan namentlich in Gallien zum Einsatz, wo die Präsenz von Menschen mit einem transdanubischen Steppenhintergrund sich nun auch archäologisch abzeichnet (u. a. in Kleidungselementen, Waffen, Metallkesseln, künstlichen Schädeldeformationen). Mit ihrer Hilfe vernichtete Aetius im Jahr 436 /37 die burgundische Machtbildung am Rhein unter König Gundicharius, woran später im Nibelungenlied mit der Etzelschlacht angeknüpft wurde. Sein General Litorius rang Bagaudenaufstände in der Bretagne nieder und zog von dort nach Süden, wo er, wiederum mit hunnischen Reitern (Scythicos equites) ausgestattet, die Stadt Narbonne von einer gotischen Belagerung befreite. Auch andernorts in Gallien ging man mit hunnischen Streitkräften gegen Westgoten vor. Litorius indes soll angesichts seiner Erfolge allzu überheblich geworden sein: Im Jahr 439 wollte er es dem ruhmvollen Aetius gleichtun und bot den Westgoten bei Toulouse voreilig eine Schlacht, die ihn nicht nur seine hunnischen Reiter, sondern schließlich auch sein Leben kostete. Sonderlich beliebt scheinen die hunnischen Mitstreiter römischer Generäle im Übrigen nicht gewesen zu sein, denn sie unterschieden augen-
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scheinlich nicht allzu sorgfältig zwischen den offiziellen Feinden und der Provinzialbevölkerung. Sidonius Apollinaris behauptet, dass Hunnen, die Litorius in die Auvergne begleiteten, brandschatzend durch die Lande gezogen seien und alles um sie herum zerstört hätten. Auch Salvian hielt es für keine glückliche Idee, die eigenen Hoffnungen ausgerechnet in die Hände der Hunnen zu legen.37 Anfang der 440er Jahre hatten Bleda und Attila ihre Position als Herrscher über die hunnische Kriegerkoalition so weit konsolidiert, dass sie sich nunmehr als «Könige über zahlreiche Verbände» (Bleda et Attila fratres multarumque gentium reges) konzentriert dem Imperium Romanum zuwenden konnten. Attila, nie verlegen um einen Vorwand für seine Raubzüge, fand einen willkommenen Anlass für den ersten großen hunnischen Vorstoß auf oströmisches Gebiet im Jahr 441. Dem Bischof von Margus, anscheinend eine eher windige Figur, wurde vorgehalten, er habe hunnische Königsgräber geplündert; zudem stand weiterhin das Thema der Auslieferung hunnischer Flüchtlinge, die offenbar nur schleppend voranschritt, im Raum. Die Hunnen jedenfalls setzten ein markantes Zeichen, indem sie am Markttag römische Händler abschlachteten und eine anschließende Beschwerde brüsk zurückwiesen. Da die Führung in Konstantinopel ihrerseits nicht bereit war, in irgendeinem Punkt nachzugeben, mussten die Waffen sprechen. Die Hunnen überschritten also 441 und 442 die Donau und nahmen in Thrakien und Illyricum einen römischen Ort nach dem anderen ein, darunter Viminacium (Kostolac, Serbien), Singidunum (Belgrad), Sirmium (Sremska Mitrovica, Serbien), Ratiaria (Artschar, Bulgarien) und Naissus (Niš, Serbien), dessen Eroberung Priskos in enger Anlehnung an sein Vorbild Thukydides in einem Glanzstück rhetorisch aufgeschwemmter Historiographie beschreibt. Bei römischen Beobachtern musste vor allem ein Umstand Entsetzen auslösen: Die Hunnen waren inzwischen offenbar in der Lage, größere, befestigte Städte in ihre Gewalt zu bringen – vielleicht eine Folge der Verschleppung römischer Ingenieure. Als die Invasoren sich auch Margus näherten, bekam es der unselige Bischof mit der Angst zu tun, floh ausgerechnet zu den Hunnen und bot ihnen an, für ein wenig Kleingeld seine Stadt zu verraten. Und so geschah es. «Nachdem Margus auf diese Weise gebrandschatzt worden war», konstatiert Priskos, «wurde die Position der Barbaren noch weiter gestärkt».38 Die Römer vermochten dem hunnischen Siegeszug nur wenig entgegenzusetzen, denn der Zeitpunkt der Invasion war perfekt gewählt: Der größte Teil der oströmischen Streitkräfte befand sich damals auf Sizilien und erwartete den Angriffsbefehl gegen die Vandalen in Afrika. Gleichzeitig verschärften sich Auseinandersetzungen mit den Persern in Armenien, und auch von Seiten der Araber und Tzanen (im Kaukasus) sowie von den innerrömischen Isauriern, die wahrscheinlich Plünderungszüge in Kleinasien unternahmen, drohte Ungemach.
