Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428491148, 9783428091140

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MANFRED FRIEDRICH

Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 50

Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft

Von Manfred Friedrich

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Niedersachsen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Friedrich, Manfred: Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft / von Manfred Friedrich. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 50) ISBN 3-428-09114-0

Alle Rechte vorbehalten

© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-09114-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Walter Euchner als Zeichen einer jahrzehntelangen Verbundenheit

Vorwort Den Plan, eine Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft zu schreiben, habe ich lange gehegt. Seiner Ausführung konnte ich mich indes erst seit 1990 zuwenden. Daß 1988 der Erste Band der "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland" von Michael Stolleis, 1992 der jenes Werk noch nicht abschließende Zweite Band erschienen ist, hat mich von der Ausführung des Plans nicht abbringen können. Nicht weil ich Stolleis' imponierende Wissenschaftsleistung durch eine Parallelarbeit für überholungsbedürftig halten würde, als eine solche kann der hier vorgelegte Darstellungsversuch nicht gelten. Sein Gegenstand ist die Geschichte des als "Staatsrecht" bezeichneten besonderen Wissenschaftsstrangs in Deutschland, über diesen Stoff geht das Werk von Stolleis im ersten Band ganz bedeutend hinaus. Daß es für mein Vorhaben eine unschätzbare Hilfe ist, brauche ich nicht eigens zu sagen. Zu bemerken aber ist, daß die auf den folgenden Seiten angestrebte Konzentration auf die besondere Wissenschaftsgeschichte des Staatsrechts in Deutschland der Erwartung zu genügen hat, daß spezifischen Fragen an die staatsrechtliche Wissenschafts geschichte ein ausführlicheres Interesse als im "Stolleis" gilt. Damit kommt es darauf an, bestimmte Untersuchungsperspektiven deutlicher als bei jenem zu entfalten. Zur Erläuterung dieser Vorgehensmaxime ist dieses Vorwort nicht der Ort. Das unternommene Darstellungsvorhaben hat mich weit länger als vorausgesehen beschäftigt; abgeschlossen war das Manuskript im Herbst 1996. Ohne manche mir zuteil gewordene Unterstützung hätte sich sein Abschluß wohl noch mehr verzögert. Als solche Unterstützung erwähne ich dankbar, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft durch die Gewährung einer Sachbeihilfe die Teilbeschäftigung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters für drei Jahre ermöglicht hat. Der Stiftung Niedersachsen gilt der Dank für den von ihr zur Verfügung gestellten beachtlichen Zu schuß zu den Druckkosten, damit wurde die Ermutigung zum Abschluß des Begonnenen aufrechterhalten. Ohne ein Forschungsfreisemester hätte ich die noch ausstehenden Darstellungsteile wohl nicht wider Erwarten verhältnismäßig schnell zu Papier bringen können. Herrn Professor Dr. jur. h.c. Norbert Simon, geschäftsführender Gesellschafter des Verlages Duncker & Humblot, habe ich für die Aufnahme des Werkes in das Programm seines Verlages und den Mitarbeiterinnen des Verlages für die sorgfaltige Betreuung des Manuskripts zu danken, sein Rat ging über das Verlagstechnische hinaus. Meine wissenschaftlichen Mitarbeiter an der Universität Göttingen, Herr Dr. Uwe Jun, Frau Rena Meyer, Frau Bettina Lips, Frau Birgit Behrends und Martin Wieandt, haben mich bei der Literaturbeschaffung, der Zitatkontrolle und beim Korrekturlesen un-

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Vorwort

terstützt, der letztere hat auch die Anfertigung des Personenregisters übernommen. Den Genannten möchte ich auch an dieser Stelle für ihre Mithilfe herzlich danken, vorzüglich jedoch der Seminarsekretärin, Frau Astrid Linne-Klockner, die mit großer Einsatzbereitschaft und unermüdlicher Sorgfalt die häufig wiederholte Reinschrift der Manuskripueile in der Hauptsache besorgt hat. Last not least: Uxori carissimae für vielerlei Geduld und Zurückstellung berechtigter Wünsche zu danken, läßt sich nicht leicht in Worte fassen. Göttingen, im März 1997

Manfred Friedrich

Inhalt § 1.

Einleitung ..................................................................... . Erster Teil

Enstehung und frühe Entwicklung des lus Publicum Imperii Romano-Germanici

§ 2.

Gemeinwesen und öffentliche Herrschaft im europäischen Rechtsdenken bis zum Reforrnationszeitalter ......................................................

11

§ 3.

Entstehungsbedingungen des neuen Faches .....................................

24

§ 4.

Das Einsetzen des neuen Faches ................................................

36

§ 5.

Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts .......................

47

§ 6.

Zwischen Konfessionellem Zeitalter und Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

§ 7.

Das Ius publicum im gelehrten Unterricht.......................................

80

Zweiter Teil

Unter dem Einfluß der Aufklärung § 8.

Ius publicum universale und Reichshistorie ........................ . ............

88

§ 9.

Die Hochblüte der Reichspublizistik ............................................ 113

§ 10. Der Entwicklungsstand der Staatsrechtswissenschaft um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Dritter Teil

Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre § 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat ........................................ 143 § 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen und organischen Staatslehre.... 154 § 13. Die positive Staatsrechtswissenschaft von der Gründung des Rheinbundes bis

zur Spätzeit des Deutschen Bundes ............................................. 178

x

Inhalt

§ 14. Die wissenschaftliche und politische Bedeutung des gemeinen deutschen Staatsrechts des 19. Jahrhunderts .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 210 § 15. Der Übergang zur modemen deutschen Staatsrechtswissenschaft: earl Friedrich von Gerber ..................................................................... 222

Vierter Teil

Die Staatsrechtswissenschaft des kaiserlichen Deutschland

§ 16. In der Bahn der selbständigen Dogmenwissenschaft ............................. 235 § 17. Paul Laband und Zeitgenossen .................................................. 256 § 18. Frühe Abwendungen vom staatsrechtlichen Positivismus ........................ 275 § 19. Dogmatische Hauptfragen der spätkonstitutionellen Staatsrechtswissenschaft ... 290 § 20. Der Aufstieg des Verwaltungsrechts zur Rechtsdisziplin .................. . ...... 299

Fünfter Teil

Weimar und danach

§ 21. Staatsrechtswissenschaft in der Krise ........................................... 320 § 22. Vertreter der Weimarer Staatsrechtslehre ........................................ 337 § 23. Felder der verfasssungsrechtlichen Diskussion der Weimarer Republik .......... 377 § 24. Die Staatsrechts wissenschaft im "Dritten Reich" ................................ 399 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 410 Sachregister .......................................................................... 425

Ausführliche Inhaltsübersicht § 1.

Einleitung ..................................................................... . I. Aufgabe und Darstellungsfragen. - 11. Die bisherige Behandlung des Gegenstandes. - III. Die Epochen der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft.

Erster Teil Entstehung und frühe Entwicklung des Ius Publicum Imperii Romano-Germanici § 2.

Gemeinwesen und öffentliche Herrschaft im europäischen Rechtsdenken bis zum Reformationszeitalter ......................................................

11

I. Ansätze staatsrechtlichen Denkens in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft. - 11. Spätmittelalterliche politische Traktatliteratur. - III. Die humanistische Bildungsrevolution und das ius publicum in der Rechtsliteratur des Humanismus. § 3.

Entstehungsbedingungen des neuen Faches

24

I. Die Entwicklung der Reichsverfassung bis zum Religionsfrieden. - 11. Die Bedeutung des Reichskammergerichts für die wissenschaftliche Verselbständigung des ius publicum. - 111. Die Verfassungskrise des Reiches. - IV. Der Beitrag der neuzeitlichen Politikwissenschaft (Bodin, Althusius). § 4.

Das Einsetzen des neuen Faches ................................................

36

I. Frühe Traktate. - II. Quelleneditionen. - III. Pflanzstätten des ius publicum. § 5.

Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts .......................

47

I. Vorblick auf ihren Verlauf. - II. Das Reich als Monarchie: G. Antonius, Reinkingk. - III. Das Reich als res publica mixta: Arumaeus, Lampadius, Limnaeus. IV. Das Reich als Aristokratie: Hippolithus a Lapide. - V. Das Reich als civitas composita: Besold und Vorgänger, Ludolph Hugo, Leibniz. - VI. Das Reich als respublica irregularis: Pufendorfs Reichsverfassungsschrift. - VII. Die Wiederherstellung des Reichsverfassungssystems durch den Westfälischen Frieden. § 6.

Zwischen Konfessionellem Zeitalter und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hermann Conring. - II. Seckendorffs Fürstenstaat im Verhältnis zur Reichs-Territorialstaatslehre. - III. Kompendien, Lehrbücher und Quelleneditionen bis zum frühen 18. Jahrhundert.

69

XII

Ausführliche Inhaltsübersicht

§ 7.

Das Ius publicum im gelehrten Unterricht.......................................

80

I. Der Verlauf seiner akademischen Einbürgerung. - 11. Berufsrollen der frühen Publizisten. Zweiter Teil

Unter dem Einfluß der Aufklärung

§ 8 .. Ius publicum universale und Reichshistorie .....................................

88

I. Die Bedeutung des ius publicum universale und der Reichshistorie für die Entwicklung des älteren deutschen Staatsrechts. - 11. Zur Ideengeschichte des aufgeklärten Naturrechts. - III. Das ius publicum universale bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. - IV. Halle und der Aufstieg der Reichshistorie. § 9.

Die Hochblüte der Reichspublizistik ............................................ 113 I. Johann Jakob Moser. - 11. Die Anfänge des ius publicum in Göttingen und sein Siegeszug im katholischen Reich. - III. Johann Stephan Pütter. - IV. Der Ausklang der Reichspublizistik.

§ 10. Der Entwicklungsstand der Staatsrechtswissenschaft um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139

I. Die Wirkung des Aufklärungsstaatsrechts. - 11. Die Untermauerung des Reichsrechtspositivismus durch die Verfassungsgeschichte.

Dritter Teil

Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre § 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat ........................................ 143

I. Vorbemerkung. - 11. Vormärzverfassungen und monarchisches Prinzip. III. Die liberale Bewegung des Vormärz, 1848 und die nachachtundvierziger Verfassungslösung. § 12. Von der vemunftrechtlichen zur geschichtlichen und organischen Staatslehre.... 154

I. Entwicklungslinien des deutschen Staatsdenkens im 19. Jahrhundert. - 11. Hegels Rechtsphilosophie und ihre Wirkung. - III. Rotteck und die vemunftrechtlich-liberale Richtung des Vormärz. - IV. Die geschichtliche und organische Staatslehre: K.S. Zachariä, Schmitthenner, Held, Stahl, Bluntschli. - V. Die konstitutionelle Staatsanschauung zwischen Revolution und Reichsgründung. § 13. Die positive Staatsrechtswissenschaft von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes ............................................. 178

I. Die Rheinbundpublizistik. - 11. Klübers Wiederherstellung einer gemeinen deutschen Staatsrechtswissenschaft, seine Nachfolger. - III. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre nach 1850. - IV. Die Bearbeitung des Bundesrechts. V. Die Bearbeitung der Einzelstaatsrechte, Robert Moh!. - VI. Monographisches Schrifttum und Zeitschriften.

Ausführliche Inhaltsübersicht

XIII

§ 14. Die wissenschaftliche und politische Bedeutung des gemeinen deutschen Staatsrechts des 19. Jahrhunderts ...................................................... 210

I. Quellen- und Methodenprobleme des gemeinen deutschen Staatsrechts. II. Die Kritik an der gemeindeutschen Publizistenschule, insbesondere Albrechts Methodenkritik. - III. Das gemeine deutsche Staatsrecht als nationales und konstitutionelles Einheitssymbol. § 15. Der Übergang zur modernen deutschen Staatsrechtswissenschaft: earl Friedrich von Gerber ..................................................................... 222

I. Gerbers Stellung in der Wissenschaftsgeschichte. - H. Gerbers Theorie des gemeinen deutschen Privatrechts. - III. Sein Staatsbegriff. - IV. Seine Umformung des deutschen Staatsrechts zur einheitlichen juristischen Dogmenwissenschaft, die Reaktion der älteren konstitutionellen Staatsrechtslehre auf Gerbers Staatsrechtssystem.

Vierter Teil Die Staatsrechtswissenschaft des kaiserlichen Deutschland § 16. In der Bahn der selbständigen Dogmenwissenschaft ............................. 235

I. Labands Reichsstaatsrecht und Methode. - II. Die Staatsrechtsliteratur der Übergangszeit bis 1876. - III. Die juristische Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreiches im Spiegel ihrer Literaturgattungen. - IV. Verfassungsgeschichtlicher Hintergrund und politische Funktion. - V. Außerdeutsche Wirkungen. § 17. Paul Laband und Zeitgenossen .................................................. 256

I. Laband und seine Stellung im Fach. - 11. Georg Meyer, Seydel, Hänel und andere Autoren. - III. Otto Gierke und Schüler Gierkes. - IV. Rudolf Gneist.

§ 18. Frühe Abwendungen vom staatsrechtlichen Positivismus........................ 275 I. Die Entdeckung der Eigenart des Verfassungsrechts. - H. Die Erneuerung der Allgemeinen Staatslehre. - IIl. Georg Jellinek. § 19. Dogmatische Hauptfragen der spätkonstitutionellen Staatsrechtswissenschaft

290

I. Vorbemerkung. - 11. Die Auseinandersetzung um den Bundesstaatsbegriff. IIl. Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne. - IV. Grundrechte und subjektive öffentliche Rechte. § 20. Der Aufstieg des Verwaltungsrechts zur Rechtsdisziplin ......................... 299

I. Entstehungsbedingungen einer Verwaltungsrechtswissenschaft in Deutschland. - 11. Lorenz von Steins Verwaltungslehre. - III. Die "staatswissenschaftliche" Richtung im Verwaltungsrecht. - IV. Otto Mayer und die ,juristische Methode" im Verwaltungsrecht. - V. Die Einführung des Verwaltungsrechts als Universitäts- und Prüfungsfach.

XIV

Ausführliche Inhaltsübersicht Fünfter Teil

Weimar und danach § 21. Staatsrechts wissenschaft in der Krise ........................................... 320

I. Weimarer Verfassung und Staatsrechtslehre. - 11. Der Methoden- und Richtungsstreit. - III. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechts lehrer. - IV. Die Staatsrechtslehre im politischen Gesamtbild des Weimarer Deutschland. § 22. Vertreter der Weimarer Staatsrechtslehre ........................................ 337

I. Gerhard Anschütz und Richard Thoma. - 11. Hans Kelsen. - III. Heinrich Triepe!. - IV. Erich Kaufmann. - V. Rudolf Smend. - VI. earl Schmitt. - VII. Hermann Heller. ..,- VIII. Andere Autoren. § 23. Felder der verfassungsrechtlichen Diskussion der Weimarer Republik........... 377 I. Grundrechte und richterliches Prüfungsrecht. - 11. Die Diskussion um den "Parteienstaat". - III. Parlamentarisches Regierungssystem und Diktaturgewalt des Reichspräsidenten. - IV. Grenzen der Verfassungsänderung. § 24. Die Staatsrechtswissenschaft im "Dritten Reich" ................................ 399

I. Ihre Situation nach der Machtergreifung. - 11. Der wissenschaftliche Ertrag unter der Diktatur. - III. Das. Verwaltungsrecht, insbesondere Ernst Forsthoffs These von der Verwaltung als Leistungsträger.

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 410 Sachregister ............ . . . ................... . ........ . .......... . .......... . . . ...... 425

Verzeichnis der in den Anmerkungen abgekürzt zitierten Literatur Das Verzeichnis enthält Buchveröffentlichungen und Zeitschriften. Soweit im Notenteil ein Titel abgekürzt zitiert ist, der in diesem Verzeichnis nicht enthalten ist, verweist ein Klammerzusatz auf die vorangehende Anmerkung, in der er angeführt ist. Zeitschriften befinden sich am Ende dieses Verzeichnisses. ADB

Allgemeine Deutsche Biographie, 1875-1912. Artikel aus diesem Werk sind ohne Autornennung nur mit Bandund erster Seitenzahl zitiert.

AlthusiusBibliographie

H. U. Scupin/U. Scheuner (Hg.), Althusius-Bibliographie, bearb. v. D. Wyduckel, 2 Bde., Berlin 1973

Badura, Methoden

P. Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, Erlangen 1959

Bieback

K-J. Bieback, Die öffentliche Körperschaft. Ihre Entstehung, die Entwicklung ihres Begriffs und die Lehre vom Staat und den innerstaatlichen Verbänden in der Epoche des Konstitutionalismus in Deutschland, Berlin 1976

Bluntschli, Geschichte

J. K Bluntschli, Geschichte der neueren Staatswissenschaft, Allgemeines Staatsrecht und Politik, 3. Aufl. München/Leipzig 1881

Böckenförde, Gesetz

E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 2., um Nachträge und ein Nachwort ergänzte Aufl. Berlin 1981

Boldt, Staatslehre

H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975

Coing, Hdb.

H. Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, München 1973 ff.

Dennewitz

B. Dennewitz, Die Systeme des Verwaltungsrechts, Hamburg 1948

Dreitzel

H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die "Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970

DVG I-VI

K G. A. Jeserich/H. Pohl/G. Ch. v. Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I-VI, Stuttgart 1983 -1988

EvStL

R. Herzog u. a. (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, 2 Bde., 3., neubearb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1978

Fioravanti

M. Fioravanti, Giuristi e costituzione politica nell'Ottocento tedesco, Milano 1979

XVI Geschicht!. Grundbegriffe

Abkürzungsverzeichnis

o. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde., Stuttgart 1972 - 92

Gierke, Althusius

O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie, 7., unver. Auf). Aalen 1981 (zuerst 1880)

Gross

H. Gross, Empire and Sovereignity. A History of the Public Law Literature in the Holy Roman Empire 1599-1804, Chicago 1974

Häfelin

U. Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, Tübingen 1959

Hammerstein, Jus

N. Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jh., Göttingen 1972

HdBDStR I, 11

G. Anschütz/R. Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2 Bde., Tübingen 1930 132

Heller, Ges. Schriften

H. Heller, Gesammelte Schriften, 3 Bde., Leiden 1971 (2. Auf). Tübingen 1992)

Hespe

K. Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jh., Köln 1964

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J. Ritter I K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971 ff.

Hoke

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A. Erler I E. Kaufmann I D. Werkmüller (Hg), Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1970 ff.

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J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9 Bde. u. Reg.bd., Heidelberg 1987-1995

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E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 1957-1991

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E. v. Beckerath u. a. (Hg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12 Bde. u. Reg.bd., Stuttgart/Tübingen I Göttingen 1956-68

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Ch. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten Lexikon, 4 Bde., Leipzig 1750 -1751 m. Nachträgen (..JÖcher-Adelung")

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Gesammelte Schriften, 3 Bde., Göttingen 1960

Kleinheyer I Schröder (Hg.)

G. Kleinheyer /J. Schröder (Hg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Auf). Heidelberg 1983

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D. Klippe!, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jh., Paderbom 1976

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St. Korioth, Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990

Abkürzungsverzeichnis

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R. Lieberwirth, Der Staat als Gegenstand des Hochschulunterrichts in Deutschland vom 16. bis zum 18. Jh. (= Sitzungsber. d. Sächs. Ak. d. Wiss. zu Leipzig, Phil.-Hist.-Kl. Bd. 120 Heft 4), Berlin 1978

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Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien 1979

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H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2., neubearb. u. erw. Auf]. München 1980

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H. Maier / H. Rausch / H. Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens, 2 Bde., 5. Auf]. München 1987

Maus

I. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, 2., erw. Auf]. München 1980

Mohl, Gesch. u. Lit. I-III

R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften in Monographien dargestellt, 3 Bde., Erlangen 1855 - 58 (Neudr. Graz 1960)

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J. J. Moser, Bibliotheca iuris publici S. Rom. Germ. imperii, 3 Tle., Stuttgart 1729-34

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Neue Deutsche Biographie, 1953 ff. Artikel aus diesem Werk sind in der Regel ohne Automennung nur mit Band- und erster Seitenzahl zitiert.

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P. v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1974 (Diss. Phil. Göttingen 1953)

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W. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen SpätkonstitutionalismllS. Ein Beitrag zu Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im 19. Jh., Tübingen 1993

Pick

E. Pick, Mainzer Reichsstaatsrecht. Inhalt und Methode. Ein Beitrag zum ius publicum an der Universität Mainz im 18. Jh., Wiesbaden 1977

Pipers Hb.

I. Fetscher/H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3 Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München 1985; Bd. 4 Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, München 1986

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P. Preu, Polizei begriff und Staatszwecklehre, Göttingen 1983

XVIII

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J. St. Pütter, Bey träge zur Erläuterung etc. des Teutschen Staats- und Fürstenrechts, 2 Tle., Göttingen 1777/79

Pütter, Litt.

J. St. Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 3 Tle., Göttingen 1778-83

Quaritsch, Staat u. Souv.

H. Quaritsch, Staat und Souveränität. Bd. I: Die Grundlagen, Frankfurt/Mo 1970

Randelzhofer, Völkerrecht!. Aspekte

A. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, Berlin 1967

Rathjen

P. Rathjen, Die Publizisten des 18. Jh. und ihre Auffassung vom Begriff des Staatsrechts, Diss. iur. Kiel 1968

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H. Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft. Freiburg i. Br. / Leipzig 1896 (aus: Handbuch d. öffentl. Rechts: Einleitungsband), Neudr. Darmstadt 1967

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K. Rennert, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, Berlin 1987

RGG

Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 3., neubearb. Aufl., 6 Bde. u. Reg.bd., Tübingen 1957-65

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B. Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jh., Stuttgart 1984

Schmidt-Aßmann

E. Schmidt-Aßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, Berlin 1968

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C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 19241954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958

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E. Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jakob Mosers (1701-1785), Berlin 1968

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R. Frhr. v. Schönberg, Das Recht der Reichslehen im 18. Jh., Heidelberg 1977

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F. H. Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frü-

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R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3., wiederum erw. Aufl. Berlin 1994

Staatsdenker

M. Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jh.: Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, 2., erw. Aufl. Frankfurt/M. 1987

Stintzing

siehe Landsberg

Stolleis, Gesch. I

M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 -1800, München 1988

Abkürzungsverzeichnis

XIX

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M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992

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F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2., neubearb. Auf!. Göttingen 1967

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W. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jh. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, Frankfurt/M.1958

Willoweit

D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln/Wien 1975

Wolf, Rechtsdenker

Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4., durchgearb. u. erw. Auf!. Tübingen 1963

Wyduckel

D. Wyduckel, Ius publicum. Grundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechts wissenschaft, Berlin 1984

Zedler

J. H. Zedler [Verleger], Großes vollständ. Universal-Lexikon aller Wissenschaften u. Künste. Nebst einer Vorr. v. J. P. v. Ludewig. (Nebst) Supplbd. 68 Bde. Halle u. Leipzig 1732-54 (Neudr. 1962/ 63)

Zeitschriften

AcP

Archiv für civilistische Praxis

Aegidis Zeitschr.

Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte (1865/67)

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

ASWSP

Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik

DA

Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters

DJZ

Deutsche Juristen-Zeitung

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

DVBI

Deutsches Verwaltungsblatt

GG

Geschichte und Gesellschaft

GöttGelAnz

Göttingische Gelehrte Anzeigen

(Hirth's) Annalen

Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik

HZ

Historische Zeitschrift

JW

Juristische Wochenschrift

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

xx

Abkürzungsverzeichnis

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

KJ

Kritische Justiz

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NPL

Neue Politische Literatur

PrVerwBI

Preußisches Verwaltungsblatt

PVS

Politische Vierteljahresschrift

RJ

Rechtshistorisches Journal

Verw. Archiv

Verwaltungsarchiv

VSWG

Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZBLG

Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte

ZDR

Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Reohtswissenschaft (1837-1861)

ZevEthik

Zeitschrift für evangelische Ethik

ZevKR

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht

ZgesStW

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

ZHF

Zeitschrift für historische Forschung

ZGORh

Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handels- und Konkursrecht

ZöR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZNR

Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte

ZPol

Zeitschrift für Politik

ZRGGA

Zeitschrift der Savigny-Stifung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung

ZRGRA

dito: Romanistische Abteilung

§ 1. Einleitung I. Aufgabe und Darstellungsfragen. - H. Die bisherige Behandlung des Gegenstandes. III. Die Epochen der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft.

I. 1. Die Darstellung einer wissenschaftlichen Fachdisziplingeschichte hat sich Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und -gebieten zunutze zu machen. Was die von uns zu behandelnde Fachdisziplingeschichte angeht, sind dies vorzüglich die folgenden: die staatsrechtliche Dogmengeschichte, die auch als eine gut ausgebaute historische Teildisziplin gelten kann; die politische und allgemeine Ideen- und Denkgeschichte, nämlich soweit ihr Interesse geistigen Entwicklungen und Ideen mit Wirkung auf das staatsrechtliche Denken gilt; die neuzeitliche deutsche Verfassungsgeschichte, die sich mit dem Verlauf der Veränderungen der politischen Verfassung Deutschlands, des Gegenstandes der Wissenschaft des Staatsrechts in Deutschland, befaßt. Den Aufgaben einer Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft kann die staatsrechtliche Dogmengeschichte nicht bereits genügen. Und zwar einfach da die Geschichte einer wissenschaftlichen Fachdisziplin von mehr als den für dieselbe bezeichnenden Doktrinen und Ideen handelt, nämlich auch von deren Methodik, Arbeitsansätzen und Schulen, deren Kommunikationsformen wie Literaturgattungen 1, aber auch etwa wissenschaftlichen Foren und Vereinigungen, desweiteren von deren Rolle in Unterricht und Ausbildung, deren "praktischen" Wirkungen, schließlich von den zu ihr in sachlicher Nähe und im Austausch mit ihr stehenden Wissenschaftsdisziplinen. Was den von Geistes- und politischer Ideengeschichte zu erwartenden Ertrag für unsere Darstellung anlangt, so gilt von dieser Seite das Interesse nicht den Wirkungen der allgemeinen Denkentwicklung auf die wissenschaftliche Arbeit am Staats- und Verfassungsrecht, im übrigen kommt in der Geschichte des politischen Denkens ein professioneller Vertreter des Staatsrechts auch nicht als "Klassiker" oder sonst prominente Figur vor. Die deutsche Verfassungsgeschichte wiederum ist herkömmlich eine bestimmte politische EreignisgeI Ein kurzer Aufriß der für die noch vernachlässigte Geschichte der Literaturgattungen des Staats- und Verfassungsrechts in Betracht kommenden Untersuchungsfragen bei P. Häberle, Verfassungslehre im Kraftfeld der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen (1989), in: Rechtvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, 123 ff.

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schichte, sie sieht gewöhnlich den Niederschlag der Verfassungsprobleme in der wissenschaftlichen Diskussion der Zeit als nicht von ihr mitzubehandeln an. Dennoch ist die Wissenschaftsgeschichte des Staatsrechts in Deutschland natürlich als inbegriffen in die neuzeitliche deutsche Verfassungsgeschichte zu betrachten: Aus den realen verfassungsgeschichtlichen Lagen sind die für die staatsrechtliche Disziplin jeweils angestandenen wissenschaftlichen Probleme und Aufgaben erwachsen; nur von denselben aus sind staatsrechtliche Argumentationen erklärt und ihr Wahrheitsgehalt festgestellt; mit den verfassungs geschichtlichen Epochen Deutschlands stimmen auch grundsätzlich die Wissenschaftsepochen des Staatsrechts in Deutschland überein. Damit können wir im gesamten Verlauf unserer Darstellung vom verfassungsgeschichtlichen Hintergrund überhaupt nicht absehen, während neue Einsätze und Entwicklungen in der geistigen Geschichte Europas nicht unbedingt eine ähnlich hohe Beachtung verdienen2 • Als politischer Ereignisgeschichte hat natürlich der deutschen Verfassungsgeschichte nicht ein näheres Interesse zu gelten. Die Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft hat nicht die üblichen Darstellungen der deutschen Verfassungsgeschichte nach der idiographischen Seite hin zu vervollständigen, sondern kann zur Bereicherung und Vertiefung der Reflexion auf die verfassungsgeschichtlichen Probleme beitragen. 2. Aufgabe und Anlage unserer Darstellung werden desweiteren davon bestimmt, daß im Falle Deutschlands eine Staatsrechtswissenschaft bei weitem älter als anderwärts ist. Darauf weist schon der Ausdruck "Staatsrecht" hin: er ist im 18. Jh. als Eindeutschung von ius publicum entstanden, bodenständig in anderen Sprachen ist er in der Regel nicht geworden 3 . So gibt es weder im Englischen noch im Französischen, weder im Italienischen noch im Spanischen einen zu "Staatsrecht" völlig analogen Terminus 4, d. h. man kommt in diesen und anderen Sprachen zur Bezeichnung unseres Gegenstandes mit den Begriffen "Verfassungsrecht" und "Öffentliches Recht" völlig aus. Ein Grund zur terminologischen Distanzierung von "Staatsrecht" besteht deshalb für uns nicht. Ganz im Gegenteil, kein Ausdruck kann besser als "Staatsrecht" die Richtung unseres Interesses auf das historische Verstehen einer für Deutschland eigentümlichen Wissenschaftsentwicklung anzeigen, im übrigen ist eine historische Untersuchung nicht in der Terminologie so frei wie eine nichthistorische. Ob auch noch heute "Staatsrecht" neben und anstelle von "Verfassungsrecht" Verwendung finden sollte, ist eine Frage, die wir ohne weiteres auf sich beruhen lassen können. Die vom Grundgesetz dem Verfassungsrecht verschaffte hohe Bedeutung dürfte allerdings genug Grund für die Verneinung dieser Frage sein. 2 Im Unterschied zur neuzeitlichen Privatrechtsgeschichte, die mit Recht als ein Teil der allgemeinen europäischen Geistesgeschichte und ihrer Wirkungen gilt; so ausdrücklich Wieacker 20. 3 Wie auch der Terminus "Rechtswissenschaft", worauf P. Koschaker, Europa und das römische Recht, 3. Aufl. 1958,210 hinweist. 4 Im Russischen ist allerdings Staatsrecht ("gosudarstvennoe pravo") völlig geläufig.

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Freilich, auch andere europäische Gesellschaften besitzen eine ältere Literatur über ihre besonderen Verfassungseinrichtungen und -fragen, die durchaus weit zurückreichen kann. Was sie aber nicht kennen, ist eine akademische Wissenschaft des Staats- und Verfassungsrechts von so langer Dauer wie Deutschland. So hat sich im allgemeinen eine besondere Verfassungsrechtswissenschaft erst als Frucht des Konstitutionalismus des 19. Jh. gebildet, dagegen reichen, was Deutschland anlangt, die Anfange einer solchen Wissenschaft bis ins Konfessionelle Zeitalter zurück, d. h. der Ursprung der von uns zu behandelnden Fachdisziplingeschichte liegt in den politischen Konflikten, die mit Reformation und Gegenreformation den Verband des Hl. Römischen Reiches erschüttern. Ein ausländisches Pendant zu unserer Fachgeschichte, dem die Aufmerksamkeit gelten könnte, gibt es mithin für einen langen von uns zu behandelnden Zeitraum nicht. Aufgrund der politischen Pluralisierung Deutschlands ist die Entwicklung seiner Staatsrechtswissenschaft zweiteilig verlaufen: ihr Gegenstand ist zum einen das Reichsstaatsrecht bzw. ein "gemeines" oder allgemeines deutsches Staatsrecht, zum anderen das besondere Landesstaatsrecht. Beide Stoffkreise sind jedoch nicht laufend nebeneinander zu behandeln, wogegen schon ihr sachliches Ineinandergreifen spricht, auch daß sich die Arbeit eines Publizisten auf beide Stoffkreise erstrecken kann. Außer den beiden Strängen eines gemeindeutschen Staatsrechts und des besonderen Landesstaatsrechts verdienen jene Wissenschaftsdisziplinen nähere Beachtung, die durch die Entwicklung einer deutschen Staatsrechtswissenschaft mithervorgerufen worden sind, ihre sachlich nächsten Gesprächspartner sind. Dies sind für das 18. Jh. die neue historische Fachdisziplin Teutsche Reichshistorie und das philosophisch-naturrechtliche ius publicum universale ("Allgemeines Staatsrecht"), seit dem 19. Jh. die Allgemeine Staatslehre sowie das erst im letzten Viertel des 19. Jh. vom Staatsrecht sich abzweigende Verwaltungsrecht. Zur Tenninologie in unserer Arbeit ist zu bemerken, daß wir uns über weite Strecken des Ausdrucks "Staatsrecht" durchaus zurückhaltend bedienen. So sprechen wir, was die Zeit bis zur Mitte des 18. Jh. angeht, gewöhnlich nicht vom "Staatsrecht", sondern vom ius publicum, und zwar meist ohne den gebräuchlichen zeitgenössischen Zusatz Romano-Germanicum oder Sacri Imperii Germanici, nämlich da gewöhnlich auch im zeitgenössischen Schrifttum nur vom ius publicum die Rede ist, d. h. unter diesem wird das Verfassungsrecht des ,,heutigen" Hl. Römischen Reiches verstanden. Nur dann geben wir in den frühen Darstellungspartien "Staatsrecht" mitunter den Vorzug vor ius publicum, wenn "Staatsrecht" den gemeinten Bedeutungssinn besser als ius publicum treffen dürfte. Die Vertreter des Staatsrechts bezeichnen wir, wie es mit dem zeitüblichen Sprachgebrauch übereinstimmt, bis ins späte 19. Jh. als die ,,Publizisten", werden doch auch noch im 19. Jh. unter den "Publicisten" nicht alle diejenigen verstanden, die "überhaupt über öffentliche Angelegenheiten schreiben"s, sondern nur die, die sich dem Staatsrecht widmen.

S Dieses Zitat aus Joh. Hübners Reales Staats-, Zeitungs- und Conservationslexikon, 2. Abt., 2. Aufl. Graz 1805, Sp. 291. Zur Wortgeschichte von ,,Publicistik" K. Neumaier; lus publicum. Studien zur barocken Rechtsgelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt, 1974, 27ff.

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11. 1. Zu einzelnen Problemkreisen der von uns zu behandelnden Fachdisziplingeschichte liegen gediegene, auch nicht nur als typisch "dogmengeschichtlich" zu klassifizierende Arbeiten vor. Bis neuerdings fehlten dagegen Gesamtdarstellungen unseres Gegenstandes. Von älteren Werken geht die klassische, unseren Gegenstand mitbehandelnde "Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft" von Stinzing und Landsberg6 über das zweite Drittel des 19. Jh. nicht hinaus, sie verfolgt auch die Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte im zu engen Rahmen personorientierter verstehender Werkinterpretation. Ein anderes älteres Werk noch aus der Zeit vor 1900, "Geschichte der Staatsrechtswissenschaft" von Hermann Rehm7 , trägt seinen Titel zu Unrecht. So ist daselbst eine Darstellung der Geschichte des gesamten europäischen Staatsdenkens gegeben; das Interesse richtet sich dabei vorzüglich darauf zu prüfen, wieweit seit der Antike Ansätze im europäischen Staatsdenken festgestellt werden können, denen Rehm eine Affinität zum formalistisch-isolierenden Staatsrechtsverständnis zu Ausgang des 19. Jh. bescheinigen zu können meint. Auch wenn damit eine ahistorische Untersuchungsabsicht verfolgt ist, ist Rehms Arbeit an noch heute aufschlußreichen wertvollen historischen Beobachtungen und Reflexionen nicht arm. Schon von der Stoffverteilung her kann sie jedoch nicht entfernt als eine "Geschichte der Staatsrechtswissenschaft" gelten: die Behandlung der Antike und des Mittelalters nimmt den weitaus größeren Raum ein, das 18. Jh., vollends das 19., wird nur noch gestreift. Vorarbeiten und Materialzusammenstellungen zu einer Fachdisziplingeschichte des deutschen Staatsrechts standen Rehm durchaus zur Verfügung. So ist Pütters monumentale "Litteratur des Teutschen Staatsrechts" (3 Tle. 1776/83; fortgesetzt von J.L. Klüber 1791) nicht nur eine immense Bibliographie, sondern enthält im ersten Teil außer biographischen Angaben und Inhaltsübersichten zu einzelnen Werken auch grundsätzliche Bemerkungen zu den einzelnen fachgeschichtlichen Perioden, erst im weiteren Verlauf wird das große Werk zur reinen ,,Bücherkenntnis". In der Regel enthalten die systematischen Darstellungen des deutschen Staatsrechts vor der Ära Laband außer den bibliographischen Angaben auch eine Skizze der fachgeschichtlichen Entwicklung, gelegentlich eine ausführlichere. Eine umfassende Behandlung der Entwicklung des deutschen Staatsrechts seit der Gründung des Deutschen Bundes hat Robert Mohl in den Zweiten Band (1856) seiner "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" aufgenommen 8 .

1880-1910, Neudr. 1978. Aus: Handbuch des öffentlichen Rechts: Einleitungsband, 1896; auch selbständig erschienen. Vgl. die Besprechung durch G. Jellinek in: Deutsche Zeitsehr. f. Geschichtswissenschaft, NF 2 (1897/98) 227 ff. 8 Die Reichsrechtsliteratur vor 1800 hat Mohl in seiner Monographiensammlung wegen ihrer völligen Überholung nicht behandelt. Sie hat, außer in den beiden anschließend zu erwähnenden Arbeiten, eine sorgfältige neuere Darstellung erhalten durch H. Gross, Empire and Sovereignty, Chicago 1974. 6

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2. Immerhin liegt neuestens mit der "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland" von Michael Stolleis 9 eine gelungene modeme, durchaus als Standardwerk zu bezeichnende, vorläufig noch nicht abgeschlossene Gesamtdarstellung der Wissenschaftsgeschichte des Staatsrechts in Deutschland vor. Sie geht über unsere Darstellung bedeutend hinaus. So sind im ersten Band des Stolleisschen Werkes außer dem ius publicum des Hl. Römischen Reiches auch neuzeitliche Politik, neuzeitliches Naturrecht, ius publicum universale, Gute Policey, Policey- und Kameralwissenschaft ausführlich behandelt, erst im zweiten Band, der die Zeit von 1800 bis 1914 umfaßt, verdichtet sich die Darstellung auf die besondere Geschichte des Staats- und Verwaltungsrechts. Stolleis' über eine ganze Gruppe von Wissensgebieten sich erstreckende synthetische Darstellung kann man als den hochmodernen Erneuerungsversuch des älteren Musters einer enzyklopädischtopographischen Wissenschaftsgeschichte bezeichnen, nämlich ohne daß bei aller Fülle der erwähnten und kommentierten Arbeiten auch zweit- und drittrangiger Autoren die Linien der "inneren" Geschichte der behandelten Wissenschaftsdisziplinen verwischt werden. Für den von der Wissenschaftsgeschichte zu erwarten könnenden Beitrag zur Klärung auch allgemeiner rechtswissenschaftlicher Grundsatzfragen ist die große Darstellung von Stolleis beispielgebend. 3. Eine ebenfalls neuere Arbeit, die Münsterer Habilitationsschrift von Dieter Wyduckel lO , kann nicht als gelungener Darstellungsversuch der Wissenschaftsgeschichte des deutschen Staatsrechts bezeichnet werden. Damit werden dieser durch eminente Literaturkenntnis sich auszeichnenden Arbeit nicht die Verdienste abgesprochen. Deren Stärke liegt in der sorgfältigen, ergiebigen Aufdeckung der Wurzeln des "Öffentlichen Rechts" im mittelalterlichen und frühzeitlichen Denken. Damit ist sie für das Verständnis der Anfänge des neuzeitlichen ius publicum höchst aufschlußreich und weiterführend, nicht auch für das Verständnis der späteren Wegstrecken des Faches bis zur Gegenwart, die alles in allem zu gerafft und mehr nur angehängt an die materialreiche Kemuntersuchung der Genese und Entwicklung der Begriffe "Öffentlich" und "Öffentliches Recht" behandelt sind. Aber auch deshalb muß diese Arbeit Erwartungen an eine modeme verstehende Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft enttäuschen, weil Wyduckel an die nachpositivistische Epoche des Faches zu umstandslos als Beurteilungsmaßstab ein besonderes jüngstes Rechtswissenschaftsverständnis, das der Münsterer "Schule", anlegt ll . Alles in allem trägt sein Versuch über weite Strecken mehr den Charakter einer dogmen- als wissenschaftshistorischen Untersuchung, die ange-

9 Erster Band: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, 1800; Zweiter Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914. 1992. 10 Ius Publicum. Grundlagen und Entwicklung des Öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1983. 11 Es wird als "nachpositivistischer Rechtsrealismus" bezeichnet. Vgl. zur Kritik an WyduckeIs Arbeitskonzept Stolleis, Gesch. I, 51 f. sowie die Besprechungen durch H. Dreier in JZ 1985, 570 ff. und H. Hofmann in ZNR 1986, 202 ff.

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strebte Verbindung zur Sozial- und Verfassungsgeschichte schlägt sich wesentlich nur im reichen Notenapparat nieder, die Brüche in der fachlichen Wissenschaftsgeschichte treten hinter den Kontinuitäten im ganzen zu sehr zurück.

111. Die Periodisierung der Wissenschaftsgeschichte des Staatsrechts in Deutschland hat sich an den Zäsuren der deutschen Verfassungsgeschichte zu orientieren. Dagegen ist es kein Einwand, daß die Reaktion der Publizisten auf eine politische Umwälzung Deutschlands in der Gestalt der Umstellung ihres Problemverständnisses und ihrer Arbeitsweise länger auf sich warten lassen kann, so bis zur Mitte des 19. Th., nicht war dies nach 1870/71 und nach 1918 der Fall. Um die Übersicht über die gesamte Darstellung zu erleichtern, werden noch einleitend die Grundzüge der wissenschaftlichen Epochen des Staatsrechts in Deutschland skizziert. 1. Die früheste und längste Epoche einer Wissenschaft des deutschen Staatsrechts reicht vom Ausgang des 16. Jh. bis zum Ende des Alten Reiches, zuvor gibt es Ansätze zu einer fachlichen Publizistik noch nicht. Das alternde Reich ist in diesem zweihundertjährigen Zeitraum nicht nur Gegenstand und Stoff der Wissenschaft vom ius publicum, sondern überhaupt deren Daseinsbedingung: eine Wissenschaft vom ius publicum des Hl. Römischen Reiches gibt es nur wegen der zahlreichen, von dessen "zusammengesetzter" Verfassung aufgeworfenen Streitfragen und wegen des durch sie dem Bestand der Reichsverfassung verliehenen Rückhalts. Mit Recht werden daher die Vertreter des deutschen Staatsrechts bis zum Ende des Alten Reiches die "Reichspublizisten" genannt. Mit ihrer laufenden Bearbeitung des verzweigten Verfassungsstoffs des Alten Reiches, vorliegend in den ,,Reichs-Fundamentalgesetzen", den Urteilen der höchsten Reichsgerichte, den laudabiles consuetudines des Reiches 12 und vorzüglich in ihren eigenen, authentisch die letzteren feststellenden Arbeiten, widmeten sich die Reichspublizisten einer völlig unverwechselbaren Berufsaufgabe: sie erhielten dem Verfassungsrecht des sinkenden Reiches die Achtung, dienten mit dessen Pflege der Aufrechterhaltung des Reiches als eines politischen Kooperations- und Rechtsfriedensverbandes. Diese fachliche Berufsleistung war nicht ohne wissenschaftliche Entwicklungsspannweite. Waren anfangs die Reichspublizisten zu einem Gutteil mehr nur "Sammler" und lose Ordner ihres Stoffs, so wurden sie im weiteren Verlauf schließlich noch zu seinen Systematikern im durchaus modernen Sinne, d. h. zu den Schöpfern einer achtungheischenden, für die Zeit vorbildlichen rechtsdogmati12 Von denen, d. h. dem "Reichsherkommen" der Westfälische Friede ausdrücklich als einem Bestandteil der Verfassung des Reiches spricht. Vgl. Instrurnenturn Pacis Osnabrugense, Art. V [§ 30].

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schen Literatur. Auch die von der allgemeinen geistigen Heerstraße anscheinend so abseits liegende Reichspublizistik wurde durchaus von der Aufklärung erfaßt. Deren Wirkung verwischte jedoch nicht die aus der Eigenart des Rechtsstoffs erwachsene Physiognomie der Wissenschaftsgemeinschaft der deutschen Publizisten, verlieh aber doch der Arbeit der Publizisten neuartige, wissenschaftlich modeme Züge. Die Wirkung der Publizistik aus den letzten Jahrzehnten vor der politischen Umwälzung zu Beginn des 19. Jh. war daher auch nicht mit dieser beendet: auch unter den steigend sich verändernden staatlichen Verhältnissen seit der napoleonischen Ära konnte an Begriffsgut und Stoff der späten Reichspublizistik noch angeknüpft werden und wurde in der Tat angeknüpft. 2. Überhaupt blieb im 19. Jh. eine wissenschaftliche Neugründung des Staatsrechts lange aus. Daß es mit Rheinbund und Deutschem Bund völlig neue überstaatliche Ordnungssysteme gab und die deutschen Fürstenstaaten bis zur Jahrhundertmitte zu konstitutionellen Monarchien umgebaut wurden, trug gewiß neue Ideen und Begriffe in die Arbeit der Publizisten herein, führte sie aber, solange der Umgestaltungsprozeß der deutschen Staaten noch nicht abgeschlossen war, noch nicht auf einen neuen Arbeitspfad. Ihr Stoff veränderte sich freilich schnell und tiefgreifend, und auch der Wandel des allgemeinen Denkens konnte nicht ohne zunehmenden Einfluß auf ihre Arbeit sein. Hatten sie unter dem alten Reichssystem ihren Stoff aus verstreuten disparaten Quellen entnehmen müssen, so wurden nach 1815 Verfassungsurkunden, also Kodifikationen der staatlichen Ordnung, zu ihren maßgeblichen Texten. Natürlicherweise war im Zeitalter der Verfassungskämpfe die Dogmatik nicht ihr spezifischer Beruf, sondern er war eher verfassungspädagogischer Art: es galt, die Bedeutung und praktische Tragweite der neuen Verfassungsgrundsätze und -institute abzuklären, zudem "altes" und "neues" Recht, wie es zur Zeit noch nebeneinander existierte, zur entwicklungsfahigen Synthese zusammenzufassen; begriffslogische Erörterungen waren für diese Aufgabe sicher nicht primär gefordert, sondern "sach- und zweckbezogene" (E. - W. Böckenförde ) Überlegungen. Die "statistischen" Lehrbücher eines gemeindeutschen Staatsrechts aus der Zeit des Deutschen Bundes sind aufgrund dieser ihrer Anlage dieser Aufgabe wohl im ganzen gerecht geworden: sie enthielten den für Deutschland in seiner Gesamtheit gegebenen, in der Umgestaltung begriffenen öffentlichen Rechtsstoff, ohne ihn in die ihm noch nicht gemäße, einen verfassungsgeschichtlich abgeschlossenen Entwicklungsstand voraussetzende Form des "wissenschaftlichen Systems" zu zwingen. 3. Erst im kleindeutsch-preußischen Reich setzte das Fach zu einer neuen, in die Höhe führenden Wissenschaftskarriere an. Nunmehr erst bricht eine neue Epoche in seiner wissenschaftlichen Entwicklung an: die seiner Ausbildung zur systematisch-methodisch selbständigen juristischen Dogmenwissenschaft, d. h. das Staatsrecht folgt dem Privatrecht auf einem von jenem bereits länger beschrittenem Pfad. Die Weichen für seine neue Entwicklung hatte schon 1865, also als der Deutsche Bund noch existierte, earl Friedrich von Gerber mit seinen "Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts" gestellt. Daselbst war auf die nach der

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Revolution eingetretene Konsolidierung der neuen Verfassungssysteme der deutschen Monarchien mit der Umformung des allgemeinen Staatsrechts der deutschen Staaten zu einern einheitlichen juristischen Dogmensystem geantwortet, dessen Sätzen nicht mehr eine gemeine Rechtsgeltung zugeschrieben werden konnte. Gerber stellte in seinen "Grundzügen" auch einen neuen Staatsrechtsbegriff auf: Staatsrecht als "Abgränzung" der als "Herrschen" definierten staatlichen Willensmacht. Zur wissenschaftlichen Zäsur wurde Gerbers neuer Ansatz dank des Umstandes, daß es nach 1866 das norddeutsche Bundesrecht und schnell das neue Reichsstaatsrecht gab. Paul Laband wurde aufgrund seiner frühzeitigen, einem neuen methodischen Prinzip folgenden großen Darstellung des letzteren zum Führer des sich im neuen Reich zügig und ohne wirksame Opposition wissenschaftlich neu formierenden Faches. Die Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreiches wollte "juristisch" sein und nur dies, politische Erwägungen lehnte sie als Direktive für die Arbeit am Staatsrecht ab. Als wissenschaftliches Ziel galt die ,juristische Konstruktion" des Staatsrechts, d. h. die als voraussetzungslos angesehene begriffslogische Durcharbeitung des verfassungsgesetzlichen Rechtsstoffs, die Verfassung unterschied sich nach dem nun herrschenden Wissenschaftsverständnis juristisch nicht von einern sonstigen Gesetz. Die damit vorn Staatsrecht aus dem Privatrecht übernommene und recht erst im Staatsrecht mit voller Energie verfolgte formalistische Arbeitsrichtung hat das spätkonstitutionelle Verfassungsrecht dank dessen scharfer begrifflicher Durchbildung wesentlich erst zu einem praktisch anwendbaren Recht gemacht, eine politisch konservative Wirkung wird man dieser Leistung - entgegen dem verbreiteten Geschichtsbild - nicht generell bescheinigen können. Eine Entfernung vom Verfassungsleben war freilich mit dem konstruktiven Arbeitsprogramm in Kauf genommen. Opposition dagegen konnte sich vor 1918 schon deshalb kaum mit Erfolg zur Geltung bringen, weil das Verfassungsrecht noch nicht judizieller Mitgestaltung unterlag. 4. Immerhin wandte sich schon vor 1918 ein kleiner, jüngerer Teil des Faches in der Arbeit an den besonderen bundesstaatsrechtlichen Problemen vom üblichen Formalismus ab, ohne jedoch neue wissenschafts programmatische Ziele erklärtermaßen anzumelden. Erst im neuen demokratischen Staat kam die Opposition gegen die lange Vorherrschaft der positivistisch-formalistischen Arbeitsrichtung und die von ihr diktierte Ausklammerung der materiellen verfassungsrechtlichen Probleme zu vehementem Durchbruch. Erstmals geriet das Fach in einen "Methodenstreit", er wurde bekennerhaft ausgetragen. Auf einen anerkannten neuen Arbeitspfad sollte jedoch das Fach in der kurzen Zeit des Bestehens der Weimarer Verfassung nicht gelangen. Die Arbeit an den neuen Weimarer Verfassungsproblemen war wegen der schnell entfallenen praktischen Bewährungsmöglichkeit und der Politisierung der neuen Grundlagendiskussion aber nicht vergebens. Ihr Ertrag liegt in mehr vor als in den dauerhaften, vom Grundgesetz sanktionierten Klärungen zentraler Verfassungsfragen: die Weimarer Staatsrechtslehre machte wieder den "ganzen Staat" zu Gegenstand und Aufgabe des Faches.

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1933 bis 1945 ist keine Epoche in der Geschichte des Faches: das Dritte Reich der "Führerstaat" - kannte ein Staatsrecht nur als Farce. Die Betrachtung der Rolle des Faches in diesem zwölfjährigen Zeitabschnitt ist wesentlich der Beitrag zu einem allgemeinen interdisziplinären Thema: Wissenschaft im totalitären Staat. 5. Die Entwicklung des Faches unter dem Bonner Grundgesetz behandeln wir nicht mehr. Daß wir davon absehen, meinen wir nicht besonders begründen zu sollen. Einem wissenschaftlichen Arbeitsplan sind Grenzen gezogen, zudem dürfte der genügende historische Abstand zur Entwicklung des Faches auch in den beiden ersten Jahrzehnten unter dem Grundgesetz selbst noch heute fehlen. Die Erarbeitung der Wissenschaftsgeschichte des Staats- und Verfassungsrechts der Bundesrepublik hat auch kaum schon begonnen, so daß wir, wenn wir unsere Darstellung über die deutsche Katastrophe hinauszuführen versuchen würden, nur wenig uns auf hilfreiche Vorarbeiten stützen könnten, selbst zu Kontinuität und Diskontinuität des Heute mit Weimar in Sachen "Grundlagenstreit" steht bisher eine umfassende Darstellung aus 13 • Einen Zweifel am scharfen Einschnitt, den das Grundgesetz in der Entwicklung des Faches bildet, kann es freilich nicht geben. Damit ist auch ein triftiger sachlicher Grund vorhanden, unsere Darstellung nicht über 1945 hinauszuführen: die Staatsrechtswissenschaft, die sich bis heute unter dem Grundgesetz entwickelt hat, und zwar ohne eine Grundlagendiskussion, kann recht eigentlich nicht mehr als eine "Staatsrechtswissenschaft" bezeichnet werden, sie ist" Verfassungsrechtswissenschaft" . Zu dieser Mutation von der Staatsrechts wissenschaft zur Verfassungsrechtswissenschaft ist wenigstens eine kurze Bemerkung noch angezeigt: sie ist das Resultat der einzigartigen Geltungsaufwertung des Verfassungsrechts durch das Grundgesetz und der vollmachtenreichen Stellung der zum Verfassungsorgan aufgestiegenen Verfassungsgerichtsbarkeit. Durch die vom Bundesverfassungsgericht schnell gewonnene hohe Autorität und seine dauernd äußerst rege, ausgreifende und folgenreiche Entscheidungstätigkeit sind nicht nur die Voraussetzungen für die Arbeit des Faches tiefgreifend verändert worden, sondern auch Charakter und Funktion seiner Arbeit. So richten sich längst Erörterungen im Staats- und Verfassungsrecht immer auch, wenn nicht vorzüglich, an das Bundesverfassungsgericht, es gibt der Arbeit des Faches nicht nur die aktuellen Untersuchungsfragen vor, sondern kann auch sein Vordenker sein und es bei der dogmatischen Aufarbeitung der von ihm gelieferten Entscheidungen fast außer Atem bringen. Die laufende Verfeinerung der Grundrechtsdogmatik, die zur Weimarer Zeit erst in den Anfangen gestanden hat, wie nicht weniger der starke, ebenfalls Weimar noch unbekannte dogmatische Ausbau des Verwaltungsrechts belegen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit die hochgradige Abhängigkeit der heutigen wissenschaftlichen Arbeit im öffentlichen Recht von der Verfassungsrechtsprechung. Hat aber das Fach die geistige Selbstän13 Woran unlängst P. Häberle erinnert hat: Ein "Zwischenruf" zum Diskussionsstand in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Politik - Bildung - Religion, Hans Maier zum 65. Geburtstag, 1996,329 N. 4.

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digkeit und seinen methodisch-dogmatischen Einfluß auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher überzeugend genug gewahrt? Bejahen kann man diese Kardinalfrage wohl nur 14 , wenn im ganzen der neueren dogmatischen Arbeit des Faches bescheinigt werden könnte, daß sie gegenüber der verfeinerten Herausarbeitung von Einzelheiten nicht die Erarbeitung von "Konzepten und Alternativen" (K. Hesse 15 ) vernachlässigt hat, dies aber dürfte eher zu verneinen sein. Da sich die bisherige hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts politischen Konsensbedingungen verdankt, mit deren Fortbestehen nicht mehr sicher gerechnet werden kann, dürfte sich für die Zukunft diese Frage noch dringlicher stellen.

14 Skeptisch bezüglich ihrer Bejahung B. Schlink. Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989) 161 ff. Zum Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Staatsrechtslehre auch eh. Starck. Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß der Bundesrepublik, 1976, 12 f. 15 Siehe dessen Schlußwort in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, 106.

Erster Teil

Entstehung und frühe Entwicklung des Ius Publicum Imperii Romano-Germanici § 2. Gemeinwesen und öffentliche Herrschaft im europäischen Rechtsdenken bis zum Reformationszeitalter I. Ansätze staatsrechtlichen Denkens in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft. - 11. Spätmittelalterliche politische Traktatliteratur. - III. Die humanistische Bildungsrevolution und das ius publicum in der Rechtsliteratur des Humanismus.

J. 1. Daß das mit dem Gemeinwesen gegebene und an ihm seinen Gegenstand besitzende "Öffentliche Recht" einen besonderen Teil der Rechtsordnung bildet, ist eine bis auf den römischen Ursprung der europäischen Rechtskultur zurückgehende Vorstellung, zum kanonischen Schema für die Einteilung der gesamten Rechtsordnung hat das Begriffspaar "Öffentliches Recht" - ,,Privatrecht" allerdings erst die Rechtswissenschaft des 19. Ih. gemachtl. So kennt bereits das klassische römische Recht nicht nur das ius civile im Sinne des ,,Iuristenrechts" und das ius pontificium (ius sacrum), sondern außerdem das ius publicum. Immer wieder ist in der europäischen Rechtsliteratur auf eine den spätrömischen Rechtsklassiker Ulpian (2. Ib. n. ehr.) zum Autor habende Digestenstelle2 Bezug genommen, nach welcher sich die Rechtsordnung zur Gänze in die beiden Teile "ius publicum" und "ius privatum" zerlegt: "Huius (d. h. des Rechts) studii duae sunt positiones, publicum et privatum. Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum, quod ad utilitatem singulorum',3. Als ein eigener Zweig des RechtsI V gl. aus dem reichen Schrifttum zu den geschichtlichen Voraussetzungen dieser Leitvorstellung insbesondere St. Gagner, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel "Öffentliches Recht und Privatrecht" im kanonistischen Bereich, Deutsche Landesreferate z. VII. Internat. Kongreß f. Rechtsvergleichung in Uppsala 1966, 1967,21-55. 2 Dig. 1,1,1,2; analog Inst. 1,1,4. 3 Zur Deutung von publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat in der hoch- und spätmittelalterlichen Rechtslehre W. Mager, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs,

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1. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Gennanici

studiums ist jedoch das ius publicum durchaus erst eine neuzeitliche Erscheinung. Zwar hat sich die im Hochmittelalter einsetzende europäische Rechtswissenschaft zweiteilig entwickelt, aber nicht im Sinne der Zweiteilung Ulpians. So sind ihre beiden Teile zum einen die Legistik, die Wissenschaft des römischen Rechts, zum anderen die Kanonistik, die kirchliche Rechtswissenschaft, ihre oberste Gliederung ist also nicht sachlicher Art, sondern beruht auf der Herkunft ihrer Textgruppen. Bei ihrem auf dem Corpus Iuris Civilis aufbauenden Quellenbestand war die Legistik durch Jahrhunderte "civiiistisch", Wissenschaft vom ius civile. Von ihr zweigt sich das ius publicum als eigener Stoffkreis und eigene akademische Disziplin durchaus erst in der Neuzeit ab, nämlich seit der Wende zum 17. Jh. und in Deutschland. Und zwar nicht ein allgemeines ius publicum, sondern das ius publicum des Imperium Romano-Germanicum hodiernum. Freilich haben nicht erst neuzeitliche Juristen publizistische Fragen zu erörtern gewußt. Das Gegenteil ist, sosehr die Entwicklung des neuzeitlichen "Staates" den großen Hintergrund der Verselbständigung des ius publicum bildet, richtig: Auch in den Jahrhunderten, in denen es noch nicht das ius publicum als einen eigenen Zweig der Jurisprudenz gegeben hat, spielen seine Sachfragen in den juristischen Erörterungen eine prominente Rolle. Versteht man unter jenen alle Fragen zur Verfassung des Gemeinwesens, also vorzüglich zur Stellung der öffentlichen Gewalt, so hat sich natürlich schon die spätmittelalterliche Rechtswissenschaft und politische Theorie ausgiebig mit diesen Fragen beschäftigt, sie wirkte mit deren Erörterung tief in die Neuzeit. Allerdings dienten den vorneuzeitlichen Juristen bei ihren Reflexionen auf die Probleme des Gemeinwesens nicht ihre zeitgenössischen, auf dem Lehnrecht beruhenden Verfassungsformen als Stütze und Stab, sondern die in ihren justinianischen Quellentexten vorausgesetzte spätantike zentralistische Staatsorganisation, seit dem späten 13. Jh. auch die aufgrund der lateinischen Übersetzungen nun erst in Europa bekannt werdende Staatsformenlehre des Aristoteies. Gerade weil sie die aus ihren klassischen Texten zu entnehmenden publizistischen Begriffe und Lehren im allgemeinen noch unter Absehung von ihren geschichtlichen Bedingungen auffaßten, vermochten die vorneuzeitlichen Juristen auch die Verfassungsphänomene ihrer Zeit unter jene Begriffe zu subsumieren: die fehlende Reserve geschichtlich denkender Juristen gegenüber ihrem Stoff ersparte bei aller Bindung durch die Autorität der Texte Bedenken gegenüber einer sinnerweiternden und -verändernden Textinterpretation 4 • 1968 (Akad. d. Wiss. u. d. Lit. in Mainz. Abhdlg. d. Geistes- u. Sozialwiss. Kl. Jg. 1968, Nr.9), lOff. Überhaupt zu Ulpians Zweiteilung M. Kaser, ,ius publicum' und ,ius privatum', ZRG RA 103 (1986) 1-101; p. Capellini, Private e publico, in: Encic10pedia dei Diritto, XXXV, Milano 1986,660-687; Th. Honsell, Gemeinwohl und öffentliches Recht im klassischen romischen Recht, ZRG RA 95 (1978) 93-137; M. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968. 4 Zum ungeschichtlichen Denken der Glossatoren und Kommentatoren als Voraussetzung ihrer rechtsschöpferischen Leistung etwa P. Koschaker, Europa und das römische Recht, 3. Auf!. 1958, 87 ff. Zur Gegenwartsnähe der in der Rechtsliteratur der Kommentatoren an

§ 2. Gemeinwesen und öffentliche Herrschaft

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2. Bei der Anbahnung "staatsrechtlicher" Denkansätze ging der Legistik ihre jüngere Schwester, die von der Moraltheologie sich ablösende Kanonistik5 , eher voran. Das praktische Bedürfnis, von dem die Kanonistik hervorgerufen wurde, war die Durchsetzung der päpstlichen plenitudo potestatis, d. h. das in O~eritalien seit dem Hochmittelalter in produktivem Wettstreit mit dem römischen Recht sich entwickelnde kanonische Recht stand im Dienste der Ausformung der Kirche zu einer hierarchischen Amtsorganisation, der Begründung der päpstlichen Superiorität innerkirchlich wie im Verhältnis zu allen weltlichen Herrschaftsgewalten; vermöge seines tief ins profane Leben hereinreichenden Geltungsanspruchs wurde schließlich das päpstliche Gesetzbuch für das westliche Abendland überhaupt "ein zweites Corpus iuris" (R. Sohm). Wegen ihrer Begründung der "päpstlichen Souveränität" gelten die mittelalterlichen Kanonisten mit Recht als die ersten im großen Stil rechtsschöpferischen Juristen Europas. Bereitwillig griffen sie auf das justinianische Imperatorenrecht zurück, um mit dessen Formel von der Entbundenheit des princeps von den positiven Gesetzen (legibus solutus)6 auch die Ungebundenheit des Papstes durch seine Rechtsetzungen (canones) unter Beweis zu stellen. Mit Recht pflegt man denn auch die kirchlich-päpstliche Gewalt, nicht den "Lehnstaat" und auch nicht die schon in der vorneuzeitlichen Gesellschaft eigene Rechtssysteme ausbildende Stadtkommune, als den Mutterboden der modemen okzidentalen Souveränitätsidee anzusehen 7 . Nämlich da das spezifische Herrschaftsmittel der kirchlich-päpstlichen Gewalt die dem Papst allein zustehende Bindeund Lösegewalt ist, also Rechtsetzung; daß er in die menschlichen Gesetze eingreifen und sie ändern kann, stellt den Papst über alle weltlichen Herrscher bis hinauf den Materialien des römischen Rechts entwickelten Begriffs- und Systembildung Willoweit 17ff. U.Ö. 5 Ihre Ausbildung beginnt mit dem Decretum Gratiani (um 1140) und führt zum Corpus luris Canonici (1317). 6 Dig. 1,3,31. 7 Aus dem reichen Schrifttum zum mittelalterlichen Souveränitätsdenken und speziell zur Frage, wieweit für das Mittelalter von Souveränitätsdenken gesprochen werden kann, erwähnen wir: Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranita, 3. ed. Milano 1957; Sergio Mochi-Onory, Fonti canonistiche dell'idea modema dello stato, Milano 1951; Gaimes Post, Studies in Medieval Legal Thought, Public Law and the State 1100-1322, Princeton 1964; W. Ullmann, The Growth of Papal Govemment in the Middle Ages, 4. Aufl. London 1970 (deutsch 1960); ders., Principles of Govemment and Politics in the Middle Ages, 2. Aufl. London 1966; Michael l. Wilks, The Problem of Sovereignty in the Later Middle Ages, Cambridge 1963; Brian Tiemey, Foundations of the Conciliar Theory. The Contribution of the Medieval Canonists from Gratian to the Great Schism, Cambridge 1965; ders., The Continuity of Papal Political Theory in the Thirteenth Century. Some Methodological Considerations, in: Medieval Studies 27 (1965) 227-245; lohn H. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century, London 1966; H.G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität, 1976; E. Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, 1979; Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, 1979; Quaritsch, Staat u. Souv. 44-242; ders., Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986, 34 ff.

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zum Kaiser, der Charakter der Kirche als der einzigen universalen Organisation in der abendländisch-mittelalterlichen Gesellschaft sichert der päpstlichen Rechtsetzungsgewalt die Beachtung und Auswirkung. Noch für andere politische Ideen des Abendlandes als die Souveränitätsidee kann der kirchliche Ursprung nachgewiesen werden 8 . Im Zeitalter des Konziliarismus mußte vollends die Kirche zum Anreger des politischen und staatsrechtlichen Denkens werden. 3. a) Das hohe Interesse der hoch- und spätmittelalterlichen Legisten am antiken Imperatorenrecht kann man nicht nur auf deren Wunsch zurückführen, die Unabhängigkeit des Imperiums vom Sacerdotium und die Vorrangstellung des deutschen Herrschers unter den weltlichen Herrschern in Europa (dominus mundi) unter Beweis zu stellen. Allerdings kam es auf diesen Beweis wohl noch entscheidend den Glossatoren, nach P. Koschaker9 den "natürlichen Bundesgenossen" der deutschen, insbesondere staufischen Kaiser, an. Kaum kann dies jedoch auch noch von ihren Nachfolgern aus dem 14. Jh., den Postglossatoren oder besser aufgrund des Arbeitsstils: den Kommentatoren, behauptet werden, die erst die Dogmatiker des Imperatorenrechts, allerdings auf der Grundlage der Glossenliteratur, sind. Das Interesse dieser stärker praxiszugewandten Juristen galt wohl eher überhaupt der staatsrechtlichen Begründung der Stellung eines princeps, also etwa auch des Tyrannen eines italienischen Stadtstaates als der des deutschen Herrschers. Diese Annahme muß jedenfalls die politische Zeitlage dieser Juristen nahelegen. Die Zerstörung der Kaiserrnacht in Italien war für sie eine vollendete Tatsache, sie bedeutete, daß die ober- und mittelitalienischen Stadtkommunen, noch immer die einzigen Pflegestätten einer gelehrten Jurisprudenz, die volle Autonomie erlangt hatten, sie konnten nun aber auch leichter einer Invasion erliegen. Die Stellungnahmen der Kommentatoren zu den Fragen der höchsten Gewalt tragen dieser prekären Lage ihrer Wirkungsstätten ersichtlich Rechnung. So wenn zum einen die Kommentatoren jedem weltlichen Herrscher wie erstmals wohl in bezug auf die Stellung des französischen Königs ein französischer Legist (lean de Blanot) die kaisergleiche Stellung des princeps in seinem Territorium zusprechen (princeps imperator in regno suo), zum anderen jedoch dem Kaiser durchaus die Stellung des Schutzherrn der europäischen Christenheit (dominus mundi) belassen, also nicht die einzigarti8 Man denke an die Trennung des Amts von der Person des Amtsinhabers (Papa persona publica est) oder an die Begründung des Europäischen Völkerrechts in der universitas der christlichen Völker und Reiche Europas. Zum Anteil des kanonischen Rechts an der Ausbildung staatlicher Rechtsstrukturen Mochi-Onory (s. Anm. 7); M.J. Odenheimer; Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Rechtsgebiet, 1957; W Ullmann. The Papacy as an Institution of Government in the Middle Ages, in: Studies in Church History 2 (1965) 78-101, erneut in ders .• The Papacy and Political Ideas in the Middle Ages, London 1976; W Krawietz. Körperschaft. in: Hist. Wb. d. Philos. 4 (1976) Sp. 1101 ff. (1l06ff.); E.-W Bäckenfärde. Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: R. Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modemen Welt, 1977, 154-177 (166); Wyduckel91 ff. 9 s. Anm. 4, 73.

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ge dignitas des Imperiums schmälern lO • Einzelheiten der Konstruktion der ImperatorsteIlung durch die Kommentatoren wie die Unterscheidung nach der Herrschaftseffizienz: de iure - de Jacto haben hier nicht zu interessieren. Der Hinweis kann genügen, daß die Kommentatoren schon aus ghibellinisehern Realismus die KaisersteIlung nicht völlig an die Stellung jedes anderen princeps angleichen konnten, überdies hätte dies nicht im Interesse der recht erst von ihnen, nicht schon den Glossatoren erstrebten gemeinen europäischen Geltung des gelehrten Rechts gelegen. Im Grunde setzt eine systematische Rechtswissenschaft erstmals mit den Kommentatoren, so eng sie an die exegetische Arbeit der Glossatoren am Text anschließen, ein 11. Wie ihr Name anzeigt, tragen sie erstmals Rechtslehren in der Form des Traktats vor, liefern also Erörterungen zu einem bestimmten Thema. Schon der Umstand, daß ihre Rechtswirklichkeit erheblich mehr als die der Glossatoren von einem an Umfang und materieller Bedeutung schnell zunehmenden Statutenrecht gekennzeichnet ist, mit dem das gelehrte Recht synthetisiert werden mußte, mußte sie mehr als die Glossatoren zur Ausnutzung rechts schöpferischer Spielräume bei der Interpretation der Quellentexte und der Glosse, der eigentlichsten obersten Autorität, anhalten. Ohne die Ausformung zu einem inneren Zusammenhang von Begriffen und Sätzen, also nicht mehr allein durch die kasuistische Verfeinerung, hätte auch kaum das justinianische Recht zur ratio scripta Europas werden können (F. Wieacker). b) Den beiden führenden spätmiuelalterlichen Kommentatoren im römischen Recht, Bartolus a SaxoJerrato (1314-1357) und Baldus de Ubaldis (um 13201400), verdankt sich eine bis in die Neuzeit ansichtenbildend gewordene Systematik der öffentlichen Herrschaftsformen. Auf diese in jüngster Zeit sorgfältig erörterte Systematik l2 ist auch hier kurz einzugehen, sie stellt den erstmaligen Ansatz zur Dogmatisierung eines allgemeinen ius publicum, wenngleich noch nicht unter diesem Namen, dar. Zum "Aufhänger" hat diese Systematik die iurisdictio, also den römischrechtlichen Begriff für die richterliche Gewalt, unter der jedoch mehr 10 Nach Bartolus. Ad Constitionem omnem No. 3, Opera omnia, Basilea 1588/ 89, Bd. 1, S. 4 wird der imperator als dominus mundi bezeichnet, "qiua tenetur totum mundum defendere et protegere". Zum Verständnis der imperialen Oberherrschaft bei den Kommentatoren J. Baszkiewicz. Quelques remarques sur la conception de dominium mundi dans l'oeuvre de Bartolus, in: Bartolo da Sassoferrato. Studi e documenti per il 6 centenario, Bd. 11, Milano 1962, 7- 25; M. David. Le contenu de I' hegemonie imperiale dans la doctrine de BartoIe, ebd., 199-216; auch Quaritsch. Staat u. Souv. 87f. 11 Zur wissenschaftlichen Leistung der Kommentatoren Wieacker 80 ff.; N. Horn. Die legistische Literatur der Kommentatoren und die Ausbreitung des gelehrten Rechts, in: Coing, Hdb. I, 261-364; ders. in: lus commune 2 (1969) 84-129; U. Nicolini. I giuristi postaccursiani e la fortuna della Glossa in Italia, in: Atti deI convegno internazionale di studi accursiani 111, Milano 1968,801-943. 12 Durch Wyduckel 53 ff. und schon Willoweit 18 ff. Zum politischen Hintergrund der Theorie der Kommentatoren M.H. Keen in: B. Smalley (Hg.), Trends in medieval political thought, Oxford 1965.

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als Rechtsprechung verstanden wird, nämlich die öffentliche Herrschaftsaufgabe überhaupt, so daß im Grunde im Verständnis der Kommentatoren der iurisdictio durchaus bereits die Funktion der neuzeitlichen Souveränität zukommt. Jene weite Auffassung der iurisdictio war allerdings auch dem klassischen römischen Recht schon geläufig 13 , zudem hat sie an der mittelalterlichen Vorstellung vom Königsamt als Richteramt den Rückhalt. Nicht nur daß die beiden führenden Kommentatoren der in diesem Sinne weit aufgefaßten iurisdictio die geläufigen Arten des imperium, nämlich zum einen das die oberste Strafgewalt meinende imperium merum und zum anderen das die übrige (streitige) Gerichtsbarkeit meinende imperium mixtum sowie die Zusammenfassung beider zum imperium merum et mixtum, d. h. zur vollen Gerichtsgewalt einordnen. Sondern Baldus führt bei der Unterteilung des imperium merum auch noch das merum imperium absolutum ein, d. h. die allein an Verträgen und paktierten Gesetzen die rechtlichen Schranken besitzende öffentliche Gewalt; damit gilt ihm im Grunde als das Unterscheidungsmerkmal des merum imperium absolutum, wozu auch Bartolus gelangt, die Rechtsetzungsgewalt, also eine der iurisdictio sachlogisch vor- und übergeordnete Gewalt: "statuta condere est iurisdictionis,,14. Damit betonen die beiden Hauptautoritäten unter den Kommentatoren die der Spätantike selbstverständliche, dagegen der christlich-mittelalterlichen Rechtsvorstellung fremde Idee von der "absolutistischen" Entbundenheit des Herrschers von den menschlichen Gesetzen (legibus solutus) als das Spezifikum der Stellung des Inhabers des merum imperium absolutum. Wenn daher in der frühen Neuzeit Bodin die Entbundenheit des Souveräns von den positiven Gesetzen zum eigentlichen Souveränitätsmerkmal erhebt, so war eben dieses Merkmal durchaus bereits in der spätmittelalterlichen Legistik als das Hauptkriterium für die Unterscheidung der öffentlichen Gewalt erkannt 15 . 4. Einen Ansatzpunkt für die Systematisierung der öffentlichen Herrschaftsarten konnte die profane Jurisprudenz auch aus einem autoritativen Gegenwartstext entnehmen: den in der ersten Hälfte des 13. Jh. in die gültige Fassung gebrachten Sammlungen des langobardischen (lombardischen) Lehnrechts (Libri Feudorum). Schon von den Glossatoren wurden die Libri Feudorum den Kaisergesetzen des Corpus Iuris als decima collatio angefügt, ihr namhafter früher Kommentator ist 13 Hierzu M. van de Kerkhove, De notione jurisdictionis in jure romano, in: Ius Pontificium 16 (1936) 52ff. (59ff.). 14 Commentaria in primam Digesti veteris partern, Venetia 1572, !ib. I, tit. I, 1.1, n. 9, BI. 14 r. Vgl. Bartolus, Opera omnia, Venetia 1615, D 11 De iurisdictione omnium iudicum L. 3 n. 8 p. 47. (R): "imperium maximum est, habere potestatem concedendi leges generales. .. 15 Weswegen allerdings Bodin nicht wie bei Wyduckel124 eine ,,Position der Mitte" in der Geschichte des politischen Denkens bescheinigt werden kann, da damit sein neuer Ansatz bei der ordnungs- und friedens gestaltenden Funktion des neuzeitlichen Staates unterschätzt sein dürfte. Wie Wyduckel aber auch M. Imboden, J. Bodinus und die Souveränitätslehre, 1963, auch in dessen ausgewählten Schriften und Vorträgen: Staat und Recht, 1971,93 ff. (94); die Gegenansicht etwa bei Quaritsch, Staat u. Souv., bes. 251, der betont, daß die Entwicklung des politischen Denkens vor Bodin nur Ähnlichkeiten mit seinem Souveränitätsbegriff aufweist, aber keine Gemeinsamkeit in der eigentlichen Substanz.

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Baldus 16 • Der aus der Constitutio de regalibus des ronkalischen Reichstags (1158) stammende Begriff der iura regalia 17 war im Unterschied zur iurisdictio ein die öffentliche Herrschaftsgewalt direkt bezeichnender, ihren Ursprung benennender Gattungsbegriff. Die iura regalia, auch als dignitates oder feuda regalia bezeichnet, wurden denn auch in der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Jurisprudenz als der Inbegriff der einem Träger hoheitlicher Gewalt zustehenden Rechte aufgefaßt; dabei ermöglichte es die Auffassung der fürstlichen und gräflichen Reichsterritorien als feuda regalia, daß auch jene unter einem einheitlichen Herrschaftsbegriff zusammengefaßt werden konnten 18 . Wie mit dem extensiv interpretierten Jurisdiktionsbegriff lag mithin auch mit dem Regalienbegriff ein Begriff zur zusammenfassenden Bezeichnung der in der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaft so verschiedenartigen und ineinander verschlungenen Formen öffentlicher Herrschafts gewalt vor. Ja, da die Feudistik, die Wissenschaft des Lehnrechts (ius feudale), auch die Jurisdiktionsgewalt unter die Regalien subsumierte und damit alle Herrschaftsrechte zu einem von einer Spitze ausgehenden "Delegationszusammenhang" vereinigte, ermöglichte der für Differenzierungen offene Regalienbegriff nach D. Willoweit 19 überhaupt erst ein "amtsrechtliches Verständnis" des Reiches, und damit wird man ihn mit Willoweit auch nicht als den wissenschaftlichen Gegenspieler zur vordringenden spätantiken zentralistischen Staatsrechtsidee veranschlagen können.

11. 1. Nach 1250 hatten die abendländischen Universalmächte ihre geschichtliche Kraft verbraucht: das Imperium war mit dem Untergang der Staufer zusammengebrochen, das Papsttum unterlag in der Auseinandersetzung mit dem französischen Königtum Philipps des Schönen und stürzte in der Folge mit Großem Schisma und konziliarer Bewegung in seine bisher schwerste Krise. Aber auch neue denkerische Entwicklungen brachen den Universalmächten den geistigen Rückhalt weg. In diesem Sinne wirkte die neue abendländische Bildungsrnacht: der Aristotelismus, er eroberte seit dem 13. Jh. die lateinischen Universitäten. Erst unter seinem Einfluß erreichte die mittelalterliche Philosophie, die Scholastik, die volle Blüte und gegensatzreiche Spannweite. Das philosophische Denken rückte nun von Univer16 Sein Kommentar (In usus feudorum) wurde von 1475 an öfter und auch außerhalb seiner übrigen Werke gedruckt (F.c. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. 6, Ausg. 1850,240 N.d). Unter den Werken der im 16. Ih. zu ihrer Hochblüte gelangenden Feudistik ragt hervor: F. Duarenus, Commentarius in consuetudines feudorum, Colonia Agr. 1563/64. 17 Die einschlägige TextsteIle in L.F. 2,56 (zur Frage: Quae sint regalia?) ist auch angeführt bei Pütter; Litt. I, 53. 18 Hierzu Willoweit 28 ff., 47 ff. 19 Ebd., S. 32.

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salismus und Platonischem Ideendenken ab, um, erstmals bei Ockham, bis zum Nominalismus und zur Anerkennung der vollen Realität der Einzeldinge weiterzugehen. Thomas von Aquins umfassender Ausbau der christlichen Glaubenslehre verdankte sich dessen Schulung am systematischen Geist und an der Metaphysik des Aristoteles. In seinem Lehrgebäude reifte das christliche Naturrecht bis zur systematischen Gestalt durch. Hier ist nicht der Ort, die neuen, seit dem 13. Jh. vordringenden geistigen Entwicklungen Europas auch nur andeutend zu skizzieren. Im Rahmen unseres Themas genügt es, daß auf die von ihnen eingeleitete Dauerumgestaltung des Vorstellungsbildes vom europäisch-christlichen Gemeinwesen hingewiesen ist. Der Gesamtlinie nach wird nun das europäische Denken vom Gemeinwesen zusehends säkular, wirklichkeitsnäher, z. T. auch schon kritisch-geschichtlich. Mit der an den europäischen Universitäten vorgetragenen Politik des Aristoteles hält erstmals an jenen eine Wissenschaft von der Politik ihren Einzug 2o . Nach ihrem sachlichen Kernstück ist sie eine Verfassungsformenlehre, methodisch eine empirische Wissenschaft, die jedoch aufgrund ihrer Leitidee vom Menschen als Gemeinschaftswesen fest in philosphischem Grund ruht und sich als eine praktische Handlungslehre mit der christlichen Morallehre vermählen kann. Überhaupt mußte das Studium des lateinischen Aristoteles das Gemeinwesen von der natürlichen Vernunft her sehen lernen. Zumal der berühmte Defensor pacis (vollendet 1324) des Marsilius von Padua (um 1280-1342) bestätigt, daß erst unter der durchdringenden Wirkung des Geistes des Stagiriten die alten Streitfragen zum Verhältnis von Sacerdotium und Imperium die schärfste Formulierung erhalten. Zu diesen alten Streitfragen kamen seit dem 14. Jh. die aufwühlenden Fragen nach dem Verhältnis von Papst und Konzil hinzu. Der Zeitraum von 1250 bis 1500 ist daher, wie längst anerkannt, als das "Spätmittelalter" durchaus verfehlt bezeichnet, es beginnt in ihm die Neuzeit, die politische Modeme. 2. Die Belebung des politischen Denkens während dieses Zeitraums dokumentiert der kräftige Aufschwung der politischen Traktatliteratur. Auch er braucht jedoch von uns nicht näher angeleuchtet zu werden, da er durchaus noch keine Ansätze zu einer Literatur über das deutsche ius publicum im Gefolge hat, eine solche Literatur bleibt vielmehr bis zum Ausgang des 16. Jh. noch aus. So reichhaltig die Traktatliteratur des 14. und 15. Jh. an Erörterungen ausgesprochener Verfassungsfragen ist, so handelt doch nur ein Teil derselben, und zwar der eher kleinere, vom Sacrum Imperium Romanum und seiner Ordnung, sondern wie das große Werk des Marsilius allgemein von der Ordnung der Kirche und des Gemeinwesens. Aber auch jene Traktate, die man als vorreformatorische "Reichs schriften" bezeichnen kann 21 , können noch nicht als Vorläufer der neuzeitlichen Reichspublizistik gelten, 20 Und zwar auch an den vor 1500 noch wenigen deutschen Universitäten. Vgl. H. Maier, Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jh., in: D. Oberndörfer (Hg.), Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Lehre, 1962, 59 ff., 62 f.

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typischerweise sind sie politische Mahnschriften, die zum Handeln gegen das Absinken des Reiches aufzurufen suchen 22 . Nur ausnahmsweise kann auch ein konkretes politisches Reformprogramm für das Reich entworfen sein, nämlich im Dritten Buch der mächtigen De concordantia catholica (1432/33) des Nikolaus von Kues (1401-1464); die dort unterbreiteten kühnen und modemen Vorschläge zu einer Reichsreform waren schon zur Zeit der entschlußlosen Regierung Friedrichs III. ohne Aussicht auf Erfolg 23 . Von den Reichsverfassungsfragen behandelt Cusanus nur einen bestimmten kleinen Teil, nämlich die Fragen zum Verhältnis der kaiserlichen Gewalt zu den Konzilien. 3. Am ehesten können zwei spätmittelalterliche Traktate als eine Art Prolog des neuzeitlichen ius publicum gelten. a) Dies ist zum einen der Tractatus de iuribus regni et imperii des Lupold von Bebenburg (um 1297-1363)24, ihm kommt wegen der tief ansetzenden Aufrollung der Repräsentationsproblematik unstreitig ein prominenter Platz in der Geschichte des politischen Denkens zu. In der deutschen Verfassungsgeschichte hat der berühmte Traktat seinen Ort als das die Goldene Bulle (1356) verfassungsgeschichtlich und theoretisch vorbereitende und begründende Werk, die politische und staatsrechtliche Diskussion der frühen Neuzeit nimmt laufend von ihm Notiz (Erstdruck durch J. Wimpfeling 1508). Die in der Goldenen Bulle endgültig geregelte deutsche Königswahl - über ihre Regelung geht bis zu Ausgang des 15. Jh. die Verrechtlichung der deutschen Verfassung nicht hinaus - steht Lupold zufolge ausschließlich dem gerade sich institutionalisierenden Kurfürstenkollegium zu, die Kurfürsten sind zu ihr ohne jede päpstliche Ingerenz autorisiert. Wegen der verfassungsgeschichtlich sorgfältig durchgeführten Begründung des Alleinrechts der Kurfürsten zur deutschen Königswahl, mit der Lupold wohl erstmals den staatsrechtlichen Unterschied zwischen regnum und imperium herausarbeitet, läßt sich sein Traktat als frühzeitige Begründung der Notwendigkeit einer deutschen "Reichsstaatslehre" ansehen - die Vorstellung, daß das deutsche Reichsverfas21 Kurzer Gesamtüberblick bei H.J. Becker, Reichspublizistik (Mittelalter) in: HRG IV, 716 ff. 22 So schon: Memoriale de praerogativo Romani imperii (1281) des Alexander von Roes, aus dem 15. Jh. De ortu et auctoritate imperii Romani (1446) des Humanisten und nachmaligen Reformpapstes Aeneas Sylvius Piccolomini. Das Memoriale des Alexander von Roes ist abgedruckt in: Alexander von Roes - Schriften, hg. v. H. Grundmann und H. Heimpel, 1958, der Brieftraktat des Aeneas Sylvius Piccolomini mit lateinischem und deutschem Text bei G. Kallen, Aeneas Sylvius Piccolomini als Publizist in der Epistola de ortu et auctoriatate imperii Romani, 1939; zum Inhalt der Epistola auch Rehm 196 ff. 23 Zur Konsilienlehre des Nikolaus von Kues Schubert, Reichstage 90ff.; Walther (s. Anm. 7); grundlegend H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jh., 2. Aufl .. 1990, 286-320. 24 Beste neuere Interpretation des Traktats durch Hofmann (s. Anm. 23) 229-235. Aus dem älteren Schrifttum: Hermann Meyer, Lupold von Bebenburg, 1909 (Nachdr. Vaduz 1977); Wolf, Rechtsdenker 30-58; überholt R. Most, Der Reichsgedanke bei Lupold von Bebenburg, DA 4 (1940/41) 444-484.

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sungsrecht eine eigene, nicht im Rahmen der Legistik sich abhandeln lassende juristische Materie bildet, liegt jedoch Lupold fern. Lupold, in den späteren Lebensjahren Bischof von Bamberg, war nach dem Studium des kanonischen Rechts in Bologna zum doctor decretorum promoviert. b) Der zweite, augenblicklich zu erwähnende Traktat ist der nach heute anerkannter Datierung 1460 abgefaßte Libellus de Cesarea monarchia 25 des elsässischen Kanonisten und Mitgründers der Universität Basel Peter von Andlau (um 1420 _1480)26. Paul Laband hat diesen Libellus als die früheste wissenschaftliche Bearbeitung des deutschen Staatsrechts gerühmt: Andlau habe daselbst die einzelnen Einrichtungen des Hl. Römischen Reiches und die darauf bezüglichen Rechtsfragen erstmals "zu einem geordneten Ganzen" vereinigt, "er hob dadurch aus der großen Masse des römisch-kanonischen Rechts das Deutsche Staatsrecht als einen abgegrenzten und besonderen Teil heraus und schuf dadurch den Ansatz zur Bildung eines neuen Zweiges der Rechtsliteratur,m. Dieses Urteil Labands setzt das Verdienst des Andlauschen Libellus, wie heute anerkannt ist, zu hoch an. Denn auch Andlau, dem frühhumanistischen Befürworter einer Vollrezeption des römischen Rechts, der noch alle europäischen Autoritäten unterschiedslos zur Stützung seiner Ansichten heranzieht, schwebt durchaus nicht die Behandlung des Reichsverfassungsrechts als einer eigenständigen Materie vor, er will auch überhaupt nicht das Verfassungsrecht des derzeitigen Reiches darstellen, sondern dessen Verfassungsleben. Als Beschreibung des letzteren ist allerdings sein Werk, bei allem ungleichen Wert der einzelnen Partien28 , eine unbedingt neuartige, durchaus beispiellose Leistung, es ist auch in der Folge noch lange ohne ein bekanntes Seitenstück. Zumal die instruktive, detaillierte Beschreibung der veränderten sozialen Lage des Ritterstandes 29 rechtfertigt diese Beurteilung.

25 Erstveröffentlichung unter dem Titel: De Imperio Romano-Gennanico durch Marquard Freher, Straßburg 1603 (erneut mit Noten 1612); neuere Edition mit Einleitung durch J. Hürbin in: ZRG GA 12 (1891) 40 -103 = Lib. I; ebd. 13 (1892) 163 -219 = Lib. 11. 26 Über Andlau und seinen LibelJus Pütter, Litt. I, 77- 88; J. Hürbin, Peter von Andlau. Der Verfasser des ersten deutschen Reichsstaatsrechts, 1897; G. Scheffels, Peter von Andlau. Studien zur Reichs- und Kirchenrefonn im Spätmittelalter, Diss. phi!. Berlin 1955; Schubert, Reichstage 117-125; P. Conring in: HRG III, 1634-36 (Lit.); LexMA 1,597 (Stolleis); NDB 1,270. Zum Wirken an der Universität Basel als Ordinarius des kanonischen Rechts und Vizekanzler H.-R. Hagemann, Jurisprudenz und Rechtsleben in den ersten Jahrzehnten der Universität Basel, in: Gestalten und Probleme aus der Geschichte der Universität Basel, 1960, 29ff.; G. Kisch, Die Anfange der juristischen Fakultät der Universität Basel 1459-1529, 1962. 27 Rede über die Bedeutung der Rezeption des Römischen Rechts für das deutsche Staatsrecht, Straßburg 1880, 4f. 28 Dürftig ist die Darstellung des allerdings erst im Halbjahrhundert nach 1470 entstehenden Reichstags, der noch als ein kaiserliches Reichsfest beschrieben wird. Vg!. Schubert, Reichstage 117 ff. 29 Dazu J. Hürbin, Der.deutsche Adel im ersten deutschen Staatsrecht, 1893.

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III. 1. Die seit dem 14. Jh. von Italien ausgehende humanistische Bewegung hat auf die profane Jurisprudenz erst spät verändernd gewirkt. Sie setzt auf anderen Gebieten als der Jurisprudenz ein, die zur Zeit ihres Durchbruchs erstmals eher eine Stagnation durchmacht. Erst im 16. Jh. wurde auch die Jurisprudenz von den humanistischen Bestrebungen voll erlaßt. Der Humanismus entdeckte die heidnische Antike mit europäischer Dauerwirkung als Bildungsideal. Die modeme Idee der freien, autoritätsunabhängigen Persönlichkeit war damit geboren. Auch für die von der Autorität ihrer Texte gebundene Wissenschaft des römischen Rechts konnte auf die Dauer diese Bildungsrevolution nicht folgenlos sein3o . Die von den Humanisten geforderte philologische Kritik war allerdings für die von den Glossatoren begründete Wissenschaft kaum neu. Dagegen war dies wohl die historisch-philologische Kritik, sie brachte in der Jurisprudenz erst der Humanismus zum Durchbruch. Und auch dem sachsystematischen Interesse der juristischen Arbeit eröffnete erst er die ausgreifendere, fruchtbare Wirkung. Bezeichnend dafür ist die frühneuzeitliche Verselbständigung noch nicht oder allenfalls erst stiefmütterlich bearbeiteter Rechtsgebiete, so außer des ab der Wende zum 17. Jh. so stürmisch auf den Plan tretenden ius publicum des Handelsrechts. Mit der siegreichen Ausbreitung der humanistischen Bewegung trat dem von den Glossatoren geschaffenen rein exegetischen mos italicus der problemoffenere, in den Topoi bewegliche und auch kritisch zu den Textaussagen sich verhaltende mos gallicus an die Seite; allerdings hatten schon die Kommentatoren die für den mos gallicus bezeichnende Literaturgattung, den an ein Thema gebundenen Traktat, in die rechtswissenschaftliche Literatur eingeführt. Mit der von Petrus Ramus (1515-1572) entwickelten dialektischen Wissenschaftsmethode 31 erhielt die von Scholastik und Aristotelismus gestützte exegetische Methode der Glossatoren erstmals eine ernste Konkurrenz, sie eignete sich zumal für die Organisation neuer, aus in der Regel noch unbearbeiteten Quellen zu schöpfender Stoffe. Die beiden frühesten Kompendien des ius publicum des imperium Romano-Germanicum, die

30 Zur humanistischen Jurisprudenz H.E. Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jh., in: J. Blühdornl J. Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, 63 - 88; ders., Die europäische Rechtsliteratur unter dem Einfluß des Humanismus, in: lus Commune 3 (1970) 33 - 63; ders., Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus, in: Coing, Hdb. Bd. 2 Teilbd. 1,615-795; D. Maffei, Gli inizi dell'umanesimo giuridico, Milano 1956; Wieacker 88 ff.; G. Kisch, Erasmus und die Rechtswissenschaft seiner Zeit. Studien zum humanistischen Rechtsdenken, 1960; ders., Die humanistische Jurisprudenz, in: Atti deI I. congresso internazionale della Societa Italiana di storia deI diritto, Firenze 1966, 469 - 490; D.R. Ke/ley, Foundations of modern Historical Scholarship. Language, Law and History in the French Renaissance, New York I London 1970. 31 Dazu w.J. Ong, Ramus. Method, and the decay of dialogue, Cambridge I Mass. 1958.

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von Daniel OUo (1616) und Georg Brautlacht (1622)32, machten von der neuen Methode regen Gebrauch. 2. Die humanistischen Bestrebungen weckten schon im 16. Jh. nicht nur dadurch, daß sie in Deutschland zur Edition der vaterländischen Geschichts- und Rechtsquellen ermutigten, das Interesse am ius publicum. Vielmehr fand in der zweiten Hälfte des 16. Jh. das ius publicum auch in den Rechtssummen renommierter europäischer Legisten erstmals Beachtung. So in Commentarii de iure civili (1589/90) des Hugo Donellus (1527-1591) - er war seit der Vertreibung aus Frankreich nach der Bartholomäusnacht auch in Deutschland noch kurz akademischer Lehrer - und in Observation um et emendationum libri XXVIII (1557 ff.) seines Landsmanns Jacobus Cujacius (1522-1590); in diesen beiden großen Lehrwerken der humanistischen Jurisprudenz ist ein allerdings nur schmaler Bestandteil des geläufigen ius civile anhangsweise als ius publicum abgehandelt 33 . Als vorsichtiger Übergang zur fachlichen Verselbständigung des ius publicum war dies ganz offensichtlich nicht gemeint. Sondern es sollte wohl eher nur mit dieser Absonderung eines Teils des gelehrten Rechts dem bekannten Terminus ius publicum die wissenschaftliche Anerkennung gezollt und die Übersicht über den gesamten umfänglichen Stoff des ius civile erleichtert werden. Warum gerade diese Regel und diese Materie dem ius publicum zugerechnet ist, eine andere nicht, dafür fehlt in den beiden legistischen Werken die Begründung, es sei denn daß der Bezug der betreffenden Materie auf die utilitas publica ihre Einordnung ins ius publicum rechtfertigen soll. Aber auch noch für andere, bei Donellus und Cujacius nicht im ius publicum untergebrachte Materien ließ sich die utilitas publica als ihr Bezugspunkt reklamieren. 3. In einem Kompendium aus der zweiten Hälfte des 16. Jh. ist dann das ius publicum auch dem Titel nach erstmals das Thema: Institutiones iuris publici (1568?; 1572) des Marburger Rechtslehrers Nicolaus Vigelius (1529-1600)34, schon wegen des noch ungeläufigen Titels verdient dieses kleine Kompendium Erwähnung. In ihm sind Fragen der Gesetzgebung, des Ämterwesens, der Gerichtsverfassung, auch kirchen- und stadtrechtliehe erörtert, wie dies teils auch schon in Juris civilis absolutissima methodus (1561) des Vigelius der Fall ist, also ein auch nach heutigem Verständnis als "öffentlichrechtlich" zu klassifizierender Themenkreis. Obzwar sich Auswahl und Reihenfolge der behandelten Materien nicht mehr nach der Ordnung der justinianischen Institutionen richtet, sind nur die einschlägigen Aussagen der gelehrten Jurisprudenz referiert und kommentiert, ohne daß auf die Gegenwart der Blick falle 5 , auch eine Begründung für deren neuartige ZusamZu diesen beiden Kompendien noch unten § 4 I Ziff. 3. Zur Auffassung des ius publicum bei den beiden französischen Legisten St. Gagmir (s. Anm. I) 52f.; Stolleis, Gesch. I, 75. 34 Über ihn Stintzing 424-440; A. Mazzacane, Contrasti di scienza e rivalitii accademiche in una lite dei sec. XVI, in: Ius commune III (1979) 10- 32; Bullinger (s. Anm. 3) 17 f.; Stolleis, Gesch. I, 74 f. 32 33

§ 2. Gemeinwesen und öffentliche Herrschaft

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menfassung unter dem Titel ius publicum gibt Vigelius nicht 36 . Beachtung wurde diesem frühneuzeitlichen Kompendium in der bald folgenden Fachliteratur zum ius publicum nicht zuteil 37 .

35 Abgesehen von der beiläufigen Bemerkung in der Vorrede, daß heutzutage dem imperator das Gesetzgebungsrecht nur noch nach Beratung und Zustimmung des "sacri palatii et senatus" zusteht. 36 Wie auch Wyduckel134 hervorhebt. 37 Im 18. Ih. wird es als verschollen verzeichnet, Pütter, Litt. I, 151 referiert den Inhalt nach der Anführung bei seinem Zeitgenossen und Quellenkenner H.Ch. v. Senckenberg. Auf die Verschollenheit weist auch hin Stolleis, Gesch. I, 74 Anm. 85.

§ 3. Entstehungsbedingungen des neuen Faches I. Die Entwicklung der Reichsverfassung bis zum Religionsfrieden. - 11. Die Bedeutung des Reichskammergerichts für die wissenschaftliche Verselbständigung des ius publicum. III. Die Verfassungskrise des Reiches. - IV. Der Beitrag der neuzeitlichen Politikwissenschaft (Bodin, Althusius).

I. Das ab der Wende zum 17. Jh. auf den Plan tretende neuartige Schrifttum zum

ius publicum des Hl. Römischen Reiches hat als die Reaktion auf zwei Entwick-

lungen zu geiten: die Verschärfung der politisch-konfessionellen Spannungen in Deutschland seit dem späten 16. Jh. und den Aufstieg der neuzeitlichen PolitikwissenschaJt, jene kann man geradezu den wissenschaftlichen Ziehvater des ius publicum nennen. Zunächst werfen wir auf die politische Entwicklung Deutschlands bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges einen Blick. 1. Von einer Verfassungsentwicklung des Hl. Römischen Reiches kann erst vom Übergang in die Neuzeit an gesprochen werden. Im Spätmittelalter kommt nur die Regelung der deutschen Königswahl zustande (Goldene Bulle von 1356), immerhin endgültig, die Inangriffnahme der Reichsreform, des Zwillings der Kirchenreform, verzögert sich bis zum Wormser Reformreichstag von 1495. Die auf diesem in Gang gesetzte Reichsreform 1 kam als Weichenstellung für die "Verstaatung" Deutschlands schon zu spät. Vielmehr markieren die vier Wormser Reformgesetze von 1495 - Vereinbarung des Ewigen Landfriedens, der Reichskammergerichtsordnung, der Exekutionsordnung ("Handhabung Friedens und Rechts") und der Ordnung für die Erhebung des Gemeinen Pfennigs - durchaus auch bereits die Grenze, über die auch im weiteren die Reichsreform im ganzen nicht hinausgegangen ist. Die 1500 versuchte Aufrichtung eines ständischen Reichsregiments schlug sogleich fehl, auch ein nochmaliger Versuch zur Installierung eines Reichsregiments in der frühen Regierungszeit Karls V. war episodisch. Auch das neue Reichskammergericht gelangte wegen seiner lange ungesicherten Existenz erst von der Mitte des 16. Jh. an zu beständiger Tätigkeit; da es bis zum Ende des Reiches bestanden hat, war seine Gründung, neben der Einteilung des 1 Grundlegend zu ihr H. Angermaier; Die Reichsreform 1410-1555, 1984; weiterführende Besprechung durch Willoweit in: Der Staat 26 (1987) 270 - 278. Weit. Lit. bei A. Laufs in HRG IV, 731 ff.

§ 3. Entstehungsbedingungen des neuen Faches

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Reiches in Kreise, die einzige dauerhafte Errungenschaft der frühneuzeitlichen Reichsrefonn. Die 1495 in Wonns eingeleitete Entwicklung zum Ausbau der Reichsverfassung hat aus ihr nicht eine Art verfassungsstaatliches Balancesystem ihrer beiden Hauptfaktoren, Kaiser und Reichsstände, gemacht. Mit ihr wurden aber doch sich bewährende Fonnen für den politischen Konfliktaustrag in der zentrumslosen, an Rangunterschieden so reichen deutschen Ständegesellschaft geschaffen. Die Errichtung des Ewigen Landfriedens zwang die in der deutschen Gesellschaft so zahlreichen und vielfältigen politischen Streitigkeiten, die bislang nur durch Gewalt oder freiwilligen Vergleich ihre Beilegung hatten finden können, zu ihrem Austrag und ihrer Erledigung auf den Weg vor Gericht. In keiner anderen neuzeitlichen Gesellschaft war die rechtliche "Vernetzung" (Stolleis) der politischen Akteure so ausgedehnt wie in der deutschen. Die durch Luther ausgelöste Glaubenserneuerung wird mit Recht nicht als der letzte entscheidende Grund für das Steckenbleiben und Scheitern der neuzeitlichen Reichsrefonn angesehen. Sondern eher ist er darin zu sehen, daß schon vor der Refonnation der Machtaufstieg des großen Reichsfürstentums nicht mehr aus der partikularistischen Bahn zu dessen Einbindung ins Reichsganze zurückgeführt werden konnte. Allerdings mußte die wie ein Flächenbrand sich ausbreitende Glaubensrefonnation die Zielrichtung der Reichsrefonn verändern, nämlich zu ihrem Hauptanliegen nicht mehr die von den "Reichsidealisten" des 15. Jh. geforderte und noch von Karl V. angestrebte Stärkung der Zentralgewalt machen, sondern die Schaffung einer politischen Koexistenzordnung für die beiden antagonistischen Konfessionsblöcke. 2. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 2 fügte den neuen Religionsgegensatz in die ständisch-monarchische Verfassung des Reiches ein. Wiewohl er Deutschland die Verfassungskrise und Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges nicht erspart hat, prägte sein "Ausgleichssystem" (M. Heckel) die Verfassung des Reiches bis zu ihrem Ende, der Westfälische Friede baute es umfassend aus. Wiewohl der Religionsfriede - er sollte als eine Interimsverfassung nur bis zum Religionsvergleich gelten - an der mittelalterlich-sakralen Reichsidee festhält, fonnte er doch das Reich zu einer modemen profanen Friedensordnung um, aber ohne Veränderung seines ständisch-monarchischen Verfassungssytems. Jedem Reichsstand war seine Libertät und jeder der beiden Großkonfessionen ihr Be2 Zu ihm in neuerer Zeit M. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (= Dt. Gesch. 5), 1983,33-66; ders., Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jh., 1968; ders., Autonomia und Pacis compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation, in: ZRG KA 45 (1959) 141-248 (wiederabgedr. in Ges. Schriften I, 1989, 1-81); ders., Parität, ZRG KA 49 (1963) 261-420 (ebenfalls in Ges. Sehr. I, 106-323); ders., Die Krise der Religionsverfassung des Reiches und die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges, Ges. Sehr. II, 1989, 970998; St. Skalweit, Reich und Reformation, 1967.

