Geschichte der Baumwollindustrie in Russland vor der Bauernemanzipation [Reprint 2019 ed.] 9783111658629, 9783111274287


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German Pages 138 [144] Year 1906

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VORREDE
INHALT
LITERATURÜBERSICHT
ERSTER ABSCHNITT. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE
I. DIE NATÜRLICHEN GRUNDLAGEN
II. DIE SOZIALEN UND WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN
III. DIE GEWERBLICHEN BETRIEBSFORMEN
ZWEITES ABSCHNITT. DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE (BIS 1800)
DRITTER ABSCHNITT. KLEINBETRIEB UND ÜBERGANG ZUM GROSSBETRIEB IN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE (1800—1861)
I. AUSBREITUNG BIS ZUM MOSKAUER ZUSAMMENBRUCH (1812)
II. DIE DRUCKEREI IN IWANOWO
III. DIE WEBEREI IN MOSKAU UND WLADIMIR
IV. DIE SPINNEREI IN ST. PETERSBURG
V. DIE ANFÄNGE DER FABRIKGESETZGEBUNG
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Geschichte der Baumwollindustrie in Russland vor der Bauernemanzipation [Reprint 2019 ed.]
 9783111658629, 9783111274287

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ABHANDLUNGEN AUS DEM

S T A A T S W I S S E N S C H A F T L I C H E N SEMINAR zu

S T R A S S B U R G i. E. HERAUSGEGEBEN

VON

G. F. KNAPP UND W. WITTICH.

HEFT XXI. W I L H E L M HAMMERSCHMIDT: GESCHICHTE DER BAUMWOLLINDUSTRIE IN RUSSLAND TOR DER BAUERNEMANZIPATION.

STRASSBURG VERLAG VON KARL J. TRÜBNER

1906

GESCHICHTE DER

BAUMWOLLINDUSTRIE IN RUSSLAND YOR DER BAUERNEMMZIPATION. VON

WILHELM HAMMERSCHMIDT DOKTOR DER STAATS WISSENSCHAFTEN.

HIT EINER KARTE.

STRASSBURG VERLAG VON KARL J. TRÜBNER

1906

H. DuMont Schauberg, Straflbarg.

VORREDE. Die vorliegende Arbeit ist der erste Teil einer größeren Untersuchung über die Baumwollindustrie in Bußland und schließt mit dem Jahre 1861, dem Jahre der Bauernemanzipation, ab. Die 60 iger Jahre sind für die Baumwollindustrie der Markstein einer neuen Entwickelungsphase, da die Aufhebung der Leibeigenschaft Bußland in sozialer Beziehung ein neues Gepräge gab und die Baumwollkrise auf die Industrie der Baumwolle wirtschaftlich einen nachhaltigen Einfluß ausübte. Der Gesichtspunkt, von dem aus die Entwickelung der Baumwollindustrie betrachtet wird, ist die Frage der Änderung ihrer Verfassung. Die Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise stellte sich ein, da die Mangelhaftigkeit und Unzuverlässigkeit des Materials eine von dem Gesichtspunkt der räumlichen Unterscheidung ausgehende oder vorwiegend auf statistischen Zahlen beruhende Untersuchung nicht zuließ. Andererseits gestattet die Hervorhebung des Momentes der Verfassung das Betonen des Generellen und Prinzipiellen in der Entwickelungsgeschichte der Baumwollindustrie. Diese Notwendigkeit ist kein unangenehmer Zwang; nur eine scharf prinzipielle Betrachtungsweise erscheint uns für eine wirtschaftshistorische Arbeit angebracht Der Gesichtspunkt der Verfassungsänderung ließ es unzweckmäßig erscheinen, die Einwirkung der Handelspolitik auf die Industrie und die Lage der Arbeiter abgesondert zu behandeln. Die wenigen vorhandenen Nachrichten über die Lage der Arbeiter sind dazu verwendet worden, den Typus der Verfassung plastischer hervortreten zu lassen. Die Handelspolitik wurde in ihren Einwirkungen auf die Entwickelung der Industrie im Zusammenhange mit der Schilderung des Fortschreitens der einzelnen Industrie-