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Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der römischen Armee taten ein Übriges; der Heerführer Arnegisclus hatte im von den Hunnen verwüsteten Thrakien nichts Besseres zu tun, als den magister militum per Thracias Johannes zu beseitigen, und Aspar war nicht in der Lage, dem hunnischen Vormarsch auf der Heerstraße von Naissus nach Konstantinopel wirksam entgegenzutreten. Es brannte also an allen Enden des Reiches – dies immerhin ein Erweis dafür, dass die Mittelmeerwelt um die Mitte des 5. Jahrhunderts noch ein eng geflochtenes Gewebe darstellte –, und so blieb der Führung in Konstantinopel schließlich keine Alternative, als sich auf ein neues Abkommen mit den Hunnen einzulassen, denen die Rückkehr der oströmischen Flotte aus Sizilien es vielleicht erleichterte, die neue Übereinkunft zügig auszuhandeln und abzuziehen. Über den Inhalt dieses Vertrages ist indes nichts bekannt, mitunter wird sogar seine Existenz bezweifelt. Sicher ist jedoch, dass gegen Ende des Jahres 442 die Auseinandersetzungen beigelegt waren, denn bereits im Frühjahr 443 fand Kaiser Theodosios II. hinreichend Muße, um sich auf eine kleine Rundreise durch Kleinasien zu begeben.39 Kaum etwas war den römischen Eliten widerwärtiger als die Vorstellung, inferioren Barbarenführern Tribute entrichten zu müssen. Auch in der Spätantike, als das Imperium Romanum an allen Fronten in die Defensive geraten war, hielt man bedenkenlos am traditionellen Selbstverständnis fest, mit dem Auftrag gesegnet zu sein, die Welt zu erobern und zu beherrschen. Umso harscher wurde mitunter Kritik geäußert, wenn kaiserliche Regierungen die Dinge ein wenig pragmatischer angingen und Stillhaltegelder zum Mittel ihrer Politik erhoben (was ohnehin soweit möglich kaschiert wurde). «Das ist kein Friede, sondern Sklaverei» (non est ista pax, sed pactio servitutis), soll der römische Senator Lampadius im Jahr 408 Stilicho angebrüllt haben, als dieser eine Zahlung von 4000 Goldpfund an Alarich durchsetzte. Erregte Vorwürfe wurden insbesondere dann artikuliert, wenn die Überweisungen jährlich erfolgten und nicht mehr als freiwillige, okkasionelle ‹Geschenke› deklariert werden konnten; man versuchte in diesen Fällen häufig, die Tribute als ‹Gehälter› für Barbarenführer, denen man zuvor entsprechende Titel verliehen hatte, oder auch als Bezahlungen für von Barbaren durchgeführte Maßnahmen der Grenzverteidigung auszuweisen, doch derartige euphemistische Verrenkungen drangen häufig nicht durch und der Verweis auf Stillhaltegelder etablierte sich als probates Element der Kritik an vermeintlich unkriegerischen (d. h. nicht expansiv agierenden) Kaisern – insbesondere im Werk des Priskos, der exemplarisch ein bizarres Zerrbild der angeblichen Folgen des ‹Anatolios-Vertrags› mit den Hunnen aus dem Jahr 447 entwirft. Zur Finanzierung der darin festgelegten Tribute hätten Steuerprivilegien ausgesetzt werden müssen, Senatoren seien in bitterster Armut versunken. Gezwungen, auf