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I. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Gennanici

kenntnis, ihr Kirchenamt, ihr Kirchengut und die ungehinderte Vertretung ihrer theologischen Ansichten garantiert; die Bestätigung der reichsständischen Libertät schloß der Sache nach die Anerkennung des ius reformandi jedes Reichsstandes ein. Die Einheit von Reich und Glauben war freilich damit aufgegeben, außer der alten Religion war auch die neue des Augsburgischen Bekenntnisses als reichs gemäß anerkannt; die bislang vom Reich verkörperte Einheit von Glauben, Kirche und politischer Ordnung war zur Signatur des Territoriums geworden. Das Interesse, einen schweren konfessionellen Dauerkonflikt einzuhegen, hatte sich als stärker erwiesen als das Interesse am Zustandebringen des ohnehin vorläufig aussichtslosen Religionsvergleichs.

11. 1. Die 1555 mit dem Religionsfrieden verabschiedete neue Reichskammergerichtsordnung war für dessen Tätigkeit bis zum Ende des Reiches die Grundlage 3.

Das mit den Vereinbarungen im Vorfeld des Religionsfriedens und der Ordnung von 1555 endlich zu gesicherter Wirksamkeit gelangende, vom königlichen Hof getrennte neue Zentralgericht sollte vorzüglich die praktische Anwendung der Ausgleichsordnung des Religionsfriedens sichern. Erst auf das Permanentwerden seiner Spruchtätigkeit - sie erreicht schon vor Ausgang des 16. Jh. ihren Höhepunkt - ist die Bildung einer deutschen Rechtswissenschaft zu datieren. Vor der Mitte des 16. Jh. gab es, abgesehen von Ulrich Zasius (1461-1535) und einzelnen wenigen seiner humanistischen Zeitgenossen, eine von deutschen Autoren repräsentierte Rechtsgelehrtheit praktisch noch nicht. Erst die schnell anwachsende Spruchpraxis des Reichskammergerichts rief ein nun ebenfalls schnell sich ausbreitendes Consilia- und Decisiones-Schrifttum deutscher Autoren hervor4 . Mit ihm erhielt die Rechtsprechung des Reichskammergerichts einschließlich der an das Gericht adressierten wichtigeren Parteischriften die laufende Kommentierung. 3 Eine umfassende, auf alle geschichtlichen Perioden sich erstreckende Monographie über das Reichskammergericht steht noch aus. Zur Geschichte grundlegend, obzwar unabgeschlossen, R. Smend, Das Reichskammergericht. 1. T.: Geschichte und Verfassung, 1911 (Neudr. 1965). Aus dem reichen neueren Schrifttum B. Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jh., Festsehr. A. ErJer, 1976, 435 -480; ders., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Hl. Röm. Reiches Deutscher Nation, 1985; F. Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jh., 2 Bde., 1985; Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven, 1990; weit. Lit. bei A. Laufs, HRG IV, 655-662 sowie bei W Sellert, HRG IV, 29-36. 4 Zur Entwicklung dieser Literatur mit einer über mehrere Seiten reichenden tabellarischen Zusammenstellung der zwischen 1538 und 1630/1649 an deutschen Druckorten erschienenen Consiliensammlungen schon Stintzing I, 524 ff.

§ 3. Entstehungsbedingungen des neuen Faches

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2. Mit Recht gilt das in der zweiten Hälfte des 16. Jh. seinen Aufschwung nehmende kammergerichtliche Schrifttum seit alters als der Auftakt des seit dem Ausgang des 16. Jh. auf dem Plan erscheinenden neuen Fachschrifttums zum deutschen ius publicum5 . Nämlich weil in den die Judikatur des Reichskammergerichts begleitenden Juristenschriften von Anfang an auch typisch verfassungsrechtliche Fragen erörtert sind, wie man dies bei dessen Zuständigkeiten als allgemeines Landfriedensgericht auch nicht anders erwarten kann. Die frühen kammergerichtlichen Schriften versuchen allerdings bei der für sie kennzeichnenden Anknüpfung an praktische Rechtsfälle die Antwort auf einen verfassungsrechtlichen Streitfall noch nicht vom ius publicum her zu gewinnen, sondern entscheiden ihn teils nach dem gelehrten gemeinen Recht und dem Lehnrecht, teils nach den lokalen Statuten und Gewohnheiten, teils aufgrund eigener, am Fallmaterial angestellter Erwägungen 6 . Daß nichtsdestoweniger dem reichskammergerichtlichen Schrifttum eine Schlüsselbedeutung für die rasche Bewerkstelligung der Loslösung des ius publicum von der gemeinen legistisch-kanonistischen Jurisprudenz bescheinigt werden muß, hat die ältere rechts geschichtliche Forschung zum Reichskammergericht eher noch unbeachtet gelassen, ihr Interesse an den Wirkungen des neuen Zentralgerichts auf das deutsche Rechtsleben galt vorzüglich und ausschließlich der von seiner Spruchpraxis beförderten und vollendeten Romanisierung des Zivilrechts. So gewiß darin die Hauptwirkung des Gerichts gesehen werden kann, ist doch ebenfalls richtig, daß erst die an das Reichskammergericht laufend herangetragenen Streitigkeiten und dessen Entscheide ein dauerhaftes hohes wissenschaftlichliterarisches Interesse an den besonderen deutschen Rechtsquellen geweckt haben, deren Erschließung und Auswertung wurde nun zu einer von der Rechtspraxis unabweislich angeforderten Aufgabe. Die Anerkennung des "Herkommens" im Reich als einer bei der Entscheidung einer reichsverfassungsrechtlichen Frage in der Regel nicht auszuschließenden, oft überhaupt völlig unentbehrlichen Quelle gilt denn auch im neueren rechtshistorischen Schrifttum nicht erst als eine Auswirkung des Aufblühens der Reichspublizistik, sondern man führt die Karriere des Reichsherkommens bereits auf die Verhandlungen auf dem Forum des Reichskammergerichts zurück7 • 5 In diesem Sinne schon Pütter, Litt. I, 116 -136 ("Hauptstück von den durch das Cammergericht veranlaßten Schriften des XVI. Jh., sofern sie ins Staatsrecht einschlagen"). Bei O. Mejer, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, Rostock 1861, 85 beginnt der Abschnitt über die Staatsrechtsliteratur der Reichszeit wie folgt: "Die Geburtsstätte deutscher Staatsrechtswissenschaft ist das Reichskammergericht und durch den Zusammenhang mit demselben ist, so lange das Reich bestand, ihr Charakter bestimmt worden." In neuerer Zeit zur Bedeutung des Reichskammergerichts für die Ausbildung der Reichspublizistik E. Bussi, Die Lehrmethode des Reichsrechts im 16. Jh., in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, Festsehr. A. Erler, 1976, 423 ff. 6 In diesem Sinne Stolleis, Gesch. I, 135 f. 7 Willoweit 9: "Auf dem Forum des Reichskammergerichts vollzog sich im Grunde schon die Anerkennung des Reichsherkommens als einer Rechtsquelle, die sich niemals ganz ausschalten ließ und mit dem tradierten Rechtsgut des ius commune in Einklang gebracht werden mußte."

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1. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Gennanici

Schon in den das reichskammergerichtliche Schrifttum anführenden, noch im 18. Jh. hochangesehenen Observationes judicii imperialis camerae (erstmals 1563) des Kammergerichtsassessors und danach braunschweigischen Kanzlers Joachim Mynsinger von Frundeck (1514-1588)8 sind reichsverfassungsrechtliche Fragen ausgiebig behandelt, allerdings noch mit unkritischer Orientierung an den Aussagen der italienischen Autoritäten, also unter Absehung von den besonderen deutschen Quellen 9 . Von anderen namhaften "Cameralisten" ist der bis zum Kanzler des Kölner Kurfürsten aufgestiegene Andreas Gail (1525 -1587) zu erwähnen lO, außerdem Johannes Meichsner; und zwar jener wegen einer von ihm publizierten umfangreichen, auch die Prozesse um territoriale Rechtsfragen berücksichtigenden Akten- und Relationensammlung 11 .

3. Das andere oberste Reichsgericht, der Kaiserliche Reichshofrat (endgültige Ordnungen 1559 und 1654)12, stand in der literarischen Resonanz seiner Rechtsprechungs- und Gutachtertätigkeit dem Reichskammergericht eher immer nach, auch Sammlungen seiner Entscheidungen gab es im Unterschied zu denen des Reichskammergerichts lange nicht. Daß man ihm nicht eine so hohe Bedeutung wie dem Reichskammergericht für die Entwicklung des deutschen Rechtslebens bescheinigen kann, findet die Erklärung nicht nur in seiner Stellung als kaiserliches Gericht und in der ihm von protestantischer Seite häufig angelasteten Bereitwilligkeit, den Interessen und Zielen der kaiserlichen Politik zu dienen. Sondern auch darin, daß für das kaiserliche Gericht die juristische Kompetenz nicht ein so hohes Gewicht wie für das ständisch kontrollierte Reichskammergericht gehabt hat und haben konnte.

8 Zur Biographie S. Schumann. Joachim Mynsinger von Fründeck (1514-1588). Herzoglicher Kanzler in Wolfenbüttel - Rechtsgelehrter - Humanist, 1983. 9 Soweit die Observationen das ius publicum angehen, sind die von Mynsinger erörterten Streitfragen bei Pütter; Litt. I, 123 ff. angeführt. 10 Das erstmals 1578 publizierte Hauptwerk: Practicarum observationum tarn ad processum iudiciarium, praesertim imperialis camerae, quam causarum decisiones pertinentium libri duo erlebte 28 Auflagen und eine deutsche Übersetzung; Stolleis. Gesch. I, 136 N. 63. Über Gail auch noch § 4 I 3 b. 11 Decisiones diversarum causarum in camerae imperial iudicatarum. Vol. I-IV, 16031606. Auf Meichsner hat Willoweit 9 f. aufmerksam gemacht. 12 Aus dem neueren Schrifttum über den Reichshofrat O. v. Gschliesser, Der Reichshofrat, 1942; H.F. Schwarz. The imperial Privy Council in the seventeenth century, Cambridge, Mass. 1943; W. Sellert. Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht, 1965; ders. (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrats 1550-1766, 1. Halbbd. bis 1626 (Qu. u. Fgn. z. höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, 811) 1980; P. Moraw in HRG IV, 630ff.; vergleichend mit der Rolle des Reichskammergerichts F. Hertz. Die Rechtssprechung der höchsten Reichsgerichte im römisch-deutschen Reich und ihre politische Bedeutung, MIÖG 69 (1961) 331-358.

§ 3. Entstehungsbedingungen des neuen Faches

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111. 1. In den ersten zwei bis drei Jahrzehnten nach der Vereinbarung des Religionsfriedens hielten sich die ständisch-konfessionellen Konfliktparteien an den mit ihm mühsam errungenen Verfassungskompromiß. Schon vor 1600 nahmen jedoch die politisch-konfessionellen Spannungen wieder zu, der Konsensboden des Friedens erwies sich zusehends als brüchig, ohnehin hatte man mit ihm "nur eine Teileinigung" (M. Heckel) erreicht 13 . Da das Prinzip des Religionsfriedens die Respektierung der Integrität der einzelnen Religion war, mußte er die religiös-theologischen Auseinandersetzungen auf die juristische Ebene verlagern und die Verfestigung der Glaubensrichtungen zu Stände- und Verfassungsparteien begünstigen. Die neue Reichsrechtswissenschaft war auf diese Juridifizierung des Bekenntnisgegensatzes und Politisierung des in Augsburg ,,konfessionsneutral" festgelegten Reichsrechts die Reaktion: sie hatte in der Situation einer schnell zunehmenden Ideologisierung der politischen Auseinandersetzungen den Konsens über die deutsche Verfassung aufrechtzuerhalten. Zunächst manifestierte sich die sich zuspitzende Verfassungskrise des Reiches im Funktionsausfall der Reichskammerjustiz. 1588 kamen die seit 1556 alljährlichen Reichskammergerichtsvisitationen, das Rechtsmittel gegen seine Urteile und die Voraussetzung für ihre Exekution, aufgrund kaiserlicher Suspension zum Erliegen; die 1594 vom Reichstag mit der Visitation betraute Reichsdeputation stellte schon 1601 ihre Tätigkeit wegen des sog. "Vier-Kloster-Streits" wieder ein 14. Anstelle des Reichskarnmergerichts entschied nunmehr in Religionssachen der Reichshofrat, was den heftigen Widerspruch auf protestantischer Seite gegen eine selbständige Jurisdiktionsgewalt des Kaisers in Sachen der Reichsstände hervorrief. Daß sich damit die konfessionellen Auseinandersetzungen auf eine Diskussion über die Stellung des Kaisers zuspitzten, war wohl unvermeidlich in der von Luther in Gang gesetzten Glaubensreformation angelegt, so wenig der Reformator einen Streit über die Stellung des Kaisers gewünscht hat. Aber erst als sich der Glaubenskonflikt zum Konfessions- und Verfassungskonflikt ausweitete, wurde er zu einem Konflikt über die Stellung des Kaisers und seine Rechte l5 .

13 So war über das umstrittenste Dauerthema der Auseinandersetzungen keine Übereinkunft erzielt worden, nämlich den von den Protestanten immer abgelehnten sog. Geistlichen Vorbehalt, wonach auch geistlichen Reichsständen der Konfessionsübertritt freistand, der aber den Verlust ihrer Kirchenämter, Pfründe, Reichslehen und der Territorialherrschaft zur Folge haben sollte; der Geistliche Vorbehalt wurde einseitig durch König Ferdinand kraft kaiserlicher Vollmacht dem Religionsfrieden eingefügt. 14 Zum Erliegen der Reichskammerjustiz Smend (s. Anm. 3) 190-195; H. Rabe, Der Augsburger Religionsfriede und das Reichskammergericht 1555-1600, Festg. E.W. Zeeden, 1976, 260-280. 15 Zu diesem Zusammenhang R. Hake, Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik im 17. Jh., Der Staat 15 (1976) 211 ff., 215.

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Nach 1600 verschärften sich die verfassungspolitischen Gegensätze im Reich dramatisch. 1608/09 wurden mit protestantischer Union und katholischer Liga konfessionelle Fürstenkamptbündnisse geschlossen; 1613 wurde auf dem Regensburger Reichstag der Entwurf einer neuen Reichskammergerichtsordnung abgelehnt, d. h. es war ein letzter Verständigungsversuch zwischen den politischen Lagern gescheitert - erst nach 27 Jahren wurde wieder ein Reichstag einberufen -; 1618 leitete der böhmische Aufstand das schließlich zum europäischen Krieg sich ausweitende verhängnisvolle militärische Kräfteringen in Deutschland ein. Von den Verfassungsstreitigkeiten um 1600 ist der Streit um Donauwörth 16 deshalb zu erwähnen, weil sich mit ihm erstmals in den politischen Händeln des Reiches deutlich der Wunsch nach einer deutschen Reichsstaatsrechtslehre anmeldete. 1607 verhängte der Kaiser aufgrund eines fragwürdigen Reichshofratsurteils die Reichsacht über die kleine protestantische Reichsstadt Donauwörth - der Anlaß dafür waren dort stattgefundene religiöse Tumulte -, die schnelle militärische Durchführung der Reichsacht löste einen regelrechten Federnkrieg aus. Das Vorgehen gegen Donauwörth verteidigte die im Auftrag des Herzogs von Bayern, des Exekutors der Reichsacht, verfaßte "Donauwerthische Relation" (1610), auf welche die "Beständige infonnatio facti et iuris, wie es mit den am Keiserl. Hof wider des H. Römischen Reichs Statt Donauwerth außgegangenen Prozessen ... beschaffen seye" (1611), angefertigt von zwei Räten süddeutscher Fürstenhäuser, replizierte 17. In dieser Gegenschrift war eine selbständige kaiserliche Jurisdiktion über reichsständische Angelegenheiten scharf mit der Begründung zurückgewiesen, daß "ipsa rei publicae Gennaniae fonna nicht aus den lateinischen Rechten, oder Bartolo und Baldo, sondern aus des Reichs löblichem Herkommen und daher rührenden Verfassungen" sich ergebe, d. h. es war im Grunde nach einer Wissenschaft vorn deutschen Verfassungsrecht als der neutralen Autorität gerufen. 2. Dem neuen Fach des ius publicum des Hl. Römischen Reiches wurde nicht nur von der Verfassungskrise des Reiches zu seinem schnellen erfolgreichen Start verholfen. Dazu trug auch die immerhin über fünfzigjährige Friedensperiode bei, die Deutschland dem Religionsfrieden verdankte; zur selben Zeit wurden andere europäische Gesellschaften schwer vom konfessionellen Bürgerkrieg heimgesucht. In dieser Friedensperiode erlebt Deutschland einen bedeutenden ökonomischen, demographischen und kulturellen Aufschwung, ihn bezeugt, was in unserem Zusammenhang wichtig ist, die schnelle Verbesserung der Bedingungen für die Erzeugung und Verbreitung von Druckwerken aller Art, auch die auf den Rückschlag durch die Reformation bald gefolgte Wiederherstellung des Ansehens der gelehrten Anstalten. Nimmt man von diesem weiteren Hintergrund keine Notiz, ist kein 16 Zu ihm R. Breitling in ZBLG 2 (1929) 275 - 298; im Zusammenhang mit den anderen Verfassungsstörungen um 1600 M. Heckei, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (s. Anm. 2) 109 f.; E. W. Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jh. bis zum Westfälischen Frieden (1648), in: Th. Schieder (Hg.), Handb. d. Europ. Gesch. Bd. 3: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa, 1971, 556ff.: D. Albrecht, Das konfessionelle Zeitalter, in: M. Spindler (Hg.), Handb. d. bayer. Gesch. II, 1966,331 ff. 17 Als die Verfasser gelten der württembergische Vizekanzler Sebastian Faber und der oettingisehe Kanzler Ludwig Müller; dazu Stintzing 11, 179 Anm. 1; zu weiteren Schriften in der Donauwörthischen Sache Püfter, Litt. I, 189 f.

§ 3. Entstehungsbedingungen des neuen Faches

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genügendes Bild von den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der neuen publizistischen Fachdisziplin gewonnen.

IV. 1. Das neue Schrifttum zum ius publieum wurde durch eine epochemachende wissenschaftliche Leistung auf die Bahn gesetzt: die Entfaltung der Souveränitätsproblematik durch den französischen Humanisten Jean Bodin (1529-1596)18. Sein schnell eingeschlagenes berühmtes Werk sind die Six livres de la Republique (1576), den europäischen Ruhm begründete die 1586 erschienene Übertragung durch Bodin ins Lateinische. Die Sache, zu deren Bezeichnung bei Bodin der Begriff "souverainete" dient, war freilich für die Wissenschaft nicht neu, ihre gewohnte Bezeichnung, nämlich maiestas oder summum imperium kommt auch in der lateinischen Ausgabe seines Werkes anstelle von souverainete vor. Dennoch war Bodins Entfaltung der Souveränitätsproblematik ein neuer denkerischer Einsatz von folgenreichster Wirkung. Auch wenn man nicht sagen kann, daß Bodin die Frage nach dem Wesen der Souveränität überhaupt erstmals zur Diskussion gestellt hat, so hat er sie jedenfalls schärfer durchdacht und empirisch gesicherter erörtert als ein Autor zuvor, erst ihm verdankt sie den permanenten Rang der Schlüsselfrage für staatstheoretische Untersuchungen. Und damit war auch für die Erörterung aller Fragen des Reichsverfassungsrechts die prinzipielle Ausgangsfrage, nämlich wem die Souveränität im Reich zusteht, scharf formuliert. Unter der "Souveränität", seit Bodin das Wesensmerkmal des neuzeitlichen sozialen Ordnungs- und Herrschaftsverbandes "Staat", versteht Bodin die höchste Gewalt im Staate, und zwar im Sinne der von den positiven Gesetzen entbundenen Gewalt über Bürger und Untertanen (summa in cives ae subditos legibusque soluta potestas) 19. Daß er damit das Wesen der Souveränität im Vermögen zu positiver Rechtsänderung erblickt, war allerdings ein auch bereits den Kommentatoren geläufiger Gedanke. Er ist auch noch nicht ein Vertreter der Lehre von der Staatssouveränität, sondern schreibt die Souveränität noch dem staatlichen Herrscher, nicht dem Staat selbst zu. Neu war aber doch an seinem facettenreichen Hauptwerk, daß 18 Zum Einfluß Bodins auf die beginnende Reichsstaatslehre Hake, Bodins Einfluß auf die Anfange des deutschen Reichsstaatsrechts, in: H. Denzer (Hg.), Jean Bodin (= Münchener Studien z. Politik 18), 1973,315-332 sowie schon Hake 54ff., 152ff.; G. Henkel, Untersuchungen zur Rezeption des Souveränitäts begriffs durch die deutsche Staatstheorie in der ersten Hälfte des 17. Jh., Diss. iur. Marburg 1967; Schubert, Reichstage 339 ff., 360-382; Stalleis, Gesch. I, 174ff. Eine ausholende neuere Interpretation der Bodinschen Souveränitätstheorie einschließlich der Wirkungsgeschichte enthält Quaritsch, Staat u. Souv. 243-494. Neuere Bibliographie des Bodin-Schrifttums bei Denzer (Hg.), Jean Bodin 492-513 sowie die Ergänzung in: P.c. Mayer-Tasch (Hg.), Jean Bodin, Sechs Bücher über tien Staat Buch Im, 1981,83-86. 19 Lib. I, Cap. 8.

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I. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Gennanici

es die Souveränitätsproblematik. zum Kemthema der politischen Theorie macht. Diesen Rang mußte die Souveränitätsproblematik in der Situation des konfessionellen Bürgerkrieges erlangen, jene drängte die Bodin bewegende Frage regelrecht auf, nämlich wie die über ein Gebiet herrschende höchste Gewalt beschaffen sein muß, wenn sie ihrer Aufgabe: Erhaltung des Friedens und der Sicherheit in einem Volke gerecht werden soll. Seine Souveränitätstheorie versucht der Humanist Bodin an einem ausgedehnten historisch-empirischen Material zu verifizieren, dabei zieht er als Prüfstein für ihre Richtigkeit auch die deutsche Verfassung heran. Deren Überprüfung führt dazu, daß Bodin die Souveränität, die er dem französischen König uneingeschränkt zuspricht, dem Kaiser ebenso uneingeschränkt abspricht, d. h. er reserviert sie hinsichtlich des Reiches für die Gesamtheit der zu den Reichstagen einzuberufenden Stände2o . Als zwingende Ableitung aus seiner Theorie kann man diese ungewohnte staatstheoretische Definition des Reiches als Aristokratie allerdings nicht bezeichnen. Und zwar da Bodin die drei traditionellen Staatsformen bei all ihrer scharfen Unterscheidung durchaus mit verschiedenen Arten des "gouvernement" kombiniert2 1, so daß er an sich das Reich auch als eine Mischverfassung hätte klassizifieren können. Die kategorische Klassifizierung des Reiches als aristokratisch mußte natürlich auf den andauernden Widerspruch deutscher Autoren stoßen, und zwar gerade solcher, die sich Bodins scharfen Souveränitätsbegriff zu eigen zu machen suchten. Die deutschen Publizisten hatten sich auch noch mit einer anderen Ansicht Bodins auseinanderzusetzen, nämlich seiner Ablehnung der noch lange in der jungen Reichspublizistik beifällig aufgenommenen Translationslehre, d. h. der Vorstellung von der Übertragung des imperium Romanum auf die Deutschen und damit von dessen Fortbestehen bis zur Gegenwart; diese Lehre, die das Bedürfnis nach geschichtlicher Erklärung des Sacrum Imperium und seiner Verbindung mit der "deutschen Nation" befriedigte, fand bezeichnenderweise erst im Zeitalter von Humanismus und Reformation die weite Resonanz 22 • Bodins Ablehnung dieser "germanischen" Lehre ist historisch-relativistisch im modemen Sinne: er verwirft ihre Herleitung aus einer auf sie zugeschnittenen Interpretation der Danielschen Visionen als Ideologie, und zwar unter Berufung auf die vier Großreiche in der Gegenwart und darauf, daß das antike West-Imperium nie auf die französischen Karolinger übertragen worden sei und auch die Deutschen nur einen Teil desselben an sich zu bringen vermocht hätten, d. h. das abendländische antike Imperium ist mit seiner Zerstörung durch die Ostgoten definitiv untergegangen 23 • Diese klare AbLib. 11, Cap. 6; lat. Ausg. Frankfurt 1609, S. 348. Die Staats- und Regierungsfonnen sind im 11. Buch der Republica erläutert. 22 Zur Ideengeschichte der Translationslehre W Goez. Translatio Imperii. 1958; zu ihrer Wirkung in der Reichspublizistik G. Lübbe-Wolf!, Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des römisch-deutschen Reiches, Der Staat 23 (1984) 369389. 20

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§ 3. Entstehungsbedingungen des neuen Faches

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lehnung der Translationslehre, in der Bodin mit Francisco Swirez (1548 -1617), dem die lange glänzende Reihe der spanischen Spätscholastiker beschließenden Rechtsdenker, übereinstimmt 24 , liegt auf der Linie unhegemonialen Staatensystemdenkens; ob sie auch als ein frühes Zeugnis nationalstaatlichen Denkens gelten kann 25 , ist ist bei allem auf Frankreich zentrierten Denken Bodins wohl eher zu verneinen. 2. Das von Bodin propagierte absolute Königtum ist das Gegenmodell zu dem für die frühe Neuzeit bei weitem typischeren gemischten Verfassungstypus, d. h. zur Konstituierung des Gemeinwesens sowohl durch den Fürsten wie durch herrschaftsteilhabende Stände. Die Politica methodice digesta (1603) des westdeutschen Calvinisten Johannes Althusius (1557-1638) lieferte für diesen für die frühe Neuzeit so bezeichnenden Verfassungsdualismus die tiefschürfende sozialphilosophische Begründung26 . Nach dem von der spanischen Scholastik beeinflußten Althusius ist die oberste Gewalt im Gemeinwesen immer beschränkt. Und zwar nicht nur aufgrund der vereinbarten, auch von Bodin in ihrer Verbindlichkeit für den Souverän nicht bestrittenen leges fundamentales. Sondern letztlich ergibt sich für ihn ihre Beschränkung aus der von Calvins Prädestinationslehre erneuerten alttestamentarischen Lehre von einem Bund Gottes mit seinem Volk, auf dieser Idee baut die gesamte Althusische verbandliehe Soziallehre auf. Ihr zufolge ist jede menschliche Gemeinschaft eine symbiotische Ordnung (consociatio) mit einer obrigkeitlichen Spitze, die höchste Gemeinschaft gliedert sich in mehrere consociationes. Die Obrigkeit besitzt keine absolute Gewalt, sondern übt die Befugnisse eines summus magistratus aus; ihre Befugnisse sind durch die Gesamtheit übertragen, deren Repräsentanten auch ihre Ausübung kontrollieren. 23 De republica, lib. IV Cap. 2 und auch schon Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566). Zur Kritik an der Lehre von den Weltmonarchien schon durch Calvin in seinen Praelectiones in Danielem (1561) Goez (s. Anm. 22) 370ff.; Dreitzel313 f. 24 Nachw. zu Suarez bei Goez (s. Anm. 22) 328 ff., 334. 25 So Goez 352: "der ausgeprägte Nationalismus Bodins"; ähnlich auch Dreitzel314. 26 Grundlegend zur Theorie des Althusius P.I. Winters, Die "Politik" des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, 1963 sowie der neuere Sammelband: K. -W. Dahm I W. Krawietz/D. Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (= Rechtstheorie Beih. 7), 1988 (mit BibI. zu Leben u. Werk). Die als "Wiederentdeckung" des Althusius berühmte ältere Arbeit O. v. Gierkes: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (11880) ist seit der Arbeit von Winters überholt. Ferner über Althusius: Wolf. Rechtsdenker 177-219; mit Überbewertung des Einflusses der spanischen Spätscholastik E. Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, 1955; H.U. Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und Jean Bodin, Der Staat 4 (1965) 1-26; Hoke 65 -77; F. Merzbacher; Der homo politicus symbioticus und das ius symbioticum bei Johannes Althusius, in: Recht und Staat. Festschr. G. Küchenhoff, 1972, 107114; M. Behnen, Herrscherbild und Herrschaftstechnik bei Althusius, ZHF 11 (1984) 417472; auch schließlich die Beiträge von Th.O. Hueglin und R. Saage in: G. GÖhler/K. Lenkl H. Münkler/M. Walther (Hg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, 1990, 203 ff., 231 ff.; zusammenfassend über Althusius Winters in: Staatsdenker 29-51 m. w. Nachw.

3 Friedrich

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1. Teil: Das lus Publicum Imperii Romano-Gerrnanici

Althusius kann daher nicht, wie dies die ältere Interpretation Otto Gierkes angenommen hat, als der Anbahner des neueren rational-voluntaristischen Naturrechts gelten, d. h. des das politische Gemeinwesen als zweckrationale Schöpfung autonomer Subjekte annehmenden Sozialdenkens. Vielmehr faßt Althusius die obrigkeitliche Gewalt als einen dem Gemeinwesen vom Wesen her immanenten Bestandteil auf, deswegen ist sie unverfügbar und rechtlich gebunden 27 . Mit mehr Recht kann gesagt werden, daß die Althusische Lehre bereits die Unterscheidung von "Subjekt" und "Träger" der Staatsgewalt impliziert, auch den "Vorrang" der Verfassung kann man schon durch sie als begründet ansehen. Im ideengeschichtlichen Kontext des Konfessionellen Zeitalters ist die Politica des Althusius die wissenschaftliche Krönung der Lehren der sog. "Monarchomachen". Diese teils protestantischen, teils katholischen Pamphletisten aus dem späteren 16. und frühen 17. Jh. betonen ebenfalls die Gebundenheit politischer Herrschaft, wobei sie, worauf der ihnen von gegnerischer Seite angeheftete Name verweist, bis zur Bejahung des Rechts auf gewaltsame Beseitigung eines gegen seine Verpflichtungen und die Gebote Gottes handelnden Herrschers gehen können. Auch sie nehmen eine mutua obligatio zwischen Herrscher und universitas populi an, gehen also vom Gedanken einer repräsentativen Herrschaftsordnung aus 28 • 3. Bodins bahnbrechende Wirkung auf die in Deutschland seit der Wende zum 17. Jh. einsetzende Literatur über das deutsche Reichsverfassungsrecht bestand darin, daß seine Aufrollung der Souveränitätsfrage dieselbe zur Kernfrage für alle Untersuchungen des Reichsverfassungsrechts machte, er gab damit das zündende Stichwort für den Aufbau einer von der Begrifflichkeit der kanonistisch-Iegistischen Jurisprudenz sich emanzipierenden Dogmatik des Reichsstaatsrechts aus. Für die Dogmatisierung des deutschen ius publicum lieferte er aber doch nur das Stichwort. Ja, einer mit der aktuellen Verfassungswirklichkeit des Hl. Römischen Reiches übereinstimmenden staatstheoretischen Bestimmung des Imperium Ro27 Dies heißt: Es gibt bei Althusius zwar den "Herrschaftsvertrag", aufgrund dessen dem Herrscher die Wahrnehmung des ius maiestatis übertragen ist, aber nicht den erst das Gemeinwesen konstitutierenden "Gesellschaftsvertrag". Zum Unterschied zwischen "Vertrag" und pactum bei Althusius J. Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, 1964, 104ff. 28 Zu den Monarchomachen, deren protestantische Vertreter auf Calvins Institutio Christianae Religionis (1536; die politische Theorie im IV. Buch: De politica administratione) sich stützen konnten, werden auf protestantischer Seite gezählt: F. Hotman (1524-1590), Th. Beza (1519-1602), Stephanus Junius Brutus = Pseudonym für Ph. Duplessis-Mornay (15491623) bzw. nach älterer Ansicht für H. Languet (1518-81) sowie der Schotte G. Buchanan (1506 - 82), auf katholischer Seite insbesondere G. Rossaeus (1542 -1602) und der Spanier J. Mariana (1536-1624). Über die Monarchomachen aus dem neueren Schrifttum Schubert, Reichstage 383 ff.; G. Stricker, Das politische Denken der Monarchomachen, Diss. Heidelberg 1967; J. Dennerts Einleitung zu seiner deutschen Ausgabe ausgewählter monarchomachischer Texte: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, 1968; E. Hinrichs, Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV., 1969; zu der um Ausgleich bemühten Gruppe der französischen Politiques, der Bodin zugerechnet werden kann, R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jh., 1962.

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mano-Gennanicum stand sein scharfkantiger herrscherzentrierter Souveränitätsbegriff eher im Wege.

Um so mehr kann die Politica des Althusius als die Grundlage für eine wirklichkeitsnahe Deutung der Verfassung des römisch-deutschen Reiches gelten. Denn wenn nach Althusius die Souveränität niemandem als der Gesamtheit zustehen kann und an den Herrscher nur zur Ausübung übertragen ist, dann war damit sowohl die politisch mitverantwortliche Stellung der Reichsstände im Reich wie die von Bodin bestrittene MonarchensteIlung des Kaisers anerkannt, letztere freilich im Rahmen der ihn weit binden könnenden Wahlkapitulation und übrigen Reichsgesetze. 1608 veröffentlichte der Marburger Historiker-Jurist Hennann Kirchner (1552-1620)29 einen Traktat Respublica (41634), in welchem die Althusische Lehre direkt auf die Verfassung des Reiches angewandt ist. Daselbst taucht, und zwar offenbar erstmals, das sogleich in der neuen Literatur über das ius publicum Karriere machende Begriffspaar maiestas realis und maiestas personalis auf3o . Mit diesem Begriffspaar war keine Teilung der Majestät bzw. Souveränität zwischen zwei verschiedenen Subjekten gemeint, sondern sollte der Unterschied zwischen der alleinigen substantiellen Innehabung der Majestät durch die Gesamtheit und ihrer Ausübung durch ein von der Gesamtheit berufenes Subjekt betont sein, d. h. ,,real" heißt die Majestät als permanenter Wesens bestandteil der staatlichen Ordnung, "personal" wegen ihrer notwendigen Ausübung durch eine einzelne Person oder ein Personenkollektiv. Die Lehre von den zwei Majestäten wurde vorübergehend in der frühen Reichspublizistik beinahe zur herrschenden Lehre.

29 Über ihn Th. Klein, Conservatio Reipublicae per bonam educationem. Leben und Werk Hermann Kirchners (1562-1620), in: W. Heinemeyer/Th. Klein/H. Seier (Hg.), Academia Marburgensis, 1977, 181-230. 30 Daß erstmals Kirchner die Termini maiestas realis und maiestas personalis gebraucht, nimmt Hoke 78 an.

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§ 4. Das Einsetzen des nenen Faches I. Frühe Traktate. - 11. Quelleneditionen. - III. Pf!anzstätten des ius publicurn.

I. 1. Im Titel der ersten akademischen Schriften zum ius publicum des Imperium Romano-Germanicum ist vom ius publicum noch nicht die Rede. Vielmehr firmieren die betreffenden Traktate und Dissertationen aus dem ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh. teils noch als solche zur iurisdictio, teils zu den regalia, stellen sich also als Beiträge zu gewohnten Themen der Legistik vor. Inhaltlich und methodisch sind sie jedoch der Anfang eines neuen, um das ius publicum des Hl. Römischen Reiches kreisenden fachlichen Schriftums. Nicht nur daß sie sich auf die Erörterung der besonderen Fragen des deutschen Reichsverfassungsrechts richten, jenes wird auch als eine besondere Rechtsmaterie aufgefaßt. Bei diesem seinem Verständnis steht Bodins Souveränitätsbegriff Pate. a) Von den Traktaten, die das aktuelle Reichsverfassungsrecht noch unter dem Titel iurisdictio abhandeln, ist an erster Stelle der umfängliche, lange und häufig zitierte Tractatus de iurisdictione imperii Romani libri duo (1608; 21616) des braunschweigischen Rats und Kanzlers Tobias Paurmeister (1553/55 - 1616)1 zu erwähnen. Daselbst ist das besondere Verfassungsrecht des Reiches schon sehr eingehend und sorgfältig entwickelt, auf einzelne bemerkenswerte Thesen aus diesem Traktat kommen wir sogleich zurück. Auch ein gleichfalls umfänglicher Traktat des Greifswalder Rechtslehrers Matthias Stephani (um 1570 - 1646)2 präsentiert sich als ein Beitrag zur Jurisdiktionslehre: Tractatus de iurisdictione in Imperio Romano (1606; vollständig 1610/11; 1623); iurisdictio und imperium sind hier wie bei Paurmeister, obzwar im Titel wie bei diesem nur iurisdictio vorkommt, begrifflich scharf unterschieden, d. h. als iurisdictio gilt nur die Ausübung der richterlichen Funktion, als imperium die öffentliche Gewalt schlechthin 3 • Auch der Tractatus de iurisdictione et imperio (1602) des Straßburgers Georg Obrecht 1 Über ihn Pütter, Litt. I, 158 f.; Stintzing I, 671; Stolleis, Gesch. I, 162. Der Traktat urnfaßt in der 2. Auf!. (1616) 936 Quartseiten, von denen 408 Seiten auf Lib. 1,524 Seiten auf Lib. 2 entfallen. 2 Über ihn Stintzing I, 729; ADB 36,95. 3 Hierzu Willoweit 44 f.

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(1547-1612)4 geht, wie diesmal schon der Titel anzeigt, von der Unterscheidung zwischen iurisdictio und imperium aus. b) Von den im Vergleich zu den iurisdictio-Traktaten zahlreicheren RegalienTraktaten und -Dissertationen aus dem späten 16. und frühen 17. Jh. erwähnen wir nur einige wenige. Zunächst Tractatus de regalibus (1587) und Paragraphus soluta potestas tractatus de regalibus (1592) des Lehrers an der Viadrina und brandenburgischen Rats, schließlich noch Kanzlers Friedrich Pruckmann (1562-1630)5, der scharf gegen die Lehre von der absoluta potestas, d. h. gegen Bodin polemisiert. Wissenschaftlich moderner ist der Tractatus de regalibus (1602; 31617) des hessisehen Rats und französischen Refugie Regner Sixtinus (1543 -1617)6. Dieser Traktat bezweckt bereits den Ausbau der Regalienlehre zu einem System von Rechtssätzen über den Erwerb, die Ausübung, den Verlust und die Übertragung der öffentlichen Herrschaftsrechte, die Regalien sind hier also schon als ein Komplex sachlich zusammenhängender Rechte aufgefaßt. Auch der Tractatus de iuribus ad imperatoris Romano-Teutonici maiestatem pertinentibus sive regalibus (1619) des späteren Rats des Magdeburger Erzbischofs Conrad von Einsiedei (gest. 1668) liegt auf dieser Linie, Einsiedei zieht dabei jedoch so wenig wie andere Autoren die superioritas des Kaisers über die Reichsstände in Zweifel. Einheitlich aus der Souveränität im Sinne Bodins sind die Regalien in einer frühen Marburger Disputation abgeleitet 7 , sodann vor allem in De iure maiestatis libri tres (1610) des Helmstedter Medizin- und Politik-Professors Henning Amisaeus (um 1575 -1636)8. In diesem Werk ist die Regalienlehre erstmals zu einem geschlossenen System der politischen Herrschaftsrechte umgeformt: Amisaeus subsumiert alle Regalien bzw. Majestätsrechte unter nicht mehr als zwei oberste staatliche Funktionen, nämlich ius armorum und gubematio 9 . Seine öfter aufgelegte Doctrina politica (1606), das Hauptwerk, ist eine systematische Grundlegung der politischen Wissenschaft, und zwar nach der Aristotelischen Methode und auf der Linie der Souveränitäts lehre des allerdings wegen seiner wissenschaftlichen Systemlosigkeit bekämpften Bodin, sie ist der Republica Bodins und der Politica des ebenfalls bekämpften Althusius wissenschaftlich ebenbürtig. Über ihn Stintzing I, 672 ff.; ADB 24, 114. Über ihn Th. Klein, Recht und Staat im Urteil mitteldeutscher Juristen des späten 16. Jh., Festschr. W. Schlesinger I, 1973, 427 ff., 442 - 466; ADB 26, 672. 6 Über ihn Pütter, Litt. I I 57f.; Stintzing 1,671,707 f.; ADB 34,441. 7 Von Andreas Schepsius (Praeses: Philipp Matthaeus): Quaestio an Princeps legibus sit solutus, Marpurgi 1596; zu dieser Arbeit Wyduckell37. Überhaupt zur Auffassung der Regalien als iura maiestatis und Funktionen der Staatsgewalt Dreitzel 245 f.; Willoweit 56; Stolleis, Gesch. I. 166ff., 169. Protestantische Autoren vermochten mit dem Ausbau der Regalienlehre auch das bei Bodin nicht vorkommende ius circa sacra in den Kreis der Hoheitsrechte aufzunehmen. 8 Grundlegend über ihn die zu einer Geschichte des frühneuzeitlichen politischen Denkens sich erweiternde Arbeit von Dreitzel. 9 Näher zu diesem seinem Ansatz DreitzeI246ff.; siehe auch Willoweit 150. 4

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Von den Sachproblemen der beginnenden Reichspublizistik vennitteln die Hauptthesen aus Paurmeisters Traktat eine Vorstellung lO . Bemerkenswert an dessen Position ist zunächst, daß der lutherische Anwalt einer genauen Ausmittelung des Verhältnisses der kaiserlichen Gewalt zu den reichsständischen Rechten scharf den Unterschied zwischen höheren und niederen Reichsständen betont. Die Reichsgewalt ist das Eigentum (dominium) der respublica selbst, also des Reiches - als dessen cives bezeichnet Paunneister die Reichsstände ll -, ihre Ausübung ist im Prinzip gemeinsam an Kaiser und Reichsstände übertragen. Die Jurisdiktionsgewalt gilt als die tragende Mitte des kaiserlichen imperium, ihre Ausübung ist jedoch an das Reichskammergericht delegiert. Damit versteht schon Paunneister das Reich, wie es in der Folge üblich wird, als einen sowohl monarchisch wie aristokratisch regierten politischen Körper, ohne daß er aber dem Kaiser die Autorität über die Reichsstände abspricht. Bezeichnenderweise findet sich schon bei ihm der in der Folge häufige Versuch, die Anteile von Kaiser und Reichsständen an der Ausübung der Reichsgewalt zu quantifizieren; so führt er aus, daß die Macht auf den Reichstagen je zur Hälfte zum einen dem Kaiser, zum anderen allen Reichsständen zusteht. Seine grundsätzlich kaiserfreundliche Gesinnung stellt er mit einer noch langen Liste der dem Kaiser vorbehaltenen Jurisdiktionssachen unter Beweis.

2. Die neue Fachpublizistik hatte nicht nur das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen zum Thema. 1600 legte Andreas Knichen (1560-1621)12 einen Traktat De iure territorii l3 vor, der die superioritas territorialis ("Hohe Landesobrigkeit") zu klären sucht; damit war für eine deutsche Territorialstaatslehre der Grund gelegt. Nach der Analyse dieses Traktats durch Willoweit l4 ist der in dessen Titel gewählte Begriff ius territorii ein neuer, durch die Einbürgerung des Begriffs superioritas territorialis schnell erübrigter juristischer Kunstbegriff. Er dient Knichen zur Bezeichnung aller über ein Territorium aus eigenem Recht ausgeübten herrschaftlichen Befugnisse, d. h. die Territorialherrschaft gehört grundsätzlich zur Gattung der höchsten gebietenden Gewalten. Entsprechend erstrecken sich die Wirkungen der Territorialherrschaft auf alle im Territorium Ansässigen, die Einordnung der Territorialherrschaft ins Reich und mithin die Superiorität von Kaiser und Reich werden jedoch nicht entfernt in Zweifel gezogen. Denn auch innerhalb des Territoriums kann die superioritas territorialis immer nur in den Grenzen der Verfassung des Reiches ausgeübt werden, sie ist vom Kaiser successoris lege et conditione in perpetuum ordinario et proprio iure eingeräumt l5 . Nach der Ausführung Knichens im 1621 veröffentlichten ergänzenden Kommentar zum zentralen ersten Kapitel seines Traktats De Rom. lmperatorum autocratia ad c. I de jure territorii (1621) üben die Reichsstände zwar selbständig und aus eigenem Recht die ihnen in ihren Gebieten zustehenden Majestätsrechte aus, es steht ihnen aber kein Zum folgenden insbesondere Lib. 2 Cap. 4, S. 558 ff., 598 ff. (Ausg. 1616). Vgl., Lib. 2, Cap. 1. 12 Über ihn Pütter; Litt. I, 155 f.; Willoweit 121 ff.; ADB 16,287 (Stintzing). 13 Vollständiger Titel: De sublimi et regio territorii iure synoptica tractatio, in qua principum Gennaniae regalia territorio subnixa, vulgo Landes-Obrigkeit ... explicantur. 14 S. 121 ff. 15 Ausg. 1688, Cap. In. 1335, S. 199. 10

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Anteil an den Rechten der imperialen Majestät zu, d. h. auch nach diesem entschiedenen Verfechter der Landeshoheit, Rat im wechselnden Dienst protestantischer Landesherren, ist die Verfassungsform des Reiches unbezweifelbar echt monarchisch, der Kaiser unterliegt in seiner Eigenschaft als übergeordneter Herrscher keiner Beschränkung. Damit läuft die von Knichen begründete Territorialstaatslehre, die Auffassung der Territorialherrschaft als einer regionalspezifischen höchsten Gewalt, nicht auf eine Leugnung des Lehnsnexus als des unauflöslichen staatsrechtlichen Bandes zwischen Kaiser und fürstlichen Territorialherren hinaus, Knichen faßt zudem die superioritas territorialis sachlich noch durchaus als ein Aggregat einzelner Regalien auf. Allerdings gilt ihm die superioritas territorialis nicht als abtretbar und veräußerlich, darin folgt er wie andere zeitgenössische Autoren der schon von den Kommentatoren vorgetragenen Ansicht von der iurisdictio als eines dem Territorium "anhängenden" Rechts. In der Auffassung der Territorialgewalt nach dem Modell des allgemeinen staatlichen Herrschaftsbegriffs ist Knichen Paul Matthias Wehner (1587-1612) mit dem erfolgreichen Practicarum iuris observationum selectarum liber singularis (1608; 51701)16 gefolgt. 3. a) Bereits im frühen 17. Jh. sind auf die iurisdictio- und Regalien-Traktate solche Arbeiten gefolgt, die nun auch vom Titel her das ius publicum des Imperium Romano-Germanicum als ihren Gegenstand anzeigen. So gelten als die ersten ausdrücklichen Kompendien des ius publicum des Hl. Römischen Reiches zwei Arbeiten aus der in Jena von Dominicus Arumaeus (1579-1637) begründeten Publizistenschule 17 : Daniel Ottos (um 1590 - vor 1664) Dissertatio juridico-politica de Jure Publico Imperii Romani (1616)18 und Epitome iurisprudentiae publicae universae (1622) des Georg Brautlacht l9 ; von diesen beiden Arbeiten setzt sich zwar die Arbeit Ottos nur locker aus Dissertationen zusammen, sie wurde aber offenbar gern, wie ihr wiederholter Druck ausweist, als Unterrichtsleitfaden benützt2o . Beide Arbeiten sind auffallend von einem neuen, im frühen 17. Jh. zu weiter Verbreitung gelangenden methodischen Ansatz beeinflußt, nämlich der anti aristotelischen, definitio, divisa, causae unterscheidenden Wissenschaftsmethode des Petrus Ramus. Wenn den Autoren dieser beiden Arbeiten schon ein recht sicherer Umgang mit ihrem Stoff bescheinigt werden kann, dann dürfte dazu vorzüglich deren Bereitschaft zur Anwendung der ramistischen Technik beigetragen Über dieses Werk Willoweit 124f.; über Wehner Pütter, Litt. 1,161. Über das Verdienst des Arumaeus um die akademische Einbürgerung des ius publicum noch sogleich im Text, über seine Reichslehre noch § 5 III. 18 Auch in: Arumaeus, Discursus academici de jure pub!., Vo!. V, Jena 1623. Über Person und Leben Ottos ist nur wenig bekannt; Stintzing I, 669; ADB 24, 746 (Landsberg). 19 Erschienen in Erfurt sowie in Vol. V der Discursus des Arumaeus. Über Brautlacht (auch Brudlach, Braudlacht) nur spärliche Angaben bei Moser, BibI. iur. pub!. 222 f.; Pütter, Litt. I, 172 f. 20 Dies bestätigen die Annotationen von l. Limnaeus (Notae et animadversiones in Dan. Ottonis dissertationem de jure Imperii publico Romani, Wittenbg. 1628) sowie von l.H. Boecler (In D. Ottonis Jus publ. notae et animadversiones postumae (1675; 1688), auch das Urteil Pütters, Litt. I, 171: "fast als das erste Compendium dieser Wissenschaft angesehen". 16 17

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haben. Noch eine andere Arbeit aus der Arumaeus-Schule kann als frühe Gesamtdarstellung des ius publicum erwähnt werden, und zwar eines Autors, der als der "Begründer" (R. Stintzing) der deutschen Rechtswissenschaft gerühmt wird: Benedict Carpzovs (1595 -1666) Abhandlung De capitulatione Caesarea sive de lege regia Germanorum (1623; 1640 erw. unter dem Titel: Commentarius in legem regiam Germanorum sive capitulationem Imperatoriam juridico-historico-politiCUS)21. Desweiteren verdient als frühzeitige gelungene Gesamtdarstellung des deutschen ius publicum die Arbeit eines auch aus der politischen Geschichte bekannten Autors', Jakob Lampadius' Heidelberger Doktordisputation De iurisdictione imperii Romano-Germanici (1619; Praeses: Reinhard Bachov), Erwähnung 22 ; Hermann Conring ließ sie 1642 unter dem ihren Inhalt besser treffenden Titel De republica Romano-Germanica erneut drucken, und zumal in der nochmaligen, mit Conrings Annotationen versehenen Ausgabe (1671) wurde sie zu einem offenbar nicht nur von Conring gern benutzten Unterrichtsleitfaden; wir kommen auf sie zurück. Eine große materialreiche Arbeit über das ius publicum war erstmals der Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico (1619) des Dietrich Reinkingk, er wurde an stofflichem Reichtum bald übertroffen von Johannes Limnaeus' anfangs dreibändigen Juris publici Imperii Romano-Germanici libri IX (1629-1634); auch auf diese beiden Spitzenwerke der frühen Reichspublizistik ist zurückzukommen. b) Zeugnis des zügigen Einsetzens der neuen Fachpublizistik sind nicht nur Kompendien des ius publicum des Hl. Römischen Reiches. Auch frühzeitige monographische Arbeiten über eine deutsche Verfassungseinrichtung können erwähnt werden, so von Andreas Gail der systematische Kommentar De pace publica (1580; dt. Übersetzung von Thobias Loncius 1601). Eine eingehende Behandlung der Goldenen Bulle lieferte Dominicus Arumaeus mit den Discursus academici ad auream bullam (1617; 31663 mit Zusätzen von E. F. Schröter); außerdem legte Arumaeus einen Commentarius de comitiis Romano-Germanici imperii (1630; 31669) vor, an ihm ist die ausgiebige Erörterung der Wahlkapitulation bemerkenswert23 . Noch mehr Erwähnung verdient jedoch Arumaeus wegen der von ihm herausgegebenen, noch zu würdigenden großen Sammlung staatsrechtlicher Arbeiten diverser Autoren: Discursus academici de iure publico (1. Bd. 1615, vier weitere Bde. 1620-23).

21 Die ältere Fassung erschien gleichzeitig 1623 in Erfurt und bei Arumaeus, Discursus de jure publico, Vol. V. Außerdem gibt es von Carpzov und seinem Bruder Conrad Carpzov (1593 -1658) eine 1618 in Wittenberg als Inaugural-Disputation verwendete, 1621 ebenfalls im Sammelwerk des Arumaeus erschienene (Vol. 111, Disc. 15) Abhandlung: De Regalibus. Über B. Carpzov Stintzing 11, 55 -100; J.F. Heine, Zur Methode in B. Carpzovs zivilrechtlichen Werken, ZRG RA 82 (1965) 227-301. 22 Über Lampadius und seine Dissertation noch § 5 111. 23 Nähere Analyse bei Schubert, Reichstage 482 ff.

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11. 1. Die neue Fachdisziplin trat mit dem Anspruch auf, das ius publicum des römisch-deutschen Reiches aus den deutschen Verfassungsquellen zu erschließen. Dies setzte voraus, daß die deutschen Verfassungsdokumente für die wissenschaftliche Erörterung allgemein verfügbar waren. Deren Veröffentlichung setzte schon im 16. Jh. ein und erreichte im frühen 17. Jh. den vorläufigen Höhepunkt. Veröffentlicht wurden nicht nur spezifische Rechtstexte, sondern alle für das Verständnis der deutschen Verfassungsfragen aufschlußreichen Dokumente, so vornehmlich vorreformatorische Streitschriften und Traktate über die Ordnung des Gemeinwesens und der Kirche sowie über das Verhältnis von kaiserlicher und päpstlicher Gewalt. Die wichtigste Quellensammlung zum Reichsrecht, die der Reichsschlüsse (Corpus recessuum Imperii), wurde bereits während der Aetas Maximilianae begonnen 24 . 2. Zu den Sammlern deutscher Reichsschriften schon aus dem 16. Jh. gehört der auch als Historiograph erwähnenswerte Simon Schard (1533 _1573)25. Der bekannteste Sammler auf dem Gebiet des deutschen ius publicum und der mit ihm zusammenhängenden Gebiete ist Melchior Goldast von Haiminsfeld (15781635)26. Er kann überhaupt der emsigste historisch-staatsrechtliche Sammler genannt werden, seine Sammlungen gelten allerdings nicht immer als zuverlässig. Der lange in ungesicherten Verhältnissen lebende Goldast, der sich den Broterwerb durch die Herausgabe von Schriften sichern mußte, legte von 1607 bis 1614 etliche Sammlungen in Foliantenform vor: "Des Hl. Röm. Reichs Kayser, Könige und Churfürsten Constitution, Reformation, Ordnungen und Ausschreiben" (1607); "Reichshandlung und Reichssatzung" (2 Bde. 1609); Collectio consuetudinum et legum imperialium (1613); "Politische Reichshändel" (1614); Politica imperialia (1614); schließlich Monarchia S. Romani Imperii (3 Bde. 1611-1614), die große Edition der Streitschriften über das Verhältnis von königlich-kaiserlicher und päpstlicher Gewalt. Wenn im 18. Jh. Johann Jakob Moser von Goldasts Reichssatzungen behauptet hat 27 , daß in ihnen einiges erfunden oder jedenfalls der Herkunft nach nicht genügend gesichert sei, so war dies ungerecht und übertreibend; kritisiert werden kann allerdings an Goldasts Editionen, in denen sich manches Stück wiederholt, die fehlende Begründung der Auswahl und Ordnung der dargebotenen Texte 28 . Eine gediegene große Aktenpublikation, die erneut aufgelegt und von Über die 1501 beginnenden Ausgaben des Corpus Schubert, Reichstage 135 ff. Hauptwerk: Historicum opus in 4 tomos divisum usque ad finem anni 1564, Basilea 1574; eine zweite, von Nikolaus Cisner (1529-1583) vollendete Ausgabe u.d.T.: Schardius redivivus sive rerum Germanicarum, scriptores varii, 4 Bde., Gießen 1673. Über Schard Pütter; Litt. 1,142; Stintzing I, 508-512; ADB 30, 58l. 26 Über ihn Pütter, Litt. I, 178 f.; Stintzing I, 734 ff.; H. Schecker, Melchior Goldast von Haiminsfeld, 1930; ADB 9, 327; NDB 6, 601; HRG I, 1735ff. (R. Hake). 27 Compendium iuris publici Germanici, Tübingen 1731,21 f. 28 In diesem Sinne die Kritik bei Pütter, Litt. I, 178 f. 24 25

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1. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Gennanici

anderen fortgesetzt wurde, lieferte Christoph Lehmann (1570-1638)29 mit De Pace Religionis Acta Publica et Originalia (1631); noch mehr wurde wohl dessen "Chronica der freien Reichsstadt Speier" (1612; 41711) benutzt, die vorbildliche Darstellung sowohl einer Partikular- wie der Reichsgeschichte 3o . Auch für den Heidelberger Humanisten Marquard Freher (1565 _1614)31 ist die Verbindung von editorischem und historiographischem Wirken kennzeichnend, jener ist nicht nur als der Herausgeber des "Libellus" des Peter von Andlau, sondern auch von Schriften deutscher humanistischer Geschichtsschreiber zu erwähnen. Eine weitere große Aktensammlung mit reichen Annotationen sind die von dem Jenaer Historiker Friedrich Hortleder (1579 _1640)32 publizierten Akten zur Vorgeschichte und Rechtfertigung des Konflikts zwischen Karl V. und dem Schmalkaldischen Bund (1617/18)33; anläßlich der Erhebung des weimarischen Prinzen Johann Ernst zum Rektor der Jenaer Universität verfaßte Hort1eder eine von diesem vorgetragene Oratio de Germanorum lege regia (1608), daselbst ist die jüngste Wahlkapitulation - sie ist mit der Germanorum lex regia gemeint - als das wichtigste deutsche Verfassungs gesetz vorgestellt. Als eine große Aktenpublikation ist noch zu erwähnen von Michael Caspar Londorp (um 1580-1629): "Der Röm. Kayserl. Majestät und des Heil. Röm. Reiches geist- u. weltlicher Stände ... Acta publica" (zuerst 1621). Die Anfänge einer protestantischen Profangeschichte gehen schon auf Melanchthons Umarbeitung und Erweiterung der verbreiteten Weltchronik des Johann Carion 34 und auf Johannes Sleidanus (1505-1556)35 zurück; wissenschaftlich gewichtiger von den Arbeiten des letzteren als das erfolgreiche Büchlein De quattuor summis imperiis (1540 u.ö.) ist die aus Archivmaterial erarbeitete große Darstellung Commentarii de statu religionis et reipublicae Carolo V. Caesare (1555). 29 Über ihn: Leben des berühmten Chr. Lehmanns nebst vielen unbekannten und geheimen Nachrichten ... beschrieben durch Erhard Christoph Baur, Frankfurt 1756; Pütter, Litt. I, 162 ff., 183 ff.; ADB 18, 132. 30 Über die Leistung als Historiker F.x. v. Wegeie, Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, 1885, 402 ff. 31 Über ihn Pütte" Litt. I. 190; Stintzing I, 680ff.; D. Komexl, Studien zu Marquard Freher (1565-1614), Diss. phi!. Freiburg 1967; B. Schwan, Das juristische Schaffen Marquard Frehers, 1984; HRG I, 1214ff. (R. Hoke). 32 Über ihn M. Ritter, Friedrich Hortleder als Lehrer der Herzöge Joh. Ernst und Friedr. v. Sachsen-Weimar, in: Neues Arch. f. sächs. Gesch. u. Alterstumskunde 1 (1880) 188 ff.; Pütter, Litt. I, 179ff.; ADB 13, 165. 33 Handlungen und Ausschreiben ... von den Ursachen des teutschen Krieges ... anno 1546 u. 1547, Frankfurt 1617. Dazu Bd. 2: Handlungen und Ausschreiben ... von Rechtmäßigkeit, Anfang, Fort- und Ausgang des teutschen Krieges ... vom Jahre 1546 bis auf das Jahr 1558, Frankfurt 1618. 34 Chronica durch Magistru Johan Carion vleissig zusammengezogen, meniglich nützlich zu lesen, Wittenberg 1532. 35 Über ihn Pütter, Litt. I, 106ff.; ADB 34,454; RGG VI, 110 (Lit.); J.B. Vogelstein, J. Sleidan's commentaries: vantage point of a second generation Lutheran, Lanham 1986.

§ 4. Das Einsetzen des neuen Faches

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3. Den "Sammlern" verdanken die deutschen Publizisten nicht nur die Erschließung ihrer Quellen, sondern überhaupt die eigene literarische Tradition. Wie für die Zivilistik die literarische Tradition in der gewaltigen Stoffrnasse des Corpus Iuris und der seinen Inhalt autbereitenden und ausbauenden klassischen Juristenschriften vorlag, so erhielt die Reichspublizistik die literarische Tradition durch die von den "Sammlern" bereitgestellten Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte. Für die Ausbildung der Lehren und das steigende Ansehen der Publizisten war die emsige Arbeit der "Sammler" die nicht wegzudenkende Voraussetzung.

111. 1. Während des 17. Jh. bleibt die akademische Pflege des ius publicum des Hl. Römischen Reiches noch so gut wie völlig auf protestantische hohe Schulen beschränkt36 . Daß lange kaum auch katholische gelehrte Anstalten ein Interesse an der Pflege des ius publicum gezeigt haben, leuchtet aus naheliegenden Gründen ein. So kann als ein solcher Grund der für die protestantischen Territorien typische Säkularisationsvorsprung vor den katholischen angesehen werden, auch daß einem protestantischen Reichsstand die kaiserliche Gewalt nicht in dem Maße wie einem altgläubigen als sein politischer Rückhalt zu gelten brauchte. Die katholischen Universitäten schieden aber auch deshalb als Ausbildungsstätten im ius publicum lange aus, weil sie seit der Gegenreformation unter dem maßgebenden Einfluß der Mitglieder des Jesuitenordens - jenen untersagten die Ordensregeln die Lehre der Rechte - stehen konnten; allgemein blieb an den gelehrten katholischen Anstalten eine auf die Aufnahme neuer Fächer zielende Unterrichtsreform bis weit ins 18. Jh. aus 3? Als eine protestantische Wissenschaft im konfessionellen Sinne kann jedoch die frühe Reichsrechtswissenschaft in Anbetracht der hochgradigen innerprotestantischen Gegensätze keineswegs bezeichnet werden.

36 Zur akademischen Entwicklung des ius publicum noch § 7. Zur Bedeutung der neuzeitlichen Universität allgemein und speziell für die Pflege des ius publicum Hammerstein; siehe von dems. außer Jus und Historie (1972): lus publicum Romano-Germanicum, in: Diritto e Potere nella Storia Europea. Atti in onore di Bruno Paradisi H, Firenze 1982,717-754; Universitäten des Hl. Röm. Reiches Deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock, Studia Leibnitiana XIII (1981); Zur Geschichte und Bedeutung der Universität im Hl. Röm. Reich Deutscher Nation, HZ 241 (1985) 287 ff. Über die Pflege des ius publicum an Universitäten außerhalb des Reiches (Genf, Leiden) kurz unten § 7 I 5. 37 Zur Modemisierung der katholischen Universitäten im 18. Ih. grundlegend Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich, 1977; zur Aufnahme des ius publicum an denselben noch § 9 H.

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1. Teil: Das lus Publicum lmperii Romano-Gennanici

2. Marburg, die älteste neugegründete evangelische Universität (Gründung 1527), und Gießen (Erhebung zur Universität 1607) können nicht als die ersten akademischen Pflanzstätten des ius publicum bezeichnet werden, Gelehrte an diesen beiden aus politischen Gründen verfeindeten Nachbarhochschulen, nämlich der Marburger Rechtsprofessor Hermann Vultejus 38 und sein Gießener Kollege Gottfried Antonius 39 , trugen jedoch erstmals eine nachreformatorische Kontroverse über den noch aktuellen Umfang der kaiserlichen Majestätsrechte aus. Wir kommen auf diese öfter kommentierte Eröffnungsdebatte des ius publicum noch zurück. Diese Debatte war eingebettet in eine territorial-konfessionspolitische Auseinandersetzung: den Erbstreit zwischen den beiden im neugläubigen Bekenntnis gespaltenen Linien des landgräflichen Hauses in Hessen. Jede der beiden Linien beanspruchte für sich Marburg; um seinen Anspruch auf Marburg durchsetzen zu können, suchte sich das lutherische Darmstädter Haus eng an den kaiserlichen Hof anzulehnen. Die von der Darmstädter Linie mit kaiserlichem Patent in Gießen errichtete Universität war die lutherische Gegengründung zum neurefonnierten Marburg, sie sollte die dort zum Bekenntniswechsel nicht bereiten Professoren und Studenten aufnehmen und der Pflege einer gut kaiserlichen Gesinnung dienen40 .

3. Eine erfolgreiche dauerhafte Pflanzstätte des ius publicum war erst die ebenfalls junge Universität Jena. 1558 nach einem zehnjährigen Probe-Vorlauf zur vollberechtigten Universität erhoben, verdankt die Jenaer Anstalt ihre Gründung der Niederlage des Protestantismus im Schmalkaldischen Krieg. Nach dem Sieg Kaiser Karls V. bei Mühlberg (1547) hatten die sächsischen Ernestiner die Kurwürde an ihre albertinischen Vettern verloren und waren auf ihre thüringischen Besitzungen beschränkt worden; diesen Verlust der Basis ihrer bisherigen Stellung in der deutschen Politik sollte die neue Jenaer Hochschule kompensieren helfen, sie sollte der Ersatz für das verlorengegangene, unter der Ägide Melanchthons florierende Wittenberg sein. Dieser Erwartung hat die neue Anstalt auf die Dauer nicht getrogen; Jena wurde im vorrückenden 17. Jh. zum "Einbruchstor der neuen westeuropäischen Denkmethode in das Luthertum,,41. Auch hier wurde wie in Straßburg, Helmstedt und Altdorf die niederländische Verbindung von Philosophie, Jurisprudenz und Geschichte gepflegt, die Jenenser Gelehrten standen für lange Zeit im allgemeinen deutlich über dem Durchschnitt ihres Faches. Noch im frühen 18. Jh. stand Jena der Frequenz nach an der Spitze der deutschen Hochschulen. Die Begründung des Studiums des ius publicum an der Jenaer Hochschule war das Verdienst eines einzigen namhaften Gelehrten, des Dominicus Arumaeus; ihm Über ihn § 5 Anm. 8. Über ihn § 5 Anm. 6. 40 Zur Spaltung der hessischen Gesamt-Universität Marburg und Gründung der Gießener Universität P. Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen 1607-1982, 11 ff.; M. Rudersdorj. Der Weg zur Universitätsgründung in Gießen, in: Academia Giessensis, Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, 1982, 45 - 82. 41 H. Schöffler, Deutsches Geistesleben zwischen Refonnation und Aufklärung, 21956, 156. 38 39

§ 4. Das Einsetzen des neuen Faches

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heftete sich schon im 18. Ih. und mit vollem Recht der Ruhm des "Stammvaters" der deutschen Publizisten an 42 . Bahnbrechend für die akademische Pflege des ius publicum wurde Arumaeus weniger durch seine eigenen, wiewohl herausragenden Arbeiten als durch seine Tätigkeit als Herausgeber und überhaupt als ein moderner Wissenschaftsorganisator. Dominicus Arumaeus, aus Leeuwarden, kam nach Studien in Franeker, Oxford und Rostock 1599 nach Jena, promovierte hier 1600 zum Doktor der Rechte und nahm schnell an der Jenaer Universität eine führende Stellung ein: 1605 Professor der Rechte und Beisitzer am Jenaer Schöffenstuhl; 1634 Ordinarius primarius und damit Übernahme des Vorsitzes im Schöffenstuhl; weimarischer Rat und mehrmals in der Funktion des Rektors der Universität.

Arumaeus' entschiedenes Eintreten für die akademische Verselbständigung des ius publicum war beispielgebend, schon er sieht die Aufnahme des ius publicum in den Kreis der laufend gelehrten akademischen Fächer als völlig unentbehrlich an. Die noch ganz geläufige Ansicht, daß das ius publicum als eine Art "Geheimwissenschaft" für die kleinen Zirkel der Fürstenberater tunlich von der Universität fernzuhalten sei, lehnt er ab, stattdessen betont er dessen Nützlichkeit für die professionelle Ausbildung in den einzelnen Sparten des Staatsdienstes. Schon er versteht unter dem ius publicum nur das in den deutschen Verfassungs gewohnheiten und -texten, d. h. in erster Linie in Goldener Bulle, jüngster Wahlkapitulation und Reichsabschieden vorliegende Recht. Als Grund für die noch übliche abschätzige Beurteilung des ius publicum in akademischen Kreisen sieht er den von der Beschäftigung mit dem ius privatum für das spätere Berufsleben erwarteten größeren finanziellen Nutzen an43 ; sein Schüler Johannes Limnaeus macht darüber hinaus für die übliche Geringschätzung des ius publicum den Umstand verantwortlich, daß die Beschäftigung mit dem ius publicum häufig als Verhüllung der Unkenntnis im Zivilrecht verdächtigt wird (mantellum ignorantiae juris civilis)44. Den berechtigten Anspruch des ius publicum auf seine Aufnahme in den regulären Universitätsunterricht stellte Arumaeus dadurch unter Beweis, daß er andere jüngere Kräfte zu eigenen Arbeiten auf dem Felde des ius publicum anspornte; er war der erste Gründer einer Schule im ius publicum, und zwar einer ansehnlichen. In den von ihm herausgegebenen fünfbändigen Discursus academici de iure pub lico (1615-1623) sind die Arbeiten seines Kreises versammelt45 . Nicht wenige da42 Über ihn Pütter, Litt. I, 165ff.; Stintzing I, 719ff.; Hoke 27ff.; Grass 163f.; Stolleis, Gesch. I, 214; HRG I 237 ff. (Hoke); ADB 1, 614. Die geflügelte Kennzeichnung des Arumaeus als "Stammvater der Publicisten" geht zurück auf D. Nettelbladt, Hallische Bey träge zu der juristischen Gelehrten-Historie H, Halle 1758, 53. 43 Discursus acad. ad Auream Bullam, 2Jena 1619, Widmung und I, 1, S. 2; siehe auch Discursus acad. de iure publico I, 1, Jena 1615, Widmung. 44 Zur Rechtfertigung der akademischen Beschäftigung mit dem zeitgenössischen ius publicum durch Limnaeus Hoke 39 f. 45 Übersicht über den Inhalt des Gesamtwerkes bei Pütter, Litt. I, 166 ff.; zur Datierung Hoke 35 Anm. 92. Über die gleichzeitige Disputationensammlung von Conrad Biermann: S. Imperii lus Publicum, 3 Bde. Hanau bzw. Frankfurt 1614-1618 Stolleis, Gesch. I, 213f.

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von sind schon bemerkenswert qualitätsbewußte Arbeiten, darunter außer solchen des Arumaeus und seiner Schüler auch anderer in Jena wirkender Gelehrter. Mit dem Sammelwerk des Arumaeus erwarb sich Jena den Ruhm, als erste Hochschule im Reich der Entwicklung des ius publicum zum akademischen Fach die Bahn gebrochen zu haben. In der Folge erwarben sich noch andere Universitäten im Reich nämlich bemerkenswerte Verdienste um die akademische Karierre des ius publicum.

§ 5. Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts I. Vorblick auf ihren Verlauf. - 11. Das Reich als Monarchie: G. Antonius, Reinkingk. - III. Das Reich als res publica mixta: Arumaeus, Lampadius, Limnaeus. - IV. Das Reich als Aristokratie: Hippolithus a Lapide. - V. Das Reich als civitas composita: Besold und Vorgänger, Ludolph Hugo, Leibniz. - VI. Das Reich als respublica irregularis: Pufendorfs Reichsverfassungsschrift. - VII. Die Wiederherstellung des Reichsverfassungssystems durch den Westfälischen Frieden.

I. 1. Die Einordnung des Reiches in das System der Staatsformen war lange Zeit für die Reichspublizistik die theoretische und praktische Hauptfrage. Zumal solange die Befürchtung nicht von der Hand gewiesen werden konnte, daß der Kaiser seine Macht bis zur Selbstherrlichkeit steigern könnte, mußte diese Frage die Diskussion der Publizisten völlig beherrschen. Aber auch noch im frühen 18. Jh. wogte der Streit über diese Frage hin und her. Der politische Niedergang des Reiches und der Mangel an neuen, noch nicht vorgetragenen Argumenten mußte dann allerdings das Interesse an der weiteren Erörterung derfonna imperii-Frage abklingen lassen I . Das System der Staatsformen, in das die Publizisten das Reich einordneten, war natürlich die Aristotelische Dreiheit Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Als Demokratie ist allerdings das Reich wohl nie eingestuft worden, sosehr auch demokratische Züge an ihm entdeckt werden konnten; dagegen wurde es als genuine Monarchie, als Aristokratie und, so am häufigsten, als eine Mischung aus diesen beiden Typen definiert. Ob sich das Reich bei seiner "Irregularität" überhaupt im geläufigen Staatstypenschema unterbringen läßt, sollte erst zu Beginn des letzten Drittels des 17. Jh. Samuel Ptifendoif entschlossen in Frage stellen. 1 Zur Reichsdebatte der Publizisten aus einem reichen Schrifttum Stolleis; Grass; Hoke, bes. 54ff., 152ff.; Schubert, Reichstage 525ff.; v. Schönberg, Reichslehen 16-71; F. Dickmann, Der Westfälische Friede, 31972, 124-141; G. Henkel, Untersuchungen zur Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch die deutsche Staatstheorie in der ersten Hälfte des 17. Ih., Diss. iur. Marburg 1967; zu Pufendorfs Reichstheorie und zur Diskussion über sie Roeck. Aus dem älteren Schrifttum J. Sauter; Die Entwicklung der abendländischen Staatsidee, ARSP 27 (1933/34) 199ff., 319ff.; Erik Wolf. Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und 17. Ih., in: K. Larenz (Hg.), Reich und Staat in der deutschen Philosophie I (1943) 33 -168.

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Auch die Publizisten, die scharf den echt monarchischen Charakter des Reiches betonen, betonen immer die für die kaiserliche Macht aus dem ius divinum, dem ius naturale und vor allem den leges fundamentales des Reiches sich ergebenden Schranken. Dies mußte es aber nicht ausschließen, daß dem Kaiser außer den staatsoberhauptlichen Rechten auch das imperium im Reich, und zwar unbeschränkt zugewiesen wurde; diese Ansicht - ihr bedeutender Vertreter ist Dietrich Reinkingk - konnte allerdings nur vorgetragen werden, wenn man bereit war, die nicht zu bezweifelnde Teilhabe der Reichsstände an der Reichsgewalt zu bagatellisieren. Wahrend die Auffassung des Reiches als genuine Monarchie auch noch im 18. Jh. vorgetragen werden konnte, kommt die Gegenansicht vom Reich als Aristokratie, also die Reservierung der Souveränität im Reich für die Reichsstände bzw. die Kurfürsten als reichsständischen Repräsentanten praktisch nur in der ersten Hälfte des 17. Jh. vor, und zwar auch nur als eine kämpferische Minderheitsmeinung; mit ihr waren umgekehrt die Rechte des Kaisers bagatellisiert, nämlich zu Ehren-Vorrechten und unselbständigen administrativen Leitungsrechten herabgedrückt. Auch Publizisten in reichsständischem Dienst konnten sich wohl kaum eine von der Verfassungswirklichkeit so sehr entfernende Ansicht zu eigen machen, die den Kaiser völlig dem Willen der Reichsstände unterordnete. Von bekannten Autoren hat denn auch, außer Bodin, nur Bogislaw Philipp von Chemnitz, der entschlossene Vorkämpfer gegen österreichische Vorherrschaft, die Deutung des Reiches als Aristokratie vorgetragen, er beschreibt jedoch als aristokratisch am Reich weniger dessen gegenwärtige als dessen erst für die Zukunft gewünschte Verfassung. Die Auffassung der Verfassung des Reiches als eines status mixtus aus monarchischen und aristokratischen Elementen fand auf die Dauer unter den Publizisten wohl immer den meisten Anklang. Diese etwa schon von Paurmeister durchaus vorgetragene Auffassung erlaubte sowohl die Bejahung der monarchischen Staatsform des Reiches wie die Annahme reichs ständischer Majestätsrechte, d. h. als das signifikante Kennzeichen der deutschen Verfassung war die Teilung der Hoheitsrechte zwischen Kaiser und Reichsständen angenommen. Der überhaupt in der Staatslehre der frühen Neuzeit sich verbreitende alte Mischv~rfassungsgedanke fand so in der Reichspublizistik den kräftigen Niederschlag 2 . Die Auffassung der Verfassungsform des Reiches als eines status mixtus konnte sich auf die von Althusius erneuerte Lehre von der Gesamtheit als des Inhabers der höchsten Gewalt stützen, aus welcher sich die Unterscheidung zwischen der gemeinwesenimmanenten maiestas realis und der durch jene übertragenen maiestas personalis ableitete; diese ständisch-demokratische Lehre wirkte stark auf die frühe Reichspublizistik ein, ohne daß sie aber auch auf die Dauer bei den Publizisten Anklang gefunden hätte 3 . Mit der Unterscheidung jener beiden Majestätsarten war nicht der Ansicht 2 Zur Entwicklung der Mischverfassungslehre W Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, 1980. Eine Darlegung der Lehre von der gemischten Verfassung ist das Werk des Danzigers Bartholomaeus Keckermann (1571-1609): Systema disciplinae politicae, Hanau 1608,4. Auf!. 1616.

§ 5. Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts

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Bodins von der Unteilbarkeit der Souveränität widersprochen, aber es war im Gegensatz zu ihm die Substanz der Souveränität nicht im herrscherlichen Subjekt, sondern in der über handlungsfähige Repräsentanten verfügenden Gesamtheit lokalisiert. Vereinzelt ging in der ersten Hälfte des 17. Jh. die reichsständische Publizistik so weit, auch den Reichsständen als solchen höchste Gewalt im Reich zuzusprechen, nämlich soweit sich dies aus der Kompetenz des Reichstags ergab 4 . Aus der Bahn der aristotelischen Staatsfonnenlehre traten jene Autoren heraus, die von der Zusammensetzung des Reiches aus staatlichen Subeinheiten ausgehen. Auch die Lehre vom Reich als civitas composita, nach der Fonnulierung Johann Stephan Pütfers als eines "aus Staaten sich zusammensetzenden Staates"S, kündigte sich schon vor der Mitte des 17. Jh. an, mit ihr war die Ansicht, daß die Landeshoheit eine aus eigenem Recht selbständig ausgeübte Hoheitsgewalt ist, allgemein staatstheoretisch gestützt. Die Frage nach der Staats- und Verfassungsfonn des Reiches war mit seiner Definition als "Staatenstaat" freilich nicht beantwortet; immerhin konnte das als ein Staatenstaat definierte, monarchisch regierte Reich nur eine beschränkte Monarchie sein. Sowohl die Auffassung des Reiches als beschränkte Monarchie wie als Staatenstaat stieß in der Staatsrechtslehre der vorgerückten Aufklärung nicht mehr auf Widerspruch.

11. 1. In der Marburg-Gießener Auftaktskontroverse zur Publizistik des 17. Jh. fand die entschieden monarchische Reichsauffassung ihren Verfechter in Gottfried Antonius (1571-1618)6. Er lieferte zu jener Kontroverse? allerdings nicht den Anstoß. Sondern ausgelöst wurde sie von dem Marburg Pandektisten Hermann Vultejus (1555-1634)8, der 1599 in Ad titulos Codicis, qui sunt de iurisdictione 3 Zur Urheberschaft Kirchners an der Unterscheidung der beiden Majestätsarten § 3 IV 3, zur frühzeitiger Anwendung auf die Reichsverfassung noch Anm. 23. 4 Diese Ansicht bei l. Lampadius; hierzu noch III 2. 5 Pütters Darlegung seines Staatenstaatsbegriffs ist enthalten in Beytr. I, 17 ff. ("Von der Regierungsform des Teutschen Reiches und einigen davon abhängenden Grundsätzen des Teutschen Staatsrechts"). 6 Über ihn Zed1er Bd. 2, Sp. 707 f.; löcher Bd. 1, Sp. 457; F.w. Strieder; Grundlage zu einer hessischen Ge1ehrten- und SchriftsteHergeschichte seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Kassel1781 ff., Bd. 1, 79ff.; ADB 1,496. 7 Zu ihr tiefdringend H. Steiger; Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius aus der Perspektive der politischen Theorie des Johannes A1thusius, in: K.-W. Dahm/w' Krawietz/ D. Wyducke1 (Hg.), Politische Theorie des Johannes A1thusius (= Rechtstheorie Beih. 7), 1988,333-367. 8 Über ihn Zed1er Bd. 51, Sp. 1296ff.; F.w. Strieder (s. Anm. 6) Bd. 16,351 ff.; Stintzing 1,452-465; Aldo Mazzacane, Umanesimo e sistematische giuridiche in Germania aHa fine dei Cinquecento. Eqiuta e giurisprudenza neHe opere di H. Vultejus, in: Annali di storia dei diritto 12/13 (1968/69) 257-319.

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et foro competenti Commentarius, einer zivilprozeßrechtlichen Abhandlung, eher nur beiläufig die Ansicht vorgetragen hatte 9 , daß aufgrund der staatsrechtlichen Veränderungen von der Zeit vor Karl dem Großen bis heute die kaiserlichen Rechte nicht mehr aus dem Corpus Iuris entnommen werden können. Vultejus verneint es daher wie Bodin, daß der Kaiser als legibus solutus bezeichnet werden kann, er betrachtet aber das Reich durchaus als Monarchie, aber als aristokratisch regierte ("gubematio sit Aristocratica "). Erst acht Jahre nach dem Erscheinen seines Kommentars wurde von dem in Gießen lehrenden Antonius der Widerspruch gegen diese neue Ansicht von der Reichsverfassung angemeldet. Antonius, zuvor in Marburg Schüler des Vultejus, polemisiert in zwei Abhandlungen gegen dessen Ansicht von der Beschränkung der Herrscherstellung des Kaisers: der Disputatio de augustissimae, sacratissimaequeCamerae imperiali jurisdictione (1607) und der Disputatio apologetica, de potestate Imperatoria legibus soluta et hodiemo Imperii statu (1608)10. In diesen beiden Abhandlungen hält Antonius daran fest, daß noch heute die Monarchenstellung des römisch-deutschen Kaisers unbeschränkt ist, er bezeichnet ihn unumwunden als legibus solutus. Immerhin muß er zugeben, daß die potestas absoluta des Kaisers nicht nur durch die von ihm erteilten Privilegien, sondern auch durch das Herkommen im Reich und die Reichsgrundgesetze beschränkt ist; damit liegt letzthin sein Gegensatz zu Vultejus doch mehr auf terminologisch-ideologischer als sachlicher Ebene. Ja, die Formellegibus soluta kann Antonius überhaupt nur deshalb zur Kennzeichnung der kaiserlichen Gewalt gebrauchen, weil er unter dem selbständigen Gesetzgebungsrecht ersichtlich nicht wie Bodin das eigentliche Kernstück der souveränen Gewalt versteht. Die Disputatio apologetica polemisiert nicht mehr ausdrücklich gegen den in Schweigen sich hüllenden Vultejus, sondern gegen die Marburger Disputatio prima in institutiones civiles des Vultejus-Schülers Georg Martinius ll ; auch danach setzte Antonius die Polemik gegen Vultejus, aber nicht mehr auf staatsrechtlichem Gebiet fort I2 .

2. Die von Antonius vertretene streng monarchische Auffassung des Reiches erhielt alsbald ihre in sich geschlossene, sozialphilosophisch vertiefte Darlegung im großen Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico (1619) des Dietrich = Theodor Reinking(k) (1590-1664), Schüler von Antonius und Vultejus I3 .

In der Epistola dedicatoria sowie den Ausführungen zum titulus XXIV Ubi senatores. Als Respondent bei der Disputationen ist jeweils auf dem Titelblatt ein Christoph Kalt genannt, den Gross 139 f. abweichend von der allgemeinen Ansicht auch als den Verfasser ansieht; dagegen spricht, daß in der Disputatio apologetica betont ist, daß Vultejus die vorangehende Schrift seines Kontrahenten De Camerae Imperialis iurisdictione mit keiner Erwiderung gewürdigt habe (vgl. thesis I No. 4: nec ullo nos dignari responso). Die Disputatio apologetica ist abgedruckt bei M. Goldast, Politica imperialia, Frankfurt! M. 1614, pars XIII, p.623-629. 11 Biographisch kann über diesen nichts festgestellt werden. 12 Dazu Steiger (s. Anm. 7) 335. 9

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Geboren zu Windau / Kurland als Sproß einer eingewanderten westfälischen Offiziers- und Beamtenfamilie, wandte sich Reinkingk nach Studien in Köln, Marburg und Gießen zunächst der akademischen Laufbahn zu, und zwar in Gießen. Schon ein Jahr nach der Ernennung zum Extraordinarius schied er jedoch aus dem Gießener Lehrkörper aus, um sich besser seiner Tatigkeit als Rat bei der Gießener Regierung und als Beisitzer am dortigen Obergericht widmen zu können. Von da an ist er dauernd in politischen Ämtern tätig, und zwar bei verschiedenen, teils politisch minoren evangelischen Reichsfürsten, die eher die kaiserliche Gewalt als die reichsständische Libertät als ihren Stützpfeiler betrachtet haben dürften; auch dies dürfte ihn, neben der festen Verwurzelung im Altluthertum, zum Festhalten an seiner prokaiserlichen Einstellung bestimmt haben l4 . Zweimalige schwedische Haft 1635/36 und 1645; ab 1646 Teilnahme an den westfälischen Friedensverhandlungen; ab 1648 im Dienst des Königs von Dänemark als Kanzler der Herzogtümer Schleswig und Holstein und 1650 als Präsident des Pinneberger Oberappellationsgerichts. Das andere Hauptwerk ,,Biblische Policey" (1653) entfaltet die altlutherische Staatsauffassung zur materialreichen Stände- und Regentenlehre l5 , es richtet sich gegen den neuen Wortführer der Staatsräsonlehre in Deutschland Hippolithus a Lapide.

Dem strengen Lutheraner Reinkingk kommt es auf den Nachweis an, daß die Innehabung aller klassischen Majestätsrechte durch den Kaiser mit der Verfassung des Reiches noch immer übereinstimmt, sein mächtiger Reichsrechtstraktat - das zugleich eine politica generalis darstellende Werk wurde noch bis ins 18. Jh. wiederaufgelegt (71717) - ist das "Standardbuch" (eh. Link) der kaiserlichen Partei. Untypisch für die Publizistik der kampferfüllten ersten Hälfte des 17. Jh. ist seine betont kaiserfreundliche Haltung jedoch nicht, ja, seine strenge Verknüpfung der Majestät mit dem Kaiser ist in der frühen Reichspublizistik die eher verbreitetere Position, man kann sie aufgrund der Anerkennung der kaiserlichen Majestät durch Kurfürsten und Reichsfürsten auch schwerlich als Widerspruch zur Reichsverfassung kritisieren. Typisch für Reinkingks Argumentation ist, daß ihm die durch Humanismus und Reformation verbreitete Reichs- und Geschichtsmetaphysik noch ohne Bedenken zur juristischen Beweisführung dient, d. h. er begründet die Reservierung der Majestät für den Kaiser mit der translatio des imperium Romanum auf die Deutschen und mit der Fortgeltung der lex regia, der Übertragung der gesamten hoheitlichen Gewalt durch das römische Volk auf den Vorgänger der neueren Kaiser 16 ; andererseits bemüht er sich durchaus um eine exakte positivrechtliche

13 Über ihn eh. Link in: Staatsdenker 78-99 (Lit.); Pütter, Litt. I, 174ff.; Stintzing 11, 189-211; Schubert, Reichstage 540-549; Hoke 64f., 155f.; Randelzhofer, Völkerrecht!. Aspekte 70ff.; Wyduckel 154ff., 161 f.; Stolleis, Gesch. I, 218ff.; HRG IV, 840ff. (Hoke); RGG V, 949 f. (M. Heckei); B. Pahlmann in: Kleinheyer / Schröder (Hg.) 224 ff. (Lit.); zu Reinkingks Biblischer Policey Anm. 15. 14 Diese Annahme bei Hoke in: HRG IV, 843. IS ZU diesem Spätwerk H. Maier 131 ff.; H. Jessen, Biblische Policey. Zum Naturrechtsdenken Dietrich Reinkingks, Diss. iur. Freiburg i. Br. 1962; P. Pasquino, Göttliche und irdische Politik: Th. Reinkingk und V. L. v. Senkendorff, in: Ib. d. Dt.-Ita!. Hist. Instituts Trient, 1983. 16 Tractatus, 6. Aufl. Francof. 1659, Lib. I Class. 11 Cap. I S. 42 ff.; Cap. 11 S. 94 ff.



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1. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Germanici

Verifizierung seiner Thesen anhand der deutschen Verfassungstexte und -gewohnheiten. Mit dem Gegner Bodin stimmt er nicht nur im herrscherzentrierten Souveränitätsbegriff überein, er macht sich auch dessen Unterscheidung von Staatsund Regierungsforrn (modus administrationis) zu eigen 17. Vollends wegen der Aufnahme dieser Unterscheidung kann man nicht sagen, daß Reinkingks Reservierung der Majestät für den Kaiser das aktuelle Verfassungsrecht des Reiches verbiegt. Alles in allem stützt sich seine extensive Interpretation der kaiserlichen Majestätsrechte mehr auf positivrechtliche Argumente als auf die Reichsmetaphysik. So betont er, daß die Reichsstände durch das Lehnsband dem Kaiser zu Untertänigkeit, Gehorsam und Heerfolge verpflichtet sind l8 ; wenn er den Reichsständen einen Anteil an der höchsten Gerichtsbarkeit abspricht, dann weil ein solcher Anteil nicht reichs gesetzlich normiert ist; wenn er ihnen selbst ein Gesetzgebungsrecht im Reich, das über Beratung hinausgeht, bestreitet, dann unter Berufung auf das rechtsforrnalistische Argument, daß der Kaiser den Reichstag einberuft, die Propositionen für ihn aufstellt und die Promulgation der Reichsgesetze veranlaßt; schließlich akzeptiert er auch nicht die in der Goldenen Bulle vorgesehene Möglichkeit der Verklagbarkeit des Kaisers als einen stichhaltigen Einwand gegen die echtmonarchische kaiserliche HerrschersteIlung, da sich der Kaiser dem dann gegen ihn anstehenden Gerichtsverfahren freiwillig stellt, also ohne Einbuße an seiner majestätischen Würde. Die dem Kaiser durch das ius divinum et naturale, das ius gentium und die leges fundamentales des Reiches gezogenen Schranken sind bei allem immer klar betont, so daß Reinkingk für die kaiserlichen Rechte nicht als ein Absolutist eintritt, sondern im Rahmen der die ständischen Freiheiten und Gerechtsame gewährleistenden deutschen Verfassung, also als Anhänger einer gemäßigten Monarchie.

111. Nach der Ansicht der Mehrzahl der Publizisten aus der ersten Hälfte des 17. Jh. das Reich eine Monarchie mit aristokratischer Komponente. Dies bleibt die vorherrschende Reichsansicht in der Publizistik, jedoch ändert sich, und dies trifft schon für die zweite Hälfte des 17. Jh. zu, ihre Begründung l9 . Von den zahlreichen Autoren bis zur Mitte des 17. Jh., die der monarchisch-aristokratischen Reichsansicht zugerechnet werden können, können im folgenden nur die bekannteren erwähnt werden. i~t

1. Zunächst erwähnen wir nochmals Dominicus Arumaeus, das Haupt der Jenaer Publizistenschule. Nach ihm ist im Reich die Ausübung der Majestätsrechte Zur Auseinandersetzung mit Bodin Tract. Lib. I Class. 11 Cap. 11 S. 59. Nachw. hierzu und zum folgenden bei Link in: Staatsdenker, 85. 19 So hat schon im späten 17. Jh. die doppelte Majestätslehre die Resonanz verloren; hierzu noch Anm. 31 und der dazu gehörende Text. 17

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§ 5. Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts

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durch die von den Kurfürsten aufgestellte Wahlkapitulation festgelegt 20 , so daß ihm an sich das Reich als eine Aristokratie gelten müßte. Er sieht es jedoch als eine Monarchie an, allerdings mit zwischen Kaiser und Reichsständen geteilter Hoheitsgewalt. Damit unterscheidet er zwischen Majestät und Majestätsrechten; diese Unterscheidung ermöglicht ihm sowohl die Annahme eines reichsständischen Anteils an der Ausübung der höchsten Reichsgewalt wie andererseits die Reservierung der Majestät für den Kaiser. Zur Reservierung der Majestät für den Kaiser gelangt er desweiteren deshalb, weil er unter der maiestas wie Bodin die durch ein persönliches Subjekt ausgeübte öffentliche Herrschaftsgewalt versteht, also die eines einzelnen Herrschers ("summa unius in regenda potestas"PI. er definiert sie mithin noch nicht wie bereits andere Autoren als eine dem Gemeinwesen selber zukommende Gewalt22 , die zur Ausübung an ein persönliches Subjekt übertragen ist. Diese von Arumaeus noch nicht getroffene Unterscheidung zwischen ,,realer" und "personaler" Majestät trägt in der Anwendung auf das Reich ein Autor aus dem Jenaer Kreis des Arumaeus, Matthias Bortius (geb. 1582/85), vor, sie begegnet zuvor schon bei anderen Autoren 23 . 2. Offen räumt dem aristokratischen Prinzip die Priorität in der Reichsorganisation Jakob Lampadius (1593-1649)24 ein. Dieser kommt in der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft zwar nur wegen einer einzigen Arbeit vor, die jedoch als Unterrichtsleitfaden gern gebraucht wurde: der Heidelberger Dissertation De iurisdictione imperii Romano-Germanici (1619)25.

20 Hierzu und zum folgenden seine bei den Abhandlungen 2 u. 3 in Vo!. IV der von ihm herausgegebenen Discursus acad. de jure pub!., Jena 1623; siehe auch seinen Commentarius juridico-historico-politicus de conritiis Romano-Germanici Imperii, Jena 1630, Cap. I1I, thes. 28 u. 30, S. 77 f., thes. 51, S. 92. Zu seiner Reichstheorie sorgfältig Hoke 80 ff. 21 Disc. acad. de jure pub!. IV, 2 und Commentarius Cap. III, thes. 20, S. 75. 22 Dies hat Hoke 80 f. gegenüber der älteren Ansicht O. v. Gierkes richtiggestellt. 23 Die Lehre von der ,,realen" und "personalen" Majestät ist in zwei Abhandlungen des Bortius vorgetragen: De naturajurium majestatis et regalium explicatio, Jena 1614; Jurisprudentiae publicae Germanicae typus, Jena 1615; beide Abhandlungen auch in Vo!. I (Jena 1615) von Arumaeus' Discursus acad. de jure pub!. Über die Lehre des Bortius Hoke 83 ff., zur Biogr. dort 84 Anm. 195. Schon 1608 gebraucht ReinfUlrd König (1583-1658) die Begriffe ,,reale" und "personale" Majestät in seiner Gießener Disputatio politica de statu Imperii Romani (abgedr. bei Goldast, Politica imperialia, Francof. 1614, pars XIV, 645-651), ebenfalls legt sie 1610 loh. Cammann (1612-1649) in seiner Gießener Disputatio politico-juridica de juribus majestatis seu regalibus in genere zugrunde (in: ders., Collegium politico-juridicum seu disputationes regales de juribus majestatis seu regalibus tarn majoribus quam minoribus, Gießen 1612, disp. 1). Zu König und Cammann (Camman) Hoke 78 ff.; zu König auch Stolleis, Gesch. I, 119. 24 Über ihn R. Dietrich in Festg. F. Hartung, 1958, 163 ff.; Pütter; Litt. I, 2ooff.; Wyduckel 144 f.; Stolleis, Gesch. I, 163 f.; B. Pahlmann in: Kleinheyer I Schröder (Hg.), 159-161 (Lit.). 25 Zu ihrer von H. Conring 1634 veranlaßten Neuausgabe unter verändertem Titel schon § 4 I Ziff. 3 a; unautorisierte Nachdrucke Arnstadt 1666 und Jena 1672.

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I. Teil: Das lus Publicum Imperii Romano-Germanici

Die Lautbahn des Lampadius hat als typisch für einen Reichsjuristen des Konfessionellen Zeitalters zu gelten: Kurze Tätigkeit als Beisitzer am Reichskammergericht; dann ebenfalls nur kurze akademische Lehrtätigkeit, nämlich in Helmstedt als erstmaliger Professor iuris publici (1620/21); danach Rat und Vizekanzler in wolfenbüttelschem und kalenbergschem Dienst; auf dem westfälischen Friedenskongreß "gefürchteter Sprecher der evangelischen Partei" (B. Pahlmann).

Das kleine Werk des Lampadius ist eine straffe, am modemen Souveränitätsbegriff orientierte Darstellung der Reichsverfassung. Lampadius läßt aber die Klassifizierung des Reiches als Monarchie oder Aristokratie offen, die Souveränität steht nach ihm "essentialiter" der Republica selbst ZU 26 • Seiner Beschreibung der Verfassung des Reiches schickt er einen kurzen Abriß der geschichtlichen Entwicklung des imperium Romanum bis zur Gegenwart voraus, den er mit der noch nicht ungewohnten Bemerkung beginnt, daß die Fortdauer des Caesarum imperium bis zur Gegenwart überhaupt nicht zu bezweifeln ist ("nihil igitur dubitandum est"l7; diesen geschichtlichen Abriß schließt die drastische Schilderung der frühzeitig eingetretenen Beschränkung der kaiserlichen Majestätsrechte zunächst durch die päpstlichen Übergriffe, sodann durch die Kurfürsten ab. Auf diese Darstellung des großen Entwicklungsganges der Reichsverfassung stützt sich anschließend Lampadius, wenn er die maiestas im Reich im Sinne der status mixtus-Lehre als nicht nur dem Kaiser, sondern im Rahmen der Kompetenz des Reichstags auch den Reichsständen zustehend ansieht, d. h. das Reich ist sowohl Monarchie (nämlich soweit der Kaiser allein Machtbefugnis hat) als auch Aristokratie (nämlich soweit ein Zusammenwirken von Kaiser und Reichsständen bei der Ausübung der Hoheitsrechte verlangt ist). Die landesherrliche Superiorität leitet Lampadius aus der mit der Reichsstandschaft gegebenen Teilhabe an der Reichsgewalt ab, d. h. die HerrschersteIlung im Territorium steht nur denen zu, die das Vertretungs- und Stimmrecht auf den Reichsversammlungen besitzen 28 . Zumal mit dieser unüblichen Konstruktion der Territorialherrschaft findet die auch sonst wegen der originellen Begründung der vorgetragenen Ansichten bemerkenswerte Arbeit in der großen Gruppe der typisch "fürstenerianischen" Schriften ihren Platz. 3. Der Hauptvertreter der aristokratisch-monarchischen Lehre vom Reich nicht nur für die erste Hälfte des 17. Jh. ist Johannes Limnaeus (1592-1663)29, er nimmt unter den zeitgenössischen Publizisten anerkannt den Spitzenplatz ein. Seine anfangs dreibändigen Juris publici Imperii Romano-Germanici libri IX (11629-1634; 2 Bde. Additiones 11650 u. 11660) sind, abgesehen von Reinkingks vom Umfang De republica Romano-Germanica, Leiden 1634, Pars I, S. 51 ff. Ebd. Pars 11, S. 74. 28 Pars III Cap. 3 n. 4-5, S. 1l0f.; hierzu Willoweit 144f. 29 Über ihn grundlegend Hoke. Aus dem älteren Schrifttum Pütter, Litt. I, 194ff.; Stintzing 11, 211-220; Erik Wolfes. Anm. 1) I05ff.; aus dem neueren Schrifttum v. Schönberg, ReichsIehen 42ff.; ""Yduckel 145 ff., 156ff.; Stolleis, Gesch. I, 221 ff.; HRG 11, 2038 ff. (Hoke); B. Pahlmann in: Kleinheyer / Schröder (Hg.) 162-165 (Lit.); NDB 14,567 (B. Roeck). 26

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§ 5. Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts

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her zurückstehenden Tractatus, das erste stoffgewaltige Werk über das Reichsstaatsrecht. Geboren zu Jena als Sohn eines Professors der Mathematik, wollte Limnaeus nach dem Studium der Rechte in Jena und Altdorf den akademischen Lehrberuf ergreifen, er gab diesen Plan jedoch bald auf. Nach Reisebegleiter- und Hofmeisterjahren wurde er 1631 mit dem Ratstitel zum Studienleiter des minderjährigen Markgrafen von Brandenburg-Ansbach bestellt, nach dessen Regierungsantritt wurde er 1639 zum Geheimen Rat und Kämmerer ernannt. Er blieb fortan in dieser Vertrauensstellung arn Ansbacher Hof, die Zeit für die wissenschaftliche Arbeit ließ, die Benutzung des markgräflichen Archivs gestattete und vor politischen Pressionen schützte. Weitere Werke: der die staatstheoretischen Ansichten aus dem Hauptwerk aufnehmende und systematisierende Kommentar Capitulationes Imperatorum et Regum Romanogennanorum (1661; 31674); In Auream Bullam Caroli Quarti Imperatoris Romani observationes (1662); die frühen Dissertationes nomico-politicae de academiis (1621) wurden dem Hauptwerk eingefügt.

Das Reichsrecht sucht Lirnnaeus allein aus seinen deutschen Quellen zu gewinnen. Der Bearbeitung seines ausgedehnten Stoffes legt er die modernsten staatstheoretischen Lehren zugrunde, nämlich die doppelte Majestätslehre und die Lehre vom status mixtus. Ein "System" des Reichsstaatsrechts ist jedoch auch seine große Arbeit noch nicht. Stoffauswahl und -bearbeitung folgen einem nüchternen pragmatisch-empirischen Wissensinteresse, der überquellende Stoff droht die Konturen des Ganzen immer wieder zu verwischen. Die Leitidee ist die der abendländischen Korporationslehre: Jeder handlungsfähige Sozialkörper, mithin auch das Reich, besteht aus Haupt und Gliedern. Auch allen folgenden Darstellungen des Reichsstaatsrechts liegt diese anthropomorphistische Leitidee zugrunde. Als Haupt des Reiches sieht Limnaeus den Kaiser an, als die Glieder des Reiches die über unterschiedliche Rechte verfügenden Reichsstände. Demgemäß behandelt das große Werk des Limnaeus, nachdem einleitend auf das ius publicum und die Eigenart des Reiches eingegangen ist, zunächst die Grundgesetze und Insignien des Reiches (Buch I), anschließend die Stellung des Kaisers (Buch 11), danach die Reichsstände einschließlich der Reichsvikare, und zwar beginnend mit den Kurfürsten (Buch I1I) und fortschreitend zu den anderen reichsständischen Häusern (Buch IV, V), danach den übrigen Reichsadel (Buch VI), danach die Reichsstädte und andere Städte (Buch VII), danach noch die Universitäten (Buch VIII), erst in Buch IX sind Reichstag, Reichsgerichte und Reichsausträge behandelt. Der dargebotene Stoff kann öfter nicht als typisch publizistisch gelten - ausgiebig ist etwa von Turnieren und der städtischen Zunftordnung gehandelt (Buch VI cap. 5; Buch VII cap. 3) -, eine Behandlung der allgemeinen Untertanenrechte und -pflichten fehlt. Nach dem Reichsstaatsrecht des Lirnnaeus ist das kaiserliche Reichshaupt das "Primarorgan" des Reiches 3o, das Reich ist ein in monarchischer Form organisierter Staat. Die dem Kaiser im Reich zustehende höchste Gewalt ist ihm jedoch, und 30 Vgl. Jus publ., Additiones, Vol. 2., S. 189 (zu I, 12): Die reale Majestät des Reiches "Imperatore tanquam organo primario ... utitur"; dazu Hoke 117. Auch wegen weiterer Nachweise ist auf Hokes Arbeit zu verweisen.