VI



zweige behandelt; oft dient sie auch nur als volkswirtschaftlicher Hintergrund. Der Fabrikgesetzgebung ist ein besonderes Kapitel gewidmet, weil sich in ihr die Stellung der Regierung zu Fabrikanten und Arbeitern und das Verhältnis der Unternehmer und Arbeiter zueinander anschaulich wiederspiegelt. Denn nur, wenn man sich ein möglichst klares Bild vom gegenseitigen Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern verschafft, kann man die soziale Entwickelung innerhalb einer Industrie verstehen. Der erste Abschnitt soll eine Einführung in die russische Volkswirtschaft darstellen, er soll eine wirtschaftshistorische Übersicht in ihren Grundzügen geben. Einer Schilderung von Land und Leuten und von der wirtschaftlichen Struktur, in ihren lokal und sozial verschiedenen Entwickelungsformen, schließt sich eine Darstellung der gewerblichen Betriebsformen an. Die Ausführlichkeit, mit der die gewerblichen Betriebsformen behandelt werden, hat den Zweck, die Eigenart der Verfassung der Baumwollindustrie besonders zu unterstreichen. Dieser vorbereitenden Einführung folgen die beiden Abschnitte über die Geschichte der Baumwollindustrie von ihren Anfängen bis zum Jahre 1861. Die Scheidung in zwei Abschnitte vor und nach der Jahrhundertwende ist aus praktischen Gründen vorgenommen worden, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen. Das Material, das die Unterlagen zu dieser Arbeit bildet, ist sehr zerstreut und häufig unzuverlässig. Die Unzuverlässigkeit des alten Materials hat auch in neuere, sonst sehr verdienstvolle, wirtschaftshistorische Arbeiten manchen Eehler hineingetragen. Wir haben uns bemüht durch eine genaue Sichtung des Materials, durch mancherlei Kombinationen mit statistischen Zahlen und durch sorgfältige Studien über die allgemeine volkswirtschaftliche Entwickelung des Landes, die Schwierigkeiten einer wahrheitsgetreuen Schilderung, die in der Geringwertigkeit des Materials liegen, zu überwinden. Die eigene Anschauung von Land und Leuten, die wir in einem langjährigen Aufenthalt in Rußland gewonnen haben, hat uns die Vorstellungsmöglichkeit der Ereignisse, der Personen und Dinge erleichtert und die Zusammenhänge des lückenreichen Materials vermittelt. —

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VII



Während meiner Bonner und Straßburger Studienzeit hörte ich nationalökonomische Vorlesungen bei den Herren Professoren Gothein, Dietzel, Knapp, Sartorius Frhr. von Waltershausen und Wittich, von denen ich viel Wissenswertes lernte. Zu besonderem Danke bin ich meinem hochverehrten Lehrer Herrn Professor G. F. Knapp verpflichtet Seine Vorlesung über Praktische Nationalökonomie bot mir vielfache Anregung und seine objektive, geistvolle und scharfsinnige Art, große Zeiträume zu übersehen und das Wesentliche auch der verworrensten Yerfassungsformen plastisch herauszuarbeiten, gab mir viele Fingerzeige wie man wahrhaft wissenschaftlich arbeiten soll. Ich möchte auch nicht verfehlen, den Herren der Universitäts- und Landesbibliothek in Straßburg und der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg für ihr liebenswürdiges Entgegenkommen meinen besten Dank auszusprechen.

INHALT. Seit«

literaturübersicht

XI Erster A b s c h n i t t .

DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE. I. Die natürlichen Grandlagen II. Die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen Entstehen der russischen Unfreiheit. — Die russischen Bauern projeziert auf die Volkswirtschaft der Zeiten Peters des Großen. — Ihre Verfassung und Beschäftigung: Fixierung des bäuerlichen Gewerbes, lokal und sozial. — Die Leinen Weberei. III. Die gewerblichen Betriebsformen 1. Die Possessionsfabriken. 2. Die gutsherrlichen Fabriken. 3. Die bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabriken. Zweiter

1 6

17

Abschnitt.

DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE (BIS 1800). Die ersten Baumwollstoffe in Rußland. — Die Baumwollbearbeitung in Iwanowo: der günstige Boden, der Anstoß von außen. — Die Unternehmer. — Stellung der Regierung. — Die Arbeiter. — Die Betriebe. Dritter

35

Abschnitt.

KLEINBETRIEB UND ÜBERGANG ZUM GROSSBETRIEB IN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE (1800—1861). I. II. DI. IV. V.

Ausbreitung bis zum Moskauer Zusammenbruch (1812) Die Druckerei in Iwanowo Die Weberei in Moskau und Wladimir Die Spinnerei in St. Petersburg Die Anfänge der Fabrikgesetzgebung

. . .