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dem Markt ihre Möbel sowie den Schmuck ihrer Frauen zu veräußern, hätten sich einige gar zu Tode gehungert oder direkt den Strick genommen.40 Tatsächlich erreichten die Beträge, die den Hunnen im 5. Jahrhundert übergeben wurden, exorbitante, bis dahin nicht für möglich gehaltene Summen, die sich u. a. in üppigen Münzhorten (z. B. Szikáncs, Ungarn; Bíòa, Slowakei) und reich ausgestatteten ‹Fürstengräbern›, vor allem im nördlichen Schwarzmeerraum, niedergeschlagen haben. Besondere Berühmtheit hat der spektakuläre Hort von Pietroasa (Rumänien) erlangt, der zwölf goldene Objekte mit einem Gesamtgewicht von etwa 20 Kilogramm enthält; aufgrund einer gotischen Runeninschrift liegt es nahe, den in die späte Attilazeit datierbaren Fund mit einem mächtigen gotischen logás (oder gar Attila selbst?) in Verbindung zu bringen. Auch wenn die Edelmetall-Transfers in das Barbaricum in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts schwindelerregende Höhen erreichten: Prinzipiell entsprachen die zugrunde liegenden Zahlungsmechanismen weiterhin den etablierten Maximen römischer Außenpolitik, und sie scheinen den oströmischen Haushalt – nach allem, was sich angesichts der punktuellen Überlieferungslage sagen lässt – zunächst keineswegs in den finanziellen Ruin getrieben zu haben; militärische Auseinandersetzungen dürften jedenfalls weitaus kostspieliger gewesen sein.41 Schwerer als die finanziellen Belastungen wogen ohnehin der Unwille, den regelmäßige Goldlieferungen an Barbaren unter den Eliten auslösten, und der damit verbundene Ansehensverlust des Kaisers. Darin mag man einen Grund für die Entscheidung der oströmischen Regierung vermuten, die Zahlungen an Bleda und Attila spätestens im Jahr 444 wieder auszusetzen. Es war dies eine Phase, da Spannungen zwischen den Hunnen und Westrom sich gefährlich zuzuspitzen drohten, und an Theodosios’ Hof könnte man darauf spekuliert haben, dass die sich anbahnende Eskalation im Westen die ganze Aufmerksamkeit der Hunnen beanspruchen würde. Zudem hatte sich die Lage in den oströmischen Donauprovinzen allmählich so weit stabilisiert, dass man wieder gewisse Risiken eingehen konnte.42 Was aber hatte es mit dem drohenden hunnisch-weströmischen Krieg auf sich? Die Evidenzen könnten schattenhafter kaum sein, aber sie verweisen auf schwere Verwerfungen zwischen Ravenna und den Hunnenherrschern. In dem erhaltenen Fragment eines Panegyricus, den der Dichter Flavius Merobaudes vor dem Feldherrn Aetius vortrug, als dieser am 1. Januar 446 sein drittes Konsulat antrat, wird darauf angespielt, dass der Geehrte im Frieden (cum pace, v. 1) von Donau und Don zurückgekehrt sei, wo die «wilden Könige» (saevi reges, v. 4) auf Kämpfe verzichtet hätten (vgl. v. 3–4: dedit otia ferro Caucasus). Darauf, dass unmittelbar vor der Komposition des Textes von den Hunnen – denn nur diese können hier gemeint sein – eine ernsthafte Bedrohung ausging, wird auch an
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anderen Stellen des Lobgedichtes hingewiesen. So lässt der Verfasser eine «unheilbringende Gottheit» (diva nocens, v. 69) Klage über zu lange Friedenszeiten erheben, droht mit Vertragsbruch (foede