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zwar einschließlich der von ihm allein ausgeübten Rechte (iura reservata) durch die "reale" gesamtheitliche Majestät übertragen, ihm kommt mithin die Stellung eines gebundenen Herrschers zu. Auch an die Reichsstände kann ein Anteil an der summa potestas im Reich übertragen sein, nämlich soweit dies die Reichsgesetze vorsehen; der Kaiser kann nicht den Reichsständen ihre Rechte zu verbindlichem Handeln um des Reiches willen entziehen. Die von Limnaeus übernommene Lehre von der doppelten, als "real" und "personal" unterschiedenen Majestät besagt mithin bei ihm so wenig wie bei anderen ihrer Vertreter, daß das Gemeinwesen zwei verschiedene Herrschaftssubjekte hat. Vielmehr ist ihr zufolge die einzige wahre unteilbare Majestät (Souveränität) die ,,reale", auf ihr beruht alle im Gemeinwesen legitim gebietende Gewalt. Dieser Rang kommt der maiestas realis zu, weil ihr Subjekt die als ein Gemeinwesen organisierte Gesamtheit, die respublica selbst ist, und zwar einschließlich ihres Oberhaupts. Alle hoheitliche Gewalt ist mithin nicht die autonome Gewalt einer Einzelperson oder eines Kollektivs, sondern eine übertragene, der Kaiser ist zwar herrschaftliche Spitze des Reiches, aber durch die Wahlkapitulation und die übrigen Reichsgrundgesetze gebunden, er kann bezüglich eines bestimmten Teils der Reichsangelegenheiten nicht ohne die das Reich ebenfalls repräsentierenden Stände verbindlich für das Reich handeln. Damit ist nach Limnaeus das Reich eine beschränkte Monarchie, es hat einen gemischten Status, in welchem sich monarchisches und aristokratisches Element kreuzen. Einen solchen gemischten Status sieht Limnaeus ganz offenbar nicht als eine Anomie an, zumal nicht für die Gegenwart. Allerdings billigt er innerhalb der Reichsorganisation dem aristokratischen Element ersichtlich das eher größere Gewicht als dem monarchischen zu. So spricht er den Kurfürsten das Recht zur Absetzung des Kaisers bei der Verletzung von Reichsverfassungsnormen so uneingeschränkt zu wie das Recht seiner Wahl; immer setzt nach ihm das Zustandekommen eines Reichsgesetzes die Willensübereinstimmung von Kaiser und Reichsständen voraus. Mit seiner Verbindung der status mixtus-Lehre mit der doppelten Majestätslehre hat Limnaeus nicht Schule gemacht. Die doppelte Majestätslehre erzielte ihre hohe Resonanz in der ersten Hälfte des 17. Ih., schon in der zweiten ist die Zustimmung zu ihr nicht nur rückläufig, sondern sie wird nun eher überwiegend abgelehnt, wenn nicht sogar bekämpfe'. Mit dem Übergang ins Zeitalter des Absolutismus mußte wohl auch ihre Karriere, d. h. die einer ständisch-demokratischen Lehre beendet sein. Mit dem Werk des Limnaeus "schließt die literarische Gründungsphase des ius publicum ab" (Stolleis), nicht auch der Grundsatzstreit der Publizisten über dieforma imperii. Der Stoff des ius publicum war im großen Werk des Limnaeus erstmals umfassend vermessen, allerdings bei noch häufiger Hereinnahme fremder Elemente. Mit seinen abgewogenen, alles in allem als gemäßigt zu bezeichnenden verfas31 Zu diesem Ausklang der doppelten Majestätslehre, auf den Hake nicht mehr eingeht, H. Dreitzel, Zur Reichspublizistik, ZHF 4 (1978) 339 ff., 342.

§ 5. Die Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jahrhunderts

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sungspolitischen Ansichten setzte Limnaeus einen für das ius publicum vorbildlich gewordenen Standard. Daß er im ganzen klar für die reichsständische Sache focht, hat der Glaubwürdigkeit seines wissenschaftlichen Objektivitätsstrebens nicht geschadet, jedenfalls wurde ihm wohl nie eine willentliche Verbiegung der Reichsgesetze vorgeworfen. Seine große Arbeit erschien zu dem Zeitpunkt, als der Krieg in Deutschland den Höhepunkt erreicht hatte; sie kann als das bedeutendste wissenschaftliche Zeugnis für den allgemeinen Wunsch gelten, aus dem todbringenden Waffenaustrag endlich bald den Weg zur Wiederherstellung der deutschen Verfassung zu finden.

IV. Die Einordnung des Reiches unter die Aristokratien propagiert die berühmte, aus der europäischen Endphase des Großen Krieges stammende antihabsburgische Dissertatio de ratione status in lmperio nostro Romano-Germanico (1640?; 1647) des Hippolithus a Lapide, Pseudonym für Bogislaw Philipp von Chemnitz (16061678)32. In Stettin als Sohn eines Rechtsgelehrten und Kanzlers zweier deutscher Reichsfürsten geboren (der Großvater Manin Chemnitz war ein namhafter evangelischer Theologe), war Bogislaw Philipp Chemnitz, nach Studien in Rostock und Jena, anfangs Offizier in niederländischem, ab 1630 in schwedischem Dienst. 1644 zum schwedischen Reichshistoriographen ernannt, als der er ein zweiteiliges Geschichtswerk über den von der Krone Schweden in Deutschland geführten Krieg verfaßte (1648/53; zwei weitere Teile aus dem Nachlaß 1855); 1648 in den schwedischen Adelsstand erhoben; 1675 schwedischer Hofrat. Der Familienname im Pseudonym ist die Übersetzung des slawischen Chemnitz, im Slawischen zu einern Wortstamm gehörend, der "Stein/Lapidus" meint 33 • Nach Pütter34 hat die Hippolithus-Schrift dem kaiserlichen Hof vielleicht größeren Schaden getan als manche verlorene Schlacht.

32 Über ihn Hoke in: Staatsdenker 100-128 (Lit.); ders., Staatsräson und Reichsverfassung bei Hippolithus a Lapide, in: R. Schnur (Hg.), Staatsräson, 1975, 407-425; Stintzing 11, 4654; Erik Wolf (s. Anm. 1) 117-125; Schubert, Reichstage 553-575; Dickmann (s. Anm. 1) 137-142; RandelzhoJer; Völkerrechtl. Aspekte, 1967, 73ff.; v. Schönberg, Reichslehen 27ff.; B. Pahlmann in Kleinheyer 1 Schröder (Hg.) 55 ff. (Lit.); NDB 3, 198. Deutsche Übersetzung auf der Grundlage der Ausgabe v. 1647: Hippolithus a Lapide, Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältnis, und Bedürfnis des Röm. Reichs Deutscher Nation, nebst Anzeige der Mittel zur Wiederherstellung der Grund-Einrichtung und alten Freyheit nach dem bisherigen Verfall. Aus Bogislaw Philipps von Chemnitz vollständiger Urschrift mit Anmerkungen, weiche die gegenwärtigen Umstände im Reich betreffen, 3 Bde., Mainz-Koblenz 1761 (als Übersetzer sowie Autor der auf die politische Situation zur Zeit des Siebenjährigen Krieges anspielenden Annotationen gilt loh. Philipp v. Carrach; zu dessen Annotationen v. Schönberg, Reichslehen 35 ff.); ein deutschsprachiger Auszug in: Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich d. Gr. Dokumente zur Entwicklung. Zusammengestellt u. eingeleitet v. P. loachimsen, 1921, 142-181; zwei französische Übersetzungen: Paris 1712; Den Haag 1762. 33 Wie Hoke in: Staatsdenker 128 mitteilt. 34 Litt. I, 207.

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Wie in Reinkingks kaisertreuem Werk die monarchische Reichsauffassung im Sinne der Ablehnung jeder Konzession an den Gedanken reichsständischer Mitregierung schroff vorgetragen ist, so in der kämpferischen Hippolithus-Schrift die entgegengesetzte reichs ständisch-aristokratische im Sinne der Unterordnung des Kaisers unter den Willen der Reichsstände. Nach Hippolithus steht die Leitung des Reiches der Gesamtheit der Reichsstände zu, der Kaiser besitzt nur den Ehrenprimat und die Reichsverwaltung, das Reich ist somit "aristocratia monarchiae ex parte administrata ,,35. Auch seine schon im Titel den modemen ratio status- Begriff aufnehmende Kampfschrift sucht jedoch die staats theoretische Einordnung des Reiches mit einer staatsrechtlichen Begriffsanalyse der Reichsgesetze und -gewohnheiten zu begründen. Diese im ersten Teil der heftig angefeindeten Schrift enthaltene Analyse verschaffte ihrem Autor jedoch nicht seinen umstrittenen Ruhm, sondern die Darlegung der ratio status des Reiches in deren zweitem Teil und die daraus im dritten Teil abgeleiteten radikalen verfassungspolitischen Vorschläge. Diese Vorschläge gipfeln in der berüchtigten, mit der ratio status, d. h. den "existenziellen Interessen" (Hoke) des Reiches gerechtfertigten Forderung nach Austreibung ("exstirpatio") des Hauses Österreich aus dem Reich 36 ; ihm wird wegen seiner übermäßigen Macht und mehrfach unter Beweis gestellten Bereitwilligkeit zum Beiseiteschieben der gemeinen deutschen Verfassung die Fähigkeit und Berechtigung zur Reichsleitung rundweg abgesprochen, d. h. das österreichische Dauerkaisertum ist das eigentliche politische Verhängnis für Deutschland. Hippolithus plädiert daher für die Einziehung aller kaiserlichen Erblande zugunsten des Reiches; er fordert eine reichs gesetzliche Enumeration der kaiserlichen Rechte; um für die Zukunft die Möglichkeit der Wiederholung der Herrschaft Österreichs durch ein anderes Fürstenhaus auszuschließen, soll die mehr als dreimalige Nacheinander-Wahl von Mitgliedern einer Familie zum Kaiser untersagt sein. Dem Kaiser sollen nur die für die Reichsstände politisch ungefährlichen Ehrenrechte eines Reichsoberhaupts sowie die administrative Leitung des Reiches zustehen, auch jene nur nach Maßgabe des von den Reichsständen festgestellten Reichswillens. Auf eine verbesserte Handlungs- und Integrationskraft der Reichsstände in corpore, also nicht nur der Kurfürsten kommt es Chemnitz letztlich an 37 . Näher sind diese immer als überspitzt und aussichtslos abgelehnten Vorschläge zur politischen Regeneration Deutschlands nicht zu erörtern, wie auch die im älteren Schrifttum gern aufgeworfene Frage, ob Chemnitz im Auftrag Schwedens oder als deutscher Patriot gegen Habsburg geschrieben hat, auf sich beruhen kann. Festzuhalten ist jedoch, daß seine Schrift einen neuen Stil in die junge Reichspublizistik einführte, nämlich den der offen interessengeleiteten Verfassungsanalyse. DaDissertatio, 2. Aufl. Freystadt (fingiert) 1647, Conc1usio Primae Partis, S. 322. Dissertatio, 2. Aufl., Pars III Cap., 2 S. 520 ff. 37 An der Aufstellung der Wahlkapitulation soll der Reichstag beteiligt werden; Dissertatio, Pars III Cap. 3, S. 547 f.; dt. Übers. (s. Anm. 32) III, S. 223 ff. 35

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gegen spielt in der Begriffs- und Dogmengeschichte des Staatsrechts das berühmte antihabsburgische Pamphlet keine Rolle. Als Präludium zur neueren Staatspersönlichkeitslehre und zum staatlichen Organbegriff kann jedenfalls das tendenziöse Plädoyer für die Unterordnung des Kaisers unter die Reichsstände nicht gelten, sondern eher kommt das Verdienst, in diese Richtung erstmals gegangen zu sein, den Vertretern der doppelten Majestätslehre zu. So politisch aussichtslos Chemnitz' radikale Vorschläge zur ,,Heilung" Deutschlands waren, kann ihnen ein realistischer Zug doch nicht abgesprochen werden, sie setzen die Möglichkeit der Anpassung der deutschen Verfassung an das propagierte Verfassungsideal voraus. Mit vollem Recht hat F. Dickmann die umstrittene Schrift "ein Ereignis in der deutschen Verfassungsgeschichte" nennen können 38 , nämlich da den Reichsständen nicht wieder so weitgehende, den Kaiser depossedierende Rechte an der Reichsgewalt zugesprochen worden sind.

v. 1. Die Auffassung des Reiches als eines "aus Staaten sich zusammensetzenden Staates" konnte wohl erst Anklang finden, als auch reichsrechtlich die Landeshoheit als eine Hoheitsgewalt aus eigenem Recht, wenngleich unter der Oberhoheit des Reiches, anerkannt war, also erst nach der Neuordnung durch den Westfälischen Frieden. Immerhin hat sie schon in der ersten Jahrhunderthälfte Vertreter. Als der früheste Vertreter der Staatenstaatslehre gilt herkömmlich der zugleich für die status mixtus-Lehre und die doppelte Majestätslehre eintretende Universalgelehrte und vielgefragte Consiliator Christoph Besold (1577-1638)39. Sie ist jedoch bei ihm noch kein näher ausgeführter Gedanke, Besold kann auch nicht als ihr Urheber gelten. Dessen wissenschaftliches Interesse galt vor allem der prudentia civilis und nicht speziell dem ius publicum. außerdem anderen Teilen der Jurisprudenz, der Universal- und Partikulargeschichte sowie nicht zuletzt der Theologie. Von den zahlreichen Schriften des ungewöhnlich produktiven Gelehrten erwähnen wir die beiden großen Traktatsammlungen: Politicorum libri duo (1618) und Discursus politici (1623). Nach Advokatentätigkeit wurde Besold 1610 Mitglied der Tübinger Juristenfakultät, er war siebenmal Rektor der Tübinger Universität. In der Beurteilung der Verfassungs- und Regierungsformen schon moderner Relativist, war dies Besold in der Beurteilung der letzten

Siehe Anm. I, 142. Über ihn F.w, Meyer, eh. Besold als Staatsrechtler, Diss. iur. Erlangen 1957 (maschr.); zum Gesamtwerk Stintzing I, 692-696; zur Methode Besolds Hammerstein. Jus 96; zur Biographie B. Zeller-Lorenz/w' Zeller in: F. Eisener (Hg.), Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, 1977, 9-18; B. Pahlmann in: KleinheyerlSchröder (Hg.) 33-35 38

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(Ut.).

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metaphysischen Fragen bei seinem starken theologischen Interesse sicher nicht. Sein Übertritt zum katholischen Glauben war noch lange später ein literarisches Thema, wozu wohl beitrug, daß die für das frühe 17. Jh. nicht ungewöhnliche Konversion zunächst geheimgehalten und erst nach der Schlacht bei Nördlingen, mit der Österreich die Herrschaft über Württemberg zufiel, öffentlich bekanntgemacht wurde. Besold Opportunismus wegen der nachträglichen Bekanntmachung seines Religionswechsels vorzuwerfen, wie dies mitunter im älteren Schrifttum geschehen ist, muß zumal im Lichte seiner Einstellung zur württembergisehen Klösterfrage als unhaltbar zurückgewiesen werden; bereits 1629 trat er aufgrund des gerade erlassenen Restitutionsedikts Ferdinands 11. für die Rückgabe der württembergischen Klöster, d. h. eines Drittels des Landes an die katholische Kirche ein, woran er in rechtspositivistischer Haltung auch nach der österreichischen Besitznahme von Württemberg festhielt, was ihm bei der neuen Landesherrschaft kaum Sympathien einbringen konnte4o . 1636 folgte Besold einem Ruf nach Ingolstadt, wo er die Codex-Professur mit der Verpflichtung übernahm, eine lectio iuris publici zu halten; zum Titel eines kurbayerischen Rats kam 1638 der eines kaiserlichen Rats hinzu. Verdienste um die Einführung des ius publicum in Ingolstadt konnte sich Besold wegen seines baldigen Todes nicht mehr erwerben; auch für Tübingen lassen sich ihm solche nicht bescheinigen41 .

Nach Besold ist der Status des Reiches "ex aristocratia et regio commixtum,,42. Die Majestät versteht er im Sinne der doppelten Majestätslehre und unter Berufung auf sie als das unzerstörbare Recht der ganzen Gemeinschaft ("ius totius civitatis"y43, als gemeinwesenkonstituierende Gewalt äußert sie sich in den legesfundamentales44 • Obzwar durch die letzteren die personale Majestät beschränkt ist, gilt sie Besold - "in administranda seu gubemanda republica consistit" - als "summa, perpetuus" und "legibus solutus", sie ist die Quelle aller anderen Gewalten im Gemeinwesen und unentziehbar. Als neu hat Besolds Unterscheidung der beiden Typen des absoluten und subordinierten Staates zu gelten 45 . In Verbindung mit der doppelten Majestätslehre erlaubt ihm diese Unterscheidung, auch die deutsche Territorialherrschaft als eine Form der Majestät aufzufassen, die er aber klar von der übergeordneten kaiserlichen Majestät unterscheidet; so wird die Territorialherrschaft unter Bezugnahme auf die Anerkennung der kaiserlichen Majestät durch Kurfürsten, Fürsten und Grafen als beschränkt und subordiniert ("potestas determinata et subordinata") definiert46 . Folgerecht erweitert Besold die am Polis-Modell orientierte herrschende Staatslehre durch den Begriff civitas composita, die Bezeichnung für den aus verschiedenen Staaten mit eigenen Gesetzen und Obrig40 Seine kommentierten Urkundensammlungen über die württembergischen Klöster und Stifte liegen auch gedruckt vor: Tübingen 1636; zu diesen Sammlungen B. Zeller-Lorenzl W Zeller (s. Anm. 39) 18. 41 Zu den Anfangen publizistischer Vorlesungen in Tübingen noch § 6 Anm. 1f. 42 Politicorum libri duo, I, Francof. 1620, S. 281 = Cap. VIII: Oe Statu reipublicae mixto n.5. 43 Polit. libri duo, I, S. 54 = Cap. 11: Oe Politica Majestate, in genere tractans n. 2. 44 Polit. libri duo, I, S. 55 = Cap. 11: Oe Pol. Maj. n. 4. 45 Disc. Politico-Iuridica de Majestate in genere, Argentorum 1642, Cap. I n. 3-7, S. 4ff. 46 Disc. IV Oe Statu Reipublicae subaltemo, in: Discursus politici, Argentorum 1623.

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keiten sich zusammensetzenden Staat47 . Allerdings bleibt bei ihm dieser Begriff noch sehr allgemein und unscharf; so wendet ihn Besold auf alle Körperschaften an, zudem auf Personalunionen und Staatenbünde. Die Aufstellung des civitas composita-Begriffs kann nicht als ein originelles Verdienst Besolds gelten. So kommt jener Begriff schon bei dem Niederländer Paul Busius (gest. 1617)48 vor, auf dessen De Republica libri tres (1613) nimmt Besold auch Bezug49 . Bereits nach Busius kommt den Territorien des Reiches der Charakter von Staaten zu, aber ihre Staatsgewalt hat eine höhere imperative Gewalt über sich; immerhin gehen die Rechte der Reichsstände in ihren Territorien, wie es in Anlehnung an eine geläufige Parömie heißt, so weit wie die des Kaisers im Reich. Auch der Herborner Lehrer Philipp Heinrich Hoenonius (1576-1649)50 entwickelt in seinem eng an Althusius sich anschließenden Disputationum politicarum liber unus (1608; 31615) den Unterschied zwischen einer respublica simplex und respublica composita. 2. In der Helmstedter Dissertation De statu regio{lum Germaniae (1661)51 des späteren braunschweigisch-Iüneburgischen Rats und Vizekanzlers Ludolph Hugo (um 1630-1704)52 ist die Lehre vom Reich als eines aus Staaten sich zusammensetzenden Staates erstmals ausgearbeitet. Dieser ist deshalb sogar als der Urheber des modernen Bundesstaatsbegriffs gerühmt worden 53 , womit aber sein Verdienst zu hoch angesetzt ist. Denn obzwar die über hundert Jahre jüngere anerkannte Aufstellung des Staatenstaatsbegriffs durch Johann Stephan Pütte;4 sich in der Hauptsache auf bereits von Hugo vorgetragene Argumente stützt, kommen der Sache nach jene Argumente doch durchaus auch noch bei anderen Vorkämpfern der landesherrlichen Machtvollkommenheit aus dem 17. Jh. vor55 . Nach Hugo ist die superioritas territorialis eine im Rahmen der Reichsverfassung aus eigenem Recht ausgeübte höchste Gewalt, der aber in bestimmten Angelegenheiten die Reichsgewalt übergeordnet ist; damit sind die zum Reich gehörenden Territorien im Prinzip 47 Disp. de maiestate, Tübingen 1621, Thes. 38 u. 39, S. 11; zu dieser Argumentation Besolds Willoweit 151. 48 Professor in Franeker. Auf dessen bisher übersehene Bedeutung hat v. Schönberg, Reichslehen 48-51 aufmerksam gemacht. 49 Siehe De Statu Reipublicae Subalterno (s. Anm. 46) sowie ebenfalls dort: In quo Rererumpublicarum forrnae inter sese comparantur, S. 234. 50 Über ihn H. Heck, Die Nassauische Beamtenfamilie Hoen, Nass. Annalen 78 (1967) 93ff. 51 Ursprünglicher Titel: Dissertatio de statu regionum Gerrnaniae et regirnine principum summae imperii reipublicae aemulo; erneut gedruckt unter dem im Text angeführten Titel Gießen 1689, letztmals 1708 als Jurisprudentia particularis Gerrnanica. 52 Über ihn Landsberg III/l, 40 Noten 20f.; v. Schönberg, Reichslehen 53ff.; ADB 13, 329; NDB 10,27. 53 Dazu Nachw. bei Landsberg III /1, Noten 20 f. 54 In dessen Beytr. I, 17 ff. 55 Darauf weist hin Willoweit 358.

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Staaten, aber nichtselbständige, dem ebenfalls einen Staatskörper bildenden Reich eingegliederte. Die Behauptung Landsbergs56 , daß Hugo die der bundesstaatlichen Konstruktion des Reiches innewohnenden begrifflichen Schwierigkeiten noch kaum erkannt habe, ist wohl ungerecht. So erörtert Hugo durchaus umsichtig die Frage, ob der Landeshoheit aufgrund ihrer Subordination unter das Reich überhaupt die Staatlichkeit zugeschrieben werden kann; er definiert die Überordnung des Reiches staatsrechtlich korrekt als nicht auf Vertrag oder Vereinbarung beruhend, sondern sieht sie aufgrund der Lehnshoheit des deutschen Königs als gegeben an; das Verhältnis einer höchsten Gewalt zu ihren Untertanen unterscheidet er prinzipiell vom Verhältnis zweier höchster Gewalten zueinander57 • 3. Eine bundesstaatliehe Lehre vom Reich, mit welcher der Gesamtstaat als politische Wirkungseinheit begriffen ist, gibt es nur vom Reichsreformvorkämpfer Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)58. Die Universitäten seiner Zeit hat Leibniz, Fürst in den meisten Wissenschaften, immer verachtet, er hat auch nie ein Universitätslehramt übernommen. Nach Studium in Leipzig und Jena (Promotion zum Dr. iur. 1667 in Altdorf bei dem für neue Ideen aufgeschlossenen Johann Wolfgang Textor) wirkte er immer im Fürstendienst: 1668-1676 beim Mainzer Kurfürsten (in dessen Auftrag in Paris), ab 1677 beim Herzog von Braunschweig-Lüneburg in Hannover.

Das Reich analysiert Leibniz tiefschürfend in der unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstenerius erschienenen großen Denkschrift De jure suprematus ac legationis principum Germaniae (1677)59; das lange nicht aufgedeckte Pseudonym soll III 1,40. De statu regionum Germaniae, Gießen 1689, Cap. II, § V, VI. 58 Zu seiner Reichsanschauung H.-P. Schneider in: Staatsdenker 197- 226, 205 ff., auch ders., Leibniz als "Erfinder" des Bundesstaates, in: Theoria Gum praxi. Akten d. III. Intern. Leibniz-Kongresses Hannover 1977, 1980,251 ff.; außerdem die Einleitung von L. Knabe in Akademie-Ausg. IV - 2, 4 ff. und Hammerstein, Leibniz und das HI. Röm. Reich Deutscher Nation, in: Nass. Annalen 85 (1974) 87 ff.; schließlich noch v. Schönberg, Reichslehen 57 ff.; Gross 329 ff. Grundlegend zu Leibniz' Rechtsanschauung und ihren Wurzeln H.-P. Schneider, Justitia universalis. Quellenstudien z. Gesch. d. "ChristI. Naturrechts" bei G.w. Leibniz, 1967; siehe auch H. Schiedermair, Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei G.w. Leibniz, 1970. 59 Weitere Auflagen: London 1678; Amsterdam 1678; 5. Aufl. 0.0. 1679. Der besseren Wirkung wegen wurden die Hauptgedanken der Denkschrift von Leibniz auch als Gespräch in französischer Sprache ausgearbeitet; von dieser Fassung gibt es bis 1692 sechzehn Ausgaben: Entretien de Philatrete et d'Eugene I Sur la question du temps I agitee a Nimwegue I Touchant le Droit d'Ambassade des Electeurs et Princes de I'Empire, Duisbourg (= Hannover) 1677 = Akademie-Ausg. IV - 2,278-338; zu dieser Schrift die Einleitung L. Knabes in der Akademie-Ausg. sowie von demselben: Wandlungen der Tendenz in Leibniz' Bearbeitungen des "Entretien" (1677-1691), in: Festg. F. Hartung, 1958, 205ff. Eine erstmalige Formulierung von Leibniz' Reichstheorie enthält die frühe Auseinandersetzung mit Pufendorfs Reichsverfassungsschrift von 1667: In Severinum de Monzambano (1668-72), in: Akad.Ausg. Bd. 4,1 S. 500-502; zu diesem frühen ,.Monzambano"-Kommentar Roeck 41 ff., aber mit der unzutreffenden Behauptung (S. 44), daß eher Pufendorf als Leibniz als Urheber der Auffassung vom Reich als ständischer Bundesstaat zu gelten hat. 56 57

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einen Autor gleich gut kaiserlicher wie fürstlicher Gesinnung anzeigen. Die hohe Beachtung trug der Suprematus-Schrift allerdings nicht die bedeutende Reichsanalyse ein, sondern das energische Eintreten ihres Autors für das umstrittene reichsfürstliche Gesandtschaftsrecht6o . Die berühmte Denkschrift will nachweisen, daß das in der Staatenpraxis schon anerkannte eigene Gesandtschaftsrecht der deutschen Kurfürsten auch solchen nichtkurfürstlichen deutschen Fürstenhäusern zusteht, die wie das Haus Braunschweig-Lüneburg, Leibniz' neuer Dienstherr, ebenfalls in der europäischen Politik als handlungsfähig anerkannt sind; ein solches über den Kreis der Kurfürsten erweitertes reichsfürstliches Gesandtschaftsrecht war soeben aus Anlaß des nach Nijmwegen einberufenen Friedenskongresses (1678) von französischer Seite bestritten worden. Daß 1692/1708 das Haus Braunschweig-Lüneburg die Kurwürde erlangte, entzog der von Leibniz angemeldeten Forderung die hohe politische Brisanz. Nach Leibniz' ständisch-föderalistischem Reichsbegriff setzt sich das Reich aus Gemeinwesen mit abgestufter politischer Funktion und Wertigkeit zusammen. Einzelne wenige davon besitzen die Politik-Fähigkeit auch im europäischen Rahmen, deshalb sind sie nach Leibniz zur Mitbildung des Reichswillens legitimiert. Bezeichnend für diese innerhalb des Reichsverbandes weit herausragenden Gemeinwesen ist, daß sie nach innen über eigene Gesetzgebungsmacht, eigene Gerichtsbarkeit und eigenes Steuererhebungsrecht verfügen, nach außen über das ius belli ac pacis, das ius foederum und das ius exercitus habendi. Die Regenten dieser Gemeinwesen besitzen nach Leibniz mehr als die einem Reichsstand zustehende superioritas territorialis, aber wegen der Überordnung des Reiches doch nicht die volle Souveränität, vielmehr steht ihnen das suprematum im Reich zu. Leibniz' funktionales Souveränitätsdenken61 , das im Grunde schon das in der gliedstaatlichen Beteiligung an der gesamtstaatlichen Willensbildung liegende Spezifikum des modemen deutschen Bundesstaatstypus thematisiert, läuft mithin nicht darauf hinaus, dem Reich den Charakter der personhaften unio abzustreifen und ihm die übergeordnete Autorität zu bestreiten. Das Reich wird nicht in eine Konföderation verwandelt, es wird nicht die lehnrechtliche Bindung der Reichsfürsten in Frage gestellt, vielmehr unterscheidet Leibniz Reich und Territorien sachlich-kompetenziell nach Wirkungs sphären. Auch die Staatlichkeit des in der europäischen Politik handlungsfähigen einzelnen bedeutenden Reichsfürstentums findet im Reichsgedanken Grund und Grenze.

60 Immerhin wird Leibniz von Pütte" Litt. I, 249 bescheinigt, daß er "von der Teutschen Reichsverfassung beynahe ein ganz neues Lehrgebäude aufgeführt" habe: ,,Beynahe hätte dieses Buch verdient, eine litterarische Epoche zu machen; so sehr unterschied es sich von den meisten vorhergehenden Schriften, da es weniger mit Allegaten pranget, aber desto mehr durchgedachte und großentheils mit Beweisen aus der Geschichte oder auch aus gesandtschaftlichen Berichten und anderen Staatsschriften bestärkte Sätze enthält. .. " 61 So die Kennzeichnung bei H.-P. Schneider in: Staatsdenker 197 ff., 207.

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VI. 1. Höhepunkt in der Debatte der Publizisten über die forma imperii und im Grunde ihr sachlicher Abschluß ist Samuel Pufendorfs (1632-1694) 1667 als Reisebericht des Veronesers Severinus de Monzambano und unter diesem Pseudonym publizierte Schrift De statu imperii Germanici62 . So viele Repliken diese berühmteste Reichsschrift ausgelöst hat, enthält doch keine davon einen neuen Definitionsversuch des Reiches oder stützt einen schon vorgetragenen mit als neu gelten könnenden Argumenten 63 . Der obersächsische Pfarrerssohn Samuel Pufendorf entschied sich zunächst für das Studium der Theologie, wandte sich jedoch bald in Jena unter dem Einfluß des frühen deutschen Cartesianers Erhard Weigel (1625 -1699) dem Studium der Ethik, Politik und Jurisprudenz zu; Hofmeister beim schwedischen Gesandten in Kopenhagen, anschließend noch Studium in Leiden. 1661 Berufung auf die neugeschaffene Professur für Völkerrecht und Humaniora in der Heidelberger philosophischen Fakultät, die bald in eine'solche für Natur- und Völkerrecht umgewandelt wurde. Seit 1667 Professor für Natur- und Völkerrecht an der neuerrichteten Akademie zu Lund; 1667 Ernennung zum schwedischen Hofhistoriographen, danach auch zum schwedischen Geheimen Rat; seit 1688 in den entsprechenden Positionen beim brandenburgischen Kurfürsten.

Was die "Monzambano"-Schrift für viele zum Stein des Anstoßes machen mußte, war die dort aber eher nur beiläufig auftauchende Kennzeichnung des Reiches als "irregulare aliquod et (tantum non) monstro simile u64 ; damit schien dem Reich, was noch niemand gewagt hatte, die Staatlichkeit überhaupt abgesprochen zu sein. Dies war mit der ominösen Kennzeichnung aber offenbar nicht beabsichtigt, die vielmehr nur unterstreichen sollte, daß es eine anerkannte staatstheoretische Definition des Reiches nicht gibt und mit der Einigung auf eine solche nicht zu rechnen ist. Als sachlich gewichtiger als jene vielangefeindete, effektvolle Umschreibung des Reiches, die im übrigen in der 1706 erschienenen, auf Pufendorfs Vorlage beruhenden Neuausgabe der umstrittenen Schrift weggeblieben ist65 , gilt denn auch die andere prägnante Aussage Pufendorfs über die Struktur des Reiches: dessen Definition als "systema aliquod plurium civitatum u.

62 Neuere deutsche Übersetzung mit Anmerkungen und Nachwort von H. Denzer 1976 (Reclam); auch beachtlich schon H. Breßlaus Einleitung zur deutschen Ausgabe von 1922 (Klassiker d. Politik 3). Aus dem älteren Schrifttum zu Pufendorfs Reichstheorie J. Jasirow, Pufendorfs Lehre von der Monstrosität der Reichsverfassung, in: Zs. f. preuß. Gesch. u. Landeskunde 19 (1882) 333 - 406; neuerdings Roeck 26 ff., Hammerstein in: Staatsdenker 172 ff. 63 Zur Diskussion um Pufendorfs Reichstheorie in der Reichspublizistik Roeck 30, 36 - 63; F. Palladini, Disscusioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663 -1700, Milano 1978. 64 Cap. VI § 9. 6S Die späteren Interpretationen von Pufendorfs Schrift haben diese Weglassung gewöhnlich unbeachtet gelassen, worauf Roeck 28 hinweist.

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Daß die Rückkehr Deutschlands zur Monarchie ausgeschlossen ist, darüber läßt Pufendorfs kleine Reichsverfassungsschrift, glänzende Diagnose und fulminante Polemik in einem, keinen Zweifel. Im illusionslosen Realismus steht sie der Kampfschrift Chemnitzens nahe, eine kongeniale Nachfolge hat sie erst in den Tagen des erlöschenden Reiches in Hegels abgebrochenem Manuskript über die Verfassung Deutschlands (1801102) gefunden. Anders als die Kampfschrift des Vorgängers enthält sie jedoch kein verfassungspolitisches Programm66 , überhaupt ist sie im politischen Ton deutlich gemäßigter, sieht man von den heftigen, schon durch und durch aufklärerischen Invektiven gegen die katholische Kirche zu ihrem Ende ab. Alles in allem macht sie wie ein Lehrbuch mit dem ganzen Inhalt des ius publicum imperii Rornano-Gennanici nostri bekannt, enthält aber im Unterschied zu späteren Werken über das Reichsstaatsrecht auch Betrachtungen zur ratio der Reichsverfassung (Cap. VIII). Epoche machte das gelungene modeme Werk mit der scharfsinnigen Kritik an allen bisherigen staatstheoretischen Einordnungsversuchen des Reiches (Cap. VI), also sowohl an der Zuordnung des Reiches zu einem der drei geläufigen Staatstypen wie an der Definition seiner Verfassung als eines status mixtus. Das Fazit ist die beharrlich angefeindete, immer wieder aber auch zustimmend aufgenommene, die Diskussion über die Verfassung des Reiches auf eine neue Ebene hebende Definition Deutschlands als eines politischen Gebildes in der Mitte zwischen Monarchie und Staatenkonföderation. Allerdings kann diese realistische Verortung des Status Deutschlands nicht als auf empirisch-induktivem Wege gewonnen gelten, da sie schon aus Pufendorfs staatstheoretischen Prämissen resultiert, d. h. Pufendorf gelangt zu ihr, weil er an der Unteilbarkeit der Souveränität als des eigentlichsten Staatlichkeitsmerkmals wie auch an der entsprechenden übergangslosen Unterscheidung von Staaten und Bündnissen als einer nicht erweiterungsbedürftigen Einteilung festhält. Damit mußte seine neue Idee vom Reich als" systerna civitatum Joederatum" doch mehr nur eine geistvolle Paraphrase bleiben, und damit kann jene Idee auch nicht als eine Variante der Lehre vom Reich als zusammengesetzter Staat gelten, ja, Pufendorf lehnt, in Konsequenz seines monistischen Staatsbegriffs, die bundesstaatliche Definition des Reiches ausdrücklich ab. Immerhin hat die "Monzambano"-Schrift als der "Übergang von den älteren reichsrechtlichen Theorien zu den jüngeren" (Hammerstein) zu gelten. Schon vor Christian Thomasius erschütterte sie gründlich das Ansehen der Aristotelischen Staatsformenlehre und lenkte mit der Widerlegung aller abstrakten Reichstheorien die Entwicklung des ius publicum in eine weniger doktrinäre Bahn; andererseits hielt sie aber auch mit der Beibehaltung des monistischen Souveränitätsbegriffs die Publizistik von der Verfolgung einer neuen Linie ab.

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Die "Heilmittel" des Hippolithus sind in Cap. VIII besprochen und überwiegend abge-

lehnt. 5 Friedrich

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VII. 1. Mit Pufendorfs echoreicher Reichsverfassungsschrift hat unsere Betrachtung der Reichsdebatte in der Publizistik des 17. Jh. den Abschluß erreicht. Sie geht auch im 18. Jh., jedenfalls im frühen, lebhaft weiter, Höhepunkte wie Pufendorfs und Leibniz' Schriften sind aber nicht mehr zu verzeichnen. Ab etwa 1730/40, d. h. dem Zeitpunkt, von dem an der Niedergang des Ansehens und der Macht der kaiserlichen Autorität unübersehbar wird, nimmt das Interesse der Publizisten an der Diskussion über die Staatsform des Reiches laufend ab; in den drei bis vier letzten Jahrzehnten vor der Auflösung des Reiches bewegt diese Frage die Publizisten nicht mehr, sondern eher wird nun deren Interesse von der auf der Ebene der positiven Nachweise nicht zufriedenstellend sich klären lassenden Frage nach dem Ursprung der Landeshoheit in Anspruch genommen. 2. Die Reichsdebatte der Publizisten des 17. Jh. können wir nicht verlassen, ohne einen Blick auf die Wiederherstellung der deutschen Verfassung durch den Westfälischen Frieden zu werfen und ohne zu fragen, wieweit von den Publizisten zum Zustandekommen des Friedens beigetragen worden ist. Die historische Wertung des 1648 nach langwierigen Verhandlungen abgeschlossenen Westfalischen Friedens steht heute nicht mehr in Frage. Die ältere nationale Geschichtsschreibung, deren Urteil über den Westfälischen Frieden vom Nationalstaatsziel des 19. Jh. festgelegt war, hat in ihm letztlich nur die Besiegelung des politischen Niedergangs des Reiches sehen können. Dagegen legt die neuere historische Forschung mit Recht das Hauptgewicht auf die mit ihm erreichte Überwindung der Gegensätze und Krisen des Konfessionellen Zeitalters durch eine religiös-politische Koexistenzordnung, die dauerhaft war und der die Bedeutung eines Modells nicht abgesprochen werden kann. Diese neuere historische Wertung des Westfälischen Friedens stimmt mit dessen allgemeiner Beurteilung bis zum Ausgang der Aufklärung überein 67 • Der 1654 vom Jüngsten Reichsabschied zum "Fundamental-Gesetz" des Reiches erhobene Westfälische Friede bildet den Abschluß des neuzeitlichen Verrechtlichungsprozesses der Reichsverfassung, sie hat sich bis zum Reichsdeputationshauptschluß (1803) nicht mehr wesentlich verändert68 . Das Friedenswerk reorgani67 Zur Beurteilung des Westfälischen Friedens im Schrifttum vor 1800 B. M. Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung, 1989; auch schon J. Hardeland, Der Westfälische Frieden im Urteil der deutschen Wissenschaft und Publizistik 1648-1848, Diss. phi!. Bonn 1955. Zur heutigen historischen Interpretation des Westfälischen Friedens in dem im Text angesprochenen Sinne zusammenfassend und statt anderer M. Heckei, Der Westfälische Friede als Instrument internationaler Friedenssicherung und religiös-weltanschaulicher Koexistenzordnung, JuS 28 (1988) 336-341. 68 Als Abschlußpunkt der Verfassungswiederherstellung gilt die für den kaiserlichen Einfluß so wichtige Reichshofratsordnung von 1654, die aber nicht durch die verfassungsrechtlich geforderte Vereinbarung zwischen Kaiser und Reichsständen zustandekarn; dagegen war die vorn Einfall der Heere Ludwigs XlV. erzwungene Reform der Reichswehrverfassung von

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siert das nicht mehr im staatlichen Sinne entwicklungsfähige, als Akteur aus dem europäischen Mächtesystem ausgeschiedene Reich als einen allgemeinen deutschen Friedens- und Rechtsschutzverband. Keineswegs schuf jedoch der Westfälische Friede eine neue Verfassungsorganisation für Deutschland, sondern er stellte dessen bisherige mit einigen Verbesserungen wieder her; fortan warf die Verfassung des Reiches nicht mehr in dem Maße wie bisher offene Fragen auf. Die politisch-ideologischen Gegensätze, die das Reichsverfassungssystem gesprengt hatten, wurden in es selbst hereingenommen, d. h. das Friedenswerk versucht nicht, diese Gegensätze aufzulösen oder abzubauen, sondern bezweckt, sie durch detaillierte Gleichbehandlungs- und Besitzstandswahrungsregeln besser von Fall zu Fall überbrückbar zu machen 69 • So ist die paritätische Religionsverfassung des Reiches wiederhergestellt und nicht nur durch Einbeziehung der Calvinisten ausgebaut, es ist auch der kaiserlich-ständische Dualismus stärker verrechtlicht, so wenn jedem Reichsstand die ungehinderte Ausübung der Landeshoheit in geistlichen wie weltlichen Angelegenheiten zugesichert iseo, auch die Reichstagskompetenzen sind beispielhaft umschrieben 71. Die kaiserlichen Befugnisse sind allerdings nicht enumeriert worden, so daß die Reichsverfassung auch fortan keine abschließend geregelte Kompetenzordnung ist. Als offene Negierung der Staatlichkeit des Reiches sieht man die Erweiterung des reichs ständischen Bündnisrechts zum Bündnisrecht mit auswärtigen Mächten an72; damit war auch reichsverfassungsrechtlich die Beteiligung der großen Reichsstände an der europäischen Politik anerkannt. 3. Die auf dem westfalischen Friedenskongreß vereinbarten Verfassungskompromisse können durch die Diskussion der Publizisten nicht als vorprogrammiert gelten. Daß die Publizisten die vielschichtigen deutschen Verfassungsfragen so prinzipiell zu erörtern wußten, war aber doch für die erfolgreiche Wiederaufrichtung des deutschen Verfassungssystems der "Prolog". Daß bereits in den Friedensvorverhandlungen der kaiserliche Anspruch auf Alleinvertretung des Reiches fallengelassen werden mußte, wird man wohl auch dem Einfluß der Diskussion der Publizisten zuschreiben müssen, in der die Ansicht von der Teilung der Hoheitsrechte im Reich eine so weite positive Resonanz gefunden hat. Die mit der Refor1681 verfassungsgemäß vereinbart. Der in Ausführung des Westfälischen Friedens (Art. VIII § 3 IPO) erarbeitete Entwurf einer ständigen Wahlkapitulation, das Objekt langwierigen, unausgleichbaren Streits zwischen den beiden höheren Reichskollegien, wurde erst 1711 und nur mit Kurfürsten und Fürstenrat vereinbart. 69 Unter Bezugnahme hierauf würdigt M. Heckel, Ges. Schr. 11, 1989, 704f. das westfälische Friedenswerk als erstmalige Thematisierung der Bedeutung der "Integration" als Gründungs- und Legitimierungsvorgang der Staatlichkeit in der deutschen Verfassungsgeschichte. 70 Art. VIII § I IPO. 71 Art. VIII § 2 IPO; nach § 3 sollen Reichstage abgehalten werden, "sooft es das allgemeine Wohl oder die Umstände erfordern". 72 Allerdings durften sich Bündnisse nicht gegen den Kaiser, das Reich und seinen Landfrieden und nicht gegen den westfälischen Friedensvertrag richten; Art. VIII § 2 IPO. Zur Erweiterung des reichsständischen Bündnisrechts tiefdringend E.-W. Böckenförde, Der Westfälische Friede und das Bündnisrecht der Reichsstände, Der Staat 8 (1969) 449-478. 5*

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mation eingetretene Säkularisation des Reiches legitimierten die Publizisten, indem sie seine Verfassung als ein eigenständiges profanes Rechtssystem darlegten; damit war ein pragmatisch-historischer Reichsrechtspositivismus zur anerkannten Ebene der Verständigung über alle Reichsverfassungsfragen geworden. Mit Recht widmet F. Dickmanns Standardwerk über den Westfälischen Frieden den Auseinandersetzungen in der frühen Reichsstaatslehre ein eigenes Kapitel.

§ 6. Zwischen Konfessionellem Zeitalter und Aufklärung 1. Hennann Conring. - 11. Seckendorffs Fürstenstaat im Verhältnis zur Reichs-Territorialstaatslehre. - III. Kompendien, Lehrbücher und Quelleneditionen bis zum frühen 18. Jahrhundert.

I. 1. Der bedeutende Aufschwung des ius publicum während der ersten Hälfte des 17. Ih. hatte dessen methodischen Fragen nicht schon klären können. Die Stärke des großen Werkes des Limnaeus lag in der gründlichen Darlegung der sachlichen Lehren des ius publicum, dagegen ermangelte es bei seiner Stoffülle und der häufigen Abschweifung vom Publizistischen der methodischen Disziplin und war überhaupt an methodischen Erörterungen noch desinteressiert. Erst der "Polyhistor" Hermann Conring (1606-1681)1 wandte bewußt der Begründung der methodischen Selbständigkeit des ius publicum das Interesse zu. Bezeichnenderweise gibt es von ihm nicht ein Kompendium zum ius publicum, dafür gehaltvolle monographische Untersuchungen zentraler Themen des ius publicum bzw. der civilis prudentia. Hennann Conring, aus einer ostfriesischen lutherischen Pfarrfamilie, studierte in Helmstedt und, nach kurzer, infolge der Kriegsereignisse abgebrochener Helmstedter Lehrtätigkeit, in Leiden. Nach der Rückkehr von dort wurde er in Helmstedt 1632 Professor der Philosophia naturalis, 1636 auch der Medizin, 1650 noch der Politik. Bei dauernder Beibehaltung seines Helmstedter Lehramts wirkte Conring ausgiebig als politischer Gutachter und in Ratsstellungen, sein Name steht auf der Liste der gelehrten Gratifikationsempfänger Ludwigs XlV.

2. Conrings bekannteste, umstürzend gewesene Leistung ist die historische Deutung des Rezeptionsprozesses des römischen Rechts nördlich der Alpen in De origine iuris Germanici (1643), sie hat ihm mit vollem Recht den Ruhm eines Ahnherrn der deutschen Rechtsgeschichte eingetragen. Conring trägt diese Deutung im Rahmen einer historischen Gesamtanalyse der deutschen Rechtsentwicklung vor. Danach ist in Italien und Frankreich das römische Recht zu keiner Zeit völlig verdrängt worden, in Deutschland dagegen war es vor dem 15. Ih. noch I Grundlegend zu seinem Werk die Beiträge in Stolleis (Hg.), Hennann Conring. Leben u. Werk, 1983 (BibI.; Lit.); ferner Willoweit in: Staatsdenker 129-147 (mit Lit.); Hammerstein, Jus 97-103; aus dem älteren Schrifttum Wolf. Rechtsdenker 220-252; K. Kossert, H. Conrings rechtsgeschichtliches Verdienst, Diss. Köln 1939.

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kaum bekannt, geschweige denn daselbst in Gebrauch, d. h. die verbreitete humanistische Lehre von der autoritativen Einführung des Corpus Iuris im germanischen Reich durch einen Befehl Kaiser Lothars III (1125-1138) ist ohne Beweis, eine Erfindung der Gelehrten; diesen prinzipiellen Angriff auf die "Lotharische Fabel" hatte allerdings schon der Helmstedter Theologe und Lehrer Conrings Georg Calixt (1586-1650) eröffnet2 . Conring bietet aber auch eine plausibele Erklärung für die nicht zu bestreitende Rezeption des römischen Rechts nördlich der Alpen: sie verdankt sich nämlich der akademischen Ausbildung im römischen Recht und dessen davon beförderter freiwilliger Anwendung durch Gerichte und Kanzleien, also in letzter Linie einer psychologischen Tatsache: der Gewohnheit der Juristen, das von ihnen akademisch erlernte Recht auch praktisch anzuwenden. Damit war der praktische Geltungsumfang des gelehrten römischen Rechts scharf begrenzt, nämlich da sich ja seine Geltung nur so weit erstrecken konnte, wie es tatsächlich durch Übung aufgenommen war; der Brauch des Gerichts, in dessen Bereich das römische Recht sich durchgesetzt hatte, war für dessen Anwendung und Auslegung als maßgeblich betont3 . Mit dem gelungenen Nachweis, daß in Deutschland das römische Recht durch observantia zur Geltung gelangt ist, war die grundsätzliche Verschiedenheit des deutschen öffentlichen Rechts von dem im Corpus Iuris enthaltenen klargestellt und eine Verpflichtung zur Anwendung des römischen Rechts im deutschen Verfassungsrecht entschieden bestritten. Überhaupt richtet sich das Bestreben Conrings darauf, im Bereich des ius publicum die Annahme einer Kontinuität des römischen Rechts zu erschüttern und zu widerlegen. Außerhalb des Zivilrechts spricht er dieser noch herrschenden Kontinuitätsannahme die Berechtigung so gut wie völlig ab, d. h. im ius publicum des Hl. Römischen Reiches hat eine Übernahme des römischen Rechts, abgesehen von einzelnen Elementen der Reichssymbolik, nicht stattgefunden. Auf die Widerlegung der Annahme einer Kontinuität des römischen Rechts im deutschen Rechtssystem zielt die eine der beiden großen publizistisch-historischen Arbeiten Conrings: De Gennanorum imperio Romano (1644); die noch umfänglichere Arbeit über die Reichsgrenzen De finibus imperii Gennanici (1654) soll in der neuen Lage nach dem Westfalischen Frieden durch empirisch-historische Einzeluntersuchungen Klarheit über die dem Reich auch nach dem Ende der universalen Reichsidee noch angehörenden Territorien verschaffen. Die beiden großen, wissenschaftlich neuartigen verfassungsgeschichtlichen Monographien, die noch durch andere wesentlich verfassungsgeschichtliche Arbeiten Conrings ergänzt werden, waren nicht ohne Wirkung auf Stil und Ansichtenbildung der deutschen Publizisten. Wiewohl kein professioneller Jurist und dadurch in der schulebildenden Wirkung eher beeinträchtigt, regte Conring zahl2 In: Epitome Theologiae moralis (1643). Hierzu Landsberg 11, 172; E. L. Th. Henke, Georg Calixt u. seine Zeit, l. Bd. 1853, 524ff.; 2. Bd. 1860, 169f. 3 Zur Rechtsquellenlehre vor Conring und zu den aus seiner Geschichtsdeutung sich ergebenden rechtshenneneutischen Folgerungen K. Luig, Conring, das deutsche Recht und die Rechtsgeschichte. in: Stolleis (Hg.), Hennann Conring 355 - 395.

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reiche Disputationen und Exercitationes über historisch-publizistische und politikwissenschaftliche Themen an. In Anbetracht der Conrings rechts geschichtlicher Hauptthese in der Folge allgemein gezollten Anerkennung hat die Frage nach der Berechtigung der Anwendung von Sätzen des Corpus Iuris Civilis im deutschen ius publicum schon durch ihn als entschieden zu gelten, und zwar im Prinzip klar verneinend. Nach der bei den Publizisten in der Folge herrschend werdenden Ansicht von der Anwendung des römischen Rechts im deutschen ius publicum, die der von Thomasius erneuerte Angriff auf eine außergewohnheitsmäßige Geltung des römischen Rechts in Deutschland befestigte, durfte eine deutsche Verfassungsrechtsfrage nur dann mit Hilfe des Corpus Iuris entschieden werden, wenn Sätze und Lehren desselben, so die in der Zeit des Prinzipats ausgebildete Fiskuslehre, nachweislich durch das deutsche Rechtsleben als rezipiert gelten konnten; ansonsten durften im deutschen Staatsrecht höchstens allgemeine römische Rechtssätze, also nicht nach Zivil- und öffentlichem Recht sich unterscheidende Anwendung finden. Daß auch unter dieser Voraussetzung das römische Recht durchaus Brauchbares für das deutsche Staatsrecht, und nicht unerheblich enthielte, wurde noch bis zum Ende des Reiches gern betont4 , auch noch die letzten Lehrbücher des deutschen Staatsrechts aus der Zeit vor 1806 führen das römische Staatsrecht unter den Hilfsquellen des deutschen Staatsrechts an.

3. Auch die Methode der Urkundenkritik und exakten Fallerörterung führte beispielhaft Conring ins ius publicum ein: mit dem lange erwarteten, umfänglich ausgefallenen Gutachten zum bellum diplomaticum zwischen der Reichsstadt Lindau und dem dortigen reichsfürstlichen Kanonissenstift: Censura diplomatis quod Ludovico Imperatori Jert acceptum Coenobium Lindaviense (1672). Zum Zwecke der Überprüfung der Echtheit einer einzelnen Urkunde stellt daselbst Conring Regeln für die Überprüfung der Urkundenauthentizität auf, damit wurde er zum Gründer einer schnell aufblühenden neuen historischen Hilfswissenschaft: der Urkundenlehre oder Diplomatik5 • Der Pflege der neuen Disziplin nahmen sich in Frankreich rege Jean Mabillon (De re diplomatica, 1681) und seine maurinischen Brüder an; die Straßburger Historiker-Juristen machten von der neuen Methode der Urkundenkritik ebenso ausgiebig Gebrauch wie etwa Leibniz in seinen Geschichtswerken oder in Italien L.A. Muratori und seine Schule; noch vor 1700 legte der 4 Nachweise für diese verbreitete Ansicht bei A. I. Schnaubert, Vom Gebrauch der in Deutschland gültigen fremden Rechte bei Erörterung der ins deutsche Staatsrecht gehörigen Materien, in: Beyträge z. Deutschen Staats- u. Kirchenrecht 11, Gießen 1783,97-146; siehe auch E. ehr. Westphal, Recht!. Abhandlung von dem Gebrauche des Iustinianeischen Rechts in dem Teutschen Staatsrechte u. der Privatrechts gelehrtheit der Erlauchten Personen des Teutschen Reichs, in dessen Acht einzeln herausgekommenen nunmehr aber zusammengebrachten Rechtlichen Abhandlungen aus den verschiedenen Theilen der Rechtsgelehrtheit, 1. Sammlg., Halle 1779. Zum Verlauf der Diskussion über die Anwendbarkeit des römischen Staatsrechts im deutschen Staatsrecht bis ins 19. Ih. M. Fleischmann, Über den Einfluß des römischen Rechts auf das deutsche Staatsrecht, in: Melanges Fitting, Bd. 2., Montpellier 1908,637-698. 5 Dazu H.-I. Becker in: Stolleis (Hg.), Hermann Conring 335 ff., 351; zum Rechtsstreit zwischen Lindau und dem Damenstift G. Meyer von Konow, Das bellum diplomaticum Lindaviense, HZ 26 (1871) 75-130.

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I. Teil: Das lus Publicum Imperii Romano-Gennanici

Gießener Johann Nicolaus Hertius (1652-1710) erstmals ein Handbuch der deutschen Urkundenlehre vor: De fide diplomatum Germaniae imperatorum et regum (1699). Die zahllosen reichsständischen Streitigkeiten über Hoheits- und andere Rechte, aber auch das urkundenmanipulierende Verfahren vor den Reunionskammern Ludwigs XlV. sind der Hintergrund für das schnelle Aufblühen der Urkundenlehre.

11. 1. Den erstmals 1656 erschienenen, weite Verbreitung gefundenen "Teutschen Fürstenstaat" (mit Additiones ab 1664; 71737) des Veit Ludwig von Seckendorff (1626-1692)6 sieht man und mit Recht als den Auftakt einer deutschen Verwaltungslehre an. Von den gewohnten Regentenspiegeln und Regimentstraktaten unterscheidet sich das berühmte gelungene Werk nicht in der Gesinnung, dafür um so eindeutiger im Stoff und dessen Behandlung. Erstmals lag mit demselben die instruktive Beschreibung der Ordnung, der sich erweiternden Aufgaben und der Finanzwirtschaft eines neuzeitlichen kleinräumigen protestantischen deutschen Fürstenstaates vor; Reinkingks 1653, also eben gerade zuvor erschienene "Biblische Policey" ist demgegenüber der noch traditionelle Entwurf einer allgemeinen Regenten- und Ständelehre. Nach Hans Maier7 bildet sich in Seckendorffs "Fürstenstaat" erstmals der entscheidende Wendepunkt in der neuzeitlichen deutschen Gesellschaftsentwicklung wissenschaftlich ab, nämlich die Ablösung der nur zu punktueller Streitschlichtung fähigen Ständegesellschaft durch den durch generelle Über-Ordnung herrschenden Staat. Seckendorff war eine wissenschaftlich umfassend gebildete Persönlichkeit mit reicher Verwaltungserfahrung, fest verwurzelt in altlutherischer Frömmigkeit und in der engen Welt der kleinräumigen deutschen Obrigkeitsstaaten; der "Fürstenstaat" war die Frucht der Mitarbeit an der Landesordnung für Sachsen-Gotha (1653), dort stieg Seckendorff zum Präsidenten des Konsistoriums, zum Kammerdirektor und Kanzler auf; entsprechende Ämter im Fürstendienst übernahm er anschließend noch bei anderen sächsisch-thüringischen Landesherren. Greifbarer als im "Fürstenstaat" wird das religiös-theologische Denkfundament in dem weniger bekannten, mit Recht als eher politikfern geltenden "Christen-Stat" (1685; 41716), auch ein offenbar schon länger ausgearbeitetes Ius publicum Romano-Germanicum legte Seckendorff 1686 nach dem Rückzug ins Privatleben vor.

6 Über ihn Stolleis in: Staatsdenker 148-171 (mit weit. Lit.); J. Brückner; Staatswissenschaften, Kameralismus u. Naturrecht, 1977,9-32; H. Maier 139-150; P. Schiera, Cameralismo e l' Assolutismo tedesco, Milano 1968; H. Kraemer; Der deutsche Kleinstaat des 17. Jh. im Spiegel von Seckendorffs "Teutschem FÜfstenstaat", Zeitsehr. d. Vereins f. thüring. Gesch. 33, NF 25 (1922) 1-98. 7 H. Maier 140.

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2. Die Partien in Seckendorffs "Fürstenstaat" über die Reichsverfassung wie auch sein beschreibendes Ius publicum Romano-Germanicum brauchen uns nicht zu beschäftigen8 , da er keine als neu zu bezeichnenden Ansichten über die Reichsverfassung vorträgt. Dagegen verdient die Frage, in welcher Beziehung sein "Fürstenstaat" und der von jenem ausgehende verwaltungs wissenschaftliche Strang zur allgemeinen Reichs-Territorialstaatslehre steht, eine Bemerkung. Sosehr der Landeshoheit und den mit ihr zusammenhängenden Fragen immer das Interesse der Publizisten gegolten hat, gab es doch eine Reichs-Territorialstaatslehre als akademische Disziplin lange nicht. Erst das letzte Viertel des 18. Jh. kennt eine solche Disziplin, aber auch nur ansatzhaft9 , sie ist mithin jünger als das ius publicum universale und die Reichshistorie, d. h. jene beiden neuen akademischen Disziplinen, die seit dem frühen 18. Jh. das ius publicum unterfangen. Eine allgemeine Reichs-Territorialstaatslehre konnte bei der Vielgestaltigkeit der deutschen Territorialverfassungen und deren häufig sehr geringen Gemeinsamkeiten wohl auch kaum zu mehr als einem skeletthaften Gebilde werden, das nicht ernstlich mit dem eigentlichen Reichsstaatsrecht wissenschaftlich konkurrieren konnte. Nicht im Rahmen dieser allgemeinen Territorialstaatslehre konnten die von Sekkendorff erstmals so instruktiv erörterten Regierungs- und Verwaltungsprobleme des neuzeitlichen deutschen Territorialstaates ihren wissenschaftlichen Ort finden, sondern weit eher in einer eigenen nichtjuristischen Disziplin: der im 18. Jh. auch kräftig aufblühenden Kameral- und Policeywissenschaft. Daß die Publizistik des Alten Reiches bis zu seinem Untergang immer weit mehr eine Reichsstaatsrechtsals eine allgemeine Territorialstaatsrechtslehre des Reiches gewesen ist, wird man nicht zuletzt damit in Zusammenhang sehen müssen, daß das Alte Reich in seinem letzten Jahrhundert außer einer blühenden Staatsrechtswissenschaft auch eine rege gepflegte empirisch-normative Verwaltungswissenschaft des erstarkenden Territorialstaates besessen hat.

III. 1. Im späten 17. Jh. war das stoffgewaltige Werk des Limnaeus als umfassende Darstellung des ius publicum des Imperium Romano-Germanicum noch nicht überholt. Es kann aber nicht auch schon als ein brauchbares Lehrbuch bezeichnet werden, hauptsächlich mit der riesigen Menge seines Stoffs überbietet es schon vorhandene wie jüngere Werke über seinen Gegenstand. Wiewohl ähnlich umfangreiche Werke über das deutsche ius publicum auch in der Folge noch vorgelegt worden sind, geht doch schon seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. die Tendenz der 8 Zum verfassungsrechtlichen Grundriß im Fürstenstaat G. K. Schmelzeisen in: ZRG 87 (1970) 190-223. 9 Hierzu noch § 9 IV 1,2.

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publizistischen Kompendien eher auf Komprimierung ihres Stoffs als seine Erweiterung, der Grund dafür ist vornehmlich im zunehmenden Aufkommen von Vorlesungen über das ius publicum lmperii R.-G. zu erblicken. Das erste modeme, lange erfolgreiche Lehrbuch zum Reichsstaatsrecht war lntroductio in ius publicum imperii Romano-Germanici novissimum (1681; 91722) des Gabriel Schweder (1648-1735)10. Aus Pommern stammend, war Schweder in Tübingen ein halbes Jahrhundert Lehrer des ius feudale und des ius publicum, er führte dort aber nicht überhaupt erst das ius publicum in den Unterricht ein 11. Sein straffer Leitfaden zeichnet sich durch einen Allgemeinen Teil über die Quellen des ius publicum sowie über die auch bereits von Limnaeus vorangestellten Grundzüge der Reichsorganisation aus; damit nimmt Schweder im Grunde die Orientierung der Reichsstaatsrechtslehre am aufkommenden profanen Naturrecht und am erst noch auf den Plan tretenden ius publicum universale schon vorweg. Anschließend behandelt er die einzelnen Reichsinstitutionen und die Rechte der Reichsstände innerhalb der Reichsorganisation, so daß alles in allem nur das besondere Reichsstaatsrecht abgehandelt ist. Es wird streng aus seinen einheimischen Quellen entnommen, ohne daß jedoch Schweder zivilistische Begriffe und Sätze überhaupt aus dem ius publicum femzuhalten sucht; bereits er unterscheidet, was als ein schulemachendes Verdienst zu gelten hat, zwischen allgemeinen und besonderen Quellen des deutschen ius publicum. 2. Schon vor ihm lieferte der in Straßburg, kurz auch in Uppsala lehrende Johann Heinrich Boecler (1611-1672)12 ein Kompendium des deutschen ius publicum, das jedoch noch eher als eine "Statistik des Teutschen Reiches" zu bezeichnen ist 13 : Notitia S. R. lmperii (1670), immerhin ein offenbar an manchen Orten bei Vorlesungen gern gebrauchter Leitfaden 14; außerdem trat jener namhafte Altertumsforscher und Repräsentant der in Straßburg bis zum Ende des 18. Jh. gepflegten Vereinigung von Politik, Historie und ius publicum mit Annotationen zur Hippolithus-Schrift (In Hippolithi a Lapide Dissertationem de Ratione Status in lmperio nostro Romano Germaniae Animadversiones, 1674) und mit Annotationen zu dem frühen Staatsrechtskompendium des Daniel Otto (1675) hervor. Mehr schon ein Handbuch als Kompendium ist der Traktat De juribus majestatis (1681; 21698) des Wittenbergers Caspar Ziegler (1621-1690)15, dieser Traktat ist wegen der sorg10 Über ihn Pütter, Litt. I, 260f.; Landsberg III 1,41 f.; Gross 290-292; ADB 33, 323; speziell zur methodischen Konzeption und ihrer Bedeutung für J. J. Moser Schömbs 92 ff. H Schon vor ihm waren in Tübingen von Martin Rümelin (gest. 1626), Nie. Myler von Ehrenbach (1610-1677) und Erich Mauritius (1631-1691) publizistische Vorlesungen gehalten worden. 12 Über ihn E. Jirgel, Johann Heinrich Boecler, MIÖG 45 (1931) 322-384; Landsberg III I, 6 f., Noten 3 f.; W. Roseher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, München 1874, 262 f.; ADB 2, 792. 13 So die Kennzeichnung bei Pütter, Litt. I, 246. 14 Nach Pütter, Litt. I, 246. 15 Über ihn Pütter, Litt. I. 258 ff.; Landsberg III 1,48 ff., Noten 28 f.; ADB 45, 184.

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fältigen Abhandlung der einzelnen Hoheitsrechte einschließlich der kirchlichen schon hier und nicht erst bei der Besprechung der Werke zum ius publicum universale zu erwähnen, denen er an sich zuzurechnen ist. Besonders weit in der Auswertung der heimischen Quellen geht die ebenfalls umfängliche Introductio ad ius publicum Imperii R.-G. (1721; 21744) des Wittenberger und Jenaer Lehrers Dietrich Hermann Kemmerich (1677-1745)16, an der die ausgiebige Einarbeitung des noch vernachlässigten fürstlichen Familienrechts bemerkenswert ist, d. h. des mitunter einzigen positivrechtlichen Bestandteils des besonderen Territorialstaatsrechts. Geschätzter bei den Zeitgenossen war wohl das Werk eines anderen Wittenbergers und Samuel Stryk-Schülers: Caspar Heinrich Horns (1657-1718)17 Iuris publici Romano Germanici, eiusque prudentiae liber unus (1707; 21725), nämlich wegen der übersichtlichen Anlage und der Fernhaltung Horns von parteilichen Ansichten; erst durch ihn rückte in Wittenberg das ius publicum unter die ordentlichen Vorlesungen auf l8 . Andere Werke aus der Zeit um 1700 lehnen sich noch an die Titelfolge der Justinianischen Institutionen (personae, res, actiones) an, wiewohl auch sie durchaus nur das aktuelle deutsche öffentliche Recht vorzutragen suchen und die deutschen Quellen ausschlaggebend sein lassen; so das große Kompendium des Leidener Lehrers Philipp Reichard Vitriarius (1647-1720)19 Institutiones iuris publici (zuerst ohne Wissen des Autors 1683; erster legitimer Druck 1686). Nach diesem Kompendium ist die noch riesigere Quellen- und Materialienzusammenstellung zum deutschen Reichs- und Territorialstaatsrecht des Lehrers an der Lüneburger Ritterakademie Johann Friedrich Pfeffinger (1667-1730)20 erarbeitet: der seiner Unentbehrlichkeit wegen hochberühmte Vitriarius illustratus, seu institutiones iuris publici (1691; zuletzt als vierbändiges Corpus iuris publici 1712-1730). Ebenfalls orientieren sich noch an der Ordnung der Justinianischen Institutionen die Institutiones iuris publici Romano-Germanici tomi duo (1694) des auch im Lehnrecht namhaften, zuletzt Straßburger Lehrers Johann Schilter (1632-1705)21 und die Institutiones iuris publici Germanici Romani (1683; 21698) des bis in hohe Berliner Regierungsämter aufgestiegenen Primarius an der Frankfurter Juristen-

16 Über ihn Pütter, Litt. I, 373; Landsberg III 1, 144 f., Noten 89; ADB 15,599; sein Lehrbuch kritisiert J. J. Maser: BibI. iur. publ. III, 791 ff. 17 Über ihn Maser; BibI. iur. publ. III, 1734, 1047-1055; Pütter, Litt. I, 355ff; Landsberg III 1, 116 f. Noten 68. 18 Vgl. Lieberwirth 21. 19 Über ihn und seine Kompilation Pütter, Litt. 1,264 f.; Landsberg III 1,42; ADB 40, 82. In der Lehre in Leiden folgte ihm ab 1719 sein Sohn Jahann Jakob Vitriarius (1679-1745). 20 Über ihn Pütter, Litt. I, 280ff.; Landsberg III 1,42, Noten 24; ADB 25, 630; Stalleis in HRG III, 1723 f. 21 Über ihn Pütter, Litt. I, 289 ff.; Landsberg III 1, 55-62, Noten 32 ff.; ADB 31, 266; über seinen Codex Juris Alemanici Feudalis o. Herding, De Jure Feudali, Dt. Vierteljahressehr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. 28 (1954) 287-323.

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fakultät Johann Friedrich Rhe(t)z =Rhetius (1633 _1707)22; derselbe greift in diesem Kompendium noch stark in Zivilrecht und Prozeß hinüber, sucht aber ebenfalls die ius publicum-Fragen nur nach den deutschen Quellen zu entscheiden. Als Gegner der Anwendung des Institutionenaufbaus auf das ius publicum trat ein dem neueren Naturrecht zuzurechnender Autor auf: der Leipziger Rechtslehrer und Thomasius-Schüler Gottlieb Gerhard Titius (1661-1714)23. Er schlägt in Specimen iuris publici Romano-Germanici (1698) wissenschaftsmethodisch neue Töne an, weswegen man diese Arbeit über die schon erwähnten Kompendien und Lehrbücher, abgesehen von Schweders Introductio, stellen kann. Bemerkenswert an diesem Lehrbuch ist zum einen, daß Titius aus der Staatsrechtsgelehrtheit ihr fremde, bisher mit ihr noch vermischte Stoffe tunlichst auszuscheiden sucht, zum anderen die Orientierung des Aufbaus des deutschen ius publicum an dem bald von anderen Autoren als ein eigenes System dargebotenen ius publicum universale. Mit diesen Neuerungen fand allerdings Titius zunächst keine Nachfolge, und auch als in der zweiten Jahrhunderthälfte das deutsche ius publicum zunehmend vom aufblühenden ius publicum universale beeinfIußt und unterfangen wurde, wurde ihm nicht mehr die verdiente Anerkennung als Neuerer im Fach zuteil 24 . Auch daß er die forma imperii-Frage unorthodox erst zu Schluß seines Lehrbuchs erörtert, mußte wohl dessen Resonanz schmälern. Mehr Anerkennung fand ein Lehrwerk des Jenaer Historiker-Juristen Burkhard Gotthelf Struve (1671-1738)25: Syntagma iuris publici imperii nostri R.G. (1711; als Corpus iuris publici Imperii nostri R. G. 31738), woraus Iuris publici prudentia (1712; letztmals 1740) ein Auszug ist. Das größere Werk ist nicht wie der Vitriarius illustratus nur eine locker angeordnete Stoffsammlung, sondern bereits ein typisches Handbuch, das auf der Linie des in Halle betriebenen Ausbaus des ius publicum durch die Reichshistorie liegt. Es hält sich jedoch von der für die frühe Hallesche Schule kennzeichnenden Tendenz, das ius publicum als einen Teil der deutschen Verfassungs geschichte aufzufassen, fern, d. h. der verfassungs geschichtliche Stoff ist, obzwar er den Schwerpunkt bildet, vom publizistischen auch äußerlich klar unterschieden. Um die umfassende Einarbeitung des älteren deutschen verfassungsgeschichtlichen Stoffs bemüht sich des weiteren das umfängliche, aber nicht vollendete "Teutsche Jus publicum, oder des Hl. Röm. Reichs vollständige Staatsrechtslehre" (1723-27; letzter siebter Teil von lA. Frankenstein 1733) des Jacob Über ihn Pütter, Litt. I, 254; Landsberg III 1, 40f., Noten 21; Hammerstein, Jus 103 f. Über ihn Pütter, Litt. I, 299 ff.; Landsberg III 1, 138 ff., Noten 83 f.; H. Rüping, G.G. Titius und die Naturrechtslehre um die Wende vom 17. zum 18. Jh., ZRG GA 87 (1970) 314-326; Stolleis, Geschichte 1,305. 24 Immerhin würdigt sein Lehrbuch sehr anerkennend D. Nettelbladt, Grundriß der gelehrten Historie des teutschen Staatsrechts, in: Hallische Beyträge zu der Jurist. Gelehrten-Historie II, Halle 1758, 63 f. 25 Über ihn und sein staatsrechtliches Handbuch Pütter, Litt. I, 364ff.; Landsberg III 1, 130ff., Noten 77ff.; Geschichte d. Univ. Jena, I (Darstellung), 1958. 188f.; Schömbs 47f.; ADB 36, 671. 22 23

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Carl Spener (1684 -1730)26, eine schon in deutscher Sprache abgefaßte stoffüberquellende Bearbeitung des ius publicum. Weiterhin verdienen aus der Zeit bis zum frühen 18. Jh. noch die folgenden Autoren Erwähnung: der aus dem Straßburger Lehramt in den württembergischen Regierungsdienst gewechselte ideenreiche Johann Georg Kulpis (1652-1698)27, allerdings nicht wegen eines Kompendiums über das ius publicum imperii RomanoGermanici, sondern wegen mehrerer scharfsinniger Abhandlungen zu einzelnen Fragen des deutschen ius publicum, darunter eine Auseinandersetzung mit der "Monzambano"-Schrift (In Sev. de Monzambano de statu imperii Germanici librum commentationes academicae, 1685) sowie die früheste methodische Schrift über das Reichsherkommen 28 ; der die tabellarische Darstellungsform überstrapazierende, das modeme Naturrecht und allgemeine Staatsrecht scharf ablehnende prokaiserliche Jenaer Rechtslehrer, weimarische Ratspräsident und Reichshofrat Nicolaus Christoph (von) Lyn(c)ker (1643-1726), nach Pütter "einer von denen, welche die Gewalt des Kaysers aufs höchste treiben,,29; der ebenfalls prokaiserliche oettingische Rat und spätere Reichshofrat Jakob Bemhard Multz (16371711)30, der in der umfänglichen Repraesentatio maiestatis imperiatoriae (1690) die kaiserliche Macht durch allgemeine staatstheoretische Argumente abzustützen sucht und der dort wohl erstmals die jeweils sachlich zusammentreffenden kaiserlichen und landesherrlichen Regierungsrechte nebeneinander behandelt; der aus der Straßburger Schule hervorgegangene Württemberger Johann Philipp Datt (16511722)31, dessen Darstellung des Landfriedens De pace Imperii publica (1698) auf besonders gründlichen historischen Forschungen beruht; schließlich der wie die meisten zuvor Genannten überwiegend in politischen Ämtern tätige Vorfahre Goethes Johann Wolfgang Textor (1638-1701)32, der Verfasser zweier Werke, in welchen das deutsche Staatsrecht aufgeteilt nach den beiden zentralen Verfassungsfaktoren abgehandelt ist: Jus publicum caesarum (1697) und Tractatus de jure publico statuum Imperii (1701).

Über ihn Pütter, Litt. I, 374 f. Über ihn Pütter, Litt. I, 254 ff.; Stintzing 11, 244 ff.; Gross 288 ff.; Roeck 55 ff., 88 ff., 93 ff.; NDB l3, 280. 28 De observantia imperiali, vulgo Reichs-Herkommen, 1685; dazu Roeck 89. 29 Pütter, Litt. I, 268. Die bekannteste seiner zahlreichen Schriften ist wohl: Libertas statuum Imperii, 1688; außerdem berühmt als Konsilienautor und -sammler (Consilia seu responsa, 2 Bde. 1700/1715). Über ihn Moser, Bibl. iur. publ. III, 1734, 319ff.; Pütter, Litt. I, 267 ff.; Landsberg III I, 150ff., Noten 95 ff.; Geschichte d. Univ. Jena, I (Darstellung), 1958, 148; ADB 19,736; NDB 15,585; HRG III, 124ff. 30 Über ihn Pütter, Litt. I, 274ff.; Landsberg III 1,42, Noten 24; Grass 353 ff. 31 Über ihn Pütter, Litt. I, 297 f.; Landsberg III 1,47 f., Noten 27 f.; ADB 4, 767. 32 Über ihn Pütter, Litt. I, 295 ff.; Landsberg III 1, 42, Noten 22 ff.; Stolleis, Textor und Pufendorf über die Ratio Status Imperii im Jahre 1667, in: R. Schnur (Hg.), Staatsräson, 1975,441-463; ADB 37, 630. 26

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3. Die Publizierung des ausgedehnten Quellenmaterials zum ius publicum machte seit Ausgang des 17. Jh. bedeutende Fortschritte. Noch vor 1700 wurde eines der umfangreichsten Sammelwerke politisch-juristisch-historischen Inhalts begonnen: Christian Leonhard Leuchts (1645-1716)33 unter dem Namen "Anton Faber" periodisch herausgegebene "Europäische Staats-Kanzley" (1697-1760, insges. 115 Tle.), anschließend fortgeführt als "Neue Europäische Staats-Kanzley" (17601782) und nochmals fortgeführt, nämlich von J.A. Reuss als "Teutsche StaatsCanzley" (56 Bde. 1783 -1806). Noch wichtiger für die Arbeit der Publizisten war das "Teutsche Reichsarchiv" (24 Bde. 1710-1722) des Leipziger Stadtschreibers Johann Christian Lünig (1662-1740)34; dieser gilt auch wegen anderer Editionen als der nach Goldast fruchtbarste, wenngleich in der Textwiedergabe wie jener nicht immer völlig zuverlässige Sammler staatsrechtlich relevanter Schriftstücke. Dagegen zeichnen sich die Urkundensammlungen des in Halle ausgebildeten hannoverschen Archivars Johann Gottfried von Meiern (1692-1745)35, darunter Acta Pacis Westphalicae (6 Bde. 1734 - 36), durch beispielhafte Zuverlässigkeit aus 36 ; dessen gediegene Editionen sind aufgrund der Einteilung der Quellen nach Zeitabschnitten und Sachgebieten und der vorangestellten geschichtlichen Überblicke ein klarer methodischer Fortschritt. Sammlungen der Reichsgrundgesetze, die sich für den Gebrauch im Unterricht eigneten, fehlten lange. Diesem Mangel half mit Erfolg erst einer der frühen Göttinger Rechtslehrer, Johann Jakob Schmauß, mit seinem Corpus iuris publici Germanici academicum (11722) ab, wir kommen auf Schmauß und seine neuartige Sammlung noch zurück37 • Ältere Sammlungen der Reichsgrundgesetze und anderer wichtiger Reichsrechtsquellen können noch nicht wie dessen Sammlung als handliche Unterrichtsausgaben bezeichnet werden; so nicht das vierteilige Corpus iuris publici S.R./. G. (1707-1710) des Magdeburger Landsyndikus Adam Cortreius (1637-1706)38, auch nicht das zweibändige "Teutsche corpus iuris publici et privati oder Codex diplomaticus der Teutschen Staats-, Lehen-, Bürger- und peinlichen Rechte und Gewohnheiten" (2 Bde. 1717) des Ulmer Ratsconsulenten und Verfassers sowie Herausgebers von Schriften zu reichsritterschaftlichen Fragen Johann Über ihn Pütter, Litt. I, 307 f.; Landsberg III 1, 42f., Noten 25; ADB 18,475. Über ihn Pütter, Litt. I, 308 ff.; Landsberg III 1,43 f., Noten 25; ADB 19,641; Hammerstein in HRG III, 101 f. 35 Über ihn Pütter, Litt. I, 433ff.; Landsberg III 1,251 f., Noten 168f.; ADB 21, 211. 36 Weitere Sammlungen Meiems: Acta pacis executionis publicae, 2 Bde., Hannover u. Gött. 1736/37; Acta comitalia Ratisbonensia publica oder Regensburgische Reichstagshandlungen u. -Geschichte von den Jahren 1653 u. 54, 2 Bde., Hannover u. Gött. 1738/40. 37 Vgl. § 9 11 2. Den Erfolg von Schmauß' Sammlung bestätigen die zahlreichen Nachahmungen, nämlich die Sammlungen von B. G. Struve (1726), J. G. Gritsch (2 TIe. 1737/38), L. M. Kahle (1744/45), F. L. Waizenegger (1750), J. H. Drümel (1757) und P. J. v. Riegger (1764). Zu jenen jüngeren Sammlungen Pütter, Litt. 11, 444 ff., zu einigen davon auch J. J. Moser, Von Teutschland und dessen Staatsverfassung überhaupt, Stuttg. 1766, 208 f. 38 Über ihn Pütter, Litt. I, 322 f.; ADB 4, 506. 33

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§ 6. Zwischen Konfessionellem Zeitalter und Aufklärung

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Stephan Bürgermeister (1687-1750)39. 1747 gab der Reichshofrat und vormalige Göttinger Professor der Rechte Heinrich Christian Senckenberg (1704 -1768)40 mit Beteiligung namhafter Gelehrter anonym eine zweibändige "Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede seit den Zeiten Kaiser Konrads 11." heraus, die auch die Reichsschlüsse des immerwährenden Reichstages umfassende vollständigste Ausgabe der Reichsschlüsse vor der von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im letzten Drittel des 19. Ih. begonnenen Edition der Reichstagsakten 41 .

Über ihn Pütter; Litt. I, 316 ff.; ADB 3, 600. Über ihn noch kurz § 9 II I. 41 Senckenbergs große Sammlung deutscher Rechtsquellen: Corpus iuris Germanici publici ac pivati (2 Bde. Frankf. 1760/66) hat ihren Schwerpunkt im gemeineR Recht. 39

40

§ 7. Das Ius publicum im gelehrten Unterricht I. Der Verlauf seiner akademischen Einbürgerung. - 11. Berufsrollen der frühen Publizisten.

I. Dem Prozeß der Aufnahme des ius publicum in den gelehrten Unterricht hatten wir noch keine zusammenhängende Betrachtung gewidmet, dies ist jetzt nachzuholen. 1. Ob und wieweit deutsche Verfassungsfragen schon vor 1600 im Unterricht an deutschen Hochschulen behandelt worden sind, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen '. Im regulären Rechtsunterricht dürfte dies aber höchstens sporadisch der Fall gewesen sein, nämlich bei der Exegese der wenigen staatsrechtlichen Textstellen in den noch den einzigen Unterrichtsgegenstand bildenden klassischen Rechtsbüchern, so D. 2, 1 (De iurisdictione) und C. 3, 13 (De iurisdictione omnium iudicum et de fore competenti). Bei der üblichen weitschweifigen Art des Vortrags über die klassischen Rechtsbücher, der die Ansichten in der Glosse und der Kommentatoren möglichst genau wiederzugeben wünschte, wird man immerhin die gelegentliche Mitbehandlung deutscher Verfassungsfragen nicht überhaupt ausschließen können. Näher lag es allerdings, daß im Vortrag des Lehnrechts auf jene eingegangen wurde; dasselbe war auch schon im 16. Jh. in das Curriculum deutscher Universitäten aufgenommen 2 , mit den als Kaiserrecht geltenden Libri Feudorum verfügte es nicht anders als Legistik und Kanonistik über einen autoritativen Text. Das aktuelle Hauptstück des Kaiserrechts, die Goldene Bulle über die römische Königswahl und die Rechte der Kurfürsten, scheint allerdings vor 1600 auch an einer am Sitz eines Kurfürsten gelegenen Universität nicht zum Gegenstand regulären Vortrags geworden zu sein3 . Nur in Sonderveranstaltungen außerhalb des offiziellen Lehrprogramms wie einer Fest- und Antrittsrede ist wohl bereits vor 1600 gelegentlich eine deutsche Verfassungsfrage aufgerollt worden, Beispiele hierfür sind jedenfalls im historischen Schrifttum erwähnt4 • Eher als im Rechtsunterricht , Über die Anfange des Unterrichts im öffentlichen Recht Stintzing I, 663 ff.; Hake 17 f.; K.H. Burmeister; Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich, 1974, 133 f. 2 Zur akademischen Entwicklung des Lehnrechts Burmeister (s. Anm. 1) 131 ff. 3 So Burmeister (s. Anm. 1) 133 f.

§ 7. Das lus publicum im gelehrten Unterricht

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ließen sich Verfassungsfragen des römisch-deutschen Reiches in der Vorlesung über die Libri politicorum, d. h. die Aristotelische Politik erörtern, und zwar im Rahmen ihres Kernstücks der Staatsformenlehre; diese zum Programm der Artistenfakultät gehörende Vorlesung bürgerte sich auch schon vor Ausgang des 15. Jh. an den damals noch wenigen deutschen Universitäten eins. 2. Das Eindringen des ius publicum in den Rechtsunterricht gehört zu den Auswirkungen der Umwälzung von Jurisprudenz und gelehrten Unterricht durch Humanismus, Reformation und Rezeption des römischen Rechts. Mit dieser Umwälzung erlangte im Rechtsunterricht das römische Recht über das bisher noch vorherrschende kanonische das völlige Übergewicht. An den protestantischen Universitäten war fortan das kanonische Recht in der Regel nur noch ein Nebenfach, das vornehmlich nur wegen der für den Prozeß unentbehrlichen Dekretalen noch für notwendig erachtet wurde 6 . Aber auch an den katholischen Universitäten im Reich wurde im allgemeinen schon im 16. Jh. der Rechtsunterricht vorwiegend legistisch.

Bezeichnend für die Neuzeit ist das steigende Ansehen der beiden oberen Fakultäten, der theologischen und der juristischen, beide erfreuten sich einer zunehmenden Frequenz. Dabei kam dem Prestige der juristischen Fakultät das nun nicht mehr völlig ungewöhnliche Studium von Adelssöhnen zugute; dasjenige Fach, das für einen jungen Adeligen ein Universitätsstudium am ehesten als angezeigt erscheinen lassen konnte, war natürlich das ius publicum. Wie nun als erster Gesellschaftsstand der Klerus vom Hofadel abgelöst wurde, so löste an der Universität, wie oft dargestellt, ein eher kavaliersmäßiger Studententypus das Scholarenwesen ab. 3. Der Aufstieg des ius publicum zum ordentlichen Unterrichtsfach traf mit der akademischen Verselbständigung noch anderer moderner Bildungs- und Wissensstoffe zusammen, er gehört in den Gesamtzusammenhang der neuzeitlichen Wendung zu lebensnaher Wissenschaft, zur Modernisierung und Spezialisierung der Bildungswege. Die Disziplinen aus dem neuzeitlichen juristisch-politisch-historischen Fächerkanon, die mit, nach oder auch schon vor dem ius publicum in den 4 Siehe Stintzing I, 664 f.; Hoke 18; Burmeister (s. Anm. 1) 134. Auch Peter von Andlaus Libellus de Cesarea monarchia gilt als eine Vorlesung. S Hierzu Nachweise bei H. Maier, Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jh., in: D. Oberndörfer (Hg.), Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Lehre, 1962, 59 ff., 62 f. 6 Zum akademischen Niedergang des kanonischen Rechts Stintzing I, 273 ff.; H. Liermann, Das kanonische Recht als Gegenstand des gelehrten Unterrichts an den protestantischen Universitäten Deutschlands in den ersten Jahrhunderten nach der Reformation, in: Studia Gratiani 3 (1955) 539-566; J. Heckei, Das Decretum Gratiani und das evangelische Kirchenrecht, in: Studia Gratiani 3 (1955) 483-537; M. Heckei, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jh., 1968, 35-42; überhaupt zum Bedeutungswandel des kanonischen Rechts U. Wolter, lus canonicum in iure civili, 1975.

6 Friedrich

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1. Teil: Das lus Publicum Imperii Romano-Gennanici

Lehrplan der gelehrten Anstalten aufgenommen wurden, sollten hier wenigstens erwähnt werden. Schon auf das 16. Jh. wird der Beginn der akademischen Verselbständigung des Kriminalrechts angesetzt, wenngleich dessen Behandlung in Vorlesungen gerade an deutschen gelehrten Anstalten noch lange als nicht universitätsangemessen und nicht im Interesse der Staatsräson liegend verpönt war7 . Die letzten Jahrzehnte des 17. Jh. bringen dann die schnelle Aufnahme des ius naturae et gentium an den Universitäten des Reiches, zunächst den protestantischen 8 , Gradmesser für den Jahrhunderterfolg der Grotianischen Rechtssumme und das weite Echo auf Pufendorfs Naturrechtssystem. Seit dem frühen 18. Jh. meldet sich für Deutschland eine neue, die Brücke vom Naturrecht zum ius publicum bildende philosophisch-juristische Disziplin an, der es allerdings als einer theoretischen Disziplin wohl immer und überall an der Vertretung durch einen eigenen Lehrstuhl gemangelt hat: das ius publicum universale, wir kommen auf seine akademische Geschichte zurück. Dagegen ist im 18. Jh. eine andere neue, mit der deutschen Staatsrechtsgelehrtheit verbundene Fachdisziplin schnell allgemein als universitäres Lehrfach eingeführt gewesen: die an der neuen Vorbilduniversität Halle aus der Taufe gehobene Teutsche Reichs-Historie; auch ihre Geschichte hat uns noch zu beschäftigen. Auch mit der Erwähnung derselben sind die im 17. und 18. Jh. im Umkreis des ius publicum sich verselbständigenden oder erneuernden Fächer noch nicht vollständig angeführt. Zu erwähnen ist noch die im 17. Jh. besonders in Helmstedt, Straßburg und Altdorf blühende Politik sowie deren jüngere Fortführung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jh. vorzüglich in Göttingen unter dem Namen "Statistik" gepflegte Staatenkunde und Staatswissenschaft, die jedoch ebenfalls bis ins 17. Jh. zurückreicht9 . Und endlich ist noch die Kameralistik und Policeywissenschaft zu nennen, die man als die Verselbständigung des letzten, eher unscheinbaren Teils der Aristotelischen praktischen Philosophie, der Ökonomik, ansehen kann; für ihre akademische Einführung kann auch ein genaues Datum angegeben werden: 1727 erstmalige Errichtung eines Lehrstuhls für Oeconomie, Policey- und Cammer-Sachen an den beiden preußischen Hauptuniversitäten Halle und Frankfurt.

7 Zu den wissenschaftlichen Anfängen des Strafrechts, auf die die strafrechtliche und strafprozeßrechtliche Gesetzgebung des 16. Jh. einwirkte, H. Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 1980, 40 Cf.; F. Sclw.Jfstein, Die europäische Strafrechtswissenschaft im Zeitalter des Humanismus, 1954; auch H. Peters, Die juristische Fakultät und ihre Lehrfächer, in: Studium generale 16 (1963) 65 Cf., 70. B Die erste Professur an einer deutschen Universität für das ius naturae et gentium war das 1661 in Heidelberg Pufendoifübertragene, zunächst in der philosophischen Fakultät angesiedelte Extraordinariat. Mit der Errichtung einer solchen Professur folgte Kiel 1665, Marburg 1674, Greifswald 1674 (für "göttliches und menschliches Recht"), Helmstedt 1675, Erfurt 1676; dazu m. weit. Nachw. Lieberwirth 21. 9 Zu ihren Anfängen A. Seiffert, Staatenkunde. Eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: M. Rasseml J. Stagl (Hg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, 1980; ders. in Stolleis (Hg.), Hennann Conring. Beiträge zu Leben und Werk, 1983, 202 Cf.

§ 7. Das lus publicum im gelehrten Untenicht

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4. Das ius publicum wurde nicht wie die Kameralistik "durch fürstliches Machtgebot an den Universitäten eingeführt"lO. Seine Etablierung als akademisches Lehrfach war vielmehr das selbständige Werk einzelner Universitäten oder richtiger einzelner dort wirkender Gelehrter, die sich wie Arumaeus in Jena der Pflege des neuen Fachgebiets annahmen. Der akademische Aufnahmeprozeß des ius publicum verlief auch nicht entfernt so glatt wie der des Natur- und Völkerrechts oder gar der jüngeren Reichshistorie. So konnte an einzelnen Universitäten das ius publicum dank der dort herrschenden Aufgeschlossenheit für neue wissenschaftliche Forderungen schnell und frühzeitig Eingang in den regulären Unterricht finden, an anderen Universitäten wurde ihm von den Vertretern der etablierten Fächer lange erfolgreich die Aufnahme ins Lehrprogramm verwehrt. Privatkollegien und Disputationen erleichterten dem ius publicum, worauf oft hingewiesen worden ist 11, den Aufstieg in den Kreis der ordentlichen Lehrfächer. Die seit dem 16. Jh. an den Universitäten im Reich wie auch außerhalb des Reiches allgemein sich verbreitenden Privatkollegien erlaubten es, nicht im regulären Lehrprogramm vorgesehene Materien zu behandeln, und zwar ohne daß dabei die Aristotelische Methode angewandt werden mußte; diese neue Art der Lehrveranstaltungen richtete sich gegen akademische Routine und Verknöcherung, ohne daß sie freilich für die Erneuerung der neuzeitlichen Universität, die nicht der Ort für den Aufstieg der modemen Naturwissenschaft gewesen ist, ausgereicht hätte. Noch mehr dürften die Disputationen 12 , in denen ebenfalls Themen außerhalb des offiziellen Lehrstoffs abgehandelt werden konnten, dem ius publicum zur Einbürgerung in den akademischen Unterricht verholfen haben. Die mit dem Unterricht eng verzahnten Disputationen - sie sind gewissermaßen ein Surrogat für die noch fehlende akademische Abschlußprüfung - breiteten sich ebenfalls seit dem 16. Jh. an den Universitäten des Reiches, der Schweiz und der Niederlande aus. Ein fortgeschrittener Student (Respondent) verteidigte in der Disputation die von einem Professor (Praeses) aufgestellten Thesen; beim Druck der Disputation (Dissertation) erschien jene gewöhnlich unter dem Namen des Praeses, aber mit Hinzufügung des Namens des Respondenten, so daß dieser sie als seine eigene Arbeit vorzeigen konnte, was sie jedoch nicht zu sein brauchte, da vom Praeses nicht nur die Thesen, sondern auch die Richtlinien für die Ausarbeitung und ganze ausgearbeitete Teile stammen konnten; mit der Nennung des Respondenten auf dem Titelblatt wurde der Lehrerfolg des Praeses dokumentiert und wurden zugleich auf den Respondenten die Kosten für den noch mehr in dessen Interesse liegenden Druck überwälzt \3. H. Maier 176. Vgl. schon Stintzing I, 132ff.; aus neuerer Zeit Hoke 25; Lieberwirth 16f. 12 Zu ihrer neuzeitlichen Bedeutung Bunneister (Anm. 1) 216ff.; A. Söllner; Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, in: Coing, Handb., 2. Bd. 1 Teilbd. 575 f.; Hoke 25 f. \0 11

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I. Teil: Das lus Publicum Imperii Romano-Gennanici

Eine Verifizierung der Bedeutung der Disputationen für die akademische Einbürgerung des ius publicum hat Karl Mommsen mit seiner Untersuchung neuzeitlicher Basler juristischer Doktordisputationen 14 geliefert, unter deren Themen kommen staatsrechtliche auffallend häufig vor. Der damit für das Studium an der oberrheinischen Humanisten- und Promotionsuniversität nachgewiesene frühzeitige hohe Stellenwert des ius publicum verdient zumal deshalb Beachtung, weil die Verfasser der Basler Doktordisputationen über publizistische Themen nicht nur ganz überwiegend Studierende aus dem Reich sind, sondern auch unter ihnen später in protestantischen Territorien als Professoren und Räte Tatige festgestellt werden können. Die kaiserliche Gewalt behandeln die Basler Disputationen typischerweise mit kaiserfreundlicher Tendenz.

5. Pioniere bei der Aufnahme des ius publicum waren einzelne protestantische Universitäten im Reich, an den katholischen gelehrten Anstalten wurde es meist erst mit deren Modernisierung im 18. Jh. aufgenommen. An sich waren die protestantischen gelehrten Anstalten bei der für sie typischen konfessionellen Einschnürung für die Aufnahme eines neuen profanen Lehrgebietes nicht prädestiniert; so renommierte lutherisch-orthodoxe Anstalten wie Wittenberg und Leipzig haben auch lange dem ius publicum die kalte Schulter gezeigt. Von außerdeutschen Universitäten kann man der Genfer Akademie (Gründung 1564) keine Pionierrolle bei der akademischen Einbürgerung des ius publicum attestieren. Weit eher der ältesten niederländischen Universität Leiden 15, auf deren Gründung (1575) in den Niederlanden noch weitere Universitätsgründungen gef~lgt sind (Franeker, Groningen, Utrecht); die ausstrahlende Wirkung Leidens nicht nur auf den benachbarten Norden und Westen Deutschlands kann kaum überschätzt werden. Für längere Zeit war Leiden wegen seines toleranten geistigen Klimas und des hohen Ansehens seines nichtprivilegierten Doktorgrads die führende europäische Hochschule; wie schon in Genf, wurden auch hier reguläre Kurse im ius publicum eingeführt 16 . Das frühzeitige Interesse am ius publicum an Universitäten, die nicht mehr als im Reich liegend angesehen werden können, kann allerdings die Feststellung nicht einschränken, daß alles in allem die akademische Einführung des ius publicum die Leistung der gelehrten Anstalten im engeren Reich gewesen ist. In Leiden vertraten das ius publicum der dorthin als Lehrer von Genf gekommene Philipp Reinhard Vitriarius (1647-1720) und sein Sohn Johann Jakob Vitriarius (1679-1745); beide 13 Zur Autorschaft von neuzeitlichen Doktordisputationen und Dissertationen G. Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung, Sitz.ber. d. Sächs. Akad. d. Wiss. z. Leipzig, Phil.-hist. Kl., Bd. 114 H. 5, 1970; schon E. Horn, Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jh., Leipzig 1893 (= Beitr. z. Centralblatt f. Bibliothekswesen, H. 11). 14 Auf dem Wege zur Staatssouveränität. Staatliche Grundbegriffe in Basler juristischen Doktordisputationen des 17. und 18. Jh., 1970. 15 Über Leiden Th. Lunsingh Scheurleer/G.H.M. Posthumus Meyjes (eds.), Leiden University in the 17th century, Leiden 1975; F. van der Meer (Hg.): Universiteit in beweging: een aantal beschouwingen bij ge1egenheid van het 41O-jarig bestaan van de Rijksuniversiteit te Leiden, Leiden 1985. 16 H. Coing in: Coing, Hdb., 2 Bd. I Teilbd. 42.

§ 7. Das Ius publicum im gelehrten Unterricht

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sollen wie ein "Magnet" auf Studierende vornehmen begüterten Standes zumal aus dem katholischen Reich gewirkt haben 17. Die Peregrinatio academica deutscher Adelssöhne hatte nun nicht mehr Italien und die berühmten französischen Rechtsschu1en zum bevorzugten Ziel.

6. Schon für die zweite Hälfte des 17. Jh. mehren sich die Informationen über regelmäßige Vorlesungen über das ius publicum. Das neue Fach fand nun auch in den Kreis der öffentlichen Lektionen Eingang, weshalb es aber nicht auch mit einer professio ausgestattet zu sein brauchte. Auch im 18. Jh., also als an immer mehr Universitäten im Reich nicht mehr nur extraordinarie über das ius publicum gelesen wurde, mußte dies bei der gewöhnlich sehr kleinen Zahl juristischer Ordinariate nicht bede~ten, daß nun auch ein speziell dem ius publicum gewidmeter Lehrstuhl vorhanden war. Typisch ist vielmehr wie auch für die ganze weitere Folge die Verbindung seiner Vertretung mit der eines anderen Lehrgebietes oder mehrere andere Lehrgebiete. Nicht unüblich war die Verbindung seiner Lehre mit der Codex-Professur, was zugleich insofern eine Auszeichnung für das junge akademische Fach war, als häufig dem das Kaiserrecht vortragenden Codizisten die Stellung des in den Lehrpflichten gegenüber den anderen Fakultätsmitgliedern bevorrechteten Primarius zustand; das ius publicum konnte aber auch mit dem in der Regel nur ein Nebenfach bildenden ius feudale, mit dem ius naturae et gentium und vor allem mit der Reichshistorie verbunden sein. Ein zuverlässiger Überblick, wann, wo und wie die Einführung des ius publicum in die öffentlichen Lektionen erfolgt ist, ist nicht möglich, es fehlen dafür die nötigen Einzeluntersuchungen, mit denen wohl auch künftig nicht gerechnet werden kann. Die akademische Einführung eines neuen Faches ging zumal in der Neuzeit häufig durch Erweiterung oder Umwidmung eines vorhandenen Lehrstuhls bzw. durch Zusammenlegung von Lehrstühlen vor sich; allerdings ist für das ius publicum diese Art der Einführung wohl nicht so typisch wie für das Natur- und Völkerrecht. Aber überhaupt braucht eine für das ius publicum schon eingerichtete reguläre Lehrvertretung nicht schon etwas Zuverlässiges über Umfang und Art der tatsächlich dem ius publicum gewidmeten Lehre zu besagen; im übrigen ist auch für das 18. Jh. der Vortrag im Prinzip aller in der juristischen Fakultät vereinigten Fächer durch jedes ihrer ordentlichen Mitglieder noch durchaus typisch. Aufschlußreicher für den tatsächlichen Anteil des ius publicum am Unterricht als Informationen über Lehrstuhlerrichtungen und -veränderungen sind solche über Lehrinhalte und -resonanz, die jedoch nur sehr mühevoll, wenn überhaupt, erhältlich sind; immerhin sind Lektionenkataloge auch für das 16. und 17. Jh. nicht spärlich vorhanden 18 . Im 17. Jh. konnte im übrigen der 17 Zum Lehrerfolg der beiden Vitriarius in Leiden Landsberg III 1,42. Im ganzen zur hohen Attraktivität Leidens auf Studierende aus dem Reich H. Schneppen. Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben, 1960, bes. 101. 18 Zu den Lektionenkatalogen als Forschungsaufgabe J. Schröder, Vorlesungsverzeichnisse als rechtsgeschichtliche Quelle, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschr. St. Gagner, 1991, 383ff. Daß die Universitätsgeschichtsschreibung kaum über Lehrinhalte und Lehrart informiert, betont Hammerstein in seiner Rezension des zweibändigen Sammelwerkes von Lawrence Stone (ed.), The University in Society (1974) in: ZHF 5 (1978) 449 ff., 454 f.

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1. Teil: Das Ius Publicum Imperii Romano-Gennanici

Vertreter des ius publicum seine akademische Stelle auch noch in der philosophischen Fakultät haben l9 , also der Ort des ius publicum noch zwischen philosophischer und juristischer Fakultät schwanken. Schließlich mußten in einer kleinen Juristenfakultät die ganz wenigen Lehrstühle noch überhaupt nicht fest nach Fächern und Fächergruppen angeordnet sein2o .

11. Dem Modell des akademischen Lehrers im modernen Sinne, nämlich eines dauerhaft und hauptamtlich dem Lehrberuf sich widmenden Gelehrten entsprechen die neuzeitlichen Universitätslehrer im allgemeinen bekanntlich noch nicht. Typisch für die Neuzeit ist, daß der junge, zuallermeist nichtadelige Gelehrte das akademische Lehramt nicht als ein abschließendes Laufbahnziel erstrebt. Zumal hat dies dann als typisch zu gelten, wenn die Übernahme eines für die Vertretung des ius publicum vorgesehenen Lehramtes erstrebt wird, d. h. jenes wird vorzüglich als nützliche Durchgangsstation auf dem Wege in eine begehrtere Position im Fürstendienst oder in ein städtisches bzw. nichtklerikales kirchliches Amt angesehen. Nichts ist wohl bezeichnender für die Karriere des neuzeitlichen Juristen in Deutschland als der Wechsel zwischen Hof und Universität, zwischen Hof- bzw. Kammergericht und Juristenfakultät; damit konnte leicht die an sich nicht pflichtenarme Lehrtätigkeit zu einer Nebentätigkeit werden. Die vielschichtigen Gründe für die noch mangelhafte Professionalisierung des neuzeitlichen Hochschullehrers, und zwar zumal des Lehrers der Rechte und der Politik, können hier nicht angeleuchtet werden 21 • Wenigstens darauf sollte jedoch hingewiesen sein, daß auch für das 17. Ib. die deutschen Universitäten und Hohen Schulen noch der "eigentliche Ort geistiger Selbstvergewisserung im Reich" (Hammerstein) sind; damit war der an ihnen tätige Gelehrtenstand, dessen Mitglieder im Fürstendienst herangezogen werden konnten, für das Reichsfürsten19 So in Helmstedt; dazu A. Behse, Die juristische Fakultät der Universität Helmstedt im Zeitalter des Naturrechts, 1920, 55. In Straßburg hatte l.H. Boecler die Professur für Rhetorik inne, d. h. für das Lehrgebiet, dem bei der dortigen Akademiegründung eine Vorrangstellung zugedacht war; dazu und überhaupt zu den Anfängen der Straßburger Anstalt A. Schindling, Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1528-1621, 1977. Soweit schon eine Professur für das ius publicum neben der traditionellen Rhetorik-Professur existierte, konnte die Abgrenzung beider der Anlaß zu Streitigkeiten sein. Die beiden Hallenser Reichspublizisten l.P. Ludewig und N.H. Gundling stiegen aus der philosophischen Fakultät in die juristische auf. 20 So in Duisburg; siehe T. Ahrens, Aus der Lehr- und Spruchtätigkeit der alten Duisburger Juristenfakultät (= Duisburger Forschungen Beih. 4),1962,19. 21 Grundlegend zu Geschichte und Soziologie der neuzeitlichen Professionalisierung des Juristenstandes ist der von R. Schnur herausgegebene Sammelband: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1986.