60 69 67 88 108

LITERATURÜBERSICHT. In d e u t s c h e r S p r a c h e : A n o n y m , (Weber) Das veränderte Rußland; Frankfurt und Leipzig 1738—1740. B r ü c k n e r , Die Europäisierung Rußlands; Gotha 1888. B r ü c k n e r, Peter der Große (Allgemeine Geschichte von Oncken) Berlin 1879. Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft; Tübingen 1901. E n g e l m a n n , Die Leibeigenschaft in Rußland; Leipzig 1884. Georgi, Bemerkungen einer Reise im russischen Reiche in den Jahren 1772, 1773, 1774; 2 Bde., St. Petersburg 1775. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. I, Art. Arbeiterschutzgesetzgebung. Zweite Auflage 1899. Bd. II, Art. Bauernbefreiung. Bd. II, Art. Baumwollindustrie. H a x t h a u s e n , von, Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands; 2 Bde., Hannover 1847. Herkner, Die oberelsässische BaumWollindustrie und ihre Arbeiter; Straßburg 1887. Kilburger, Kurzer Unterricht vom russischen Handel (1674). Aus Büschings Magazin für neuere Geschichte und Geographie; III. Teil, Hamburg 1769. Knapp, G. F., Kolleg über Praktische Nationalökonomie (Ackerbau, Gewerbe, Handel). Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen; 2 Bde., Dresden und Leipzig 1841. Luxemburg, Die industrielle Entwickelung Polens; Leipzig 1898. Miljukow, Skizzen russischer Kulturgeschichte; 2 Bde., Leipzig 1896. Aus dem Russischen. N i k o l a i - o n , Die Volkswirtschaft in Rußland nach der Bauernemanzipation ; München 1899. Aus dem Russischen. O l e a r i u s , Offt begehrte Beschreibung der persianischen Reise, so durch Gelegenheit einer holsteinischen Legation an den König von Persien geschehen; Schleswig 1647. Oncken, Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und der Befreiungskriege ; (Allgemeine Geschichte von Oncken ) 2 Bde., Berlin 1886. Ordega, von, Die Gewerbepolitik Rußlands von Peter I. bis Katharina II.; Tübingen 1885.



XII —

P a l l a s , Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches; 3 Bde., St. Petersburg 1771—1776. R o s e n b e r g , Zur Arbeiterschutzgesetzgebung in Rußland; Leipzig 1895. S c h i e m a n n , Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus 1.; Bd. I, Berlin 1904. S c h l ö z e r , von, (Haigold) Neu verändertes Rußland oder Leben Katharina II.; Riga und Leipzig 1767. S c h m o l l e r , Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre; 2 Bde., Leipzig 1901, 1904 S c o b e l , Geographisches Handbuch; Bielefeld und Leipzig 1899. S t i e d a , Peter der Große als Merkantilist; Russische Revue Bd. IV., 1874. S t i e d a , Russische Zollpolitik; Jahrb. f. Ges., Verw. u. Volksw. 1883. Bd. VII. Neue Folge. S t o r c h , Gemälde von St. Petersburg ; 2 Teile Riga 1793. S t o r c h , Historisch-Statistisches Gemälde des russischen Reiches ; 9 Bde., Riga 1797—1803. S t o r c h , Rußland unter Alexander I.; 8 Bde., St. Petersburg und Leipzig 1804—1806. S c h u l z e - G ä v e r n i t z , von, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland; Leipzig 1899. W a l l a c e , Mackenzie, Rußland; Leipzig 1880. Aus dem Englischen. W i t t s c h e w s k y , Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik ; Berlin 1905. In r u s s i s c h e r S p r a c h e : Allrussische Ausstellung in Moskau 1882. Historisch-Statistische Übersicht der russischen Industrie. Bd. II: Die Industrie der Faserstoffe. B e s o b r a s off, Die Volkswirtschaft in Rußland ; 2 Bde., St. Petersburg 1882. B l i o c h , Die Finanzen Rußlands im 19. Jahrhundert; 4 Bde., St. Petersburg 1882. B r a n d t , Das ausländische Kapital; St. Petersburg 1901. Fabriken des europäischen Rußland. Ausgabe des Departements für Handel und Manufaktur. St. Petersburg 1894. G a r e l i n , Die Stadt Iwanowo-Wosnessensk; 2 Bde., Schuja 1884. Geschichte des Finanzministeriums 1802—1902 ; 2 Bde., St. Petersburg 1902. Jahrbuch der Freien Ökonomischen Gesellschaft; 1854, Bd. III, Abt. II. Desgl. Bd. III, Abt. II. 1860. K a u f m a n n , Die Kreditbillette, ihr Sturz und Wiederaufrichtung; St. Petersburg 1888. K r j u k o w , Schilderung der industriellen Kräfte des europäischen Rußland; St. Petersburg 1853. L i t w i n o w - F a l i n s k y , Die Fabrikgesetzgebung und die Fabrikinspektion in Rußland ; St. Petersburg 1904. L o d y s h e n s k y , Die Geschichte des russischen Zolltarifs ; St. Petersburg 1886. Material zu einer Statistik Rußlands. Gesammelt vom Ministerium des kaiserlichen Hauses. Bd. 1, 1858.



XIII



M e s c h t s c h e r s k y und Modsalewsky, Sammlung von Materialien zur Hausindustrie in Rußland; St. Petersburg 1874. Mitteilungen über die Manufakturen in Rußland im Jahre 1812. Ausgabe des Ministeriums des Innern 1812. Desgl. für die Jahre 1813 und 1814. N i s s e l o w i t s c h , Die Geschichte der Fabrikgesetzgebung in Rußland; 2 Bde., St. Petersburg 1883, 1884. P o k r o w s k y , Sammelwerk von Mitteilungen Ober Geschichte und Statistik des auswärtigen Handels Rußlands; St. Petersburg 1902. P r o k o p o w i t s c h , Zur Arbeiterfrage in Rußland; St. Petersburg 1905. Radzig, Die Baumwollindustrie in Rußland; St. Petersburg 1891. Rechenschaftsbericht des Komitees der Moskauer Getreidebörse für 1900. Rußland am Ende des 19. Jahrhunderts. Ausgabe des Finanzministeriums; St. Peterburg 1900. Sammelwerk von Mitteilungen und Materialien des Finanzministeriums; 1865 No. 6 und No. 10. Sammelwerk des Statistischen Komitees des Gouvernements Wladimir. Bd. V. 1866. S c h e r e r , Die Baumwollindustrie. Übersicht über die Industrie Rußlands. Bd. II. 1863. S c h e r e r , Übersicht über die Pariser Weltausstellung 1867: Die Baumwollindustrie. S c h i s c h m a r e f f , Kurze Schilderung der Industrie im Gebiete derNishnyNowgorod'schen und der Schuja-Iwanowoschen Eisenbahnen; St. Petersburg 1892. Semenow, A., Statistische Mitteilungen Uber die Manufakturindustrie in Rußland; 8 Bde., St. Petersburg 1857. Semenow, P., Geographisch - Statistisches Wörterbuch des russischen Reiches; 3 Bde., St. Petersburg 1863—1865. Semewsky, Die Bauern unter der Regierung der Kaiserin Katharina II.; 2 Bde., St. Petersburg 1901, 1903. • Statistik der Baumwollindustrie für 1900. Offizielle Ausgabe. Tengoborsky, Die Produktivkräfte Rußlands; St. Petersburg 1868. T u g a n - B a r a n o w s k y , Die russische Fabrik in der Vergangenheit und Gegenwart; St. Petersburg 1900. Vollständige Gesetzessammlung, zweite Ausgabe. Zeitschriften: Gonvernementsnachrichten von Wladimir 1854, Nr. 30. Der Industriebote 1860. Die Industriezeitung 1866, Nr. 33. Das Wissen 1871, Nr. 3. In f r a n z ö s i s c h e r S p r a c h e : L e r o y - B e a u l i e u , L'empire des Tsars et lesRusses; 3 Bde., Paris 1881 bis 1889. Scherer, Histoire raisonnie du commerce de la Russie; 2 Bde., Paris 1788.



XIV



In e n g l i s c h e r S p r a c h e : Statutes at Large, 14. Geo. III. 21. Geo. DI. 82. Geo. DI. 6. Geo. IV. Watts, The facts of the cotton

(1774). (1781). (1782). (1825). famine; London 1866.

R u s s i s c h e Maße und Gewichte: Eine Arschin = 0,71119 m. Eine Dessjatine = 1,09262 ha. Ein russisches Pfund = 409,5 gr. Ein Pud (40 Pfund) = 16,3805 kg.

ERSTER ABSCHNITT.

DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE. I. DIE NATÜRLICHEN GRUNDLAGEN. Das russische Reich ist der größte Staatskörper der Welt Es ist aber auch infolge seiner Ausdehnung das vielartigste Gebilde in bezug auf Bevölkerungszusammensetzung und Bodengestaltung; Bodengestaltung hier nicht im geologischen, sondern im wirtschaftlichen Sinne gebraucht Es erscheint deshalb doppelt notwendig, einer Darstellung wirtschaftshistorischer Verhältnisse Rußlands eine kleine Skizze von Land und Leuten vorausgehen zu lassen, das Wesentliche zu unterstreichen, das Unwichtigere schwächer zu betonen oder auszuscheiden. Von dieser Grundidee ausgehend, wollen wir das Asiatische Rußland, welches ungefähr dreiviertel des Gesamtgebietes umfaßt, eliminieren; wir beschränken uns also auf das Gebiet des Europäischen Rußland. Im Norden wird Rußland von dem Nördlichen Eismeer und dem Weißen Meer begrenzt, die in zahlreichen Buchten in die Küsten einschneiden. Im Westen stößt es an Schweden und Norwegen, an die Ostsee, Deutschland, Österreich-Ungarn und Rumänien. Im Süden zieht die Grenze dem Schwarzen und dem Asowschen Meere, Kaukasien und dem Kaspischen Meer entlang. Im Osten bildet das Uralgebirge die natürliche Scheidewand zwischen Europa und Asien. Die Bodengestaltung ist im allgemeinen äußerst gleichförmig und einheitlich. Die Mannigfaltigkeit liegt in der durch H a m m e r s e h m i d t , Baumwollindustrie in Rufiland.

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2

I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN

BAU1IW0LLINDUSTRIE.

die Verschiedenheit des Klimas hervorgerufenen Teilung in vollständig verschiedenartige Zonen. Jeder Zone gibt die Zusammensetzung und Gestaltung des Bodens und die Einwirkung des Klimas einen besonderen, typischen Charakter, welcher dem wirtschaftlichen Leben eines jeden Landstrichs seinen Stempel aufdrückt. Der nördlichste Teil besteht aus Tundren, d. h. aus moosbedeckten Sümpfen und Sumpfsteppen mit armer Vegetation, die den größten Teil des Jahres in Eis und Schnee erstarrt sind. An diesen Glaziallandstrich schließt sich südlich ein umfangreiches Gebiet an, das man seiner ungeheuren "Wälder wegen als Waldzone bezeichnet Im Norden bedecken Nadelwälder, im südlicheren Teile Laubwälder diesen Landstreifen, der in seinen südlichen und westlichen Ausläufern die nördlichste russische Kulturzone für Gerste, Hafer und Roggen darstellt. Auch Kartoffeln und Flachs sind wichtige Kulturpflanzen, doch besteht der Wert des Landes in seinem Holzreichtum. An die Waldzone angrenzend, liegt der mittelrussische Landstrich, der in seinem nördlichen Teile einen Übergangscharakter trägt und südlich das Gebiet der Schwarzerde umfaßt, auf deren außerordentlicher Fruchtbarkeit hauptsächlich die Bedeutung der mittelrussischen Gouvernements für den Getreidebau beruht. Yon dem Gebiete der Schwarzerde bis zum Schwarzen und Kaspischen Meere erstrecken sich die Steppen, die in der Nähe der Flußläufe mit reichem Graswuchs bedeckt sind und im Süden in die Salz- und Sandsteppen entarten. Von diesen Zonen fiel im wirtschaftlichen und politischen Leben Rußlands dem mittelrussischen Landstrich stets eine führende Rolle zu: teils aus geographischen, teils aus ethnologischen Gründen, wenn wir hier von den historischen und wirtschaftlichen Einwirkungen absehen wollen. Jedenfalls war die Bevölkerung in diesem Gebiete seit den ältesten Zeiten die dichteste. Der nördliche Teil des mittelrussischen Landstrichs ist der Sitz von Handel und Gewerbe, es ist das Gebiet, welches jetzt der wichtige mittelrussische oder zentrale Industriebezirk einnimmt. Der fruchtbare Boden der Schwarzerde sichert im südlichen Teile dem Getreidebau die Vorherrschaft.

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DIE NATÜRLICHEN GRUNDLAGEN".