§ 7. Das Ius publicurn im gelehrten Unterricht

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turn eine schlechterdings unentbehrliche Hilfe und Stütze. Und damit konnten sich auch die beruflichen Rollen des Professors und des Rats im Fürstendienst noch nicht deutlicher voneinander sondern. Daß zuweilen der Wechsel vom Professor zum Rat und Kanzler "vom Reisewagen weg" erfolgt ist, wie behauptet worden ist22 , ist freilich wohl eine Übertreibung, aber eine die typische Karriere treffende. Aber auch wenn nicht aus dem Lehramt in ein solches politisches Amt gewechselt wurde, mit dem sich dessen weitere Ausübung nicht verbinden ließ, war es üblich und auf der Seite des Dienstherrn wie des Professsors eine selbstverständliche Erwartung, daß der zur Vertretung des ius publicum und der Politik bestellte Professor zur Erledigung verschiedener Staatsgeschäfte, und zwar u. U. einschließlich diplomatischer Missionen, herangezogen wurde. Die Respublica litteraris war ja auch im 17. Jh. bedeutend weltzugewandter geworden. In Einklang damit hatten sich die Publikationsmöglichkeiten und pekuniären Nebeneinkünfte der Professoren allgemein deutlich verbessert, damit waren auch Bekanntheit und Reputation eines Professors als Autorität in politicis gestiegen, und damit war er mehr als bisher geeignet, im Verlauf seines Gelehrtenlebens politische Ämter zu übernehmen. Auch die negativen Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf den akademischen Lehrbetrieb, der an einzelnen Orten zeitweise völlig zum Erliegen kam, sind nicht außer Betracht zu lassen. Erst für die Universitätslehrer des 18. Jh. kann die feste Berufsbindung im modemen Sinne als typisch gelten, sie gehört zur Auswirkung der neuen Universitätsgründungen der Aufklärung. Immerhin, auch unter den bekannten, vielseitig als Gutachter und Räte tätigen Publizisten des 17. Jh. haben Arumaeus, Besold oder Conring ihr Lehramt ausdauernd wahrgenommen.

22 M. Fleischmann, Über den Einfluß des römischen Rechts auf das deutsche Staatsrecht, in: Melanges Fitting H, Montpellier 1908, 635 ff., 697.

Zweiter Teil

Unter dem Einfluß der Aufklärung § 8. Ius publicum universale und Reichshistorie I. Die Bedeutung des ius publicum universale und der Reichshistorie für die Entwicklung des älteren deutschen Staatsrechts. - II. Zur Ideengeschichte des aufgeklärten Naturrechts. III. Das ius publicum universale bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. - IV. Halle und der Aufstieg der Reichshistorie.

J. 1. Mit der Aufklärung traten der Wissenschaft der deutschen Publizisten zwei neue akademische Disziplinen an die Seite: ius publicum universale und Reichshistorie. Das ius publicum universale, auch "natürliches" Staatsrecht genannt!, war das Privatrecht und ius gentium nicht mitenthaltende modeme profane Naturrecht2 . Mit seiner Aufstellung waren die allgemeinen staatsrechtlichen Begriffe und Lehren zu einem vom ius publicum Romano-Germanicum verselbständigten eigenen Lehrsystem zusammengefaßt. Die neue Disziplin konnte beanspruchen, auch für das aus vielen Schichten sich zusammensetzende deutsche ius publicum die theoretische Einleitung zu sein. Darüber hinaus konnten nach verbreiterer Ansicht mit Hilfe des ius publicum universale auch Lücken im deutschen Staatsrecht geschlossen werden, nämlich soweit für diesen Zweck das geläufige, anerkannte Mittel der Analogie versagte. Die Teutsche Reichshistorie hat sich seit dem Übergang ins 18. Jh. schneller und erfolgreicher als das ius publicum universale als akademische Disziplin etabliert. Beim reichen historischen Stoff der deutschen Publizisten konnte sie für deren Wissenschaft auch für noch wichtiger als das aufgeklärte allgemeine Staatsrecht gelten; beim akademischen Start in Halle schien sie sich sogar fast an die Stelle Der Ausdruck "Philosophisches Staatsrecht" wird erst im 19. Jh. gebräuchlich. Zur Entwicklung des allgemeinen Staatsrechts H. Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jh., AöR 99 (1974) 576-585; Stolleis, Gesch. I, 291-297; zu seiner Einwirkung auf die jüngere Publizistik der Aufklärung Willoweit 348 ff., 364 sowie noch unten § 10 I. !

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§ 8. Ius publicum universale und Reichshistorie

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des ius publicum setzen zu wollen 3 . Mit ihrem Einzug in den akademischen Fächerkanon war vom ausgedehnten Stoff der deutschen Publizisten der recht eigentlich gewichtigste Teil, der verfassungsgeschichtliche, fachlich verselbständigt. Die neue historische Fachdisziplin entlastete die Diskussion der Publizisten von überflüssigen, unhaltbaren Ansichten über politisch-geschichtliche Hergänge, sie wirkte also wie die Lehren und Begriffe des modemen vernunftrechtlichen Staatsrechts versachlichend auf die Arbeit der Publizisten ein. Erst mit den eigenen Bearbeitungen der Reichshistorie - bei Johann Stephan Pütter erhält sie den Namen "Reichs geschichte" - gelangten die deutschen Publizisten zu einem anerkannten, auf gesicherten Quellen beruhenden Gesamtbild von der deutschen Verfassungsgeschichte, das der großen Linie nach auch dem Test durch die neuere historische Forschung standhält, und damit ließen sich auch einzelne deutsche Verfassungsprobleme erst gründlicher monographisch behandeln. Je besser der Stoff der Publizisten von der historischen Seite her aufbereitet und erschlossen war, desto eher ließ er sich natürlich nach den Grundsätzen und Begriffen des modemen allgemeinen Staatsrechts organisieren. Entsprechend der Auffassung der Reichshistorie als der wichtigsten Hilfswissenschaft des ius publicum waren in der Regel Publizisten auch die akademischen Lehrer der Reichshistorie und Autoren der von ihr handelnden Werke. Kompendien der Reichshistorie konnten jedoch auch von solchen Autoren vorgelegt werden, die nicht oder nur wenig mit dem ius publicum verbunden waren oder ihm überhaupt femstanden. Der mit Abstand quantitativ fruchtbarste Publizist des 18. Jh., Johann Jakob Moser, hat die eigene literarische Bearbeitung der Reichshistorie nahezu völlig verschmäht. 2. Mit dem Untergang des Alten Reiches verschwand die Reichshistorie von der akademischen Bildfläche. An ihre Stelle trat die von Karl Friedrich Eichhorn (1781-1854) begründete, nun aber weniger noch dem Staats- als dem Privatrecht zugewandte Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte (1. Bd. des so benannten Werkes Eichhorns 1808). Dessen disziplingründende synchronistische Epochenbehandlung war jedoch schon von den ausgereiften verfassungsgeschichtlichen Arbeiten Pütters, der schulegründenden Hauptfigur der späten Reichspublizistik, angebahnt. Dagegen hat das "Allgemeine Staatsrecht" seinen bisherigen Charakter jedenfalls bis zur Mitte des 19. Jh. noch behalten. So wird ihm noch über die frühkonstitutionelle Epoche hinaus unwidersprochen die Funktion der unentbehrlichen metapositiven Grundlagendisziplin des positiven Staatsrechts bescheinigt, ja, es bildet recht erst in den Grundrissen und Handbüchern des deutschen Staatsrechts aus der Zeit des Deutschen Bundes die übliche ,,Einleitung" in das nunmehr den Kern-

3 Für die Überdehnung der Reichshistorie zu Lasten des ius publicum, die der Halleschen Publizistenschule in ihren Anfängen bescheinigt werden kann, gelten die Schriften von i.P. Ludewig als bezeichnend. Über ihn noch im Text unter IV 3.

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2. Teil: Unter dem Einfluß der Aufklärung

stoff der Publizisten bildende gemeine deutsche Staatsrecht4 , seit dem frühen Vormärz wandelt es sich bruchlos zu einem allgemeinen constitutionellen Staatsrecht. Den größten Einfluß auf die allgemeine Urteils bildung in Staats- und Verfassungsfragen erreichte es begreiflicherweise mit der Staatsrevolution der napoleonischen Epoche.

11. Näher kann in unserem Rahmen den Problemen des neuzeitlichen profanen Naturrechts nicht nachgegangen werden. Da das allgemeine Staatsrecht der Aufklärung der Abkömmling des neuzeitlichen profanen Naturrechts ist, ist jedoch die große Verlaufslinie des letzteren auch von uns wenigstens mit einigen Strichen zu skizzieren 5 . l. Dabei ist mit Thomas Hobbes (1588-1679) zu beginnen. Er kann zwar nicht als der überhaupt erste Autor bezeichnet werden, der das Konzept des Sozialkontrakts von noch im "natürlichen", gemeinschaftslosen Zustand lebenden Individuen vorgetragen hat 6 . Richtig ist jedoch, daß erst er den Sozialkontrakt zum sachlichen Kernstück einer systematischen Staatstheorie gemacht hat. Auch der jüngere, hinter ihm an denkerischer Schärfe und Konsequenz nicht zurückstehende Baruch Spinoza (1632-1677) ist zwar der Schöpfer einer solchen Theorie, sie hat aber schon seine Theorie zum Vorbild. Hobbes' politische Theorie, enthalten im "Leviathan" (1651), auch schon in De cive (1642), ist die Entfaltung eines radikalen materialistisch-anthropologischen Ansatzes: die menschlichen Bedürfnisse werden auf zwei Elementarbedürfnisse, besser -triebe, nämlich den Macht- und den mit ihm völlig verschwisterten Sicherheitstrieb zurückgeführt. Die mit dem Interesse aller Individuen übereinstimmende Erhaltung des Gesellschaftsfriedens ist nach Hobbes das Ziel der zivilen Gesellschaft. Erreicht werden kann es nur auf dem Wege der vollständigen Übertragung der "natürlichen Selbstregierungsrnacht" Dazu noch § 141. Da nur eine Skizze bezweckt ist, sind im folgenden Noten nur sparsam angebracht, selbst von der Anführung grundlegenden Schrifttums sehen wir im allgemeinen ab. Als zwei jüngere, unterschiedlich angelegte Skizzen der Entwicklung des neuzeitlich-profanen Naturrechts mögen erwähnt sein: H. Hofmann, Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, in: ders., Recht - Politik - Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986, 93 ff.; R. Saage, Vertragsdenken als frühbürgerliche Gesellschaftstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau), in: ders., Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, 1989,46-66. Zum neuzeitlichen Naturrecht unter methodengeschichtlichem Aspekt W. Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht, 1970; mit Schwerpunkt in der Ideengeschichte H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1980; prägnante Kennzeichnungen der denkerischen Neueinsätze und ihrer Wirkung bei Wieacker 301 ff. 6 Nach J. W. Gough, The social contract, 2. Aufl. 1963, 47f. trägt schon M. Salamonius, De principatu (1544) das Konzept des Sozialkontrakts vor. Vgl. auch W. Euchner, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: Hist. Wb. d. Philos. 3 (1974) 476ff., 478. 4

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(w. Euchner) der Individuen auf den Souverän, der mithin im Besitz einer unbe-

schränkten Gewalt über die ihm unterstellten Gesellschaftsmitglieder sein muß. Damit kann es für Hobbes, den Denker in der Situation des konfessionellen Bürgerkrieges, nur ein äußerst inhaltsarmes natürliches Staatsrecht geben, das sich auf den einzigen Kernsatz reduziert: Rechtliche Schranken kann es für den Souverän außer den von ihm sich selbst gesetzten oder den ihm durch überlegene äußere Macht auferlegten nicht geben. Die Unbeschränktheit des Souveräns leitet Hobbes außer aus dem absolut konformen Selbsterhaltungsinteresse aller kontrahierenden Individuen aus seiner neuartigen Konstruktion des Sozialkontrakts als eines Vertrags zugunsten eines nicht mitkontrahierenden Dritten ab, welcher infolgedessen bei der Herrschaftsausübung in keinem Falle einen Vertragsbruch begehen kann. Gegenüber dieser scharfsinnigen Argumentation, der logischen Begründung des monarchischen Absolutismus, konnte die in der ersten Hälfte des 17. Jh. bei einem Großteil der deutschen Publizisten hoch angesehene "doppelte" Souveränitätslehre ihr Ansehen schwerlich behaupten. Hobbes' so schlüssig entwickelte Staatstheorie, die erstmalige Identifizierung von Herrscher- und Staatssouveränität, machte für Generationen die Sozialkontraktidee zum Paradigma der Sozialtheorie. Wegen seiner entschlossenen Anwendung der analytisch-deduktiven Methode auf das Feld der Sozialtheorie, wofür die mathematisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen Galileis das Vorbild waren, kommt Hobbes der Ruhm des methodischen Begründers des neuzeitlichen profanen Naturrechts zu. 2. Der niederländische Humanist Hugo Grotius (1583 -1645) hat in der Geschichte des neuzeitlichen Naturrechts nicht als Systematiker seinen Platz, was seinen Ruf als Gründungsheros des neuzeitlichen Natur- und V6lkerrechts nicht schmälert. Was schon vor ihm der Spanier Francisco de Vitoria und der in Oxford lehrende italienische Jurist Albericus Gentilis versucht hatten, führte er erfolgreich aus: die umfassende Bearbeitung des internationalen Rechts; dabei mußte er Rechtsregeln auch aus der menschlichen Vernunft gewinnen. Diese werden jedoch für die Entscheidung konkreter Rechtsfalle formuliert, sie gelten Grotius auch immer als die Ausfaltung der bewährten, bis zurück zu den antiken Quellen verfolgten europäischen Rechtserfahrung, seine große allgemeine Rechtssumme De lure Belli ac Pacis !ibri tres (1625) ist durchaus kein deduktives System. Mit diesem Werk von beispiellosem europäischem Echo trat das neuzeitliche profane Naturrecht seinen Siegeszug als die neue Sozial- und Rechtstheorie Europas an. 3. Dessen erster erfolgreicher Systematiker ist anerkanntermaßen Samuel Pujendorj7. Sein Naturrechtssystem (De jure naturae et gentium libri octo, 1672; De 7 Zur europäischen Wirkung, befördert von den französischen Übersetzungen der beiden Naturrechtswerke durch Jean Barbeyrac (De jure naturae 1706 u. ö.; De officio 1707 mit Komm. u. ö.), C. Othmer; Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und sozialgeschichtliche Studien zu J. Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und eine Analyse seiner Leserschaft, 1970. Zur Wirkung auf die frühe nordamerikanische Verfassungsentwick-

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officio hominis et civis, 1673) sieht man mit Recht als die Synthese der Ansätze von Grotius und Hobbes an. Von Grotius übernimmt Pufendorf das Geselligkeitsund Humanitätsprinzip, von Hobbes die Verlegung des argumentativen Ausgangspunkts ins individuelle Interesse sowie die analytische Methode; die Ansätze beider vereinigt er, indem er die Geselligkeit als im Interesse jedes einzelnen liegend begreift. Als die hervorstechendste Eigenschaft des auf sich selbst gestellten Menschen sieht Pufendorf dessen Schwäche und Hilfsbedürftigkeit (imbecillitas) an; die mehr ethisch als soziologisch begriffene Sozialität des Menschen ist mithin durchaus schon für den Naturzustand kennzeichnend, der bei Pufendorf nicht wie bei Hobbes ein Krieg aller gegen alle ist, sondern ein allerdings noch völlig prekärer Friedenszustand. Die Errichtung der zivilen Gesellschaft sieht Pufendorf nicht bereits mit einem einzigen Vertrag als erreicht an. Vielmehr nimmt er außer des einstimmigen Vereinigungsvertrags noch einen Mehrheitsbeschluß über die Regierungsform sowie einen Vertrag über die Einsetzung der Regierung an, mit dem sich erst alle den Befehlen der Regierung unterstellen. Das Staatsdenken der Aufklärung ist Pufendorf ganz überwiegend in dieser Ablehnung des Hobbesschen Vertragsmonismus gefolgt; so wird es unter dem Einfluß seines Naturrechtssystems schnell üblich, daß zwischen dem eigentlichen Gesellschaftsvertrag (pactum unionis) und dem Herrschafts- und Unterwerfungs vertrag (pactum subjectionis) unterschieden wird. Pufendorfs Modifizierung der Hobbesschen Gesellschaftskonstruktion kommt der Sinn zu, der Gesamtheit, die er als eine "persona moralis composita" versteht, auch noch nach dem Vertragsschluß die Qualität eines wenigstens ideellen Subjekts zu belassen 8 . Darin lag freilich nur dann eine Wendung gegen den monarchischen Absolutismus, wenn der Herrschaftsvertrag Sicherungen gegen den Herrschaftsmißbrauch enthält, also den Charakter des Verfassungsvertrags hat.

Zum ersten erfolgreichen Systematiker des neuzeitlichen profanen Naturrechts wurde Pufendorf, weil er dessen Aufbau ausgiebig mit dem älteren sozialethischen Lehrgut Europas bestreitet. Dazu mußte er aufgrund seiner Vorstellung vom Endzweck der menschlichen Gesellschaft gelangen, der nicht wie bei Hobbes die bürgerliche Sekurität ist, sondern die "Vervollkommnung des menschlichen Lebens" (H. Wetzel). Dank des bedeutenden inhaltlichen Ausbaus ist Pufendorfs Naturlung H. Wehel, Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (lohn Wise und Samuel Pufendorf), in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche (Festschr. R. Smend), 1952, 387 ff. und schon George L. Scherger; The Evolution of Modern Liberty, New York 1904, 172 ff. Insgesamt zur Wirkungsgeschichte N. Hammerstein, Zum Fortwirken von Pufendorfs Naturrechtslehre an den Universitäten des Heiligen Röm. Reiches Deutscher Nation während des 18. Jh., in: K.A. Modeer (Hg.), Samuel v. Pufendorf 1632-1982. Ett rättshistoriskt symposium i Lund 15-16 januari 1982, Lund 1986,31-51. Zur Karriere des Pufendorfschen Naturrechts als gymnasialer Unterrichtsgegenstand A. Hollerbach, Die Juridica in der Bibliothek des Rastatter Gymnasiums, in: Humanitas. 150 Jahre Ludw. Wilh. Gymnasium Rastatt, 1958. 100ff. 8 In diesem Sinne H. Denzer; Moralphilosphie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtIiche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. 1972. Neuerdings zu Pufendorfs Sozialtheorie Th. Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. 1995.

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rechtssystem weit mehr eine Lehre von den sozialen Pflichten des Menschen als seinen Rechten, d. h. es ist neu vom theoretischen Ansatz her, nicht jedoch auch nach dem Inhalt. Ohne den festen Rückhalt an der europäischen Moralphilosophie hätte das von Pufendorf recht erst erschaffene Vernunftrecht kaum für ein Jahrhundert zur neuen Generalwissenschaft Europas werden können. 4. Christian Thomasius (1655 -1728), der Anführer der deutschen Aufklärung, ist Pufendorf in der Materialisierung des profanen Naturrechts nicht gefolgt. Mit der Vertiefung der Unterscheidung von Recht und Moral zum Gegensatz von Legalität und Gesinnung eröffnet er vielmehr bereits die historische Geltungsrelativierung des profanen Naturrechts 9 ; die entschiedene Durchführung dieser Unterscheidung gilt und wohl mit Recht als sein wichtigstes theoretisches Verdienst. Thomasius spricht dem Naturrecht jedoch keineswegs die Funktion des obersten Beurteilungsmaßstabs gegenüber dem positiven Recht ab, wie er auch nicht einen inhaltlichen Gegensatz von Naturrecht und Morallehre betont. Immerhin zieht er erstmals der Geltung des Naturrechts klare Grenzen, damit verschaffte er neuen empirischen Wissenschaften unter den Humaniora wie der Reichshistorie die Legitimation. Dies war im Vergleich zur scharfen Scheidung von Recht und Moral wohl die wissenschaftlich folgenreichere Leistung, wir kommen auf sie im Zusammenhang mit dem Wissenschaftsprogramm für die neue Reforrnuniversität Halle zurück.

Derjenige, der dagegen Pufendorfs Einschmelzung der älteren europäischen Sozialethik ins profane Naturrecht zielstrebig und äußerst wirkungsreich fortsetzte, ist Christian Woijf (1679 -1754). Sein Naturrechtssystem ist nicht nur bis ins Detail ausgebaut, es hat in Einklang damit seinen Schwerpunkt auch ganz eindeutig in einer Pflichtenlehre. Die in Wolffs achtbändigem Jus naturae methodo scientifica pertractatum (1740-1748)10 entfaltete natürliche Sozialethik ist der konkreten politisch-sozialen Wirklichkeit des deutschen, d. h. brandenburgisch-preußischen Obrigkeitsstaates angepaßt. Dem widerspricht es nicht, daß Wolffs Naturrechtssystem erstmals einen schulgerechten Katalog der Menschenrechte enthält ll , da nach ihm 9 Grundlegend zum Gesamtwerk W. Schneiders. Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, 1971 sowie der von Schneiders editierte Sammelband: Christian Thomasius 1655 -1728, 1989. Zur Naturrechtslehre H. Rüping. Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, 1968. 10 Die Fortsetzung bildet: Jus gentium methodo scientifica pertractatum, 1749; kurzer Abriß des Gesamtsystems ist: Institutiones juris naturae et gentium, 1754. Die frühe Fassung der Staatstheorie liegt in der "Deutschen Politik" von 1721 vor: Vernünftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts mitgeteilt. Grundlegend aus der neueren Diskussion über Werk und Wirkung W. Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679-1754, 1986 (mit Bibliogr. von 1800 bis 1985 von G. Biller). II Zu den iura connata bei Wolff M. Thomann. Christian Wolff et le droit subjectif, Archives de Philosophie du Droit N.S. 9 (1964) 153ff.; M. Bachmann. Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, 1977, 110ff.; kritisch F. Hellmuth. Naturrechtsphilosphie und büro-

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im einmal errichteten Gemeinwesen aufgrund der zu unterstellenden Zustimmung aller zu seiner Errichtung die iura connata jederzeit eingeschränkt und auch aufgehoben werden können. Nicht nur der planmäßige deduktive Aufbau von Wolffs Naturrechtssystem, sondern wohl noch mehr dessen Anreicherung mit europäischen Gemeinrechtssätzen mußten es zum Vorbild für die Zivilrechtskodifikationen des aufgeklärten Absolutismus machen. Noch tief in die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jh. wird Wolffs Wirkung nachgewiesen, wenn man ihn wegen seiner mathematisch-demonstrativen Methode, der Ableitung aller einzelnen natürlichen Rechtssätze aus Axiomen und Obersätzen, als den Stammvater des Stils der neueren fachlichen Rechtswissenschaft ("Begriffs-" und "Konstruktionsjurisprudenz") rühmt 12 ; Schüler und seiner Denkart sich Anschließende - unter jenen ist an erster Stelle Daniel Nettelbladt zu nennen - suchten seine Methode in die praktische Jurisprudenz einzuführen. Eine Disziplin in der Mitte zwischen Philosophie und Jurisprudenz wie das ius publicum universale mußte durch Wolff im Ansehen gehoben werden; nach Pütter 13 war im zweiten Quartal des 18. Jh. die Wolffsche Philosophie fast epochemachend im deutschen Staatsrecht. Zur populären Breitenwirkung waren allerdings die pedantischen Werke Wolffs kaum geeignet, ansprechendere, auf seinem System aufbauende Lehrwerke jüngerer Autoren trugen das von ihm zielstrebig zum Vernunftrecht ausgebaute profane Naturrecht an ein breiteres Lesepublikum heran.

5. lohn Locke (1632-1704) schreibt man und wohl berechtigterweise die erstmalige durchdachte Begründung des modemen Verfassungsstaates zu. Dabei stützt man sich darauf, daß nach ihm die Individuen mit dem Eintreten in die zivile Gesellschaft ihre Rechte auf "their Lives, Liberties, and Estates, which I call by the general name Property", nicht aufgeben 14 . Nach Locke begründet mithin der status naturalis rechtliche Forderungen an den aus ihm herausführenden status civilis, wie sie dagegen Hobbes ausschließt. So wird nach Locke die Gemeinschaftsgewalt als "trust" ausgeübt, was nicht nur Gewaltenteilung und Vorrang der allgemeinen Gesetze impliziert, sondern auch die Anerkennung eines Widerstandsrechts der einzelnen für den Fall, daß anders als mit dessen Inanspruchnahme ein drohender Entzug der natürlichen Rechte nicht abgewehrt werden kann. In der deutschen Naturrechtsdiskussion ist Lockes politische Theorie wohl bis in die zweite Hälfte des kratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Ih., 1985,53 ff. 12 Wieacker 320. Zum Einfluß auf den Stil der Rechtswissenschaft der Aufklärung und noch des 19. Ih. auch schon H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, ZRG GA (1936) 202-263, 222ff., wiederabgedruckt in: Ideengeschichte und Rechtsgeschichte. Gesammelte Schriften 11, 1986. 13 Litt. 11, 217. 14 Second Treatise ... : An Essay Concerning the True Original Extent and End of Civil Government, §§ 123 f. Damit stimmt überein, daß es nach Locke bereits im Naturzustand Handel und Geldakkumulation gibt. Grundlegend zur Interpretation seiner politischen Theorie W Euchner; Naturrecht und Politik bei lohn Locke, 1979.

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18. Jh. noch kaum beachtet worden l5 . Erst mit dem Bekanntwerden von Kants kritischer Philosophie und mit Kants Ersetzung des eudämonistischen Staatsprinzips Wolffs durch das Rechtsstaatsprinzip wurde das politische Denken in Deutschland für Lockes Idee der Freiheitssicherung und Gewaltenteilung empfänglich. Auf die von der historischen Forschung lange vernachlässigte "zweite" liberale Welle des deutschen Naturrechts ab etwa 1785 16 gehen wir augenblicklich nicht mehr ein. 6. Hingegen ist zu Jean-Jacques Rousseaus (1712 -1778) "Contrat social" (1762) eine Bemerkung noch unbedingt angezeigt. Auch der Genfer sieht wie Hobbes das Gemeinwesen durch einen einzigen Kontrakt als konstituiert an und nimmt als dessen Inhalt die vollständige Aufgabe der natürlichen Rechte an, sein Leitbild ist jedoch ein völlig anderes politisches Gemeinwesen als bei Hobbes. Kommt es Hobbes auf den Beweis an, daß die dauerhafte Errichtung und Erhaltung eines apolitischen bürgerlichen Ordnungszustandes nur beim totalen Verzicht aller Gesellschaftsmitglieder auf die Ausübung ihres Selbsterhaltungsrechts möglich sein kann, so ist für Rousseau eben dieser auch von ihm uneingeschränkt bejahte Verzicht die Bedingung für die Errichtung eines solchen Gemeinwesens, in welchem sowohl materielle Gerechtigkeit wie subjektive Freiheit, jene verstanden im Sinne gemeinwesenkonstituierender Mit- und Selbstbestimmung, verwirklicht ist. Das Gemeinwesen soll sich nach Rousseau auf die echte volonte generale gründen, d. h. auf den "einzigen", "unzerstörbaren", "immer richtigen", bei unegoistischer Einsicht von allen Gesellschaftsgliedern nur bejaht werden könnenden, mithin frei von ihnen gebildeten gemeinsamen Willen. Die volonte generale kann daher auch nicht in ihrer Wirksamkeit rechtlich beschränkt sein, sie staatsrechtlich fesseln zu wollen, erübrigt die von der Identifizierung mit ihr bewirkte Transformation der einzelnen Gesellschaftsglieder zu citoyens. Nach einer berühmten Bemerkung Hegels 17 ist es Rousseaus Verdienst, den Willen als das "Prinzip des Staates" aufgestellt zu haben; damit sagt Hegel, daß im Grunde Rousseau die von ihm zur Begründung seines Staatsmodells noch herangezogene Sozialkontraktidee abstößt, da ja der allgemeine Wille in dem emphatischen Sinne, wie er ihn auffaßt, nicht ein Ergebnis des den Nutzen kalkulierenden Kontrahierens der bürgerlichen Gesellschaftssubjekte sein kann. 15 Seine Toleranzbriefe waren jedoch für Thomasius bei der Befreiung vom Pietismus ein geistiges Erlebnis (Landsberg III I, 93). Bei dem Thomasius-Schüler Ephraim Gerhard (1682-1718; Delineatio iuris naturalis sive de principiis iusti libri tres, 1712) ist die Auffassung des Herrscher-Bürger-Verhältnisses ersichtlich durch Locke bestimmt; zu dessen Beeinflussung durch Locke Klippel 88 f. 16 Zum "liberalen" deutschen Naturrecht zu Ausgang des 18. Ih. Klippei. Eine Fortführung dieser Untersuchung fehlt noch; siehe aber immerhin ders., Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des Naturrechts im 18. und 19. Ih., in: H.E. Bödeker/U. Herrmann (Hg.), Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, 1987, 267ff. und im Zusammenhang mit der Kantwirkung J. Rückert, Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Naturrecht, Rechtsphilosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Ih., in: M.P. Thompson (Hg.), lohn Locke undl and lmmanuel Kant, 1991, 144-215. 17 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258.

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Kants politischer Philosophie liegt Rousseaus ZUfÜckführung des Gemeinwesens auf den allgemeinen Willen zugrunde. Gemäß seiner Vernunftkritik ist Kants Naturrecht als eine "Sozial-Logik" (eh. Ritter) entwickelt. Es kann infolgedessen im Gegensatz zu Wolffs Sozialphilosophie und den Naturrechtskompendien der Wolffschen Schule keine ins Einzelne gehenden Forderungen an das soziale Zusammenleben enthalten, sondern Kant versteht das Gemeinwesen als die von der Vernunft zur Ordnung des Soziallebens zwingend geforderte Rechtsanstalt l8 ; damit war der Rechtsstaatszweck zum Staatsprinzip erhoben. Rousseaus staatstheoretische Entdeckung des allgemeinen Willens wirkte auch noch auf die Dogmatik der ausklingenden Reichspublizistik ein; so suchte noch 1804 Nikolaus Thaddäus Gönner die in der vollen Auflösung begriffene Reichverfassung von der Idee des allgemeinen Willens her als ein einheitliches Rechtssystem zu konstruieren 19.

111. 1. Bis zum Ausgang des 17. Jh. gibt es das ius publicum universale als einen besonderen Wissenschaftszweig noch nicht2o . Vielmehr ist es noch eingelagert in die üblichen Werke zur Politik und in ius generale-Werke wie die Summe des Grotius, in der letzteren ist es weder vom gemeinen römisch-kanonischen noch vom Naturrecht unterschieden. Immerhin taucht schon im 17. Jh. erstmals eine eigene Behandlung des ius publicum universale auf: De iure civitatis libri tres (1674; 31694; 4. letzte Ausg. von Thomasius 1708) des eleganten niederländischen Juristen Ulrich Huber (1636-1694)21. Auch in diesem Werk ist jedoch das ius publicum universale noch nicht bestimmter von anderen Gebieten abgehoben; immerhin ist im Untertitel der endgültigen Ausgabe von 1694 angekündigt, daß die "novam juris publici universalis disciplinam" behandelt werden soll. Nicht nur daß Huber das ius publicum universale noch nicht vom ius gentium unterscheidet, er löst es auch noch nicht vom Recht der Gemeinden und Korporationen ab. Auch die Elementa prudentiae civilis (zuerst 1679 unter dem Titel: Specimen prudentiae civilis; unter dem endgültigen Titel 1690 und 1712) des Gießener Lehrers Johann Nicolaus Hertius (1652-1710)22 sind ein Werk des Überganges von der Politik und gemeinen römisch-kanonischen Jurisprudenz zu profanem Naturrecht und ius publiMetaphysik der Sitten. Erster Teil, §§ 49, 52. Zu Gönners System des Reichsstaatsrechts noch § 9 IV 5. 20 Unrichtig Kuriki (s. Anm. 2) 557, wenn er bereits Epitome iurisprudential publicae universae (1620) des G. Brautlacht (zu diesem Werk oben S. 39) als das erste Werk mit dem Titel ius publicum universale bezeichnet, da Brautlacht unter ius publicum universae durchaus das ius publicum imperii Romani hodiemi versteht. In diesem Sinne schon richtigstellend Stolleis, Gesch. I, 268. 21 Über ihn Stolleis, Gesch. I, 291 ff.; Link 46ff.; beide mit weit. Nachw. 22 Über ihn Pütter, Litt. I, 256; Landsberg III 1,62 f., Noten 38; Stolleis, Gesch. I, 41 f. 18 19

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cum universale, ebenfalls Politicorum pars architectonica de civitate (1664) des unter Hobbes' Einfluß die Idee einer selbständigen Verbandspersönlichkeit entschieden leugnenden Johann Friedrich Horn (1620-1670)23. 2. Introductio in ius publicum universale (1710; 21725) des Justus Henning Boehmer (1674-1749), eines auf mehreren Rechtsgebieten bahnbrechend hervorgetretenen Hallenser Rechtsgelehrten 24 , ist nicht nur das früheste bekannte Werk mit ius publicum universale im Titel, sondern auch bereits ein gelungenes Lehrbuch des neuen Gebietes. Im Anschluß an Thomasius ist daselbst scharf zwischen "Politik" ("Staatsklugheit") und juristischer Staatslehre unterschieden. Die Notwendigkeit der neuen staatstheoretischen Disziplin begründet Boehmer damit, daß zur Behandlung der Staatsprobleme nicht schon das auch Privat- und Völkerrecht umfassende allgemeine Naturrecht ausreicht 25 . Den Sozialkontrakt faßt Boehmer, wie es der in Halle bevorzugten empirisch-historischen Wissenschaftsrichtung entspricht, sowohl als ein historisches Faktum wie als heuristisches Prinzip auf. Bereits er sieht das ius publicum universale als ein die positiven Gesetze ergänzendes Recht an, das es deshalb gibt und geben muß, weil die Gesetze nicht vollständig sind und dies auch nicht sein sollen 26 . Seine Auffassung des ius publicum universale als eines auch im deutschen ius publicum subsidiär anwendbaren Rechts wurde in der Folge allgemein akzeptiert.

Am ehesten teilt sich mit ihm in das Verdienst, dem ius publicum universale zur akademischen Einbürgerung verholfen zu haben, der Salzburger Universaljurist Franz Schmier (1679-1718)27; dessen Jurisprudentia publica universalis (1722) war an der Salzburger Benediktineruniversität für Jahrzehnte das anerkannte Unterrichtswerk zum allgemeinen Staats-, Natur- und Völkerrecht. Bemerkenswert an diesem Werk ist, daß seinem Autor die Erhaltung der bürgerlichen Freiheit als oberster Staatszweck gilt28 , auch Schmier ist jedoch wie nahezu alle deutschen Autoren des 18. Jh. kein Anhänger der Gewaltenteilungsdoktrin. Immerhin betont er, daß jeder Staatsakt rechtmäßig sein muß; als politisches Bildungsmittel veranschlagt er das ius publicum universale offenbar noch nicht so hoch wie jüngere Autoren, so namentlich J.H.G. v. Justi.

23 Über ihn Häfelin 57f.; Gierke, Althusius 191; ders., Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit (Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 4),1913,411 ff. 24 Über ihn Landsberg III 1, 145-149, Noten 89 ff.; W. Rütfen, Das zivilrechtliche Werk Justus Henning Boehrners. Ein Beitrag zur Methode des Usus modemus pandectarurn, 1982; Grass 386 ff.; Link 42 ff., 50 ff.; ADB 3, 79; NDB 2, 391; G. Schubart-Fikentscher in HRG I, 484. 25 Introductio, Halle 1710, 70 ff. 26 Introductio, 374-382. 27 Über ihn P. Pützer in: W. Brauneder (Hg.), Juristen in Österreich 1200-1980, 1987; ADB 32, 32. 28 Hierzu Link 52, der die Auffassung der Freiheitssicherung als des obersten Staatszwecks überhaupt für das frühe ius publicum universale als schon charakteristisch ansieht.

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Das schon im frühen 18. Ih. zunehmende Interesse am ius publicum universale belegen noch andere Schriften, die allerdings nur aus diesem Grunde erwähnenswert sind: Johann Jakob Vitriarius· 29 Oratio de usu iuris publici universalis (1701); Simon Peter Gassers (16761745), des ersten Inhabers des neuen kameralistischen Lehrstuhls in Halle, "Programma, daß das ius publicum ad species iuris divini gehöre und mit dem iure naturae in genauer Verwandtschaft stehe" (1707); Johann Jacob Wahls (Praeses) Differentiae iuris publici universalis et prudentiae civilis (1710); Johann Salomon Brunquells (1693 _1735)30 "Eröffnete Gedancken von dem allgemeinen Staats-Rechte und dessen höchstnützlichen Excolierung" (1721)31.

Diese letztere Schrift eines noch für Göttingen gewonnenen Jenenser Rechtsgelehrten erörtert eine in der Folge immer wieder diskutierte Frage: nach dem Nutzen des ius publicum universale im deutschen ius publicum. So befaßt sich mit dieser Frage zumal der Hallesche Rechtsgelehrte und "Testamentsvollstrecker" (E. Landsberg) Wolffs Daniel Nettelbladt (1719-1791) in der Abhandlung: "Von dem rechten Gebrauche des allgemeinen Staats- und Völkerrechts in dem besonderen Staats- und Völkerrechte der teutschen Nation" (1757)32, d. h. deIjenige Rechtsgelehrte, der wegen der zielstrebigen Anwendung von Wolffs Methode und System als die repräsentative Figur der Aufklärungsjurisprudenz der zweiten Jahrhunderthälfte gilt. Wiewohl sich Nettelbladts Systema elementare universae iurisprudentiae positivae (11749) auch auf das ius publicum erstreckt und derselbe öfter Einzelfragen aus dem ius publicum erörtert hat, hat er nicht in der Geschichte des ius publicum. sondern in der allgemeinen Geschichte der Rechtswissenschaft seinen Platz. Immerhin gibt es unter seinen neuartigen litterärgeschichtlichen Arbeiten einen wegen der überzeugenden Periodisierung bemerkenswerten "Grundriß der gelehrten Historie des teutschen Staatsrechts"33, er widerspricht dem geläufigen Bild von ihm als eines pedantischen Stoffgliederers. 3. Von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 19. Jh. ist die eigentliche Blüteperiode des Allgemeinen Staatsrechts anzusetzen, es steigt nun sein Einfluß auf die Dogmatik des deutschen Staatsrechts. Die Bestrebungen des aufgeklärten Absolutismus, die Verwaltung effektiver zu machen und patrimonialem Einfluß zu entziehen, müssen nun seine Bedeutung für die Entscheidung praktischer Verfassungsrechtsfragen sinnfalliger machen: die Behördenordnung des Territoriums ist kein Gegenstand des Reichsstaatsrechts. Ein Abriß des modemen Aufklärungsstaats29 Über ihn oben S. 75 Anm. 19. 30 Über ihn Landsber.;> III 1, 175ff.,Noten 120f. 31 Weitere der neuen Disziplin zuzurechnende Schriften aus der ersten Iahrhunderthälfte bei Link 49 Anm. 25; Stolleis. Gesch. I, 294. 32 Wiederabgedruckt in: Erörterungen einiger einzelner Lehren des teutschen Staatsrechts, Halle 1773. Über Nettelbladt Landsberg III 1,288-299, Noten 195-199; W Neusüß. Gesunde Vernunft und Natur der Sache, 1970, 52f.; Willoweit in: HRG III, 951 f.; speziell zu Nettelbladts ius politiae und vernünftigem Staatsrecht Preu 156 ff. u. ö. 33 In den von Nettelbladt herausgegebenen Hallischen Bey trägen zu der juristischen Gelehrten-Historie 11, Halle 1758.

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rechts ist Johann Stephan Pütters und Gott/ried Achenwalls (1719-1772)34 erfolgreiches kleines Kompendium Elementa iuris naturae (1750; ab der 2. Aufl. 1753 allein von Achenwall), die gelungene Darstellung der Grundzüge der vernunftrechtlichen Sozialtheorie. Ein größerer "Leitfaden in das Allgemeine Staats- und Völkerrecht" (1780) des Freiburger und Prager Rechtslehrers Joseph Anton Stephan von Riegger (1742-1795) steht hinter dieser Gemeinschaftsarbeit Pütters und Achenwalls, dem Propädeutikum für ihre Vorlesungen, mit Abstand zurück. In der an Montesquieu geschulten modemen essayistischen Abhandlung des bekannten Kameralisten Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717-1771)35 "Die Natur und das Wesen der Staaten" (1760) ist das allgemeine Staatsrecht mit staatsbürgerlicher Bildungsabsicht vorgetragen. Den Spitzenplatz in der allgemeinen Staatsrechtsliteratur der jüngeren Aufklärung nehmen zwei Lehr- und Handbücher des Professors der Rechte in Jena und noch kurz an der Stuttgarter Hohen Karlsschule Heinrich Gott/ried Scheidemantel (1739 _1788)36 ein: "Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehmsten Völker" (3 Tle. 1770-73); "Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform" (1775); das letztere Werk ist mehr als eine gedrängte Fassung des größeren Werkes. In beiden Werken bekundet sich eine von Montesquieu beeinflußte empirisch-historische Wissenschaftsgesinnung, die Scheidemantel mit Justi teilt37 • So sucht er die staatsrechtlichen Grundsätze nicht mehr nur aus apriorischen Vernunftprinzipien, sondern auch aus geschichtlich-kulturellen Vergleichen zu gewinnen; damit beschreitet er frühzeitig den Weg zu einer empirischkulturellen Verfassungslehre, d. h. er vereinigt nach Schmidt-Aßmann die deduktive Methode des Vernunftrechts mit der historisch-induktiven des Reichsrechts. Insofern wandelt sich schon bei ihm das natürliche Staatsrecht von einer deduktivnormativen zu einer auch empirischen, nämlich staatswissenschaftlichen und verfassungssoziologischen Disziplin, es übernimmt, zumal da Scheidernantel auch Fragen der Staatspraxis erörtert, zu einem Gutteil Funktionen der älteren Politik. Dagegen ist die umfängliche Arbeit des österreichischen Aufklärers, Prinzenerziehers und Gesetzgebers Karl Anton (von) Martini (1726-1800) "Erklärung der Lehrsätze über das allgemeine Staats- und Völkerrecht" (2 Tle. 1791; 1. T.: AllgeÜber ihn noch Anm. 44. Über ihn aus dem neueren Schrifttum: P. Schiera, Il Cameralismo et l' Asso1utismo tedesco. Dall'arte di Governo alle Szienze dello Stato, Milano 1968,425 ff.; H. Maier 181 ff.; J. Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, 1977, 229-257; U. Becher, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, 1978, 78-90; H. Dreitzel, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: H.E. Bödeker /U. Herrmann (s. Anm. 16) 158 ff.; M. Obert, Die naturrechtliche "politische Metaphysik" des J.H.G. v. Justi (1717-1771),1992; speziell zur Staatstheorie Th. Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, in: Aufklärung 3 (1988) 53 ff., 62 ff.; NDB 10, 707. 36 Zur Biographie eh. Weidlich, Biographische Nachrichten von den jetztlebenden Rechtsgelehrten in Teutsch1and, Halle 1781-85, Th. 2, 274-277; ADB 30,708. 37 Zu Scheidemantels Ansatz vorzüglich Schmidt-AßT1Ulnn 45 ff. 34

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meines Staatsrecht)38 noch ein streng aus vemunftrechtlichen Oberbegriffen und -sätzen gewonnenes Staatsrecht, entworfen in methodischer Abhängigkeit von Wolf! und mit etatistischer Reformabsicht. Der kleinere Vorlesungsgrundriß "Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere" (1793) des Göttinger Staatswissenschaftlers und Stammvaters der politischen Publizistik in Deutschland August Ludwig (von) Schlözer (1735 -1809)39 zeichnet sich durch klaren Aufbau, gelungene Definitionen und die Heranziehung des allgemeinen Staatsrechts als letzter Beurteilungsmaßstab bezüglich aller Staatsverfassungsfragen aus, Schlözer schwebt bereits die konstitutionelle Monarchie als politisches Leitbild vor. Daß er in diesem Grundriß, wie Georg Jellinek behauptet40 , "als der erste deutsche Staatsschriftsteller Staat und Gesellschaft zu unterscheiden getrachtet" habe, stimmt zwar damit überein, daß er sich selbst diese Unterscheidung als Verdienst anrechnet41 , ist aber doch deshalb wohl einzuschränken, da er lediglich die beiden abstrakten Grundformen der herrschaftslosen bürgerlichen Gesellschaft (societas civilis) und der "Stats-Gesellschaft" (societas cum imperio) unterscheidet, im übrigen setzt er ausdrücklich diese Unterscheidung als bekannt voraus 42 . Von den allgemeinen Staatsrechtskompendien aus der zweiten Hälfte des 18. Jh. ist noch der ebenfalls kürzere "Grundriß des allgemeinen, deutsch- und baierischen Staatsrechts" (1769) des Schöpfers der bayerischen Kodifikationen vor der modemen bayerischen Staatsgründung Wiguläus Xaver Aloys (Frhr. von) Kreittmayr (1705-1790)43 zu erwäh38 Lehrbegriff des Natur-, Staats- und Völkerrechts, 4 Bde., Wien 1783/84, geht voraus. Über Martini H. v. Voltenelli, Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jh., HZ 105 (1910) 70 ff.; H. Schlosser in Brauneder (s. Anm. 27) 77 ff. 39 Zur Biographie F. Fürst, August Ludwig v. Schlözer, ein deutscher Aufklärer im 18. Jh., 1938; J. Karle, August Ludwig v. Schlözer. An Intellectual Biography, New York 1972; ausführlich schon F. Frensdorff in ADB 31, 567. Zu den politischen Anschauungen Becher (s. Anm. 35) 129ff., 185ff.; W Hennies, Die politische Theorie August Ludwig v. Schlözers zwischen Aufklärung und Liberalismus, 1985; R. Saage, August Ludwig Schlözer als politischer Theoretiker, in: H.-G. Herrlitz/H. Kern (Hg.), Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft, 1987, 13 ff. 40 Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Neudr. 1960,85. 41 In der Vorrede heißt es (S. VI): "Der Hauptteil dieses ersten Bändchens, über StatsRecht und RegierungsFormen (S. 93 -155), enthält nichts Neues; falls nicht die Deutlichkeit und Ordnung im Vortrag dadurch etwas gewonnen hat, daß bürgerliche und StatsGesellschaft (S. 4 u. 63) voneinander getrennt, und eine Reihe von Ideen, ohne die kein erwiesenes Statsrecht denkbar ist, in eine eigene Wissenschaft (S. 29-78) geformt worden ist". 42 Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793,4 N. 2. Wenn Klippel 204 die Trennung von Staat und Gesellschaft schon dem jüngeren "liberalen" Naturrecht zu Ausgang des 18. Jh. als Verdienst anrechnet, so ist dies wohl nur im Sinne dieses von Schlözer hervorgehobenen allgemeinen Gattungsunterschiedes richtig, also nicht im Sinne geschichtlichen Entwicklungsdenkens wie in Hegels Rechtsphilosophie und schon in der schottischen Sozialtheorie vor 1800. 43 Über ihn R. Pi/oty, Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechts-Literatur, in: Staatsrecht!. Abhandlungen (Festg. Laband), I, 1908, 209 ff.; H. Schützenberger; Die Staatsauffassung in der bayerischen Staatsrechtsliteratur von Kreittmayr bis Moy, Diss. phi!. München 1927; H. Rall, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung, 1952, 29-67 u.ö.;

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nen, nämlich da daselbst erstmals das allgemeine Staatsrecht die Einleitung zu einer Darstellung sowohl des Reichsrechts wie eines bedeutenderen Territorialstaatsrechts bildet. Üblich wird jedoch die Aufnahme der allgemeinen Staatsrechtslehre in ein positives Staatsrechtssystem als dessen Einleitung oder auch als eigene Abteilung erst im 19. Ih. 4. Die im frühen 18. Ih. sich abzeichnende Verdrängung der Politik durch Naturrecht und Allgemeines Staatsrecht konnte die "Staatsklugheits"-Fragen nicht auf die Dauer wissenschaftlich heimatlos machen. Sie erhielten vielmehr bald einen neuen wissenschaftlichen Ort, nämlich zum einen in der Kameralistik, zum anderen in einer empirisch-komparativen Politikwissenschaft, der "Staatsgelehrtheit", "Staatswissenschaft" oder "Statistik"; deren Pflege nahm man sich vorzüglich in Göttingen an. Der dortige Begründer des staatswissenschaftlichen Studiums war nicht erst Schlözer; sondern waren schon Johann Jakob Schmauß und Achenwall, der frühe Pionier einer vergleichenden Staats- und Regierungswissenschaft44 • Bei Schlözer bildet das allgemeine Staatsrecht die Propädeutik der Staatswissenschaft oder Politik ("Statsgelartheit"), von deren anderen Teilen legte er allerdings nur die "Theorie der Statistik" (1804) noch vor. Die schon für die zweite Hälfte des 18. Ih. nachweisliche historische Relativierung der allgemeinen Staatsrechtslehre ist in einer Geschichte der Wirkung Montesquieus in Deutschland nicht zu übergehen45 . Montesquieus (1688 -1755) "Esprit des Loix" (1748) beeindruckte seine deutschen Leser nicht nur mit der facettenreichen Erörterung des alten Typus der Mischverfassung und gemäßigten Regierung, für den die alte Reichsverfassung nicht nur von deutschen Autoren so gern als beispielhaft angeführt wurde, sondern eher noch mehr mit der neuen Zusammenschau von Recht, Geschichte, Kultur und Geographie; damit war die Sozial- und Verfassungstheorie um bisher noch vernachlässigte oder überhaupt übersehene Aspekte St. Gagner; Die Wissenschaft des gemeinen Rechts und der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, in: H. Coing/W. Wilhelm (Hg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jh., I, 1974, 1-118; Frhr. v. Kreittmayr (1705 -1790). Ein Leben für Recht, Staat und Politik. Festschr. hg. im Auftrag d. Histor. Vereins f. Oberbayern von R. Bauer u. H. Schlosser, 1991; M. Kobler in HRG 11,1183 f.; ADB 12, 102; NDB 12,741. 44 Zu seiner staatswissenschaftlichen Konzeption P. Pasquino, Politisches und historisches Interesse. Statistik und historische Staatslehre bei Gottfried Achenwall (1719-1772), in: H.E. Bödeker I G.G. Iggers /J.B. Reill (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jh., 1986, 144ff.; J. Brückner (s. Anm. 35) 257ff. (vornehmlich zu: Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, 1761); U. Becher (s. Anm. 35) 98ff; überholt H.H. Solf, Gottfried Achenwall. Sein Leben und Werk, Diss. iur. Göttingen 1938 (maschr.). 45 Zur Wirkung Montesquieus in Deutschland R. Vierhaus, Deutschland im 18 Jh., 1987, 9-32. Zum Einfluß auf die Rechtswissenschaft der Spätaufklärung Thieme (s. Anm. 12) 211 ff; H. Marx, Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache bei den Göttinger Germanisten Johann Stephan Pütter und Justus Friedrich Runde, Diss. iur. Göttingen 1967; zum Einfluß auf Pütter WEbei, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, 1975,77 ff.

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bereichert. Auch andere Werke zeitgenössischer westeuropäischer Autoren bereiteten die Trendwende vom abstrakt-allgemeinen zum geschichtlich-konkreten Staats- und Verfassungsdenken vor; so die als Kultur- und Entwicklungsgeschichte entworfenen Geschichtswerke Voltaires, so die ebenfalls in die Richtung einer synchronistischen Epochenbehandlung gehenden, aber eher fortschrittskritischen historischen Werke der Engländer und Schotten (Hume, E. Gibbon, W. Robertson); in Deutschland lenkte erstmals der Osnabrücker Justus Möser (1720-1794) die Aufmerksamkeit auf die hierzulande noch kaum mit Bewußtheit erkannten Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Strukturen und politischer Verfassung. So war der Niedergang der jungen Autorität des Allgemeinen Staatsrechts recht eigentlich schon vor Ausgang des Aufklärungsjahrhunderts besiegelt. 5. Den dogmatischen Ertrag der allgemeinen Staatsrechtsliteratur der Aufklärung für die späte Reichspublizistik können wir, solange unsere Betrachtung des älteren deutschen Staatsrechts noch nicht abgeschlossen ist, nur vorläufig andeuten. Ganz zweifelsohne haben profanes Naturrecht und ius publicum universale wesentlich zur Ausbildung der staatlichen Verbandspersönlichkeitsidee beigetragen, auch wenn die Auklärungspublizistik noch nicht diese Idee nach der "Innenseite" des Staates hin durchführt, d. h. der Begriff des Staatsorgans ihr noch fehlt 46 • Immerhin gehört zu den der naturrechtlichen Staatstheorie sich verdankenden bleibenden Lehren eine so eminent praktisch wichtige wie die von der durch einen Herrscherwechsel nicht unterbrochenen staatlichen Rechtskontinuität, sodann die über die herkömmliche Fiskuslehre grundsätzlich hinausgehende Vertiefung des Unterschiedes zwischen der privaten Rechtssubjektivität des Herrschers und seinen öffentlichen Funktionen, schließlich die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Korporationen. Zumal die Herausarbeitung dieser letzteren, für das Reichsstaatsrecht nicht aktuellen Unterscheidung nimmt in der allgemeinen Staatsrechtsliteratur der Aufklärung einen breiten Raum ein47 , damit war das öffentliche Recht um ein bedeutendes Stück ins Privatrecht erweitert. Allerdings dürfte auf dem Gebiet der Begriffsbildung die Wissenschaft der deutschen Publizisten von den Lehren des Aufklärungsstaatsrechts letztlich nur begrenzt befruchtet worden sein, nämlich einfach da die Publizisten schon immer all46 In diesem Sinne die Beurteilung der naturrechtlichen Staatspersönlichkeitstheorie bei Häfelin 80 ff. 47 So gliedert schon J.H. Boehmer aufgrund der staatlichen Aufsichts- und Kirchenhoheit die außerstaatlichen collegia in das ius publicum universale ein; vg!. Introductio in ius pub!. univ., 11 c. 4 u. 5. Nettelbladt baut in seinem Naturrechtssystem (Systema elementare universae jurisprudentiae naturalis, 5 Halle 1785) die Sozietätslehre zielstrebig aus, in der 1. Aufl. (1749) gebraucht er die Begriffe societas publica und societas privata noch nicht. Die an Ergiebigkeit unübertroffene Inforrnationsquelle zur Korporations- und Sozietätslehre des Naturrechts des 17. und 18. Ih. ist Gierkes Genossenschaftsrecht IV (s. Anm. 23); anschauliche Belege auch bei H. Kirchner, Beiträge zur Geschichte der Entstehung der Begriffe "öffentlich" und "öffentliches Recht", Diss. iur. Göttingen 1948 (maschr.); neuerdings tiefdringend Bieback 29 - 42.

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gemeine staatsrechtliche Lehren aufgenommen und konkretisiert hatten. Höher ist daher wohl der Einfluß der allgemeinen Staatsrechtssysteme auf Methodik und Darstellungsstil der Arbeiten der späten Reichspublizisten zu veranschlagen, wir kommen darauf zurück. Daß das "allgemeine Staatsrecht" zur Schließung von Lücken im deutschen Staatsrecht verwendet werden darf, war im späten 18. Ih. durchweg anerkannt. Johann Stephan Pütter trägt nur eine allgemein gebilligte Ansicht vor, wenn er, und zwar unter positivistischer Berufung auf die "Sparsamkeit der Reichsgrundgesetze in allgemeinen Grundsätzen,,48, einen nicht schmalen Gebrauch des allgemeinen Staatsrechts im deutschen Staatsrecht befürwortet; auch Johann Jakob Moser, keineswegs ein Freund desselben, nahm es noch unter die Hilfsquellen des deutschen Staatsrechts auf9. Um 1800 wird allerdings bereits auch vor dessen "Mißbrauch" im deutschen Staatsrecht gewarnt50 , in Justus Christoph Leists kleinerem "Lehrbuch des teutschen Staatsrechts" (1803) kommt es unter den deutschen Staatsrechtsquellen nicht mehr vor. Vor der Mine des 18. Jh. wurde das allgemeine Staatsrecht wohl mehr nur als Hilfsmittel, nicht auch als eine Quelle des deutschen Staatsrechts veranschlagt51 . Bei all seiner bei den jüngeren Publizisten der Aufklärung verbreiteten Hochschätzung suchten diese von seinen Grundsätzen und Lehren doch eher nur für die bessere Organisation ihres Stoffes, nicht auch für die Entscheidung konkreter Rechtsfragen Gebrauch zu machen, d. h. in den spezifisch verfassungsrechtlichen Aussagen blieben die Publizisten nach wie vor mehr von ihrem in den Reichsgesetzen, den Staatsverträgen, dem Reichsherkommen und ihren eigenen Darstellungen vorliegenden Rechtsstoff abhängig als von den stoffneutralen Aussagen der allgemeinen Staatsrechtstheorie52 .

6. In der akademischen Lehre fand das ius publicum universale nach dem Beispiel des Naturrechts seinen Platz in der juristischen Fakultät. Dies entsprach der üblichen Haupterwartung an seinen Vortrag, nämlich als Einführung ins deutsche Staatsrecht zu dienen. Das ius publicum universale war aber immer ein zu schmales, vom ius naturae et gentium und vom deutschen ius publicum zu wenig abgegrenztes Gebiet, als daß es irgendwo die alleinige Vertretung durch eine ordentliche Professur erreicht hätte. Wie auch sonst ein Randgebiet, wurde es vom Vertreter eines größeren Lehrgebietes mitbetreut, so vom Vertreter des ius naturae et gentium oder des ius publicum. Diese beiden Verbindungen können jedoch nicht ohne weiteres als typisch gelten; so wurde in Göttingen das ius publicum universale anfangs von J.J. Schmauß vorgetragen, d. h. von dem zur Vertretung der Reichshistorie berufenen Lehrer, der indes auch über Naturrecht las, sodann von 48 Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte I, Göttingen 1777,9. 49 Zu seiner Quellenlehre des deutschen Staatsrechts Schömbs 230ff. und unten § 9 I 3. 50 Siehe J.L. Klüber, Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des teutschen Staatsrechts, Erlangen 1803,69. 51 Nachw. bei Nettelbladt, Erörterungen (s. Anm. 32) 26, 28; auch bei Rathjen 80 f. Nach J.c. Spener, Teutsches Jus publicum oder Hl. Röm. Reichs vollständige Staats-Rechtslehre, Frankfurt a.M./Leipzig 1723,28 konnte das ius publicum universale erst nach 1648 wegen der nun "mit so vielen herrlichen Gesetzen prangenden Gestalt der Reichs-Rechte" eine hohe Bedeutung für das Studium der letzteren erlangen. 52 Darauf weist hin Willoweit 348.

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Achenwall, schließlich vom Nachfolger in dessen Lehramt Schlöze,-53; diese für Göttingen kennzeichnenden Kombinationen bestätigen das für Göttingen typische Interesse an einer engen Inbeziehungsetzung des allgemeinen Staatsrechts zu Staatswissenschaft und Politik.

Die erst im Verlauf des 18. Jh. sich modernisierenden katholischen Universitäten räumten gewöhnlich dem ius publicum universale bereitwilliger die Vertretung in der Lehre als die protestantischen ein. So wurde an der Salzburger Benediktineruniversität schon 1718 eine für das Allgemeine Staats- und Völkerrecht bestimmte Lehrkanzel eingerichtet54 ; die Innsbrucker Juristenfakultät erhielt 1733 zur schon bestehenden Lehrkanzel für das ius publicum eine fünfte für Naturrecht und Reichshistorie und damit auch für die allgemeine Staatsrechtslehre 55 ; für Wien führte allerdings erst 1753 die Theresianische Reform mit der neu geschaffenen Lehrkanzel für Naturrecht auch die obligatorische Vorlesung über das allgemeine Staatsrecht ein56 .

IV. 1. Die Deutsche Aufklärung hat als eine Bewegung zur Erneuerung der Universität begonnen. Sofern ein bestimmtes Ereignis als ihr Gründungsereignis genannt werden kann, ist dies nicht das Erscheinen eines epochemachenden wissenschaftlichen Werkes, sondern die Gründung einer gelehrten Anstalt: der 1694 zu Halle eröffneten Friedrichs-Universität57 . Mit ihr legte sich der aufsteigende kurbrandenburgische Staat - sein Herrscher nahm 1701 wegen des nicht zum Reich gehören53 l.St. Pütter, Versuch einer akademischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-AugustUniversität zu Göttingen I, Göttingen 1765,285; 11, 1788,319. 54 P. Pützer, Reformen und Reformpläne des Lehrbetriebes an der alten Salzburger Juristenfakultät gegen Ende ihres Bestandes, in: Festschr. Nikolaus Grass, 11, 1975, 288; ders., Aspekte der Wissenschaftspflege an der alten Salzburger Juristenfakultät, in: Universität Salzburg 1622-1962-1972 Festschr., 1972, 121; überhaupt zur alten Universität Salzburg L. Hammennayer, Salzburg und Bayern im 18. Jh. Prolegomena zu einer Geschichte ihrer Wissenschafts- und Geistesbeziehungen im Spätbarock und in der Aufklärung, in: Mitteilungen d. Ges. f. SalzburgerLandeskunde 120/121 (1981) 129ff. 55 A.R. v. Wretschko, Die Geschichte der Juristischen Fakultät an der Universität Innsbruck 1671-1904, 1904, 103 ff., 117; P. Pützer in Universität Salzburg Festschr. (s. Anm. 54) 134. 56 W.E. Wahlberg, Gesammelte kleinere Schriften, 11, 1877,23 f.; R. Kink, Geschichte der Kaiser!. Universität zu Wien, Bd. 1 T. 2, 1854,273 ff.; Kuriki (s. Anm. 2) 558. 57 Zur Gründungsgeschichte w. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde., Berlin 1894. Aus dem neueren Schrifttum: Hammerstein, Jus 148 ff. sowie ders. in: H. Rössler/G. Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand, 1400-1800 (Büdinger Vorträge 1966), 1970, 145 ff.; auch ders., Die deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung, ZHF 10 (1983) 73 ff.; N. Hinske (Hg.), Halle und die deutsche Aufklärung (Wolfenbütteler Studien z. Aufk!. 15), 1989. Zum Wirken von Thomasius G. Schubart-Fikentscher, Christian Thomasius. Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der deutschen Aufklärung, 1977.

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den Herzogtums Preußen den Königstitel an - eine neue lutherische Bildungsanstalt in der nächsten Nähe zu den angesehenen sächsischen Hochschulen Wittenberg, Leipzig und Jena zu. Die Gründung der neuen Universität, die eine nicht florierende Ritterakademie ablöste und für den Wegfall eines Hofes zu entschädigen hatte, betrieb jedoch nicht primär der Landesherr und sein oberster Staatsdiener. Sondern ihr Gründungsmotor und erster Lehrer war der aus dem lutherisch-orthodoxen Leipzig entwichene Christian Thomasius; er zog sogleich andere unorthodoxe Gelehrte an die neue Anstalt, unter ihnen den Erneuerer der gemeinen Jurisprudenz Samuel Stryk (1640-1710), und lenkte durch Ratschlag und Zuspruch die Entwicklung jüngerer, ihre Lehrtätigkeit an der neuen Anstalt aufnehmender Kräfte in die produktive Bahn. Sehr im Unterschied dazu war die andere einflußreiche Universitätsgründung der Aufklärung, die Göttinger Georgia Augusta (Eröffnung 1737), das sorgfältig geplante Werk eines wissenschaftlich gebildeten Administrators und Staatsmanns, des hannoverschen Ministers Gerlach Adolph Frhr. von Münchhausen; er wirkte auch in der langen Zeit seiner Tätigkeit als Minister und Universitätskurator zielstrebig auf die ihm erwünschte Entwicklungsrichtung der neuen Anstalt ein 58 . Die bei der Gründung der Fridericiana vorschwebenden Bildungsziele können nicht ohne eine wenigstens kurze Bemerkung gelassen werden 59 . Thomasius und seine Mitstreiter wünschten sich die neue Anstalt in allererster Linie als eine solche der Lehrfreiheit und Toleranz. Zufriedenstellender wurde dieses Ziel allerdings erst im konzilianten Göttingen erreicht, und zwar hauptsächlich dank der dort eingehaltenen Ablehnung der Berufung von "Streittheologen" und Bevorzugung der Kirchengeschichte vor der Dogmatik. Desweiteren strebten die Universitätsreformer die Öffnung der Universität zur Erfahrungswelt an, was institutionell derart bewerkstelligt wurde, daß erstmals in Halle die älteren artes-Fächer Rhetorik, Dialektik und Poetik zugunsten neuer nützlicher Wissenschaften aufgehoben bzw. mit ihnen vereinigt wurden. Außer dem ius publicum waren die in Halle in den Lehrplan bald aufgenommenen neuen Fächer das allerdings auch schon an anderen Universitäten im Reich eingeführte ius naturae et gentium, die als Lehrfach noch neue Reichshistorie und die nicht weniger als Lehrfach neue Kameralistik. Schließlich sollten, was am schwierigsten durchzusetzen war, die akademischen Gebräuche und Statuten durchgreifend reformiert werden; immerhin war das in dieser Hinsicht Allerwichtigste, nämlich daß das Deutsche zur allgemeinen Unter58 Zu Gründung und Geschichte der Georgia Augusta aus einem reichen Schrifttum W. Buff, Gerlach Adolph Frh. von Münchhausen als Gründer der Universität Göttingen, 1937; G. v. Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen, 1937; E. Gundelach, Die Verfassung der Göttinger Universität, 1955; Hammerstein, Jus 309 ff.; G. Meinhardt, Die Universität Göttingen, 1977; Luigi Marino, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770-1820, 1995. Über die Anfänge des Staatsrechts in Göttingen § 9 Anm. 28. 59 Zu diesen Zielen Hammerstein, Jus 155 ff.; H.E. Bödeker, Das staatswissenschaftliche Fächersystem im 18. Jh., in: R. Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, 1985, 143ff., 157ff.

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richts- und Wissenschaftssprache wurde, in verhältnismäßig schneller Zeit mit einer auf ganz Deutschla:nd übergreifenden Wirkung erreicht, und zwar vorzüglich dank des von Thomasius gegebenen Beispiels (1687 erste Vorlesung in deutscher Sprache zu Leipzig). Die mit der Gründung der neuen Reformuniversität in Gang gesetzte Einführung neuer Fächer in die akademische Lehre trug nicht nur dem Interesse des Landesherrschers an Staatsprestige und an einer praxisnahen akademischen Ausbildung seiner Staatsdienerschaft Rechnung. Sie entsprach auch dem bürgerlichen Geltungswillen der Führer der Universitätsbewegung; mit Recht wird Thomasius als der einzigartige frühe deutsche Vorkämpfer bürgerlicher Emanzipation gefeiert. Sein Kampf gegen das zünftige Gelehrtentum und die erstarrte lateinisch-theologische Ausbildung war ein Kampf überhaupt gegen Dunkelmännertum und Bevormundung; seine Weltklugheitslehre, das neuartige Kernstück seiner Sittenlehre, zielte in letzter Linie auf die Verbürgerlichung des neuen höfischen Vornehmheitsideals im Sinne seiner Vermählung mit den bürgerlichen Werten der Wissenschaft und Bildung; sein Eintreten für eine humane Strafjustizreform machte ihn wie Voltaire dauerhaft über die gelehrte Welt hinaus bekannt. Schon vor der Jahrhundertmitte war der Niedergang der zeitweise erfolgreichen ständischen Konkurrenz der neuzeitlichen Universität, der Ritterakademien 60 , entschieden. Eine erneuerte wissenschaftliche Bildung sollte den Abbau der ständischen Schranken in der deutschen Gesellschaft einleiten. Allerdings erwuchs der sich erneuernden Universität gleichzeitig die mit Leibniz' Namen so fest verbundene wissenschaftliche Konkurrenz der für Deutschland neuartigen Akademien (Gründung der Berliner Akademie 1700). Deswegen kann die verändernde Wirkung der Universitätsreform aber nicht angezweifelt werden. Thomasius war zwar der Vorkämpfer der in Halle neu in den Lehrplan aufgenommenen Fächer, er nahm sich jedoch ihrer Ausarbeitung mit Ausnahme des Naturrechts nicht selbst an; so gibt es von ihm weder zur Reichshistorie noch zum ius publicum universale noch auch zum ius publicum ein systematisches Lehrwerk. Zu Einzelthemen des ius publicum verfaßte allerdings der professionelle Jurist Thomasius eine Reihe Dissertationen61 , die jedoch übergangen werden können, da keine davon als beispielgebend für die Einlösung der von Thomasius angemeldeten neuen wissenschaftlichen Forderungen, zumal der Forderung nach eigenen Quellenstudien, gelten kann. Trotz dieser unbestreitbar schwachen professionellen Leistung hat Thomasius auf Stil und Ansichten der Publizisten nachhaltig gewirkt62 . So hat recht erst seine Kritik an den aristotelischen Staatsformkategorien 60 Zur Geschichte der Ritterakademien N. Conrads, Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jh., 1982. 61 Sie sind angeführt bei Pütter, Litt. I, 327. Umfassende Thomasius-Bibliographie einschließlich des Sekundärschrifttums von R. Lieberwirth: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk, 1955. 62 Abgewogen zu den rechtswissenschaftlichen Verdiensten Hammerstein, Jus 71 ff.

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als inhaltsleer deren kanonisches Ansehen zerstört, also der nicht enden wollenden Debatte der Publizisten über die Staatsform des Reiches die theoretische Grundlage weggezogen; sein beharrlicher Kampf gegen das Übergewicht des römischen Rechts hat zwar nicht erst das ius publicum von der Vorherrschaft der gemeinen römisch-kanonischen Jurisprudenz befreit, damit war aber doch erst Conrings realistische Ansicht von der deutschen Rechtsentwicklung und seine Forderung, aus dem deutschen ius publicum Elemente des spätantiken Staatsrechts tunlichst fernzuhalten, zu durchdringender Anerkennung gebracht. 2. Die in Halle eingeleitete Herauslösung der deutschen Verfassungsgeschichte aus der Universalgeschichte und Erhebung zum neuen Fach Reichshistorie war das Werk von Schülern des Thomasius. Die von jenen zu ihrem Panier gemachte neue historische Fachdisziplin war schon vor der Mitte des 18. Jh. als eine für das Studium des deutschen ius publicum völlig unentbehrliche Hilfswissenschaft allgemein anerkannt63 . Damit hatte der von Thomasius gegen den eklektischen Usus modemus geführte Kampf wenigstens außerhalb der zivilistischen Lehre doch einen durchschlagenden Erfolg erzielt. Für die Erörterung der nun freilich zusehends an Interesse verlierenden forma imperii-Frage war fortan die neue historische Fachdisziplin der gemäßere Ort als das ius publicum. Als der erste, der für das neue Fach Reichshistorie eine Lanze gebrochen hat, kann allerdings nicht ein Hallenser Gelehrter gelten, eher kommt dies Verdienst dem Nachfolger Pufendorfs in der Heidelberger natur- und völkerrechtlichen Professur und Professor primarius an der Viadrina Heinrich (von) Cocceji (16441719)64 zu. Dieser Vertreter einer protestantischen Naturrechtslehre nimmt in seinem Prodromus lustitae Gentium (1719) den Voluntarismus von Hobbes und Pufendorf in die aristotelisch-christliche Naturrechtslehre auf: als das Prinzip des natürlichen Rechts gilt der Wille Gottes, sein Befehl zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen65 . In seinem erfolgreichen Kompendium luris publici prudentia (1695; 51723) lehnt allerdings Cocceji die Zurückführung des ius publicum auf den göttlichen Willen bzw. die Vernunft ab: "Quod in caeteris juris disciplinis ratio praestat, id in jure publico Germaniae historia ,,66. Die damit proklamierte Erhebung der Geschichte zur obersten Urteilsinstanz im deutschen ius publicum war freilich für die Publizisten nicht neu. Coccejis publizistisches Kompendium ver63 Zur Reichshistorie Hammerstein in: Aufklärung und Geschichte (s. Anm. 44) 82-104 sowie HRG IV, 608 ff.; aus dem älteren Schrifttum C. Antoni, Der Kampf wider die Vernunft. Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Freiheitsgedankens, 1951 (ital. Ausgabe 1942), 89ff. 64 Über ihn Pütter, Litt. I, 284ff.; Landsberg III 1, 112 ff., Noten 65 ff.; Hammerstein, Jus 181 ff.; ADB 4, 372; NDB 3, 300. Der Sohn Samuel von Cocceji (1679-1755) wirkte als Reformator der preußischen Rechtspflege unter Friedrich 11. 65 Zum christlichen Natur- und Völkerrecht Coccejis H.-P. Schneider, Justitia universalis. Quellenstudien zur Geschichte des "christlichen Naturrechts" bei Gottfried Wilhelm Leibniz, 1967, 223 ff. 66 Juris publici prudentia, Frankfurt/O. 1695, Praefatio.

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dient auch weniger deswegen als wegen der dort vorgetragenen Herleitung des Ursprungs des Reiches aus dem Zusammenschluß von sechs deutschen Stammesherzogtümern Erwähnung. Mit dieser Reichsentstehungstheorie war der weltlichen kurfürstlichen Landesherrschaft ein höheres Alter als Kaiser und Reich, auch als der Landesherrschaft eines sonstigen Reichsstandes attestiert. Beifall hat diese phantastische, der Anerkennung des kurfürstlichen Wahlrechts erst durch die Goldene Bulle widersprechende Konstruktion des Ursprungs der Verfassung des wahlmonarchischen Reiches wohl kaum gefunden67 • Immerhin war damit dem Verständnis des ius publicum eine Vorstellung vom Gesamtverlauf der deutschen Verfassungsgeschichte zugrunde gelegt. 3. Führende Figur der in Halle aufblühenden Reichshistorie ist Johann Peter (von) Ludewig (1668-1743)68, nach anerkanntem Urteil der prototypische gelehrte Partei publizist. Coccejis verwegene Konstruktion des Ursprungs des Reiches wird von ihm unbedenklich übernommen, nur daß er die germanischen Urstämme, aus denen das Reich hervorgegangen sein soll, noch auf sieben erweitert, sie dient ihm zur Untermauerung der über die übrigen Reichsstände herausragenden Stellung des Hauses Brandenburg-Preußen. Von Ludewigs zahlreichen Streitschriften sollte wenigstens eine Schrift erwähnt werden: "Rechts-gegründetes Eigenthum des kgl. Chur-Hauses Preußen und Brandenburg auf die Herzogthümer und Fürstenthümer Jägerndorff, Liegnitz, Brieg, Wohlau und zugehörige Herrschaften in Schlesien" (1741), nämlich da sie zur Rechtfertigung der Ansprüche auf Schlesien des jungen Preußenkönigs Friedrich angefertigt worden ist. Nach Studium der Theologie und der Humaniora in Tübingen und Wittenberg (dort auch der Jurisprudenz) übernahm Ludewig 1695 in Halle eine Professur für Philosophie, danach den Lehrstuhl für Geschichte und stieg, nach der Promotion zum Doctor iuris, 1705 zur juristischen Professur auf; der engagierte Einsatz mit der Feder für die Interessen des brandenburgisch-preußischen Hauses wurde mit Anerkennungen und Auszeichnungen des zur Selbstüberschätzung neigenden Gelehrten, so außer mit dem vom Kaiser verliehenen erblichen Adel mit der Ernennung zum preußischen Geheimrat und zum Kanzler der an Brandenburg übergegangenen Regierung Magdeburgs, überreich belohnt. Von den Hauptschriften sind zu erwähnen: Germania Princeps (1702; 21711), der erste Versuch eines Handbuchs deutscher Staaten; "Entwurf der Reichs-Historie" (1707) und die zweiteilige "Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle" (1716/19); von sonstigen literarischen Aktivitäten die Herausgabe der Consilia Juris consultorum Halensium (2 Bde. 1733/34).

Als das Axiom seiner publizistischen Deduktionen gilt es immer Ludewig, daß auch die heutige teutsche Verfassung durch das festgelegt ist, "was sich vor 800 67 Nach Pütter; Litt. I, 285 soll Cocceji zu dieser Konstruktion durch die an ihn in Heidelberg durch den Pfalzgrafen Karl Ludwig beiläufig gestellte Frage veraniaßt 'worden sein, warum unter Maximilian I. das Reich gerade in sechs Kreise eingeteilt wurde; Coccejis Antwort stützt sich darauf, daß Plinius von fünf germanischen Urvölkern berichtet, denen er noch die Markomannen als sechstes solches Volk hinzufügt. 68 Über ihn Pütter; Litt. I, 329 ff.; Landsberg III I, 117 ff., Noten 68 ff.; Hammerstein. Jus 169 ff.; W. Seilert in HRG III, 85ff; ADB 19, 379; NDB 15, 293.

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Jahren in Teutschland ereignet habe"; deshalb sei für Teutschland die "Diplomatik" völlig unentbehrlich, nicht etwa für Frankreich, wo die Krone die Ständernacht völlig gebrochen habe, auch nicht für Italien, wo schon im Mittelalter der Begriff der Legitimität abhanden gekommen sei69 . Damit muß Ludewig das Herkommen im Reich als den Eckstein seiner Verfassung betrachten, und damit kann er die Entscheidung einer reichsverfassungsrechtlichen Frage ohne die Kenntnis und Auswertung der Reichshistorie nicht für möglich halten, die Reichshistorie kann daher auch nur in der juristischen Fakultät, nicht in der philosophischen, gelehrt werden. Als reichsfeindlich kann sein Partikularismus ganz sicher nicht bezeichnet werden. Denn so sehr er in seinem Bestreben, sich den Ruhm des angesehensten preußischen Staatsschriftstellers anzuheften, die Unmittelbarkeit und den sui generisCharakter der kurfürstlichen Herrschaftsrechte betont, so schränkt er die reichsgrundgesetzlieh anerkannten kaiserlichen Rechte doch nicht ein. Allerdings betrachtet er sie der Sache nach wohl eher nur als Ehren-Vorrechte, auch verbiegt er wohl die lehnrechtliche Grundlage des Reiches zu einer föderal-kontraktlichen. Die aus dem ursprünglichen Stammesfürstentum entstandenen Herrscherrechte stehen nach ihm natürlich auch dem Kaiser in seiner Eigenschaft als Herrscher in seinen Erblanden zu. 4. Auch nach seinem Hallenser Kollegen und wissenschaftlichen Antipoden Nikolaus Hieronymus Gundling (1671-1729)70 hat sich die deutsche Verfassung über die Jahrhunderte hinweg nicht substantiell verändert, er legt jedoch das Gewicht darauf, daß sie erst seit der Auflösung des Karolingerreiches ihre Gestalt anzunehmen beginnt. Gundlings verfassungsgeschichtliche Ansichten unterscheiden sich damit deutlich von denen Coccejis und Ludewigs, sie präludieren den nicht mehr grundsätzlich den Ergebnissen der neueren historischen Forschung widersprechenden verfassungsgeschichtlichen Ansichten Pütters und der jüngeren Reichspublizistik. Anders als sein Gegner Ludewig ist Gundling ein von Eifererturn wohltuend sich fernhaltender, immer auf überprüfbare Kenntnisse Wert legender Fachgelehrter, er und weniger Ludewig verkörpert die vom Lehrer Thomasius geforderte wissenschaftliche Haltung. Gundling wurde nach theologischer Ausbildung (vornehmlich in Altdorf) und seinem Wechsel nach Halle durch Thomasius für das juristische Studium gewonnen; in Halle nach der Promotion zum Doctor iuris zunächst 1705 ao. Professor der Philosophie und nach Ablehnung eines Rufs nach Altdorf Übernahme des Lehrstuhls für Rhetorik, der in den für Naturrecht umgewandelt wurde; Konsistorialrat und preußischer Geheimer Rat. Natur- und Völkerrecht, Reichshistorie, ius publicum, auch Staatenkunde und Staatengeschichte sind Gundlings Arbeitsfelder; seine Jurisprudentia naturalis (1715) verhalf den Thomasischen Lehren über Recht und Moral erst zum breiten Durchbruch. Weitere Werke: ,,Abriß einer rechten

Dazu mit Nachw. Antoni (s. Anm. 63) 91 f. Über ihn Pütter; Litt. I, 332ff.; Landsberg III I, 122ff., Noten 72ff.; Hammerstein, Jus 205 ff.; F. Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, 1885,612 f.; ADB 10, 129; NDB 7, 318. 69

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Reichs-Historie" (1708; 31724); ,,Ausführlicher und vollständiger Discours über dessen Abriß einer rechten Reichs-Historie" (1732); "Gundlingiana" (1715-32; Sammlung diverser Abhandlungen). Sosehr der Erfolg Gundlings als akademischer Lehrer sein wissenschaftliches Ansehen beförderte, schadete ihm die sorglose Veröffentlichung von Vorlesungsnachschriften und -manuskripten nach seinem Tode.

Als die historische Grundtatsache, auf die bei der Untersuchung aller deutschen Verfassungsfragen immer in letzter Linie zurückzugehen ist, gilt Gundling die Ausbildung der Lehnsverfassung, seit der erst "bey denen Teutschen ... ein ordentliches Reich" bestehe71; im weiteren geschichtlichen Verlauf seien dann die als Reichslehen besessenen Territorien aufgrund ihrer faktischen Erblichkeit zu einer Art allodialen Besitzes geworden, ohne daß jedoch die Lehnsträger und Reichsfürsten auch die mit einem Allod normalerweise verbundenen selbständigen Herrschaftsrechte erlangten, also aus der Bindung an Kaiser und Reich entlassen wurden. Mit dieser allerdings auch von anderen Autoren schon vorgetragenen Zurückführung der Landeshoheit auf die spätmittelalterliche Feudalverfassung hatte die Hallesehe Schule das Hl. Römische Reich als "politische Schöpfung der Deutschen mit eigenem Ursprung und Charakter" (C Antoni) nachgewiesen. 5. Es war das Verdienst der Halleschen Schule, das ius publicum von einem zu bereitwilligen Anschluß an das neue Vernunftstaatsrecht abgehalten zu haben, andererseits bestand bei Ludewig für das ius publicum die Gefahr, daß es einer ersonnenen Geschichtstheorie angepaßt wurde. Mehr als durch Gundling wurde diese Gefahr durch den in Leipzig lehrenden Johann Jacob Mascov (1689-1761)72 abgewendet. Nach Studium der Artes-Fächer in Leipzig wandte sich Mascov statt eines Studiums der Theologie dem der Jurisprudenz zu (Doctor iuris in Halle 1718); vor der juristischen Promotion unternahm er zweimal als Hofmeister eine Peregrinatio academica, die zweite dieser Reisen führte bis nach England und Italien. Der Leipziger juristischen Fakultät gehörte er ab 1719 an, jedoch immer nur als Extraordinarius, was einem bedeutenden Lehrerfolg mit Ruf über Leipzig hinaus nicht abträglich war; lange wirkte er in Justiz- und städtischen Ämtern, ab 1741 als Leipzigs Prokonsul.

Seinen mitunter unterbewerteten Platz in der Wissenschafts geschichte verdankt Mascov zwei erfolgreichen formvollendeten Lehrbüchern: den kurzen, streng aus den Quellen erarbeiteten Principia iuris publici imperii Romano-Germanici (1729; 71769) und der schon handbuchartigen "Geschichte der Teutschen bis zum Anfang der fränkischen Monarchie" (1726). Auf diese epochemachende Darstellung der deutschen Geschichte im Zeitalter der Wanderungen folgten noch die Commentarii de rebus imperii Romano-Germanici Conrado primo usque ad obitum Henrici ter-

71 Ausführliche Erläuterung über Schilteri Institutiones Juris Feudalis, Frankfurt I Leipzig 1736,6f. 72 Über ihn Pütter, Litt. I, 388 ff.; Landsberg III 1, 128 f., Noten 76 f.; Antoni (s. Anm. 63) 94ff.; Hammerstein, Jus 284ff. sowie in HRG III, 369ff.; ADB 20, 554.

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tii (1741), während die dazwischen liegende karolingische Periode bemerkenswerterweise nicht behandelt worden ist; außerdem lieferte Mascov ein erfolgreiches Lehrbuch des Lehnrechts (De iurefeudorum in I.R.G. 1735; 31753). Als die gelungenste Leistung hat die neuartige Darstellung der deutschen Frühgeschichte zu gelten, sie hat am ehesten in Caspar Sagittarius' (1643 -1694) Nucleus historiae Germaniae (1675) den Vorgänger. Bei aller noch fehlenden methodischen Quellenkritik sucht Mascov nur aus den Quellen Gefördertes darzustellen, er entwickelt Verallgemeinerungen immer vorsichtig und hält sich von Rhetorik und Räsonnement wohltuend fern, d. h. er streift der deutschen Verfassungsgeschichte den ihr anfangs in Halle angesonnenen inferioren Status einer publizistischen Zweckwissenschaft ab; damit ist zugleich die wissenschaftliche Selbständigkeit des ius publicum klar betont. Die bei den Zeitgenossen eher noch angesehenere umfängliche "Gen aue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichs-Historie" (1726-1743) des Grafen Heinrich von Bünau (1677-1762) hat nicht die wissenschaftliche Qualität wie die zwei historischen Werke Mascoys73, auch nicht die riesenhafte reichsgeschichtliche Kompilation des "letzten Polyhistors" Franz Dominikus Häberlin (1720 -1787) 74. Von der Neigung, politisch-geschichtliches Räsonnement ungeprüft ins Reichsrecht hereinzutragen, hielten sich in der ersten Hälfte des 18. Jh. auch noch andere Gelehrte fern. Von diesen sollten wenigstens Erwähnung finden: der Syndikus der Hildesheimer evangelischen Landstände und hannoversche Justizrat David Georg Strube (1694-1775)75, der in seinen ,,Nebenstunden" (6 Tle. 1742-1765) ausgiebig staatsrechtliche Themen wie den Verfassungszustand Deutschlands unter Rudolf I. von Habsburg und die Ursprünge der Landeshoheit erörtert und dabei ebenfalls die Landeshoheit auf die faktische Allodialisierung der Reichslehen zurückführt; der Jenaer Professor des Staats- und Lehnrechts Christian Gottlieb Buder (1693 -1764; Amoenitates iuris pub/. R.S.I., 1743)76; der Mascov-Schüler in den Diensten der Reichsstadt Frankfurt Johann Daniel von OIenschlager (1711-1776)77, Autor u. a. einer ,,Neuen Erläuterung der Güldenen Bulle" (1766) und einer in der Bahn von Pufendorfs Europäischer Staatengeschichte sich bewegenden, nicht nachfolgelosen "Einleitung in die Historie und Gerechtsame der besonderen Staaten des römischen Reichs in Teutschland und Italien" (1748); der vor allem dem deutschen Recht zugewandte Jenaer und Marburger Rechtsprofessor Johann Georg Estor (1699-1773)78, der als Bearbeiter des besonderen Territorialstaats73 Über Bünaus Leistung als Geschichtsschreiber Wegeie (s. Anm. 70) 662 ff. 74 Neueste teutsche Reichsgeschichte vorn Anfange des Schmalkaldischen Krieges bis auf unsere Zeiten. Fortges. v. R.K. v. Senkenberg (Bd. 21-28). 28 Bde. Halle 1774-1804. Über Häberlin, Reichshistoriker in Helmstedt und Vater des Reichspublizisten earl Friedrich Häberlin, Landsberg III 1, Noten 166f.; ADB 10,274. 75 Über ihn Pütter, Litt. I, 394ff.; Landberg III 1,255 ff., Noten 171 ff.; ADB 16,442. 76 Über ihn Pütter, Litt. I, 404 ff.; Landsberg III 1, 134, Noten 79 f.; Geschichte der Universität Jena, Bd. I (Darstellung) 1958, 191; ADB 3, 502. 77 Über ihn Pütter, Litt. 11, 139 f.; Landsberg III 1,249, f. Noten 167f. (hier auch zum Einfluß auf Goethes Jugend); ADB 24,285. 78 Über ihn Landsberg III 1, 240ff.; Pütter, Litt. I, 381 ff., 11, 267 ff. sowie in seiner Selbstbiographie I, Göuingen 1798, 49f.; J.e. Adelung in: Fortsetzungen und Ergänzungen zu Jöchers Allgemeinen Gelehrtenlexikon, Bd. 2, 1787, Sp. 947 ff.;.

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rechts nochmals zu erwähnen ist; der praktische Jurist Johann Maximilian von Günderode (1713-1784)79, dessen "Abhandlung des Teutschen Staatsrechts" (1743) eines der früh in deutscher Sprache abgefaßten größeren Lehrwerke zum ius publicum ist.

79 Über ihn Pütter, Litt. I, 477 f.

§ 9. Die Hochblüte der Reichspublizistik I. Johann Jakob Moser. - II. Die Anfänge des ius publicum in Göttingen und sein Siegeszug im katholischen Reich. - 111. Johann Stephan Pütter. - IV. Der Ausklang der Reichspublizistik.

I. 1. Die dem ius publicum von der Halleschen Schule drohende Gefahr, sich von der Historie kritiklos ins Schlepptau nehmen zu lassen, hat niemand wirksamer abgewendet als Johann Jakob Maser (1701-1785)'. Quantitativ reicht an sein monumentales Werk dasjenige eines anderen Publizisten des Alten Reiches auch entfernt nicht heran. Mosers Wirkung, der nur kurz akademischer Lehrer war, ist jedoch nicht zu überschätzen. Eine Schule im deutschen Staatsrecht hat er nicht begründet, vom Stil her war noch zu seinen Lebzeiten sein Werk eher veraltet. Dennoch ist festzustellen, daß die jüngere Reichspublizistik Mosers Arbeit mehr als der eines anderen, von Pütter abgesehen, die entscheidenden Impulse verdankt. Auch im 19. Jh. war deren wissenschaftliche Wirkung noch nicht beendet. Aus einer angesehenen bürgerlichen Familie der württembergischen Amtsträgerschicht, der "Ehrbarkeit", stammend (der Familie stand der Adelsname "von Filseck und Weilersberg" zu, den Moser jedoch nur in jungen Jahren und nur hinzugefügt zu seinem Autornamen führte), studierte Moser in Tübingen die Rechte - Lieblingsfach war das Reichsstaatsrecht (Lehrer Gabriel Schweder) -, dort wurde er im Alter von neunzehn Jahren und noch vor der 1 Zum staatsrechtlichen Werk am eingehendsten Schömbs (BibI., Lit.). Zu Leben und Werk: K.S. Bader; J.J. Moser, Staatsrechts lehrer und Landschaftskonsulent, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken VII, 1960; R. Rürup, J.J. Moser. Pietismus und Reform, 1965 (BibI., Lit.); U. Becher; Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, 1978,29-65; M. Walker; J. J. Moser and the Holy Roman Empire ofthe German Nation, 1981 sowie ders. in: H.E. Bödeker u. a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte, 1986, 105 -118; A. Laufs in: Staatsdenker 284-293; Stolleis, Geschichte I, 258 -267; anregend auch die Einleitung von w.H. Stein zu seiner Ausgabe von Mosers Mömpelgardischem Staatsrecht: Veröffentl. d. Komm. f. geschichtl. Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A Quellen, 35. Bd., 1983. Aus dem älteren Schrifttum: Mahl, Gesch. u. Lit. II, 401-424; Landsberg 111 1,315-330; Noten 215ff.; H. Schulze in ADB 22, 372; ferner F. Kopp, Die Reichsjuristen und die Entwicklung der Reichspolitik vom Westfälischen bis zum Hubertusburger Frieden, Diss. phil. Berlin 1936 (Teildr.) 25 ff.; W. Zorn, Reichs- und Freiheitsgedanken in der deutschen Publizistik des ausgehenden 18. Jh., in: Darstellungen u. Quellen z. Gesch. d. dt. Einheitsbewegung im 19. u. 20. Jh. 11, 1959, 15 ff. Speziell zur völkerrechtlichen Leistung A. Verdroß, J.J. Mosers Programm einer V6lkerrechtswissenschaft der Erfahrung, ZöR 3 (1922) 97 ff.

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Erlangung des Doktorgrades zum Extraordinarius ernannt. Nach zwei Aufenthalten in Wien, wo er nicht in eine Aussichten verheißende Stellung gelangte, übernahm Moser 1726 in Stuttgart die Stelle eines Regierungsrats, widmete sich jedoch in dieser Position mehr der schriftstellerischen Arbeit als dem Amt, außerdem hielt er Vorlesungen am Tübinger Collegium Illustre; ein vakantes Ordinariat an der Juristenfakultät wurde ihm entgegen seiner Erwartung nicht angeboten. 1736 ging Moser als Universitätsdirektor und Ordinarius des Spruchkollegiums nach Frankfurt / 0., schied jedoch schon 1739 auf eigenen Wunsch aus dem preußischen Dienst aus; ausschlaggebend dafür waren wohl mehr als seine Ablehnung des absolutistischen Regiments in Preußen die ihm aus der undankbaren Doppelposition als Universitätsdirektor und Professor erwachsenen akademischen Konflikte. Anschließend zog sich Moser mit seiner Familie für acht Jahre in die Lebensgemeinschaft einer pietistischen Gemeinde im vogtländischen Ebersdorf zurück, überwiegend dort entstand das ältere Riesenwerk über das Teutsche Staatsrecht. Aus dem stillen Ebersdorfer Gelehrtenleben, das jedoch kurzfristig von der Übernahme nach auswärts führender politischer Geschäfte, so als Berater bei den Kaiserwahltagen 1741/42 und 1745, unterbrochen war, kehrte Moser 1747 in den Staatsdienst zurück, und zwar als Rat des Homburger Landgrafen; auch dieses Amt gab er, da er sich mit seinen Ansichten über die Neuordnung der zerrütteten Finanzen des Miniaturstaates nicht durchsetzen konnte, schnell wieder ab. 1749 verwirklichte er mit der Eröffnung einer privaten Staats- und Kanzleiakademie in Hanau einen alten Lieblingsplan, trennte sich aber auch schnell von diesem an sich nicht lebensunfähigen, für seine kritische Haltung zur Universität bezeichnenden Projekt, um 1751 das Amt eines Konsulenten der württembergischen Landschaft anzutreten; er kehrte damit, und zwar für dauernd, in die Heimat zurück. Jenes Amt hat Moser annähernd zwei Jahrzehnte bekleidet, in ihm erwarb er sich die "Gloriole eines württembergischen Volkshelden" (K.S. Bader). Im Konflikt zwischen Landschaft und Herzog Karl Eugen die Seele des ständischen Widerstandes gegen dessen Willkürakte, wurde er 1759 festgenommen und ohne Gerichtsverhandlung auf dem Hohentwiel in Haft gehalten; erst 1764 erhielt er aufgrund eines Reichshofratsspruchs die Freiheit zurück. Wiewohl noch danach in der württembergischen Politik aktiv und am Zustandekommen des Erbvergleichs von 1770 beteiligt, zog er sich doch nach der Abgabe seines Konsulentenamtes (1770) ins Privatleben zurück, um sich nun uneingeschränkt seiner schriftstellerischen Arbeit zu widmen; deren Ertrag war bis zum Lebensende noch ungewöhnlich groß.

2. Bei seinem enormen Umfang dürfte Mosers Werk auch heute noch nicht restlos bibliographisch erfaßt sein2 . Prüft man es auf seine thematischen Schwerpunkte, so sind Zivilrecht und Strafrecht so gut wie nicht vertreten 3 ; um so eindeutiger dominiert das positive deutsche Staatsrecht, zu dem erst im letzten Lebensabschnitt das allerdings auch zuvor schon bearbeitete Europäische Völkerrecht als gleichwertig hinzutritt. Desweiteren gibt es von Moser zahlreiche historische Arbeiten, bezeichnenderweise hauptsächlich zur Zeitgeschichte, außerdem Arbeiten 2 Dies stellt jedenfalls Schömbs 281 fest. Dessen Moser-Bibliographie konnte der nach Sachgruppen gegliederten umfassenden Bibliographie Rürups (s. Anm. I) noch einige Titel hinzufügen, sie urnfaßt ohne die ungedruckten Arbeiten 331 Titel. Eine Bestätigung dafür, daß Mosers Gesamtwerk noch nicht lückenlos erfaßt ist, ist die von W.H. Stein (s. Anm. 1) erst neuerdings aufgefundene und publizierte Einleitung in das Fürstlich Mömpelgardische Staatsrecht (1772). 3 Immerhin gibt es von Moser einen kleineren privatrechtlichen Grundriß: Grundsätze von dem Teutschen Privat-Recht überhaupt, Frankfurt/O. 1738.

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zu Lehr- und Ausbildungsfragen, zu württembergischen Fragen, zu Ökonomie, Regierungskunst und Kanzleipraxis, auch, allerdings seltener, zu kirchenrechtlichen Fragen; schließlich ist Moser der Autor geistlicher Liedersammlungen und religiöser Erbauungsschriften. Auffallend ist, daß die beiden nächsten Nachbardisziplinen des ius publicum nicht oder kaum behandelt sind; so befaßt sich mit dem allgemeinen Staatsrecht überhaupt keine einzige lehrhafte Schrift4 , mit der Reichshistorie nur ein kleines, zudem erst spät veröffentlichtes Kompendium: "Erste Grundlehren der Teutschen Staats-Geschichte" (1776). Vom deutschen Staatsrecht ist das Landesstaatsrecht eher noch ausgiebiger als das Reichsstaatsrecht bearbeitet, und zwar besonderes nicht weniger als allgemeines Landesstaatsrecht; auch mit publizistischer Gelehrtengeschichte und Literaturkritik hat sich Moser wiederholt und frühzeitig beschäftigt. Während sich Moser im Reichsstaatsrecht auf eine lange Reihe von Vorgängern stützen konnte, hat er im Landesstaatsrecht den Stoff mehr oder weniger erst erarbeiten müssen. Allerdings waren die allgemeinen Fragen zur Landeshoheit schon lange und ausgiebig erörtertert, Lehrbücher des deutschen Staatsrechts aus dem 18. Jh. können zudem das allgemeine Territorialstaatsrecht auch als eigene Abteilung enthalten 5 . Im besonderen Landesstaatsrecht war Moser aber der eigentlich erste Bearbeiter mit bekanntem Namen. Erst ihn haben bei seinem beispiellosen Arbeitswillen die vielfältigen Schwierigkeiten und Widerstände, die die Anfertigung einer brauchbaren Arbeit im besonderen Landesstaatsrecht erschweren oder überhaupt ausschließen mußten, nicht entmutigen können: Eine solche Arbeit konnte dem Landesherrn und seinen Räten unerwünscht sein; ihr konnte, womit eine Arbeit über das Reichsstaatsrecht kaum rechnen mußte, leicht die Verstümmelung durch die Zensur und überhaupt das Verbot drohen; die gewöhnlich schlechte Zugänglichkeit der Quellen konnte sie gar nicht erst in Angriff nehmen lassen; die Absatzchancen waren durchweg gering oder fehlten völlig. Auch Mosers partikulare Staatsrechtsdarstellungen sind freilich, wie es in Anbetracht all dieser Umstände nicht anders erwartet werden kann, zumeist nur wenig angereicherte Stoffskelette. Immerhin hat er eine erstaunlich große Zahl reichsständischer Staatsrechte behandelt, darunter solche größerer Landesherrschaften wie von Miniaturherrschaften, auch von Territorien mit verschiedener Verfassungsform, allerdings sind Österreich und Brandenburg-Preußen, auch Württemberg nicht behandelt. Außer Moser lassen sich für die gesamte Zeit bis um 1800 nur eher wenige Bearbeiter einzelner reichsständischer Staatsrechte erwähnen. Einen Bearbeitungsanfang im besonderen Territorialstaatsrecht, auch nicht ohne Nachahmung, machte immerhin schon Ludewig mit Gennania Princeps (1702; 21711), wo jedoch, wie es Ludewigs kurfürstlicher Gesinnung entspricht, nur die Kurfürstentümer und Österreich behandelt sind. Der angesehene Marburger

4 Gegen das allgemeine Staatsrecht richtet sich die anonym erschienene Schrift: Gedanken über das neu-erfundene vernünftige Staats-Recht des Teutschen Reiches, 1767. 5 So das Compendium iuris publici S.R./. (1746) des Göttinger Lehrers J.J. Schmauß.

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Rechtslehrer Johann Georg Estor6 beschränkte sich, soweit er das partikulare öffentliche Recht bearbeitete, auf ein einziges Territorium: Origines iuris publici Hassiaci (1738), Ius publicum Hassiacum hodiemum (1739); sein Schüler Johann Stephan Pütter wagte sich zwar weiter auf das Gebiet des besonderen Staatsrechts hinaus, aber nur mit einer einzigen, im übrigen abgebrochenen ArbeiC. Auch für das spätere 18. Jh. kann man noch nicht eine auffallende Zunahme der Bearbeitung einzelner Landesstaatsrechte konstatieren; das nun allerdings anwachsende Interesse am Landesstaatsrecht richtet sich nach wie vor eher auf seine allgemeinen Lehren 8 . Immerhin verbesserte sich nun die Arbeitssituation im besonderen Landesstaatsrecht insofern, als sich die Landesgeschichte aus ihrer Verbindung mit Verwaltungskunde und Landesstatistik löste; als ihr Pionier gilt der zwei Jahrzehnte in Göttingen dozierende Württemberger Ludwig Timotheus Spittler (1752 -18 10)9. Eine umfängliche Darstellung des Staatsrechts des Kurfürstentums Sachsen (3 Tle. 1788/90) lieferte Carl Heinrich Römer (1760 -1798), die jedoch wegen des hauptsächlich statistisch-geschichtlichen Inhalts nicht über Mosers kleinere partikulare Staatsrechtsarbeiten gestellt werden kann. Noch bis zur Mitte des 19. Jh. gab es keine einzige, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung des preußischen Staatsrechts; einzelne, aber wissenschaftlich unbedeutende Bearbeitungen des Staatsrechts der österreichischen Erblande lagen immerhin schon vor 1800 vor lO . Am häufigsten war bis zum Beginn des 19. Jh. das bayerische Staatsrecht bearbeitet, nämlich außer von Moser (1754; 21784) auch von Pütter ll und vor allem von Kreittmayr innerhalb seines auch das allgemeine Staatsrecht und das Reichsstaatsrecht behandelnden Grundrisses l2 , außerdem ist, aber erst aus der Gründungsperiode des modemen bayerischen Staates, ein "Grundriß des baierischen Staatsrechts" (1801) von Johann Georg Feßmaier (17751828)13 zu erwähnen. 1781 meinte Pütter den typischen Mangel der Mehrzahl der Schriften zum besonderen Staatsrecht einzelner deutscher Reichsstände darin erblicken zu sollen, daß sie das Augenmerk hauptsächlich nur auf die "Beschreibung des Verhältnisses, worin ein jeder Reichsstand zum Reich und zu diesem oder jenem Kreise steht", richten würden, während es doch "vorzüglich um die innere Landesverfassung" gehe l4 ; der damit angemeldete Vorwurf konnte Mosers Arbeiten allerdings nicht treffen.