Diese beiden Landstreifen, die sich gegenseitig ergänzen, sind durch ein weitvergliedertes Flußsystem mit allen Teilen des großen Reiches verbunden. Die größte Verkehrsader Rußlands, die Wolga, vermittelt den Verkehr mit dem Süden; durch einen ihrer Nebenflüsse, die Kama, und durch einen Kanal nach der Wytschegda und Dwina wird das Eismeer erreicht. Mehrere andere Kanalsysteme vereinigen durch die Neva und den Ladogasee Wolga und Ostsee. Einen zweiten Wasserweg nach der Ostsee gestattet der Dnjepr durch eine Verbindung mit der Düna, dem Njemen oder der Weichsel. Der älteste, weil nichtkanalisierte, Verkehrsweg war die Wolga, welche den Verkehr nach dem Kaspischen Meere und von dort nach Mittelasien vermittelte. Auf diese Weise war dem mittelrussischen Landstrich die Möglichkeit einer Kommunikation mit Osten und Westen, Norden und Süden geboten. Schiffahrtsstraßen waren aber in Rußland von besonderer Wichtigkeit, weil es an einem ausgebauten, engmaschigen Landstraßennetz fehlte, und der Eisenbahubau erst in den 70 er Jahren energischer betrieben wurde. Der zentralen Lage des mittelrussischen Landstrichs und seinen günstigen Verkehrsbedingungen entsprechen Veranlagung und Charakter der Bewohner. 1 ) Infolge der Nachbarschaft Asiens und der Lage am Völkertor hat Rußland ein außerordentlich buntes Völkergemisch aufzuweisen. In dieser vielartigen Zusammenschweißung, die aus germanischen, romanischen, litauischen, mongolischen Völkerschaften und einer zahlreichen jüdischen Bevölkerung besteht, nehmen die Slaven die erste Stellung ein. Die slavische Bevölkerung füllt das Innere des Reiches aus, während die anderen Völkerschaften an den Grenzen im Nordwesten, Westen, Süden und Südosten angesiedelt sind. Die Slaven sind in einen westlichen und einen östlichen Zweig zu scheiden, von denen der westliche Zweig, die Polen, das Weichselgebiet bewohnt Der östliche Zweig der Slaven, die Russen, zerfällt in die Groß') Scobel, Geographisches Handbuch, Bielefeld und Leipzig 1899, S. 458, 459; Leroy-Beaulieu, L'empire des Tsars et les Russes, Paris 1881 bis 1889, I. S. 101—108 ff. 1*

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN

BAUMWOLUNDUSTRIE.

russen, die das Innere des Reiches einnehmen und nach Norden und Osten vorgedrungen sind, die Weißrussen im Westen und die Eleinrussen im Süden. Die Großrussen, die eine glückliche Mischung slavischen und finnischen Blutes darstellen, sind der weitaus größte und wegen seiner Veranlagung wesentlichste Teil der Ostslaven. Der Großrusse, wie Leroy-Beaulieu ihn nennt, „das kraftvollste Element der russischen Nation", 1 ) ist meist von mittlerer Statur, öfter groß als klein und kräftiger als die übrigen Slaven. Seine Hautfarbe ist weiß, die Augen blau, das Haupthaar blond, hellbraun oder rot, meist hat er einen langen und dichten Bart Er hat viel Anpassungsvermögen, Geduld, dagegen wenig Stolz und Individualität. Zu diesen Charaktereigenschaften tritt eine besonders ausgebildete Veranlagung für Handel und Gewerbe.*) Die Großrussen, über das Innere des russischen Reiches verbreitet, stellen auch das weitaus größte Kontingent der Bevölkerung des mittelrussischen Landstrichs. Der zentrale Industriebezirk, bestehend aus den Gouvernements Moskau, Wladimir, Twer, Jaroslaw, Kostroma, Nishny-Nowgorod, Kaluga zählt 97 %>, der zentrale Ackerbaubezirk mit den Gouvernements Tula, Rjasan, Orel, Tambow, Pensa, Woronesh 96 °/o Großrussen.3) Der Zusammenhang der Charaktereigenschaften und Veranlagungen dieser Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Entwickelung ist ohne weiteres verständlich: Geduld und Anpassungsvermögen, die Tugenden des Ackerbauers, dienten der Entwickelung des südlichen Bezirkes, während die gewerbliche Rührigkeit das gedeihliche Fortschreiten des nördlichen Teiles förderte. Jedoch darf man die Wechselwirkung von Charakterbildung und wirtschaftlicher Tätigkeit nicht übersehen. Der mittelrussische Landstrich ist also durch seine zentrale Lage, die vorzüglichen Verkehrsbedingungen und die Veranlagungen seiner Bewohner besonders ausgezeichnet; wirtschaft') Leroy-Beaulieu, a. a. 0. I. S. 101. *) Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1901. I. S. 152. ') Rußland am Ende des 19. Jahrhunderts. Ausgabe des Finanzministeriums. St. Petersburg 1900. S. 36—41.

DIE SOZIALEX UND WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN.