Über ihn S. 111 Anm. 78. Zu seinem Historisch-politischen Handbuch von den besonderen Teutschen Staaten (1758) noch kurz S. 127. 8 Hierzu noch § 9 IV. 9 Wegen seiner die Dauerauseinandersetzung zwischen Herzog und Landständen thematisierenden Geschichte seiner württembergischen Heimat (1783) und einer Geschichte Hannovers (1786). Über ihn J. Grolle, Landesgeschichte in der Zeit der deutschen Spätaufklärung. L.T. Spittler 1752-1810, 1963; J.B. Reill in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker IX, 1982,42ff. 10 Nachw. bei Pütte" Litt. 11, 386 (Chr. Aug. v. Beck, F.F. v. Schrötter). Vg!. auch H. Zöpjl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts I, 5. Aufl. Leipzig und Heidelberg 1863, 151. 11 In seinem Historisch-politischen Handbuch von den besonderen Teutschen Staaten, 1758. 12 Über Kreittmayr und seinen Grundriß oben § 8 III bei Anm. 43. 13 Über ihn R. Piloty, Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechtsliteratur, in: Staatsrecht!. Abhandlungen, Festg. Laband 1,1908,205 ff., 215 ff.; ADB 6, 727; NDB 5,104. 14 Litt. 11, 221. 6 7

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3. Kennzeichnend für Mosers wissenschaftliche Gesamthaltung ist sein "tiefes Mißtrauen" (Willoweit) gegenüber allgemeinen Theorien. Mit einer Leidenschaft sondergleichen zieht er immer alles, was für die Klärung einer Rechtsfrage dienlich sein kann, heran. Die deutsche Verfassung beruht ihm zufolge zum einen auf dem "Regierungs-Gleichgewicht" von Kaiser und Reichsständen l5 , zum anderen auf dem Gleichgewicht der Konfessionen. Nur das nachweislich geltende Recht kann nach Moser für die Entscheidung einer deutschen Verfassungsfrage maßgeblich sein, eine Lehre des von der deutschen Verfassung absehenden natürlichen Staatsrechts kann das gewonnene Ergebnis allenfalls stützen. Moser verschmäht deshalb nicht die ausgiebige Auseinandersetzung mit Gegenansichten, das Lebenselixier einer Buchwissenschaft, er setzt sich aber immer nur mit solchen Ansichten über die deutsche Verfassung auseinander, die ihm als nicht übereinstimmend mit den Reichsgesetzen und dem anerkannten Reichsherkommen erscheinen. Auf theoretischen Unterbau und wissenschaftlichen Schmuck legen alle seine Arbeiten keinen Wert; soweit sie wie zumeist vom positiven Staatsrecht handeln, ist es ihr primäres und geradezu ausschließliches Interesse, den Rechtsstoff für den praktischen Gebrauch besser aufzubereiten und zur Klärung aktueller oder womöglich einmal aktuell werdender Rechtsfragen beizutragen. Deshalb steht Moser der kläglichen Lage des Reiches nicht gleichgültig gegenüber, die Mängel der Reichsverfassung nennt er öfter deutlich beim Namen. Als Verfassungspolitiker geht er aber nie so weit, für eine Änderung der Reichsorganisation zu plädieren, sondern er schärft ein: "Man muß Teutschland nehmen, wie es ist,,16 und begnügt sich mit der Belehrung, daß die deutsche Verfassung durchaus besser wäre, wenn sich die Reichsstände mehr an die Reichsgesetze hielten. Mit allem verkörpert er eine das Alte Reich nochmals pragmatisch integrierende Haltung, was ihm noch im 19. Jh. ein hohes Ansehen sichern mußte. Als "Positivist" gilt Moser insofern zu Recht, als er eine Vermengung der Wissensgebiete, weil den Erkenntniszielen im besonderen Wissensgebiet meist abträglich, kategorisch ablehnt. Zurückzuweisen ist es jedoch, seinen "Positivismus" und seine "Epoche machende methodische Neuerung" nur wie Landsberg l7 darin erblicken zu wollen, daß er "Akten als Grundlage des Staatsrechts an die Stelle der Urkunden gesetzt" hätte. Vielmehr ist zumindest für einen Teil seiner Arbeiten die Auseinandersetzung mit Gegenansichten unbedingt kennzeichnend, ja, sie bildet recht eigentlich den bevorzugten Einstieg in die Erörterung der jeweiligen Materie. Wenn seinen Arbeiten in der Regel ein klarer, transparenter Aufbau bescheinigt werden kann, dann vorzüglich dank des häufigen litterärgeschichtlichen Erörterungseinstiegs. Allerdings gibt für Mosers Beurteilung einer publizistischen Ansicht den letzten Ausschlag immer, wieweit sie der Überprüfung durch Urkunden 15 Von denen Kayserl. Regierungs-Rechten und Pflichten, Frankfurt a.M. 1772, 32: "In Teutschland kann und soll der Kayser den Ständen, und die Stände dem Kayser die Waage halten: Dieses gibt ein Regierungs-Gleichgewicht ... " 16 Von denen Kayserl. Regierungs-Rechten und Pflichten, 3l. 17 III 1,322,325.

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und Akten standhält; etliche seiner Schriften lesen sich denn auch streckenweise wie kommentierte Akteneditionen. Die ausgebreiteten Materialien sind freilich jedenfalls im Reichsstaatsrecht nicht von ihm selbst aufgefunden, sondern den vorhandenen Sammlungen, in erster Linie Lünigs Reichsarchiv, entnommen. Fragt man nach einem schulernachenden methodischen Verdienst Mosers, so liegt es in seiner unwidersprochen gebliebenen Hierarchisierung der deutschen Staatsrechtsquellen. Unter dem Einfluß seines Lehrers Schweder unterscheidet Moser im deutschen Staatsrecht zwischen "Hauptquellen" und "Nebenquellen,,18. Als "Hauptquellen" gelten ihm: die Reichsgrundgesetze; die in das Staatsrecht des Reiches eingreifenden innerdeutschen Verträge; die Verträge mit auswärtigen Staaten mit solcher Wirkung; die besonderen Freiheiten der Reichsstände und -glieder; Analogie und Reichsherkommen, letzteres aber nur soweit es auch heutzutage noch als nachweislich anerkannt gelten kann; jede dieser Hauptquellen geht einer sonstigen deutschen Rechtsetzung vor. Die ,,Nebenquellen" des deutschen Staatsrechts, die nur subsidiär anwendbar sind, beschränkte anfangs Moser auf drei: Allgemeines (Europäisches) Völkerrecht, kanonisches Recht, langobardisches Lehnrecht; später erweiterte er ihren Kreis noch um Allgemeines ("natürliches") Staatsrecht, Corpus Iuris Civilis und HI. Schrift. Die "Teutsche Staatsgeschichte" zählt er nicht zu den Nebenquellen des deutschen Staatsrechts, sie gilt ihm wie das Naturrecht nur als ein Hilfsmittel. Die Reichsgrundgesetze sind von den übrigen Reichsgesetzen nicht nur durch die Art ihrer Errichtung ("Vergleichung" zwischen den Reichsverfassungsfaktoren) unterschieden, sondern auch aufgrund ihres materiellen Inhalts: "Ein Reichsgrundgesetz seye eine solche Verordnung, ohne welche der Staat von Teutschland nicht so wäre, als er wirklich ist,,19. Daß Moser beharrlich betont hat, daß nur ein heutzutage noch anerkanntes Reichsherkommen bei der Entscheidung einer deutschen Verfassungsfrage als gültig herangezogen werden kann2o, konnte es rechtfertigen, daß auch die letzten Kompendien des deutschen Staatsrechts aus der Zeit vor 1806 das Reichsherkommen unter den Quellen des deutschen Staatsrechts ohne eine Erläuterung anführen.

Mit der Aussonderung der Reichshistorie aus den deutschen Staatsrechtsquellen setzt sich Moser von der Halleschen Schule ab. Er bestreitet aber nicht entfernt die Unentbehrlichkeit der von ihm in "Teutsche Staats-Geschichte" umbenannten Reichshistorie für Untersuchungen im deutschen Staatsrecht, sondern lehnt nur den Rückgang bis auf die mittelalterliche Geschichte als zumeist unergiebig ab. Ohne historische Untersuchungen lassen sich Inhalt und Authentizität eines deutschen Staatsrechtssatzes in aller Regel überhaupt nicht feststellen; mit Recht hat man daher seinen Positivismus einen ,,historischen Rechtsquellenpositivismus" genannt21 . Alle der geschichtlichen Herleitung eines deutschen Verfasungssatzes nicht dienlichen historischen Erörterungen sind freilich damit als überflüssig abgewiesen, das Interesse richtet sich darauf, am einzelnen publizistischen Stoffelement Geschichtliches und Staatsrechtliches sauber zu unterscheiden. Diese modeme positivistische Unterscheidungsabsicht lag vor Moser der Publizistik noch fern, auch in der auslaufenden Reichspublizistik machte sie nicht mehr Schule. 18 Zu seiner Quellenlehre Schämbs 230 ff.; auch Rathjen 69 f. 19 Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, Stuttgart 1766, 196. 20 Dazu Rathjen 114 ff. 21 So Wyduckel201.

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4. "Teutsches Staats-Recht" (50 Tle. u. 2 Tle. Zusätze, 1737-1754) und "Neues teutsches Staatsrecht" (20 Tle., 1766 -1775) sind Mosers Hauptwerke, das ältere wie jüngere Werk eher die riesige lose Vereinigung sachlich zusammenhängender Abhandlungen als ein planvolles Handbuch. Püfters Urteil über das ältere Werk trifft ebenso auf das jüngere zu: "Unstreitig ist es das ausführlichste, was wir noch von unserem Staatsrechte haben, und für einen jeden, der in Geschäften arbeiten soll, die ins Staatsrecht einschlagen, fast unentbehrlich, aber auch so, daß es beynahe allein die Stelle einer Bibliothek vertreten kann.'.22 Von den einzelnen Bänden des jüngeren Werkes verdienen Erwähnung: "Von Teutschland und dessen Staatsverfassung überhaupt" (1766 =Bd. 1); "Von den kayserlichen Regierungsrechten und Pflichten" (2 Tle. 1772/73 = Bd. 3); "Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichs-Stände überhaupt"(1773 =Bd. 14); "Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten" (1774 = Bd. 17). Grundrißhafte Darstellung des Reichsstaatsrechts ist: "Kürzere Einleitung in das Teutsche Staats-Recht" (1753, 21761); der erfolgreiche vorausgehende "Grundriß der heutigen Staatsverfassung des Teutsehen Reiches" (1731, 71754) kam schon zu Mosers Lebzeiten außer akademischen Gebrauch. Die Abhandlungen zur publizistischen Literaturkritik und Gelehrtengeschichte eröffnen: "Unpartheyische Urtheile von juridischen und historischen Büchern" (1722 -1725); außerdem bemerkenswert wegen der pointierten Urteile das Büchlein ,,Neueste Geschichte der Teutschen Staats-Rechts-Lehre und deren Lehrer"(1770). Als Bearbeitung der Reichshistorie gibt es von Moser nur den schmalen, auch erst im Alter veröffentlichten Grundriß ,,Erste Grundlehren der Teutschen Staats-Geschichte" (1776); deren Umbenennung in "Teutsche StaatsGeschichte" ist nicht ohne programmatische Absicht, d. h. damit soll angezeigt sein, daß Moser nur die für das Verständnis der gegenwärtigen deutschen Staatsverfassung unentbehrliche vaterländische Geschichte darbieten will. Die Beschäftigung mit dem Europäischen Völkerrecht, für dessen Weiterentwicklung zur eigenenen Rechtsdisziplin Moser der Pionier war, setzt ein mit: "Anfangs-Gründe der Wissenschaft von der gegenwärtigen Staats-Verfassung von Europa" (1732); noch das letzte Werk ist Beitrag zum Völkerrecht: "Nordamerika nach den Friedensschlüssen vom Jahr 1783" (3 Bde. 1784/85). Bedeutende Autobiographie: ,,Lebensgeschichte" (1768, 3verm. 3 Tle. 1777,4. T. 1783). 5. An dieser Stelle sollte dem ältesten Sohn Mosers wenigstens eine kurze Bemerkung gelten: dem Staatsgeschäftsmann und politischen Tagesschriftsteller Friedrich earl von Moser (1723-1798)23. Jener hat allerdings weniger in der publizistischen Wissenschafts geschichte als in der Geschichte der Politisierung der Litt. I, 417f. Über ihn aus dem neueren Schrifttum: Hammerstein in: HZ 212 (1971) 316ff.; K. Eckstein, EC. v. Moser (1723 -1798). Rechts- und staatstheoretisches Denken zwischen Naturrecht und Positivismus, Diss. iur. Gießen 1973; U. Becher (s. Anm. 1) 103 ff., 164 ff. sowie dies. in H.E. Bödeker/U. Herrmann (Hg.), Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, 1987, 178 ff.; A. Stirken, Der Herr und der Diener. EC. v. Moser und das Beamtenwesen seiner Zeit, 1984. 22 23

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deutschen Gesellschaft seinen anerkannten Platz: als ein für das Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jh. hochmoderner, ideenreicher politischer Tagesschriftsteller. Nach soliden publizistisch-historischen Anfängen 24 ging der jüngere Moser zur Zeitkritik und Verfassungspolitik über, dieser Übergang fällt auch für das vorrükkende 18. Jh. noch unbedingt aus dem Rahmen. Die passive Hinnahme der deutschen Zustände liegt seiner reichspatriotischen Haltung fern. Die bekannteste Schrift "Der Herr und der Diener" (1759) ist die unübertroffene Satire auf den deutschen Minitiaturabsolutismus, später erhoffte sich der Autor von der Erziehung zu "teutschem National-Geist" eine politische Belebung des Reiches 25 . In den "Politischen Wahrheiten" (1796) gelangte der jüngere Moser auch noch zu konkreten, allerdings aussichtslosen Vorschlägen für eine Reform der bald aufgelösten Reichsverfassung. So wird man als aussichtslos die geforderte Ergänzung der reichsständischen Versammlung durch ein Nationalparlament ansehen müssen, nicht allerdings die Forderung, daß sich der einzelne Reichsstand um die rechtliche Sicherung der Staatsdienerstellung zu bemühen hat26 ; eine nicht überhaupt unrealistische Idee war es wohl auch, wenn er in den ersten Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg für eine Art Zweiparteiensystem im ständischen Reichstag eingetreten ist27 . Der Tagesschriftsteller Moser war von den Ideen des Siede philosophique stark beeinflußt, er wurzelte aber wohl mehr noch in der seit dem späten 18. Jh. zur Bewußtheit gelangenden besonderen nationalen Ideentradition.

11. 1. Die Göttinger Georgia Augusta, der wir uns nun zuzuwenden haben, galt bald nach der Eröffnung (1737) als die derzeit modernste Hochschule in Deutschland von allgemeiner Vorbildlichkeit. Die neuen attraktiven Fächer ius publicum und Reichshistorie wurden an der neuen Anstalt von ihrem Start an vorgetragen, sie wünschte der in Halle ausgebildete Universitätsgründer Ger/ach Adolph Frhr. von Münchhausen, der bekanntlich die Universitätsgründung auch aus merkantilistischen Motiven betrieben hat, vorzüglich fest verankert an ihr zu sehen. Vor allem das Wirken Johann Stephan Pütters in Göttingen, dort über ein halbes Jahrhundert Lehrer der Rechte, ließ im letzten Drittel des 18. Jh. die in Göttingen vorgetragenen Lehren zum ius publicum ansichtenbildend auf ganz Deutschland ausstrahlen; katholische Adelssöhne zogen häufig Göttingen wegen des dort zu 24 Sammlung des H!. Röm. Reichs sämtlicher Kreisabschiede und anderer Schlüsse bis 1600, 3 Bde. Leipzig / Ebersdorf 1747/48; Pragmatische Geschichte und Erläuterung der Kayser!. Reichshofrathsordnung, 2 Bde. Frankfurt / Leipzig 1751/52. 25 So in der anonymen Schrift: Von dem teutschen National-Geist, 1765. 26 Diese Forderung wird schon angemeldet in: Der Herr und der Diener; dazu Stirken (s. Anm. 23). 27 Was ist gut-Kayserlich und nicht gut-Kayserlich? Frankfurt a.M. 1766 (anonym).

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erwartenden Vortrags über das ius publicum und die Reichshistorie einem anderen Studienort vor. In den ersten Jahren der neuen Anstalt war an ihr die Vertretung des ius publicum allerdings wohl noch nicht so befriedigend geregelt wie von Münchhausen gewünscht28 . Immerhin war schon bei der Eröffnung mit Johann Jakob Schmauß (1690 _1757)29 ein zur Vertretung des ius publicum vorzüglich geeigneter ideenreicher Gelehrter gewonnen; er ließ sich zwar nach Halle "abwerben", kehrte aber schon bald nach Göttingen zurück. Da unmittelbar vor seiner Berufung schon aus Helmstedt Gottlieb Samuel Treuer (1683-1743)30 speziell zur Vertretung des ius publicum berufen war, mußte allerdings Schmauß eine Professio historiarum et iuris naturae et gentium übernehmen, er las indes außer über Reichshistorie auch über ius publicum, im Vortrag der Reichshistorie wechselte er sich mit dem Historiker in der philosophischen Fakultät Johann David Köhler (1684-1755)31 ab. Ein von Jena berufener Rechtsgelehrter mit Verdiensten auch im ius publicum, Johann Salomon Brunquell (1693-1735)32, starb unmittelbar nach der Übersiedlung nach Göttingen; ein anderer früher Göttinger Staatsrechtslehrer, Heinrich Christian von Senckenberg (1704-1768), blieb nur kurz in Göttingen 33 . Treuer lieferte zum ius publicum nur Abhandlungen zu Einzelfragen, Köhler legte eine "Teutsche Reichshistorie" (1736; 21767) vor, widmete sich aber mehr seiner Lieblingswissenschaft, der Numismatik.

2. Der eigenwillige Johann Jakob Schmauß gehört zu den bedeutenden Gelehrtenpersönlichkeiten aus den Anfängen der Georgia Augusta. Die den Göttinger Professoren nach Münchhausen zustehende "volle Freyheit zu dencken und zu schreiben,,34 war so recht nach seinem Sinn. Bei allem Interesse am Naturrecht das Naturrechtslehrbuch dürfte die bedeutendste wissenschaftliche Leistung sein trug Schmauß als ius publicum ganz im Sinne von Münchhausens Erwartung nicht ein allgemeines Staatsrecht vor, sondern das für Deutschland als gültig anzusehende öffentliche Recht. Schon durch ihn erhielt die Göttinger Lehre des ius publicum unbedingt die sie kennzeichnende Richtung auf dessen dogmatisch-geschichtliche 28 Zu den Anfängen des ius publicum in Göttingen F. Frensdorff, Die ersten Jahrzehnte des staatsrechtlichen Studiums in Göttingen, Festschr. z. 150jährigen Jubelfeier d. Georg-August-Universität, Göttingen 1887 und überhaupt zur frühen Entwicklung Göttingens Hammerstein. Jus 312 ff.; W. Ebel. Zur Geschichte der juristischen Fakultät und des Rechtsstudiums an der Georgia Augusta, 1960; zuletzt W. Sellert, Rechtswissenschaft und Hochschulpolitik - Münchhausen und die Juristische Fakultät, in: J. v. Stackelberg (Hg.), Zur geistigen Situation der Göttinger Universitätsgründung 1737, 1988. Weiteres Schrifttum zur Geschichte der Universität Göttingen schon § 8 Anm. 58. 29 Über ihn Pütter, Litt. H, 5ff.; Landsberg III 1, 124ff., Noten 74ff.; Hammerstein. Jus 343 ff.; W. Sellert in: JuS 1985, 843 ff.; ADB 31, 628. 30 Über ihn Pütter, Litt. I, 375 ff.; ADB 38, 582. 31 Über ihn Pütter, Litt. H, 29 f.; Hammerstein. Jus 352 ff.; ADB 16,442. 32 Über ihn schon § 8 Anm. 30. 33 Er folgte einem Ruf nach Gießen, um aber auch dort bald die Professur niederzulegen; 1745 wurde er zum Reichshofrat ernannt und war offenbar "damit an den richtigen Platz gekommen" (Landsberg). Über ihn Pütter, Litt. I, 447 ff.; Landsberg III 1,245 ff., Noten 162. 34 So in einem Votum J.G. Meiems für Münchhausen; zitiert bei Sellert (s. Anm. 28) 60.

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Behandlung, nämlich "zwar an der Hand der Geschichte"35, aber als ein selbständiges Lehrsystem. In Straßburg und Halle ausgebildet (schon in Halle hielt er historische Vorlesungen), war Schmauß von 1721 bis zur Berufung nach Göttingen aktiver Rat im Baden-Durlachschen Dienst, er verfügte mithin über ausgedehnte Erfahrung in Staatsgeschäften, wie sie für einen Lehrer des ius publicum im vorrückenden 18. Jh. schon nicht mehr als typisch angesehen werden kann. Sein Lehrvortrag wird als anziehend und anregend geschildert, im kollegialen Umgang war er wohl nicht selten unbequem und schroff. Am Anfang des nicht sonderlich umfangreichen, aber gehaltvollen Oeuvre von Schmauß steht der "Kurtze Begriff der Reichs-Historie" (1720; erw. 1729), eine noch eher schwache Leistung. Um so gelungener ist das erfolgreiche deutschsprachige Compendium iuris publici S.R.I. (1746; 4von l.H.Ch. v. Selchow 1768; eine französische Übersetzung 1755), ebenfalls gelungen die "Einleitung zur Staatswissenschaft" (2 Tle. 1741/47), an der die im ersten Teil enthaltene Darlegung des Begriffs der "Balance von Europa" bemerkenswert ist. Das die verdiente Beachtung wohl nicht gefundene "Neue Systema des Rechts der Natur" (1754)36 begründet, von Thomasius ausgehend und über ihn hinausführend, das Naturrecht anthropologisch-voluntaristisch. Nicht so sehr die Thomasische Trennung von rechtlichen und moralischen Pflichten als die Annahme des Weiterbestehens der natürlichen Rechte in der zivilen Gesellschaft hebt dieses System aus der deutschen Naturrechtsliteratur der Aufklärung heraus, es eröffnet, wie heute anerkannt, das liberale Naturrecht in Deutschland. Durch den Schüler l.A.H. Heldmann wurden auch Schmauß' "Academische Reden und Vorlesungen über das teutsche Staatsrecht" publiziert (1766). Die von Schmauß vorgelegten Sammlungen von Rechtsvorschriften für Studienzwecke, außer einem Corpus juris publici S.R. lmperii academicum (1722) ein Corpus juris gentium (1730), sind für seine wissenschaftlich modeme Absicht, nur den positivrechtlichen Stoff vorzutragen, am bezeichnendsten3? Das erstere Corpus enthält die wichtigeren Reichsgesetze und Staatsverträge immer vollständig, die weniger wichtigen nur auszugsweise, es war noch bis zur Zeit um 1900 in akademischem Gebrauch. Nach seinem Tode übernahm Johann Stephan Pütter die volle Vertretung der publizistischen Fächer an der Georgia Augusta, er führte jahrzehntelang die Göttinger Lehre des ius publicum auf ihren Höhepunkt. Von anderen Göttinger Staatsrechtslehrern der ersten und zweiten Generation verdient am ehesten der nach Marburg gegangene Johann Heinrich Christian von Selchow 38 (1732-1795) Erwähnung, der jedoch mehr das Zivilrecht als das ius publicum zu seinem Arbeitsgebiet

35 Diese Formulierung bei dem in Göttingen die Ausbildung erhaltenen N. Th. Gönner: Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, 10. 36 Zum Naturrechtssystem Becher (s. Anm. 1) 91 ff.; Klippel85 ff. 37 Zu seiner rechtswissenschaftlichen Position Sellert (s. Anm. 29) 846. 38 Über ihn Pütter, Litt. II, 22 ff.; Landsberg III 1, 354 ff., Noten 226 f.; ADB 33, 670.

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hatte; immerhin gibt es auch von ihm einen soliden, auf Pütter fußenden Grundriß des ius publicum (Elementajuris publici Germanici, 1769). 3. Halle und Göttingen wurde von anderen Universitätsgründungen und -erneuerungen der Aufklärung der tonangebende Rang nicht abgelaufen. Nur diese beiden Anstalten sind für das 18. Jh. - auch Göttingen allerdings nicht vergleichbar wie Halle - Modelle wissenschaftlicher Modernisierung, dagegen können andere jüngere Hochschulgründungen bzw. -erneuerungen des 18. Jh. allenfalls unter einem Sonderaspekt als "mode1lhaft" gelten; so Erlangen (Gründung 1743) wegen des Durchschlagens der Aufklärung in einem Kleinstaat 39 , so Mainz (abschließende Reform 1784) wegen des ungewöhnlichen Ausbaus des staatswissenschaftlichen Fächerkanons, nämlich durch die Errichtung einer Historisch-Statistischen und einer Kameralwissenschaftlichen Fakultät4o . Auf den bis tief in die zweite Jahrhunderthälfte sich erstreckenden Prozeß der Erneuerung und Neugründung katholischer Universitäten (Neugründungen: Münster 1773/1780; Bonn 1777; Brünn 1778) brauchen wir nicht näher einzugehen 41 . Er schließt die Veränderung der akademischen Landschaft Deutschlands im 18. Jh. ab. Neue Ziele der Ausbildung, wie sie mit der Gründung Halles intendiert waren, liegen der katholischen Universitätsreform nicht zugrunde, sie bezweckt den Anschluß der katholischen gelehrten Anstalten an die als vorbildlich geltenden protestantischen, d. h. in erster Linie an Göttingen. Mit der Erneuerung der Universitäten im katholischen Reich faßte auch an ihnen das ius publicum festen Fuß, so daß nun seine akademische Einbürgerung als abgeschlossen gelten konnte; Moser konnte denn auch 1770 befriedigt konstatieren: "Es seynd nunmehro wenige Evangelische und Catholische Universitäten in Teutschland, auf denen nicht ein eigener ordentlicher Lehrer des Teutschen Staatsrechts zu befinden wäre,,42. Mit dem akademischen Siegeszug des ius publicum im katholischen Reich ging eine zunehmende Assimilierung katholischer und prote39 H. Frommer; Die Erlanger Iuristenfakultät und das Kirchenrecht 1743 -1810, 1974, 40 spricht von der Erlanger Universitätsgründung als "Aufklärung im Winkel". 40 Zur Mainzer Hochschulreform ausführlich Pick sowie in seiner sogleich in Anm. 41 erwähnten Arbeit. 41 Grundlegend zur katholischen Universitätsreform Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich, 1977 (mit Einzeluntersuchungen zu Würzburg, Ingolstadt, Köln, Trier, Mainz, Wien und anderen Hochschulen); zu dieser Untersuchung G. Klingenstein, Aufklärung an katholischen Universitäten, ZHF 6 (1979) 81 ff. Zu Mainz und zum Mainzer Reichsstaatsrecht Pick sowie seine ergänzende Arbeit: Aufklärung und Erneuerung des juristischen Studiums. Verfassung, Studium und Reform in Dokumenten am Beispiel der Mainzer Fakultät gegen Ende des Ancien regime, 1983. K. Neumaier; lus publicum. Studien zur barocken Gelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt. 1974 beschränkt sich auf das 17. und beginnende 18. Ih. Zu den Problemen der katholischen Aufklärung im 18. Ih. etwa auch L. Hammermayer; Werk und Wirkung von Andreas Gordon. in: Iahrb. d. Instituts f. Deutsche Geschichte, 4 (1975) 33 ff. 42 Neueste Geschichte der Teutschen Staats-Rechts-Lehre und deren Lehrer, Frankfurt 1770,13.

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stantischer Ansichten in den meisten reichsrechtlichen Fragen Hand in Hand. Wie unter der Wirkung der Aufklärung die Bedeutung des Konfessionsunterschiedes für Denkart, Erziehung und Regierungsgrundsätze unaufhaltsam verb laßt, so auch auf staatsrechtlichem Gebiet. Nicht daß er mit dem vollen Durchdringen der Aufklärung im katholischen Reich überhaupt den Rang eines Parameters für die staatsrechtliche Ansichtenbildung einbüßen würde, davon kann schon beim Weiterbestehen der deutschen Religionsverfassung nicht die Rede sein. Von einer irgendwie auffallenden Gegensätzlichkeit zwischen katholischer und protestantischer Reichspublizistik kann für das sich vollendende Aufklärungsjahrhundert aber jedenfalls nicht mehr gesprochen werden, auch an den katholischen Universitäten werden jetzt die Lehrbücher protestantischer Autoren völlig unbeanstandet benutzt. Um J 775 sind im katholischen Reich die in Göttingen vorgetragenen Staatsrechtslehren durchaus so anerkannt wie in seinen protestantischen Teilen, ihnen ließ sich gewiß auch so wenig wie Mosers "ehrlichen" deutschen Staatsrechtssätzen eine konfessionelle Einäugigkeit nachsagen. E. Pick weist darauf hin, daß im späten 18. Jh. die politischen Interessenunterschiede zwischen einzelnen katholischen Reichsbistümern wie Würzburg, Fulda und Mainz durchaus erheblicher sein konnten als etwa die zwischen Mainz und Hannover - "oder auf die Hochschulebene verlagert, zwischen Mainz und Göttingen,,43. Von der Würdigung einzelner katholischer Staatsrechtsgelehrter der Aufklärung sehen wir ab, insgesamt überwiegen auch für die zweite Hälfte des 18. Jh. unter den Staatsrechts schriftstellern die protestantischen gegenüber den katholischen 44 • Bestimmte, für die Lehre des ius publicum an den katholischen gelehrten Anstalten nicht untypische Besonderheiten sollten jedoch erwähnt werden. Zu ihnen gehört an erster Stelle die hohe Präferenz an denselben für das Naturrecht und ius publicum universale, weshalb aber auch an jenen das besondere deutsche öffentliche Recht durchaus nicht vernachlässigt zu werden brauchte; sodann, was eben dessen Wertschätzung bestätigt, das jedenfalls für eine einzelne, aber herausragende katholische Lehranstalt, nämlich die Mainzer "Reichsuniversität" nachweisliche hohe Interesse am gemeinen Territorialstaatsrecht, für das daselbst erstmals eine eigene Professur geschaffen wurde 45 ; schließlich das für einen Teil der katholischen gelehrten Anstalten kennzeichnende geringe Interesse an Staatenkunde und Reichshistorie. Mögliche Grunde für dieses Desinteresse liegen auf der Hand: das numerische Übergewicht der katholischen Stände im Reich, der Universalismus der katholischen Kirche, auch und wohl vor allem die im katholischen Reich im allgemeinen länger als in den protestantischen Territorien ausgebliebenen Staatsbildungsfortschritte. Möglicherweise war auch der Umstand, daß einzelne katholische Orte nicht ohne eine eigene historiographische Tradition gewesen sind (KloPick 391. Übersicht über die Publizisten an katholischen Universitäten bei Pütter 11, 124 ff. 45 Sie wurde 1782 errichtet und Johann Richard Roth übertragen; über ihn Pick 343 ff. sowie noch unten im Text. 43

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stergeschichtsschreibung), dem Interesse an katholischen Anstalten für Reichsund Staatengeschichte abträglich 46 .

111. 1. Ihren Höhepunkt erreicht die Staatsrechtswissenschaft der Aufklärung im Werk Johann Stephan Pütters (1725 -1807)47. Er und nicht Moser gilt und mit vollem Recht als der dogmatische Vollender des Reichsstaatsrechts. Keiner unter den Reichspublizisten wurde wie er zum Gründer einer Schule im deutschen Staatsrecht. Die Wendung der Aufklärung "von der Deduktion zur Empirie" (H. Thieme) kann an seinem Werk exemplarisch nachgewiesen werden: es ist Abschluß und Einleitung wissenschaftlicher Entwicklungen. Die thematischen Schwerpunkte Pütters sind deutsches Staatsrecht und Reichsgeschichte. Seine Arbeit hat sich jedoch auch auf andere Rechtsgebiete erstreckt, sein Werk gehört, wie dies von dem Werk Mosers nicht entfernt vergleichbar gesagt werden kann, der deutschen Rechtswissenschaft im ganzen an. Der Kaufmannssohn Stephan Pütter nahm als Zwölfjähriger die Universitätsstudien auf, und zwar in Marburg, wo er, nach Studien in Halle und Jena, auch sein Studium beendete; dort hörte er "mit großem Vergnügen und Nutzen"48 bei Wolf!. Im Alter von 21 Jahren wurde ihm von MünchfuJusen ein Lehramt in Göttingen angeboten, vor dessen Übernahme er sich eidlich zu dessen lebenslänglicher Wahrnehmung verpflichten mußte; damit war die weitere Lautbahn entschieden. Vor Aufnahme der Göttinger Lehrtätigkeit führte den jungen Gelehrten eine Bildungs- und Informationsreise zur Vervollständigung seiner Ausbildung nach Wetzlar, Regensburg und Wien; seit der Rückkehr von jener Reise ist Pütters Lebensgeschichte nach Landsberl9 "nur noch die Geschichte seiner Göttinger Vorlesungen". In Göttingen gelangte Pütter nach und nach zu allen für ihn dort erreichbaren Stellungen und Ehren: 1753 Titularordinarius (zuvor schon ao. Beisitzer des Spruchkollegiums), 1758 Hofrat, 1770 Geh. Justizrat, 1797 Prof. iur. primarius und Ordinarius des Spruchkollegiums; alle ihn von Göttingen weglockenden Angebote, darunter das Angebot des Universitätsdirektors in Halle Dies nimmt wohl Hammerstein (s. Anm. 41) 260f. an. 47 Über ihn Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, 1975 (mit umfassender Bibliogr. auch der ungedruckten Arbeiten); ausführlich zu Schriften und Vorlesungen auch schon F. Frensdorffin ADB 26, 749-777; Mohl, Gesch. u. Lit. 11,425-438; Landsberg III 1,331-353; Willoweit in HRG IV, 114-117; Link in: Staatsdenker 310-331; WyduckeI202ff.; Stol/eis, Gesch. I, 312ff.; Luigi Marino, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770-1820, Göttingen 1995, 261 ff.; U. Schlie, J.St. Pütters Reichsbegriff, 1961; H. Marx, Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache bei 1.St. Pütter und J .Fr. Runde, Diss. iur. Göttingen 1967. Zum Enzyklopädie-Verständnis Pütters A. Buschmann, Enzyklopädie und Jurisprudenz, in: Archiv f. Kulturgesch. 11 (1960) 296-317; vorzüglich zu seiner Vertragsvorstellung und dem Begriff der iura quaesita Schmidt-Aßmann 35 ff.; förderlich auch Preu 141 ff.; 167 ff. 48 Selbstbiographie, Bd. I, Göttingen 1798, 28. 49 III 1, 332. 46

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und einer Reichshofratsstelle, lehnte er ab, wohl nicht nur wegen der eidlichen Bindung an sein Lehramt, sondern auch aus Gewöhnung an Göttingen und weil er woanders nicht mit vergleichbaren Lehrerfolgen rechnen konnte. Die Lehrtätigkeit erreichte in den 70er Jahren mit über zweihundert Hörern den Höhepunkt. Aus der langen glänzenden Reihe seiner Hörer mögen Gustav Hugo 50 und Karl Friedrich Eichhorn erwähnt werden; außerdem erwähnen wir eine schon im älteren Schrifttum wiederholt angeführte Bemerkung Leopold Rankes über Karl August von Hardenberg, ebenfalls Hörer Pütters, nämlich daß man bei demselben der Applikation Pütterscher Doktrinen immer wieder begegnet51 •

2. Pütters Werk besteht - außer aus gedruckten und ungedruckten Responsa und Gutachten - hauptsächlich aus Grundrissen und Kompendien, aber auch aus schon als unbedingt modem zu bezeichnenden Monographien; unter den letzteren befinden sich mit ..Geist des westphälischen Friedens" (1795) und .. Über Mißheirathen teutscher Fürsten und Grafen" (1796) auch zwei nicht zeitgebundene größere Arbeiten, bezeichnenderweise erst des Alters. Die Grundrisse sind gewöhnlich Begleitarbeiten zu den Vorlesungen 52 , sie sollen für jede von Pütters regelmäßigen Vorlesungen seinen Hörern und anderen Interessierten einen Leitfaden an die Hand geben. Die beharrliche Ausführung dieser Absicht ging so weit, daß Pütter seine Kompendien immer wieder umarbeitete und bis in den Titel veränderte, also sich nicht bei der Neubearbeitung mit der üblichen Aufnahme von Zusätzen begnügte. Zur beliebten Verwendung der Göttinger Kompendien an anderen Universitäten im Reich trugen in erster Linie die Püttersehen Lehrwerke bei. Auch .bei einer gerafften Übersicht über Pütters Arbeiten kann die deutsche Überarbeitung der im lateinischen Original ungedruckten Göttinger Antrittsrede von 1748 nicht übergangen werden: ..Patriotische Abbildung des heutigen Zustandes beyder höchsten Reichsgerichte, worin der Verfall des Reichsjustizwesens, sammt dem daraus bevorstehenden Unheil des ganzen Reiches, und die Mittel, wie demselben vorzubeugen, erörtert werden,,53. Die Rede beleuchtet scharf den schwerfälligen Verfahrensgang an den beiden höchsten Reichsgerichten und wendet sich gegen das gewohnheitsrechtliche Rechtsmittel des Rekurses vom Reichskammergericht an den Reichstag; diese dezidierte jugendliche Kritik am Reichsprozeßverfahren paßt gewiß nicht zum geläufigen Bild von Pütter als eines politischen Stellungnahmen vorsichtig ausweichenden Fachgelehrten, er hat sich auch nicht nochmals über die Gebrechen der Reichsjustiz und ~dere Mängel der 50 Von ihm gibt es eine frühe Würdigung Pütters in dem von ihm herausgegebenen Civilist. Magazin 5 (1814) 54 ff., sie enthält eine anschauliche Beschreibung des Lehrvortrags. 51 Die Bemerkung Rankes ist angeführt bei Landsberg III I, 352, Noten 224, auch bei F. Frensdorffin ADB 26, 777. 52 Zu den Lehrveranstaltungen, darunter das zu Recht als Neuerung gerühmte, auch immer beibehaltene Practicum iuris (ein spezielles öffentlichrechtliches Praktikum wurde bald fallengelassen), Ebel (s. Anm. 47) 35 ff., 54 ff. Überhaupt zu den im vorrückenden 18. Jh. aufkommenden Practica J. Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der "praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jh., 1979, 193 f. 53 Hannover 1749; 2. Aufl. Wetzlar 1756.

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Reichsverfassung so drastisch geäußert54 . - Der vielbenutzte, gemeinsam mit dem Freund und Hausgenossen Gottfried Achenwall verfaßte kleine Grundriß Elementa iuris naturae (1750) wurde schon erwähnt55 ; nicht nebensächlich ist die Bemerkung, daß er den positivrechtlichen Kompendien vorausgeht. - Als wissenschaftlich beachtlicher hat wohl der noch vorbildlose "Entwurf einer juristischen Encyc1opädie" (1757; 21767) zu gelten, ihm liegt die Dichotomie von Privatrecht und öffentlichem Recht als oberstes Einteilungsprinzip zugrunde. - Eine unbedingt schwache Leistung ist das "Historisch-politisch~ Handbuch von den besonderen Teutschen Staaten" (1758), es ist zu ausgiebig mit Herrscher-Stammbäumen und Geschichtsdaten angereichert und wurde nach dem ersten Teil über Österreich, Bayern und die Pfalz liegen gelassen, einen weiteren Versuch im besonderen ius publicum territoriale hat Pütter nicht unternommen. - Die schnell entworfenen Elementa iuris Germanici privati hodierni (1748; 31779) können bereits als der Auftakt des vom Unbehagen über den vermischenden Usus modernus pandectarum hervorgerufenen Dauerstreits über Prinzip und Methode des einheimischen deutschen Privatrechts gelten. Das kleine Werk attestiert dem deutschen Privatrecht bei aller zweifelhaften Geltung seiner Sätze durchaus einen systematischen Charakter, nämlich da seine Institute allgemein in Deutschland vorkommen; diese Ansicht konnte auch die noch vor 1800 versuchte Erarbeitung des allgemeinen deutschen Territorialstaatsrechts ermutigen. - Ein hohes Interesse wandte Pütter einem Sondergebiet zwischen deutschem Privat- und Staatsrecht zu: dem "PrivatFürsten-Recht" (ius privatum principum), es war recht erst mit seinen Bearbeitungen als ein eigenes Rechtsgebiet anerkannt 56 . Die Herausdestillierung dieser in verstreuten Quellen vorliegenden disparaten Materie, also der besonderen Rechte und Gewohnheiten der .. Illustres" in Deutschland ist recht eigentlich Pütters Übergang von der kompendiarischen zur monographischen Arbeit. So sind die Fragen dieses bisher noch vernachlässigten Rechtsgebietes nicht nur in dem erfolgreichen Lehrbuch Primae lineae iuris privati principum speciatim Germaniae (1768; 31789) abgehandelt, sondern auch in der Monographie "Über Mißheirathen teutscher Fürsten und Grafen" (1796) und in der sie vorbereitenden Studie "Über den Unterschied der Stände, besonders des hohen und niedern Adels in Teutschland" (1795); sodann sind privatfürstenrechtliche Fragen mit vertiefender dogmatischer Absicht in einzelnen Abhandlungen des zweiten Teils der von allen Arbeiten Pütters wohl am häufigsten zitierten "Beyträge zum Teutschen Staats- und FürstenRechte" (1777 /79) erörtert, jener Sammlung kleinerer Monographien Pütters, in denen er einzelne Staatsrechtsfragen am ehesten ausführlicher behandelt. - Das staatsrechtliche Hauptwerk sind die Institutiones iuris publici Germanici, (1770; 54 Zu weiteren Schriften Pütters über Reichsprozeß und Reichsprozeßfragen Ebel (s. Anm. 47) llOff. 55 Zum Inhalt Stolleis, Gesch. I, 315 f. 56 Als systematischer Bearbeiter des Privatfürstenrechts trat vor Pütter nur Georg Melchior Ludolf(l667-1740) auf; zu dessen Schriften Püfter, Litt. I, 294f.; H. Schulze, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, Leipzig 1865,71.

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61802)57, eine Umarbeitung der erstmals 1754 erschienenen, mehrmals aufgelegten Elementa iuris publici Germanici; dazwischen liegt der "Kurze Begriff des Teutschen Staatsrechts" (1764; 21768). Sosehr die Institutiones im Verlauf der Überarbeitung angewachsen sind, sind sie doch eher nur ein Grundriß geblieben, ein modemes stoffreiches Lehr- und Handbuch des Staatsrechts des Reiches vor seiner Auflösung lieferte erst Pütters Schüler earl Friedrich Häberlin mit dem "Handbuch des deutschen Staatsrechts nach dem System des Herrn geheimen Justizrath Pütter" (1794/97). - Die Arbeiten zur Reichshistorie beginnen mit dem Grundriß "Staatsveränderungen des Teutschen Reichs von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten" (1753; 71795); auf ihn sind noch andere Darstellungen der Reichsgeschichte gefolgt, darunter die gelungene dreiteilige "Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches" (1786/87; 31798), die vom Gang der politischen Entwicklung am wenigsten entwertete modernste Frucht von Pütters historischer Darstellungskunst58 . - Das für uns wichtigste Werk Pütters ist noch immer nicht erwähnt: die dreibändige "Litteratur des Teutschen Staatsrechts" (1776/83)59, die große Zusammenstellung des bis zu Pütters Glanzzeit angefallenen Schrifttums zum deutschen Staatsrecht; auch dieses Werk ist von einer Vorlesung, und zwar einer frühzeitig aufgenommenen, nämlich über "Gelehrte Geschichte der Jurisprudenz" angeregt, aus der bald eine Vorlesung über "Litteratur des teutschen Staatsrechts" wurde. Das für uns unentbehrliche Werk ist im ersten Teil nicht nur eine mit biographischen Angaben und Inhaltsübersichten angereicherte Bibliographie, sondern, wie der Titel des ersten Teils anzeigt, eine "Gelehrtengeschichte des Teutschen Staatsrechts", die auch Kommentierungen des Entwicklungsganges des Faches enthält; erst im Verlauf des zweiten Teils wird das Werk zu einer nach Materien gegliederten "Bücherkenntnis". - Ein ähnlich geartetes Werk ist der "Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen" (2 Tle. 1765/88; ein dritter Teil von F. Saalfeld 1820; ein vierter von H.G. Oesterley 1837), ein ebenfalls neuartiges, für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte unentbehrliches Werk. 3. a) Unsere Gesamtwürdigung von Pütters Werk hat mit seinen Beiträgen zur Dogmatik des deutschen Staatsrechts zu beginnen. Bis zu den staatsrechtlichen Kompendien aus der Zeit des Deutschen Bundes wurde Pütter mit der Unterscheidung von "Constitutions-" und "Regierungsrecht" vorbildlich 6o , die nicht mit der 57 Zum Inhalt sogleich Anm. 60. Deutsche Übersetzung von C.A.F. Graf v. Hohenthai unter dem Titel: Anleitung zum Teutschen Staatsrechte, hg. mit VOIT. u. Anm. v. F.W. Grimm, Bayreuth 1792. 58 Die weiteren reichsgeschichtlichen Arbeiten sind: Handbuch der Teutschen Reichshistorie, Göttingen 1762 (2. Aufl. 1772); Teutsche Reichsgeschichte in ihrem Hauptfaden entwickelt, Göttingen 1778 (3. Aufl. 1793); Kurzer Begriff der Teutschen Reichsgeschichte, Göttingen 1779 (lat. Ausg. 1794). 59 Fortsetzung und Ergänzung ist J.L. Klübers Neue Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Erlangen 1791. 60 Die Institutiones gliedern sich in: Politische Reichsbeschreibung und Bestimmung der forrna imperii (Buch 1 u. 2); die Ausübung der höchsten Gewalt unterschieden nach ihren

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erst im 19. Jh. geläufig werdenden Unterscheidung von "Staatsrecht" und "Verwaltungsrecht" zu verwechseln ist. Mit den Überarbeitungen der Institutiones wandelt sich die dortige Darstellung der Regierungs- und Hoheitsrechte von ihrer losen Zusammenstellung zu einem am Staatszweck orientierten System der Staatsfunktionen 61 , Die sachlich zusammentreffenden kaiserlichen und landesherrlichen Hoheitsrechte sind jeweils nebeneinander behandelt, was an sich Pütters Auffassung der Landeshoheit als einer selbständigen Staatsgewalt widerspricht, jedoch schulernachend wurde; auch die letzten Lehrbücher des deutschen Staatsrechts vor 1806 ziehen eine Reichs- und allgemeines Territorialstaatsrecht synthetisierende Darstellung der Abscheidung der beiden Stoffkreise vor62 . Zur Abgrenzung der kaiserlichen von den landeshoheitlichen Rechten dient Pütters "Grenzformel,,63. Nach ihr beschränken sich die Reservatrechte des Kaisers auf die bereits vor der Zeit des Aufkommens der Landeshoheit vorhandenen Hoheitsrechte, und zwar auch nur soweit sich jene im ganzen für das Reich oder doch für einen wesentlichen Teil desselben nachweisen lassen; damit sind alle seitdem aufgekommenen Hoheitsrechte der Landeshoheit eingegliedert, sie wird "zum Orientierungspunkt der Abgrenzung und zugleich zum wesentlichen Inhalt der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt,,64. Pütters hervorstechender Beitrag zur Modemisierung der Lehre von den Hoheitsrechten ist sein Polizei begriff. Mit ihm ist die Aufgabe der Polizei als künftige Übelabwendung definiert 65 , diese Formulierung nimmt in der Sache den erstmals im Preuß. Allgemeinen Landrecht (1792/94) als Gefahrenabwehr gefaßten modemen Polizeibegriff vorweg 66 . Nicht weniger bekannt ist Pütters Definition des Reiches als "eines aus Staaten zusammengesetzten Staates"67, damit war die Trägem (Buch 3-5); die "einzelnen Regierungs- oder Hoheitsrechte, auch Regalien genannt" (Buch 6-9); die restlichen Bücher bis Buch 16 behandeln diverse Materien (Reichsvikariat, Kaiserwahl und -krönung kommen erst im 15. Buch vor). 61 Hierzu Preu 177 ff.; Link in: Staatsdenker 319 ff.; Böckenförde, Gesetz 57 ff. 62 Für dieses letztere Vorgehen hat sich nur Klüber entschieden; dazu noch unten. 63 Dieser Ausdruck bei K. Kormann, Die Landeshoheit in ihrem Verhältnis zur Reichsgewalt im alten deutschen Reich, ZPol7 (1914) 168f. 64 v. Schönberg, Reichslehen 67. 65 Die endgültige Fassung ist: "Ea supremae potestatis pars, qua exercetur cura avertendi malafutura in statu reipublicae interno in commune metuenda, dicitur ius politicae" (Institutiones, 1770, § 321). Zu Mosers ebenfalls streng am rechtlichen Gesichtspunkt orientierten Begriff der "Policey-Sachen" (Von der Landeshoheit in Policey-Sachen, 1773 = Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 16 T. 6) R. Schulze, Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jh., 1982, 184ff. 66 Vgl. ALR § \0 II 17; einschränkend gegenüber der Ansicht, daß schon Pütter als der "Schöpfer des modemen Polizeibegriffs" (EbelI03) zu gelten hat, die abwägende Argumentation bei Preu 180 ff. 67 Entwickelt in: Bey träge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte I, Göttingen 1777, 17 ff. ("Von der Regierungsform des Teutschen Reiches und einigen davon abhängenden Grundsätzen des Teutschen Staatsrechts"); vgl. außerdem 299 ff. ("Von den besonderen Bestimmungen der Landeshoheit, sofern sie noch eine höhere Gewalt von Kaiser und Reich über sich hat"). Zu Pütters Staatenstaatsbegriff Schlie (s. Anm. 47) 41 ff.; A. Randelzhofer, 9 Friedrich

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staatliche Anomalität des Reiches verneint, die unentschiedene staats theoretische Grundsatzdiskussion über das Reich abgeschlossen. Pütter kann allerdings nicht als der Urheber der Staatenstaatslehre und ihrer Anwendung auf das Reich gelten, Ludolph Hugo, der schon diese Lehre anhand des Reiches ausgearbeitet hatte, erwähnt er im übrigen bei seiner Darlegung des Staatenstaatsbegriffs nicht68 . Sachlich besteht sein Verdienst an der Formulierung des Staatenstaatsbegriffs auch in nicht mehr als dessen terminologischer Verbesserung. So sieht er die Beteiligung der Reichsstände an der Reichsgewalt wie alle vor ihm auf der Linie der Staatenstaatslehre argumentierenden Autoren mit der Ausnahme von Leibniz nicht als konstitutiv für den Begriff des Staatenstaates an. Sondern er legt bei dessen Aufstellung und Anwendung auf das Reich das Gewicht ganz auf die staatsrechtliche Überordnung des Reiches, wie sie aufgrund der Anerkennung eines gemeinsamen majestätischen Oberhaupts durch alle Reichsglieder und der allgemeinen Geltung der Reichsgesetze und Urteile der Reichsgerichte nicht bezweifelt werden kann. Den Staatenstaat sieht er nicht als eine Irregularität an. Im Gegenteil, die Einteilung der Staatskörper in "einfache" und "zusammengesetzte" betrachtet er gegenüber der geläufigen Unterscheidung dreier Staatsformen ausdrücklich als die "höhere" Gliederung 69 , folgerichtig gelten ihm für die Gegenwart auch noch andere Gemeinwesen als das Reich, nämlich die Niederlande und die Eidgenossenschaft als Staatenstaaten, unter Absehung davon, daß in den beiden letzteren Fällen der Bund nicht mit einer eigenen Staatsgewalt ausgestattet ist. Man kann Pütter kritisieren, weil er den Begriff des aus Staaten zusammengesetzten Staates nicht durch die Aufnahme der gliedstaatlichen Beteiligung an der oberstaatlichen Gewalt weiterentwickelt 70, bemängelt dann aber, daß er noch nicht das spezifische Merkmal erst des modemen deutschen Bundesstaates berücksichtigt.

b) Pütters Kompendien der Reichshistorie ("Teutsche Reichsgeschichte") verdankt die neue historische Fachdisziplin das von überflüssigen Stoffzutaten bereinigte Profil 71 • Pütter legt an ihren Stoff methodisch strengere Maßstäbe an als die Vorgänger, er entschlackt sie von Dynastien-, Kriegs- und Diplomatiegeschichte. Als die Darstellung der "Staatsveränderungen des Teutschen Reiches" ist zum einen die Reichshistorie Bestandteil der allgemeinen deutschen Geschichte, zum anderen die spezifische und völlig unentbehrliche Hilfswissenschaft für das deutsche Staatsrecht, die jedoch dessen dogmatische Eigenständigkeit nicht schmälern kann, sie ist nicht der Vormund des ius publicum. In seinen ausgereiften geschichtlichen Völkerrecht!. Aspekte 87 ff.; v. Schönberg, Reichslehen 64 ff.; aus dem älteren Schrifttum: S. Brie, Der Bundesstaat. 1. Abt.: Geschichte der Lehre vom Bundesstaate, Leipzig 1874, 25 sowie ders., Theorie der Staatenverbindungen, Breslau 1886, S. CXXII, CXXVII ff. 68 Auch in Pütters Litteratur des Teutschen Staatsrechts ist Hugos Dissertation De statu regionum Germaniae (1661) erst im bibliographischen 3. Teil erwähnt, sie wird dabei allerdings mit dem Lob bedacht: "Eine Schrift, die vorzüglich vielen Beifall gefunden hat, und noch immer verdient" (S. 195). 69 Bey träge I, 20. 70 In diesem Sinne die Kritik bei Randelzhofer, Völkerrecht!. Aspekte 89. Vg!. auch Schlie (s. Anm. 47) 52, 54; außerdem die kurze Bemerkung bei Link, Zur Entstehung des modemen Staatsgedankens: Der Beitrag Göttingens, in: JöR NF 30 (1981) 17 Anm. 88. 71 Zur reichsgeschichtlichen Leistung Hammerstein, Reichs-Historie, in: Aufklärung und Geschichte (s. Anm. 1) 82 ff., 101 ff.; Landsberg III 1, 338ff; Ebel (s. Anm. 47) 106 ff.

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Werken sucht bereits Pütter den "Geist" der Nation auf deren verschiedenen Entwicklungsstufen lebendig zu machen, er bereitet damit die Aufhebung der Reichsgeschichte zu der von K.F. Eichhorn begründeten "Deutschen Rechtsgeschichte" vorn. 4. a) Pütters juristisch-fachwissenschaftliche Leistung ist vom Typus her die des Systematikers. Immer gilt sein Interesse an einer Rechtsmaterie vorzüglich der inneren Ordnung derselben, auf die "richtige Verbindung" von ius universale und ius particulare kommt es ihm in erster Linie an 73 . So gewiß er in allen seinen positivrechtlichen Arbeiten vom Vernunftrecht nur einen sparsamen Gebrauch macht, gilt es ihm doch als die allgemeine Rechtswissenschaft, die auch im positiven Staatsrecht Stütze und Stab sein kann. Wenn er daher den hohen "Werth richtig bestimmter allgemeiner Grundsätze oder bloßer Hypothesen in der Rechtsgelehrsamkeit, insonderheit im teutschen Staats- und Fürsten-Rechte" betont74 , so nicht nur weil ihm dieselben als unentbehrlich für die Ordnung des besonderen Rechtsstoffs gelten, sondern auch weil sie die Rechtsgewinnung anzuleiten vermögen; auch sehr weitgehende positivrechtliche Folgerungen aus allgemeinen Begriffen konnte er durchaus nicht verschmähen. "Begriffsjuristisch" im Sinne der Beherrschung der Argumentation durch abstrakte, stoffindifferente Begriffe ist jedoch sein Werk nicht; die von ihm dem Einfluß Wolffs zurückgeschriebene verbreitete Neigung zum Demonstrieren "nur aus angenommenen Begriffen und Sätzen" hat er deutlich genug kritisiert75. b) Pütters staatsrechtliche und reichs geschichtliche Kompendien gelten als die prototypischen Erzeugnisse eines apolitischen Fachgelehrtenturns, die exakte Beschreibung der staatsrechtlichen Formen und Hülsen des erstarrten Reiches scheint ihm völlig zu genügen. Nur zu bereitwillig läßt er politische Wertungen beiseite, politische Marginalfragen wie die Rangstreitigkeiten auf dem Regensburger Reichstag finden mehr Interesse als die Reichsexekution gegen Friedrich 11. von Preußen. Allerdings hat sich Pütter nicht immer vor dem Aussprechen politischer Werturteile gescheut, zu erinneren ist an seine temperamentvolle jugendliche Kri72 Zum Zusammenhang von Eichhorns Deutscher Rechtsgeschichte (Bd. I 1808) mit Reichsgeschichte und Publizistik des Alten Reiches Stolleis, Die historische Schule und das öffentliche Recht, in: Die Bedeutung der Wörter, Festschr. St. Gagner, 1991, 494 ff. 73 Preu 168 ff., 173, der auch umsichtig den Ansichtenstand zu Pütters geistes- und wissen schafts geschichtlicher Einordnung referiert. Die nicht haltbare Gegenansicht, nämlich daß die vernunftrechtlichen Elemente bei Pütter nur eine Konzession an den Zeitgeist sind, bei Ebel (s. Anm. 47) 72 ff. Wenn Ebel Pütter als ,,reinen Juristen" vom Naturrecht abzusetzen versucht, dann übersieht er, daß gerade die juristischen Wesenszüge von Pütters Arbeit entscheidend dem Einfluß des Vernunftrechts sich verdanken. Abgewogen zur Frage, ob Pütter als "Naturrechtslehrer oder Rechtspositivist" anzusehen ist, auch Link in: Staatsdenker 315 ff. W. Neusüß, Gesunde Vernunft und Natur der Sache. Studien zur juristischen Argumentation im 18. Jh., 1970,77 meint allerdings, daß Pütter seine doppelte Leidenschaft für System und Detail nicht eine bestimmte Lehrart hat finden lassen. 74 Im Einleitungsaufsatz zu Th. 1 der Bey träge. 75 V gl. Litt. I, 444 f.

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tik an den Gebrechen der Reichsjustiz. Und noch im "Geist des westphälischen Friedens" trägt er eine dezidierte politische Kritik vor, nämlich an der dominanten Stellung des katholischen Adels in der Regierung der geistlichen Fürstentümer. Bei anderer Gelegenheit kritisiert er zwar nur nebenbei, aber scharf das pseudostaatliche Prestige streben der kleineren Reichsstände, und zwar mit Verweis auf die daraus resultierende Bedrückung der Untertanen 76; Landstände bezeichnet er ohne Umschweife als die "Repräsentanten der sämtlichen Untertanen eines ganzen Landes", die ein "Mitregierungsrecht" bei Entscheidungen über die Landesverfassung besitzen77 - dies war vor der Französischen Revolution bestimmt noch keine geläufige Ansicht. Würde seine hier außer Betracht zu lassende Gutachtertätigkeit mitberücksichtigt werden, dürfte sich ein noch deutlicheres Bild von seiner Bereitschaft zur Kritik an politischen Zeiterscheinungen ergeben. Immerhin sollte eine im Zusammenhang mit der Gutachtertätigkeit entstandene, auch nicht kleinere Schrift noch erwähnt werden: die gegen unautorisierten Büchernachdruce s. Sie verdient nicht nur als ein Beitrag zur naturrechtlichen Lehre vom geistigen Eigentum und damit als bezeichnend für Pütters Bereitschaft zur Heranziehung überpositiver Rechtsgrundsätze Erwähnung, sondern eher noch mehr wegen der breit angelegten Diskussion der wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkte, die Pütter für die Entscheidung der Frage nach der Erlaubtheit oder Nichterlaubtheit des unautorisierten Nachdrucks als relevant ansieht. Daß sein Polizeibegriff schon als "liberal" bezeichnet werden kann, braucht kaum unterstrichen zu werden. Als politisch modem hat aber auch zu gelten, daß Pütter das Lehnsverhältnis offensichtlich nur noch als ein sittliches und konventionelles Verhältnis ansieht79 , damit stellt er sich im Grunde auf den Boden des staatsrechtlich noch nicht offiziell anerkannten einzelstaatlichen Souveränitätsprinzips. In seinen Schriften über deutsche Standesfragen beschränkt er die staatsrechtlich relevanten Adelsvorrechte auf den geschichtlich geschlossenen Mitgliederkreis des regierenden deutschen Adels, was sicher nicht als ein Plädoyer für staatsbürgerliche Rechtsgleichheit gelten kann, aber doch für eine staatsrechtliche Homogenisierung der deutschen Gesellschaft Voraussetzung für den zukünftigen Umbau der deutschen Fürstenstaaten zu konstitutionellen Monarchien so . Vollends rundet es das Bild von seiner politischen Hal-

Vgl. Bey träge I, 346. Bey träge I, 34,183. Nach R. Vierhaus, Deutschland im 18. Jh., 1987,24,195 sollte eine solche Auffassung von den Landständen "den Lesern einen Idealzustand zeigen" und ihnen ins Bewußtsein rufen, "daß es auch in Deutschland geschichtliche Institutionen gab, die geeignet waren, den monarchischen Absolutismus zu begrenzen und institutionell gesicherte Teilnahme und Mitwirkung der Regierten an der Regierung zu ermöglichen". 78 Der Büchernachdruck, nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft, Göttingen 1774. Diese Schrift ist sorgfältig analysiert bei Neusüß (s. Anm. 73) 81-93. 79 Nur "aus dem Verhältnis des Staates zum Lehnwesen" kann sich ein besonderer Teil des Staatsrechts ergeben; Encyclopädie, Göttingen 1767,21. 80 Auffallend die Übereinstimmung mit der von J. Schröder; Justus Möser als Jurist, 1986, 21 bei Möser aufgezeigten bescheidenen politischen Reformwünschen: Gleichgewicht "zwar 76 77

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tung ab, daß er das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten begrüßt und sich von seiner Einführung den Anstoß zur Schaffung eines allgemeinen Nationalgesetzbuches erhofft hat.

IV. 1. Je mehr sich das Aufklärungsjahrhundert dem Ende zuneigte, desto mehr nahmen die staatsrechtlichen Veröffentlichungen zu. In welch flutartigem Maße, zeigt der dicke Fortsetzungsband zu Pütters Litteratur des Teutschen Staatsrechts, den Johann Ludwig Klüber 1791 vorlegen konnte: "Neue Litteratur des teutschen Staatsrechts. Als Fortsetzung und Ergänzung der Pütterischen". Auch in der äußeren Form veränderte sich das publizistische Schrifttum im späten 18. Jh. auffallend zu seinem Vorteil. So meinte Pütter schon 1781 einen neuerdings auch im deutschen Staatsrecht "merklich zugenommenen Geschmack an schönen Wissenschaften" registrieren zu können, er knüpft daran die Vermutung, daß dieser Umstand "noch fernere Folgen erwarten lassen sollte"Sl. Was den bearbeiteten Stoff anlangt, fand nun nach dem von Moser gegebenen Beispiel das Territorialstaatsrecht steigendes Interesse. Das höhere wissenschaftliche Renommee machte allerdings das Territorialstaatsrecht dem solange gründlich bearbeiteten Reichsrecht auch bis zu den letzten Tages des Alten Reiches nicht mehr streitig. Von den Legion werdenden publizistischen Autoren aus den zwei bis drei letzten Jahrzehnten bis zum Ende des Alten Reiches können wir im folgenden nur einige wenige mit bekannterem Namen erwähnen. Es verdient von denselben aber auch keiner ein vergleichbares Interesse wie Moser und Pütter; die so stilverschiedenen Leistungen jener beiden sind der Maßstab für die Beurteilung der Gesamtleistung der Publizistik des späten Reiches.

2. Pütter hat das Territorialstaatsrecht nicht entfernt so ausgiebig wie Moser bearbeitet. Nicht nur daß es von Moser die zahlreichen Bearbeitungen einzelner reichsständischer Staatsrechte gibt, auch seine beiden Riesenwerke zum Teutschen Staatsrecht enthalten alles in allem wohl mehr Territorialstaatsrecht als eigentliches Reichsstaatsrecht. Als stilgründend kann jedoch Mosers beispiellose Erarbeitung des Territorialstaatsrechts nicht gelten. Und zwar schon da ihm dabei als Ziel nicht die Entwicklung des allgemeinen Territorialstaatsrechts des Reiches zu einem eigenen, dem Reichsrecht analogen Lehrsystem vorschwebte, ja, sein hartnäkkiges Insistieren auf dem urkundlich nachweislichen Recht mußte eher die Unmöglichkeit der Aufstellung eines allgemeinen Territorialstaatsrechts vor Augen führen. Dagegen konnte Pütters Bereitwilligkeit, dem allgemeinen ("natürlichen") Staatsrecht gerade im ausgebauten Reichsrecht eine nicht zu schmale Anwendbarnicht der einzelnen Bürger im Staat, wohl aber der Stände untereinander in ihren inneren Hoheitsrechten". 81 Litt. 11, 217 f.

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keit zuzubilligen, eher zum systematischen Aufbau eines allgemeinen Reichs-Territorialstaatsrechts ermutigen, so wenig auch Pütter die Aufstellung eines allgemeinen deutschen Staatsrechts befürwortet hat. Das allgemeine Territorialstaatsrecht kam natürlich ohne kräftige Anleihen beim natürlichen Staatsrecht nicht aus. Immerhin bedienten sich jene jüngeren Publizisten, die ein allgemeines Territorialstaatsrecht des Reiches auszuarbeiten suchten, im ganzen der Grundsätze des modemen natürlichen Staatsrechts nur eher zurückhaltend, nämlich hauptsächlich zur Stoffstrukturierung, nicht auch zur Lückenschließung. Dies entsprach nicht nur Pütters vorsichtiger Anerkennung des Nutzens des natürlichen Staatsrechts im deutschen Staatsrecht, sondern trug auch Mosers Kritik an der Geltungsüberdehnung des einen und anderen Grundsatzes der bisherigen Territorialstaatslehre Rechnung 82 . Die Entwicklung des allgemeinen Territorialstaatsrechts zu einem eigenen Lehrsystem kann durchaus nicht als allgemein bezeichnend für die Publizistik der späten Aufklärung gelten. Vielmehr bleibt nach Pütters Vorbild die systematische Synthese von Reichs- und Territorialstaatsrecht auch für die letzten Lehrbücher des Staatsrechts des Alten Reiches unbedingt charakteristischer, d. h. die nach Materien gegliederte Zusammenbehandlung von reichs- und territorialrechtlichen Vorschriften. 3. Systeme des allgemeinen Territorialstaatsrechts des Reiches sind das zweiteilige "Staatsrecht deutscher Reichslande" (1788/92) des Mainzer Professors der Rechte Johann Richard Roth (1749-1813)83 und "Anfangsgründe des Staatsrechts der gesamten Reichslande" (1787) des Jenaer Rechtsgelehrten Andreas Joseph Schnaubert (1750-1825)84, ein geschickter angelegtes handliches Unterrichtswerk; auch von einem nachmaligen "deutschen Jakobiner", Christoph Friedrich Cotta (1758-1838)85, gibt es den Versuch eines solchen Systems: "Einleitung in das allgemeine Staatsrecht der teutschen Lande" (1786). Demgegenüber liegt eine nach Materien gegliederte Zusammenbehandlung von Reichs- und Territorialstaatsrecht in zwei Werken des Kieler, später Tübinger Rechtsprofessors Johann Christian Majer (1744-1821)86 vor: "Teutsches geistliches Staatsrecht" (2 Tle. 1773) und "Teutsches weltliches Staatsrecht" (3 Tle. 1775/76)87. Diese beiden umfänglichen Werke enthalten viel politisches und staatstheoretisches Räsonnement, so daß sie 82 Zu Mosers Destruktion der bisherigen Territorialstaatslehre und ihrer Wirkung Willaweit 350ff. 83 Über ihn Landsber.g III 1,457 f., Noten 292f.; Pick 343 ff.; ADB 29, 315. 84 Über ihn Landsberg III 1,455 f., Noten 290ff.; Geschichte der Universität Jena, 1958, Bd. I (Darstellung) 281 f.; ADB 32, 83. 85 Über ihn F Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland, 1951, 138ff.; ADB 4, 518. 86 Über ihn Landsber.g III I, 454 f., Noten 290; R. v. Mahl, Lebenserinnerungen, Bd. 1, 1902, 88f.; NDB 15,717. 87 Eine Neubehandlung ist: Teutsche Staats-Constitutionen, 2 T1e., Hamburg 1800.

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als besonders bezeichnend für die steigende Bereitschaft zur Amalgamierung des deutschen Staatsrechts mit den modemen Staatsrechtsgrundsätzen gelten können. In der Folge bearbeitete Majer u. a. das Privatfürstenrecht 88 und legte eine "Allgemeine Theorie der Staats-Constitution" (1799) vor, während er die neuen staatsrechtlichen:Verhältnisse nach 1806 nicht mehr bearbeitet hat; immerhin ist noch Robert Mohl, der hartnäckige Kritiker des gemeinen deutschen Staatsrechts des 19. Jh., durch seine Schule gegangen 89 . Auch Bearbeitungen des Staatsrechts für eine besondere Kategorie der Reichsstände wurden im späten 18. Jh. vorgelegt, sie dokumentieren das schnell wachsende Unbehagen an der Unhaltbarkeit großer Teile der Territorialverfassung des gealterten Reiches. So kann ein "Reichsprälatisches Staatsrecht" (2 Tle. 1782/85) von Willebold Held (1724-1789) erwähnt werden, des weiteren ein "Geistliches und weltliches Staatsrecht der teutschen katholisch-geistlichen Erz-, Hoch- und Ritterstifter" (1788 - 91) von lose! von Sartori (1740-1812)90, ein ,Staatsrecht der unmittelbaren freien Reichsritterschaft" (3 Tle. 1786 - 89) von 1. G. Kerner, auch der "Versuch eines Staatsrechts, Geschichte und Statistik der freien Reichsdörfer in Deutschland" (1785) von E.L. w: von Dacherö-

den.

Über die Quellen des allgemeinen Territorialstaatsrechts des Reiches erzielten auch die letzten Reichspublizisten keinen Konsens, d. h. die Frage, ob das gemeinverbindliche Territorialstaatsrecht nur den für Deutschland einheitlich gegebenen Rechtsquellen wie den Reichsgesetzen entnommen werden darf oder ob es auch in der faktischen Übereinstimmung der Partikularrechte in Deutschland vorliegt, blieb wie auch lange noch im 19. Jh. offen 91 . Den Standpunkt, daß das gemeine Territorialstaatsrecht nur aus anerkannten deutschen Rechtsquellen geschöpft werden kann, nahm Majer ein; er lehnt den "Parallelismus" der Partikularrechte als eine Quelle des deutschen Staatsrechts ab und akzeptiert als dessen Quellen nur die Reichsgrundgesetze, das Reichsherkommen sowie das aus der Analogie des Reichsstaatsrechts für die Territorien Ableitbare. Den Gegenstandpunkt vertrat - außer Roth - Schnaubert, der wegen der Verschiedenheit der Verfassungen des Reiches und der Territorien die analoge Anwendung des Reichsstaatsrechts im Territorialstaatsrecht grundsätzlich ablehnt92 ; damit war er darauf angewiesen, Sätze des allgemeinen Territorialstaatsrechts auch aus der bloßen Übereinstimmung der Rechtsentwicklungen in einem mehr oder weniger großen Teil der Reichsterritorien abzuleiten, er akzeptiert also, daß beim Schweigen der Rechtssatzungen des einzelnen Territoriums zur Schließung einer Lücke in dessen Recht auf das für andere Territorien Geltende sinngemäß zurückgegriffen werden darf. Majers Ablehnung der Analogie außer der des Reichsstaatsrechts richtete sich gegen eine Geltungsüberdehnung des partikularen Rechts; dies war an sich ein moderner positivistischer Standpunkt, der aber aufgrund Allgemeine Einleitung in das Privat-Fürstenrecht überhaupt, Tübingen 1783. Dazu M. Friedrich, Robert Mohls Auseinandersetzung mit dem allgemeinen deutschen Staatsrecht des 19. Jh., in: Politik, Philosophie, Praxis. Festschr. W. Hennis, 1988, 116ff., 88

89

118.

Über ihn Landsberg III 1,428 ff., Noten 275 f.; ADB 30, 378. Zum Unterschied zwischen gemeinem und allgemeinem deutschen Recht noch § 14 I. Zum folgenden auch M. Friedrich, Die Erarbeitung eines allgemeinen deutschen Staatsrechts seit der Mitte des 18. Jh., JöR 34 (1985) 1 ff., 9. 92 Vgl. Anfangsgründe des Staatsrechts der gesamten Reichslande, 1787, 11 f. 90

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2. Teil: Unter dem Einfluß der Aufklärung

der Verschiedenheit der Verfassungsentwicklungen des Reiches und seiner Territorien längst anachronistisch war.

4. Die Zeit um 1800 kennt bereits modeme staatsrechtliche Monographien, und zwar speziell zu Fragen des Territorialverfassungsrechts. Zu erwähnen sind: "Über das Staatseigenthum in den deutschen Reichslanden und das Staatsrepräsentationsrecht der deutschen Landstände" (1794) von Adolf Felix Heinrich Posse (17601825)93, ein vom Prinzip der Staatssouveränität ausgehender Unterscheidungsversuch von Landständen und modemen allgemeinen Repräsentationen, der in der nach 1815 entbrennenden Diskussion über landständische Vertretungen offenbar keine Beachtung mehr gefunden hat94 ; sodann die kleinere Schrift des uns noch im weiteren Verlauf begegnenden Karl Salomo Zachariä (1769-1843) "Geist der deutschen Territorialverfassung" (1800), in der die Landeshoheit auf das Eigentum am Land zurückgeführt ist; desweiteren "Über das Prinzip der deutschen Territorialverfassung" (1803) von Joseph Franz Xaver von Epplen, ein Begründungsversuch der Landeshoheit von der Volkssouveränitätslehre her. 5. Aus dem letzten Jahrzehnt der Reichsverfassung stammen gleich mehrere neue Lehrbücher des deutschen Staatsrechts, sie sind, abgesehen von Pütters Institutiones, die wissenschaftlich modernsten Darstellungen des Staatsrechts des Alten Reiches. Die beeindruckende Reihe dieser Werke eröffnet das gelungene "Handbuch des Teutschen Staatsrechts" (1793/97; 3 Bde. 21797) des durch Pütters Schule gegangenen Helmstedter Professors earl Friedrich Häberlin (1756 _1808)95. Nach diesem erklärten Anhänger der französischen Verfassung von 1791 liegt "die Grundgewalt bey der Nation"; die Reichsgrundgesetze werden daher als Verfassungsverträge interpretiert; die beschränkte Monarchie gilt als die anzustrebende Verfassungsform, da sie die Freiheit am wenigsten unterdrückt; ihre Herbeiführung für Deutschland wird jedoch nicht von einer politischen Umwälzung erwartet, sondern Häberlin sieht wie so viele andere vor ihm schon die noch bestehende deutsche Verfassung als die einer beschränkten Monarchie an. Schon daraus geht hervor, daß auch Häberlins Handbuch nicht der Übergang zu politischer Publizistik und Verfassungspolitik ist, sondern es ist ein unbedingt in der Nachfolge Pütters stehendes, allerdings im Stil gegenüber dessen Arbeiten wissenschaftlich moderneres Werk, an dessen Institutiones es sich auch erklärtermaßen nach dem vollen Titel anlehnt 96 , ohne daß es jedoch ein Kommentar zu Pütters Standardarbeit ist; imProfessor in Rostock, ab 1805 in Erlangen; über ihn ADB 26, 459. Bei H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, 1968 ist die Schrift nicht erwähnt. 95 Bis 1786 Professor in Erlangen. Über ihn Landsberg III 1, 430 ff., Noten 276 f.; Stolleis, Gesch. I, 319f.; Bäckenfärde, Gesetz 61 f.; Schmidt-Aßmann 40ff.; E. Fischer, earl Friedrich Häberlin, ein braunschweigischer Staatsrechtslehrer und Publizist 1756-1808, Diss. phi!. Gött. 1914; ADB 10,278; NDB 7, 420. Über den Vater und Reichshistoriker Franz Dominikus Häberlin oben § 8 Anm. 74. 96 Vollständiger Titel: Handbuch des Teutschen Staatsrechts nach dem System des Herrn geheimen Justizrath Pütter. 93

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§ 9. Die Hochblüte der Reichspublizistik

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merhin ist Häberlin in einzelnen Abhandlungen nachdrücklich für modeme verfassungspolitische Forderungen wie Verbesserung des allgemeinen Rechtsschutzes, reformierte Landstände, auch für eine gewählte Volksrepräsentation eingetreten 97 . - Höher als dogmatische Leistung ist Nikolaus Thaddäus Gönners (1764-1827)98 "Teutsches Staatsrecht" (1804) zu stellen, ein dem russischen Zaren Alexander I. als "Vermittler und Garanten" der eben gerade völlig umgestalteten deutschen Verfassung vom bayerischen Landshut aus zugeeignetes Werk. Auch Gönner hält noch ohne Schwanken an der Auffassung des Reiches als eines Staates und einer beschränkten Monarchie fest, ja, er bietet nochmals alle juristischen Argumente auf, die auch jetzt noch, also nach dem vom Luneviller Frieden ausgelösten Umsturz der Reichsverfassung, die Staatlichkeit des Reiches unter Beweis stellen können. Dazu veranlaßt ihn offenbar keine politische, sondern eine rechtsdogmatische Absicht, d. h. er will das deutsche Staatsrecht noch immer als ein einheitliches System entwickeln. Dabei geht er so weit, die Landeshoheit als eine "Reichs anstalt" zur Regierung der Reichsteile zu bezeichnen 99 , nämlich da eine von der Existenz des Reiches absehende juristische Begründung der Landeshoheit nicht entwickelt werden kann, mithin für ihre Definition nur ihre Anerkennung durch die Reichsgesetze maßgeblich sein kann. Dem Kaiser spricht er, was sich schon wie blanke Ironie liest, die Stellung des selbständigen Repräsentanten des allgemeinen Reichswillens zu, auch ein "Reichsbürgerrecht" aller Deutschen gibt es nach ihm. Mit allem meint er sich nicht entfernt zur landesherrlichen Selbständigkeit in Widerspruch zu setzen, denn auch nach ihm regiert der Landesherr nicht aufgrund kaiserlichen Auftrags, sondern vermöge der Reichsgesetze "aus eigenem Rechte,,100. - Noch vor Gönners Lehrbuch war 1803 ein "Lehrbuch des teutschen Staatsrechts" des Pütter-Schülers Justus Christoph Leist (1770-1858)101 erschienen, das eben gerade zum Reichsdeputationshauptschluß fertiggestellt war und während der Drucklegung, um die eingetretenen staatsrechtlichen Veränderungen 97 Zu erwähnen ist insbesondere: Über die Güte der Teutschen Staatsverfassung, in: Braunschweig. Magazin 1792, St. 40-42 (auch in: Deutsche Monatsschrift, Berlin 1793, 3 ff.). Das von Häberlin herausgegebene "Staatsarchiv" (ab 1796), das es auf 47 Hefte brachte, ging 1807 ein. 98 Nach Studium in Göttingen seit 1789 Professor in Bamberg, 1799 speziell zur Vertretung des Staatsrechts nach Ingolstadt berufen, nach Verlegung der Universität nach Landshut dort auch Rektor; über seine Entwicklung nach 1806 § 13 Anm. 2. Über sein wissenschaftlich modemes Staatsrechtslehrbuch H. Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986, lOOff.; insgesamt über seine Leistung Landsberg III 2, 147-160, Noten 73-78; speziell über die staatstheoretischen Anschauungen J.B. Koch, N.Th. v. Gönners Staatslehre, 1904; ADB 9, 367; NDB 6, 518. 99 Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, 98 f., 333. In diesem Sinne auch seine Abhandlung über das rechtliche Prinzip der teutschen Territorialverfassung in: L. Himmelstoß. Versuch einer Entwicklung des Begriffes und der rechtlichen Verhältnisse der Regalität in Teutschland, Landshut 1804. 100 Teutsches Staatsrecht, 333. 101 Seit 1795 in Göttingen ao., 1802 o. Professor. Über ihn Landsberg III 2 Noten 81 f.; ADB 18,226; NDB 14, 161.

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2. Teil: Unter dem Einfluß der Aufklärung

einzuarbeiten, flugs neugefaßt wurde, so daß es die erste Darstellung der in der Folge des Luneviller Friedens völlig umgestalteten, materiell schon aufgelösten Reichsverfassung ist; das straff konzipierte Lehrbuch erlebte 1805 noch eine neue Auflage. In ihm kommt ein für das Fach neuartiger Gesetzespositivismus zum Ausdruck, die taufrische Reaktion auf die reichsgesetzliche Sanktionierung der staatsrechtlichen Umwälzung; so sucht Leist die deutschen Staatsrechts sätze nur aus ihren positiven Quellen, also nicht auch aus dem Reichsherkommen herzuleiten~02, das allgemeine Staatsrecht taucht nicht mehr unter den deutschen Staatsrechtsquellen auf. - Unmittelbar vor dem Erlöschen des Reiches erschienen noch zwei weitere Lehrbücher des deutschen Staatsrechts, denen nicht eine Bedeutung wie den eben erwähnten beigemessen werden kann, nämlich ein kleineres "Handbuch des Teutschen Staatsrechts" (1805) des Naturrechtiers und Staatswissenschaftlers Theodor Schmalz (1760 -1837)103 sowie ein unvollendetes "Lehrbuch des teutschen Staatsrechts" (1806) von Schnaubert, das wegen der Ereignisse von 1806 nur bis zur Darstellung des Reichstaatssrechts, nicht mehr auch des allgemeinen Territorialstaatsrechts gelangt ist 104. Jener der letzten Reichspublizisten, dessen dem positiven öffentlichen Recht gewidmete Arbeit die zwei letzten Jahrzehnte des Alten Reiches, die Zeit der napoleonischen Hegemonie und die beiden ersten Jahrzehnte des Deutschen Bundes überspannt, Johann Ludwig Klüber (1762-1837)105, trat vor 1806 nicht mehr mit einem System des deutschen öffentlichen Rechts auf. Immerhin legte er 1803 eine programmatische "Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des teutschen Staatsrechtes" vor, sie ist von allen publizistischen Erzeugnissen aus den Tagen des erlöschenden Reiches am ehesten die staatsrechtliche Begleitmusik zur Auflösung des Reichsverfassungssystems. Die kleine Arbeit plädiert für den durchgehenden Aufbau des deutschen Staatsrechts nach der für Deutschland charakteristischen "zweifachen Staatsgewalt", d. h. für die je in sich abgeschlossene Darstellung des "Reichs-Staatsrechts" und "Allgemeinen Reichs-Territorial-Staatsrechts ". Dieses Darstellungsschema übertrug Klüber nach 1806 auch auf die neue, völlig veränderte staatsrechtliche Lage, er hielt damit die in der Folge entstehende konstitutionelle Staatsrechtslehre in der Bahn einer gemeindeutschen, der reichspublizistischen Tradition sich verpflichtet wissenden Disziplin.

102 Gegen Moser wird eingewendet: "er bauete zuviel auf das Herkommen" (1. Aufl. 1803, S. 5). 103 Der als Spiritus rector der "Demagogenjagd" nach 1815 unrühmlich bekannt gewordene Schwager Scharnhorsts lieferte nochmals 1825 ein deutsches Staatsrechtslehrbuch; zu diesem Werk noch § 13 H 2. 104 Außerdem sind als Darstellungen des deutschen Staatsrechts aus dem letzten Zeitabschnitt des Alten Reiches zu erwähnen: E.Ch. Westphal, Das deutsche Staatsrecht, Leipzig 1784; Ch. Ch. Dabelow, Lehrbuch des Staats- und Völkerrechts der Teutschen, Th. 1, Halle 1795. Über den letzteren Landsberg III 1,441 f., über seine feudalständische Restaurationsabsichten verfolgenden Schriften nach 1815 Brandt (s. Anm. 94) 52. 105 Über ihn noch § 13 I, H.

§ 10. Der Entwicklungsstand der Staatsrechtswissenschaft um 1800 I. Die Wirkung des Aufklärungsstaatsrechts. - 11. Die Untermauerung des Reichsrechtspositivismus durch die Verfassungsgeschichte.

I. 1. Mit den um 1800 erschienenen Systemen des deutschen Staatsrechts, den letzten vor dem Ende des Alten Reiches, hatte dessen Staatsrechtslehre auch wissenschaftlich den Abschluß erreicht. Sie hatte sich dem modemen vernunftrechtlichen Staatsrecht so weit angenähert, wie ihr dies, solange die im Lehnrecht wurzelnde Reichsverfassung noch standhielt, überhaupt möglich sein konnte. Die Publizisten konnten sich eines festen Bestandes an anerkannten Begriffen und Lehren rühmen, von denen die politische Vielgestaltigkeit Deutschlands nicht vergewaltigt wurde. Von einer registrierenden war die Reichspublizistik zu einer dogmatischgeschichtlichen Wissenschaft geworden 1, die, sosehr sie noch offene Grundsatzfragen aufwies (Ursprung der Landeshoheit), doch nicht mehr wie zu den Tagen der frühen Halleschen Schule von ideologischem Streit erfüllt war. Vergleicht man sie mit der gleichzeitigen Wissenschaft des eklektischen Usus modemus, so wird man sie dem methodisch-wissenschaftlichen Stand nach fraglos über jene stellen müssen 2 , jene geriet im übrigen durch die Kodifikationen des aufgeklärten Absolutismus erstmals in eine schwere Geltungskrise. Allerdings, nur dem eigentlichen Reichsstaatsrecht war in der Hauptsache die gediegene Arbeit der Publizisten zugute gekommen, die Bearbeitung des besonderen und auch des allgemeinen Territorialstaatsrechts stand noch immer hinter dem von der Bearbeitung des Reichsstaatsrechts repräsentierten wissenschaftlichen Standard eher zurück. Ein Unvermögen der Publizisten konnte dafür jedoch nicht verantwortlich gemacht werden. Sondern verantwortlich dafür war primär der Umstand, daß die überständige deutsche Territorialverfasung noch immer dem Druck der sich wandelnden Bedürfnisse der Zeit standhielt. I In diesem Sinne die Beschreibung ihrer Methode bei Klüber, Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des teutschen Staatsrechts, Erlangen 1803, 10: "Die dogmatisch-historische Lehrmethode ist der bloss dogmatischen, noch mehr aber der historischen, und so auch der bloss raisonnierenden, vorzuziehen." Übereinstimmend Gönner, Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, 1Of. 2 In diesem Sinne auch das Urteil c.F. Gerbers: Über öffentliche Rechte, Tübingen 1852, S. I.

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2. Teil: Unter dem Einfluß der Aufklärung

Es mag dahinstehen, was mehr dazu beigetragen hat, daß die positive Staatsrechtslehre des Alten Reiches noch die Stufe der eigenständigen juristischen Dogmenwissenschaft erstiegen hat, nämlich zum einen der Umstand, daß das überalterte Reich nur noch ein Gegenstand der politischen Anatomie war, oder zum anderen der durch rationales Naturrecht und Aufklärung zum Durchbruch gelangte modeme systematische, auf positive Erklärung sich richtende Wissenschaftsgeist. Wie dem jedoch sein mag, keinen Zweifel gibt es, daß die häufigen Behandlungen des natürlichen Staatsrechts dessen Lehren in zunehmendem Maße ins deutsche Staatsrecht eindringen ließen. Mit ihrer Bereitschaft, jene auch in ihrem ureigenen Gebiet zur Anwendung zu bringen, entfernten sich aber die jüngeren Aufklärungspublizisten nicht von der von allen ihren Vorgängern hochgeschätzten historischen Empirie, sondern sie suchten ihren Stoff in die gefällige systematische, von Begriffen bestimmte Form zu bringen. Es änderte sich also im Grunde nicht, was nach der Bemerkung Hegels im unvollendeten Manuskript über die Verfassung Deutschlands von 1801/02 schon immer die eigentlichste Absicht der Publizisten gewesen war, nämlich nur beschreiben zu wollen, was "empirischerweise, ohne einer vernünftigen Idee sich anzupassen, vorhanden ist"3, sondern es änderten sich die Mittel, deren sich die Publizisten zum Erreichen dieses Zieles bedienten. 2. Mehr braucht zusammenfassend über die durch das Aufklärungsstaatsrecht eingetretene allgemeine Stiländerung des älteren deutschen Staatsrechts nicht gesagt zu werden. Auf diejenigen Doktrinen der jüngeren Publizistik der Aufklärung, die deutlich den Einfluß des allgemeinen Aufklärungsstaatsrechts erkennen lassen, dürfte jedoch ein Hinweis noch angezeigt sein. Als eine solche Doktrin hat Pütters Lehre vom Reich als "Staatenstaat" zu gelten, sie bedeutet die Zurückführung der Reichsverfassung in den Kreis der regulären Staatsverfassungen und schließt damit den endlosen Streit über die staatstheoretische Einordnung des "irregulären" Reiches ab4 • Im Territorialstaatsrecht legitimierte das modellhafte Aufklärungsstaatsrecht die Erweiterung des Begriffs der Landeshoheit von einem inhaltlich schwankenden Sonderbegriff des deutschen Staatsrechts zum Inbegriff einer schlechthin alle öffentlichen Herrschaftsrechte umfassenden obersten Gewalt. Daß die Landeshoheit der Oberhoheit des Reiches subordiniert ist, kann für Pütter und seine jüngeren Zeitgenossen nicht entfernt mehr einen Grund bilden, die Landeshoheit nicht als das Synonym für den allgemeinen staatsrechtlichen Zentralbegriff der Staatsgewalt anzusehen. Nur insofern weicht noch die Auffassung der Landeshoheit vom modemen Staatsbegriff ab, als gewöhnlich an die Spitze der staatlichen Hoheitsrechte nicht das seit Bodin als das Kernstück der souveränen Staatsgewalt geltende Gesetzgebungsrecht gestellt ist, sondern das ius supremae inspectionis des Landesherrn 5 ; damit respektieren die Publizisten nicht nur die noch bestehenDiese Passage gleich zu Anfang von Hegels Manuskript. In diesem Sinne die Deutung der Staatenstaatslehre Pütters bei v. Schönberg, Reichslehen 64ff. 3

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§ 10. Die Staatsrechtswissenschaft um 1800

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de, wenngleich brachliegende übergeordnete Gesetzgebungsgewalt des Reiches, sondern bestätigen auch, daß für Deutschland das Übergreifen der modernen Kodifikationsbewegung auf das Verfassungsrecht noch aussteht.

11. 1. Auch die im Verlauf des 18. Jh. bei der Erforschung der deutschen Verfassungsgeschichte erzielten Fortschritte mußten die Dogmatik des Staatsrechts des Alten Reiches befestigen. Den Darstellungen des deutschen Staatsrechts aus der zweiten Hälfte des 18. Jh. liegt im ganzen nicht mehr ein unklares Bild vom Gesamtverlauf der deutschen Verfassungsgeschichte zugrunde; auch dieser wissenschaftliche Fortschritt trug selbstredend zur Klärung des dogmatischen Bestandes der Publizisten bei. Schon Cocceji hatte dem deutschen ius publicum eine von Ludewig übernommene Zentralhypothese über den Ursprung des Reiches zugrundezulegen gesucht. Die Cocceji-Ludewigsche Zurückführung des Reiches auf einen Bündnisvertrag der deutschen ,,Ertzfürsten" konnte jedoch noch mit Recht als der Ausfluß ahistorischer Spekulationslust kritisiert werden; Moser meinte denn überhaupt dagegen sich aussprechen zu sollen, daß die Entscheidung einer deutschen Staatsrechtsfrage von einer generellen Ansicht über die deutsche Verfassungsentwicklung abhängig gemacht wird. Um so weniger ließ sich die den Arbeiten Pütters und seiner Schüler zugrunde liegende, aber schon von Gundling, Mascov und anderen erarbeitete Vorstellung vom großen Gang der deutschen Verfassungsgeschichte, wonach die Ausbildung der Lehnsverfassung und ihre materielle Zersetzung sozusagen die Achse der deutschen Verfassungsgeschichte bildet, noch als grundlos kritisieren.

2. Nach eben diesem in der Staatsrechtswissenschaft der vorgerückten Aufklärung nicht mehr umstrittenen Geschichtsbild gründet in der Lehnsverfassung die Staatlichkeit des Reiches, ihre feudale Zersetzung setzt den Aufstieg der Landeshoheit in Gang, damit wandelt sich das Reich zum "Staatenstaat". Schon Gundling trägt klar diese Ansicht vor, wenn nach ihm das aus dem Karolingerreich hervorgegangene ostfränkisch-deutsche Reich ursprünglich eine zentral staatliche Organisation gewesen sein soll, die sich dann mit dem Erblichwerden der Ämter der herzoglichen und gräflichen Reichsbeamten staatlich-partikularistisch zersetzte. Nach dieser von Pütter und vielen anderen übernommenen Ansicht, nach Willoweit 6 dem für Pütters Generation gültigen Bild von der deutschen Geschichte, ist das allmähliche Erstarken der Territorialgewalten das Zentralthema der deutschen Geschichte seit dem Hochmittelalter; die zu Territorialherren aufsteigenden Reichs5 Schlözer allerdings, der jedoch nicht das besondere deutsche Staatsrecht behandelt, stellt die potestas legislativa an die Spitze der Rechte und Pflichten jedes Herrschers: Allgemeines Statsrecht u. Stats VerfassungsLere, Göttingen 1793, 100. 6 Willoweit 368.

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2. Teil: Unter dem Einfluß der Aufklärung

fürsten wußten nach und nach einen immer größeren Teil der dem Königtum zustehenden Herrschaftsbefugnisse an sich zu reißen und damit ihre Landesherrschaft in den Prozeß der Staatswerdung überzuleiten. Aus diesem Geschichtsbild ergibt sich, daß den deutschen Territorien die Eigenschaft von Staaten nicht prinzipiell abgesprochen werden kann, unbeschadet der Überordnung des Reiches. Weitergehend konnte unter der noch bestehenden Verfassung des von den Publizisten als "Staat" verstandenen lehnrechtlichen Reiches die Dogmatik des deutschen Staatsrechts an die modeme, am Souveränitätsprinzip orientierte Staatsidee nicht angenähert werden.

Dritter Teil

Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre § 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat 1. Vorbemerkung. - 11. Vormärzverfassungen und monarchisches Prinzip. - III. Die liberale Bewegung des Vormärz, 1848 und die nachachtundvierziger Verfassungslösung.

I. Der Übergang des aufgeklärten Absolutismus zu Reformen hatte die absolutistische Regierungsform nicht angetastet. Das 1794 in Kraft gesetzte Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten vermied es, Fragen der materiellen politischen Verfassung Preußens auch nur anzurühren, sein Sozialmodell ist noch die ständische, nicht die im revolutionären Frankreich schon durchgebrochene Staatsbürgergesellschaft. Immerhin mußte das Erlebnis der Revolution auch hierzulande die intellektuelle Opposition gegen den absolutistischen Bevormundungsstaat wachsen lassen. Aber erst mit der Gründung des Rheinbundes sollte bei uns der Absolutismus den Gipfel ersteigen; andererseits war mit den Staats- und Gesellschaftsreformen der napoleonischen Epoche auch sein Selbstabbau eingeleitet. Als das letzte Ziel der preußischen Reformpolitik spricht es die Rigaer Denkschrift AItensteins vom 11. September 1807 über die Reorganisation des preußischen Staates aus, dem neuen Staat die dem alten gefehlte "energische Vereinigung aller Kräfte der einzelnen zu einem gemeinschaftlichen Zweck" zu ermöglichen 1. Damit bestand die Aufgabe des sich erneuernden Staates nicht nur darin, eine von ständischen Schranken befreite modeme bürgerliche Erwerbs- und Leistungsgesellschaft auf den Weg zu setzen. Sondern man konnte sich fortan auch nicht mehr länger dem Bedürfnis nach Mitwirkung der freigesetzten gesellschaftlichen Kräfte im Staat entziehen. Mit dem Sturz Napoleons und der Gründung des Deutschen Bundes eröffnete sich dann auch momentan für Deutschland die Perspektive, daß die neue staatliche Reformpolitik durch die allgemeine Einführung von Verfassungen I Die Denkschrift Altensteins bei G. Winter (Hg.), Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. 1. T.: Allgemeine Verwaltungs- und Behördenreform, Bd. I, 1931, 364 ff.; das angeführte Zitat S. 393.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

fortgeführt wird; die Gründungsakte des Deutschen Bundes kündigte in Art. 13 an: "In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden." Da die Bundesakte zur "landständischen Verfassung" nichts sagt, war dies freilich nur eine apokryphe Verheißung. Immerhin konnte in der konkreten geschichtlichen Lage nach dem Sturz der napoleonischen Despotie diese Verheißung wohl mit Recht nur dahin verstanden werden, daß die deutschen Monarchien künftig zu konstitutionellen umgebaut werden sollen. Die Einführung geschriebener Verfassungen verlief für Deutschland als ein langgestreckter, ungleichmäßiger, durch ideologische Verhärtung der politischen Fronten im Ausgang aufgehaltener Prozeß. Der Druck einer liberalen Bourgeoisie, des typischen Schrittmachers politischer Innovationen, war bei uns für die Entwicklung zum Verfassungsstaat nicht die entscheidende treibende Kraft. Vielmehr war alles in allem die verfassungsstaatliche Umgestaltung Deutschlands das Werk der alten Herrschaftsfaktoren, der Monarchen und ihres Beamtenturns. 1848/49 suchte freilich das deutsche Bürgertum selbst das politische Geschick Deutschlands in die Hand zu nehmen, das Scheitern des Versuchs untergrub dauerhaft sein Selbstvertrauen in die eigene politische Kraft. Erstmals hatten die "Befreiungskriege" die Illusion genährt, daß auch die junge deutsche Kulturnation zur politischen Nation werden kann. Der für die Nation aus den siegreichen Kriegen gegen Napoleon angefallene Ertrag war jedoch nur schmal: der auf die einzelstaatliche Souveränität gegründete, allein von den Regierungen gebildete Deutsche Bund. Immerhin fehlte es jenem nicht an Direktionsmöglichkeiten gegenüber seinen Mitgliedsstaaten. Seine beiden Grundgesetze, Bundesakte (1815) und Wiener Schlußakte (1820), legten zwingend die politische Substanz der Verfassungen aller deutschen Staaten fest, räumten ihm mithin die Kontrolle gegenüber den neuen Verfassungsentwicklungen in Deutschland ein, die er durchaus auch wahrnehmen konnte. Nur zu schnell erwies sich jedoch der Deutsche Bund als das brauchbare Instrument der antikonstitutionellen Reaktion, die ihn zur Aufrichtung eines für Deutschland neuartigen schmählichen staatspolizeilichen Aufsichtssystems benutzte; damit war die Chance, daß der Deutsche Bund die Verfassungsentwicklung in Deutschland vor Stillstand und Rückschritten bewahrte, hoffnungslos vertan. Das partikularistische Deutschland konnte zur neuen politischen Ordnungsform des Verfassungsstaates nur gelangen, indem sich seine als reformfähig erwiesenen absolutistischen Verwaltungsstaaten in die konstitutionelle Form hineinstellten (E.-W. Böckenförde). Der Übergang zum Konstitutionalismus bedeutete mithin für Deutschland nicht, daß von Grund auf der Staat neu konstituiert und die staatliche Entscheidungsmacht vom Monarchen weg zu den Kräften der bürgerlichen Gesellschaft verlagert wurde, sondern daß die Ausübung der monarchischen Staatsgewalt an Rechtsnormen gebunden wurde. Die Verfassungseinführung war nicht ein staatlicher Neubeginn, sondern eine bestimmte Teilphase im lange sich hinziehenden Prozeß bürokratischer Staats- und Gesellschaftsmodernisierung, sie sollte den bis-

§ 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat

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her noch absolutistisch regierten Verwaltungsstaat von innen her sichern und zu effektiverer Wahrnehmung seiner Aufgaben befähigen. Daß mit der Einführung einer modemen, eine allgemeine gesellschaftliche Repräsentation im Staat anordnenden Konstitution ein für den monarchischen Herschaftsprimat lebensgefährliches politisches Spiel begonnen war, wurde allerdings alsbald zur treibenden Sorge der Reaktion. Es war nicht zu erwarten, daß im nachnapoleonischen Deutschland in der Verfassungsfrage die Interessen seiner zahlreichen monarchischen Regierungen übereinstimmten, die Probleme der beiden Hegemonialmächte im Deutschen Bund, vor allem Österreichs, schlossen dies von vornherein aus. Im wesentlichen hatten nur die süddeutschen Dynasten, die Schützlinge Napoleons und Nutznießer seines Systems, an der schnellen Lösung der Verfassungsfrage ein vitales Interesse. Sie hatten ihren in der napoleonischen Ära so bedeutend vergrößerten staatlichen Gebietsbestand über die Neuordnung des Wiener Kongresses im großen und ganzen ohne empfindliche Schmälerung hinwegretten können, aber nun erst konnte von ihnen ernsthaft daran gedacht werden, die Staatsintegration durch das Beschreiten des Verfassungsweges voranzubringen. Ein politischer Druck "von unten" wirkte denn auch auf die Verfassungspolitik der süddeutschen Monarchen nicht stimulierend ein. Sondern eher hatte die Energie, mit der namentlich in Bayern die Verfassungseinführung betrieben wurde, den Grund darin, daß man einer Einmischung der beiden Führungsrnächte im Deutschen Bund in die eigenen Verfassungsangelegenheiten zuvorzukommen wünschte; nur in Württemberg mußte der königliche Verfassungsplan gegen Widerstand im Lande, aber altständischen, durchgesetzt werden. Völlig anders war die Lage in Preußen mit seinen verschiedenen auseinanderliegenden Provinzen und seinem gegenüber den süddeutschen Staaten noch lange weit größeren Rückstand in de~ Entfeudalisierung, dort wurde zu Beginn der 20er Jahre die Weiterverfolgung des gesamtstaatlichen Verfassungsplans fallengelassen. Der bisherige preußische Reforrnstaat ordnete sich damit der Linie des österreichischen Staatskanzlers Mettemich unter, der, erfüllt von der Sorge vor den desintegrierenden Wirkungen des modemen Konstitutionalismus auf den österreichischen Vielvölkerstaat, die Abwehr eines weiteren Vordringens des Verfassungsgedankens zur obersten Maxime der Politik des Deutschen Bundes machte. Mit den Karlsbader Beschlüssen vom Sommer 1819 war die nicht eine Episode gebliebene antikonstitutionelle Eindämmungspolitik eingeleitet.

11. 1. Die zwischen 1818 und 1820 in Kraft gesetzten neuen Staatsgrundgesetze der vier größeren süddeutschen Staaten - Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt - sind nicht die allerersten neuen Verfassungen im nachnapoleonischen Deutschland. Zuvor war aber nur in sehr wenigen Kleinstaaten bereits eine Verfassung erlassen worden, und zwar auch nur eine solche des altständischen 10 Friedrich

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Typs. Erst die frühen süddeutschen Verfassungsgesetze verkörpern anerkanntennaßen einen für Deutschland neuen Verfassungstypus: den des monarchischen Prinzipi. Auch wenn das monarchische Prinzip seit der Wende von 1848 nicht mehr wie ursprünglich die volle Vereinigung der Staatsgewalt im Monarchen meint, bleibt der Primat des monarchischen Herrschaftsfaktors die Grundlage des deutschen Konstitutionalismus bis zu seinem Zusammenbruch von 1918. Das monarchische Prinzip war schon in der französischen Charte von 1814 aufgestellt. Sie stand bei den süddeutschen Verfassungsarbeiten Pate3 , die jedoch auch an die Verfassungsversuche der Rheinbundperiode anknüpfen konnten. So geht die bayerische Verfassung von 1818 auf die nicht in Kraft gesetzte, aber fertig gestellte bayerische Verfassung von 1808 zurück, jene lehnt sich eng an die Konstitutionsakte des Königreichs Westfalen von 1807 an, die bereits die für die Vonnärzverfassungen typische "neuständische" Kammerstruktur vorsieht. Nach dem süddeutschen Konstitutionalismus ist die Verfassung ein freiwilliges Zugeständnis des Monarchen, aber ein endgültiges, er kann die als Gesetz einmal in Kraft gesetzte Verfassung nicht mehr selbständig ändern oder gar aufheben, sondern sie kann nur auf dem von ihr dafür vorgeschriebenen Gesetzgebungswege, also bei Beteiligung der ebenfalls zur Ausübung der gesetzgebenden Gewalt berufenenen landständischen Vertretung geändert werden. Alle drei seit der Französischen Revolution geläufigen Bedeutungen des Wortes "Verfassung" treffen auf die süddeutschen Konstitutionen zu: 1. hat die Verfassung den politischen Ordnungszustand des Staates im ganzen, seine "materielle" Verfassung, zum Gegenstand; 2. regelt sie speziell die innere Staatsfonn, d. h. die Art der Staatswillensbildung, und zwar repräsentativ; 3. ist sie in einer einzigen Urkunde zusammengefaßt4 . Die süddeutschen Konstitutionen garantieren allgemeine staatsbürgerliche Rechte, sie heißen, nach dem Vorbild der Charte von 1814, "allgemeine Rechtsverhältnisse der Staatsbürger", "Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener" und ähnlich. Die Nonnen über die Staatswillensbildung sind in den süddeutschen Konstitutionen im Sinne des monarchischen Prinzips als eine abschließende Regelung gemeint. Die Verfassung führt eine allgemeine Staatsvolkrepräsentation ein, die in

2 Zur Strukturanalyse der Verfassungen des süddeutschen Konstitutionalismus Huber I, 336ff.; Bäckenfärde, Gesetz 71 ff.; ders., Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Ih. (1967), in: ders.(Hg.), Modeme deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auf!. 1981, 146-170; D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, 1988, 1l0141; speziell zu Württemberg L. Krieger, The Gennan Idea of Freedom, Beacon Hill 1957, 231 ff. 3 Zu ihrer Rolle in der deutschen frühkonstitutionellen Entwicklung H.O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, 1913, Neudr. 1969. 4 Diese drei Bedeutungen des Begriffs "Verfassung" auch bei H.O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, 1962 (= Sitzungsber. d. Dt. Akad. d. Wissenschaften z. Berlin, Kl. f. Philos., Gesch., Staats-, Rechts- u. Wirtschaftswissenschaften, Jg. 1962 Nr. 1), S.3.

§ 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat

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einem bestimmten Umfang, nämlich soweit es sich nach der repräsentativen Formulierung in Tit. VIII § 2 der Bayerischen Verfassung um ein "allgemeines neues" Gesetz handelt, "welches die Freiheit der Personen oder das Eigentum der Staatsangehörigen betrifft", nicht nur beratend, sondern auch beschließend an der Gesetzgebung beteiligt ist5 . Die Staatsvolkrepräsentation ist nach westeuropäischem Vorbild als Zweikammersystem organisiert, d. h. es besteht eine im Prinzip erbaristokratische und eine indirekt und in der Regel nach ständischer Gliederung gewählte Kammer. 2. Die von den süddeutschen Verfassungen zuerst in Kraft getretene bayerische Verfassung enthält die ,,klassische" Formulierung des monarchischen Prinzips 6. In ihrem Tit. 11 § 1 heißt es: "Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie Unter den VOn ihm gegebenen, in der gegenwärtigen Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus". Mit Art. 57 Wiener Schlußakte VOn 1820, dem die Deutsche Bundesakte ergänzenden, ausführlicheren zweiten Verfassungsgrundgesetz des Deutschen Bundes, wurde das mOnarchische Prinzip zum obersten positivrechtlichen Verfassungsgrundsatz für alle monarchischen Staaten im Deutschen Bund erhoben. Damit sollte die in Art. 13 DBA für alle Bundesstaaten angekündigte, dort aber nicht erläuterte "landständische Verfassung" in ihrem Kernpunkt, dem zulässigen Umfang landständischer Beteiligung, abschließend geregelt sein. Die Formulierung des monarchischen Prinzips in der Wiener Schlußakte entspricht im ganzen seiner Formulierung in der bayerischen Verfassungsurkunde, nur daß in Art. 57 WSA noch eine logische Begründung desselben eingebaut ist: "Da der deutsche Bund, mit Ausnahme der freien Städte, aus souveränen Fürsten besteht, so muß, dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge, die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des Staats vereinigt bleiben, und der Souverän kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden." Dem monarchischen Prinzip, wie es die Schlußakte gültig formuliert, liegt die Annahme zugrunde, daß sich die "Substanz" der Staatsgewalt vom "Modus" ihrer Ausübung unterscheiden läßt (E.-w. Böckenförde): der Substanz nach steht die Staatsgewalt dem Monarchen zu, ihre Ausübung läßt die Beteiligung nichtmonarchischer Elemente zu. Die Bekräftigung der vollen Zuständigkeitsvermutung zu-

5 Zu Gesetzesbegriff und unterschiedlichem Umfang der ständischen Gesetzgebungsmitwirkung in den Vormärzverfassungen Böckenförde, Gesetz 72ff.; Boldt, Staatslehre 97ff.; aus dem älteren Schrifttum H. W.R. Bösselmann, Der Begriff des Gesetzes in den Verfassungen des süddeutschen Konstitutionalismus, Diss. Leipzig 1935. 6 Zum monarchischen Prinzip O. Brunne" Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Auf!. 1968, 160-186; R. Wahl, Der VOITlU)g der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981) 485-516; Boldt, Staatslehre 15 ff. Aus dem älteren Schrifttum H.O. Meisner (s. Anm. 3); auch P.G. Hoffmann, Monarchisches Prinzip und Ministerverantwortlichkeit, 1911.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

gunsten des Monarchen in allen nicht ausdrücklich entgegenstehend gesetzlich geregelten Fällen reichte jedoch nicht aus, um wirksam genug das monarchische Prinzip vor Untergrabungen von ständischer Seite zu schützen. Juristisch wäre dafür noch mehr als das in Art. 57 WSA Festgelegte notwendig gewesen, nämlich daß die Schlußakte auch "bestimmte" ständische Mitwirkungen an der Ausübung der Staatsgewalt ausgeschlossen hätte. Davon sieht sie jedoch ab, in Übereinstimmung damit hat die gemeindeutsche Publizistik in der Zeit des Deutschen Bundes die Herausdestillierung eines bestimmten "Maximums" oder "Minimums" (H. Baldt) landständischer Rechte aus Art. 57 WSA immer abgelehnt. Damit wird man die Garantie des monarchischen Prinzips durch Art. 57 WSA schwerlich als die seinen reaktionären Verfechtern wirklich erwünschte juristisch brauchbare Klarstellung seiner Reichweite ansehen können. Sondern eher liegt die evidente praktische Bedeutung seiner Garantie durch die Schlußakte darin, daß damit, wie es im Interesse der süddeutschen Dynasten an der Bestandssicherung ihrer neuen Staatskonstitutionen lag, auch der Deutsche Bund die verbindliche Regelung der Ausübung der monarchischen Befugnisse auf dem Verfassungswege ausdrücklich anerkannte. Auch wenn das monarchische Prinzip auf verfassungsgesetzlichem Wege nicht abbedungen werden konnte, konnte es doch durch stille Ausweitung der ständischen Gesetzgebungsmitwirkung praktisch eingeschränkt werden, eine positivrechtliche Handhabe dagegen enthält die Schlußakte nicht. Vielmehr räumt sie indirekt ein, daß von dem Augenblick an, zu dem die Ausübung der Staatsgewalt durch eine Verfassung geregelt ist, der von ihr angenommene Unterschied zwischen der Substanz der Staatsgewalt und dem Modus ihrer Ausübung juristisch leerlaufend wird, und zwar gleichviel ob die Verfassung freiwillig vom Monarchen gewährt oder mit den Ständen vereinbart ist. So bestimmt sie in Art. 56 im Interesse der Vermeidung künftiger Verfassungsunruhen: "Die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen können nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert werden"; damit geht sie ganz fraglos davon aus, daß bereits der Erlaß einer Verfassung den unwiderruflichen stillschweigenden Verzicht auf die praktische Realisierung der vollen Vereinigung aller Rechte der Staatsgewalt im Monarchen impliziert. 3. Die verfassungslegitimatorische Funktion des monarchischen Prinzips ist im Vormärz durch seine juristische Schwäche nicht beeinträchtigt worden: Den vormärzlichen Reaktionskräften erleichterte gerade seine positivrechtliche Uneindeutigkeit die Denunziation des modemen repräsentativen Konstitutionalismus als unvereinbar mit den Verfassungsgrundsätzen des Deutschen Bundes; andererseits sah sich der bürgerliche Liberalismus durch Art. 57 WSA immer wieder zu dem defensiven Nachweis genötigt, daß seine verfassungspolitischen Ziele nicht im Gegensatz zum monarchischen Prinzip stehen. Sosehr sich der verfassungsstaatliche Umbau der deutschen Monarchien in die Länge zog, war doch schon am Vorabend von 1848 in den meisten deutschen Staaten eine neue Verfassung eingeführt, und zwar in der Regel eine des monarchischrepräsentativen Typus. In den beiden Großstaaten stand die gesamtstaatliche Ver-

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fassung allerdings noch aus, dort war man der vom Deutschen Bund vorgeschriebenen Einführung landständischer Verfassungen nur durch die Wiederherstellung bzw. Neuerrichtung einflußloser altständischer Provinzvertretungen nachgekommen.

111. 1. Wenngleich der deutsche Vormärz noch keine politischen Parteien im neueren Sinne kennt, ist er doch die Zeit des Überganges der gesellschaftlichen Kräfte zur politischen Aktion. Die Burschenschaftsbewegung, ausgelöst von der noch taufrischen Enttäuschung über den für die Nation so unbefriedigenden Ertrag der Befreiungskriege, war freilich schnell unterdrückt, ihr fehlten auch klare politische Ziele. Erst die von der Pariser Julirevolution ausgelöste neue politische Belebung Mitteleuropas führte für Deutschland zum Durchbruch einer bürgerlich-liberalen Bewegung, sie schoß momentan bis zur Volksbewegung auf. Auch in der 1830 eintretenden neuen Situation versuchte jedoch der bürgerliche Liberalismus kaum, das Heft des Verfassungshandelns in die Hand zu nehmen. Es war die Ausnahme, daß 1831 die unter dem Druck der revolutionären Bewegung einberufene kurhessische Ständeversammlung eine vergleichsweise moderne, über den bisherigen deutschen Verfassungsstandard hinausgehende Verfassung mit Einkammersystem, parlamentarischer Gesetzesinitiative, judizieller Ministerverantwortlichkeit und erweitertem Grundrechtsbestand verabschiedete. In der Regel waren auch die ab 1830 neu zustandegekommenen Verfassungen ein Werk der jeweiligen monarchischen Regierung und mit der bestehenden, zu diesem Zweck einberufenen altständischen Vertretung vereinbart. So sehr nach 1830 der Liberalismus zur politischen Meinungsbildungsmacht wurde, so wenig war er zu politischer Aktion, die über Räsonieren und Festessen hinausgegangen wäre, imstande. Dem standen freilich wohl auch unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen: die liberalen Aktivitäten ließen sich im partikularistischen Deutschland nur sehr schwer koordinieren, auch der größere Mittelstaat war kaum der Adressat eines politischen Fortschrittsprogramms. Allerdings verstand sich der vormärzliche Liberalismus als politische Opposition und trat in diesem Sinne in den neuen Kammern auf. Eine politische Systemopposition war er jedoch nicht; dem monarchischen Prinzip den Kampf anzusagen, wurde von seinen Vertretern eher tunlich vermieden. Die realen politischen Machtverhältnisse konnten einen solchen Kampf auch nicht als aussichtsreich erscheinen lassen, die vormärzlichen Liberalen wünschten aber auch im allgemeinen nicht, einen Gegensatz zum monarchischen Prinzip zu betonen. Die Aufgabe der Volksvertretung war damit, wie dies zumal die Ansicht Rottecks, des demokratischen Hauptvertreters des vormärzlichen Liberalismus, war, auf gesinnungstüchtige Daueropposition festgelegt, d. h. die Volksvertreter hatten die "Volksrechte" durch Kontrolle und Kritik der Regierung wirksam zu machen, nicht jedoch hatten sie zu

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

versuchen, die Regierung zu lenken und ihr die Initiative aus der Hand zu nehmen. Und zwar nicht nur weil sie dann in die dem Monarchen vorbehaltene selbständige Handlungssphäre übergegriffen hätten, sie hätten sich dann auch ihres spezifischen Berufs als des "Wächters" der Volksrechte entfremdet. Nicht nur der Starrheit der konservativen Reaktion, sondern auch der Prinzipienreinheit des vormärzlichen Liberalismus muß es zugeschrieben werden, wenn zeitweise die verfassungsstaatliche Erneuerung Deutschlands ernsthaft von der Gefahr des Versackens im verfassungsideologischen Grabenkrieg bedroht war. Der Frühkonstitutionalismus eröffnete den Publizisten ein neues Wirkungsfeld, er brachte sie auf die Bänke der Parlamente 7 . Außer Klüber und Maurenbrecher hat wohl kaum ein namhafter Publizist aus dem Vormärz nicht zeitweilig einer Kammer angehört, und zwar in der Regel auch der gewählten zweiten; so K.S. Zachariä, Rotteck, Welcker, Behr, Jordan, Stahl, Mohl, aufgrund von 1848 auch H.A. Zachariä und Zöpfl; von den weniger bekannten vormärzlichen Publizisten erwähnen wir die Bayern L. v. Dresch, F.Ch.K. Schunck und E. v. Moy als zeitweilige Abgeordnete. Wer im Vormärz als Universitätsprofessor oppositioneller politischer Einstellung war und ein Parlamentsmandat annahm, riskierte mit dem parlamentarischen Auftreten leicht die Maßregelung durch seine Regierung; so konnte seine Lehrbefugnis beschränkt und ihm das Lehramt überhaupt entzogen werden, auch Verfolgung und Haft konnten ihm drohen 8 • Zu den "politischen Professoren" des Vormärz9 gehören freilich nicht nur Publizisten, sie empfahlen sich jedoch den jungen Parlamenten wegen ihrer Qualifikation als ein jenen vorzüglich erwünschtes Element. Auch für die frühe zweite Jahrhunderthälfte kann man noch nicht einen scharfen Rückgang der Teilnahme der Publizisten am Parlamentsleben konstatieren; die Liste der in Parlamenten gesessenen Publizisten ist zwar für die zweite Jahrhunderthälfte nicht mehr so lang wie für den Vormärz, aber noch ansehnlich. So stehen auf ihr Stahl, Gneist, H.A. Zachariä, Bluntschli, Pözl, Hänel, Georg Meyer, auch Gerber, der sich in den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes wählen ließ, nicht allerdings Laband und Otto Mayer, auch nicht Max Seydel und Georg Jellinek. Erst von dem Zeit7 Dazu kurz schon H. Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927, 14 ff.; zur Rolle der Staatsrechtslehre in der Revolution von 1848 Stolleis, Gesch. 11, 266ff. 8 Dieses Los handelten sich Wilhelm Joseph Behr und Sylvester Jordan ein. Behr, schon 1822 wegen seines Auftretens in der bayerischen Abgeordnetenkammer aus seinem Würzburger Lehramt entlassen, wurde wegen einer Rede auf dem Gaibacher Constitutionsfest (1832) verhaftet und nach melujähriger Untersuchungshaft 1836 wegen des "nächsten Versuches zum Hochverrate" zu Festungshaft und Abbitte vor dem Bilde des Königs verurteilt. Der wegen seiner geistigen Urheberschaft an der fortschrittlichen kurhessischen Verfassung von 1831 schon länger polizeilich überwachte Jordan wurde 1839 wegen seiner angeblichen Beteiligung an revolutionären Umtrieben (,,Frankfurter Wachensturm" von 1832) verhaftet, erst 1845 wurde er durch Gerichtsentscheid freigesprochen und rehabilitiert. Zu seinen Verdiensten um die kurhessische Verfassung H. Seier, Sylvester Jordan und die kurhessische Verfassung von 1831, 1981; W. Kaiser, Sylvester Jordan, seine Staatsauffassung und sein Einfluß auf die kurhessische Verfassungsurkunde vom 5. Jan. 1831, 1936. 9 In der historischen Typusbestimmung des vormärzlichen "politischen Professors" wegen des überdehnten Illustrationsmaterials nicht weiterführend W. Real, Geschichtliche Voraussetzungen und erste Phasen des politischen Professorenturns, in: Ch. Probst (Hg.), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jh., 9. Bd., 1974,7-95. Bei der Typusbestimmung des vormärzlichen "politischen Professors" kann die Abgrenzung vom "Geheirnratsliberalismus" (L. GaU) nicht außer acht gelassen werden.

§ 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat

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punkt an, zu dem das liberale Honoratiorenparlament durch das straffer organisierte Parteienparlament abgelöst wird, also nicht vor der Jahrhundertwende, ist das parlamentarische Wirken von Staatsrechtslehrern nicht mehr etwas für die fachliche Zunft und für die parlamentarische Kultur Bezeichnendes; Huga Preuß gehörte erst in den allerletzten Lebensjahren einern staatlichen Parlament, dem preußischen Landtag, an.

2. Die Revolution schaltete für einen Augenblick die deutsche Verfassungsentwicklung mit der des "Westens" gleich. Auch für Deutschland ging es jetzt um politische Neukonstituierung: die Schaffung eines deutschen Bundesstaates mit monarchisch-konstitutioneller Staatsform IO • Den Grundrechten galt das vorzügliche Interesse im Frankfurter Parlament, mit ihrem kräftigen Ausbau glaubte man, die deutsche Rechtseinheit schon um ein tüchtiges Stück zur Wirklichkeit machen zu können. Am preußisch-österreichischen Dualismus und Gegensatz "großdeutsch" - ,,kleindeutsch" scheiterte der Versuch eines machtlosen Parlaments. den deutschen Nationalstaat zu gründen. Immerhin wurde durch die Revolution nahezu das ganze Deutschland konstitutionell, in der postrevolutionären Situation stand das monarchische Prinzip, das sich gegenüber dem Märzparlamentarismus behauptet hatte, nicht mehr zum Verfassungsstaatsprinzip in Gegensatz ll. Die oktroyierte preußische Verfassung von

10 Zum Frankfurter Verfassungswerk J.D. Külme, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985; Stalleis, Gesch. H, 266ff.; W Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/ 49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz in den Verfassungsverhandlungen des Paulskirchenparlaments, 1976. 11 Daß das parlamentarische Prinzip, nicht das constitutionelle, der Gegensatz zum monarchischen Prinzip ist, hat Friedrich Julius Stahl 1845 in der Abhandlung "Das monarchische Prinzip" ausgesprochen; diese Abhandlung wurde in die 2. Aufl. (1845/47) von Stahls Philosophie des Rechts aufgenommen. Daß die Betonung des Gegensatzes von monarchisch-konstitutioneller und parlamentarischer Regierung ein originelles Verdienst Stahls ist, ist jedoch umstritten. Im Unterschied zu ihm ging Mahl, Über die verschiedene Auffassung des repräsentativen Systems in England, Frankreich und Deutschland, in: ZgesStW 3 (1846) 451-495 nicht von der Annahme eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen monarchischem und parlamentarischem Prinzip aus, sondern erwägt daselbst eine parlamentarische Weiterentwicklung der deutschen mittelstaatlichen Monarchien nach westeuropäischem Vorbild, wofür ihm allerdings eine Einstellungsänderung der deutschen Parteien im Sinne ihrer Bereitschaft zur Übernahme von Regierungsverantwortung als unerläßlich gilt; in der umgearbeiteten Fassung dieser Abhandlung in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik I, 1860, 33-65 hat er jedoch unter dem Eindruck von 1848 diese Ansicht bedeutend abgeschwächt, wenn nicht überhaupt aufgegeben. Die Möglichkeit der Weiterentwicklung des deutschen MittelstaatenKonstitutionalismus zu einern parlamentarischen Konstitutionalismus hatte schon in den 20er Jahren K.S. Zachariä erwogen und befürwortet: Über erbliche Einherrschaft mit einer Volksvertretung, in: Allg. polit. Annalen 9 (1823) 201-248; zu dieser lange übersehenen Abhandlung Zachariäs Baldt, Staatslehre 215 ff.; H. Brandt, Landständische Repräsentation im Vormärz, 1968, 235 ff. Außer diesen beiden zu Mohls Ansicht über die Weiterentwicklung des Vormärzkonstitutionalismus noch E. Angermann, Robert v. Mohl, 1962,401 ff.; K. v. Beyme in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Auswahl von Mohls Politischen Schriften 1966; auch bereits Th. Ellwein, Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise, 1954, 73ff.

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1850, das postrevolutionäre Verfassungsmodell, schreibt dem König nicht mehr den vollen Besitz der Staatsgewalt zu, bestimmt jedoch, daß allein ihm die vollziehende Gewalt zusteht (Art. 45), allerdings bei Übernahme der Verantwortlichkeit für alle Regierungsakte durch einen gegenzeichnenden Minister (Art. 44). Bezüglich der gesetzgebenden Gewalt ist ihre gemeinschaftliche Ausübung durch den König und zwei Kammern angeordnet (Art. 62), damit konnten alle Gesetze einschließlich des obligatorischen Budgetgesetzes nur durch Kompromiß zwischen Krone und Volksvertretung zustandekommen. Als Herr über die Exekutive ernennt und entläßt der König die Minister (Art. 45 S. 2), ihre Verantwortlichkeit ist nicht als Verantwortlichkeit vor dem Parlament gemeint. Die Grundrechte sind wie in der Paulskirchenverfassung und in dem vom König verworfenen parlamentarischen Verfassungsentwurf beachtlich ausgebaut, auch das in den Vormärzstaaten noch fehlende allgemeine Männerstimmrecht, allerdings nicht das gleiche und auch nicht das direkte Wahlrecht, ist eingeführt. 3. Mit den postrevolutionären Verfassungen und Verfassungsrevisionen war der Umbau der deutschen Fürstenstaaten zu konstitutionellen Monarchien abgeschlossen. Während der 60er Jahre bahnte sich in den süddeutschen Staaten die Weiterentwicklung zur parlamentarischen Monarchie an, sie wurde im ganzen für Deutschland durch den Ausgang des preußischen Verfassungskonflikts 12 zugunsten Bismarcks und die Reichsgründung abgeschnitten; schon bei den norddeutschen Verfassungsberatungen bestanden nicht die nationalliberalen Sprecher, realpolitisch den Machtverhältnissen sich fügend, auf der Einführung einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes, die Grundlage der Verfassung des nachfolgenden Reiches, revidierte nicht die nachachtundvierziger monarchisch-konstitutionelle Verfassungslösung, sondern übertrug sie abgewandelt auf den neuen bündischen Gesamtstaat. Staatsrechtlich neu am Reich von 1871 war nicht die monarchisch-konstitutionelle Verfassungsform, sondern die besondere bundesstaatliche Gestaltung mit der preußischen Hegemonie als dem Rückhalt des ewigen Bundes der deutschen Dynasten. Für das kaiserliche Deutschland mußte bei seiner bündisch-hegemonischen Struktur, dem Dauerzwang zum gemeinsamen Akkord von Reichsleitung und preußischer Regierung und der vom unterschiedlichen Wahlrecht aufrechterhaltenen Gegensätzlichkeit der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse im Reich und in Preußen der Wandel zur parlamentarischen Monarchie wohl ausbleiben 13. Andererseits war auch im kaiserlichen Deutschland der politische Machtanstieg der Parteien und des Par1a-

12 Zum preußischen Verfassungskonflikt R. Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: E.-W. Böckenförde (Hg.), Modeme deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), 2. Aufl. 1981, 171-194; D. Schefold, Verfassung als Kompromiß? Deutung und Bedeutung des preußischen Verfassungskonflikts, ZNR 3 (1981) 137-157; neuerdings noch H.-eh. Kraus, Ursprung und Genese der Lückentheorie im preußischen Verfassungskonflikt, Der Staat 29 (1990) 209-234. 13 Zur Machtstruktur des Kaiserreiches auch noch § 16 III.

§ 11. Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat

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ments unaufhaltsam und unurnkehrbar. Aber erst wenige Wochen vor dem Ende des Weltkrieges rückten die Parteien offiziell in die Position des verantwortlichen Bildners und Trägers der Regierung ein.

§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen und organischen Staatslehre I. Entwicklungslinien des deutschen Staatsdenkens im 19. Jahrhundert. - 11. Hegels Rechtsphilosophie und ihre Wirkung. - III. Rotteck und die vemunftrechtlich-liberale Richtung des Vormärz. - IV. Die geschichtliche und organische Staatslehre: K.S. Zachariä, Schmitthenner, Held, Stahl, Bluntschli. - V. Die konstitutionelle Staatsanschauung zwischen Revolution und Reichsgründung.

I. 1. Die Vorherrschaft des Vernunftrechts reicht nicht über den Ausgang des 18. Jh. hinaus. Seine Autorität zerstörten neue geistige Entwicklungen: Kants Vernunftkritik und die neue metaphysische Spekulation, romantische Bewegung, Historismus. Der Sturz des Vernunftrechts war jedoch nicht jäh. So behauptete es auf dem Gebiet der Staatslehre auch noch während der ersten neuen Jahrhunderthälfte einen unbedingt hohen Einfluß. Kant, den Urheber der neuen denkerischen Bewegung, kann man auch nicht den Zerstörer des Vernunftrechts nennen '. Denn obzwar seine Vernunftkritik, nach der sich ein allgemeines verpflichtendes Gesetz allein aus den Begriffen der reinen Vernunft ergibt2, dem rationalen Naturrecht die naive ontologische Denkgrundlage wegzog, hob sie es damit doch erst zum echten Vernunftrecht empor. Kants Definition des Rechts als des Inbegriffs der Bedingungen, "unter welchen die Freiheit des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen vereinigt werden kann,,3, impliziert als Bedingung für alle rechtlichen Freiheitsbeschränkungen die vernunftgewollte Zustimmung des Einzelnen zur Ordnung des politischen Gemeinwesens. Das pacturn sodale ist daher, wie Kant lehrt, nicht "als ein Faktum" vorauszusetzen, sondern es ist eine "Idee der Vernunft", und zwar von unbezweifelbarer praktischer Realität. 2. Wenn in der Staatslehre das Vernunftrecht länger als auf einem anderen Gebiet seinen Einfluß behauptet hat, dann weil es die Philosophie des nach 1815 auch 1 Zur Kantrezeption in der Staatslehre des 19. Jh. J. Rückert, Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Naturrecht, Rechtsphilosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Jh., in: M.P. Thompson (Hg.), John Locke und/and Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, 1991, 144-215; erweiterungsbedürftig H. Krüger, Kant und die Staatslehre des 19. Jh., in: J. Blühdom / J. Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jh., 1969,49-56. 2 Metaphysik der Sitten; Werke (hg. v. W. WeischedeI) Bd. IV, 319 f. 3 Werke (hg. v. WeischedeI) IV, 337.

§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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in Deutschland seinen Einzug haltenden Konstitutionalismus war. Andererseits mußten eben dessen Fortschritte seinen Einfluß dann doch auch im Staatsdenken brechen. Nämlich einfach da sich mit der allgemeinen Einführung von Staatsgrundgesetzen die Begründung der Pflichten und Rechte im Staat von axiomatischen Vemunftideen zum positiven Recht, zur Verfassungspraxis und Geschichte verlagern mußte; von diesem Boden aus waren die "Volksrechte", wenn sie bedroht waren, zu verteidigen, worüber 1837 der königliche Verfassungsstaatsstreich in Hannover belehrte. Längst bevor der Konstitutionalisierungsprozeß der deutschen Staaten mit dem Ausgang der Revolution abgeschlossen war, war denn auch schon in der Staatslehre das neue Geschichtlichkeitsdenken auf breiter Linie durchgedrungen: Hegel begreift den Staat als die "Wirklichkeit der sittlichen Idee", Stahl als ein "sittliches Reich"; ebenfalls schon im Vormärz gilt anderen Autoren der Staat als ein "organisches System der Lebensverhältnisse" (F. Schmitthenner), als "geistig-sittlicher Organismus" (Bluntschli), als "organisches Gemeinwesen" (H.A. Zachariä). So stellt sich schon für den Vormärz der Gesellschaftsvertrag als die weithin abgestoßene staatstheoretische Denkgrundlage dar. Der Kontraktualismus wird zu einem Thema der Ideen- und Dogmengeschichte, er kann nun in den theorie- und dogmengeschichtlichen Abrissen der Staatsrechtslehrbücher ohne weiteres auf gleicher Stufe mit dem allgemein bekämpften, von Karl Ludwig von Haller erneuerten Patrimonialismus abgehandelt sein4 . Auch der den Kontraktbegriff aus der Staatslehre verdrängende, das neue politische Gemeinschaftsgefühl besser bekundende Organismusbegriff kann durch Kant an die Staatslehre als vermittelt gelten 5 , schon der frühe Schelling suchte ihn für das Begreifen des Staates und des Soziallebens fruchtbar zu machen 6 •

Mit der Auffassung des Staates als eines "Organismus", also als eines Systems, dessen Teile um des Ganzen willen existieren, war im Grunde der Staat erst als eine Institution des strukturierten gesellschaftlichen Lebens thematisiert7 . Insofern war das geschichtlich-organische Denken moderner als das individualistisch-teleologisch-rationalistische der Aufklärung. Moderner war es aber nicht auch unter 4 Vg!. als Belege etwa R. Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 1837, 27 ff., 38 ff.; H. Zöpjl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts I, 5. Auf!. 1863, 60 - 82. 5 Vg!. seine Definition durch Kant in Kritik der Urteilskraft § 65: Zu einem Organismus gehört nicht nur, daß ein jeder Teil "um des andern und des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht" werden kann, sondern "daß die Teile desselben insgesamt ihrer Form sowohl als Verbindung nach wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen". Zur Geschichte von Organ, Organismus, Organisation seit Französischer Revolution und idealistischer deutscher Philosophie Böckenförde in: Geschicht!. Grundbegriffe 4 (1978) 561 ff., 579 ff. 6 In seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), und zwar in der 10. Vorlesung über das Studium der Historie und der Jurisprudenz. Dazu A. Hollerbach, Der Rechtsgedanke bei Schelling, 1957, 152 ff. 7 In diesem Sinne zum institutionellen Ansatz in der Staatslehre des mittleren 19. Jh. Böckenförde, Gesetz 127 f.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

dem Aspekt der "Auseinanderentwicklung" von Staat und Gesellschaft: es hält vielmehr wie das nach 1850 für erledigt angesehene Naturrecht ebenfalls noch an der aristotelisch-alteuropäischen Idee der Staat und Gesellschaft umfassenden societas civilis fests. 3. Die geschichtlich-organische Staatslehre verstand sich als die Rechtfertigung des besonderen deutschen Weges zum Verfassungsstaat, der Alternative zu Revolution und Restauration. Die deutschen Fürsten- und Obrigkeitsstaaten sollten zu Staaten mit repräsentativer Regierungsform werden, ohne daß jedoch die für Deutschland als bewährt angesehene selbständige politische Bestimmungsmacht des Monarchen angetastet sein sollte, d. h. das politische Ideal war der lebensfähige Ausgleich von monarchischem und konstitutionellem Prinzip9. Bei allem "virtuellen ,Konflikts 'verhältnis zwischen repräsentativstaatlicher Volksvertretung und monarchischem Prinzip" (H. Brandt) unterschieden sich im allgemeinen in den konkreten verfassungspolitischen Fragen die Ansichten des geschichtlich-organischen Konstitutionalismus eher nicht schärfer von denen des vormärzlichen vernunftrechtlichen Liberalismus. Gewöhnlich waren auch die vernunftrechtlichen Liberalen zu offener KampfsteIlung gegen das monarchische Prinzip nicht bereit, auch sie lehnten die Gewaltenteilung oft ausdrücklich ab. 4. "Staatslehre" ist bis zum Ausgang des 18. Jh. ein noch eher ungebräuchlicher Terminus 10. Auch die im frühen 19. Jh. häufiger auftauchenden Systeme einer "Staatslehre"ll verkörpern, soweit sie noch deutlich unter dem Einfluß des Ver8 Zur Fortdauer der "Staat" und "Gesellschaft" umfassenden Idee der societas civilis in den Politik-Werken deutscher Historiker des 19. Ih. M. Riedei, Der Staatsbegriff der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Ih. in seinem Verhältnis zur klassisch-politischen Philosophie, Der Staat 2 (1963) 41-63, auch in: ders., Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, erw. Neuausg. 1982, 139 ff. 9 Die eindrückliche Darlegung dieses Verfassungsideals bei F. eh. Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, 1835. Zum Verfassungsideal der organisch-konstitutionellen Bewegung E.-W Böckenförde, Die Einheit von nationaler und konstitutioneller politischer Bewegung im deutschen Frühliberalismus, in: ders. (Hg.), Modeme deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), 1972, 27-39 (überarbeitete Fassung von Abschnitten aus Böckenfördes Schrift: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Ih., 1961). Ergänzend unter sozialgeschichtlichem Blickwinkel die Beiträge von L. GaU und J.J. Schefhan in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, 1976. 10 Aus der Zeit vor 1800 kann als ein Werk mit "Staatslehre" im Titel erwähnt werden: G.F. Lambrecht, Versuch eines vollständigen Systems der Staatslehre, 1784. 11 Die Konjunktur im frühen 19. Ih. belegen u. a. WJ. Behr, System der allgemeinen Staatslehre, Bamberg 1804; ders., System der allgemeinen angewandten Staatslehre oder Staatskunst (Politik), Frankfurt a.M. 1810; D.G. v. Ekendahl, Allgemeine Staatslehre, 3 Bde., Neustadt a.d.O. 1833-35. Auch der 2. Bd. von K. v. Rottecks Lehrbuch des Vemunftrechts und der Staatswissenschaften, 2. Auf!. 1840, hat zum Titel: Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre. Zudem kommt nach H. Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Ih., AöR 99 (1974) 556 ff., 559 Anm. 16 gelegentlich schon in der ersten Hälfte des 19. Ih. eine als Einleitung in die gesamte Staatswissenschaft gedachte Vorlesung ,,Allgemeine Staatslehre" vor, so in Freiburg (Rotteck und Buß) und Würzburg (Behr).

§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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nunftrechts stehen, durchaus keinen von der bisherigen allgemeinen Staatsrechtsdisziplin nach Gegenstand, Methode und wissenschaftspraktischer Funktion sich unterscheidenden Wissenschaftsansatz. Schon seit der lahrhundertmitte werden allerdings Werke mit "Allgemeines Staatsrecht" im Titel seltener, dafür wird nun dessen Darstellung direkt in die Grundrisse und Lehrbücher des positiven Staatsrechts, und zwar vorzüglich des "gemeinen" deutschen Staatsrechts hereingenommen 12 . Erst earl Friedrich von Gerber stößt 1865 in seinen "Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts" ein allgemeines Staatsrecht als Bestandteil eines Systems des deutschen Staatsrechts entschlossen ab, vollends kommt ein allgemeines Staatsrecht in Paul Labands "Staatsrecht des Deutschen Reiches", dem die neue Reichsstaatsrechtswissenschaft anführenden Werk mit neuer methodischer Gesinnung, nicht mehr als solches vor. Das als selbständige juristische Dogmenwissenschaft arrivierte Staatsrecht braucht nicht mehr die Ideen eines metapositiven Staatsrechts zur Grundlage, ihm genügt eine die empirische "Seite" des Staates behandelnde ,,Allgemeine Staatslehre,,13 zur ,,Ergänzung"; dieselbe erhält mit Georg lellineks gleichnamigem Standardwerk von 1900 ihre bis zur Gegenwart einflußreiche Neugestaltung. Nach 1900 ist dann auch schnell in der Lehre an den juristischen Fakultäten der deutschen Universitäten die bislang noch übliche Vorlesung über "Allgemeines Staatsrecht" durch eine solche über "Allgemeine Staatslehre" abgelöst l4 . Schon jetzt sollte, obzwar auf lellineks "Allgemeine Staatslehre" im weiteren Verlauf zurückzukommen ist l5 , angemerkt werden, worin sich im Verhältnis zur positiven Staatsrechtslehre die um 1900 erneuerte Allgemeine Staatslehre von der älteren allgemeinen Staatsrechtsdisziplin unterscheidet. Ein allgemeines Staatsrecht als eigene Disziplin erübrigt Jellineks Staatslehre, indem ihr drittes und umfänglichstes Buch schon der Überschrift nach selbst eine "Allgemeine Staatsrechtslehre" ist. Jene deckt sich jedoch inhaltlich nur zum kleineren Teil mit dem traditionell als ,,Allgemeines Staatsrecht" vorgetragenen Stoff, nämlich indem sie zwar eine allgemeine Staatsrechtsdogmatik im Sinne der systematischen Entwicklung der staatsrechtlichen Hauptideen und -begriffe ist, die charakteristischsten Themen und Probleme der bisherigen allgemeinen Staatsrechtslehre wie Wesen und Zweck des Staates oder das Verhältnis des Staates zum Recht enthält sie jedoch nicht, sie sind vielmehr im zweiten Buch des Jellinekschen Werkes, der "Allgemeinen Soziallehre des Staates", untergebracht. Jene wiederum kann aus diesem Grunde nur sehr eingeschränkt als eine sozialwissenschaftliche Staatslehre geIten, und noch weniger kommt ihr wie der bisherigen allgemeinen Staatsrechtsdisziplin die Funktion der dogmatischen Anleitung für die positive Staatsrechtslehre und vollends der Hilfe bei der Schließung von Rechtslücken zu, diese Funktion entfällt von vornherein wegen der von Jellinek angenommenen prinzipiellen Betrachtungs- und Methodenverschiedenheit von Staatsrechtslehre und Soziallehre des Staates.

12 Dazu Kuriki (s. Anm. 11) 558 ff. Zum Verhältnis des allgemeinen Staatsrechts zum deutschen Staatsrecht in der Zeit des Deutschen Bundes auch noch § 14 I. 13 Dazu noch § 18 11. 14 Dazu mit Nachw. Kuriki (s. Anm. 11) 559. 15 Vgl. § 18 III.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

11. l. Eine wirkungsmächtige neue Staatstheorie gibt es aus dem frühen 19. Jh. nur von Hegel.

Der "Restauration der Staats-Wissenschaft" (6 Bde. 1816 - 34) des Berner Karl Ludwig von Haller (1768-1854)16, die für den Zeitabschnitt von 1815 bis 1830 den Epochennamen geliefert hat, liegt nicht eine eigentliche Staatslehre zugrunde, sondern eine allgemeine Soziallehre: Haller sucht alle geselligen Verhältnisse auf die "natürliche" Gewalt von Familienvätern und Grundeigentümern als ihren Ursprung zurückzuführen. Dieser Versuch fällt typisch rationalistisch im Sinne des Haller verhaßten 18. Jh. aus, er wendet sich wie die westeuropäischen Gegenrevolutionäre de Maistre und Bonald gegen Aufklärung und Revolution mit den Denkmitteln der Aufklärung. Hallers Einfluß war im Vormärz eng begrenzt, nämlich auf die erblichen Herrschaftsschichten in Österreich und Preußen und jene Autoren, die mit dem politischen Lebensgefühl dieser Schichten sympathisierten; nach Stahl bekämpft er "gerade das wahrste Motiv der Revolution, die Staatsgewalt aus dem patrimonialen Charakter zum öffentlichen, staatlichen zu erheben,,17. Auch die im deutschen Umkreis Haller in der konservativen politischen Haltung nahestehenden politischen Romantiker, die allerdings durchaus auch ein neues Staatsgefühl zu wecken suchten (Novalis), gelangten nicht zu einer neuen Staatstheorie. Eine solche sollten zwar die "Elemente der Staatskunst" (3 Tle. 1809) von Adam Müller (1779-1829) enthalten, die sprunghaften, häufig nur paraphrasierenden Ideenassoziationen in diesem Hauptwerk romantischer Staatsbetrachtung konnten ihm aber keine Anerkennung in diesem Sinne bei Zeitgenossen und Nachwelt verschaffen l8 . Auch Schelling, der philosophische Zieh vater der deutschen Romantik, wurde nicht zum Schöpfer einer neuen Staats- und Rechtslehre 19, und auch bei Fichte, dem zum 16 Eine gründliche neuere Auseinandersetzung mit Hallers Werk fehlt. Aus dem älteren Schrifttum über ihn: WH. v. Sonntag, Die Staatsauffassung Carl Ludwig von Hallers, ihre metaphysische Grundlegung und ihre politische Formung, 1929; H. Weilenmann, Untersuchungen zur Staatstheorie Carl Ludwig von Hallers, Diss. phi!. Bem 1953. Zur Machtmetaphysik Hallers K.-G. Faber, Zur Machttheorie der Romantik und der politischen Restauration, in: R. Brinkrnann (Hg.), Romantik in Deutschland, 1979,59 ff., 63 f. 17 Philosophie des Rechts I, 5. Aufl. 1870,570. Auch Hegel polemisiert in seiner Rechtsphilosophie in einer ellenlangen Fußnote (zu § 258) gegen Haller. Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates (1833) des politisch konservativen Hallenser Historikers Heinrich Leo (1799-1878) kann man in Anbetracht seiner Auffassung des Staates als ein "Kunstwerk göttlichen Ursprungs" und seiner empirisch-historischen Erörterung der Staatsformtypen nicht in die Nähe von Hallers Position stellen. 18 Das negative Gesamturteil über Müllers Hauptwerk überwiegt bis heute. Positiv die Wertung in der älteren, eine Rehabilitierung Müllers bezweckenden Untersuchung von G. v. Busse, Die Lehre vom Staat als Organismus, 1928, auch bei J. Baxa, Adam Müllers Philosophie, Ästhetik und Staatswissenschaft, 1929. Überhaupt zum politischen Denken der deutschen Romantik U. Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie, Rhein.-Westf. Akad. d. Wiss., Vorträge G 248,1980. 19 So auch das Urteil bei A. Hollerbach (s. Anm. 6).

§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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politischen Leben so sehr sich hingezogen Fühlenden, reiften die neuen philosophischen Einsichten nicht mehr bis zu einer neuen Staats- und Rechtslehre durch. Savigny, der mit romantischer Bewegung und deutscher Neuklassik eng verbundene Gründer einer neuen rechtswissenschaftlichen Schule, hat sich nicht als Staatstheoretiker verstanden, wie er wohl auch nicht als ein Rechtstheoretiker verstanden werden wollte; nur mit wenigen, eher bloß beiläufigen Bemerkungen hat er das ihm vorschwebende Staatsbild umrissen20 . 2. Hegels Philosophie können wir nicht näher beleuchten, auch den heutigen Stand der Hegeldiskussion können wir selbst nur andeutungsweise nicht resümieren. Wir müssen uns mit einer Bemerkung zu Hegels Rechtsphilosophie ("Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse", 1820/21), der abschließenden Ausarbeitung seiner Staats- und Sozialtheorie, begnügen. Auch diese Bemerkung vermag nur das Neue an Hegels Staats- und Sozialtheorie und das Wesentliche an ihrer Wirkung im 19. Jh. kurz hervorzuheben21 . Hegels Rechtsphilosophie, das letzte seiner von ihm selbst herausgegebenen philosophischen Werke, ist die Darstellung des Prozesses der Entwicklung des Willens zum Bewußtsein seiner Freiheit. Dieser Prozeß verläuft nach dem Aufbau der Rechtsphilosophie vom "abstrakten Recht" über die "Moralität" zur "Sittlichkeit", unter diesem letzteren Begriff faßt Hegel die Institutionen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates zusammen. Während die Unterscheidung von "abstraktem Recht" und "Moralität" die Zweiteilung der praktischen Philosophie in Naturrecht und Ethik durch Kant und Fichte fortführt, hat der dritte Teil der Rechtsphilosophie "Die Sittlichkeit" am ehesten sein Vorbild an der Aristotelischen Politik, abgesehen vom neuartigen Mittelstück: der Theorie der "bürgerliehen Gesellschaft" (§§ 182-256)22. Die Untersuchung der bürgerlichen Gesellschaft erfolgt in Hegels Rechtsphilosophie unter dem Aspekt ihres Verhältnisses zum Staat. Als das "System der Bedürfnisse,,23 ist die bürgerliche Gesellschaft eine bestimmte Stufe im Prozeß des 20 In Anlehnung an ScheIling bezeichnet Savigny den Staat als die "Ieibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft"; System des heutigen römischen Rechts, I, 1840, 22. Dazu J. Rücken, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich earl von Savigny, 1984, 312 ff. 21 Zum Einfluß Hegels auf die Staatslehre des 19. Jh. U. Scheuner; Hegel und die deutsche Staatslehre des 19. und 20. Jh. (1960), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978,80-100; Stolleis, Gesch. 11, 133 ff.; überholt H. Heller; Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, 1921. 22 Zur Struktur der HegeIschen Rechtsphilosophie und zu ihrem Verhältnis zur Aristotelischen Politik die Beiträge K.-H. Iltings und J. Ritters in: M. Riedel (Hg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie 11 (1975) 52-78; 217-244; R. Dreier; Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Hegels, in ders., Recht - Moral- Ideologie, 1981,316 ff., 323 ff. 23 Rechtsphilosophie §§ 189-208. Als die Wissenschaft, die das System der Bedürfnisse zu ihrem Gegenstand hat, sieht Hegel die Nationalökonomie an, die er, von seinem Problemverständnis her nicht zutreffend, als "Staatsökonomie" bezeichnet (§ 189); eine Note zu diesem Paragraphen erwähnt die Werke von Smith, Say und Ricardo.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Wirklichwerdens der Freiheit, nämlich die Ausbildung des Willens zur "selbständigen Besonderheit". In die "Harmonie mit der sittlichen Einheit,,24 gelangt der Wille jedoch erst im Staate; dieser ist "die Verwirklichung der Freiheit nicht nach subjektivem Belieben,,25, sondern "die Wirklichkeit des substantiellen Willens,,26, der das Allgemeine und Vernünftige in seiner Objektivität zum Inhalt und Zweck hat. Damit ist für Hegel im Sinne des antiken Polisideals die Verwirklichung der Bestimmung der Individuen, "ein allgemeines Leben zu führen,m, nur im Staat möglich. Die Individuen können jedoch, und dieser Gedanke liegt nach Hegel dem griechischen Polisdenken völlig fern, das allgemeine Leben im Staat nur deshalb führen, weil sie durch ihn in ihren besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen als selbständige Subjekte anerkannt sind. Die vom Staat in ihrem Bestand gewährleistete bürgerliche Gesellschaft ist mithin nicht nur eine andere menschliche Daseinsweise als der Staat, sie ist auch seine notwendige Basis. "Das Prinzip der modemen Staaten", so der berühmte Satz aus Hegels Rechtsphilosophie, ,,hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten. ,,28 Der in Hegels Rechtsphilosophie als "die Wirklichkeit der sittlichen Idee" und "Wirklichkeit der konkreten Freiheit" begriffene Staat ist mithin kein allgemeines Staatsmodell, sondern das Modell eines konkreten geschichtlichen Staates, er ist "die Idee des Staats in neuer Zeit,,29, d. h. wie er mit der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft, dem Werk der Französischen Revolution, Wirklichkeit wird. Mit diesem Staat schließt die Ausbildung des Prinzips der subjektiven Freiheit ab, das Hegel als "geschichtlich später als die griechische Welt" betrachtet: es beginnt "innerlich in der christlichen Religion und äußerlich ... in der römischen Welt,,30. 3. Die Abschnitte in Hegels Rechtsphilosophie über Familie, Gesellschaft und Staat werden zu den klassischen Texten der Soziologie und Staatstheorie gezählt. Ein adäquates Verständnis haben sie im 19. Jh. und noch lange später nur bei wenigen gefunden. Erst die Hegelrenaissance seit dem Zweiten Weltkrieg hat Hegels Sozialtheorie in Verbindung mit seiner "Phänomenologie des Geistes" als den Schlüssel zum Verständnis seines philosophischen Gesamtwerkes entdeckt3l . Rechtsphilosophie § 185 Zusatz. Ebd., § 260 Zusatz. 26 Ebd., § 258. 27 Ebd., § 258. 28 Ebd., § 260. 29 Ebd., § 260 Zusatz. 30 Ebd., § 185. Diesen Gedanken entfaltet Hegels Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte, unter der Hegel "die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit" (Rechtsphilosophie § 341) versteht; auch in der Rechtsphilosophie kommt eine Skizze der "Weltgeschichte" als Abschluß vor (§§ 341- 360). 24

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§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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Daß Hegel eine staats wissenschaftliche Schule ins Leben gerufen hat, ist wohl eher zu verneinen. Nur wenige staatswissenschaftliche und naturrechtliche Lehrwerke eher vergessener Autoren haben, solange das Ansehen der metaphysischen Spekulation noch nicht zerstört war, auf Hegels Rechtsphilosophie aufzubauen versucht32 ; auch die Staatslehre Konstantin Rößlers von 1854 geht zwar von Hegel noch aus, er sieht in Hegel aber schon den "Machtstaatsdenker,m. Die Staatslehre des 19. Jh. ist aber doch durch Hege1 auf das nachhaltigste beeinflußt worden, ihre neuen Positionen, die Auffassung des Staates als sittliche Gemeinschaftsordnung und die Personifizierung der Staatsgewalt, haben ihn zum entscheidenden Anreger. Daß Hegels Begreifen des Staates als der "Wirklichkeit der konkreten Freiheit" in einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft gründet, dafür hat allerdings die Staatslehre des 19. Jh. zumeist kein Verständnis gehabt. Gerade mit dem wissenschaftlich Neuen an seiner Staatstheorie, der systematischen Unterscheidung und Verknüpfung von Staat und Gesellschaft, blieb Hegel folgenlos 34 .

Karl Marx und Lorenz von Stein setzten allerdings bei Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft an, die Bemerkung in der Rechtsphilosophie, daß "bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, '" dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern"35, könnte, denkt man sich "Pöbel" durch "Proletariat" ersetzt, auch von Marx stammen. Marx' materialistische "Umstülpung" der Hegeischen Geistphilosophie hebt sie in dem Sinne auf, daß die Geschichte als der Prozeß des Sich-Hervorbringens des Geistes zu seiner Freiheit zum Prozeß der Klassenkämpfe wird, der mit der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft abschließt; zur Lebensaufgabe machte es sich 31 Als wichtige Ausgangspunkte der neueren Hegelinterpretation gelten: A. Kojeve, Introduction a la lecture de Hege!, Paris 1947 (dt. 1974), der Hegel als Anwalt der durch Napoleon konsolidierten Ergebnisse der Revolution versteht; E. Weil, Hegel et I'etat, Neuausg. Paris 1959, der Hegels politische Philosophie im Lichte der klassischen philosophischen Tradition interpretiert; G. Lukdcs, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, zuerst Zürich 1948, die Deutung der Entwicklung Hegels von seinen frühen ökonomischen Studien her; schließlich auch schon H. Marcuse, Hegel and the Rise of Social Theory, New York 1941 (dt. Ausg. unter dem Titel: Vernunft und Revolution, 1962). Anregend war in der Frühzeit der Bundesrepublik i. Ritter; Hegel und die Französische Revolution, 1957 (auch in ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, 1977, 183-233); dazu i. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution (1962), in ders., Theorie und Praxis, 1973,89-107. 32 So i.F.G. Eiselen, Handbuch des Systems der Staatswissenschaften, Breslau 1828; K.M. Besser; System des Naturrechts, Halle 1830. Zum Anschluß Bessers an Hegel F. Schmitthenner; Zwölf Bücher vom Staate, 1. Bd. Gießen 1839, 135 Anm. 33 Zu Rößlers Staatslehre Heller (s. Anm. 21) 185 -195. 34 Auch die Politik-Werke deutscher Historiker des 19. Jh. (F.Ch. Dahlmann, G. Waitz) gehen durchaus noch von der Einheit von Staat und Gesellschaft im Sinne der alteuropäischen Idee der societas civilis aus. Zumal polemisiert gegen die Trennung von Staat und Gesellschaft unter Berufung auf Aristoteles H. v. Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch, Leipzig 1859. Dazu M. Riedel (s. Anm. 8). 35 Rechtsphilosophie, § 245.

II Friedrich

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Marx, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modemen Gesellschaft zu enthüllen,,36. Lorenz von Stein (1815-1890)37 ist nicht nur im Vokabular immer Hegelianer geblieben, auch sein Problemverständnis ist die Entfaltung des HegeIschen Freiheitsgedankens als geschichtlicher Prozeß. Dagegen orientieren sich die um 1850 auftauchenden erstmaligen Begründungsversuche einer eigenen "Gesellschafts-Wissenschaft" durch deutsche Autoren schon nicht mehr an Hegels Gesellschaftsbegriff und seiner dialektischen Vermittlung von Staat und Gesellschaft38 . Hegels Vereinigung von Naturrecht und Staatswissenschaft zur "Rechtsphilosophie" sollte die Jurisprudenz, soweit sie nicht praktische Rechtskunst ist, in die Philosophie zurückgliedern, dazu war es 1821 schon zu spät. Wohl war Hegel in einzelnen Rechtsgebieten schulegründend 39 , auf den großen Entwicklungsgang der Rechtswissenschaft im 19. Jh. wirkte er jedoch nicht bestimmend ein, sein Berliner Widersacher Savigny ist der erfolgreiche Gründer einer dem Geist der neuklassisch-idealistischen Reflexion verpflichteten, methodisch und systematisch erneuerten Rechtswissenschaft. Allerdings liegt Stahls ebenfalls noch in einer Geschichtsmetaphysik verankerte "Philosophie des Rechts" (1830-1837), die bedeutendste Staats- und Rechtsphilosophie aus dem zweiten Jahrhundertdrittel, bei allem Gegensatz zu Hegels spekulativem Philosophieren auf der Linie von Hegels umfassender rechtsphilosophischer Konzeption, sie ist jedoch auch der letzte bedeutende Integrationsversuch von Philosophie, Rechtstheorie und Staatslehre. Karriere machte allerdings der von Hegel gebrauchte Ausdruck "Rechtsphilosophie" im Sinne der Bezeichnung einer neuen wissenschaftlichen Betrachtungsrichtung und akademischen Disziplin; die letzten noch als "Naturrecht" firmierenden Werke aus der Zeit um 1850 enthalten im Titel "Rechtsphilosphie" schon alternativ zu "Naturrecht,,4o.

Marx, Das Kapital, Vorwort zur 1. Aufl. (1867). Grundlegend für die Stein-Forschung R. Schnur (Hg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, 1976 (mit umfassender Bibliogr. der Werke und des Sekundärschrifttums). Aus der letzten Zeit über Stein: K. Hornung, Lorenz von Stein, 1983; C. Quesel, So36

37

ziologie und soziale Frage. Lorenz von Stein und die Entstehung der Gesellschaftswissenschaften in Deutschland, 1989; St. Koslowski, Die Geburt des Sozialstaates aus dem Geist des deutschen Idealismus: Person und Gemeinschaft bei Lorenz von Stein, 1989. Vgl. zu Stein auch noch unten § 20 11. 38 Die Notwendigkeit einer Gesellschaftswissenschaft suchte 1851 R. Mohl in einer programmatischen Abhandlung nachzuweisen: Gesellschafts-Wissenschaften und Staats-Wissenschaften, umgearb. u. erw. in: Gesch. u. Lit. I, 69 -11 0; zuvor hatte Heinrich Ahrens eine "Theorie von den gesellschaftlichen Formen" gefordert und sie auch umrißhaft ausgeführt, nämlich in: Das Naturrecht oder die Rechtsphilosophie nach dem gegenwärtigen Zustande dieser Wissenschaft in Deutschland. Nach der aus dem Französischen übersetzten zweiten Ausgabe, Braunschweig 1846; ausführlicher in: Philosophie des Rechts und des Staates, 2. T.: Die organische Staatslehre auf philosophisch-anthropologischer Grundlage, Wien 1850. Zu Mohls und Ahrens' Gesellschaftsbegriff E. Angennann, Robert von Mohl, 1962,339 ff. 39 So im Strafrecht und in der allgemeinen Rechtsgeschichte (E. Gans, F. Lassalle).

§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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Das zeitgenössische Echo auf Hegels Rechtsphilosophie war beträchtlich 41 . Es wurde mehr oder weniger von einem einzigen Abschnitt der Rechtsphilosophie ausgelöst: dem über inneres Staatsrecht (§§ 260-329). Der Junghegelianismus (A. Ruge) hat erstmals diesen Abschnitt als prinzipienwidrige "Akkomodation" Hegels an die "schlechte Wirklichkeit" des autoritären preußischen Beamtenstaates denunziert. Der junge Marx meldet allerdings in seiner akribischen Auseinandersetzung mit Hegels innerem Staatsrecht42 den Vorwuf der Akkomodation nicht gegen Hegel an, sondern er kritisiert Hegel, weil er "seiner Logik einen politischen Körper" gibt und "nicht die Logik des politischen Körpers,,43. In unserer Zeit ist im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Nachschriften der HegeIschen Rechtsphilosophie-Vorlesungen44 die Diskussion über den "Akkomodations"-Vorwurf wieder aufgelebt45 . Daß Hegels Staatstheorie ein politisches "Doppelantlitz" trägt, ist freilich ein lange geläufiger Topos; so kann sie als liberal gelten, soweit etwa der Vorrang der aIlgemeinen Gesetze und der Wert der Öffentlichkeit von Ständeversammlungen betont ist, dagegen sind Hegels Ausführungen als illiberal und reaktionär im Sinne der Wiener Schlußakte zu bezeichnen, wenn etwa den ständischen Versammlungen lediglich zugebilligt wird, daß sie eine ,.zutat von Einsicht" über das aIlgemeine Beste liefern46 . Im Vormärz mußten wohl die konservativen Züge an Hegels politischer Philosophie als auffaIlender als ihre fortschrittlichen erscheinen.

40 So außer dem Werk von Ahrens (s. Anm. 38) schon C.A.M. v. Droste-Hülshoff, Lehrbuch des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie, Bonn 1825; K.D.A. Räder; Grundzüge des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie, 1846. 41 Zeitgenössische Stellungnahmen zu Hegels Rechtsphilosophie enthält Bd. I der von M. Riedel herausgegebenen Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1975. 42 In dem 1843 entstandenen, bei der erstmaligen Veröffentlichung 1927 in der Marx-Engels-Gesamtausgabe "Kritik des HegeIschen Staatsrechts" überschriebenen Manuskript; Marx-Engels-Gesamtausg. I, I, 1927,403 -553. 43 Ebd., S. 458. 44 Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Edition und Kommentar in sechs Bänden von K.-H. Ilting, 1973ff. 45 Nach Ilting (s. Anm. 44) paßte Hegel noch während der Drucklegung den Text der Rechtsphilosophie aus politischen üpportunitätsgründen den Erfordernissen der eingeleiteten Restaurationspolitik an, so außer mit der neuverfaßten Vorrede (Polemik gegen den Jenaer Philosophen und Wartburgfestteilnehmer J.F. Fries) auch bei der DarsteIlung der Monarchenrechte. Zum ,,Akkomodations"-Vorwurf H. Ottmann, Hegels Rechtsphilosophie und das Problem der Akkomodation. Zu I1tings Hegelkritik und seiner Edition der HegeIschen Vorlesungen über Rechtsphilosophie, in: Zeitschrift f. philos. Forschung 33 (1979) 227-243; G. Lübbe-Wolff, Hegels Staatsrecht als SteIlungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, in: Zeitschrift f. philos. Forschung 35 (1981) 476-501; zusammenfassend R.Dreier (s. Anm. 22) 319f. 46 Vgl. Rechtsphilosophie § 301 Zusatz.

11·

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechts lehre

111. 1. Die Hauptfigur der vemunftrechtlichen Richtung in der vonnärzlichen Staatslehre ist Kar! von Rotteck (1775-1840), der geistige und politische Anführer des südwestdeutschen Frühliberalismus47 . Zur populären Verbreitung seiner Ideen war freilich das Hauptwerk, das "Lehrbuch des Vemunftrechts und der Staatswissenschaften" (4 Bde. 1829-1835; Bd. 1111 21840), wohl nicht geeignet, dafür um so mehr die mit erhobenem Zeigefinger geschriebene "Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände", die immer wieder aufgelegte gekürzte Volksausgabe einer neunbändigen "Allgemeinen Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeiten" (1812-1827), und von den kleineren Schriften die großen Grundsatzartikel für das gemeinsam mit K.Th. Welcker herausgegebene "Staats-Lexikon,,48. Rottecks Abhandlungen zeichnen sich durch logische Folgerichtigkeit wie scharfe Wirklichkeits beobachtung und pragmatisches Denken aus, diese letzteren Vorzüge werden ihnen allerdings bis in jüngste Zeit im allgemeinen eher weniger bescheinigt. Als letzter Autor von Rang spricht Rotteck dem Vemunftrecht "für alle Nationen und Zeiten" Gültigkeit zu. Ein positives Recht gibt es nicht wegen

47 Aufgewachsen unter dem Einfluß der josephinischen Aufklärung in Freiburg im Breisgau, dort ab 1798 Professor für Universalgeschichte, 1818 Wechsel auf den Lehrstuhl für Naturrecht und Staatswissenschaften in der juristischen Fakultät (1832 aufgrund der Bundesbeschlüsse unfreiwillig in den Ruhestand versetzt), 1819/20 und 1822 als Universitätsabgeordneter Mitglied der Ersten, 1830-40 Mitglied der Zweiten badischen Kammer. Über ihn aus dem älteren Schrifttum K.Th. Welcker, Rotteck, Karl von, in: Staats-Lexikon, 2. Aufl., XI (1848) 629-665; Bluntschli, Geschichte 578ff.; K. Schub, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl von Rottecks, Diss. phi!. Basel 1926; P. Goessler, Der Dualismus zwischen Volk und Regierung im Denken der vormärzlichen Liberalen in Baden und Württemberg, Diss. phi!. Tübingen 1932; H. Schmitt, Das vormärzliche Staatsdenken und die Revolution von 1848/49 in Baden, in: Baden im 19. und 20. Jh., 11, 1950,7-88; H. lobst, Die Staatslehre Karl von Rottecks, ZGORh 103 (1955) 468 ff.; L. Krieger, The German Idea of Freedom, 1957,242-252. Aus dem neueren Schrifttum: H. Ehmke, Karl von Rotteck, der "politische Professor", 1964; Böckenförde, Gesetz 99 ff.; H. Brandt, Landständische Repräsentation in deutschen Vormärz, 1968,255-266; F. Müller, Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz, 1965, 259 f., 267 ff. u.ö.; Schmidt-Aßmann 105-113; L. Gall. Der Liberalismus als regierende Partei, 1968, 44ff.; M. Köhler, Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jh., 1973,71-76; U. Bermbach in Pipers Handb. 4, 358ff.; W.D. Dippel. Wissenschafts verständnis, Rechtsphilosophie und Veruagslehre im vormärzlichen Konstitutionalismus bei Rotteck und Welcker, 1990; R. Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus im Vormärz, 1994 (auch zu Welcker, Pfizer, Murhard). 48 Von den Artikeln im Staats-Lexikon sind zu erwähnen (die römische Ziffer in der Klammer bezeichnet den Band in der 1845 beginnenden 2. Aufl.): Charte, Verfassungsurkunde, Freiheitsbrief, insbesondere französische Charte (III); Demokratisches Princip etc. (111); Freiheit etc. (V); Gleichheit etc. (VI); Monarchie, monarchisches System, monarchisches Princip, Monarchismus (IX); Naturrecht, Vemunftsrecht, Rechtsphilosophie und positives Recht (IX). Nicht unwichtig für die Beurteilung von Rottecks politischen und wissenschaftlichen Ansichten sind auch einzelne Abhandlungen in: Sammlung kleinerer Schriften, meist historischen oder politischen Inhalts, 5 Bde. Stuttgart/Leipzig 1829-37 (Nachdr. Frankfurt 1971).

§ 12. Von der vemunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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der Unvollkommenheit des Vernunftrechts, sondern weil die "Schwachheit" der Menschen zur Festsetzung positiver Rechtssätze nötigt; deshalb kann das ,,historische Recht im engeren Sinne", d. h. das bloß faktisch eingetretene Recht nie wahrer als das Vernunftrecht sein, die Geschichte ist der dauernde Kampf für solche Rechte, "welche dem Vernunftrecht nicht widerstreitend sind,,49. In diese fortschrittsoptimistische Geschichtsauffassung des unbeirrten Anhängers der Französischen Revolution fügt sich völlig Rottecks Staatslehre ein. Wie Rousseau verwirft Rotteck die übliche Unterscheidung von zwei oder drei gemeinschaftserrichtenden Verträgen, da damit dem Gesamtwillen die Souveränität geraubt wird50; wie der Wille aller die Gesellschaft errichtet, so wird sie von ihm sogleich regiert. Das normalerweise durch seine Repräsentanten handelnde Volk bezeichnet daher Rotteck als das "natürliche" Organ des Gesamtwillens, alle anderen Organe sind ,,künstlich". Nur zum "Vollzug" des vom Gesellschaftsvertrag unterschiedenen Verfassungsgesetzes, d. h. um das staatliche Oberhaupt wirksamer zu verpflichten, kann noch ein besonderer, das Oberhaupt bevollmächtigender und verpflichtender Vertrag abgeschlossen sein51 . Rotteck geht aber nicht so weit wie Rousseau, die Regierung als Mandatar und bloßes Exekutionsorgan des Gesamtwillens aufzufassen. Obzwar dies an sich seinem scharfen Ansatz beim Volkssouveränitätsprinzip entsprechen würde, billigt er doch der Regierung aus rechtsstaatlichen und pragmatischen Gründen die Stellung eines selbständigen eigenberechtigten Organs zu. Damit kann die Staatsgewalt nur dualistisch strukturiert sein, d. h. sie gliedert sich zum einen in das von der Volksvertretung dargestellte "natürliche" Organ, zum anderen in das unentbehrliche ,,künstliche", die Regierung 52 . Der eigene Kompetenzbereich der Regierung umfaßt die Administration, während die Gesetzgebung für die Volksrepräsention reserviert ist, sie ist zudem zur Kontrolle über das künstliche Organ befugt. Mit dieser demokratischen Lehre von der notwendigen Verwirklichung des Gesamtwillens durch "zwei Personen" war der deutsche Frühkonstitutionalismus "von links" (H. Brandt) legitimiert: Die Volksvertretung ist von der Regierung strikt getrennt, sie ist die kontrollierende Opposition. Einen Weg zur Weiterentwicklung des jungen mittel staatlichen Konstitutionalismus hat dieses demokratisch-dualistische Verfassungskonzept wohl nicht weisen können: Wie es erreicht werden kann, daß das "natürliche" und das "künstliche" Organ "in ihrem Zusammenwirken und Wechselwirken den idealen und wahren Gesammtwillen fortwährend möglichst getreu darstellen oder in möglichster Annäherung verwirklichen,,53, sagt Rotteck nicht. 49 Vgl. Lehrbuch des Vemunftrechts und der Staatswissenschaften, I, 2. Auf!. Stuttgart 1840,65. 50 Ebd., S. 87 ff. 51 Lehrbuch des Vemunftrechts und der Staatswissenschaften, II, 2. Auf!. 1840, 93 f. 52 Ebd., S. 80 ff., 226 ff. 53 Ebd., S. 105.

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2. Rottecks eindeutiges Vernunftrechtsdenken ist für die liberale Richtung in der vormärzlichen Staatslehre nicht typisch. Andere dieser Richtung zuzurechnende Autoren sehen das Vernunftrecht durchaus nicht als den antagonistischen Widersacher des "historischen Rechts" an, sondern betonen die Komplementarität von idealem und positivem Recht, auch ihnen gilt jedoch das aus Vernunftgrundsätzen sich ergebende Recht als der Prüfstein für die "innere" Rechtmäßigkeit der positiven Gesetze. Rottecks demokratisch-vernunftrechtliche Position teilt am ehesten der in den 1830er Jahren rege mit Schriften über Fragen der Staatslehre, der Politik und des positiven Staatsrechts hervorgetretene hessische Privatgelehrte und Publizist Friedrich Murhard (1778 _1853)54. Desweiteren stehen auf vernunftrechtliehem Boden: der Marburger Rechtsprofessor Sylvester Jordan (1792-1861)55, und zwar mit "Versuche über allgemeines Staatsrecht in systematischer Ordnung und in Bezugnahme auf Politik" (1828) und einem unvollendeten "Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts" (1831); der Jenaer Rechtslehrer und praktische Jurist Karl Ernst Schmid (1774-1852)56, dessen ebenfalls unvollendetes "Lehrbuch des gemeinen deutschen Staatsrechts" (1821) außer dem verfassungsgeschichtlichen Teil eine umfängliche Darlegung der allgemeinen Staatsrechtslehren enthält; der den Staat streng im kantischen Sinne als eine Rechtsanstalt auffassende Würzburger Staats- und Rechtslehrer und wie Jordan liberale Freiheitsmärtyrer Wilhelm Joseph Behr (1775 -1851 )57, dessen staats- und politiktheoretischen Werke in der Hauptsache jedoch schon vor 1815 veröffentlicht waren 58 . Den neuartigen Typus der staatswissenschaftlichen Enzyklopädie repräsentieren für die Zeit um 1830 "Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit" (5 Bde. 1823/24; 21827/28) des Leipziger Staats wissenschaftlers Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772-1838)59. Auch Pölitz, dem häufig, aber eher wohl zu Unrecht, die wissenschaftliche Originalität abgesprochen worden ist ("Vielschreiber"), ist noch der vernunftrechtlichen Richtung zuzurechnen, jedenfalls geht sein staatswissenschaftliches System vom Staatsvertragsgedanken aus. In Einklang mit seiner zwischen Vernunftrecht und praktischem Recht vermittelnden Absicht faßt jedoch Pölitz den Staatsvertrag mehr nur als ein heuristisches Ordnungsprinzip auf, d. h. 54 Über Murhard W Weidemann, Friedrich Murhard und der Altliberalismus, in: Zeitschrift d. Vereins f. Hess. Geschichte u. Landeskunde 55 (1926) 229-276; aus dem neueren Schrifttum Brandt, Landständische Repräsentation (s. Anm. 47) 266ff.; Boldt, Staatslehre 162 ff. Die wichtigeren Schriften Murhards sind noch unten in § 13 Anm. 114 erwähnt. 55 Über Jordan, den "Vater" der kurhessischen Verfassung von 1831, und sein Los als Vormärzverfolgter die oben § 11 Anm. 8 Genannten. 56 Von ihm ist die Verfassung des Kleinstaates Sachsen-Meiningen (1824/1829) entworfen, sie enthält u.a. erstmals das politische Asylrecht. Über ihn ADB 31, 675. 57 Über ihn noch § 13 I 2 a; zu seinem Los als politischer Freiheitsmärtyrer oben § 11 Anm.8. 58 System der allgemeinen Staatslehre, Bamberg/Würzburg 1804; System der allgemeinen angewandten Staatslehre oder Staatskunst (Politik), Frankfurt a. M. 1810. 59 Über ihn Brandt, Landständische Repräsentation (s. Anm. 47) 214ff.; Baldt, Staatslehre 186 ff.; mit anerkennender Beurteilung der Leistung Schmidt-Aßmann 178 ff.; ADB 26, 389.

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er dient ihm als ein lockeres Rahmenkonzept zur besseren Ordnung des vielfältigen, in neuerer Zeit vorab durch die neuen Verfassungsgesetze ganz bedeutend angewachsenen staatswissenschaftlichen Stoffs. Mit Recht gilt Pölitz als der typische vormärzliche politische Vermittlungstheoretiker; so rechtfertigt er von seinem vernunftrechtlichen Ansatz her sowohl das monarchische Prinzip wie eine allgemeine Nationalrepräsentation, die er in der Form der in den süddeutschen Monarchien gerade eingeführten "neuständischen" Kammern befürwortet60 . Auf konservativer Seite nimmt eine politisch vermittelnde Position der pragmatisch-rationalistische Staatstheoretiker des dem Zeitgeist sich verschließenden Preußens Friedrich Ancillon (1767-1837)61 ein, seine zahlreichen, wohl schon den Zeitgenossen als zu glatt gegoltenen Schriften schließen ein staatswissenschaftliches System nicht ein62 . Ein für die politische Vorstellungswelt des deutschen Frühliberalismus eher noch repräsentativeres Werk als Pölitz' Handbuch ist das handliche "Staatsrecht der constitutionellen Monarchie" (2 Bde. 1824-1828; 21838/40) des bayerischen praktischen Juristen und politischen Publizisten Johann Christoph Frhr. von Aretin (1773-1824)63, vollendet von der Mitte des zweiten Bandes an durch Rotteck. Als Anhänger des Vernunftrechts in der eindeutigen Rotteckschen Version kann jedoch auch Aretin nicht gelten. In seinem gelungenen kleinen Handbuch ist das als ein ideales Recht vorgetragene monarchisch-constitutionelle Staatsrecht im wesentlichen aus den neueren Verfassungsgesetzen gewonnen, ohne daß jedoch die Annahme einer vertraglichen Errichtung des Staates aufgegeben ist. Die vorzüglich von Aretin herangezogenen Autoritäten sind, außer Kant und Montesquieu, der pragmatische Verfassungsdoktrinär Sieyes und der neue liberale Vermittlungstheoretiker Benjamin Constant, dem aber nicht in der dem monarchischen Prinzip widersprechenden, schon die parlamentarische Regierung voraussetzenden Auffassung der Stellung des Monarchen als "pouvoir neutre" gefolgt wird64 • Auch für Aretin ist vielmehr die Unteilbarkeit der Staatsgewalt ein nicht in Zweifel stehendes PrinZu Pölitz' Repräsentationssystem Brandt (s. Anm. 47) 217-223. Über den noch zum preußischen Außenminister Aufgestiegenen P. Haake, J.P.F. AncilIon und Kronprinz Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, 1920; anerkennender Beurteilung der wissenschaftlichen Leistung bei Schmidt-Aßmann 172 ff.; NDB 1, 264. 62 Außer dem historischen Hauptwerk Tableau des revolutions du systeme politique de l'Europe depuis le l5ieme siede, 4 Bde., Berlin 1803 sind von Ancillons Schriften zu erwähnen: Über Souveränität und Staatsverfassungen. Ein Versuch zur Berichtigung einiger politischer Grundbegriffe, Berlin 1815,2. Aufl. 1816; Über den Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung, Berlin 1825; Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen, 2 Tle., Berlin 1828/31. 63 Über Aretin R. Piloty, Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechtsliteratur, in: Staatsrechtliche Abhandlungen (Festg. Laband) I, 1908,232 ff.; NDB I, 348. 64 Zu Aretins Ablehnung der pouvoir neutre-Konzeption Boldt, Staatslehre 155 f. und überhaupt zur Auseinandersetzung mit Constants Lehre im deutschen Vormärz L. GaU, B. Constant, seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, 1963; zu Aretins Ablehnung der Gewaltenteilung auch Böckenförde, Gesetz 113 ff. 60 61

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zip, er begründet sie aber nicht wie Rotteck mit der Volkssouveränität. Zu einer Zeit erschienen, zu welcher der Druck der politischen Reaktion schwer auf Deutschland lastete, konnte freilich Aretins Kompendium die typischen Forderungen des deutschen Frühliberalismus wie Presse- und Oppositionsfreiheit, Vorrang der Gesetze, Geschworenengerichte usw. nur vorsichtig vortragen, er tut dies aber doch mit großer Bestimmtheit. Deren Verwirklichung richtet sich nach seiner wiederholten Versicherung durchaus nicht gegen den monarchischen Staatsgedanken, sondern gilt als Garantie dafür, daß der Monarch "nach den Vorschriften des vernünftigen Gesamtwillens" regiert. 3. Für das schnelle Sinken des Einflusses des Vernunftrechtsdenkens im Vormärz ist exemplarisch die Entwicklung von Karl Theodor Welcker (1790-1869)65, der neben Rotteck anderen "Stifterfigur" (H. Brandt) des deutschen Frühliberalismus, gemeinsam mit Rotteck Herausgeber des "Staats-Lexikons", das er schon vor dessen Ableben als einziger Redaktor betreut66 • Nach der Jugendschrift "Über die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe" (1813) trat Welcker nur noch mit einer einzigen größeren rechts- und staats philosophischen Arbeit auf: dem unvollendeten "Inneren und äußeren System der praktischen, natürlichen und römisch-christlichen-germanischen Rechts-, Staats- und Gesetzgebungslehre" (1829), veröffentlicht als erster Band einer auf sechs Bände geplanten staats- und rechtswissenschaftlichen Enzyklopädie. Für die unabgeschlossene Ausarbeitung der wissenschaftlichen Anschauungen sind wohl nicht nur die aufreibende Verwicklung in den politischen Tageskampf und die eine bedeutende Arbeitskraft auch in den besten Jahren voll in Anspruch nehmende redaktionelle Betreuung des "Staats-Lexikons" verantwortlich. Sondern auch daß sich Welcker zunehmend von der ursprünglichen vernunftrechtlichen Position entfernte; bei seiner Neigung zu Harmonisierungen dürfte er diesen Wandel wohl nicht als einen Bruch empfunden haben. Die durch ihn dem "Staats-Lexikon" eingepflanzte Tendenz war daher nicht eine republikanisch-vernunftrechtliche im Rotteckschen Sinne, sondern eher eine 65 Die stationenreiche akademische Karriere ist bezeichnend für die Eingriffe der vormärzlichen Reaktion in ein Gelehrtenleben: 1814 Berufung nach Kiel; 1816 nach Heidelberg; 1819 nach Bonn; wegen einer dort gegen ihn in Gang befindlichen peinlichen Untersuchung 1821/22 Annahme eines Rufs nach Freiburg; dort 1832 vom Lehramt suspendiert; auch das ihm 1840 zurückgegebene Lehramt verlor er schon wieder 1841, diesmal endgültig. Von 1833 bis 1848 im badischen Landtag, 1848 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung und badischer Bundestagsgesandter. Über ihn K. Wild, Karl Theodor Welcker, ein Vorkämpfer des älteren Liberalismus, 1913 sowie aus dem neueren Schrifttum: H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, 1968; B. GaU, Die individuelle Anerkennungstheorie von Karl Theodor Welcker. Ein Beitrag zur Begründung der Rechtspflicht, 1972; R. Schöttle, Politische Freiheit für die deutsche Nation. Carl Theodor Welckers politische Theorie, 1985; ders., Staatsorganismus und Gesellschaftsvertrag - die Staatstheorie Carl Theodor Welckers, ZGORh 135 (1987) 207-215; Dippel (s. Anm. 47); zur rechtsphilosophischen Jugendschrift H.-L. Schreiber; Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, 1966, 85 ff. 66 Zur Tätigkeit als Redaktor des Staats-Lexikons noch immer ergiebig H. Zehntner; Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker, 1929 (Reprint Vaduz 1991).

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rechts staatlich-organische, so daß das "Staats-Lexikon", bei allen gern in ihm angeschlagenen aufklärerischen Kampftönen gegen Absolutismus und Beamtenselbstherrlichkeit, nicht ohne Vorbehalt als die Repräsentation des "linken" Flügels des Vormärzkonstitutionalismus gelten kann. Welckers "Staatslexikon"-Artikel, nicht selten überlang und zahlreicher als die eines anderen Mitarbeiters, liegen, soweit sie Fragen der Staatstheorie und des Verfassungsrechts behandeln, durchaus mehr auf der gemeindeutschen als allgemein-constitutionellen Staatsrechtslinie, vorzüglich gilt in ihnen das Interesse den "germanischen" Wurzeln der modemen Verfassungsideen 67. Der Spitzenplatz des auch im internationalen Vergleich neuartigen "Staats-Lexikons" (115 Bde. 1834-43, 4 Bde. Suppl. 1846-48; 314 Bde. 1856-66) in der Geschichte der Politisierung der deutschen Gesellschaft bedarf keiner Unterstreichung 68 . Immerhin sollte zu dem monumentalen politischen Bildungswerk angemerkt sein, daß seine Bedeutung nicht nur und auch wohl nicht in erster Linie auf dem Gebiet der politischen Ideenpropagierung zu erblikken ist, noch erfolgreicher war wohl die umfassende Bereitstellung eines leicht zu nutzenden praktischen Wissens für den Kampf gegen Bürokratenselbstherrlichkeit. Ein jüngeres Konkurrenzwerk hat einen vergleichbaren Erfolg nicht erzielt. Für die staats wissenschaftlichen Lexika aus der Zeit nach 1850 ist allerdings auch nicht mehr so signifikant eine werbende politische Tendenz charakteristisch, wiewohl auch sie vorzüglich als politische Bildungsmittel gedacht gewesen sind. Repräsentativer für das politische Meinungsspektrum war das von Johann Caspar Bluntschli zusammen mit Karl Brater (1819-1869), dem Mitgründer der bayerischen Fortschrittspartei, herausgegebene liberal-konservative "Deutsche Staats-Wörterbuch" (11 Bde. 1856-68, 12. Bd. 1870), es vermochte namhafte Gelehrte weit mehr zu Mitarbeitern zu gewinnen und sollte nach den durchlittenen politischen Erfahrungen moderater als der Vorgänger sein. Von 1859 bis 1867 brachte Hermann Wagener (1815-1889) ein ..Staats- und Gesellschaftslexikon" (23 Bde.) heraus, das für die im Entstehen begriffene konservative Parteibewegung ideologische Geburtshelferdienste leisten sollte69 . Von jüngeren staatswissenschaftlichen Lexika sollte noch das 1880 beginnende ..Staatslexikon" der GörresGesellschaft erwähnt werden, vorbildlich in der gelungenen Verbindung von Wissenschaft und politischer Bildung7o •

67 Bezeichnend dafür sind die beiden großen Artikel: Adel (Altgermanischer), 2. Aufl., Bd. I, 259-298; Grundgesetz, Grundvertrag, Verfassung, 2. Aufl., Bd. VI, 161-250. 68 Zur geschichtlichen Würdigung neuerdings H. Brandt in der Einleitung zum Neudruck (1990); dort auch weit. Nachw. Siehe ferner Th. Zunhammer, Zwischen Adel und Pöbel Bürgertum und Mittelstandsideal im Staatslexikon von Karl v. Rotteck und Karl Theodor We1cker, 1995. 69 Zu diesem Staats- und Gesellschaftslexikon im Vergleich mit dem älteren Staats-Lexikon H. Puchta, Die Entstehung politischer Ideologie im 19. Jh., dargestellt am Beispiel des Staatslexikons von Rotteck und We1cker und des Staats- und Gesellschaftslexikons von Hermann Wagener, Diss. phil. Erlangen - Nürnberg 1973. 70 Zur Geschichte des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft C. Bauer; Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, 1964, 54-92; auch A. Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz in Deutschland 1876-1976, in: Gestalten und Probleme katholischer Rechts-und Soziallehre. Beiträge von C. Bauer, A. Hollerbach, A. Laufs, 1977, 55 ff.

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IV. 1. Im Vormärz nehmen einige Autoren eine Position zwischen Vemunftrecht und geschichtlichem Denken ein: das Vemunftrecht wirkt noch methodisch ein, die Staatsanschauung wurzelt jedoch schon in geschichtlichem Denken. Zu diesen Autoren gehört zunächst Karl Salomo Zachariä (1769-1843); er ist uns schon im Zusammenhang mit dem Ausgang der Reichspublizistik kurz begegnet und verdient nochmals bei der Besprechung des Rheinbundschrifttums Erwähnung 71 . Seine wegen der anregenden Stoffdarbietung vielgelobten wie wegen der Vorliebe für Gedankensprunge und "Originalitätssucht" ebenso getadelten "Vierzig Bücher vom Staate" (5 Bde. 1820-32; Bd. III 1839; 2erw. u. umgearb. 7 Bde. 1839-43) nehmen unter den staatswissenschaftlichen Enzyklopädien des 19. Jh. schon deshalb, weil sie ein abgeschlossenes Werk sind, einen hohen Rang ein. Zachariä leitet in diesem seinem Hauptwerk72 den Staat, auf seiner von Kants Rechtslehre ausgehenden fruhen philosophischen Linie bleibend 73 , aus der sittlichen Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Recht ab, weshalb man ihn noch der vemunftrechtlichen Richtung zurechnen kann; andererseits lehnt er den Kontraktualismus ab und ist um die Einbeziehung der Vielfalt geschichtlichen Lebens und um die historischpolitische Vermittlung kontradiktorischer Standpunkte bemüht. - Ebenfalls ein Werk des Überganges sind die trotz der Nichtvollendung wegen der gedanklichen Geschlossenheit über Zachariäs Arbeit zu stellenden ,,Zwölf Bücher vom Staate oder systematische Encyklopädie der Staatswissenschaften" (Bd. I 1839; Bd. III: "Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts", 1843) des Gießener Professors für Geschichte, Staats- und Kameralwissenschaften Friedrich Schmitthenner (1796-1850)74, sie sind die Synthese aus dem als Methode festgehaltenen Vemunftrecht und der als "deutsch-historisch" bezeichneten neuen Wissenschaftsrichtung. Da Schmitthenner unter dem Einfluß von Schellings idealistisch-organologischer Spekulation den Staat als ein "organisches System" sittlicher Lebensverhältnisse ansieht, dessen Grundform vom menschlichen Willen unabhängig ist, muß aber sein Werk in erster Linie der neuen geschichtlich-irrationalen Richtung zugerechnet werden. - Nach 1850 begegnet sich mit Schmitthenners Position der Zur Biographie § 13 I 2 b. Zu dessen Beurteilung Mahl, Gesch. u. Lit. 11, 528; Baldt, Staatslehre 228 ff.; Stalleis, Gesch. 11, 170 ff. 73 Von den frühen Schriften mögen erwähnt sein: Über die Erziehung des Menschengeschlechts durch den Staat, Leipzig 1802; Anfangsgründe des philosophischen Privatrechts nebst einer Einleitung in die philosophische Rechtswissenschaft überhaupt, Leipzig 1804; Die Wissenschaft der Gesetzgebung als Einleitung zu einem allgemeinen Gesetzbuche, Leipzig 1806. 74 Über ihn K. Kröger, Friedrich Schmitthenners Bedeutung für die deutsche Staatsrechtslehre, Festschr. Erwin Stein, 1969, 171-180 (mit weit. Nachw.); H. Zwirner, Politische Treupflicht des Beamten. Unveränderter Druck der Dissertation von 1956 mit drei neueren Beiträgen, 1987, 92 ff. Erwähnung verdient von Schmitthenners Schriften auch: Über Pauperismus und Proletariat, 1848. 71

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Würzburger Rechtslehrer Joseph Held (1815 _1890)75. Auch er hält in seiner ideenreichen Trilogie "Staat und Gesellschaft vom Standpunkt der Geschichte der Menschheit und des Staates" (1861-65) noch daran fest, daß ein Begreifen des Staates nur von der im Staat sich verwirklichenden ethisch-sittlichen Idee her möglich ist. Außer einem "System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands" (1856/1857), dem noch im weiteren Verlauf eine Bemerkung zu gelten hat, gibt es von Held noch "Grundzüge des Allgemeinen Staatsrechts oder Institutionen des öffentlichen Rechts" (1868), schon eines der letzten Werke eines bekannten Autors mit "Allgemeines Staatsrecht" im Titel. - Nicht zwischen Vernunftrecht und geschichtlichem Denken, sondern zwischen dem letzteren und dem erst in der zweiten Jahrhunderthälfte in die Führung gelangenden positivistischformalistischen Denken sucht schon im Vormärz Eduard Wippermann (1814-1880) mit der Studie "Über die Natur des Staates" (1844) zu vermitteln. 2. In der Auffassung des Staates als eines Systems sittlicher Lebensverhältnisse stehen Schmitthenner und Held unter dem Einfluß von Friedrich Julius Stahl (1802-1861)76. Seine "Philosophie des Rechts" (2 Bde. 1830/37; 2erw. 1845-47; 3erw. 1854-56; 51870) ist das letzte System einer umfassenden Rechts- und Staatslehre mit einem ausgeführten philosophischen System als Grundlage, nur Helds Staats- und Gesellschaftslehre kommt ihr insofern am ehesten nahe. Stahl versteht seine Rechtsphilosophie als den "Ruf zur Umkehr der Wissenschaft"n, d. h. zur Lossagung von der gesamten neuzeitlichen, in Hegels System den Gipfel ersteigenden pantheistisch-rationalistischen Spekulation. Um seinen Gegensatz zu allen Spielarten des neuzeitlichen Rationalismus zu unterstreichen, bezeichnet Stahl seine Rechtsphilosophie als die "nach geschichtlicher Ansicht,,78; als ein Bekenntnis zu historischem Relativismus ist mithin seine "geschichtliche Ansicht" mit75 Über Held Piloty (s. Anm. 63) 263 -269; v. Oertzen, Soziale Funktion 85 - 89; Bieback 297ff. 76 Nach Abschluß des Lyzeumsbesuchs in München Übertritt vom mosaischen zum lutherischen Glauben; o. Professor in Würzburg, Erlangen (auch als Vertreter der Universität in der Abgeordnetenkammer) und ab 1840 in Berlin auf einem Lehrstuhl für Staats- und Kirchenrecht sowie Rechtsphilosophie; 1849 Mitglied der Ersten preußischen Kammer und bald Sprecher ihrer hochkonservativen Fraktion; Mitbegründer der konservativen Kreuzzeitung. Über Stahl gibt es längst eine umfangreiche gründliche Literatur. Die ernsthafte Beschäftigung mit seinem Ideensystem beginnt mit Erich Kaufmanns Dissertation: Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, 1906 (darin § 3: Stahl als Rechtsphilosoph des monarchischen Prinzips; auch in Ges. Schriften III, 1960, 1-45). Aus dem neueren Schrifttum: D. Grosser, Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, 1963; Boldt, Staatslehre 196-215; H.-i. Wiegand, Das Vermächtnis Friedrich Julius Stahls. Ein Beitrag zur Geschichte konservativen Rechts- und Ordnungsdenkens, 1980; eh. Wiegand, Über Friedrich Julius Stahl, 1801-1862, 1981; W Füssl, Professor der Politik: Friedrich Julius Stahl (18021861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, 1988; W Sellert in HRG IV, Sp. 1882ff. (weit. Lit). 77 Philosophie des Rechts, 2. Bd. 1 Abt., 5. Aufl. 1870 (Nachdr. Hildesheim 1963), S. IX (aus der Vorrede zur 3. Auflage). 78 So im Titel der 1. Aufl.

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nichten zu verstehen. Mit Savigny und dessen historischer Schule stimmt er allerdings in der hohen Wertschätzung des "Konkreten, Individuellen" überein, aber auch nur darin, d. h. Savignys Entelechisierung der Geschichte lehnt er mit Bestimmtheit ab, das Wesen der Geschichte erblickt er im Gegenteil in der "freien Tat" Gottes und der Menschen. Am richtigsten ist daher wohl seine Position als irrationalistisch im philosophischen Sinne gekennzeichnet: die Auffassung der Geschichte als "Tat" erlaubt die Bejahung des göttlichen Schöpferwillens und Weltplans und der Kontingenz allen irdischen Geschehens, sie wirkt der Unterschätzung der Wirklichkeit und des personalen Elements in der Geschichte entgegen. Den Staat faßt Stahl als den "Verband eines Volkes unter einer Herrschaft (Obrigkeit)" auf, er ist "nach Gehalt und Bedeutung ... ein sittliches Reich", ja "schlechthin die sittliche Welt, d. h. die sittlich-verständige Gestaltung der menschlichen Gemeinschaft in ihr selbst,,79. Mit dieser institutionellen Staats- und Rechtslehre "auf der Grundlage christlicher Weltanschauung" stellt sich Stahl dem liberalen Zeitgeist entgegen; seit der Revolutionszeit bekämpft er ihn auch als Parteipolitiker, wird zum Ideologen und parlamentarischen Führer des preußischen Hochkonservatismus 8o . Die der Staatslehre zwischen Revolution und Reichsgründung gemeinsame konstitutionelle Grundanschauung hat jedoch eher durch ihn als einen als "liberal" geltenden Autor ihre eindrückliche Darlegung erhalten. Bekannt und immer wieder zitiert ist seine Definition des Rechtsstaates nicht von dessen ,,ziel", sondern von der Art des Staatshandelns her8l , nicht weniger bekannt seine Auffassung des monarchischen Prinzips als des Gegensatzes zum parlamentarischen 82 • Damit war dem konstitutionellen Prinzip das Odium des Gegenprinzips zum monarchischen genommen, ohne daß es allerdings eine eigene positive Bestimmung erhalten hätte, was Stahl aus politischen Gründen auch wohl nicht gewollt hat. Den Widerspruch, daß der Monarch höchste selbständige Autorität ist und zugleich durch die Verfassung gebunden, konnte Stahl nicht auflösen. Philosophie des Rechts, 5. Aufl., 11. Bd. 2. Abt., 131. Einen erneuten monarchischen Verfassungsoktroi lehnte er jedoch immer ohne Einschränkung ab. 81 Die berühmte Definition lautet: "Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soU die sittlichen Ideen von Staatswegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d.i. nur bis zur notwendigsten Umzäunung. Dies ist der Begriff des Rechtsstaats, nicht etwa daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze, er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staats, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen." (Philosophie des Rechts, 5. Aufl., 11. Bd. 2 Abt., 137 f.). 82 Zuerst 1845 in der Abhandlung: Das monarchische Prinzip, aufgenommen ins Hauptwerk ab der 2. Aufl. (1845/47). Vgl. auch § II Anm. II zur Frage der Originalität von Stahls Fassung des monarchichsehen Prinzips als des Gegensatzes zum parlamentarischen. 79

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3. Vom Protagonisten der liberalen Rechtsstaatsidee Robert Mohl gibt es keine ausgearbeitete Staatstheorie, weshalb wir augenblicklich von einer Würdigung seines vielseitigen Werkes absehen, sie findet in unserem Rahmen richtiger im Zusammenhang mit der Entwicklung der positiven Staatsrechtslehre ihren Platz. Dagegen ist augenblicklich eine Bemerkung zu lohann Caspar Bluntschli (18081881 )83, der prototypischen Übergangsfigur vom älteren Liberalismus zur ,,realpolitischen" Weltanschauung des nachachtundvierziger Bürgertums, noch angezeigt. Die geistig-politischen Wandlungen des deutschen Bürgertums im 19. Jh. machte der gebürtige Schweizer nicht nur mit, er lebte sie vor; dies ist bei der hohen Verbreitung seiner Schriften und den von Bluntschli bekleideten öffentlichen Ehrenämtern keine übertreibende Behauptung. Das philosophische Erbe in der Staatslehre ist bei Bluntschli, obzwar er die "friedliche Vermittlung" von "historischer" und "philosophischer Methode" als sein wissenschaftliches Ziel bezeichnet84 , schon nahezu durch Historismus und einen naturalistischen Positivismus aufgezehrt. Den monarchisch-liberalen Konstitutionalismus betrachtet Bluntschli als das ausgereifte Resultat der modemen Kulturentwicklung, er hebt den Gegensatz von Autokratie und menschlichem Freiheitsstreben in der "organischen" Gestalt des modemen Staates auf. Bekanntlich gilt Bluntschli als der Hauptvertreter der organischen Staatslehre zwischen Romantik und Otto Gierke, er verflacht sie bereits in eine ungeistige, sozialbiologische Richtung 85 . Die für uns wichtigste Arbeit Bluntschlis ist sein "Allgemeines Staatsrecht" (1852; 2 Bde. 41868) mit dem Untertitel: "geschichtlich begründet". Mit der Zweiteilung in eine allgemeine Staatslehre und ein allgemeines Staatsrecht der monarchisch-konstitutionellen Gegenwartsstaaten ist dieses Werk schon der Umbau der älteren, von der Philosophie zur Jurisprudenz hinüberleitenden allgemeinen Staatsrechtsdisziplin zu einer allgemeinen vergleichenden Staatsrechtswissenschaft auf empirischer Grundlage, es präludiert insoweit lellineks Neugründung der Staatslehre zur Jahrhundertwende. Jellineks sog. ,.zwei-Seiten-Lehre" des Staates, die 83 Nach Studium in Zürich, Berlin und Bonn Lehrtätigkeit an der neugegründeten Zürcher Universität, dort 1838 Ordinarius für römisches Recht, deutsches Privatrecht und zürcherisches Partikularrecht, außerdem reges Wirken in der schweizerischen Politik: Mitglied des Großen Rats des Kantons Zürich, Redaktor des Zürcher Privatgesetzbuchs. Ab 1848 Ordinarius für Deutsches Privatrecht und Staatsrecht in München, ab 1861 in Heidelberg und hier nun als Mitglied der badischen Ersten Kammer auch in der erstrebten engeren Verbindung mit der Politik. Über ihn aus neuerer Zeit: J. Vontobel, Die liberal-konservative organische Rechts- und Staatslehre Johann Caspar Bluntschlis, 1956; S.D. Schmidt, Die allgemeine Staatslehre Johann Caspar Bluntschlis, Diss. Köln 1966. Zur Rechtsstaatstheorie Bäckenfärde, Gesetz 195 ff.; zu Organismusbegriff und Körperschaftslehre vorzüglich Bieback 307 ff. 84 So in der Einleitung zu der 1853 von ihm mitgegriindeten Kritischen Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft; diese Passage ist auch in Bluntschli, Geschichte 756 aufgenommen. 85 Bekannt ist seine Auffassung des Staates als das "männliche" und der Kirche als das "weibliche" Prinzip: Psychologische Studien über Staat und Kirche, Zürich 1844.

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Unterscheidung von "sozialer" und ,juristischer" Staatsbetrachtung, kommt allerdings bei Bluntschli noch nicht explizit vor, dafür kann man seinem "Allgemeinen Staatsrecht" eine an Iellineks jüngeres Standardwerk ohne weiteres heranreichende gelungene Einarbeitung der politischen Ideen- und Verfassungs geschichte attestieren. Mit der "Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts und der Politik seit dem 16. Ih. bis zur Gegenwart" (1864; 31881) widmete sich Bluntschli auch direkt der politischen Ideengeschichte, und zwar mit einer großen Arbeit. Sein "Allgemeines Staatsrecht" benannte er schließlich folgerichtig in "Lehre vom modernen Staat" um (1875/76; 21885/86) und gliederte es nunmehr in Allgemeine Staatsrechtslehre, Allgemeines Staatsrecht und Politik als Wissenschaft.

v. 1. Die Staatsanschauung, die für Staats- und Staatsrechtslehre zwischen Revolution und Reichsgründung als kennzeichnend zu gelten hat, sollte noch zusammenhängend beleuchtet werden 86 . Sie ist vorzüglich der Niederschlag der geistigen und politischen Ernüchterung nach der gescheiterten Revolution. Dies heißt aber nicht, daß sie von der formalistischen Staatsanschauung der jüngeren Staatsrechtswissenschaft des Bismarckreiches nicht klar unterschieden werden kann. An der neueren Auffassung des Staates als ,juristische Person" wird der Unterschied der beiden Anschauungen evident. Auch der älteren konstitutionellen Staatsrechtslehre ist diese Leitidee der jüngeren formalistischen Staatsrechtslehre durchaus geläufig, die gewohnte Dogmengeschichte schreibt bekanntlich das Verdienst an ihrer erstmaligen gelungenen Formulierung w.E. Albrecht aufgrund seiner vormärzlichen Rezension der "Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts" von R. Maurenbrecher zu 8? Den Staat wie Albrecht vom Personbegriff her erfassen zu wollen, suchen jedoch die Vertreter der älteren konstitutionellen Staatsrechtslehre eher zu vermeiden, jedenfalls soweit "Person" mit dem Beiwort ,juristisch" versehen wird. Aber nicht weil sie die personhafte Auffassung des Staates überhaupt ablehnen, sondern weil ihnen der Begriff der ,juristischen Person" als spezifisch privatrechtlich gilt, d. h. durch ihn "nur die Fähigkeit, Vermögenssubjekt zu sein", ausgedrückt ist88 , also nur eine einzelne Seite an der staatlichen Gemeinschaft getroffen 86 Sie analysiert eindringlich v. Oertzen, Soziale Funktion, 72-153, wir stützen uns auf v. Oertzens Ausführungen. Die wesentlichen Ergebnisse enthält auch dessen Abhandlung: Die Bedeutung c.F. v. Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung (Festg. Smend), 1962,183 - 208. Im folgenden ziehen wir auch Äußerungen von erst noch im weiteren Verlauf unserer Darstellung zu behandelnden positiven Publizisten heran. 87 In: GöttGelAnz 1837, 1484ff., 1508ff. (1491). Zur Dogmengeschichte des staatlichen Persönlichkeitsbegriffs Häfelin; aus dem älteren Schrifttum an Reichhaltigkeit nach wie vor unübertroffen die Arbeiten O. v. Gierkes: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1880; Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. IV, 1913. 88 In diesem Sinne Stahl, Philosophie des Rechts, 5. Aufl. 1870,11. Bd. 2. Abt., 18.

§ 12. Von der vernunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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wird. Wenn sie daher dennoch vorn Staat als einer "Persönlichkeit" sprechen, dann weil sie ihn als eine solche "in einem viel höheren Sinne" als dem der "juristischen Person" verstehen 89 . Oder mit den Worten Helds: von "Person" in bezug auf den Staat kann "nur im Sinne einer rechtlich subjektivierten sittlichen Idee" gesprochen werden 9o . Auch Albrecht, der allerdings den Staat als ,juristische Person" bezeichnet, gilt der Staat völlig in diesem Sinne als Persönlichkeit, nämlich weil er "ein Gemeinwesen", "eine Anstalt" ist91 . Und nur deshalb kann er Albrecht zufolge der Ursprung von Rechten und Pflichten sein, nicht als ein autonomes Willenssubjekt; vielmehr ist eben diese Auffassung des Staates erst die Position earl Friedrich von Gerbers, des Begründers der jüngeren formalistischen Staatsrechtswissenschaft. Um die Differenz zwischen älterer und jüngerer konstitutioneller Staatsanschauung noch schärfer zu bezeichnen, so ist festzuhalten: Soweit vor Gerber der Staat als "Person" und "Persönlichkeit" angesprochen wird, soll damit nicht seine Herrschaftsgewalt als sein einziges spezifisches Wesensmerkmal betont sein. Denn obzwar es nach H.A. Zachariä ,,keinen Staat ohne Staatsgewalt" geben kann 92 , kommt doch dem Staat die Staatsgewalt nicht wie dem einzelnen die Willensfähigkeit zu. Sondern sie kann, da sie notwendigerweise ein persönliches Subjekt voraussetzt93 und ihrem Begriff nach die vernünftige, vom Recht durchdrungene Gewalt ist, nur "der im Staate herrschende Wille" sein94 . 2. Damit bejaht die ältere konstitutionelle Staatsanschauung Verfassungsstaatlichkeit, Freiheitsrechte und monarchisches Prinzip in einem. Dem Monarchen steht die Staatsgewalt aus eigenem Recht zu, aber keineswegs ungebunden. Und zwar kann "der im Staate herrschende Wille" deshalb gebunden sein, weil er der Wille eines persönlichen Subjekts ist - in der Monarchie eines einzelnen, in der Republik eines Kollektivs, einer ,juristischen Person". Die Gebundenheit der Staatsgewalt ist mithin nicht wie sodann bei Gerber und der von ihm eröffneten formalistischen Staatsrechts wissenschaft durch ihr einzigartiges, auch sich selbst binden könnendes Handlungsvermögen bewirkt, sondern durch die "sittliche" So Stahl ebendort. System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands, I, Würzburg 1856,193. 91 GöttGelAnz 1837, 1491 f. Zur Position Albrechts noch unten § 14 II 2. 92 Deutsches Staats- und Bundesrecht, I, 3. Auf!. 1865, 62f.; H. Schulze, System des deutschen Staatsrechts, I, Leipzig 1865, 170: "Vor der Obrigkeit existiert gar kein Staat." 93 Siehe außer Zachariä (s. Anm. 92) 62 f. auch H. Zöpjl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts I, 5. Auf!. 1863, 101: "Da alle Herrschaft ein willensfahiges Subjekt voraussetzt, so kann die Souveränität nur entweder bei einem Individuum, dem Fürsten, oder bei der Gesamtheit des Volkes sein". Stahl, Philosophie des Rechts, 5. Auf!. 1870, II. Bd. 2 Abt., 188: die Herrschaft des Staates hat "den vollen Charakter persönlicher Herrschaft". 94 Zöpjl, Grundsätze, I (s. Anm. 93), 98: "die Staatsgewalt an sich keine Gewalt des Staates, sondern eine (und zwar die höchste) Gewalt im Staate"; Schulze (s. Anm. 92) 171: "Die Souveränität liegt im Staate." 89

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

("ethische") Natur des Staates, seinen Zweck, seine Aufgaben und den in ihm bestehenden und von ihm gewährleisteten Lebensverhältnissen, letzthin durch die ihn gestaltende "Rechtsüberzeugung" des Volkes 95 . Damit findet die Volksvertretung auch im monarchischen Staat ihren ganz und gar unentbehrlichen Platz, nämlich als die Einrichtung, ohne welche die öffentliche Meinung nicht repräsentiert ist und der Gefahr des Überschreitens der von Staatszweck und Verfassung gezogenen Herrrschaftsschranken nicht vorgebeugt ist. Auch in der Monarchie gibt es mithin durchaus "Volksrechte", d. h. nicht nur persönliche, sondern auch politische Freiheits- und Mitwirkungsrechte, "deren Sicherstellung gegen die fürstliche Willkür eine der vorzüglichsten Aufgaben der Repräsentativ-Verfassung ist,,96. Allerdings gelten offensichtlich jene Rechte nicht als ein Mittel zu demokratischer Partizipation, d. h. zum Abbau von Privilegien, sie sollen aber doch wie in den Staatsrefonnplänen des Freiherm vom Stein die Bildung von Gemeingeist und Bürgersinn ennutigen. Auch wenn für Stahl die königliche Gewalt eine über dem Volke stehende erhabene Autorität ist, versteht er doch ihre Stellung als eine fest begrenzte, wie ebenfalls die Stellung des Volkes und seiner Repräsentanten fest begrenzt ist, weil das Volk eine sittliche Gemeinschaft ist. Der Fürst hat die Souveränität nicht kraft eigenen Willens inne, sondern nur nach seiner verfassungsmäßig bestimmten Stellung, d. h. "kraft Gesetzes· m . Auch wenn die Staatsgewalt nicht ohne ein persönliches Subjekt sein kann, rührt doch im letzten ihre Macht nur daher, daß sie dem allgemeinen Bewußtsein der Volks glieder als legitim gilt. Daß sie "unteilbar" ist, also im monarchischen Staat nicht gemeinschaftlich durch Monarch und Volksvertretung ausgeübt werden kann, besagt mitnichten, daß sie absolut ist. Ja, da der Staat überhaupt nur durch sie als ein "Rechtsverhältnis,,98 besteht, ist sie immer rechtlich gebunden. 3. Nach dieser Anschauung ist der politische Kerngegensatz zwischen Monarchie und Demokratie überbrückbar, er wird nicht durch einen "Trick,,99 wegeskarnotiert. Erst der jüngeren Staatsrechtswissenschaft des Bismarckreiches kann mit vollem Recht diese Art seiner Stillegung vorgeworfen werden, erst sie verdeckt ihn schon vom wissenschaftlichen Ansatz her, indem sie dem Staatsrecht die Vorstellung einer vorverfassungsmäßigen einheitlichen Staatspersönlichkeit unterlegt. 95 Zuständigkeit und Umfang der staatlichen Herrschaftsbefugnisse hängen ab von der in der Gesellschaft herrschenden "Rechtsüberzeugung"; Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, I (s. Anm. 92), 62 f. 96 Zöpjl, Grundsätze, I, 103. Der Umfang der "Volksrechte" wird verschieden bemessen, so wird ihnen z. B. in Übereinstimmung mit der Verfassungslage in den deutschen Staaten die Ministeranklage in der Regel nicht zugezählt. Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 6. Aufl. 1885, 656ff. handelt als "politische Freiheitsrechte" ab: Rechtsgleichheit, Petitions- und Beschwerderecht, Vereinsrecht, Volksversammlungen, Widerstandsrecht; diese Gliederung setzt eine Volksvertretung mit eigenen Rechten voraus. 97 Held, System, I (s. Anm. 90), 240. 98 H.A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, I (s. Anm. 92), 62. 99 Diesen Ausdruck gebraucht Smend 336 zur Kennzeichnung von Labands Lösung der Streitfrage des preußischen Verfassungskonflikts.