5

liehe Momente riefen im nördlichen Teile gewerbliche Tätigkeit hervor, während im südlichen Teil der reiche Schwarzerdeboden nur den Ackerbau wirtschaftlich zweckmäßig erscheinen ließ. II. DIE SOZIALEN UND WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN. Das Gesamtgebiet des Großfürstentums Moskau im IB. und 14. Jahrhundert zerfiel in sogenanntes „weißes", in gewissem Sinne steuerfreies, und „schwarzes" steuerbares Land.1) „Weiß" waren die Domänen der Fürsten, die Besitzungen der Geistlichkeit und der Bojaren; auf dem „schwarzen" Lande saßen freie, selbständige Bauern. Auf ihren Schultern ruhte der größte Teil der Steuerlast; als ihren obersten Grundherrn erkannten sie den Fürsten an. Die auf dem „weißen" Lande ansässigen Bauern standen zu ihrem Grundherrn in einem Pachtverhältnis. Die Pacht wurde nach Übereinkommen festgesetzt und in natura, selten in Geld, entrichtet Eine allmähliche Verschmelzung des „schwarzen" mit dem „weißen" Lande fand statt, als die Großfürsten, durch innere und äußere Kriege auf die Leistungen ihrer Dienstmannen angewiesen, ihre Erkenntlichkeit durch Verleihen von Dienstgütern zu bezeugen begannen. Zu diesen Verleihungen wurden allgemein Ländereien „schwarzer" Bauern verwendet. Nach der Praxis der alten moskowischen Behörden, der sogenannten Prikase, gehörte nämlich alles Land, was niemandem in den Büchern dieser Behörden zu eigen verschrieben war, dem Großfürsten.®) Dieser zum Gewohnheitsrecht gewordene Satz war ein so bequemer Rechtstitel, daß im 16. Jahrhundert „schwarzes" Bauernland im zentralen Rußland kaum noch zu finden ist Der Verschmelzungsprozeß wurde noch dadurch gefördert, daß die Fürsten, schon im 15. und 16. Jahrhundert beginnend, „schwarzes" Land ihren Domänen zu') Das Großfürstentum Moskau umfaßte um das Jahr 1500 das jetzige Gouvernement Moskau und die nächst gelegenen kleinen Städterepubliken und Teilfürstentümer — Nowgorod, Fskow, Twer, Rjasan — und bedeckte eine Oberfläche von etwa 40000 Quadratmeilen. Brückner, Die Europäisierung Rußlands. Gotha 1888. S. 6, 7. *) Engelmann, Die Leibeigenschaft in Rußland. Leipzig 1884. S. 17.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN

BAUMWOLLINDUSTRIE.

gliederten und Kirchen und Klöster gleichfalls mit „schwarzem" Land reichlich dotierten.1) Das Verhältnis des Grundherrn zum („weißen") Bauern beruhte rechtlich auf einem Vertrag: Der Bauer wurde auf ein oder mehrere Jahre Pächter des Gutsherrn und hatte, wenn er fortziehen wollte, den Vertrag zum Herbst-Georgentag (26. November) zu kündigen. Ein kleines Hindernis dieser Freizügigkeit war die Verschuldung der Bauern; denn nur selten besaßen die Bauern Kapital genug, ,,um eine Wirtschaft selbständig zu begründen und bis zur ersten Ernte ihr Leben zu fristen".8) Ohne seine Schuld abgetragen zu haben, durfte natürlich der Bauer nicht abziehen. Unschwer jedoch fand er einen neuen Herrn, der, um ihn zu sich herüberzulocken, seine Schulden bezahlte. Die Freizügigkeit der Bauern war also für den reichen Grundherrn, der den Bauern aus seinem alten Schuldverhältnis lösen konnte, äußerst günstig; entsprechend ungünstig war die Lage der ärmeren Gutsherrn. Aus Mangel an Arbeitskräften verödeten ihre Güter, und sie konnten die Steuern, die vom Grund und Boden erhoben wurden, nicht mehr auftreiben. Da die Erhaltung dieses kleinen Landadels für den Moskauer Staat Lebensbedingung war, wurde als polizeifiskalische Maßregel die Hörigkeit eingeführt: durch Ukas von 1597 wird der Vertrag zwischen Grundherr und Bauer für unkündbar erklärt. Der Grundherr erhält somit das Recht, seinen Bauern festzuhalten und ihn, wenn er wegzieht, zurückzufordern. Höriger war nur derjenige, der einen Pachtvertrag abgeschlossen hatte; nach dem Tode des Vaters trat in die Hörigkeit, wer den Hof übernahm. Der Hörige durfte die Scholle nicht verlassen, aber auch nicht vom Hofe vertrieben werden. Die Verpflichtungen mußten nach wie vor durch Vertrag bestimmt werden. So ungefähr gestaltete sich die Hörigkeit nach dem Ukas von 1597; tatsächlich aber, da es kein festes Recht und kein gerechtes Gericht gab, nahm die ') Semewsky, Die Bauern unter der Regierung Katharina II. St. Petersburg 1901, 1903. II. S. 2, 597. •) Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. II. Art. Bauernbefreiung S. 400; vgl. auch Miljukow, Skizzen russischer Kulturgeschichte. Leipzig 1898. I. S. 206.