§ 12. Von der vemunftrechtlichen zur geschichtlichen Staatslehre

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Damit verhüllt jene jüngere Staatsrechts wissenschaft aus rechtslogischen Konstruktionsgründen das ihrer Arbeit zugrunde liegende Staatsbild. Nach dem im letzten Viertel des 19. Jh. auf den Schild gehobenen Grundsatz der "Methodenreinheit" soll auch nicht mehr die Orientierung an einem Staatsbild die Direktive für die Arbeit am Staatsrecht sein. Dagegen lassen die Werke der älteren konstitutionellen Staatsrechtslehre das vorschwebende Staatsbild in der Regel noch deutlich erkennen. Die von der Zukunft zu erwartende Verschiebung der politischen Gewichte vom monarchischen zum parlamentarischen Verfassungsfaktor dürften die Vertreter des älteren Konstitutionalismus allerdings verkannt, sicher unterschätzt haben. Eher wurde gelegentlich schon im Vormärz diese Verschiebung als das Resultat der für Deutschland erst bevorstehenden industriellen Gesellschaftsentwicklung vorausgesehenl()(). Daß in die Zeit von 1845 bis 1870 Deutschlands industrieller take-off fällt, spiegelt sich in der älteren konstitutionellen Staatsrechtslehre nicht darin wider, daß die Besinnung auf Aufgaben und Probleme des Staatsrechts auch am Bewegungsprozeß der Gesellschaft sich orientieren würde; der im Bismarckreich sich etablierende staatsrechtliche Positivismus lehnt dann schon wissenschaftsprogrammatisch eine solche Betrachtungserweiterung ab 101 . Aber auch wenn das Anschauungssystem des älteren organisch-konstitutionellen Staatsrechtsdenkens mit seiner Betonung der selbständigen Monarchenstellung und der Wechselseitigkeit der Rechte und Pflichten im Staat als vorindustriell und vordemokratisch zu gelten hat, kann es doch nicht als blind gegenüber der sozialen Wirklichkeit bezeichnet werden. Vielmehr hat es im Unterschied zur nachfolgenden positivistischen Staatsrechtslehre noch den wirklichen Lebensprozeß von Gesellschaft und Staat, den Sinn der realen Einheit und Handlungsfähigkeit des Staates, und nicht eine logische Abbreviatur für den Staat zum Orientierungspunkt 102 , es läßt die im Staat sich auswirkenden politisch-sozialen Kräfte nicht hinter der als in sich geschlossen vorgestellten Staatsperson verschwinden, es klammert die letzten ungelösten Verfassungsprobleme des monarchischen Konstitutionalismus nicht aus "methodenreinen" Gründen aus.

100 So wohl von K.S. Zachariä in: Über erbliche Einherrschaft mit einer Volksvertretung, Allg. politische Annalen 9 (1823) 201-248. Zu dieser Abhandlung Boldt, Staatslehre 215 ff. 101 Sie versuchte dagegen Rudolf Gneist (1816-1895) - sein Schlüsselthema im Anschluß an Lorenz von Stein sind die "Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft" -, aber als Verfassungspolitiker und nicht als systematischer Staatsrechtsdogmatiker. Über Gneists Werk noch § 17 IV. Die theoretische Begründung des staatsrechtlichen Positivismus durch Gerber hat allerdings eine scharfe Vergewisserung über die gesellschaftliche Gesamtentwicklung Deutschlands seit der napoleonischen Epoche zum Ausgangspunkt. Dazu noch § 15 III. 102 In diesem Sinne auch v. Oertzen, Die Bedeutung Gerbers (s. Anm. 86) 189.

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§ 13. Die positive Staatsrechtswissenschaft von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes I. Die Rheinbundpublizistik. - 11. Klübers Wiederherstellung einer gemeinen deutschen Staatsrechtswissenschaft, seine Nachfolger. - III. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre nach 1850. - IV. Die Bearbeitung des Bundesrechts. - V. Die Bearbeitung der Einzelstaatsrechte, Robert Moh!. - VI. Monographisches Schrifttum und Zeitschriften.

I. 1. Das Doppelereignis der Gründung des Rheinbundes und Aufhebung des Alten Reiches kam für die deutschen Publizisten einer Katastrophe gleich. Der Gegenstand, dem ihre Wissenschaft das Ansehen verdankte, war untergegangen, die Mehrzahl der positivrechtlichen Fragen, über die sie bisher hatten verhandeln können, hatte von heute auf morgen die praktische Bedeutung verloren. Ein völliges staatsrechtliches Vakuum trat freilich für Deutschland mit dem Untergang des Reiches nicht ein. Für das südliche und westliche Deutschland war der Rheinbund eine neue, auf geographische Ausbreitung angelegte staatsrechtliche Ordnung, die Rheinbunds-Akte stellte für dieses Kemgebiet des Alten Reiches erstmals eine öffentlichrechtliche Gesamtkodifikation dar l . Die mehr völker- als staatsrechtliche Ordnung des Rheinbundes war jedoch nur sehr sparsam in der Rheinbunds-Akte umrissen, er entwickelte sich auch nicht über ein von den Wünschen und Befehlen Napoleons einseitig bestimmtes militärisches Beistandssystem hinaus. Auf das in der Rheinbunds-Akte angekündigte Fundamentalstatut des Rheinbundes hofften die nicht wenigen Rheinbundpatrioten vergebens. So tief die staatsrechtliche Zäsur von 1806 war, so kam doch durch sie die Arbeit der Publizisten auch vorübergehend nicht zum Erliegen, vielmehr löste das Erscheinen des Rheinbundes sogleich eine Welle neuer staatsrechtlicher Veröffentlichungen aus. Die meisten jener Veröffentlichungen lagen bereits in den zwei bis drei ersten Jahren nach dessen Gründung vor, d. h. nur solange wie noch vom Rheinbund nicht unberechtigterweise eine eigene Entwicklung erwartet werden konnte, rief er ein lebhafteres publizistisches Interesse an seinen neuen Fragen hervor. I Analyse der Rheinbunds-Akte bei H. Triepel, Die Hegemonie, Neudr. 1961, 532ff.; Huber I, 79 ff.; H. Quaritsch, Souveränität. Entstehung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Ih. bis 1806, 1986, 108 ff.

§ 13. Von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes

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Auch der personelle Bestand des Faches schrumpfte zur Zeit der napoleonischen Hegemonie noch nicht auffallender, erst in den 1820er Reaktionsjahren war das Fach so gut wie völlig, nämlich im Grunde nur mit der Ausnahme Klübers, von namhaften, ihm aktiv sich widmenden Publizisten entblößt. Allerdings kehrte sogleich nach der Gründung des Rheinbundes der eine und andere Reichspublizist, der sich durch die politischen Ereignisse um die Früchte seiner wissenschaftlichen Arbeit betrogen fühlen konnte, seinem für erledigt geglaubten Fach den Rücken 2 . Und auch daß mancher ältere Publizist noch seine Arbeitskraft den völlig veränderten öffentlichrechtlichen Verhältnissen widmen würde, war wohl nicht zu erwarten. Dafür waren alsbald einzelne andere Reichspublizisten mit neuen Schriften zur Stelle, zudem rief der Umsturz neue Bearbeiter des öffentlichen Rechts auf den Plan. Den Hintergrund der Rheinbundpublizistik bilden zum einen die Rechtsbrüche und überhaupt die Unbeständigkeit der staatlichen Verhältnisse zur napoleonischen Zeit, zum anderen der nun vehemente Durchbruch lange zurückgestauter staatlicher Reformenergien. Allgemein war nun für Deutschland die Stunde staatlicher Neugestaltung gekommen, nämlich nicht nur für die größeren, teils völlig neuen Rheinbundstaaten, sondern auch für das 1806/07 gegen Napoleon unterlegene und von ihm so schwer gedemütigte Preußen. Damit hatten an sich die Publizisten die Ausbildung neuer, Dauer verheißender öffentlichrechtlicher Verhältnisse erst einmal abzuwarten. Daß die Rheinbundpublizistik gegenüber der ausklingenden Reichspublizistik im wissenschaftlichen Niveau abgefallen wäre, kann man nicht behaupten, eine politische Parteipublizistik war sie aufs Ganze gesehen jedenfalls nicht. Allerdings konnte in den noch taufrischen Tagen des Rheinbundes die neue Fürstensouveränität unverblümt mit einer an innerstaatliche Rechtsschranken überhaupt nicht gebundenen Gewalt verwechselt werden 3 , als typisch für das publizistische Schrifttum im Rheinbund-Deutschland kann jedoch dieser Rückfall in alte absolutistische 2 So verhielt sich Gönner, der in den bayerischen Gesetzgebungsarbeiten die neue Aufgabe fand (1811 Berufung in die Kommission zur Beratung des Feuerbachschen Entwurfs eines neuen bayerischen Strafgesetzbuchs). In die Rheinbundzeit fällt allerdings auch noch eine herausragende staatsrechtliche Leistung Gönners: Der Staatsdienst aus dem Gesichtspunkt des Rechts und der Nationalökonomie betrachtet, Landshut 1808, angeregt durch die 1805 erlassene Montgelassche Hauptlandespragmatik, aber kein Kommentar zu ihr. Über Gönners gesamte Entwicklung Landsberg III 2 Text 147-160; Noten 73-78 (auch Lit.), zum legislatorischen Wirken L. Schaffner, Nikolaus Thaddäus von Gönner, sein Leben und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung in Bayern, Diss. iur. Würzburg 1955 (maschr.). Leist zog sich ab 1806 überhaupt von der Wissenschaft zurück und machte als Günstling Jeromes in Westfalen politische Karriere; nach der Wiederherstellung Hannovers zunächst auf eine Amtmanns stelle in der Provinz versetzt, diente er noch Ernst August von Hannover bei der Rechtfertigung seines Verfassungsstaatsstreichs als juristischer Ratgeber. Über ihn Landsberg III 2 Noten 82f.; NDB 14, 161. 3 So bei J. Zintel, Entwurf eines Staatsrechts für den rheinischen Bund, München 1807; das Titelblatt weist den Autor als bayerischen Hofrat aus.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Lehre nicht gelten. Sondern eher suchte man die neuen staatsrechtlichen Probleme ohne beflissene Konzessionen an die Wünsche des neuen landesherrlichen Absolutismus zu diskutieren. Die heikelste Verfassungsfrage, nämlich ob ein Landesherr allein aufgrund seines neuen Souveränitätsrechts Landstände selbständig aufheben kann, ließ man allerdings lieber in der Schwebe4 • 2. Während der napoleonischen Ära ersetzte ein allgemeines Staatsrecht der Rheinbundstaaten ("Staatsrecht des Rheinbundes") das bisherige allgemeine Territorialstaatsrecht. Dasselbe konnte freilich nur ein schmales, eher dubioses Gebilde sein. Die Publizisten, die es zu präsentieren versuchten, nahmen sich unbedenklich das gewohnte Territorialstaatsrecht zum Muster, d. h. es wurde nach dem jüngsten Einteilungsschema des bisherigen deutschen öffentlichen Rechts in Reichs-Staatsrecht und Reichs-Territorialstaatsrecht dem neuen positiven Recht der Rheinbunds-Akte ein Staatsrecht der Rheinbundstaaten als eigenes System hinzugefügt. Als ein Widerspruch zur neuen einzelstaatlichen Souveränität wurde diese Fortsetzung des bisherigen Territorialstaatsrechts offenbar nicht empfunden. Daß nicht auf den staatsrechtlichen Umsturz mit dem Versuch der Entwicklung einer neuen Lehrart reagiert wurde, war begreiflich: es kam zuvörderst darauf an, Inventur zu machen, d. h. zum einen die aus der Rheinbunds-Akte sich ergebenden, aber in ihr nur z.T. normierten Konsequenzen aus dem Souveränitätsprinzip darzulegen, zum anderen aber auch über das von der Rheinbunds-Akte Nichtberührte sich zu vergewissern, und beides wurde schnell und bequem mit der Aufstellung eines nun freilich auf die Rheinbundstaaten sich beschränkenden allgemeinen Territorialstaatsrechts erreicht. a) Immerhin wurde die Behandlung des für das rheinbundliche Deutschland gegebenen öffentlichen Rechts in zwei Teilen, nämlich eben dem Bundesrecht der Rheinbunds-Akte und einem allgemeinen Staatsrecht der Rheinbundstaaten, nicht generell versucht. So suchte der Würzburger Professor Wilhelm Joseph Behr (1775-1881)5 in seiner "Systematischen Darstellung des rheinischen Bundes aus dem Standpunkt des öffentlichen Rechts" (1808) allein das in der RheinbundsAkte enthaltene öffentliche Recht vorzutragen. Den Rheinbund begrüßte Behr mit voller Sympathie als den zeitgemäßen Nachfolger des Alten Reiches 6 , eine Haltung, wie sie zumal für den Untertanen eines neuen mittleren Rheinbundstaates das 1803 an Bayern gelangte Würzburg war von 1806 bis 1814 ein selbständiges 4 Eine klare Ausnahme bilden allerdings die noch zu erwähnenden Abhandlungen G.H. v. Bergs. 5 Über sein Los als politischer Freiheitsmärtyrer nach 1819/20 § 11 Anm. 8. 6 Das Zeugnis seines Rheinbundpatriotismus ist die große Abhandlung: Das teutsche Reich und der rheinische Bund. Eine publizistisch-politische Parallele, in: (Winkopps) Rheinischer Bund 6 (1808) 418-448; 7 (1808) 99-138; 7 (1808) 361-408; 8 (1808) 3-62. Zur verfassungspolitischen Haltung der Rheinbundpublizistik und zur Analyse der sogleich im folgenden erwähnten Schriften G. Schuck, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizisten, 1994.

§ 13. Von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes

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Großherzogturn - nahelag. Als eine allein das positive öffentliche Recht des Rheinbundes beinhaltende Darstellung kann man sein öffentlichrechtliches Rheinbundsystem jedoch nicht bezeichnen. So reichert es Behr ausgiebig mit politischen und staatstheoretischen Betrachtungen an, so daß es bei aller sorgfaltigen Erörterung einzelner Rechtsfragen mehr dem allgemeinen als dem positiven Staatsrecht zugerechnet werden kann. Immerhin ist jenes Rheinbundsystem Behrs beachtlichste, an den Zeitumständen und der Dürftigkeit des Stoffes zu messende Leistung auf dem Gebiet des positiven öffentlichen Rechts 7 , d. h. auf einem Gebiet, dem er sich weniger ausgiebig als Staatslehre und Staatswissenschaft gewidmet hats . b) Für die Hinzunahme eines allgemeinen Rheinbundstaatsrechts zum rheinischen Bundesrecht entschieden sich Karl Salomo Zachariä (1769-1843) und Johann Ludwig Klüber (1762-1837). Des ersteren Jus publicum civitatum quaefoederi Rhenano adscriptae sunt (1807) ist allerdings nur ein schnell hingeworfener kleiner Vorlesungsleitfaden, der bloß Umrisse eines allgemeinen Rheinbundstaatsrechts mitenthäl~, so daß ihm bestimmt keine Schmälerung der neuen staatlichen Selbständigkeit vorgeworfen werden kann; Zachariä gilt auch positivistisch ein allgemeines Staatsrecht der Rheinbundstaaten nur so weit noch als ein gemeines Staatsrecht für die Rheinbundstaaten, wie dessen Sätze mit den Anordnungen der Rheinbunds-Akte und des von ihr verhießenen Fundamentalstatuts des Rheinbundes übereinstimmen. Klübers "Staatsrecht des Rheinbundes" (1808) war ehrgeiziger. So ist es nicht nur ein schmaler Grundriß, obwohl vom Untertitel nur ein ,,Lehrbegriff' angekündigt ist. Vom bisherigen Territorialstaatsrecht sucht Klüber einen ganz erheblichen Teil in sein allgemeines Rheinbundstaatsrecht herüberzuretten, nämlich alles, was nicht zweifelsfrei aufgrund des staatsrechtlichen Umsturzes als erledigt angesehen werden muß. Mit diesem Bestreben war es wohl nicht vereinbar, daß sich Klüber bestimmter über den rechtlichen Charakter der Sätze seines Rheinbundstaatsrechts aüßerte. Als das Zeugnis einer verdeckten Opposition gegen die napoleonische Neuordnung kann sein Rheinbundstaatsrecht wegen der ausgiebigen Einarbeitung des bisherigen Territorialverfassungsrechts gewiß nicht gelten. Sondern Klüber sucht eben nur alles gewissenhaft zusammenzutragen, was auch nach dem Zusammenbruch des Verfassungssystems des Alten Reiches als noch anwendbares Recht oder doch als wissenswert für die Rechtsanwendung zu veranschlagen ist. Die verbreitete Ansicht zu den Tagen des Rheinbundes, nämlich daß die Rheinbundstaaten überhaupt in ihrer Gesamtheit neue Staaten seien, war damit allerdings abgelehnt. Von einem anderen Autor wurde eine so ausführliche Darstellung des öffentlichen Rechts des rheinbundlichen Deutschlands nicht geliefert.

7 Vor 1806 liegen publizistische Arbeiten Behrs im engeren Sinne noch nicht vor. Zu seiner Abhandlung über die Interventionsbefugnis des Deutschen Bundes (1819) noch kurz unten IV 2. 8 Vgl. § 12 Anm. 58.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Auf Klüber und seinen Lebensgang kommen wir anschließend zurück. Dagegen ist an diesem Platz eine biographische Bemerkung zu dem uns schon mehrfach begegneten Karl Salomo Zachariä angezeigt. 1802 ordentlicher Professor der Rechte in Wittenberg, wurde Zachariä zu Ostern 1807 nach Heidelberg berufen, wo fortan der emsige, um neue Ideen nicht verlegene Gelehrte blieb. Der Wechsel nach Heidelberg regte sogleich zum erfolgreichsten wissenschaftlichen Wurf an: dem erstmals 1808 erschienenen, wiederholt aufgelegten und stark ausgebauten "Handbuch des französischen Zivilrechts", seit der französischen Übersetzung und Bearbeitung durch die Straßburger Professoren Aubry und Rau (erstmals 1838) das "große klassische Werk" (A.E. Schwarz) der französischen Zivilrechtsdogmatik sowie das maßgebliche zivilrechtliehe Lehrbuch für einen wesentlichen Bereich Deutschlands bis zum Inkrafttreten des BGB 9 . Zachariäs "Vierzig Bücher vom Staate", dem Hauptwerk, hatte bei der Betrachtung der älteren konstitutionellen Staatslehre schon eine Bemerkung gegolten; andere historische und staatswissenschaftliehe Werke des produktiven Gelehrten aus der späteren Lebensphase können wir übergehen, wie auch auf die frühen Wittenberger Arbeiten nicht eingegangen zu werden braucht. Literarisch widmete sich Zachariä nach 1815 dem positiven öffentlichen Recht nur noch als begehrter Gutachter. 1820 war er Mitglied der Ersten, 18251829 der Zweiten badischen Kammer, kurz vor dem Tode wurde er mit dem Namenszusatz "von Lingenthal" geadelt.

3. Dichter als die systematischen Arbeiten Behrs, Zachariäs und Klübers führen an die neuen öffentlichrechtlichen Fragen zwei eine Erläuterung der RheinbundsAkte bezweckende Schriften heran, sie gehen vom Charakter der Rheinbunds-Akte als einer Kodifikation und als der einzigen Quelle für das mit dem Rheinbund gegebene öffentliche Recht aus. Da schon die Verfassungsgesetze des Alten Reiches häufig kommentiert worden sind, können sie freilich nicht erst als der Auftakt einer verfassungsgesetzlichen Kommentarliteratur gelten. Unvollendet sind die "Abhandlungen zur Erläuterung der rheinischen Bundesakte" (1808; nur 1. Teil) von Günther Heinrich von Berg (1765-1843)10, des Autors eines monumentalen "Handbuchs des Teutschen Policeyrechts" (7 Bde. 1799-1809), das man mit Recht an den Anfang einer deutschen Verwaltungsrechtslehre zu stellen pflegt 11. Der über die napoleonische Ära hinaus gültige dogmatische Ertrag dieser scharfsinnigen Abhandlungen liegt darin, daß Berg die vom Souveränitätsbegriff gemeinte Unabhängigkeit der Staatsgewalt von einer übergeordneten Gewalt strikt auf ihr Verhältnis zu einer anderen Staatsgewalt beschränkt, so daß innerstaatlich der Souveränitätsinhaber durchaus Herrschaftsbeschränkungen unterliegen kann, ohne dadurch in der Souveränstellung geschmälert zu werden 12. Damit war die Ansicht, 9 Die Systematik beruht schon auf Anfangsgründe des philosophischen Privatrechts nebst einer Einleitung in die philosophische Rechtswissenschaft überhaupt, Leipzig 1804. Übersicht über die einzelnen Ausgaben einschließlich der Übersetzungen bei Landsberg III 2 Noten 55. Über die lange Wirkung der Bearbeitung des französischen Zivilrechts W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jh., 1977, 64f. 10 Von 1794 bis 1800 Professor in Göttingen, danach in Regierungsämtern, Mitunterzeichner der Deutschen Bundesakte, 1830 Staats- und Kabinettsminister in Oldenburg; ADB 2, 363. 11 Über diese wissenschaftliche Hauptleistung Dennewitz 27 ff.; H. Maier 207 ff.; Preu 258 ff.

§ 13. Von der Grundung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes

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daß ein Landesherr allein aufgrund seiner neuen Souveränstellung zur einseitigen Aufhebung oder Änderung der Landesverfassung befugt ist, bestimmter als von einem anderen Publizisten im napoleonischen Deutschland verneint 13 ; dabei zieht der bisherige Göttinger Rechtslehrer natürlich England als das schlagende Beispiel für die innerstaatliche Beschränkung monarchischer Ungebundenheit heran. Die "Beyträge zu einem allgemeinen Staatsrecht der rheinischen Bundesstaaten" (1807) des badischen Staatsrats Johann Nikolaus Friedrich Brauer (1754-1813), des Schöpfers des an den Code civil sich anlehnenden badischen Landrechts 14, suchen die Rheinbunds-Akte unkonventionell zu erläutern. So gehen sie von streitigen Rechtsfällen aus, und zwar tatsächlichen wie angenommenen, gelangen aber auf diesem Wege durchaus zu einem Gresamtüberblick über die Rheinbunds-Akte. "Staatsrecht der rheinischen Bundesstaaten und das rheinische Bundesrecht" (1810) von Zachariä enthält kleinere Abhandlungen zu diversen staatsrechtlichen Themen, daselbst sind diffizile Sonderfragen der neuen rheinbundlichen Ordnung wie die Stellung der napoleonischen Majorate in einzelnen Rheinbundstaaten am ehesten näher erörtert. Auch die Darstellung des Staatsrechts eines einzelnen Rheinbundstaates, nämlich Westfalens, von dem Göttinger Historiker-Philosophen Jakob Christoph Friedrich Saalfeld (1785 -1834) kann erwähnt werden, sie ist erst 1812 erschienen. Während der gesamten Zeit seines Bestehens begleitete den Rheinbund eine publizistisch gefärbte neue Zeitschrift: der von dem aus kurmainzischem Dienst gekommenen Reichspatrioten und Rheinbundenthusiasten Peter A. Winkopp (1759-1813) herausgegebene "Rheinische Bund" (insges. 23 Bde.)15. Jenes Organ reiht sich allerdings noch eher nahtlos an die bisherigen Staatsarchive an, ist also hauptsächlich Sammlung von Vertrags- und Gesetzestex12 Vgl. Abhandlungen 286: "In der Freiheit von höherer Gewalt und äußerem Zwang besteht das Eigentümliche der Souveränität, und wo diese gefunden wird, ist der Fürst, er sei auch durch die Verfassung noch so sehr eingeschränkt, wahrer Souverän." 13 Auch Behr betont, daß die Rheinbunds-Akte aufgrund ihres völkerrechtlichen Charakters mit der Anerkennung der Souveränität der Rheinbundfürsten jene nicht zur selbständigen Aufhebung von Landständen autorisiert, sie hätte einen solchen Eingriff in die internen Staatsangelegenheiten selbst anordnen müssen. Vgl. Systematische Darstellung des rheinischen Bundes aus dem Standpunkte des öffentlichen Rechts, Frankfurt 1808, 204 ff., 220 ff.; hierzu auch Quaritsch (s. Anm. I) 114 f. Weitere Schriften zu dem seit den Länderubertragungen des Reichsdeputationshauptschlusses auf der politischen Tagesordnung stehenden "Staatsproblem", ob "mit dem Begriff der Souveränität der Begriff der Landstände vereinbar" sei, bei Quaritsch (s. Anm. 1) 114 Anm. 455; nachzutragen ist noch die Schrift eines namhaften Zivilisten: I.F. Runde, Über die Erhaltung der öffentlichen Verfassung in den Entschädigungsländern, Göttingen 1806. 14 Über ihn W Andreas, Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in den Jahren 1802-1818, 1,1913,38-80; neuerdings W Schubert (s. Anm. 9) 323ff., 193 ff. (zur gesetzgeberischen Leistung); speziell zu den Beyträgen zu einem allgemeinen Staatsrecht der rheinischen Bundesstaaten G. Schuck (s. Anm. 6) 94ff.; ADB 3, 262; NDB 2, 542. 15 Über dieses Organ und seinen Herausgeber E. Ziehen, Winkopps "Rheinischer Bund" (1806-13) und der Reichsgedanke, in: Archiv f. hess. Gesch. u. Altertumskunde 18 (1934) 292-326; Schuck (s. Anm. 6) 117-213.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

ten, "Einweisungen" der neuen Landesherren und statistischem Material; immerhin enthalten die anfanglichen Bände auch einzelne staatsrechtliche Abhandlungen 16 und Besprechungen staatsrechtlicher Neuerscheinungen. Noch andere kurzlebige öffentlichrechtlich gefärbte Periodika sind in der Rheinbundzeit neu erschienen l7 .

11. 1. Die Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongreß, bei der er sozusagen als der publizistische Taufzeuge zugegen war 18 , galt Klüber als der Auftakt zur Wiederherstellung einer Wissenschaft des deutschen öffentlichen Rechts, an deren Wiederherstellung ging er sogleich mit der ihm eigenen Beharrlichkeit heran. Die momentane nationale Emeuerungsstimmung aufgrund des Sieges über Napoleon mußte ihn dabei wohl beflügeln. In den frühen Jahren nach 1815 nahm Klüber die unbestrittene Stellung des führenden Publizisten Deutschlands ein 19 . Schon 1817, also ein Jahr nach dem Zusammentritt der Bundesversammlung, lag erstmals sein für wenigstens zwei Jahrzehnte die neue öffentlichrechtliche Literatur Deutschlands anführendes "Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten" vor (letzte 4. Aufl. von K.E. MorstadrO 1840).

Sowohl seine stupende, nach 1815 wohl von keinem anderen lebenden Publizisten noch übertroffene Kenntnis der reichen älteren publizistischen Literatur wie noch mehr seine schlechterdings einzigartige intime Kenntnis der gesamten Wiener Kongreßverhandlungen hat Klüber zu dieser prompten stoftbemächtigenden Leistung instandgesetzt. Die letztere Kenntnis hatte er sich erwerben können, da er ständig als Beobachter bei den Verhandlungen des Kongresses zugegen war seine badische Regierung hatte ihm für die Dauer des Kongresses Sonderurlaub 16 So schon im 1. Bd. (1806, 1 ff.) anonym: Lösung des Staatsproblems: Ist mit dem Begriff der Souveränität der Begriff der Landstände vereinbar? und in der Folge die große Abhandlung Behrs: Das teutsche Reich und der Rheinische Bund (s. Anm. 6). 17 So von P. Oesterreicher ein anfangs hauptsächlich die "Einweisungen" der neuen Landesherren enthaltendes Archiv des Rheinischen Bundes (1806-1808) sowie von A.F.W Crome (1753 -1833) und K.H. Jaup (1781-1860) eine Zeitschrift für Staats-Recht, Politik und Statistik von Deutschland mit dem Titel "Germanien" (4 Bde. 1808-1811; Fortsetzung unter dem Titel: Europa und Germanien 1812). 18 Darüber sogleich im Text. 19 Über Klüber aus dem älteren Schrifttum der für die Beurteilung durch den vormärzlichen Liberalismus bezeichnende, hochanerkennende Artikel von K. Buchner im Staats-Lexikon, 2. Aufl. VIII, 264-271; ferner Mohl, Gesch. u. Lit. 11, 473 ff.; Landsberg III 2 Text 165 ff. Aus dem neueren Schrifttum speziell zu den staatsrechtlichen Anschauungen Böckenförde, Gesetz 84ff.; Pauly 56ff.; Stolleis, Gesch. 11, 83ff.; ergänzend zum Text über Klüber sowie zu seinen Nachfolgern M. Friedrich, Die Erarbeitung eines allgemeinen deutschen Staatsrechts seit der Mitte des 18. Jh., JöR N.F. 34 (1985) 1 ff., 15ff. (zu Klüber); ADB 16, 235; NDB 12, 133. 20 Über diesen noch Anm. 33.

§ 13. Von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes

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zum Aufenthalt in Wien bewilligt - und er sich dabei von den auf dem Kongreß angefallenen Urkunden und Schriftstücken genaue vollständige Abschriften anfertigen konnte, die er auch bei sich behalten durfte. Diese beispiellose immense Materialsammlung, nur übertroffen von der Sammlung der Wiener Hofkanzlei, wertete er nicht nur bei der Abfassung seines so schnell erschienenen Handbuchs ausgiebig aus, sondern machte sie auch durch zwei große Akteneditionen unverzüglich allgemein zugänglich: "Akten des Wiener Kongresses, in den Jahren 1814 und 1815" (8 Bde. 1815; ein Nachtragsband 1835) und "Übersicht der diplomatischen Verhandlungen des Wiener Kongresses überhaupt und insonderheit über wichtige Angelegenheiten des Teutschen Bundes" (3 Bde. 1816); außerdem legte er 1815 eine "Quellen-Sammlung zu dem Öffentlichen Recht des Teutschen Bundes" (31830) vor. Seinem Handbuch des deutschen öffentlichen Rechts ließ er 1819 ein im Stil völlig gleichgeartetes zweibändiges Droit des gens modeme de !'Europe folgen 21 . Klübers Lebensgang hat Landsberg22 mit Recht den "Schlüssel zum Verständnis seiner wissenschaftlichen Leistungen" nennen können. Mit den verstaubtesten Urkunden des deutschen Reichsrechts kam Klüber schon als Knabe - der Vater war Archivar des Ritterkantons Rhön-Werra des fränkischen Kreises - in Berührung. 1787 Professor der Rechte in Erlangen und in dieser Position vom Leiter der Regierung der beiden zum Übergang an Preußen bestimmten fränkischen Markgrafschaften und späteren preußischen Staatskanzler Hardenberg zur Besorgung von Staatsgeschäften herangezogen; 1804 Berufung als Kabinetts- und Staatsrat in den badischen Dienst; 1807 Übernahme einer Professur an der Heidelberger Universität. Der beim Aufenthalt in Wien wiederaufgenommene Kontakt mit Hardenberg hatte zur Folge, daß Klüber 1817 in den preußischen Dienst übertrat; er übernahm mit dem Titel eines Geheimen Legationsrats einen Posten im Ministerium des Auswärtigen, war jedoch auch dem Departement des Staatskanzlers zugeordnet. Sein Wirken in preußischem Dienst, bestehend in der Erledigung auswärtiger Angelegenheiten und Missionen, endete jedoch schnell und abrupt. Alsbald nach dem Tode Hardenbergs wurde gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet, und zwar ausschließlich wegen der 1822 erneut erfolgten Veröffentlichung seines anerkannten Handbuchs über das Bundesrecht und Staatsrecht der Bundesstaaten und der daselbst zum Ausdruck gebrachten, nun von den preußischen Regierungsautoritäten scharf mißbilligten Sympathie für "gemischte" Verfassungen; dem Ausgang des Verfahrens kam Klüber durch die erbetene, 1824 bewilligte Entlassung aus dem preußischen Dienst zuvor. Fortan lebte Klüber als Privatmann in Frankfurt a.M., dem Sitz der Bundesversammlung, noch mit mancherlei wissenschaftlichen Ehrungen bedacht und im allgemeinen öffentlichen Ansehen dadurch gestiegen, daß er um seiner wissenschaftlichen Überzeugung willen auf seine hohe Stellung im preußischem Dienst unter Zurücklassung von Gehalt, Titel und Pension verzichtet hatte.

b) Wie Klübers kleineres Staatsrecht des Rheinbundes ist auch sein an Noten überquellendes Handbuch des öffentlichen Rechts Deutschlands kein wissenschaft21 Von Klüber besorgte deutsche Bearbeitung 1821. Abhandlungen und Beobachtungen für Geschichtskunde, Staats- und Rechtswissenschaft, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1830/34, sind weitgehend antiquarischen Inhalts. 22 III 2 Text, 169.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

lich neues Werk. Schon bei dessen frühen Erscheinen, als die neuen staatlichen Entwicklungen erst in Aussicht standen, war dies auch nicht zu erwarten, aber auch nicht bei der Theorieabneigung Klübers. Wiederum ist der Stoff in Bundesrecht und allgemeines Landesstaatsrecht eingeteilt, das Bundesrecht steht voran. Klüber äußert sich nicht dazu, ob das Bundesrecht als ein Vertragsrecht souveräner Staaten noch nach dem Muster des vormaligen Reichsstaatsrechts die Stellung an der Spitze der Darstellung verdient; mehr Raum als das Bundesrecht nimmt allerdings, und zwar schon von der ersten Auflage an, das allgemeine Staatsrecht der Bundesstaaten ein. Mit der Zusammenbehandlung von Bundesrecht und Staatsrecht der Bundesstaaten machte Klübers Handbuch Schule. Anders als ein Teil der Nachfolgewerke enthält Klübers Handbuch keine Grundzüge des allgemeinen ("philosophischen") Staatsrechts. Und zwar nicht nur weil Klüber nur positives Recht vortragen will, sondern es kam ein Einbau des allgemeinen Staatsrechts als eigene Abteilung wohl auch deshalb nicht in Betracht, weil er die modemen Staatsrechtsgrundsätze unmittelbar am positiven Rechtsstoff zu erläutern wünscht. Da auch noch 1822, als die zweite Auflage von Klübers Handbuch erschien, das neue repräsentative Verfassungsrecht hauptsächlich erst in den süddeutschen Staaten schon eingeführt war, ließ sich die Darstellung des allgemeinen Landesstaatsrechts wohl auch kaum anders als mit tüchtigen Anleihen beim allgemein-constitutionellen Staatsrecht bestreiten. Klübers Handbuch setzt mithin nicht nur wie gewohnt das allgemeine Staatsrecht stillschweigend als die theoretische Propädeutik des positiven Staatsrechts voraus, er amalgamiert es auch in seiner neuen konstitutionellen Gestalt mit dem positiven öffentlichen Recht. Konsequenterweise ist das allgemeine Staatsrecht durchaus noch als eine subsidiäre Quelle im deutschen öffentlichen Recht anerkannt23 , nicht ohne daß allerdings Klüber wie 1803 in der "Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des teutschen Staatsrechts" vor dessen "Mißbrauch" wame4 • Klübers Argumentationsstil ist noch typisch vernunftrechtlich 25 . Gern beginnt er ein Kapitel bzw. einen Paragraphen mit einem lapidaren Obersatz, der nur kurz, typischerweise aphorismenhaft, erläutert ist, aus dem aber sehr konkrete positivrechtliche Folgerungen gezogen sein können. Die praktische Bedeutung der Positionen des neuen repräsentativen Verfassungsrechts war damit anschaulich vor Augen geführt. Daß jedoch Klüber von diesen Positionen aus in die Richtung auf ein neues Staatsrechtssystem gehen würde, kann man nicht entfernt sagen. Vielmehr bilden die überkommenen, am Verfassungssystem des Alten Reiches entwickelten publizistischen Begriffe und Lehren völlig das tragende Gerüst seiner großen Kompilation. So bezeichnet er zwar modem den Staat als eine "moralische Person ... mit eigenen Rechten und Pflichten" und die Staatsgewalt als das ,,Recht, die 23

Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., Frankfurt

a.M. 1840, 14,79. 24

25

Ebd., S. 18. Zu Klübers Verwurzelung im Vemunftrecht Böckenförde, Gesetz 84 ff.

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Mittel zu dem Zweck des Staates zu wählen,,26, was ihn aber nicht davon abhält, sein Staatsrecht der Bundesstaaten nach dem gewohnten, auf die vormalige Landeshoheit zugeschnittenen Schema sektoraler Aufgliederung der Hoheitsrechte aufzubauen 27 . Wegen der damit in Kauf genommenen Verwischung der Unterschiede der verfassungs geschichtlichen Entwicklungsstufen wurde er schon im Vormärz kritisiert28 . c) Klübers Handbuch kann keine nebensächliche Bedeutung für die Politisierung der deutschen Vormärzgesellschaft bescheinigt werden. Mit unverhohlener Sympathie tritt Klüber für die neuen konstitutionellen Staatsgrundsätze ein. Auf deren Wirksamkeit schon in der älteren deutschen Verfassungsgeschichte weist er gern nachdrücklich hin, er glaubt sie damit wirkungsvoller für das heutige Deutschland zu legitimieren. So kommentiert er seine Definition der Landstände als "Volksvertretung (NationaIStellvertretung),,29 mit der apodiktischen Bemerkung, daß man die landständische Verfassung "fest begründet schon in dem Geist der alten teutschen Staatsverfassung nicht weniger als in der teutschen TerritorialVerfassung des Mittelalters findet,,3o. Die Auffassung der Landstände als des verfassungsmäßigen Organs des Volkes "bei der Staatsregierung" bringt klassisch das Verfassungsverständnis des deutschen Frühliberalismus zum Ausdruck, "das Maß der landständischen Wirksamkeit" gilt als der "Grad der politischen Freiheit eines Volkes,,31; Landständen kommt jedoch nicht die Stellung eines mitherrschaftlichen Staatsorgans zu. Die Substanz des monarchischen Prinzips war damit gewiß nicht angetastet. Es war damit aber auch mit Bestimmtheit ein Denken in Verfassungsgegensätzen abgelehnt, wie es die Wiener Schlußakte zum Maßstab des geltenden Verfassungsrechts für Deutschland zu machen suchte, die modeme Repräsentativ-Verfassung war mit der Betonung ihrer eben gerade auch deutschen Wurzeln vor ihrer bald grassierenden Denunziation als "undeutsch" in Schutz genommen. Die Wirkung von Klübers Handbuch im Vormärz kann daher mit seiner geläufigen Apostrophierung als dem unentbehrlichen Arbeitswerkzeug für Staatsmänner, Diplomaten und Regierungsbeamte nicht schon als umrissen gelten. Als eine stoffhaltige "Staatsrechtskunde" (E.-W Böckenförde), in welcher der "politische Gesichtspunkt" noch gern und prägnant der juristischen Erörterung vorangestellt ist, war es bei aller trockenen Gelehrsamkeit durchaus auch eine Anleitung zur politischen Bildung, zumal da Klüber die Kritik an einer unzeitgemäßen Regierungsmaxime oder Verfassungspraxis nicht entfernt scheut. Das modeme repräsentative Verfassungsrecht führte Klüber für Deutschland in der moderaten Umformung zu einem Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., 5. Kritisch zu seinem System der Hoheitsrechte Böcken!örde, Gesetz 85. 28 Von w'E. Albrecht in seiner Rezension (1837) von Maurenbrechers Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts; zu dieser Rezension noch § 14 H. 29 Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., 392 ff. 30 Ebd., S. 400. 31 Ebd., S. 392. 26

2?

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

gemeinen deutschen Staatsrecht ein, diese Umfonnung hat zweifellos seine Einbürgerung bei uns eher befördert als der doktrinäre Vortrag seiner Grundsätze durch die Wortführer des programmatischen Liberalismus. Bei Welckers Entwicklung vom Vernunftrechtstheoretiker zum nationaldeutschen Rechts- und Verfassungsdenker war Klüber wegen seiner Betonung des Zusammenhanges zwischen verfassungsgeschichtlicher Tradition und konstitutioneller Erneuerung ein Pate; Welcker war es im übrigen, der aus Klübers hinterlassenen Papieren die von Friedrich Gentz für die Karlsbader Konferenzen angefertigte Denkschrift "Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen" veröffentlicht hat 32 .

2. a) Klüber hatte nicht Schüler33 , aber Nachfolger. In den beiden ersten Jahrzehnten nach 1817 war sein Handbuch noch ohne eine ernsthafte Konkurrenz. Ein "Expose du droit public de I' Allernagne" (Genf/Paris 1821) von E.H. von SchwarzkopJ war wohl nur ein Extrakt aus K.F. Eichhorns Göttinger staatsrechtlichen Vorlesungen, und zwar ein unautorisierter 34 . "Öffentliches Recht des deutschen Bundes und der deutschen Bundesstaaten" (1820) von Leonhard von Dresch (1786-1836)35 gelangte über die Darstellung des Bundesrechts nicht hinaus. Auch das "Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts" (1831) von Sylvester Jordan 36 enthält vom deutschen öffentlichen Recht nur das Bundesrecht37 , das ebenfalls unvollendete ,,Lehrbuch des gemeinen deutschen Staatsrechts" (1821) von Karl Ernst Schmid38 nur die staatsrechtlichen Grundbegriffe und einen allerdings gediegenen verfassungsgeschichtlichen Teil. Abgesehen von dem völlig auf 32 In: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation mit eigenhändigen Anmerkungen von Johann Ludwig Klüber ... , Mannheim 1844, 220ff. 33 Als Schüler hat sich selbst bezeichnet sein Heidelberger Hörer Karl Eduard Morstadt (1792-1850), der Herausgeber der letzten Ausgabe (1840) von Klübers Handbuch, der ihn in Heidelberg auch als Dozent zu ersetzen suchte. Über diesen streitlustigen, aber wissenschaftlich eher unbedeutenden Gelehrten, dessen Schriften für uns ohne Interesse sind, G. Jellinek, Die Staatsrechtslehre und ihre Vertreter, in: Heidelberger Professoren aus dem 19. Ih. Festschr. d. Universität z. Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, 1. Bd., 1903, 267 f. (auch separat); Landsberg III 2 Noten, 197; ADB 22, 392. 34 Zur Beurteilung dieser Schrift und über die Person ihres Autors neuerdings R. Conradi, Karl Friedrich Eichhorn als Staatsrechtslehrer, 1987, 30ff., 35: "eine nicht ungeschickt bearbeitete Zusammenstellung von Material, das überwiegend aus K.F. Eichhorns staatsrechtlichen Vorlesungen herstammt"; Conradi bestätigt damit das Urteil schon bei Mohl, Gesch. u. Lit. 11, 264: ein "etwas verarbeitetes Eichhornsches Collegienheft". Im Anhang zu Conradis Arbeit ist die eine der beiden existierenden Kollegmitschriften von Eichhorns in Göttingen zwischen Ostern 1817 und Ostern 1829 regelmäßig vorgetragenen Vorlesung über "Staatsrecht der deutschen Bundesstaaten" abgedruckt. 35 Seit 1810 Professor in Tübingen, 1822 in Landshut, nach Verlegung der Universität in München. Über ihn Landsberg III 2 Noten, 186f.; ADB 5, 395. 36 Über sein Los als politischer Freiheitsmärtyrer und zum Schrifttum über ihn schon § 11 Anm.8. 37 Zu anderen frühen Bearbeitungen des Bundesrechts unter Ausschluß des Staatsrechts der Bundesstaaten noch unten im Text (IV). 38 Über ihn § 12 Anm. 56.

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Klübers Handbuch fußenden, durch keine Originalität sich auszeichnenden "Staatsrecht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten" (1824) von August Brunquell (1781-1827)39, gab es bis zur Mitte der 30er Jahre nur eine einzige abgeschlossene, jedoch wissenschaftlich kaum verdienstliche Darstellung des Gegenstandes von Klübers Handbuch: das kleinere Handbuch "Das teutsche StaatsRecht" (1825) von Theodor Schmalz40 • Es folgt im Aufbau Klübers Arbeit, übergeht aber im Staatsrecht der Bundesstaaten - dasselbe heißt noch wie in anderen vormärzlichen Arbeiten "allgemeines Territorialstaatsrecht" - alle neueren konstitutionellen Ansätze. Schon bei der demonstrativen Ignorierung der letzteren, die in der vormärzlichen Publizistik beispiellos ist, konnte dieses Handbuch, das offenbar nach dem Wunsch seines Autors Klübers neuerdings für Preußen als Vorlesungsgrundlage geächtetes Handbuch ersetzen sollte, kaum mit Anerkennung rechnen, zumal auch da es völlig mit Schrifttumsnachweisen geizt. b) Eine gelungene, wissenschaftlich auch unbedingt modernere Arbeit als die Klübers waren erst die 1837 erschienenen, allerdings weit kleineren "Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts" von Romeo Maurenbrecher (1801-1841)41. Derselbe stand der historischen Rechtsschule nahe und hatte sich als partikularer Rechtsquellenforscher zuerst einen wissenschaftlichen Namen gemacht42 , seine ihn auf staatsrechtlichem Gebiet nicht auf die leichte Achsel nehmenden prominenten Kritiker sind w.E. Albrecht43 und Stahf4. Daß Maurenbrecher mit seinem ausgiebig rezensierten Kompendium eine neue Grundlegung des deutschen Staatsrechts gelungen wäre, wie offensichtlich von ihm beansprucht45 , kann ihm aller39

89f.

Zur Beurteilung dieses Kompendiums Mohl, Gesch. u. Lit. H, 265; Stolleis, Gesch. H,

40 Er hatte schon 1805 ein Lehrbuch des deutschen Staatsrechts veröffentlicht. Über ihn § 9 Anm. 103. 41 Nach Habilitation 1828 in München wirkte Maurenbrecher als Dozent und schließlich auch Ordinarius in Bonn. Die beiden Neuauflagen seiner Grundsätze von 1842 und 1847 sind nur Nachdrucke. Über ihn B. Urbaschek, Empirische Rechtswissenschaft und Naturrecht. Der Beitrag R. Maurenbrechers zur Rechtslehre des 19. und 20. Jh., 1966; Landsberg III 2 Text 398 ff.; Pauly 74 ff. (im Zusammenhang mit W.E. Albrechts Gegenposition); Stolleis, Gesch. H, 90f.; ADB 20, 695; NDB 16,433. 42 Mit einer zweibändigen Quellenbearbeitung der rheinpreußischen Landrechte, Bonn 1830/31; darauf folgte ein Lehrbuch des gesammten heutigen gemeinen deutschen Privatrechts, 2 Bde. Bonn 1832/1834,2. Aufl. 1840/1855. 43 Zu seiner "berühmten", als "der Einbruch der Persönlichkeitslehre in das deutsche Staatsrecht" (H. Quaritsch) geltenden Rezension des Lehrbuchs Maurenbrechers (1837) noch § 14 H. 44 Er setzt sich in einer ausführlichen, auch die eigene Anschauung entwickelnden Besprechung mit Maurenbrechers zweiter staatsrechtlicher Schrift über die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität (1839) auseinander: Krit. Jahrbücher f. deutsche Rechtswiss., 1841 Bd. 1,97 ff. 45 Dies geht außer aus der Vorrede aus einer wegen des Themas bemerkenswerten Abhandlung hervor: Über den gegenwärtigen Stand des staatsrechtlichen Studiums in Teutschland, in: Jahrbücher für Geschichte und Politik, 1837 Teilbd. H, I ff.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechts lehre

dings nicht bescheinigt werden. In dem handlichen, für den Unterricht nicht zuletzt wegen des brauchbaren Quellenanhangs geeigneten Werk handelt von dessen fünf Büchern das erste Buch über "Allgemeine Lehren des Staatsrechts", das zweite vom vormaligen Reichsstaatsrecht, das dritte vom Rheinbundrecht; die verhältnismäßig ausführliche Behandlung der beiden letzteren Stoffkreise innerhalb eines kleineren Kompendiums ließ sich zwar mit dem Informationszweck eines vorlesungsbegleitenden Grundrisses rechtfertigen, entsprach aber wohl nicht dem stoffeinheitlichen Wissenschaftsprogramm der neuen historischen Schule, der sich an sich Maurenbrecher aufgrund seiner Leistungen als Quellenforscher zurechnen durfte. Wissenschaftlich neu an seinem Grundriß ist, daß das allgemeine Territorialstaatsrecht wegen der ihm abgehenden imperativen Geltung ("Analogie sämmtlicher Staatsrechte der einzelnen deutschen Staaten") "bloß als Wissenschaft" eingestuft ist46 und dem allgemeinen Staatsrecht, da es "nur zur Prüfung gebraucht werden kann, was nach der Idee des Staates Rechtens hätte sein können oder sollen", eine andere Verbindlichkeit als im theoretischen Sinne abgesprochen ist, es dient der Gesetzgebung und wissenschaftlichen Ansichtenbildung 47. Methodische Konsequenzen aus diesen modemen, schon als typisch rechtspositivistisch zu bezeichnenden Ansichten zieht Maurenbrecher jedoch nicht, abgesehen davon, daß er mit der Reservierung des ersten Buches seines Grundrisses für die Darstellung der Lehren des allgemeinen Staatsrechts demselben den Stellenwert der wissenschaftlichen Einleitung ins deutsche Staatsrecht zuspricht und zudem aus dem Staatsrecht der Bundesstaaten das Verwaltungsrecht tunlieh femzuhalten sucht. Andererseits besteht sein Staatsrecht der Bundesstaaten ("Allgemeines Territorialstaatsrecht") wie bei Klüber und anderen zeitgenössischen Autoren nur aus einer "Statistik" der partikularrechtlichen Einrichtungen und Normen. Scharfe Mißbilligung, die noch bei der Nachwelt seinem Ansehen geschadet hat, zog sich Maurenbrecher mit der rasch gefolgten Monographie "Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität" (1839) zu. Dort sind selbst noch die Vormärzstaaten allen Ernstes unter den Begriff des "Patrimonialstaates" gebracht48 , d. h. Maurenbrecher spricht auch noch in bezug auf dieselben dem Fürsten das Recht zu, die Staatsgewalt "nach Analogie des Eigentums" gebrauchen zu können. Diese ungeniert reaktionäre Ansicht, mit der er sich in die nächste Nähe des "Restaurators" der Staatswissenschaft Karl Ludwig von Haller stellte, mußte wohl nach Mohls Bemerkung noch zwanzig Jahre später das Rechtsbewußtsein der Nation empören49 , zumal sie erklärtermaßen auf das positive Verfassungsrecht ge-

Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1847,6 f. Ebd., S. 7. 48 Anders allerdings Grundsätze 239 N.: es gibt ,,keine Patrimonialstaaten in Deutschland mehr". Daselbst faßt Maurenbrecher den Staat noch als "moralische Person" auf (S. 278), in der Souveränitätsschrift wird der Gesamtheit der Untertanen die Qualität einer "moralischen Persönlichkeit" zuerkannt (S. 214 ff.). 46 47

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stützt sein will. Damit war mehr oder weniger der gesamten neueren Publizistik eine Entfernung vom positiven Rechtsboden vorgeworfen, nämlich weil sie das von Maurenbrecher als unhaltbar verworfene Staatssouveränitätsdogma zum Eckstein der Verfassungssysteme der deutschen Gegenwartsstaaten machen würde. Auch der angreifbaren zweiten staatsrechtlichen Schrift Maurenbrechers können wissenschaftliche Verdienste jedoch nicht aberkannt werden. So will Maurenbrecher eine scharf formulierte Rechtsfrage untersuchen, er sucht seine Ansicht nur auf positivrechtliche Nachweise bzw. auf als solche angesehene zu stützen, er untermauert seine Ansicht mit einer gründlichen Prüfung der gegnerischen Ansichten. Seine umstrittene Souveränitätsmonographie kann daher noch mehr als sein Staatsrechtskompendium als symptomatisch für das frühe Eindringen moderner rechtspositivistischer Wissenschaftsgesinnung ins Staatsrecht gelten. 3. Maurenbrechers Staatsrechtskompendium hat Klübers Handbuch aus seiner hegemonialen Stellung noch nicht verdrängen können. Dies gelang auch noch nicht dem Gießener Professor Karl Eduard Weiss (1805-51) mit seinem ausführlichen und zuverlässigen "System des deutschen Staatsrechts" (1843)50; wie wenig jenes System als ein wissenschaftlicher Fortschritt gelten kann, geht schon daraus hervor, daß daselbst auch das Bundesrecht nach dem allein auf das Landesstaatsrecht passenden Schema in Verfassungs- und Regierungsrecht unterteilt ist. Erst zwei andere Werke, die erstmals ebenfalls schon im Vormärz erschienen sind, sind jedenfalls in ihren gründlichen Neubearbeitungen nach 1850 zu den anerkannten Nachfolgern von Klübers inzwischen völlig veraltetem, auch nicht mehr neu bearbeitetem Handbuch geworden: Heinrich Zöpjls (1807-1877)51 anfangs noch schmale "Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, mit Rücksicht auf das gemeingültige Recht in Deutschland" (1841; 52 Tle. 1863 unter dem Titel: "Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, mit besonderer Rücksicht auf das allgemeine Staatsrecht und die neuesten Zeitverhältnisse") und Heinrich Albert Zachariäs (1806-1875)52 "Deutsches Staats- und Bundesrecht" (3 Bde. 1841-45; 32 Bde. 1865/67). Auch diese beiden Werke bleiben jedoch auf dem von Klüber beschrittenen Arbeitspfad. Nach längeren Dozentenjahren in Heidelberg dort 1842 zum Ordinarius ernannt, gehörte Zöpfl der Heidelberger Universität bis zum Lebensende an. In die Politik wurde er kurzzeitig 49 Vgl. Mohl, Gesch. u. Lit. 11, 303 sowie schon Mohls scharf ablehnende Rezension von Maurenbrechers Grundsätzen in: Krit. Jahrbücher f. deutsche Rechtswiss., 1. Bd. (1837) 452ff. 50 Außerdem bearbeitete Weiss das öffentliche Recht des Großherzogtums Hessen: System des öffentlichen Rechts des Großherzogthums Hessen, Darmstadt 1837. 51 Über ihn Landsberg III 2 Text 545 ff., Noten 238 f.; Jellinek (s. Anm. 33) 268 f.; Bäkkenfärde, Gesetz 119ff.; Stolleis, Gesch. 11, 92f.; ADB 45, 432. 52 Über ihn Landsberg III 2 Text 391 ff., 658 ff. Noten 283 ff.; Bäckenfärde, Gesetz 122 ff.; D. Bandemer; Heinrich Albert Zachariä - Rechtsdenken zwischen Restauration und Reformation, Diss. iur. München 1984; eh. Starck in: F. Loos (Hg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987,209-228; Stolleis, Gesch. 11, 94ff.; Pauly, 64ff.; ADB 44, 617.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

und offenbar eher wider Willen durch die Ereignisse von 1848 verschlagen, 1850 vertrat er seine Universität in der Ersten badischen Kammer. Auch noch nach 1871 galt ihm in süddeutsch-katholischer Gesinnung die ehemalige Bundesverfassung als die für Deutschland glücklichste politische Gestaltung. - Auch Heinrich Albert Zachariä blieb lebenslang seiner Universität, der Göttinger Georgia Augusta, treu: 1835 daselbst Extraordinarius, 1842 Ordinarius speziell für Staatsrecht. 1848/50 und nochmals nach 1866 wandte sich Zachariä dem parlamentarischen Wirken zu: Mitglied der Deutschen Nationalversammlung und des Gothaer Parlaments; 1867 als welfischer Kandidat in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt und dort Mitgründer der Bundesstaatlich-constitutionellen Vereinigung; ab 1868 für seine Universität auch im preußischen Herrenhaus; in den 50er Jahren verwickelte ihn sein politisches Engagement in einen Konflikt mit seiner Regierung in Hannover53 • Dem Staatsrechtslehrbuch steht die andere große Lehrbuchleistung nicht nach: das zweibändige .. Handbuch des deutschen Strafprocesses" (1861/68); außerdem gibt es von Zachariä eine vielbenutzte Sammlung der deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart (1855; zwei Fortsetzungen 1858/1862).

Zöpfls und Zachariäs Staatsrechtshandbücher unterscheiden sich nicht unwesentlich in der Auffassung und Darstellung des deutschen Staatsrechts. Beide bejahen auch für die Gegenwart klar die Existenz eines gemeinen deutschen Staatsrechts im Sinne eines unmittelbar geltenden Rechts - noch in der Zeit um 1866 sprechen sie ihm eine nicht zu bezweifelnde hohe praktische Bedeutung für die weitere abzusehende Zukunft zu -, seine Darstellung gilt ihnen daher als die eigentlichste Aufgabe eines Lehrbuchs des deutschen Staatsrechts 54 . Zachariä faßt jedoch diese Aufgabe rechtswissenschaftlich strenger und moderner als Zöpfl auf. So lehnt er es ab, daß ein anerkannter gemeindeutscher Staatsrechtssatz mit verallgemeinertem partikularen Recht angereichert wird; gerade da in der Regel ein solcher Satz nur im Zusammenhang mit den von ihm sachlich vorausgesetzten partikularen Rechtssätzen brauchbar erläutert werden kann, seien die partikularen Normen mit der gemeinen deutschen Rechtssubstanz nicht zu vermengen. Dem liegt der um die lahrhundertmitte in positivistischem Sinne klargestellte Begriff des "gemeinen deutschen Rechts" zugrunde: allein das auf eine für Deutschland anerkannt gegebene Rechtsquelle sich zurückführen lassende Recht ist "gemeines deutsches Recht,,55. Bei Zöpfl hingegen besitzt das "gemeingiltige" deutsche Staatsrecht nicht diesen distinkten Charakter, überhaupt ist in dessen eher nur als eine 53 Sie verweigerte die Bestätigung seiner Wahl zum Prorektor der Göttinger Universität und untersagte ihm die Benutzung der in der Universitätsbibliothek aufbewahrten Protokolle der Bundesversammlung. 54 Zöpfls Vorwort zur 4. Aufl. (1855) seiner Grundsätze schließt mit dem Satz: "Der schon im Vorwort zur ersten Auflage ausgesprochene Grundgedanke, das in Deutschland gemeingiltige Staatsrecht, so wie es ist und wirklich gilt, darzustellen, ist auch bei dieser Umarbeitung unabänderlich festgehalten worden." 55 In diesem Sinne Zachariä in seinem Art. Deutsches Staatsrecht in dem von Bluntschli / Brater herausgegebenen Deutschen Staats-Wörterbuch, 2. Bd. (1857) 737 ff., 739; übereinstimmend Deutsches Staats- und Bundesrecht 1,3. Aufl. Göningen 1865,4. Zur Klärung des Begriffs des ..gemeinen deutschen Rechts" um die Jahrhundertmitte noch § 14 Anm. 4 sowie der dazu gehörende Text.

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lose Kapitelfolge angelegtem Handbuch nicht ein so hohes Gewicht wie in Zachariäs systematischem Lehrbuch auf die Unterscheidung von allgemeinem und positivem Recht gelegt; so kann nach ihm auch einer nicht auf einer einheitlichen Anordnung für Deutschland beruhenden Rechtsnorm oder -regel, die in den deutschen Partikularrechten übereinstimmend vorkommt, die gemeingültige deutsche Rechtsqualität nicht abgesprochen werden 56 . Damit trägt Zöpfl nicht nur eine den Publizisten schon immer geläufige Ansicht vor, sondern bekennt sich auch als ein Anhänger der historischen Schule57 , d. h. er entwickelt deren Hauptlehre von der rechtsschöpferischen Kraft des Volksgeists zur Lehre von der gemeinrechtsbildenden Kraft der Partikularrechte weiter, dabei sieht er als den Hauptträger der durch die Partikularrechte bewirkten gemeinrechtsbildenden Entwicklung den nationalen Ideenkreis an 58 •

III. 1. Die mit den Handbüchern von Zöpfl und Zachariä schon in den Blick genommene nachmärzliche Staatsrechtslehre ist eine Wissenschaft im Übergang. Die nach der Revolution sich ausbreitende allgemeine Ernüchterung und Verfassungsskepsis läßt nun auch im Staatsrecht den Rechtspositivismus vordringen, der Vorwurf unkritischer Stoffkonfundierung kann gegen die neuen Werke der gemeindeutschen Publizistik schwerlich noch wie gegen ihre bisherigen erhoben werden. Auch in den beiden Jahrzehnten zwischen Revolution und Reichsgründung vermag jedoch die Spielart des "Gesetzespositivismus" noch nicht entfernt die Oberhand im Staatsrecht zu gewinnen; gesetzespositivistisch wird die Staatsrechtslehre erst nach der Reichsgründung, d. h. wie es sich erübrigt, die einzelnen positiven Staatsrechte in Deutschland noch mit dem Band eines allgemeinen deutschen Staatsrechts zu umschlingen. Da nach der Revolution die Verfassungssysteme der deutschen Staaten im allgemeinen einheitlich sind, kann aber doch jetzt das Profil der Staatsrechtslehre fachstrenger werden. Das Prinzip der Stoffreinheit, das Schibboleth der jüngeren Staatsrechtswissenschaft des Bismarckreiches, gewinnt denn auch im Staatsrecht durchaus bereits vor der Auflösung des Deutschen Bundes an Boden, wofür nicht nur earl Friedrich von Gerbers neuartiges Staatsrechts system von 1865 das Zeugnis ist; vielmehr lehnt schon in der Reaktionszeit nach 1850 die Mehrzahl der bekannteren Publizisten - H.A. Zachariä, Mahl, Bluntschli u. a. - die Vermengung rechtlicher und politischer Argumentationen klar ab 59 . Allerdings, auch jetzt bleibt es die Überzeugung des Faches, daß die "höheren Principien, auf Vgl. Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, I, 5. Aufl. 1863, 130ff. Das andere Hauptwerk ist eine Deutsche Staats- und Rechts-Geschichte (1834/ 36; 4. Aufl. in drei Bänden 1871/72). 58 In diesem Sinne Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, I, 5. Aufl. 1863, 141. 59 Darauf weist auch hin F. Müller, Juristische Methodik, 3. Aufl. 1989,69; Nachweise bei Wilhelm, Methodenlehre 141 Anm.45. 56 57

13 Friedrich

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

welchen der Staat und seine Institute beruhen,,6o, nicht aus dem positiven Staatsrechtssystem selbst entnommen werden können, d. h. zum Verzicht auf einen allgemeinen Teil des Staatsrechts, bestehend aus den auf den Staat sich beziehenden metapositiven Lehren und Begriffen, ist man nach wie vor nicht bereit. Damit hält das Fach den inneren Zusammenhang der Bearbeitung des positiven Staatsrechts mit Staatslehre und allgemeiner Staatsrechtstheorie noch fest. Die nachmärzliche Staatsrechtslehre hat das nunmehr in den allermeisten deutschen Staaten bestehende, nicht mehr politisch umkämpfte monarchisch-konstitutionelle Staatsrecht zum Gegenstand. Das ältere Territorialstaatsrecht kommt daher in den nachachtundvierziger Systemen des öffentlichen Rechts Deutschlands nur ausnahmsweise, nämlich in den nach 1850 fortgeführten Werken Zöpfls und Zachariäs noch vor. Das allgemeine deutsche Staatsrecht ist jetzt das unmittelbare Abbild der für Deutschland positivgesetzlich vorhandenen Verfassungsgestaltungen. Damit kann nun freilich seinen Sätzen in der Regel nicht mehr die Qualität eines gemeinen, unmittelbar geltenden deutschen Rechts zugeschrieben werden, dafür vermag es besser als bisher den Zweck der wissenschaftlichen "Einleitung" in die partikularen Staatsrechte zu erfüllen. Dem entspricht es, daß in den nachmärzlichen Systemen des deutschen Staatsrechts das ab 1850 wiederhergestellte Bundesrecht gewöhnlich als eine eigene Abteilung weggelassen ist, auch darin bilden die Neubearbeitungen der Handbücher Zöpfls und Zachariäs die Ausnahme. Mit der Ausgliederung des Bundesrechts aus den Systemen des deutschen Staatsrechts trennt sich die Disziplin nicht nur von einem politisch diskreditierten Stoff, sondern trägt auch dem Unterschied zwischen dem vertraglichen Bundesrecht und dem neuen gesetzlichen Verfassungsrecht des einzelnen deutschen Staates wissenschaftlich Rechnung. 2. Eine noch eher auf der bisherigen Linie eklektischer Verbindung des allgemein-constitutionellen Staatsrechts mit dem neueren deutschen Staatsrecht liegende Arbeit ist die "Einleitung in das constitutionelle Staatsrecht" (1863) von Karl von Kaltenbom (1817-1866)61. Wissenschaftlich bedeutender ist das zweibändige "System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands" (1856/ 57) von Joseph Held 62 , dessen Hauptwerk auf dem Gebiet des positiven öffentlichen Rechts. Es enthält als ersten Teil eine tiefdringende Erörterung der modemen konstitutionellen Lehren, worauf ein umfassendes, auch auf Einzelfragen gründlich eingehendes System der neuen deutschen Verfassungsrechte folgt. Das nicht abgeschlossene "System des öffentlichen Rechts der deutschen Staaten" (1860/63) des hannoverschen Juristen Georg August Grotejend 63 ist nach Konzeption und Aus60

Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, I, 3. Auf!. 1865,27.

61 1861 o. Professor für deutsches und öffentliches Recht in Königsberg, 1864 Übertritt in

den kurhessischenRegierungsdienst. Über ihn Landsberg III 2 Text 653 f., Noten 280 f.; ADB 15,43. 62 Über ihn schon § 12 IV 1. 63 Die Fortsetzung dieses Systems ist: Das deutsche Staatsrecht der Gegenwart, Berlin 1869.

§ l3. Von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes

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führung nicht originell; Grotefend bestreitet für die Gegenwart die Existenz eines gemeinen deutschen Staatsrechts, er bietet daher im wesentlichen ein allgemeines constitutionelles Staatsrecht. 1865 begann Hermann Schulze (1824-1888)64 ein umfassendes "Lehrbuch des deutschen Staatsrechts" zu veröffentlichen, von dem jedoch wegen der Wende von 1866 nur die "Einleitung in das deutsche Staatsrecht" erschienen ist65 . Diese Einleitung enthält eine gründliche Darstellung der allgemeinen Staatsrechtslehre sowie eine "Geschichte der Bearbeitung des deutschen Staatsrechts", wie sie ein neueres Lehrbuch des deutschen Staatsrechts nicht entfernt so ausführlich enthält; Vorbild und Anregung für diese Fachgeschichte war Mohls von 1855 bis 1858 erschienene "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" . Auf die Geschichte des deutschen Staatsrechts einschließlich seiner wissenschaftlichen Bearbeitung beschränkt sich, abgesehen von dem knappen Abschnitt "Grundbegriffe", die "Einleitung in das deutsche Staatsrecht" (1861) von OUo Mejer (1818-1893)66. Auch ohne die ausgebliebene Fortsetzung, die die Grundzüge des heutigen deutschen Staatsrechts enthalten sollte, ist diese gelungene kleine Einleitung ein in sich abgeschlossenes Werk und in der Wendung zum einheitlichen Stoff der Verfassungsgeschichte schon der wissenschaftliche Abgesang auf die bisherige gemeindeutsche Staatsrechtsdisziplin. Auch die methodenreine Staatsrechtswissenschaft um 1900 hat sie noch sehr positiv gewürdigt67 , Mejer konnte sie 1884 auch nur wenig verändert nochmals publizieren.

IV. 1. Abgesehen von den ersten Jahren nach 1815, wurde dem Bundesrecht immer nur eine mäßige eigene Bearbeitung zuteil. Einem größeren Interesse an der Bearbeitung seiner Probleme hat wohl nicht zuletzt die schnelle Indienstnahme des Deutschen Bundes durch die Reaktion entgegengewirkt. Die bundesstaatliche Alternative zum Bund wurde zwar auch schon vor der Revolution diskutiert, aber

64 1850 ao. Professor in Jena, 1858 Breslau, 1878 Heidelberg; preußischer Kronsyndikus und Mitglied des preußischen Herrenhauses, zur Heidelberger Zeit der Ersten badischen Kammer; geadelt mit dem Beinamen "Gaevernitz". Über ihn Landsberg III 2 Text 976 ff., Noten 405 f.; Stolleis, Gesch. 11, 329 ff.; ADB 33, 1. 65 Nicht Fortsetzung, sondern ,,Nachtrag zur Einleitung in das deutsche Staatsrecht" ist Schulzes Schrift: Die Krisis des deutschen Staatsrechts im Jahre 1866, Leipzig 1867. 66 1847 nach Göttinger Promotion und Habilitation Professor in Königsberg, 1850 in Greifswald, 1851 in Rostock, 1874 in Göttingen; das Kirchenrecht war Mejers hauptsächliches Arbeitsgebiet. Über ihn Landsberg III 2 Text 581 f.; ADB 52, 297; NDB 16, 732. Zur ungedruckten Autobiographie Smend in: Festschr. H. Niedermeyer, 1953, 249 -260. 67 Vgl. Ph. Zorn, Die Entwicklung der Staatsrechtswissenschaft seit 1866, JöR 1 (1907) 47 ff., 53 ff.

13*

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

ohne anerkannte Ergebnisse68 . Spätestens zu den 30er Jahren war das öffentliche Ansehen des Deutschen Bundes aufgrund des durch seine Beschlüsse aufrechterhaltenen staatspolizeilichen Aufsichtssystems auf den denkbaren Tiefpunkt gesunken; Arbeiten zu den durch ihn veranlaßten Verfassungsrechtsfragen wurden, je länger er bestand, desto spärlicher vorgelegt. Immerhin wurden in den ersten Jahren nach 1815 einige Darstellungen des Bundesrechts veröffentlicht, ja noch 1837 konnte w.E. Albrecht nicht unberechtigt behaupten 69 , daß bisher von den beiden Teilen des heutigen deutschen Staatsrechts, dem Bundesrecht und dem allgemeinen Landesstaatsrecht, dem Bundesrecht die größere Beachtung zuteil geworden ist. Das kurzzeitige frühe Interesse am Bundesrecht rührte natürlich daher, daß es sich bei ihm um eine völlig neue Materie von der größten, vorläufig noch nicht sicher zu übersehenden praktischen Bedeutung handelte, bis zur Schlußakte stand sein Ausbau auch noch aus. Andererseits entzog bereits Klübers Zusammenbehandlung von Bundesrecht und allgemeinem Landesstaatsrecht einer auf das Bundesrecht sich spezialisierenden Arbeitsrichtung die Zugkraft. Schon bald nach dem Einsetzen der Reaktion war das Interesse an eigenen Darstellungen des Bundesrechts rückläufig, seine Darstellung fand nun in den Lehr- und Handbüchern des deutschen Staatsrechts ihren Platz, wo jedoch der Schwerpunkt gewöhnlich beim allgemeinen Landesstaatsrecht lag. Wie für den Vormärz Klübers Handbuch die eingehendste Behandlung des Bundesrechts enthält, so enthalten für den Nachmärz eine solche die Handbücher von H.A. Zachariä und Zöpjl. 2. Nur wenige Grundrisse und ausführlichere Bearbeitungen des Bundesrechts bzw. solche Werke, die das gesamte deutsche öffentliche Recht zu behandeln bezwecken, jedoch nicht über die Behandlung des Bundesrechts hinausgelangt sind, verdienen Erwähnung7o . Die frühzeitige "Darstellung der Verfassung des deut68 Weniger Paul Achatius Pfizer (1801-1867), dessen Briefwechsel zweier Deutscher (1831) als das frühe Plädoyer eines Süddeutschen für den nationalen Vormachtberuf Preußens bekannt ist, als eher Welcker hat für die erste Jahrhunderthälfte einen Platz in der Dogmengeschichte des Bundesstaates, und zwar vornehmlich wegen seines Beitrags "Bund, Bundesversammlung" im 2. Bd. des Staats-Lexikons (2. Aufl. 1846,708 -736). Soweit man die neuere Dogmengeschichte des Bundesstaates mit einem deutschen Autor beginnt, nennt man jedoch als solchen im allgemeinen erst den Verfassungshistoriker Georg Waitz wegen seiner von Tocquevilles Amerika-Buch beeinflußten Lehre von der Teilung der Souveränität im Bundesstaat; Waitz' Abhandlung über das Wesen des Bundesstaates wurde erstmals 1853 in der (Kieler) Allg. Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur veröffentlicht und 1862 erweitert in seine Grundzüge der Politik aufgenommen (S. 153 -218). Zur älteren Dogmengeschichte des Bundesstaatsbegriffs noch immer am ausführlichsten S. Brie, Der Bundesstaat. 1. Abt.: Geschichte der Lehre vom Bundesstaat, Leipzig 1874; zur Reaktion auf die Waitzsche Lehre noch unten § 19 11. 69 In seiner Rezension von Maurenbrechers Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts: GöttGelAnz 1837, 1484. 70 Eine ausführliche Übersicht über das gesamte Schrifttum zu bundesrechtlichen Fragen bis zur Mitte der 50er Jahre bei Mohl, Gesch. u. Lit. 11,244-285.

§ 13. Von der Gründung des Rheinbundes bis zur Spätzeit des Deutschen Bundes

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schen Bundes" (1818) von Friedrich Wilhelm Tittmann (1784-1864) ist nur ein schmaler, aber durchaus um begriffliche Klärung bemühter Grundriß. "Öffentliches Recht des deutschen Bundes und der deutschen Bundesstaaten" (1820) von Leonhard von Dresch (1786 -1836), das ohne die beabsichtigte Darstellung des Staatsrechts der Bundesstaaten geblieben ist, geht auf Einzelfragen des Bundesrechts näher ein, auch andere Schriften zu bundesrechtlichen Fragen liegen von Dresch vor. Eine ausführliche, solide Darstellung des Bundesrechts enthält das ebenfalls im positivrechtlichen Teil nicht über das Bundesrecht hinausgelangte "Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts" (1831) von Sylvester Jordan. Die meiste Beachtung verdient von den allein dem Bundesrecht gewidmeten Darstellungen das Lehrbuch zum Gebrauch bei Vorlesungen "Recht des deutschen Bundes" (1822) von 19naz Rudhart (1790 -1838)71, das Bundesrecht ist daselbst streng als zwischenstaatliches Vertragsrecht aufgefaßt 72 . Was einzelne Fragen des Bundesrechts anlangt, so wurden zeitweise die Grenzen der Bundesintervention rege erörtert, wozu die Karlsbader Beschlüsse und sodann die Bundesbeschlüsse von 1832 der Anlaß waren; von einschlägigen Schriften sollte wenigstens die mutige, die einzelstaatliche Verfassungsautonomie verteidigende Stellungnahme w.J. Behrs erwähnt sein: "Von den rechtlichen Grenzen der Einwirkung des deutschen Bundes auf die Verfassung seiner Gliederstaaten" (21820)73. Ausgiebig war der literarische Niederschlag der Rechtspflege des Bundes, wobei aber nahezu nur dem aus dem Reichsrecht übernommenen Austrägalverfahren das Interesse gegolten hat, nicht auch dem neueren Schiedsverfahren74. Da das Bundesrecht keineswegs ohne Entwicklung gewesen ist, ja mit Recht von einem wesentlichen Einfluß des Deutschen Bundes auf die Entwicklung des deutschen Rechtslebens gesprochen werden kann - in seiner letzten Periode nahm er sich noch und nicht ergebnislos der Vereinheitlichung eines bedeutenden Teils des Zivilrechts an -, kann die gesamte wissenschaftliche Bearbeitung des Bundesrechts nur als schmal gelten. Wenn das Bundesrecht schnell zu einem Stiefkind des publizistischen Interesses geworden ist, so trug dazu auch die argwöhnische Sekretierung seiner Quellen durch die Regierungen bei; 1823 sprach sich die Bundesversammlung sogar eigens in einem Beschluß gegen jede 71 1811 Professor in Würzburg, anschließend in bayerischen Regierungsämtern und auch in der neuen Abgeordnetenkammer, in den letzten Lebensjahren Minister des neuen Griechenkönigs und Wittelsbacher Prinzen Dtto; ADB 29,459. 72 Zum Stil von Rudharts Bearbeitung des Bundesrechts Stalleis, Gesch. 11, 86 f. Zu seinem historischen und philosophischen Verständnis der Rechtswissenschaft in seiner Encyclopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft (1812) H.-U. Stühler; Die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780-1815, 1978, 169 ff. 73 Andere einschlägige Schriften bei Mahl, Gesch. u. Lit. 11, 273 f. 74 Das wiederaufgelebte Austrägalverfahren behandeln zwei bekannte Autoren: Mahl und A. W. Heffter, am materialreichsten ist es behandelt bei Ph. T. W. v. Leanhardi, Das Austrägalverfahren des Deutschen Bundes, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1838/1845; weiteres Schrifttum bei Mahl, Gesch. u. Lit. 11, 277 ff. Das Schiedsverfahren für innerstaatliche Verfassungsstreitigkeiten zwischen Regierung und Ständeversammlung wurde erst 1834 eingeführt.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Beachtung staatsrechtlicher Lehren in ihrer Mitte aus 75 • Von 1828 bis 1860 wurden mit Ausnahme des Jahres 1848 die für den Regierungsgebrauch gedruckten Protokolle der Bundesversammlung nicht publiziert, auch zuvor war dies nur sporadisch geschehen; selbst die Bundesbeschlüsse wurden über eine lange Zeit nicht regelmäßig publiziert76 . Die Wissenschaft mußte sich mit Privatsammlungen der Bundesrechtsquellen behelfen, darunter immerhin einer wohl vollständigen und völlig zuverlässigen: Philipp Anton Guido von Meyers Corpus Juris Confoederationis Germanicae (11822; 3I-III, erg. v. H. ZöpjlI858-l869). Mit der Geheimhaltung ihrer Protokolle lenkte selbst die Bundesversammlung das öffentliche Interesse von sich und den Bundesangelegenheiten ab auf die neuen Landtage.

v. 1. Man möchte meinen, daß in frühkonstitutioneller Zeit die Bearbeitung des Staatsrechts eines schon konstitutionellen deutschen Mittelstaates einem Publizisten als die reizvollere und lohnendere Aufgabe als die Bearbeitung des allgemeinen deutschen öffentlichen Rechts erschienen ist. Der Bearbeiter eines partikularen Staatsrechts hatte die neue Verfassung des betreffenden Staates zur Grundlage und Quelle, er behandelte einen mit der Verfassungsurkunde einheitlich gegebenen Stoff. Zumal da im Frühkonstitutionalismus Erfahrungen mit dem neuen Verfassungsleben noch fehlten - nicht zuletzt behinderten zeitweise die vom Deutschen Bund verhängten Publizitätsbeschränkungen deren Verbreitung -, brauchte er auch nicht zu befürchten, daß seine Arbeit mehr oder weniger nur innerhalb des von ihm behandelten Staates Beachtung finden wird. Um so bemerkenswerter ist, daß die Bearbeitung des besonderen Landesstaatsrechts bis über den Nachmärz hinaus nicht kontinuierlich ansteigend verläuft. Vielmehr wechselt der Grad seiner Bearbeitung auffallend von Zeitpunkt zu Zeitpunkt, ein Spiegelbild des Auf und Ab der allgemeinen politischen Stimmungslage. So ließ der von den Karlsbader Beschlüssen erzwungene Stillstand in der Einführung neuer Verfassungen das eben erst geweckte Interesse an Arbeiten zum Landesstaatsrecht schon in den späten 20er Jahren wieder abflauen; immerhin belebte es sich alsbald wieder unter der Wirkung der zweiten "Verfassungswelle" zu Beginn 75 In dem Beschluß der Bundesversammlung vom 11. Dezember 1823 heißt es: " ... wäre es bedenklich und unverantwortlich, solchen Lehren in unserer Mitte irgendeine auf die Bundesbeschlüsse einwirkende Autorität zuzugestehen, und dadurch in den Augen des Publikums das System jener Lehrbücher zu sanctionieren ... " (Corpus Juris Confoederationis Germanicae, hg. v. Ph.A.G. v. Meyer; erg. v. H. Zöpjl, 11, 3. Auf!. 1859, 151). 76 Der Wortlaut des Bundesbeschlusses vom 8. März 1860, der die regelmäßige Veröffentlichung der Protokolle der Bundesversammlung anordnet, bei O. Mejer; Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, Rostock 1861, 175 N.9. Mit der Sekretierung der Bundesprotokolle befaßt sich mit der Absicht, die Regierungen in ihrem eigenen Interesse zu einer publizitätsfreundlicheren Haltung zu bewegen, A. Michaelis, Die Protokolle der hohen deutschen Bundesversammlung, Erlangen 1829. Über diesen "heute wirklich vergessenen" Tübinger Professor (1795-1862) J. Rückert, A.L. Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, 1974,

22f.

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der 30er Jahre, um jedoch noch vor 1848 wiederum nachzulassen; auch in den beiden Jahrzehnten nach 1850 überwiegt eher das Interesse am allgemeindeutschen Staatsrecht. Auch in der Ära des Deutschen Bundes haben die systematischen Bearbeitungen der Landesstaatsrechte den allgemeinen deutschen Staatsrechtswerken den vornehmeren wissenschaftlichen Rang nicht streitig machen können. Nicht nur weil bei der Erörterung einer den einzelnen Staat betreffenden Staatsrechtsfrage in aller Regeld das Bundesrecht und das verwandte Staatsrecht anderer deutscher Staaten gar nicht außer Betracht gelassen werden konnten. Sondern weil natürlich überhaupt bei der langen Offenheit der deutschen Verfassungsentwicklung den allgemeinen deutschen Verfassungsfragen das primäre Interesse zukam. Immerhin lag schon 1829/31 mit Robert Mahls "Staatsrecht des Königreichs Württemberg" ein anerkannt gelungenes partikulares Staatsrechts system vor. Daß Mohl zu dieser frühen prominenten Leistung in der Lage gewesen ist, haben wohl auch die besonderen württembergischen Verhältnisse begünstigt: die württembergische Verfassung war zwar aus einem langwierigen Verfassungskampf hervorgegangen, war dann aber wegen der zur Herstellung des Verfassungsfriedens für ihre Einführung gewählten alt-neuen Form der Vereinbarung nicht mehr das Objekt von Verfassungsstreitigkeiten. 2. In der Zeit vor 1850 stehen hinter Mohls Württemberg-Arbeit andere Bearbeitungen des Staatsrechts eines deutschen Staates mit Abstand zurück77 . Nur ein einziger Staat weist schon für den Vormärz eine ins Gewicht fallende wissenschaftliche Literatur über sein Staatsrecht auf: Bayern, sie war hier nicht ohne Tradition und sicher nicht ohne staatlichkeitsbildende Wirkung. Der zeitlichen Reihenfolge nach bearbeiteten das auf der frühen Verfassung von 1818 beruhende bayerische Staatsrecht78 Julius Schmelzing mit einem "Staatsrecht des Königreichs Baiern" (2 Tle. 1820/21), Leonhard von Dresch mit "Grundzüge des baierischen Staatsrechts" (1823), Friedrich Christoph Karl Schunck mit "Staatsrecht des Königreichs Baiern" (1824; unvollendet) - alle drei Autoren liefern mehr nur paraphrasierende Erläuterungen des Verfassungstextes -; origineller eindringend in die neuen Verfassungsfragen war erst Conrad Cucumus (1792-1861) mit seinem "Lehrbuch des Staatsrechts der constitutionellen Monarchie Baierns" (1825); eine umfassende Darstellung lieferte erstmals Ernst von Moy (1799-1867) mit "Lehrbuch des bayerischen Staatsrechts" (3 Bde. 1840-43). Diese große, von ultramontaner Gesinnung gefarbte Arbeit war jedoch bald durch 1848 und die Arbeiten von Jose! (von) Pözl (1814-1881)79 überholt. Die neuere juristische Periode der bayerischen 77 Umfassende Übersicht über die Bearbeitungen der Staatsrechte der Einzelstaaten bis zur Jahrhundertmitte bei Mohl, Gesch. u. Lit. 11, 334ff.; ausführlich auch Stolleis, Gesch. 11, 193 ff., 284 ff. 78 Zur bayerischen Staatsrechtsliteratur bis Max Seydel R. Pi/oty, Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechtsliteratur, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festg. Laband I, 1908,203 ff. 79 Nach Würzburger Habilitation Professor in München mit dem Auftrag der Vertretung des bayerischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts; langjährige Abgeordnetentätigkeit

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Staatsrechtsliteratur beginnt mit Pözl, sein nicht umfangliches Oeuvre ist schon der methodenstrengen staatsrechtlichen Richtung Gerbers und Labands zuzurechnen. Außer dem kleineren, aus einem schmalen Grundriß hervorgegangenen ,,Lehrbuch des bayerischen Verfassungsrechts" (1851; 51877) gibt es von Pözl als dessen Ergänzung ein "Lehrbuch des bayerischen Verwaltungsrechts" (1856; 31870), es sichert ihm auch in der Geschichte des Verwaltungsrechts einen beachtenswerten Platz. Außer Bayern und Württemberg können nur sehr wenige Staaten erwähnt werden, von deren Staatsrecht es schon vor 1848 wenigstens eine einzige Darstellung, die jedoch in der Regel nicht zu Ende geführt ist, gab. Frühzeitig trifft dies immerhin für das unter Karl August "liberal" regierte Sachsen-Weimar zu: "Öffentliches Recht des Großherzogthums Sachsen-Weimar" (1825; unvollendet) von Christian Wilhelm von Schweitzer (1781-1856). Auch das Königreich Sachsen besitzt schon im Vonnärz mehrere Darstellungen seines Staatsrechts, von denen jedoch die umfänglichste, nämlich "Lehrbuch des königlich sächsischen Staatsrechts" (2 Bde. 1824/27) von Christian Ernst Weiße (1766-1832), ein mehr noch statistisches als juristisches Kompendium ist; seit der paktierten Verfassung von 1832 war dieses Lehrbuch ganz überwiegend veraltet. Zwei nach der Verfassungseinführung erschienene Arbeiten über Sachsen blieben unvollendet: "Darstellung der Verfassung und Verwaltung des Königreichs Sachsen" (nur 1. Teil: Verfassung und Verfassungsrecht des Königreichs Sachsen, 1833) von Friedrich Bülau (1805 -1859)80 und "Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen" (1839; ebenfalls nur T. 1) von Friedrich Milhauser. Als gediegen kann das "System des öffentlichen Rechts des Großherzogthums Hessen" (1837) von Karl Eduard Weiss 81 gelten, das jedoch ebenfalls unvollendet ist. Kurhessens Staatsrecht entbehrte immer einer vergleichbaren Darstellung, seine fortschrittliche Verfassungsurkunde von 1831 wurde immerhin unverzüglich von Friedrich Murhard in der für ihn charakteristischen kompilatorischen Art kommentiert (2 Bde. 1833/35)82. Auch in der Zeit zwischen 1850 und 1866 war das Staatsrecht zweier Mittelstaaten nicht bearbeitet: Badens und Hannovers 83 .

(zeitweise zweiter und auch erster Präsident der bayerischen Abgeordnetenkammer). Über ihn Piloty (s. Anm. 78) 255 ff.; Landsberg III 2 Text 666, Noten 288 f. 80 Professor für praktische Philosophie und Politik in Leipzig, im Vormärz auch zum Zensor in Sachsen bestellt; ADB 3, 512. 81 Zu seinem System des deutschen Staatsrechts oben 11 3. 82 Zu anderen Schriften Murhards noch Anm. 114. 83 Die einzige ältere Arbeit über das badische Staatsrecht: J.J. Pfister, Geschichtliche Entwicklung des Staatsrechts des Großherzogthums Baden, Heidelberg 1836 (mit Nachtr. 2. Aufl. 1847) ist nicht bis zur angekündigten systematischen Darstellung gelangt, überhaupt liegt ihr Schwerpunkt völlig auf der Zeit vor 1818. G.A. Grate/end, Geschichte der allgemeinen landständischen Verfassung des Königreiches Hannover von 1814 bis 1848, 1857 ist ebenfalls entgegen dem Untertitel "Staatsrechtliche Versuche" nur historisch. Zu dem schon einmal erwähnten Grotefend und seinen sonstigen Verdiensten Stolleis, Gesch. 11, 326 f.

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Die beiden Großstaaten kannten im Vormärz eine Wissenschaft des öffentlichen Rechts noch nicht. Der weit sich verzweigende juristische Literaturbetrieb Preußens umfaßte freilich auch das öffentliche Recht. Bis zum Erlaß der Verfassung war jedoch daselbst das literarische Interesse am öffentlichen Recht noch so gut wie völlig den besonderen Bedürfnissen des autonomen Verwaltungsstaates untergeordnet, richtete sich vornehmlich auf wissenschaftlich anspruchslose Stoffsammlung und Gesetzeserläuterung84 ; das vielbändige, nach dem Ressortprinzip angelegte Sammelwerk der beiden Fortschrittsliberalen August Heinrich Simon (1805-1860)85 und Ludwig von Rönne (1804-1891)86 "Die Verfassung und Verwaltung des preußischen Staates" (1840-56) ist mit seiner immensen Materialanhäufung das beeindruckende Hauptstück dieser Literatur. Immerhin können auch bereits für den Vormärz einzelne, allerdings wenige staatsrechtliche Monographien preußischer Autoren erwähnt werden 87 , auch im ganzen waren schon vor 1848 die staatsrechtlichen Zustände Preußens beleuchtet88 . Ein umfassendes Lehrbuch des preußischen Staatsrechts lag aber doch erstmals erst einige Jahre nach dem Inkrafttreten der Verfassung mit Rönnes anfangs zweibändigem "Staatsrecht der preußischen Monarchie" (11856/63)89 vor. Auch dieses an Stoff überquellende Werk liegt noch völlig auf der Linie eines trockenen vorkonstruktiven Positivismus; soweit ihm eine kräftigere Farbe bescheinigt werden kann, verdankt sie sich vorzüglich Rönnes klarer liberaler Gesinnung 90 • 84 Zu den Gründen für die inferiore Stellung des öffentlichen Rechts im vor- und noch nachmärzlichen Preußen Smend 331 ff. (Eigenart des preußischen Beamtenstaates auch als "eine geistige Macht"). 8S Anfangs im preußischen Verwaltungsdienst, Parlamentarier und demokratischer Publizist, nach der Niederschlagung der Revolution Emigrant in der Schweiz. Über ihn Landsberg III 2 Text 664, Noten 286; ADB 34, 371. 86 Laufbahn im preußischen Verwaltungs- und Justizdienst, Mitglied der Deutschen Nationalversammlung, 1858-8lfortschrittliches, später nationalliberales Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Über ihn Landsberg III 2 Text 664 f., Noten 287; neue Hinweise zur Biographie bei Stolleis, Gesch. 11, 225 Anm. 311; ADB 29, 133. 87 So von dem als Verfasser von Geschichtswerken über das Deutschland vor der Französischen Revolution und während der napoleonischen Herrschaft bekannten konservativen Bonner Staatsrechtslehrer Clemens Theodor Perthes (1809-1867): Der Staatsdienst in Preußen, Hamburg 1838, auch etwa noch G. Wehnert, Über den Geist der preußischen Staatsorganisation und Staatsdienerschaft, Potsdam 1833. 88 So in geistvoll-kesser Art von dem literarisch produktiven konservativen Ultra E. v. Bülow-Cummerow, Preußen, seine Verfassung, seine Verwaltung, sein Verhältnis zu Deutschland, 2 Bde. Berlin 1842/43 und trocken staatenkundlich von dem nachmaligen Professor für Staats- und Kameralwissenschaften in Breslau Carl Julius Bergius (1804-1871): Preußen in staatsrechtlicher Beziehung, Münster 1838, 2. Auf!. 1843. Über Bergius ADB 2, 388. 89 4. Auf!. 1881/85 (4 Bde., unvollendet), 5. Auf!. neubearb. v. Ph. Zorn in 3 Bden. 1899/1900/1915. Von der preußischen Verfassungsurkunde und ihren Entwürfen legte Rönne sogleich eine kommentierte Ausgabe vor (1850; 2. Auf!. m. Nachtr. 1852). 90 Zu abfällig die Beurteilung bei Landsberg III 2 Text 665 (auf dem Standpunkt des "denkbar trockensten Positivismus"); anerkennend v. Oertzen, Soziale Funktion 105 ff. und mit Bezugnahme auf die verfassungspraktische Wirkung Stolleis, Gesch. 11, 300.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

3. Rohert Mohls (1799-1875)91 "Staatsrecht des Königreichs Württemberg" (2 Bde. 1829/31; 21840) ist dessen bedeutendste Leistung auf dem Gebiet des positiven öffentlichen Rechts und der Abschluß seiner frühen, dem öffentlichen Recht gegoltenen Schaffensperiode. Diese Periode beginnt mit der Tübinger Dissertatio inauguralis sistens discrimen ordinum provincialium et constitutionis repraesentativae (1821) und einer Abhandlung über die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Bund92 , darauf folgt das während des Pariser Aufenthalts entstandene, noch von keinem anderen deutschen Autor bearbeitete "Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika" (1824; nur T. 1). Wenngleich im augenblicklichen Zusammenhang an sich nur Mohls Württemberg-Arbeit zu würdigen ist, sollte bei dieser Gelegenheit doch auch noch zwei anderen Werken Mohls eine wenigstens kurze Bemerkung gelten: der "Polizey-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates" und der monumentalen "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften". Dagegen können wir Mohls "Enzyklopädie der Staatswissenschaften" (1859; 21872), die Ausarbeitung seiner jahrzehntelang über diesen Gegenstand gehaltenen Vorlesungen, und das drei bändige Sammelwerk "Staatsrecht, Völkerrecht und Politik" (1860-69) ohne eine Bemerkung lassen. Robert Mohl, aus dem württembergischen Honoratiorentum stammend, wurde 1824 in der Tübinger Staatswissenschaftlichen Fakultät ao., 1827 o. Professor; mehr als den Vorlesungen widmete er sich wohl dem Ausbau der Universitätsbibliothek (1836-44 Oberbibliothekar)93. 1845 legte Mohl, im Konflikt mit der württembergischen Regierung wegen seiner Übernahme einer Landtagskandidatur, seine Professur nieder, im Frühjahr 1847 erhielt er in Heidelberg eine neue Professur. 1848 Mitglied des Vorparlaments und der Nationalversammlung, Eintritt in die provisorische Reichsregierung als Justizminister. 1861 schied Mohl endgültig aus der Lehre aus, in die er nach der Revolution zurückgekehrt war, um sich abermals der aktiven Politik zu widmen: badischer Bundestagsgesandter; 1866-71 badischer Gesandter in München; 1874 noch Wahl in den Reichstag. Zum badischen Geheimen Rat mit dem Prädikat 91 Grundlegend zu Person und Werk E. Angennann, Robert von Mohl, 1962. Aus dem älteren Schriftum insbesondere E. v. Meier, Robert v. Mohl, ZgesStW 34 (1878) 431-528. Aus dem neueren Schrifttum zielen auf eine Gesamtwürdigung: F. Ronneberger, Zum 100. Todestag des R. v. Mohl, Die Verwaltung 9 (1976) 63 ff.; U. Scheuner, R. v. Mohl: Die Begründung einer Verwaltungslehre und einer staatswissenschaftlichen Politik, in: 500 Jahre EberhardsKarls-Universität Tübingen 1477-1977, 1977,515-538; ders., Der Rechtsstaat und die soziale Verantwortung des Staates, Der Staat 18 (1979) 1-30; Stolleis in HRG III, Sp. 617ff. sowie in Gesch. 11, 172ff., 194ff.; E. Förster in KleinheyerlSchröder (Hg.) 181-185 (weit. Lit.) Zu Mohls Behandlung einzelner Problemkreise: H. Maier 262-278 (zum Erneuerungsversuch der Polizeiwissenschaft); J. lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968,58 ff. (zum "versöhnenden" Staatsbegriff); I. Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, 1986, 16-27 (zum Rechts- und Gesetzesbegriff). Speziell zu den politischen Anschauungen K. v. Beyme in der Einleitung zu seiner Auswahl von Mohls Politischen Schriften (1966; Lit.); H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, 1968, 242 - 254; Boldt, Staatslehre 233 - 261; U. Bennbach in Pipers Handb. 4 (1968) 354 ff. 92 Die öffentliche Rechtspflege des Deutschen Bundes, Stuttgart/Tübingen 1822. 93 Zu dieser Tätigkeit P.M. Ehrle, R. v. Mohl als Leiter der Tübinger Universitätsbibliothek (1836-1844),1975.

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"Exzellenz" ernannt, wurde Mohl durch den badischen Großherzog auch in den erblichen Adelsstand erhoben.

a) Methodisch neu an Mohls "Staatsrecht des Königreichs Württemberg" ist die gründliche Verwertung der Protokolle der Ständeverhandlungen94 , ohnedem würde es sich nicht von dem für die partikulare Staatsrechtsliteratur noch typischen Stil des trockenen, schematischen Referierens der Rechtsvorschriften so vorteilhaft abheben. Bahnbrechend war die Trennung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht, der umflinglichere zweite Band enthält schon nach dem Titel nur das Verwaltungsrecht. Diese Trennung liegt auch schon Mohls nordamerikanischem Bundesstaatsrecht zugrunde, ist aber daselbst, weil nur das Verfassungsrecht behandelt ist, nicht ausgeführt, auch Cucumus' gerade erschienenes bayerisches Staatsrechtslehrbuch geht von ihr aus. Auf dem Wege zur fachlichen Verselbständigung des Verwaltungsrechts war sie ein Meilenstein. Das Leitbild von Mohls Staatsrecht seines Heimatstaates ist die Rechtsstaatsidee des deutschen Frühliberalismus, die er durch die Unterscheidung von "Staat" und "Gesellschaft" vertieft, dieselbe arbeitet er allerdings erst nach 1850 aus 95 . Über die Notwendigkeit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft war er sich aber wohl schon bei der Arbeit an seinem württembergischen Staatsrecht im klaren, deshalb vermag er daselbst die liberale Rechtsstaatsforderung und das monarchische Prinzip, jenes durchaus im Sinne der Schlußakte verstanden, zu einem Ausgleich zu bringen. Verfassungsrechtlich korrekt schreibt sein württembergisches Staatsrecht dem König den vollen Besitz der Staatsgewalt zu, ja, der Ständeversammlung werden nicht einmal Mitwirkungsrechte bei der Ausübung der Staatsgewalt zugestanden; dafür soll und darf sie alle den staatlichen Ansprüchen entgegenstehenden "Volksrechte" zur Geltung bringen: "Vertheidigung der sämmtlichen Volksrechte gegen etwaige Angriffe der Regierung ist somit der Zweck der Stände-Versammlung. Sie ist das Organ des Volkes hierzu.,,96 Damit begründet Mohl ein "allgemeines Staatsbürgerrecht" mit der Volksvertretung als seinem Garanten ohne jeden für die vormärzliche Staatsrechtslehre eher noch typischen Rückgriff auf naturrechtliches Ideengut. Er nimmt damit jedoch keinen gesetzespositivistischen Standpunkt ein 97 • Sondern richtiger bezeichnet man seine Position als Verfassungspositivismus: die Verfassung ist die letzte Geltungsgrundlage des Staatsrechts, und zwar nicht nur soweit durch sie ausdrücklich Rechte und Pflichten der 94 Auf die Probleme der Heranziehung der ständischen Verhandlungen bei der Gesetzesauslegung ist Mohl noch in einer mit diesen Problemen eigens sich befassenden Abhandlung zurückgenommen; Staatsrecht, Völkerrecht, Politik, I, Tübingen 1860, 36 -143. 95 In: Staats-Wissenschaften und Gesellschafts-Wissenschaften, ZgesStW 7 (1851) 3 -71; überarbeitet in Gesch. u. Lit. I, 69 -111. 96 Staatsrecht des Königreichs Württemberg, I, Tübingen 1829,454. 97 Gegen dieses Fehlverständnis F. Müller; Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte des Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz, 1965, 276ff; erhellend zu Mohls verfassungsrechtlicher Position auch M. Köhler; Die Lehre vorn Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechts theorie der ersten Hälfte des 19. Ih., 1973, 82 ff.

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Staatsorgane und Untertanen angeordnet sind, sondern auch soweit sich solche aus ihrer ..inneren Notwendigkeit" ergeben98 . Klassisch kommt dieser Verfassungspositivismus in Mohls bekannter Lehre von dem durch die württembergische Verfassung verbrieften verfassungsmäßigen Gehorsam zum Ausdruck. Danach ergeben sich alle Rechte der Staatsgewalt allein aus der Verfassung und können gegenüber dem Staatsbürger nur den Anspruch auf verfassungsmäßigen Gehorsam und das Recht auf Vornahme aller für den Staats zweck notwendigen Maßnahmen beinhalten: ..... der Württemberger ist bloß verfassungsmäßigen Gehorsam schuldig; wer die Verfassung umstößt, ist nicht sein rechtmäßiger König,,99. Mohl hat denn auch bei der Untersuchung konkreter Verfassungsrechtsfragen den Rückgang auf ein allgemeines Staatsrecht nicht überhaupt abgelehnt, sondern nur soweit, wie dessen Lehren vom besonderen Staatstypus, dem die betreffende Verfassung angehört, absehen 100. b) Mit seinem zweiten Hauptwerk ..Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates" (2 Bde. 1832/33; 31866)101 stellte Mohl ein allgemeines System der Verwaltungslehre auf. Er tritt daselbst für die Beschränkung der Staatstätigkeit durch das Recht ein, nicht überhaupt für ihre Beschränkung auf nur bestimmte sachliche Aufgaben und Ziele. Wiewohl nicht ohne beifällige Resonanz zumal auch im ausländischen Schrifttum, kam doch dieser Erneuerungsversuch der Traditionsdisziplin des deutschen Verwaltungsstaates schon zu spät; die fachliche Verselbständigung der von der älteren ..Policeywissenschaft" urnfaßten verschiedene Stoffe war nicht mehr aufzuhalten. c) Mohls drittes Hauptwerk, eine ..Riesenleistung" (E. Angermann), würde an sich eine nähere Besprechung durch uns verdienen: die aus Einzelmonographien bestehende dreibändige ..Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" (1855-58)102. Wir meinen jedoch von einer näheren Würdigung des einzigartigen wissenschaftshistorischen Werkes absehen zu dürfen, da die beispiellose Gelehrtenleistung als bekannt gelten kann 103 . Das nach Mohls Formulierung einen

98 Die Formulierung ..innere Notwendigkeit" in Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Auf!. Tübingen 1872, 176. 99 Staatsrecht des Königreichs Württemberg, I, 15l. 100 Die Existenz eines gemeindeutschen Staatsrechts im Sinne eines positiv geltenden Rechts wurde allerdings von ihm lange bestritten, erst im wissenschafts- und literaturhistorischen Hauptwerk ist diese Ablehnung bedeutend abgeschwächt. So ist dort das deutsche Staatsrecht zwar als ..ein Torso" bezeichnet, ohne ..die Schönheit und den Wert des ganzen Bildes; jedoch auch in der Verstümmelung hat es noch Wert für Wissenschaft und Leben, vor allem eine nationale Bedeutung" (Gesch. u. Lit. 11, 286 ff., 295). Dazu M. Friedrich, R. v. Mohls Auseinandersetzung mit dem allgemeinen deutschen Staatsrecht des 19. Ih., in: Politik, Philosophie, Praxis. Festsehr. W. Hennis, 1988, 116-127 sowie noch § 1411 l. 101 Zunächst selbständig erschienene Erweiterung ist: System der Präventivjustiz oder Rechts-Polizei, Tübingen 1834. Seit der 2. Auf!. (1844) sind Polizeiwissenschaft und Präventivjustiz unter dem Titel .. Polizei-Wissenschaft" zu einem dreibändigen Werk vereinigt. 102 Neudr. Graz 1960.

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"Ocean" an Literatur durchschreiten müssende, hauptsächlich literaturgeschichtliche Werk ist nicht mehr eine Bücherkenntnis älterer Art, sondern "eine Geschichte der Dinge selbst an der Hand ihrer Literatur"l04. Die teils sehr zugespitzten, Unausgewogenheit nicht scheuenden Urteile Mohls sind alles in allem mehr die einer räsonierenden, werturteilsfreudigen als verstehenden Geschichtsschreibung, vorzüglich bringen sie die Anschauungen des süddeutschen Altliberalismus zum Ausdruck. Eine Darstellung der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft enthält Mohls wissenschafts- und literarhistorisches Hauptwerk nicht. Jedoch ist in seinem zweiten Band das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Deutschen Bundes penibel abgehandelt 105. In dieser umfänglichen Abhandlung ist buchstäblich wohl jede bis zur Mitte der 50er Jahre erschienene, als einschlägig gelten könnende Schrift verzeichnet und in der Regel wenigstens mit einer kurzen Bemerkung bedacht. Die Konturen des Ganzen werden von der großen Zahl der erwähnten Titel durchaus nicht verwischt, die Hauptfrage für das Fach in der Zeit des Deutschen Bundes, nämlich nach "Begriff und richtiger Feststellung" des deutschen Staatsrechts, ist klar herausgearbeitet. Außerdem sind im zweiten Band die Porträts von zwölf deutschen Staatsgelehrten enthalten 106, darunter der beiden Moser, Pütters und Schlözers, so daß auch die späte Reichspublizistik vorkommt; diese Porträts zeigen Mohls historische Darstellungskunst von ihrer besten Seite.

VI. 1. a) An juristischen Monographien über staatsrechtliche Themen war das 19. Jh. lange arm. Dem widerspricht nicht das ausgiebige vormärzliche Schrifttum über Verfassungsfragen, da es hauptsächlich verfassungspolitisch ist, so die zahlreichen Schriften über landständische Verfassung. Soweit aus dem Vormärz Monographien über staatsrechtliche Themen erwähnt werden können, sind sie in aller Regel entweder geschichtlich oder beschränken sich auf eine wissenschaftlich anspruchslose Zusammenstellung und Erläuterung der einschlägigen Gesetzes- und Literaturpassagen. Noch über den Vormärz hinaus war durchaus erst ein Teil der neuen Verfassungsrechtsfragen schon erörtert. Zu den frühzeitig ausgiebiger erörterten Fragen gehören, wie nicht anders zu erwarten, die Struktur- und Kompetenzprobleme der neuen ständischen Kammern lO7 , sodann die von den Rechten der sog. Mediatisier103 Abgewogene Beurteilung der Leistung bei Angennann (s. Anm. 91) 77 ff.; aus dem älteren Schriftum Landsberg III 2 Text 408ff und vor allem E. v. Meier (s. Anm. 91). 104 Landsberg III 2 Text 409. 105 Gesch. u. Lit. II, 237-394. 106 Ebd., S. 395 - 602. 107 Vorzügliche Analyse des einschlägigen Schrifttums bei Brandt (s. Anm. 91).

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ten aufgeworfenenen Fragen, schließlich fürstliche Erbfragen, auch noch im 19. Jh. am häufigsten der Anlaß und Stoff für staatsrechtliche Gutachten. Dagegen hat den neuen budgetrechtlichen Fragen lange kein näheres Interesse gegolten 108, auch nicht den neuen staatsbürgerlichen Rechten. Die hohe Bedeutung der "Volksrechte" pflegt allerdings die ältere konstitutionelle Publizistik noch gern zu betonen, das Widerstandsrecht wird im vormärzlichen Schrifttum noch rege erörtert und z.T. eindeutig bejaht lO9 . Andererseits ist in Mohls akribischer Abhandlung über das neuere deutsche öffentliche Recht im zweiten Band seines literaturhistorischen Hauptwerkes durchaus nur eine einzige, wissenschaftlich auch nur unbedeutende Schrift zu den neuen Grundrechten in ihrer Gesamtheit erwähnt 110. Auch beim Blick in die staatsrechtlichen Kompendien und Lehrbücher bestätigt sich, daß vor den 50er Jahren die Grundrechte durchaus noch nicht als ein Gegenstand des staatsrechtsdogmatischen Interesses entdeckt sind l11 . Verwundern kann dies bei ihrer noch prekären Geltung im Frühkonstitutionalismus kaum: sie sind Zusicherungen von seiten der Obrigkeit, die in der rechtlichen Wirksamkeit noch zahlreichen empfindlichen Einschränkungen unterliegen können, so etwa schon wenn die Möglichkeit ihrer Geltungsbeschränkung durch die Bundesgesetzgebung ausdrücklich vorgesehen ist; überhaupt verheißen sie in der Regel erst nur eine Rechtsposition, die noch nicht als effektiv gewährleistet gelten kann; ihre wirkungsvolle Inanspruchnahme setzt noch weitere, dafür erst die Bedingungen schaffende Maßnahmen des Gesetzgebers und vor allem der Verwaltung voraus ll2 . In Reaktion auf die bisherige prekäre Wirksamkeit der Grund108 Zu deren langer Vernachlässigung K.H. Friauf, Der Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung, I, 1968, 177 f. Von den Schriften zu dem im Vormärz noch häufig erörterten Steuerverweigerungsrecht verdient Erwähnung: p.A. Pfizer, Das Recht der Steuerverwilligung nach den Grundsätzen der württembergischen Verfassung mit Rücksicht auf entgegenstehende Bestimmungen des deutschen Bundes, Stuttgart 1836. 109 Zum Widerstandsrecht im vormärzlichen Schrifttum M. Köhler (s. Anm. 97); zur Vereinigungsfreiheit F. Müller (s. Anm. 97). 110 E. Hermsdorf, Die allgemeinen politischen Rechte und Pflichten der Staatsgenossen in den constitutionellen Staaten des deutschen Bundes, Leipzig 1840; bei Mohl, Gesch. u. Lit. 11,309. 111 Erst c.F. Gerber hat in seiner Schrift Über öffentliche Rechte (1852) eine rechtsdogmatische Analyse der Grundrechte versucht, er bezeichnet daselbst S. 79 die Grundrechte als "objektive, abstrakte Rechtssätze über die Ausübung der Staatsgewalt". 112 Zur begrenzten rechtlichen Wirkung der frühkonstitutionellen Grundrechte R. Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jh., Der Staat 18 (1979) 321-348; auch U. Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jh., in: Festschr. E.R. Huber, 1973, 139 ff.; ders., Die Verwirklichung der bürgerlichen Gleichheit. Zur rechtlichen Bedeutung der Grundrechte in Deutschland zwischen 1780 und 1850, in: G. Birtsch (Hg.), Grundund Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, 376ff.; ders., Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jh., in: Der Staat. Beih. 4: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, 1980, 105 ff. Zu den süddeutschen Grundrechtsartikeln W v. Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, 1973.

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rechte wurde bekanntlich im Paulskirchenparlament auf die juristisch präzise Formulierung der Grundrechte ein hohes Gewicht gelegt ll3 . b) Abgesehen von einzelnen Lehrbüchern (Maurenbrecher, H.A. Zachariä), gibt es aus dem Vormärz ein eigentlich staatsrechtsdogmatisches Schrifttum noch kaum. Mahls Monographie über "Verantwortlichkeit der Minister in Einherrschaften" (1837) kann nicht als dogmatisch gelten: sie ist durchweg geschichtlich und politisch, d. h. Mohl berichtet weitschweifig über alle ihm bekannten, hauptsächlich englischen Fälle von Ministeranklagen, ohne daß er eine systematische verfassungsjuristische Einordnung des Instituts versucht. Auch die Schriften des rührigen Oppositionsliberalen Friedrich Murhard können, soweit sie die Erläuterung einzelner Verfassungsideen und -institute bezwecken 114, nicht als dogmatisch bezeichnet werden, erst recht nicht "Monarchie, Landstände und Bundesverfassung in Deutschland" (1836; nur 1. Bd.) von H.G. Reichard, eine am richtigsten unter die Kompendien des deutschen Staats- und Bundesrechts einzureihende Arbeit, schließlich auch nicht die nur eine verdienstliche Stoffzusammenstellung enthaltende Schrift "Ministerverantwortlichkeit in constitutionellen Monarchien" (1833; anonym) von Jahann Immanuel Buddeus. Am ehesten noch dürfte aus dem vormärzlichen Schrifttum die umstrittene Souveränitäts schrift Maurenbrechers den Ansprüchen an eine staatsrechtsdogmatische Untersuchung genügen. Erst mit earl Friedrich Gerbers 1852 erschienener kleiner Schrift "Über öffentliche Rechte" hält erstmals auch im Staatsrecht der neue Typus systematischer juristischer Begriffsuntersuchung den Einzug. Dem von Gerber ins Staatsrecht neu eingeführten Stil entspricht aber vor der Wende von 1866 bereits auch eine einzelne andere publizistische Abhandlung 115 . 2. Eine dem Staatsrecht gewidmete anerkannte Zeitschrift gab es im 19. Jh. lange nicht. Ein von Klüber 1816 begonnenes "Staatsarchiv des teutschen Bundes" war noch keine wissenschaftliche Zeitschrift, sondern Urkunden- und Aktensammlung, es sollte offensichtlich Klübers Edition der Wiener Kongreßakten durch die Aufnahme neuer Urkunden und Aktenstücke ergänzen und auf dem laufenden halten, wurde aber schon 1817 nach Abschluß des zweiten Bandes eingestellt 116 . So113 Zur Grundrechtskodifikation des Paulskirchenparlaments und ihrer Wirkung J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985; speziell zur Wirksamkeit programmatischer Doktrinen in den Grundrechtsberatungen des Paulskirchenparlaments W. Siemann, Die

Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform, 1976. 114 Solche Schriften Murhards sind: Die unbeschränkte Fürstenherrschaft, Kassel 1831; Über Widerstand, Empörung und Zwangsübung der Staatsbürger gegen die bestehende Staatsgewalt, Braunschweig 1832; Die Volkssouveränität im Gegensatz der sogenannten Legitimität, Kassel 1832; Die Initiative bei der Gesetzgebung, Kassel 1833. Zu Murhards schriftstellerischem Wirken H. Brandt (s. Anm. 91) 266-68 (mit Lit.). 115 So von H.A. Zachariä: Über die Haftungsverbindlichkeit des Staats aus rechtswidrigen Handlungen und Unterlassungen seiner Beamten, ZgesStW 19 (1863) 582ff. Zu dieser Arbeit Zachariäs M. Heidenhain, Amtshaftung und Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff, 1965, 24 ff.

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weit bis in den Nachmärz ein dem Staatsrecht zugewandtes Periodikum auftaucht, war es ohne ein auffallendes Echo. Nicht als Buchveröffentlichung geeignete staatsrechtliche Abhandlungen mußten in den für andere Rechtsgebiete zuständigen Zeitschriften oder den allgemeinen rechtswissenschaftlichen und sonstigen Zeitschriften erscheinen; so Maurenbrechers Bericht "Über den gegenwärtigen Stand des staatsrechtlichen Studiums in Teutschland" in Pölitz' Jahrbüchern für Geschichte und Politik (1837 11), so W.E. Albrechts "berühmte", aber lange nicht beachtete Besprechung von Maurenbrechers "Grundsätzen" in den Göttingisehen Gelehrten Anzeigen (1837), so Stahls umfänglichere Besprechung der Souveränitätsschrift Maurenbrechers in den Kritischen Jahrbüchern für deutsche Rechtswissenschaft (1841 I), so Mahls erstmalige Übersicht über das staatsrechtliche Schrifttum seit der Gründung des Deutschen Bundes in der Deutschen Vierteljahrs-Schrift (1842 H. 2; 1843 H. 1). Bei der hohen Bedeutung, die der Gründung wissenschaftlicher Zeitschriften für die Erneuerung der deutschen Rechtswissenschaft im 19. Jh. zukommt, kann für den langen wissenschaftlichen Stillstand des Staatsrechts kaum etwas als bezeichnender als der Umstand gelten, daß es lange ohne ein eigenes fachliches Organ gewesen ist. Von den im Vormärz neu erschienenen rechtswissenschaftlichen Zeitschriften hatte die von August Ludwig Reyscher und Wilhelm Eduard Wilda begründete ,,zeitschrift für das deutsche Recht und deutsche Rechtswissenschaft" (1839 -1861) an sich auch das deutsche Staatsrecht zu ihrem Gebiet, staatsrechtliche Abhandlungen kommen daselbst aber kaum vor. Ein 1840 von Buddeus begründetes "Staatsarchiv" ging schon 1844 mit dessen Ableben wieder ein, namhafte Autoren hat es zu Mitarbeitern nicht gewonnen. Das im Nachmärz nur unregelmäßig erschienene "Archiv für das öffentliche Recht des deutschen Bundes" (4 Bde. 1850-63) enthält im wesentlichen nur Beiträge seines Herausgebers, des Gießener Strafprozeßualisten und österreichischen Bundestagsgesandten lustin T.B. (von) Linde (17971870)117.

Die Gründung einer staatsrechtlichen Zeitschrift, und zwar mit "Staatsrecht" im Namen und auf zeitgemäßer wissenschaftlicher Höhe stehend, kam doch noch vor 1866 zustande. Das ambitionierte Organ, die von Ludwig Karl Aegidi (18251901)118 in Verbindung mit Albrecht, Mahl, Waitz und H.A. Zachariä herausgegebene ,,zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte", überlebte jedoch nicht den Umsturz von 1866 (nur 1. Bd. [4 Hefte] 1865/67) und fiel in der Folge der Vergessenheit anheim, erst in neuerer Zeit wurde ihm die ver-

116 Kurzlebig war auch ein in Weimar herausgegebenes Allgemeines Staats-VerfassungsArchiv (3 Bde. 1816117). Über die wenigen Organe bis zur Mitte der 50er Jahre, die sich dem öffentlichen Recht einordnen lassen, auch Mahl, Gesch. u. Lit. 11, 285 f. 117 Über ihn Landsberg III 2 Text 380ff., Noten 178f.; ADB 18,265. 118 Nach Habilitation in Göttingen 1857 Professor der Rechte in Erlangen, ab 1859 für die preußische Regierung tätig, 1871 Vortragender Rat im neuen Auswärtigen Amt in Berlin, Professor für Staats-, Völker- und Kirchenrecht an der Berliner Universität. Als Student Achtundvierziger, war Aegidi nationalliberales Mitglied des Norddeutschen Reichstags und danach als Freikonservativer des preußischen Abgeordnetenhauses; NDB 1,88.

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diente Beachtung zuteil ll9 . Die ältere konstitutionelle Staatsrechtswissenschaft und die sich ankündigende neue formalistische begegnen in dessen einzigem Band nebeneinander. So setzen sich mit Gerbers gerade 1865 erschienenen neuartigen "Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts" Mohl und Hermann Schulze auseinander, und zwar Mohl in einer letztmaligen Literaturübersicht zum deutschen Staatsrecht aus seiner Feder l20 , Schulze in einer Abhandlung, die überhaupt erstmals Ziele und Methodik des deutschen Staatsrechts diskutiert l21 , auch die anschließende Abhandlung Helds 122 greift dieses Thema auf. Andererseits ist Gerber im neuen Organ mit einer modernen rechtsdogmatischen Abhandlung vertreten, die von seinem neuen Staatsbegriff ausgeht: "Über die Theilbarkeit deutscher Staatsgebiete,,123. Ihr stilgleich sind im neuen Organ die unter der Chiffre "E.A. Chr." veröffentlichten "Studien über das preußische Staatsrecht" von Ernst August von Stockmar (1823 _1886)124, mit ihnen bricht schon die Lehre vom sog. doppelten Gesetzesbegriff durch. Ungeachtet seiner schnellen Einstellung war das vielversprechende neue Organ ein Wendepunkt.

119 Durch v. Oertzen. Soziale Funktion 154 ff. und R. Smend. Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren - und heute, Festsehr. Adolf Amdt. 1969, 451 ff.; auch in Smend 609 ff. Über die Gründe. weshalb das neue Organ schnell eingestellt wurde, haben auch diese beiden Autoren nichts ausfindig machen können, möglicherweise spielten dabei politische Ambitionen Aegidis eine Rolle. 120 Bemerkungen über die neuesten Bearbeitungen des allgemeinen deutschen Staatsrechts 354-384 (zu Gerber 367 ff.). 121 Über Princip. Methode und System des deutschen Staatsrechts, 417-451 (zu Gerber 436. 444ff.). Zur Auseinandersetzung Schulzes und Mohls mit Gerbers neuem Staatsrechtssystem v. Oertzen. Soziale Funktion 239 ff. sowie auch noch unten § 15 IV 3. l22 Über den Begriff des Staatsrechts im allgemeinen und den des deutschen insbesondere, 452-476. 123 S.5-24. 124

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S. 179ff., 196ff., 221 ff., 477ff. Zur Biographie Stolleis. Gesch. 11, 342 Anm. 160.

Friedrich

§ 14. Die wissenschaftliche und politische Bedeutung des gemeinen deutschen Staatsrechts des 19. Jahrhunderts I. Quellen- und Methodenprobleme des gemeinen deutschen Staatsrechts. - II. Die Kritik an der gemeindeutschen Publizistenschule, insbesondere Albrechts Methodenkritik. - m. Das gemeine deutsche Staatsrecht als nationales und konstitutionelles Einheitssymbol.

I. 1. Was zur Zeit des Deutschen Bundes als ein öffentliches Recht für Deutschland vorgetragen wurde, wird gewöhnlich als das "gemeine deutsche Staatsrecht" bezeichnet 1. Ob es diese Bezeichnung berechtigterweise verdient, ist jedoch die Frage. Verneint man dies, so muß richtiger von einem allgemeinen deutschen Staatsrecht gesprochen werden. Unter dem Begriff ..allgemeines deutsches Recht" versteht man im Unterschied zum ..gemeinen deutschen Recht" solche Rechtsinstitute und -sätze, die allgemein in Deutschland gelten, aber nicht aufgrund ihrer Anordnung durch eine deutsche Autorität, sondern weil sie übereinstimmend durch die partikularen Rechtsetzungen angeordnet sind. Dagegen ist es für den Begriff des ..gemeinen deutschen Rechts" spezifisch, daß die damit gemeinten Sätze auf den Erlaß durch eine deutsche Autorität, also auf eine für Deutschland einheitlich gegebene Rechtsquelle zurückgeführt werden können 2 • Daß es für die Gegenwart auch auf dem Gebiet des Staatsrechts auf eine solche Quelle zurückführbare, also unmittelbar geltende gemeindeutsche Rechtssätze und -regeln noch gab, war im Vor- und Nachmärz unbestritten, dies ließ sich auch desI In neuerer Zeit hat C. Schmitt, Das "allgemeine deutsche Staatsrecht" als Beispiel rechtswissenschaftlieher Systembildung, ZgesStW 100 (1940) 5 ff. das gemeine und allgemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jh. erstmals wieder zur Diskussion gestellt. Seine Abhandlung sieht jedoch vom Unterschied zwischen "gemeinem" und "allgemeinem" deutschen Recht ab, sie vermittelt daher nach Hespe 47 Anm. 42 das unrichtige "Bild einer lediglich durch französische Einflüsse in Bewegung gesetzten Wissenschaftsgeschichte". Zum folgenden ergänzend M. Friedrich, Die Erarbeitung eines allgemeinen deutschen Staatsrechts seit der Mitte des 18. Jh., JöR N.F. 34 (1985) 1 ff., bes. 15 ff.; unter dem Aspekt der Quellenproblematik Hespe 47 ff. Vgl. auch Stolleis, Gesch. 11, 96 ff. 2 So die schließlich allgemein in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jh. sich durchsetzende Ansicht. Vgl. dazu Anm. 4.

§ 14. Das gemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts

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halb überhaupt nicht bestreiten, da das Bundesrecht, soweit es ins einzelstaatliche Verfassungsrecht eingriff, geltendes Staatsrecht für Deutschland war, und zwar ein absolut geltendes, den partikularen Rechtsnonnen zwingend vorgehendes. Was über das Bundesrecht hinaus dem aktuellen "gemeingültigen" deutschen Staatsrecht noch zugezählt werden durfte, also im wesentlichen von dem öffentlichen Recht des Alten Reiches, dies blieb allerdings in der vor- und nachmärzlichen Publizistik immer ungeklärt. Gewöhnlich wurde auch einem Teil des älteren öffentlichen Rechts die noch immer aktuelle gemeindeutsche Geltung nicht abgesprochen, nämlich soweit die Anwendung der in Rede stehenden Rechtsbestimmungen zum einen sachlich noch möglich war, zum anderen nicht zwingend durch neuere Rechtsetzungen ausgeschlossen war. Es war auch unbestritten, daß einem Staatsrechtssatz vom partikularen Recht die ihm zukommende gemeindeutsche Geltung nicht entzogen werden konnte. Die partikularen Rechtsetzungen konnten jedoch nach und nach die Anwendbarkeit eines gemeindeutschen Staatsrechtssatzes in einem so weiten geographischen Umfang erübrigen, daß sich von dessen aktueller gemeiner Geltung nicht mehr ernstlich reden ließ. Was jedoch auch immer als ein gemeindeutsches öffentliches Recht beansprucht wurde, ihm kam vom Bundesrecht abgesehen, wie dies schlechterdings das Merkmal des für Deutschland gemeinen Rechts war, nur subsidiäre Geltung im Verhältnis zu dem für das besondere Rechtsgebiet positiv gegebenen Recht zu 3 . Ansonsten war aber die Geltung eines gemeindeutschen Staatsrechtssatzes wie jedes gemeinrechtlichen deutschen Satzes nicht beschränkt. 2. Auch den neuen staatlichen Verfassungsgesetzen wurde von der konstitutionellen Publizistik eine deutsche gemeinrechtserzeugende Wirkung zugesprochen. So konnten die in jenen nicht ausgesprochenen Folgerungen aus der "eigentümlichen rechtlichen Natur" der konstitutionellen Staatsordnung und ihrer Einrichtungen als ein echtes gemeindeutsches öffentliches Recht angesehen werden, das für alle jene Staaten praktische Anwendung finden durfte, in denen bereits eine Verfassungsurkunde eingeführt und ein bestimmtes neueres Verfassungsinstitut, mit welcher Modifizierung auch immer, rezipiert war. Demgemäß wurden unter den Quellen des heutigen deutschen Staatsrechts regelmäßig auch die neuen staatlichen Verfassungsgesetze aufgeführt, nach 1850 konnte jenen auch klar die größte praktische Bedeutung unter allen für das heutige deutsche Staatsrecht in Betracht kommenden Quellen bescheinigt werden. Man wird daher nicht sagen können, daß in der Zeit des Deutschen Bundes das gemeindeutsche Staatsrecht den Publizisten als eine mit der Zeit unaufhaltsam schrumpfende und überhaupt wegfallende Größe gegolten hat. Einen Vorwurf deswegen, weil der Auseinandersetzung mit der Frage immer ausgewichen worden ist, wieweit das als ein ,,heutiges deutsches Staatsrecht" 3 Die subsidiäre Weitergeltung des gemeinen Privatrechts über die staatsrechtliche Zäsur von 1806 hinaus war spätestens ab 1815 völlig unbestritten, mit ihrer Bestreitung hätte die deutsche Rechtswissenschaft auch überhaupt ihre Fortexistenz verneint.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Gelehrte noch ein gültiges gemeindeutsches Recht ist, wird man gerechterweise zumindest den vormärzlichen Publizisten nicht machen können, nämlich da sich die deutsche Rechtswissenschaft überhaupt erst zu den40er Jahren auf einen anerkannten Begriff des "gemeinen deutschen Rechts" hat einigen können. Danach kam nun einem Rechtssatz die Qualität positiver gemeindeutscher Geltung nur zu, wenn er sich nachweislich aus einer einheitlich für Deutschland gegebenen Rechtsquelle herleiten ließ 4 . Bezeichnenderweise setzte sich dieser positivistisch nur die Quelle als Unterscheidungsmerkmal anerkennende Begriff des "gemeinen deutschen Rechts" erst durch, als der Konstitutionalisierungsprozeß der deutschen Staaten bereits vor dem Abschluß stand und sich die Kodifikationsbestrebungen wieder dem Privatrecht zuwenden konnten. Auch in der nachmärzlichen Publizistik wurde jedoch der damit als geklärt gelten könnende Begriff des "gemeinen deutschen Rechts" durchaus nicht allgemein übernommen. So legen ihn zwar Zachariä und H. Schulze zugrunde5 , Zöpjl dagegen hält auch in der letzten Auflage seiner "Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts" (1863) an der gemeinrechtserzeugenden Kraft des sog. "Parallelismus" der Partikularrechte fest 6 . 3. In keiner Darstellung des deutschen Staatsrechts aus der Zeit des Deutschen Bundes ist der äußeren Form nach das für Deutschland gemeingültige Staatsrecht von dem allgemeinen, nicht imperativen deutschen Staatsrecht unterschieden. Eine solche Unterscheidung hätte sich auch nicht durchführen lassen, nämlich da das gemeingültige Staatsrecht in der Regel nur aus Grundsätzen bestand, bei deren Erläuterung nicht von den sie sinngemäß voraussetzenden, ihre Geltung vervollständigenden partikularen Rechtsnormen abgesehen werden konnte. Wenn daher ein Kompendium des ,,heutigen deutschen Staatsrechts" einigermaßen vollständig seinen Stoff enthalten wollte, konnte es in der Hauptsache nur als eine nach Materien und Themen gegliederte "Statistik" der Landesstaatsrechte mit tunlicher Berücksichtigung des gemeindeutsches Bestandteils angelegt sein. Bezeichnenderweise wurde gerade jenes Staatsrechtslehrbuch, dessen Autor es vorzüglich darauf ankommt, die gemeinrechtliche Qualität eines deutschen Staatsrechtssatzes durch die unumgängliche Hinzunahme partikularer Vorschriften nicht zu verwischen, 4 Klarstellend in diesem Sinne war vor allem Heinrich Thöl mit der gegen Georg Beseler sich richtenden Streitschrift: Volksrecht. Juristenrecht. Genossenschaften. Stände. Gemeines Recht, Rostock und Schwerin 1846, 6ff. Außerdem sind aus der im frühen zweiten Jahrhundertdrittel rege geführten Diskussion über den Begriff des "gemeinen deutschen Rechts" als wichtige Beiträge zu erwähnen: K.G. Waechter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere gemeines deutsches Strafrecht, Leipzig 1844; A.L Reyscher, Die Einheit des gemeinen deutschen Rechts und dessen Verhältnis zu den fremden Rechten, ZDR 9 (1845) 327 ff.; ders., Begriff des gemeinen deutschen Rechts, ZDR 10 (1846) 153 ff. 5 Siehe Zachariä, Art. Deutsches Staatsrecht, in: Deutsches Staatswörterbuch, hg. v. Bluntschli unter Mitredaktion von C. Brater, 2. Bd. (1857) 737 ff., 739; H. Schulze, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, Leipzig 1865, 9f. sowie ders., Über Princip, Methode und System des deutschen Staatsrechts, in: Aegidis Zeitsehr. (1867) 427 ff. 6 Siehe Zöpjl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, 1. Th., 5. Auf!. 1863, 130f.

§ 14. Das gemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts

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dasjenige Zachariäs, als eine nützliche "Staatsrechts-Statistik", und zwar mit eher abwertendem Unterton charakterisiert7 . Als eine "Staatsrechts-Statistik" liegt natürlich das allgemeine deutsche Staatsrecht nicht auf der tonangebenden Linie der neuen geschichtlich-systematischen Rechtswissenschaft. Mit seiner Aufstellung war nicht, wie es das Programm der aus geschichtlichem Geist methodisch und systematisch erneuerten Rechtswissenschaft war, von den Rechtsverhältnissen und -sätzen auf die Rechtsinstitute zurückgegangen, das neue wissenschaftliche Ziel: "Construction" des Rechtsstoffs, "organische" Erzeugung der Rechtssätze aus den ihnen zugrundeliegenden Ideen und Begriffen, war mit der von den gemeindeutschen Publizisten gepflegten älteren Darstellungsform des "enzyklopädischen" Systems nicht zu erreichen 8 . Und dennoch arbeiteten die vom Typus des "wissenschaftlichen Systems" von der Art des neuartigen Staatsrechtssystems earl Friedrich von Gerbers (1865) noch unbedingt entfernten "Systeme" eines deutschen Staatsrechts der Begründung einer methodisch und systematisch selbständigen einheitlichen Staatsrechtswissenschaft vor. Wurde doch die Abhängigkeit des positiven Staatsrechts von einer metapositiven Staatsrechtstheorie dadurch abgebaut, daß nun zwischen jener, d. h. dem gewohnten, von geschichtlich-kulturellen Unterschieden absehenden "philosophischen" Staatsrecht und den positiven Staatsrechten in Deutschland ein allein auf Deutschland sich beziehendes, aus den besonderen deutschen Staatsrechten erarbeitetes allgemeines Staatsrecht eingeschoben war. Damit sollte jedoch nicht auch schon das übliche allgemeine Staatsrecht als die unentbehrliche theoretische Grundlagendisziplin für das positive Staatsrecht abgestoßen sein. Dies wäre auch nur der Fall gewesen, wenn die deutschen Publizisten die Begründung der obersten Staatsrechtsprinzipien nicht mehr anders als aus dem positiven Staatsrecht selbst heraus für möglich gehalten hätten; eben dies war jedoch erst der Standpunkt Gerbers in seinen "Grundzügen" von 1865, nicht bereits eines bekannten Publizisten vor ihm. In der Regel bildet denn auch in einem vor- und nachmärzlichen "Systern" des deutschen Staatsrechts das gewohnte allgemeine Staatsrecht noch die "Einleitung" oder es sind ihm allgemeine staatsrechtliche "Grundbegriffe,,9 vorangestellt; Maurenbrecher; der als erster schon im Vormärz dem allgemeinen Staatsrecht eine andere als theoretische Bedeutung abspricht, beginnt seine "Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts" sogar mit einem dem allgemeinen Staatsrecht 7 So bezeichnet c.F. Gerber; Über öffentliche Rechte, Tübingen 1852, 12 Zachariäs Handbuch als eine "systematische Staatsrechts-Statistik mit sachgemäßer Gruppierung verwandter staatsrechtlicher Erscheinungen"; ähnlich das aber zu abwertende Urteil über Zachariäs Handbuch bei Mohl, Gesch. u. Lit. 11, 292: "bloß statistische oder synchronistische Nebeneinanderstellung der einzelnen Landesgesetzgebungen". 8 Den Unterschied zwischen "Enzyklopädie" und "wissenschaftlichem System" sieht v. Oertzen, Soziale Funktion 67 als die eigentliche methodische Verschiedenheit der "älteren" und "neueren" Schule in der Staatsrechtslehre des 19. Jh. an. 9 So die Überschrift des Ersten Abschnitts von O. Mejers Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 1861.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

vorbehaltenen eigenen Buch und unterstreicht damit dessen Unentbehrlichkeit als theoretische Grundlagendisziplin. 4. Für die akademische Lehre des Staatsrechts im Zeitalter des Friihkonstitutionalismus ist die Zusammenfassung des deutschen und des allgemeinen Staatsrechts zu einer Vorlesung durchaus typisch. Die staatsrechtliche Vorlesung kann sich aber auch auf das deutsche Staats- und Bundesrecht beschränken, für die Universitäten im konstitutionellen Deutschland ist dies aber eher untypisch. Daß allein das deutsche Staats- und Bundesrecht als Vorlesung vorgetragen wird, muß nicht in der Bevorzugung der Darstellung eines positiven Rechtsstoffs durch den Dozenten den Grund haben. Der Grund kann auch in den politischen Zeitverhältnissen und im politischen Klima des betreffenden Staates liegen; so war im vonnärzlichen Preußen der Vortrag des allgemein-constitutionellen Staatsrechts praktisch unmöglich oder zumindest unerwünscht. Eine Vorlesung allein über das allgemeine Staatsrecht ist für die Zeit des Deutschen Bundes auch für die Universitäten im konstitutionellen Deutschland eher ungewöhnlich, einigennaßen regelmäßig scheint eine solche Vorlesung nur in Heidelberg angeboten worden zu sein lO • Nach 1850 taucht "Allgemeines Staatsrecht" öfter in der Verbindung mit "Politik" als Vorlesungsbezeichnung auf!!. Das besondere Staatsrecht des eigenen Staates konnte wohl auch im Falle eines so ansehnlichen Mittelstaates wie Bayern schon beim engen sachlichen Zusammenhang mit dem deutschen Staats- und Bundesrecht nur in Verbindung mit demselben vorgetragen werden, seine isolierte Behandlung hätte in der Regel auch nicht mit Hörerinteresse rechnen können. Es war daher üblich, daß in der Vorlesung über das deutsche Staats- und Bundesrecht auch das partikulare Staatsrecht des Einzelstaates, in welchem die Universität lag, mitbehandelt wurde, mitunter konnte im Vonnärz das letztere auch in einer Vorlesung über die Staatsrechte mehrerer deutscher monarchisch-konstitutioneller Staaten untergebracht sein!2. Dies berichtet jedenfalls H. Schulze, Über Princip (s. Anm. 5) 435 f. Zur Entwicklung der Vorlesung über "Allgemeines Staatsrecht" und ihre Ablösung durch die Vorlesung über "Allgemeine Staatslehre" um 1900 H. Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Ih., AöR 99 (1974) 559 f.; siehe auch oben § 12 I 4. 12 Einige Nachweise zu den staatsrechtlichen Vorlesungen im Vor- und Nachmärz sollten nicht fehlen. In Heidelberg las K.S. Zachariä vom Ss 1824 bis Ss 1838 regelmäßig über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht" (danach teilte er diese Vorlesung in ihre beiden Bestandteile); auf die auf das Sommersemester gelegte Vorlesung über "Allgemeines Staatsrecht" folgte im Wintersemester eine Vorlesung über "Verfassungsrecht der Einherrschaft mit einer Volksvertretung (mit Rücksicht auf die Verfassungsurkunden deutscher Staaten)". Auch Zöpjllas in Heidelberg vom WS 1828/29 bis zum WS 1839/40 (mit Unterbrechungen) über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht", jedoch auch über "Verfassungsrecht der constitutionellen Monarchien Deutschlands" und, aber unregelmäßig, über ,,Badisches Staatsrecht in Verbindung mit dem gemeinen deutschen Staats- und Bundesrecht". Auch in Göttingen las WTh. Kraut, der Vertreter des deutschen Rechts, vom WS 1851/52 bis WS 1863/64 regelmäßig über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht", nicht aber zuvor WE. Albrecht, auch nicht H.A. Zachariä, die beide sich auf den Vortrag des deutschen Staats- und Bundes10

II

§ 14. Das gemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts

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11. 1. Die stoffvermengenden "Systeme" eines deutschen Staatsrechts waren nicht die Zielscheibe zeitgenössischer wissenschaftlicher Kritik. Nur vereinzelt ist im Vormärz ihr typischer konfundierender Stil kritisiert worden, und zwar kaum mit Echo. Auch überhaupt wurden im Staatsrecht Methodenfragen bis in den Nachmärz nicht diskutiert. Erst Aegidis neue Zeitschrift enthält im letzten Heft von 1867 eine Abhandlung von Hermann Schulze zur Methodenfrage im deutschen Staatsrecht 13 , überhaupt die einzige Abhandlung zu diesem Thema aus der gesamten Zeit seit Gründung des Deutschen Bundes. Ein Unbehagen an den jüngeren Leistungen der Disziplin läßt sie nicht erkennen, auch nicht einen Zweifel an der weiteren wissenschaftlichen und praktischen Daseinsberechtigung der Disziplin. Als vormärzlicher Kritiker der von Klüber angeführten gemeindeutschen Staatsrechtssysteme ist zunächst Mohl zu erwähnen. In mehreren Zeitschriftenabhandlungen und Rezensionen aus seiner Tübinger Zeit ist er den Systemen eines deutschen Staatsrechts mit dem positivistischen Einwand begegnet, daß es mit Ausnahme seines bundesrechtlichen Bestandteils ein solches Staatsrecht nicht im positiven Rechtssinne gibt 14 . Konsequenterweise hat Mohl auch nach 1850 die Frage, wie sich ein deutsches Staatsrecht am richtigsten organisieren läßt, mehr nur als ein Denkspiel erörtert; immerhin schwächte er im zweiten Band seiner "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" seine älteren Angriffe auf die Aufstellung eines deutschen Staatsrechts, weil sie ihm als eine national politische Tat dünkt, bedeutend abiS. 2. Eine vom Geist der historischen Schule durchdrungene, aber von den Zeitgenossen und noch mehr von der nächsten Generation nicht beachtete Methodenkrirechts beschränkten und das allgemeine Staatsrecht auch nicht in einer eigenen Vorlesung behandelten. Auch für Gießen ist die frühzeitige regelmäßige Zusammenfassung des allgemeinen und des deutschen Staatsrechts zu einer Vorlesung nachweisbar. In Bonn las Maurenbreeher wiederholt nur über "Staatsrecht" (SS 1834 bis SS 1840), im SS 1836 aber auch über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht"; diese Vorlesung nahm er jedoch nicht wieder auf, an ihre Stelle trat "Deutsches und preußisches Staatsrecht", sodann "Deutsches Staatsrecht". In München las in den 40er Jahren E. y. Moy über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht", z.T. mit Einbeziehung auch des vormaligen deutschen Reichsstaatsrechts; sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für bayerisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht J. Pözl las ebenfalls über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht", außerdem über "Bayerisches Verfassungsrecht" ("Bayerisches Staatsrecht"), über "Bayerisches Verwaltungsrecht", über "Literatur der Staatsrechtswissenschaft" sowie über "Politik". Auch J.c. Bluntsehli begann 1849 seine Münchener Lehrtätigkeit mit einer Vorlesung über "Allgemeines und deutsches Staatsrecht", später schied er das deutsche Staatsrecht aus und trug, außer "Deutscher Staats- und Rechtsgeschichte", nur noch das Allgemeine Staatsrecht vor. 13 Über Princip etc. (s. Anm. 5). 14 Siehe die Nachweise in meiner Abhandlung: Robert Mohls Auseinandersetzung mit dem allgemeinen deutschen Staatsrecht des 19. Jh., in: Politik, Philosophie, Praxis (Festschr. W. Hennis), 1988, 116ff. 15 Vgl. Mohl, Gesch. u. Lit. 11, 286ff., 295.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

tik an der von Klüber angeführten gemeindeutschen Publizistik trug 1837 Wilhelm Eduard Albrecht (1800-1876)16 in seiner "berühmten" Rezension von Maurenbrechers Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts vor 17 . Seinem literarischen Oeuvre nach kann Albrecht durchaus nur als eine Randfigur im staatsrechtlichen Fach gelten, seine gemessen an anderen zeitgenössischen Rezensionen keineswegs überlange Maurenbrecher-Rezension ist im übrigen sein einziger erwähnenswerter literarischer Beitrag zum Staatsrecht l8 . Thren prominenten Platz in der Dogmen- und Wissenschafts geschichte verdankt bekanntlich diese Rezension der ihr zugeschriebenen, immer wieder als erstmalig gerühmten Formulierung des modernen staatlichen Persönlichkeitsbegriffs. Die Originalität dieses Verdienstes kann jedoch mit Recht bezweifelt werden 19. AIbrecht betrachtet die von ihm vorgetragene Ansicht vom Staat als ,juristische Person" auch nicht als erstmals von ihm vorgetragen, sondern bezeichnet sie als eine heutzutage "überwiegend herrschende". Die vielzitierte Stelle aus seiner Rezension, wo der Begriff ,juristische Person" in bezug auf den Staat auftaucht, sollte zur besseren Klarstellung des historischen Stellenwerts seiner Rezension auch hier im Wortlaut wiedergegeben werden: "Wir denken uns heutzutage (wenigstens läßt sich dieses als eine überwiegend herrschende Ansicht betrachten) den Staat nicht als eine Verbindung von Menschen, die lediglich und unmittelbar für individuelle Zwecke und Interessen derselben, sey es Aller oder Vieler oder auch eines Einzel16 Über ihn, einen der Göttinger Sieben, Landsberg III, 2 Text 318 ff., Noten 148 f.; ADB 45,743; NDB I, 1185. 17 In: GöttGelAnz 1837, S. 1484-1504, 1508-1515; Nachdr. Darmstadt 1962. 18 Die Annahme Landsbergs III 2 Text 326, daß die Bemerkungen in Albrechts Rezension zur juristischen Persönlichkeit des Staates "offenbar aus des Verfassers aufgegebenen Studien zu einer Monographie über die juristische Person als wertvollster Bestandteil hierher hinübergerettet" worden seien, läßt sich nicht nachweislich halten. Der Inhalt der Rezension spricht eher dafür, daß die von Landsberg gemeinten Studien Albrechts einem Lehrbuch des deutschen Staatsrechts gegolten haben. Albrecht las in Göttingen und danach in Leipzig regelmäßig über deutsches Staatsrecht (in Leipzig war Gerber ein Hörer); ein günstiges Urteil über die Göttinger staatsrechtlichen Vorlesungen im Konzept eines Briefes K.F. Eichhorns an Savigny v. 17. 10. 1838, abgedruckt in J.F. v. Schulte, Karl Friedrich Eichhorn. Sein Leben und Wirken nach seinen Aufzeichnungen, Briefen, Mitteilungen etc., Stuttgart 1884, 212 f. Albrechts einzige größere Arbeit ist zivilrechtlich und behandelt die Gewere (1828), sie gilt als das germanistische Seitenstück zu Savignys Recht des Besitzes (1803). 19 Die geläufige Hochschätzung von Albrechts Rezension als Begründung des staatlichen Rechtspersönlichkeitsdogmas noch in neuerer Zeit etwa bei Häfelin 84 ff., 86: Albrecht habe "als erster die seit dem Naturrecht des 16. Ih. geläufige Formel der Rechtspersönlichkeit des Staates in strenger juristischer Konsequenz als Zentralbegriff des Staatsrechtsystems" durchgeführt. Anders dagegen die Beurteilung bei H. Zwirner, Politische Treupflicht des Beamten. Unveränderter Druck d. Diss. v. 1956 mit drei neueren Beitr., 1987, 96f.: Albrechts Staatsanschauung unterscheide sich "von zeitgenössischen idealistischen Strömungen, die den Begriff der ,Persönlichkeit', der ,Gesamtperson " mit dem Staatsbegriff verbinden, nur durch die Beifügung des Epitheton ,juristisch"'. Zur Wirkungsgeschichte zahlreiche Nachweise bei B. Urbaschek, Empirische Rechtswissenschaft und Naturrecht. Der Beitrag Romeo Maurenbrechers zur Rechtslehre des 19. und 20. Ih., 1966, 46 ff. Eingehend zur Albrecht-Maurenbrecher-Kontroverse Quaritsch, Staat u. Souv. 487 ff., neuerdings noch Pauly 74 ff.

§ 14. Das gemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts

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nen, namentlich etwa des Herrschers, berechnet ist, sondern als Gemeinwesen, als eine Anstalt, die, über den Einzelnen stehend, zunächst Zwecken gewidmet ist, die keineswegs bloß die Summe individueller Interessen des Herrschers und der Unterthanen, sondern ein höheres, allgemeines Gesamtinteresse bilden, von wo aus erst mittelbar jenen Nahrung, Förderung, Richtung zutheil wird. Somit zerlegt sich das Leben des Einzelnen (Herrscher und Unterthanen) in zwei Partien, die eine, in der er um jenes Allgemeinen willen, im Namen und Dienste des Staats, als Haupt oder Glied desselben, berechtigt oder verpflichtet ist, die andere, in der er, als selbständiges Individuum, um seiner selbst willen Rechte, oder um eines Anderen willen Verpflichtungen hat. Indem wir somit in Beziehung auf das erste Gebiet dem Individuum alle selbständige juristische Persönlichkeit (das um seiner selbst willen Berechtigt-seyn) absprechen, werden wir notwendig dahin geführt, die Persönlichkeit, die in diesem Gebiet herrscht, handelt, Rechte hat, dem Staate selbst zuzuschreiben, diesen daher als juristische Person zu denken; und dieses, richtig verstanden, hält Ref. für die Grundformel derjenigen Auffassung des Staates, die er die wahrhaft staatsrechtliche genannt hat.,,2o Wie der vielzitierten Passage zweifelsfrei entnommen werden kann, ist die von Albrecht als "überwiegend herrschende" bezeichnete Ansicht keine andere als die für die gesamte ältere konstitutionelle Staats- und Staatsrechtslehre typische "geschichtlich-organische". So ist wie bei anderen vor- und nachmärzlichen Autoren auch bei Albrecht der Staat ein "Gemeinwesen", er ist, mit Stahls Ausdruck, den Albrecht aus dessen bereits vorliegender Rechtsphilosophie entnehmen konnte, "eine Anstalt", und allein deshalb kann er ihm zufolge als eine ,juristische Person" gedacht werden. An die Ansicht vom Staat als ,juristischer Person" knüpft Albrecht in seiner Rezension deshalb an, weil er zu zeigen wünscht, daß das in jüngerer Zeit an wissenschaftlichem Fortschritt hinter dem Privatrecht so auffallend zurückstehende Staatsrecht durchaus zu einer wissenschaftlichen Verbesserung fahig sein kann, und zwar weil auch im Staatsrecht "trotz der großen Mannigfaltigkeit im Einzelnen sich doch eine gewisse Einheit der Grundideen entdecken läßt,,21. Damit muß AIbrecht die Klüber-Maurenbrechersche Amalgamierung des in die Gegenwart noch herüberragenden älteren Territorialstaatsrechts mit dem inzwischen auch für Deutschland entstandenen repräsentativ-konstitutionellen Staatsrecht prinzipiell ablehnen. Denn damit werde die "Divergenz" in den Grundideen zwischen "älterem" und "neuerern" öffentlichen Recht verwischt: das ältere Territorialrecht, das die private Sphäre des Herrschers noch nicht von der öffentlichrechtlichen trennt, hat nach Albrecht noch "durchgängig oder vorzugsweise privatrechtliche Farbe", die Farbe des im Staatspersonbegriff sein Zentrum besitzenden "neueren" Staatsrechts möchte er hingegen "eine staatsrechtliche im eminenten Sinne des Wortes" nennen 22 . Damit läuft Albrechts Methodenkritik an der gemeindeutschen Publizi20 21

22

GöttGelAnz 1837, 1491 f. Ebd., S. 1490. Ebd., S. 1491.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechts1ehre

stenschule auf die Forderung hinaus, daß im deutschen Staatsrecht zwei Ideenkreise, denen "zwei verschiedenen Perioden des Staatsrechts,,23 entsprechen, unterschieden werden müssen, und zwar auch in dem Sinne, daß "die Mannigfaltigkeit im einzelnen" auf den jeweils prägenden Ideenkreis zurückgeführt werden muß. Die Möglichkeit systematischer Aufstellung des heutigen deutschen Staatsrechts sollte mit dieser Forderung, dem Bekenntnis zum stoftbewußten Arbeitsstil der neuen geschichtlichen Rechtswissenschaft, wohl nicht bestritten sein. Andererseits sollte aber doch nach Albrechts Vorstellung das deutsche Staatsrecht in zwei Grundsysteme zerlegt werden: in ein System für das privatrechtlich gefärbte "ältere" öffentliche Recht und ein System für das "neuere", allein genuin staatsrechtliche. Und zudem war wegen der in der deutschen Staatenwelt divergierenden staatsrechtlichen Entwicklungsrichtungen, nämlich entweder zu dem einen oder anderen System hin zu entscheiden, welches von beiden Systemen" im Zweifel als Grundlage und Ausgangspunkt für die Construction des heutigen Staatsrechts anzusehen sey ... ,,24. Die noch bis in neueste Zeit Albrechts Maurenbrecher-Rezension zugeschriebene ..epochemachende" Wirkung gehört ins Reich der historischen Legende, ihre geläufige Hochschätzung kommt durchaus erst zu Ausgang des 19. Ih. aues. Erst von da an wird der als Gelegenheitsprodukt sich darstellenden kleinen Arbeit Albrechts immer wieder das Verdienst der Begründung des modernen juristischen Staatspersönlichkeitsbegriffs bescheinigt, vollends mußte der strategische Sinn dieses Begriffs, nämlich für die Staatsrechtsdogmatik den Zentralgegensatz von Monarchie und Demokratie durch die Unterordnung des Herrschers und des Volkes unter den "Dr. von Staat" (Th. Mann) stillzulegen, Albrechts Namen bis heute in der Diskussion halten. 3. Die Forderung, daß das neuere repräsentative Staatsrecht vom älteren "patrimonialstaatlichen" zu trennen ist, trug im Vormärz noch ein anderer Autor vor: der ultrakonservative Publizist und Geschichtsdenker Karl Friedrich Vollgraff (17941863)26, er beansprucht auch für sich, daß er dieses Trennungspostulat als der erste aufgestellt habe 27 . Klübers Nachfolger haben von diesem Postulat nahezu keine Notiz genommen, sie hätten andernfalls auch kaum an der von ihnen behaupteten Gemeingültigkeit eines deutschen Staatsrechts festhalten können. Nur Zachariä hat dieses Trennungspostulat, aber erst in der letzten Auflage seines Handbuchs von 1865/67, als es inzwischen von der verfassungs geschichtlichen Entwicklung überholt war, ausdrücklich zurückgewiesen, dabei erwähnt er als Verfechter dieses Ebd., S. 1496. Ebd., S. 1497 f. 25 Nachweise bei Urbaschek (s. Anm. 19) 46ff. 26 Über ihn H.J. Schoeps, Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Ih., 1953; H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, 1968, 84ff. 27 In einer umfänglichen Besprechung von Maurenbrechers Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts in Allg. Literatur-Ztg. 1839 III, Sp. 177-208 u. Ergänzungsbl. Sp. 685-712, dabei beruft sich Vollgraff auf den vierten Teil seiner Systeme der praktischen Politik im Abendlande, Gießen 1828/29. 23

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§ 14. Das gemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts

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Postulats jedoch nicht Albrecht, auf den er in Göttingen als Lehrer des Staatsrechts gefolgt ist, sondern nur Vollgraff. Immerhin nennt er dabei, obzwar nur in einer Note, fast beschwörend den Grund beim Namen, weshalb die von Klüber eröffnete gemeindeutsche Publizistenschule die ihr anempfohlene Trennung des "älteren" und "neueren" öffentlichen Rechts sich nicht zu eigen machen konnte: "Die Behauptung, daß das ,alte' und das ,neue' Staatsrecht im System forthin zu sondern seien, heißt die Gegenwart leugnen und die Existenz eines gemeinen Staatsrechts in Abrede stellen. Sie säet den Samen der Zwietracht und macht den heutigen Staat zu einem zwitterartigen, keiner Fortbildung fahigen Geschöpf, in welchem zwei feindliche Mächte sich fortwährend bekämpfen und nur zerstören aber nichts schaffen können. ,,28

111. 1. Bis 1848 hatte das gemeine und allgemeine deutsche Staatsrecht einen klar begrenzten Wirkungsraum: das Dritte Deutschland29 • Im Grunde war es die Verfassungstheorie der schon konstitutionellen Mittelstaaten, mit seinem Vortrag war das daselbst sich entwickelnde Verfassungsleben zum Maßstab für Deutschland erhoben. Sein Vortrag hielt von der Lehre des positiven Staatsrechts die ihr im frühen 19. Jh. so akut drohende Gefahr des völligen Niederganges fern; selbst in dem an der Spitze der Mittelstaaten stehenden Bayern hätte allein die frühzeitig eingeführte Verfassung nicht die genügende Grundlage für den Unterricht im öffentlichen Recht abgeben können. Ein allgemeines deutsches Staatsrecht, von dessen Sätzen einem Teil die Qualität eines echten gemein verbindlichen deutschen Rechts berechtigterweise nicht abgesprochen werden konnte, war immer ein nationales und konstitutionelles Einheitssymbol. Es führte den staatsrechtlichen Zusammenhang zwischen den deutschen Staaten auch in den Einzelpunkten vor Augen; es verschaffte dem modemen repräsentativen Verfassungsrecht die Verankerung in der nationalen Verfassungsgeschichte; es sicherte dem öffentlichen Recht den Platz in der akademischen Lehre. Indem es auf dem Gebiet der Verfassungsorganisation und des Verfassungslebens die gemeinsamen Rechtsbande zwischen den deutschen Staaten festigte, war es eine Art Ersatz, wenn auch ein noch so bescheidener, für die durch den Deutschen Bund vorenthaltene wirksame politische Einheit Deutschlands. Auch wer ihm wie Mohl die positive Rechtsqualität absprach, konnte doch nicht umhin zuzugeben, daß mit seinem Vortrag die staatsrechtliche Assimilierung der deutschen Staaten befördert wurde. Ein die Staatsrechte der deutschen Staaten überwölbendes nationales Staatsrechtssystem verschärfte nicht die nach 1815 für Deutschland so schnell aufbrechenden politisch-ideologischen Gegensätze, sondern es konnte von 28 29

Deutsches Staats- und Bundesrecht, I, 3. Aufl. 1865,38. So auch Smend 329.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

ihm eine ermäßigende Wirkung auf jene erwartet werden, ja, sein Vortrag war geeignet, den Eindruck zu erwecken, daß es sich bei jenen zu einem Gutteil um aufgebauschte handelte. Weil die neuen Staatsgrundgesetze der charakteristische Stoff des beharrlich vorgetragenen deutschen Staatsrechts waren, lag mit dessen Aufstellungsversuchen immer auch eine Distanzierung vom Verfassungssystem des Einzelstaates vor. Daß den Sätzen eines deutschen Staatsrechts nur z.T., und zwar offensichtlich zum eher kleineren, eine "imperative" Geltung zugeschrieben werden konnte, war seiner verfassungsmoralischen Autorität eher zu- als abträglich. Auch in verfassungspolitischer Hinsicht wird man allerdings das allgemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jh. nicht als innovatorisch bezeichnen können: das unitarische Verfassungswerk der Paulskirche trägt nicht seinen Stempel, vollends nicht das Bismarcksche Verfassungssytem mit seinen neuartigen organisatorischen Verbindungen. Daß die gemeindeutschen Publizisten dem die Reichsgründung tragenden nationalen Verfassungskonsens mit vorgearbeitet haben, kann jedoch nicht bezweifelt werden. Über die frontenabbauende politische Funktion der Systeme eines deutschen Staatsrechts waren sich auch die Zeitgenossen durchaus im klaren. So galt einem so meinungsbildenden Autor auf liberaler Seite wie Welcker das gemeindeutsche Staatsrecht als das überzeugende Material zur Widerlegung der reaktionären Denunziation der neuen konstitutionellen Verfassungsrechte als "undeutsch"; andererseits zogen nach Smend 30 die konservativen Zirkel in Preußen das gemeindeutsche Staatsrecht als Erziehungs- und Arbeitsmaterial Haller und Stahl offenbar vor. Zu der schon im Vormärz sich vollziehenden Umstellung des Verfassungsdenkens des deutschen Liberalismus vom französischen auf das englische Verfassungsvorbild trugen die gemeindeutschen Staatsrechtswerke mit ihrer Auswertung der nationalen Verfassungsgeschichter unzweifelhaft bei. 2. Schließlich erfüllte für den Vormärz die Lehre des deutschen Staatsrechts die Funktion der Brücke von den schon konstitutionellen Mittelstaaten zum noch vorkonstitutionellen Preußen. Wenn im abgeschotteten Metternichschen Österreich mit seinem lähmenden staatspolizeilichen Aufsichtssystem und seinem reglementierten, paragraphenklopfenden Rechtsunterricht eine akademische Lehre des Staatsrechts überhaupt noch ausgeschlossen war31 , konnte immerhin an den vormärzlichen preußischen Universitäten vom aktuellen öffentlichen Recht nicht nur das Bundesrecht, sondern auch das allgemeine Territorialstaatsrecht vorgetragen werden, in dessen Vortrag ließ sich dann auch das modeme konstitutionelle Staatsrecht mitaufnehmen. Das politisch-geistige Klima im vormärzlichen Preußen konnte die Lehre des Staatsrechts allerdings nicht ermutigen, zeitweise drohte ihr dort die eifrige Anwendung der Bundesbeschlüsse - man denke an die harsche Smend 328. Zur Lage des Rechtsunterrichts im vormärzlichen Österreich aus einem reichen Schrifttum H. Lentze. Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Österr. Akad. d. Wiss. 239/2), 1965; W. Ogris. Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jh., 1968. 30

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§ 14. Das gemeine deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts

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Maßregelung Klübers - sogar das Lebenslicht auszublasen. Überflüssig zu sagen, daß für das Preußen vor 1847/48 der akademische Vortrag des gemeindeutschen Staatsrechts auch eine indirekte Anmahnung der Einlösung des auf 1813 und schon zuvor zurückgehenden königlichen Verfassungsversprechens war.

§ 15. Der Übergang zur modernen deutschen Staatsrechtswissenschaft: earl Friedrich von Gerber I. Gerbers Stellung in der Wissenschaftsgeschichte. - 11. Gerbers Theorie des gemeinen deutschen Privatrechts. - 111. Sein Staatsbegriff. - IV. Seine Umformung des deutschen Staatsrechts zur einheitlichen juristischen Dogmenwissenschaft, die Reaktion der älteren konstitutionellen Staatsrechtslehre auf Gerbers Staatsrechtssystem.

I. 1. Mit der Gründung des preußisch-kleindeutschen Reiches war die Zeit des gemeinen deutschen Staatsrechts vorüber. Es war nicht mehr der vornehmste Gegenstand der Publizisten in Deutschland, dies war nun das neue Reichsstaatsrecht. Wenngleich auch im neuen Reich ein Lehrbuch des deutschen Staatsrechts das allgemeine Landesstaatsrecht noch mitenthalten konnte I, war dies doch für das nun im allgemeinen gesetzespositivistisch gesonnene Fach eher untypisch. Bevor über das gemeine deutsche Staatsrecht die politische Entwicklung hinweggegangen war, hatte es Carl Friedrich von Gerber (1823 -1891)2 noch zur einSo die Lehrbücher von Georg Meyer (1878) und Hermann Schulze (1881/86). Über Gerber aus dem älteren Schrifttum Landsberg III 2 Text, 778 ff. (zum privatrechtlichen Werk), 826 ff. (zum staatsrechtlichen Werk); E. Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jh., 1908, auch in: Ges. Schriften III, 46ff. (hierzu kritisch v. Oertzen, Soziale Funktion 130ff.); H. Hirschbühl, Die Rechtslehre C. F. Gerbers, Diss. iur. Tübingen maschr. 1942. Aus dem neueren Schrifttum v. Oertzen, Soziale Funktion sowie die Zusammenfassung und Präzisierung der Ergebnisse dieser Göttinger Diss. phi!. von 1953 in v. Oertzens Abhandlung: Die Bedeutung C. F. v. Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung (Festg. Smend), 1962, 183 - 208; Wilhelm, Methodenlehre 88 ff., 129 ff.; Böckenförde, Gesetz 206 ff.; Hespe 39 ff.; C.-E. Bärsch, Der GerberLaband'sche Positivismus, in: M. J. Sattler (Hg.), Die deutsche Staatslehre im 19. u. 20. Jh., 1972,43-71; M. Nigro, Il "Segreto" di Gerber, in: Quademi Fiorentini 2 (1973) 293-333; Fioravanti, 115 ff., 193 ff., 243 ff.; D. Grimm, Methode als Machtfaktor, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart 1,1982, 469ff. (479ff.); ders., Die Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jh., in: G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, 1987, 236ff. (249-255); M.G. Losano, Studien zu Jhering und Gerber T. 2, 1984,90-113,130-149 (mit vollständiger Gerber-Bibliographie; Teil 1 dieses Werkes [1984] enthält den Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber); Pauly 92 ff.; schließlich Stolleis, Gesch. 11, 331 ff. Zur Biographie nicht unwichtig: Aus den Briefen C. v. Gerbers vom konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes, Neues Arch. f. Sächs. Gesch. 60 (1939) 224ff. I

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§ 15. Carl Friedrich von Gerber

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heitlichen juristischen Dogmenwissenschaft umgefonnt, er streifte ihm damit entschlossen die zusehends fragwürdiger gewordene Qualität eines unmittelbar für Deutschland geltenden Rechts ab. Gerber hatte sich erstmals 1852 mit der kleinen Schrift "Über öffentliche Rechte" dem Staatsrecht zugewandt, mit derselben meldete sich auch im Staatsrecht mit aller Bestimmtheit der neue Geist einer konstruktiven Jurisprudenz an. Nach Gerbers Bemerkung im Vorwort war die kleine Schrift allerdings nur "ein Versuch; denn wer an die Möglichkeit glauben sollte, hier etwas Fertiges und Abgeschlossenes liefern zu können, würde übersehen, daß es sich um einen teilweise noch in seiner Bildung befangenen Rechts stoff handelt". 1865, d. h. in einer politisch konsolidierten Lage, in der sich die Bildung des neuen Rechtsstoffs, nämlich der nachachtundvierziger deutschen Verfassungssysteme nun offensichtlich als abgeschlossen ansehen ließ, gelang Gerber mit den aber ebenfalls eher kleinen "Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts" (2erw. durch Beilagen 1869; 31880) dann doch auch der Entwurf eines wissenschaftlich neuen Staatsrechtssystems. Carl Friedrich Wilhelm Gerber habilitierte sich, erst einundzwanzigjährig, in Jena, wurde dort, nach der Ablehnung eines Rufs nach Königsberg, ao. Professor und folgte 1847 einem Ruf nach Erlangen. 1851 wurde er als Professor der Rechte und Vizekanzler für die Tübinger Universität gewonnen, schon im selben Jahr übernahm er dort auch das bisher von K.G. Waechter wahrgenommene Kanzleramt; Vertreter Württembergs auf den Konferenzen über die Schaffung des ADHGB. Nach kurzer Zwischenstation in Jena folgte Gerber 1863 einem Ruf nach Leipzig, wo ihm sogleich das Amt des Rektors, und zwar zweimal nacheinander, übertragen wurde. 1867 gehörte er dem konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes an, eine nochmalige Reichstagskandidatur wurde ihm, offenbar eher zu seinem Bedauern 3, nicht angetragen. Ein neuer Lebensabschnitt datiert vom Jahr der' offiziellen Reichsgründung an: 1871 wurde Gerber Leiter des sächsischen Kultusministeriums, 1890 übernahm er auch den Vorsitz im sächsischen Staatsministerium. In seiner Tübinger Kanzlerzeit war Gerber der persönliche Adel verliehen worden, später wurde er noch mit dem sächsischen Erbadel ausgezeichnet.

·2. Daß mit der Reichsgründung das von Gerber zum "wissenschaftlichen System" vollendete gemeine deutsche Staatsrecht beiseite geschoben war, hat Gerbers Staatsrechtssystem nicht um die wissenschaftliche Wirkung gebracht. Im Gegenteil, sein Staatsrechtssystem lieferte für die nach der Reichsgründung sich etablierende streng juristisch-dogmatische Staatsrechtswissenschaft die begrifflichmethodische Grundlage, jahrzehntelang galten seine wenigen staatsrechtlichen Schriften als völlig beispielhaft. Zu diesem ungewöhnlichen Wissenschaftserfolg trug außer den hohen literarischen Qualitäten der Gerberschen Schriften wohl auch bei, daß Gerber in den beiden Neuausgaben seines Staatsrechtssystems dessen scharfe Konturen nicht durch eine Einarbeitung der eingetretenen staatsrechtlichen Veränderungen abgeschwächt hat, die über die notwendigen kurzen tatsächlichen

3 Dies geht aus einem Brief an Rudolph Jhering vom 20. 7. 1869 hervor; Losano. Briefwechsel (s. Anm. 2) 678 ff., 681.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechts lehre

Berichtigungen und eine kurze Skizze der staatsrechtlichen Gestalt des Norddeutschen Bundes hinausgegangen wäre. Gerbers Lehre von der Staatsgewalt und den Fonnen ihrer Ausübung ist das erst vom Weimarer Richtungsstreit zerstörte theoretische Fundament der spätkonstitutionellen Staatsrechtswissenschaft. Sie ist die prägnante Ausfonnulierung jener Anschauungs- und Denkweise, die man als "staatsrechtlichen Positivismus" zu bezeichnen pflegt; unter dem bestimmenden Einfluß dieser Anschauungsund Denkweise hat auch noch zur Weimarer Zeit ein Teil des Faches gestanden. Mit dem Siegeszug des Gerberschen Staatsrechtsverständnisses erreicht die konstruktiv-dogmatische Richtung in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Ih. ihren zweiten, dem Triumph der "Pandektenwissenschaft" nicht unebenbürtigen Gipfelpunkt. 3. Gerber kann allerdings nicht allein als der Gründer der modemen deutschen Staatsrechtswissenschaft gelten. Außer ihm gebührt dieser Rang Paul Laband, dem ersten anerkannten systematischen Bearbeiter des neuen Reichsstaatsrechts; jener lieferte mit seiner 1876 beginnenden, auf der "juristischen Methode" beruhenden Darstellung des Staatsrechts des Deutschen Reiches recht erst dem Fach das neue Arbeitsparadigma. Labands Staatsrechts- und Methodenverständnis stimmt jedoch mit dem Gerbers grundsätzlich überein, beide Protagonisten des staatsrechtlichen Positivismus bescheinigten sich auch gegenseitig den grundsätzlichen Einklang ihrer wissenschaftlichen Ansichten 4 • Als wissenschaftliche Dioskuren können beide jedoch nicht bezeichnet werden, so häufig sie bis heute in einem Atemzuge genannt werden ("Gerber-Labandscher Positivismus"). Vielmehr repräsentieren ihre vom Gegenstand her verschiedenen Leistungen auch verschiedene Entwicklungsstufen des staatsrechtlichen Positivismus, davon nahm man allerdings in der Zeit vor 1914, als die Vorherrschaft der ,juristischen Methode" noch nicht gebrochen war, wie auch noch zur Weimarer Zeit mit ihrer heftigen Polemik gegen "Positivismus" und "Fonnalismus" keine Notiz. Erst Laband war in der Lage, einen als positivrechtliches Ganzes gegebenen staatsrechtlichen Stoff systematisch in strenger fachlicher Selbständigkeit zu bearbeiten, Gerber hatte dagegen noch ein "wissenschaftliches System" des inzwischen allgemein in den deutschen Staaten bestehenden monarchisch-konstitutionellen Staatsrechts aus den einzelnen positiven Staatsrechten der deutschen Staaten "auf dem Wege der Abstraktion" herauszudestillieren.

11. 1. Gerber ist nicht vom Staatsrecht ausgegangen. Bevor er sich dem Staatsrecht zuwandte, hatte er sich dem Privatrecht gewidmet, auf diesem Feld machte er sich 4 Zu Kontinuität und Diskontinuität im Verhältnis zwischen Gerber und Laband mit neuen Nachweisen Pauly 205 ff.

§ 15. Carl Friedrich von Gerber

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zuerst in der deutschen Rechtswissenschaft einen anerkannten Namen. Seine Habilitationsschrift von 1846 "Das wissenschaftliche Princip des gemeinen deutschen Privatrechts" ist eine wissenschaftliche Programmschrift auf dogmenhistorischer Grundlage, auf sie folgte während der Revolutionsjahre 1848/49 das immer wieder neu herausgebrachte "System des Deutschen Privatrechts" (l7neubearb. v. K. Co sack 1895). Der wissenschaftliche Einsatz Gerbers fällt auf den Zeitpunkt, zu dem die Weiterentwicklung der "geschichtlichen Rechtswissenschaft" zu einer systematischen schon entschieden war. Gerber hat diese Entscheidung immer als die Richtschnur für seine wissenschaftliche Arbeit betrachtet, die systematische Rechtsstoffkonstruktion faßte er in einem fast ausschließlichen Sinne als das Anliegen und Ziel der rechts wissenschaftlichen Arbeit auf. Daß er die von seinem Lehrer Georg Friedrich Puchta zum Durchbruch gebrachte Methode der "Konstruktionsjurisprudenz" schnell und gelungen auf das wegen der schwachen Ausbildung eigener Institute für ihre Anwendung an sich wenig geeignete einheimische Privatrecht anzuwenden wußte, bestätigt, welche Festigkeit seinen rechtswissenschaftlichen Überzeugungen schon in jungen Jahren zu eigen war. Das Interesse an Gerbers deutschem Privatrechtssystem hat hier nur dessen in der Programmschrift von 1846 entwickelten Zielrichtung zu gelten. Die Herkunft von Gerbers" rechtswissenschaftlichem " Positivismus aus dem Denkkreis der historischen Rechtsschule belegt jene Frühschrift demonstrativ. Was Gerber von der wissenschaftlichen Bearbeitung des deutschen Privatrechts erwartet, ist im Sinne Savignys die Vergeistigung des vom einheimischen Privatrecht dargestellten Stoffs, sie soll erreicht werden durch das "Wiedererzeugen" des historisch hinreichend erschlossenen Stoffs vermittels seiner "Construction" von seinem "Princip" he~. Wie es der geforderten "organischen" Dogmatik des Rechtsstoffs entspricht, lehnt Gerber die Ergänzung und Vervollständigung der Partikularrechte als einen Zweck der wissenschaftlichen Bearbeitung des deutschen Privatrechts ab. Die Beseitigung von Gesetzeslücken ist vielmehr der Bearbeitung des einzelnen partikularen Rechtsstoffs zu überlassen, sie allein kann bis in dessen Details eindringen6 . Was von einer Wissenschaft des deutschen Privatrechts mit Recht erwartet werden kann, veranschlagt Gerber als grundsätzlich anders geartet und höherwertiger als Lückenschließung: sie soll die in den positiven Rechtssätzen nur fragmentarisch 5 Vgl. insbesondere aus der Tübinger Antrittsrede (1851) Zur Charakteristik der deutschen Rechtswissenschaft, aufgenommen in: Gesammelte juristische Abhandlungen, Jena 1872, Bd. 1, 11: "Das Recht ist aber nicht blos eine Tatsache, die gewußt, es ist zugleich eine lebendige Macht, von der die Gegenwart beherrscht werden soll. Daher ist es notwendig, daß die aus der Geschichte genommenen Rechtsideen nun wiederum aus ihrer historischen Verbindung gelöst, ... als lebendige Glieder eines in unserem eigenen Wollen und Empfinden begründeten Organismus erkannt werden. Diese Tätigkeit ist eine wesentlich productive, sie ist ein vollständiges Wiedererzeugen des Geschichtlichen für die unmitttelbare Gegenwart." 6 Als beispielhaft für solche ertragreiche Bearbeitung führt Gerber K.G. Waechters Württembergisches Privatrecht (1839/51) an. Vgl. Wissenschaftliches Princip des gemeinen deutschen Privatrechts, Jena 1846, 249f.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

sich äußernde nationale Rechtsüberzeugung "durch wissenschaftliche Bearbeitung zum Bewußtsein der Volksglieder bringen,,7. Gerbers Leitidee von einer "productiven" Tätigkeit der Rechtswissenschaft hat die Theorie vom natürlichen Gang der Rechtsentwicklung bei den Häuptern des romanistischen Zweiges der historischen Rechtsschule, bei Savigny und Puchta, zur Grundlage. Nach dieser Theorie 8 mündet bekanntlich die Rechtsentwicklung in ein Zeitalter der "Wissenschaftlichkeit" des Rechts, in welchem nur die wissenschaftlich gebildeten, zu einem eigenen gesellschaftlichen Stand abgesonderten Juristen zur Rechtserzeugung noch berufen sind. Für Gerber unterliegt dieses Geschichtsbild keinem Zweifel, er betont jedoch, daß für die Gegenwart der bezeichnende Träger der Rechtsentwicklung die staatlichen Gesetzgeber sind. Die isolierten Schöpfungen der Gesetzgeber würden jedoch nicht genügen, um dem Recht die volle Geltung und Wirksamkeit zu sichern. Sondern dazu ist noch "unbedingt notwendig", und dies betont Gerber mit Blick auf die richterliche Tätigkeit, daß die Rechtssätze und -institute zum "System" vereinigt werden, sonst würde "der einzelne Rechtssatz als eine durch willkürliche Gewalt bindende, aber unerklärte und unverstandene Macht erscheinen,,9. Die "Vereinigung" der Rechtssätze zum "System" gilt mithin Gerber nicht nur als eine aus der inneren autonomen Entwicklung der Rechtswissenschaft erwachsende Forderung, sie begründet sich zugleich mit der realen Entwicklung des Gesellschafts- und Rechtslebens als unabweislich. 2. Gerbers gemeines deutsches Privatrecht soll nicht mehr ein unmittelbar geltendes Recht sein, sondern es hat die leitenden Ideen und Prinzipien für die Partikularrechte zum Inhalt. Gerber bezeichnet es als "das lebendige Organ zur Erkenntnis der allgemeinen Richtungen des gegenwärtigen deutschen Rechtsbewußtseins", er erwartet von seiner Darstellung die Vermittlung der Kenntnis aller jener Rechtserzeugnisse, welche - wie es mit unüberhörbarem Anklang an eine Savignysehe Formulierung heißt - "noch nicht aus dem Volksgeiste geschieden sind, um als abgestorbene Thatsachen der Rechtsgeschichte überantwortet zu werden" 10. Als Organ zur Erkenntnis der nationalen Rechtsbewußtseinsentwicklung hat Gerbers deutsches Privatrechtssystem seinen germanistischen Kritikern allerdings nicht gegolten, sie warfen im Gegenteil Gerber leidenschaftlich die "RomanisieWissenschaftliches Princip (s. Anm. 6), 292. Vgl. F.C v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, I, 1840,45 f.; G.F. Puchta, Gewohnheitsrecht, 11, 1837, 187. 9 Wissenschaftliches Princip (s. Anm. 6), 284. IO Ebd. 292. Vgl. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), in: J. Stern (Hg.), Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit aufgrund ihrer Schriften, Neudr. 1959, 140: Die dem Entwicklungsgang des Rechts gemäße Bearbeitung des gegebenen Rechtsstoffs besteht darin, ihn "bis zu seiner Wurzel zu verfolgen und so sein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört". 7

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rung" des deutschen Privatrechts vor; nach Otto Gierkes pathetischer Forrnulierung ll soll Gerber "die deutsche Seele im deutschen Recht" getötet haben. Wieweit dieses Verdikt, das sich am ehesten auf die äußere Anlehnung von Gerbers Privatrechts system an den Aufbau des Pandektensystems stützen kann, als berechtigt gelten kann, kann hier auf sich beruhen. 3. Um so mehr verdient die Frage unser Interesse, welcher Zusammenhang zwischen Gerbers Zielsetzung für das gemeine deutsche Privatrecht und der für sein deutsches Staatsrechtssystem von 1865 besteht. Gerbers Staatsrechtssystem ist allerdings, um dies sogleich zu sagen, nicht eine Nachbildung seiner Theorie des gemeinen deutschen Privatrechts, er wählt im Staatsrecht durchaus einen anderen Ausgangspunkt als im Privatrecht. So bestimmen die "Grundzüge" von 1865 das Staatsrecht zwar als "ein System von Willensmöglichkeiten", aber "angeknüpft an die mit Persönlichkeit bekleidete Macht des politisch geeinten Volks"; diese Willensmacht ist, wie Gerber scharf betont, nicht wie die der menschlichen Persönlichkeit im Privatrecht "eine nach allen Richtungen freie ... , sondern eine solche, die sich nur innerhalb des Rahmens ihrer Zweckbestimmung bewegen kann"; als ihr Unterscheidungsmerkmal gegenüber allen anderen Rechtspersonen bezeichnet Gerber "das Herrschen, d. h. rechtliches Handeln im Interesse des Staatszwecks mit einer das ganze Volk verpflichtenden Wirkung,,12. Bei allem eindeutigen Unterschied zwischen diesem neuen Gerberschen Staatspersönlichkeitsbegriff und dem privatrechtlichen Persönlichkeitsbegriff stimmen aber doch privatrechtliche und staatsrechtliche Methode aufgrund des gemeinsamen Ausgehens vom Willensbegriff prinzipiell überein. Die Übereinstimmung zwischen Gerbers Staatsrechtssystem und seiner Theorie des gemeinen deutschen Privatrechts geht jedoch noch weiter. Wie den Sätzen seines deutschen Privatrechts, spricht Gerber auch denen seines deutschen Staatsrechts eine unmittelbare Verbindlichkeit im gemeinrechtlichen Sinne ab 13 , d. h. er versteht sein deutsches Staatsrechtssystem nicht anders als seine Konzeption des gemeinen deutschen Privatrechts als eine "Theorie" positiver Rechte; gemeint sind mit den letzteren die neuen nachachtundvierziger deutschen Verfassungsrechte. In voller Übereinstimmung mit dem 1846 der Dogmatik des deutschen Privatrechts gesetzten Ziel bezeichnet Gerber auch in den "Grundzügen" von 1865 als sein wissenschaftliches Ziel die Darstellung der "gegenwärtig 11 Deutsches Privatrecht I, Leipzig 1895,92; vgl. auch ders., Grundriß des deutschen Privatrechts, in: F. v. Holtzendorffl J. Kohler (Hg.), Enzyklopädie d. Rechtswiss. I, 7. Aufl. 1915, 148. 12 Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 2. Aufl. Leipzig 1869,4 N. 2. 13 Eine solche Verbindlichkeit könne auf dem Gebiet des Staatsrechts überhaupt noch weniger als auf dem des deutschen Privatrechts in Anspruch genommen werden, da "die fortwährende Einwirkung des gemeinsamen nationalen Geistes auf die Erzeugung des Privatrechts weit weniger durch die staatliche Vielheit gekreuzt wird, als dies bei der Production des staatsrechtlichen Stoffs der Fall ist"; Grundzüge 11 N. 4 (dort auch mit Betonung der Ähnlichkeit des zugrundeliegenden Begriffs eines gemeinen deutschen Staatsrechts mit dem von Gerber für das deutsche Privatrecht beanspruchten), ähnlich pointiert schon: Über öffentliche Rechte, Tübingen 1852, 12 f.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

bestehenden allgemeinen Rechtsüberzeugung des deutschen Volks", als deren Inhalt gilt ihm der "organische Staat der constitutionellen Monarchie,,14.

111. 1. Schon in der staatsrechtlichen Erstlingsschrift von 1852 über öffentliche Rechte geht es Gerber um die scharfe Erfassung des besonderen juristischen Gehalts des Staatsrechts im Sinne von" Verj"assungsrecht" 15, um "Construction". Zu einer systematischen Konstruktion des nachrevolutionären monarchisch-konstitutionellen Staatsrechts gelangt er 1852 jedoch noch nicht, sie gelingt ihm erst 1865 mit den "Grundzügen". Daselbst ist nun nicht mehr wie 1852 die Staatsgewalt an den Monarchen bzw. an "die im Könige dargestellte Volkspersönlichkeit" 16 angeknüpft, sondern an die "Willensmacht" des als "persönliches Wesen" gedachten, das Volk als politische Einheit darstellenden Staates; sie definiert Gerber als die in der Rechtsordnung beispiellose "Macht zu herrschen" 17.

Nicht die Auffassung des Staates als Persönlichkeit, wie immer wieder angenommen, sondern erst die Auffassung der staatlichen Persönlichkeit als der einzigen Rechtsperson mit herrschender Willensmacht ist das Neue an Gerbers Staatsbegriff. Auch die konstitutionelle Staatsrechtslehre vor Gerber versteht, wie wir wissen, den Staat im personhaften Sinne, womit sie jedoch zum Ausdruck bringen will, daß er eine sittlich-organische Erscheinung ist, nicht soll ihm damit die Eigenschaft eines souveränen Willens subjekts zugeschrieben sein. Aufgrund dieses erstmals durch P. v. Oertzen herausgearbeiteten 18 Unterschiedes zwischen Gerbers Staatsbegriff und dem der älteren organisch-konstitutionellen Staatrechtslehre nimmt dieser an, daß in Gerbers Staatsrechtssystem von 1865 eine überhaupt neue Staatstheorie vorliegt, die sich in der Schrift von 1852 noch nicht ankündigt, sie bezeichnet er als "willensverbandlich,,19. Damit ist jedoch der Unterschied zwischen den beiden Gerberschen Staatsrechts schriften überzeichnet. Zuzustimmen ist zwar v. Oertzens Ansicht, daß Gerbers Auffassung der Staatsgewalt als souveräner Grundzüge (s. Anm. 12), 10 N. 2. Vgl. zu Gerbers Identifizierung von Staatsrecht und Verfassungsrecht die prononcierte Aussage in Grundzüge (s. Anm. 12), 10 N. 3: "lch rede aber vom deutschen Verfassungsrech14

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te ... "

Über öffentliche Rechte (s. Anm. 13), 52. Grundzüge (s. Anm. 12), 2 f. 18 Vgl. v. Oertzen, Soziale Funktion sowie ders., Bedeutung Gerbers (s. Anm. 2). Vgl. auch oben § 12 V mit Anm. 86. 19 Bedeutung Gerbers (s. Anm. 2), 183 ff., 194: "Gerber hat seine Ansichten zwischen 1852 und 1865 grundlegend geändert." Übereinstimmend v. Oertzen, Soziale Funktion 170 ff., dort S. 175 die Kennzeichnung von Gerbers Staatsmodell als "Willensverband" schon in einer Überschrift. 16

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Willensmacht als "moderner" als die ganzheitlich-organische Staatsauffassung zu gelten hat, sie hält sowohl die Isolierung der staatlichen Herrschaftsfunktion von der übrigen Gesellschaft wie die Intensivierung ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkung fest. Deswegen kann jedoch Gerbers Staatstheorie nicht schon als "willensverbandlich" bezeichnet werden. Richtig wäre dies nur, wenn Gerber die Idee der Staatspersönlichkeit von der Idee der politischen Selbstorganisation der Gesellschaft her entwickeln würde, genau davon sieht er jedoch ab 2o . Vielmehr hat die Staatsgewalt einen einheitlichen, in sich geschlossenen Träger, sie existiert vor der Verfassung, die sie mithin nur in der Art ihrer Ausübung beschränkt, und diese Beschränkung läßt sich juristisch nur als ihre Selbstbindung konstruieren. M. a. W.: Gerbers Staatstheorie ist vollkommen die modeme Staatslehre des monarchischen Prinzips, die zu dessen Begründung keineswegs mehr auf eine vorrationale Lehre wie die vom Gottesgnadentum zurückzugreifen braucht. Die Veränderung in der Legimitätsgrundlage der Monarchie seit den Tagen der Wiener Schlußakte schwächt Gerber nicht entfernt ab; so bezeichnet er die Staatsgewalt als "die mit Persönlichkeit bekleidete Macht des politisch geeinten Volks,,21, er anerkennt also das Volk als den letzten Legitimationsgrund der staatlichen Herrschaft, aber freilich nicht als deren Subjekt. Wenn daher v. Oertzen meint22 , daß Gerber in die demokratische "willensverbandliche" Richtung gehende Konsequenzen seiner Theorie abbiegen würde, so dürfte dies Gerber zuviel Ehre erweisen, solche Konsequenzen sind in seinem theoretischen Ansatz nicht angelegt. Daß Gerbers Interpretation des Staatsrechts der nachachtundvierziger Monarchien die Geltung des monarchischen Prinzips voraussetzt, kann leicht im einzelnen nachgewiesen werden. Von den staatsbürgerlichen Rechten behauptet er, daß sie "gewissermaßen den Charakter einer Gegengabe" für die Unterwerfung unter die Staatsgewalt haben 23 ; Aufgabe der Landstände "ist nicht: zu herrschen, sondern beschränkend zu dem herrschenden Willen des Monarchen hinzuzutreten"24, eine eigene Willens betätigung für den Staat steht also der Volksvertretung nicht zu; der Organbegriff ist freilich 1865 im Unterschied zu 1852 auch auf den Monarchen angewendet, aber wie 1852 ist angenommen, daß der allgemeine Wille des Staates allein im Monarchen zur Erscheinung ge1angt25 . In keinem Punkt beeinträchtigt die von Gerber bejahte Verfassungsstaatlichkeit den monarchischen Herrschaftsprimat, materiell beschränkt sich sein konstitutioneller Staat auf die Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem monarchischen Staat und 20 Dies betont allerdings auch v. Oertzen, Bedeutung Gerbers (s. Anm. 2), 208: "An der methodischen Aufgabe, den Prozeß der staatlichen "Integration" und "Organisation" mit dem immanenten rationalen System des staatlichen Rechts in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, ist der formalistische Positivismus gescheitert." 21 Grundzüge (s. Anm. 12) 4 Anm. 22 Bedeutung Gerbers (s. Anm. 2), 198 f. 23 Grundzüge (s. Anm. 12), 223 (= Beil. 11). 24 Ebd., S. 121. 25 Ebd., S. 74.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

die Gewährleistung einer staatsfreien, im Grunde vom Autonomieprinzip des klassischen Privatrechts abgegrenzten Sphäre. Einem so scharfsinnigen, illusionslosen Diagnostiker wie Gerber mußte es wohl als evident erscheinen, daß in der konstitutionellen Monarchie die Autonomie der bürgerlichen Privatrechts-Gesellschaft als besser gesichert gelten kann als in dem leichter vom nachrückenden Vierten Stand zu erobernden parlamentarischen Staat. Daß Gerber erst 1865 zur Ausfonnulierung seiner neuen staatstheoretischen Position gelangt ist, kann man auch nicht wie v. Oertzen auf einen Wandel in seinen allgemeinen politischen Anschauungen zwischen 1852 und 1865 zurückführen. Als Beweis für einen solchen Wandel kann keineswegs die kurze, bei v. Oertzen zum Angelpunkt seiner Interpretation gemachte 26 Bemerkung in den ..Grundzügen" über die in unserem Jahrhundert vor sich gegangene ..gänzliche Neubildung im Sinne des organischen Volksstaats"27 gelten, nämlich da eben dieser Strukturwandel völlig übereinstimmend und eindrücklicher schon in der Schrift von 1852 konstatiert ist28 . In einem Punkt können allerdings Gerbers politische Ansichten von 1865 gegenüber 1852 als verändert gelten: erst 1865 kann er und offensichtlich mit voller Befriedigung die nachachtundvierziger Verfassungssysteme der deutschen Monarchien als eine sich befestigt habende Errungenschaft der deutschen Gesellschaft betrachten. Damit war es nun im Unterschied zu 1852 auch von der politisch-sozialen Gesamtsituation her vorgezeichnet, daß für die "Construction" des Staatsrechts nur das modeme Staatspersönlichkeitsdogma als Grundlage in Betracht kommen kann, also erst jetzt war der geschichtliche Augenblick für die entschlossene Entwicklung des Staatsrechts als eines in sich geschlossenen Systems der Willensverhältnisse mit den bei den Polen der selbständigen monarchischen Staatsgewalt und der mit eigenen Rechten ausgestatteten Volksvertretung gekommen.

2. Gerbers Staatsbegriff erfaßt den Staat erklärtermaßen nur unter einem bestimmten Aspekt. Daß von der ,,rechtlichen Characteristik" des Staates nicht seine Erkenntnis "im Ganzen" erwartet werden kann, hat er unmißverständlich klargestellt. Er nimmt vorbehaltlos schon den Standpunkt der später sogenannten ,,zweiSeiten-Betrachtung" des Staates ein: die rechtliche Staatsbetrachtung erfaßt den "ethisch-juristischen Inhalt des Staats", die "sogenannte organische" Betrachtung die "tatsächlichen Grundlagen der Rechte"; die letztere "gibt die Naturfarbe der 26 Vgl. Bedeutung Gerbers (s. Anm. 2) 194f. 27 Grundzüge, 10. 28 So heißt es dort S. 7 f.: "Will man den Charakter der Staatsorganisationen, welche seit dem Anfang dieses Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag in Deutschland versucht worden sind, ganz im allgemeinen schildern, so wird man ... ihn leicht in einem culturgeschichtliehen Wendepunkte erfassen können. In den früheren Jahrhunderten hatte man sich dem unerforschlichen Walten des Geschickes mit duldendem Sinne hingegeben; man hatte die geschichtlichen Ereignisse, wie sie zunächst durch den Willen der Fürsten gestaltet erschienen, als die höhere Fügung angesehen, der sich der Einzelne und das Volk mit Vertrauen unterwerfen müssen. Jetzt glaubte dieses ein Verständnis seiner Geschichte, ein Bewußtsein seiner Bedeutung und Würde gewonnen zu haben, und wollte das Ergebnis dieser Einsicht im Leben zur Geltung gebracht sehen; man hatte gewisse Principien gefunden, denen sich das wirkliche Staatsleben anpassen sollte, nach diesen Prinzipien wollte man neu organisieren, das Steuer selbst in die Hand nehmen und die Entwicklung selbstthätig bestimmen. Wer wollte die Berechtigung und innere Notwendigkeit dieser Richtung verkennen?"

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Sache", die rechtliche "zeichnet darauf die Linien der sich berührenden Rechtskreise,,29. Diese Bemerkung enthält die prinzipielle wissenschaftstheoretische Begründung für Gerbers Verselbständigung des Staatsrechts zur juristisch-dogmatischen Fachdisziplin: die Staatsrechtslehre hat die "soziale Staatslehre", um mit dem Terminus Georg lellineks zu sprechen, zur Unterlage, sie ist von ihr aber methodisch unabhängig, ihr Vorgehen ist durch die ,juristische Methode" festgelegt. 3. Außer der Schrift über öffentliche Rechte und den "Grundzügen" sind noch zwei kleinere staatsrechtliche Abhandlungen Gerbers zu erwähnen: "Über die Theilbarkeit deutscher Staatsgebiete" (1865)30; "Über Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate" (1871)31. Die erstere Abhandlung befaßt sich mit einer immer wieder erörterten, bis zur konstitutionellen Epoche noch eher dem Privatfürstenrecht als dem Staatsrecht eingeordneten Frage, nämlich ob, wenn mehrere beim Eintritt des Erbfalls zum Antritt der Thronfolge berechtigt sind, die Teilung eines deutschen Staatsgebietes zulässig ist. Gerber verneint klar diese Frage aufgrund des seit der napoleonischen Umwälzung eingetretenen Wandels der staatlichen Legitimitätsvorstellungen, dabei trägt er gerafft seinen neuen Staatsbegriff in völliger Übereinstimmung mit dessen Darlegung in den "Grundzügen" vor, betont wie dort, daß die rechtliche Natur der Staatsgewalt "in den Begriff des Beherrschens" verlegt werden muß 32 . In der Studie über Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt geht Gerber in die Richtung der neuen Zweiteilung des Gesetzes nach Form und Inhalt.

IV. 1. Aus seiner Definition der Staatsgewalt als herrschender Willensmacht leitet Gerber eine neuartige Definition des Staatsrechts ab: "Die Willensmacht des Staats, die Staatsgewalt, hat ihre rechtlichen Gränzen. Deren Feststellung ist die erste Aufgabe des Staatsrechts.'.33 Damit war die dem Privatrecht gewohnte ,juristische Methode" im Sinne der "Nachweisung und Abgränzung von Willensverhältnissen,,34 auch dem Staatsrecht als unentbehrlich empfohlen, materiell war das Staatsrecht als Verfassungsrecht aufgefaßt. Die Bearbeitung des Staatsrechts "unter juristischem Gesichtspunkt" schließt nicht nur die Vermengung staatsrechtlicher Erörterungen mit "staatswissenschaftlichen" Betrachtungen aus, wie sie um 1865 schon allgemein verpönt ist, sondern auch die Anknüpfung der staatsrechtlichen Untersuchung an ein "allgemeines" Staatsrechtssystem. Daß wie noch üblich die Grundzüge, 218. In: Aegidis Zeitsehr. 5-24. 31 In: ZgesStW 27 (1871) 430-448. Diese Abhandlung und die zuvor genannte auch in Gesammelte juristische Abhandlungen, Jena 1872. 32 Aegidis Zeitschr. 9. 33 Grundzüge, 229 (= Beil. III). 34 Ebd., S. 215 (= Beil. I). 29

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

Grundzüge eines solchen Systems einer Darstellung des geltenden Staatsrechts als "Einleitung" vorangestellt werden, lehnt Gerber deutlich genug ab 35 . Ein solcher Vorspann erübrigt sich für sein Staatsrechtssystem, da es selber eine Theorie des positiven Staatsrechts ist, und zwar wie es heutzutage für Deutschland besteht, d. h. in den inzwischen eingeführten modemen Staatsgrundgesetzen der deutschen Staaten vorliegt. Als dessen Ziel bezeichnet es Gerber, daß das, was in den "sog. philosophischen Einleitungen" zu den deutschen Staatsrechtssystemen "wirklich juristischer Natur ist, also die ganze Lehre von der Staatsgewalt nach Inhalt und Gränzen, ... nunmehr von dem Systeme des Staatsrechts selbst ergriffen, an seine entscheidenden Gesichtspunkte angeknüpft und in ganz anderer Weise bestimmt" wird, "als dies von der Philosophie erwartet werden kann ... ,,36. Was in diesem Sinne vom Stoff der gewohnten allgemeinen Staatsrechtswissenschaft in die positive Wissenschaft des deutschen Staatsrechts aufgenommen werden kann und was nicht, also der philosophischen und politischen Staatsbetrachtung anheimfällt, dafür kann nach Gerber das Kriterium nur sein, wozu die "Rechtswissenschaft" bei der Bearbeitung des Staatsrechts berufen ist, nämlich "allgemeine staatsrechtliche Principien in voller Reinheit nach ihren Gesichtspunkten und den Regeln ihrer Kunst zu entwickeln,m. Damit ist Gerbers Staatsrechts system die Verschmelzung von deutscher und allgemeiner Staatsrechtsdisziplin zum neuen Typus einer einheitlichen staatsrechtlichen Dogmenwissenschaft. Da es die wissenschaftliche Darstellung der "gegenwärtig bestehenden allgemeinen Rechtsüberzeugung des deutschen Volks" von seinen staatlichen Ordnungen ist, wechselt in ihm nicht mehr wie üblich in den Systemen des deutschen Staatsrechts die allgemeine staatsrechtliche Erörterungsrichtung ohne ein klar erkennbares Prinzip mit der positiv-staatsrechtlichen. Bei seiner eindeutigen Anlage als eines allgemeindeutschen Rechtssystems kann Gerbers Staatsrechtssystem .auch nicht mehr den für Deutschland noch vorhandenen Bestand an gemeingültigen öffentlichrechtlichen Sätzen erfassen wollen. Sondern es soll den ,,historisch-sittlichen Gehalt" des inzwischen für Deutschland bestehenden monarchisch-konstitutionellen Staatsrechts, das seine anwendbare positive Gestalt in der Fonn des Partikularrechts besitzt, "in einer Weise herausstellen, in der dies eine nur dem letzteren gewidmete Betrachtung nicht zu leisten vermöchte,,38. Damit ist die Positivität von Gerbers Staatsrechtssystem im Grunde sittlich-kultureller Art39 . Es entfernt sich nicht von der eigentlichsten Bestimmung des gemei35 Vgl. ebd., S. 231 (= Beil. III). Er repliziert damit auf die an seinem System wegen der Ausmusterung des allgemeinen Staatsrechts geübte Kritik von Hermann Schulze. Zu dieser Kritik Schulzes noch sogleich im Text. 36 Ebd., S. 231. 37 Ebd., S. 232. 38 Ebd., S. 11. 39 So schon Hespe 50.

§ 15. earl Friedrich von Gerber

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nen deutschen Staatsrechts, nämlich Maßstab zu sein für die Beurteilung der positiven Staatsrechte in Deutschland. Ja, es wird dieser Bestimmung besser gerecht als die üblichen, in die positive Rechtsdarstellung ein allgemeines Recht hereinnehmenden Systeme des deutschen Staatsrechts: als eine Theorie der positiven Staatsrechte in Deutschland wahrt es unzweideutig den Abstand zum Staats- und Verfassungsrecht des einzelnen Staates. Allerdings, es verzichtet auf rechtspolitische Belehrung. 2. Die ältere konstitutionelle Staatsrechtsschule hat Gerbers "Grundzüge" sofort beim Erscheinen nicht ohne Kritik gelassen, sie trugen Hennann Schulze und Mohl in Aegidis neuer Zeitschrift vor40 . Die Kritik beider41 richtet sich gegen Gerbers scharfe Betonung der staatlichen Willensherrschaft, dabei berufen sich beide, unbeeindruckt vom politisch-sozialen Wandel, auf die ältere ganzheitlich-ethische Staatsidee. Ihre Abgrenzungsversuche von Gerbers System zeigen die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre jedoch eher schon auf dem Rückzug vor der in Gerbers System selbstbewußt sich anmeldenden formalistischen Staatsrechtswissenschaft. So begrüßen beide Gerbers Versuch eines wissenschaftlichen Neuansatzes als durchaus überfällig, Schulze rühmt an Gerbers System den ,juristischen Geist" und die "präzise Form" als wissenschaftlich beispielgebend. Dies hindert die beiden Vertreter der älteren Schule jedoch nicht daran, scharf jene Positionen Gerbers zu bezeichnen, die das ältere Fach aufgrund seiner organisch-konstitutionellen Anschauung nicht akzeptieren konnte, nämlich Gerbers Annahme eines beliebigen Wollen-Könnens der Staatsgewalt, seine Abwertung der staatsbürgerlichen Rechte, auch das Herausfallen der Selbstverwaltung und des Verwaltungsrechts aus seinem "zentralistischen" System; Schulze kritisiert zudem Gerbers Ablehnung einer allgemeinen staatsrechtlichen Einleitung ins positive Staatsrecht, d. h. er geht nach wie vor davon aus, daß die volle Klärung der staatsrechtlichen Grundbegriffe nur von einer Wissenschaft erwartet werden kann, deren Gegenstand nicht das positive Recht ist. 3. Gerbers Staatsrechtssystem war ein Übergang. Zum einen kündigt sich in ihm die neue, streng rechtsdogmatische Staatsrechtslehre an, die im Bismarckreich vorherrschend wird, zum anderen hat es mit dem älteren, in der Folge abschätzig als zu wenig ,juristisch" gescholtenen Fach noch den Gegenstand gemeinsam: das gemeine deutsche Staatsrecht. Schule im eigentlichen Wortsinne hat der in Gerbers Arbeiten zum Durchbruch gelangte staatsrechtswissenschaftliche Positivismus aufgrund der neuen geschichtlichen Lage nach der Auflösung des Deutschen Bundes nicht machen können. Der Positivismus, der kennzeichnend für Paul Labands die Entwicklung des Faches im Reich von 1871 anführende große Darstellung des neuen Reichsstaatsrechts ist, kann jedenfalls von Gerbers wissenschaftlichem Staats40 Vgl. H. Schulze, Über Princip, Methode und System des deutschen Staatsrechts, Aegidis Zeitschr. 417 ff.(zu Gerber 418-426); Mohl, Bemerkungen über die neuesten Bearbeitungen des allgemeinen deutschen Staatsrechts, Aegidis Zeitschr. 354 ff.(zu Gerber 363-378). 41 Zu ihr v. Oertzen, Soziale Funktion 239 ff.; Fioravanti 289 ff.; Pauly 124ff.

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3. Teil: Die ältere konstitutionelle Staatsrechtslehre

rechtspositivismus deutlich unterschieden werden: Labands Positivismus kann sich mit der systematischen Bearbeitung eines gegebenen positiven Rechtsstoffs rechtfertigen, Gerbers Positivismus hatte sich noch durch schöpferische Stofferzeugung zu legitimieren.

Vierter. Teil

Die Staatsrechtswissenschaft des kaiserlichen Deutschland § 16. In der Bahn der selbständigen Dogmenwissenschaft I. Labands Reichsstaatsrecht und Methode. - H. Die Staatsrechtsliteratur der Übergangszeit bis 1876. - III. Die juristische Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreiches im Spiegel ihrer Literaturgattungen. - IV. Vetfassungsgeschichtlicher Hintergrund und politische Funktion. - V. Außerdeutsche Wirkungen.

I. 1. Gerber hatte das deutsche Staatsrecht zur selbständigen juristischen Dogmenwissenschaft umgestaltet. Sein Gegenstand war jedoch noch das allgemeine ("gemeine") deutsche Staatsrecht, das neue positive Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches von 1871 bearbeitete er nicht mehr. Zum führenden Bearbeiter des letzteren wurde Paul Laband l . Sein erstmals von 1876 bis 1882 erschienenes mehrbändiges "Staatsrecht des Deutschen Reiches,,2 war zwar nicht die überhaupt erste systematische Darstellung des neuen Reichsstaatsrechts 3 , aber dessen erste umfassende und anerkannte auf neuer methodischer Grundlage, es führte für die ganze Zeit des kaiserlichen Reiches die Literatur über das Reichsstaatsrecht an. Vier Auflagen des großen Werkes, jeweils gründlich neubearbeitet, sind erschienen, die letzte 1911 / 14.

Im Vorwort von 1876 hat Laband die geschichtliche Lage, in die er seine große Arbeit hineingestellt sah, wie folgt beschrieben: "Je längeren und je festeren Bestand die neue Verfassungsform hat, desto müßiger erscheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für heilsam oder für schädlich zu erachten sei. Die ErSiehe über ihn § 17 1. Bd. I 1876; Bd. 2 1878; Bd. 3/1 Die bewaffnete Macht, 1880; Bd. 3/2 Finanzrecht, 1882. 3 Zuvor war als systematische Darstellung schon L. v. Rönne, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2 Bde., 2. völlig umgearbeitete Auf!. 1876/77 erschienen. Gleichzeitig mit Labands Darstellung, nämlich erstmals 1878, ist erschienen ein Lehrbuch des deutschen Staatsrechts von Georg Meyer. I

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4. Teil: Die Staatsrechtswissenschaft des kaiserlichen Deutschland

richtung des Norddeutschen Bundes und die Erweiterung desselben zum Deutschen Reich erscheint immer mehr als eine unabänderliche Tatsache, in welche auch deljenige sich schicken muß, dem sie unerwünscht ist. Die Verfassung des Reiches ist nicht mehr der Gegenstand des Parteistreites, sondern sie ist die gemeinsame Grundlage für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt das Verständnis dieser Verfassung selbst, die Erkenntnis ihrer Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folgesätze und die wissenschaftliche Beherrschung der neu geschaffenen Rechtsbildungen ein immer steigendes Interesse. ,,4 Diesem Interesse konnte nach Laband nur die strenge Bearbeitung des Staatsrechts des neuen Reiches nach juristischem Gesichtspunkt genügen: nach der ,juristischen Methode". Daß er in seiner großen Bearbeitung des Reichsstaatsrechts diese Forderung zielstrebig zu beherzigen suchte, wurde allgemein beifällig begrüßt5 . Was jedoch mit der Behandlung des Staatsrechts nach der ,juristischen Methode" im einzelnen gefordert war, wurde zu keinem Zeitpunkt unumstritten geklärt. 2. Laband hat, was er die "juristische Methode der Behandlung des Staatsrechts" nennt, durchaus nur kurz erläutert: in Vorworten zu seinem "Staatsrecht des Deutschen Reiches,,6. Die Schlüsselsätze stehen im Vorwort zur 2. Auflage von 1887/88: "Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts liegt aber in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen. Zur Lösung dieser Aufgabe gibt es kein anderes Mittel als die Logik; dieselbe läßt sich für diesen Zweck durch nichts ersetzen; alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen - so wertvoll sie an und für sich sein mögen - sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang und dienen nur zu häufig dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen."? Als eine ausreichende Erläuterung von Labands Methodik können diese vielzitierten apodiktischen Sätze nicht gelten 8 . Auch Laband hat natürlich sachliche Er4 Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1,5. Aufl. 1911, S. V (aus dem Vorwort zur 1. Aufl.). 5 Auch O. Gierke hat in seiner großen Laban