DIE SOZIALEN CXD WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN.

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Hörigkeit ganz andere Formen an: Hörig sein hieß, nach Engelmann, damals „gefesselt der Privatwillkür der Gutsherren gegenübergestellt sein".1) Immerhin hatto der Bauer noch eine Möglichkeit, sich der Bedrückung zu entziehen; war der Vertrag auch für unkündbar erklärt so bestand für den Gutsherrn das Recht, einen weggelaufenen Bauern zurückzufordern nur innerhalb der ersten 5 Jahre; nach Ablauf dieser 5 Jahre war also der Bauer vor Verfolgungen seines früheren Herrn sicher. Nun wurde dieses Rückforderungsrecht durch das Gesetz, die Uloshenije, von 1649 für unverjährbar erklärt Die Freizügigkeit war dadurch tatsächlich unmöglich gemacht und so der Schlußstein zur Hörigkeit gelegt Entscheidend für das Verhältnis zwischen Grundherr und Bauer war jetzt nicht mehr der Vertrag, sondern das Eintragen in Land- und Steuerrollen, — die Hörigkeit wurde erblich für alle Familienglieder und Nachkommen. Eine weitere Verschärfung der Unfreiheitsverhältnisse trat ein, als die Reformen Peters des Großen (1689—1725), mit eiserner Hand durchgeführt, revolutionierend auch in die russische Agrarverfassung eingriffen; aus finanziellen Gründen wurde 1719 die frühere Grundsteuer in eine Kopfsteuer umgewandelt, die gleichmäßig von allen Bauern erhoben wurde. „Die Bauern werden zu Leibeigenen".') Von dieser Maßnahme wurden die Bauern naturgemäß verschieden schwer betroffen. Wo die frühere Grundsteuer schon von den Bauern entrichtet worden war, da wurde jetzt die Kopfsteuer auf sie abgewälzt; wo die Grundherrn früher die Grundsteuer bezahlt hatten, da übertrugen sie die, für sie zumeist unvorteilhaftere, Kopfsteuer auf die Bauern, oder suchten den Mehraufwand durch Erhöhung der ihnen zu leistenden Abgaben und Dienste zu decken. Im ganzen wurde zweifellos durch die Einführung der Kopfsteuer die Summe der bäuerlichen Abgaben erhöht. ') Engelmann, a. a. 0. S. 62. ») Leroy-Beaulieu, a. a. 0 . 1 . S. 390,391; Mackenzie Wallace, Rußland. Leipzig 1880. S. 578, Ö79; Handwörterbuch der Staatswissenschaften II. S. 401.

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I. DIE GRÜNDUNGEN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE.

Die rassischen Bauern zu Peters des Großen Zeiten zerfielen in 4 Gruppen: Domänenbauern, die auf Apanagengütern sitzenden sogenannten Apanagenbauern, Bauern der Geistlichkeit und gutsherrliche Bauern. Die Verhältnisse der gutsherrlichen, der Domänenbauern und Bauern der Geistlichkeit waren ähnliche wie in Westeuropa, sodaß wir von einer näheren Erläuterung dieser Begriffe absehen können.1) Die Apanagengüter waren fürstliche Domänen, die durch Erbschaft, Kauf, Tausch usw. erworben worden waren; eine starke Ausdehnung erfuhren sie im 14. und 15. Jahrhundert infolge der Besitzergreifung vieler „schwarzer" Ländereien durch die Fürsten; eine weitere Vergrößerung und eine Verwaltungsverbesserung führte Peter der Große durch.2) Bevor wir diese Bauernbevölkerung auf ihre wirtschaftliche Tätigkeit hin untersuchen, müssen wir, um eine Operationsbasis zu erhalten, eine kleine Skizze von Land und Leuten und von der wirtschaftlichen Struktur des petrinischen Rußland geben. Rußland umfaßte im Todesjahr Peters (1725) 274 230 Quadratmeilen mit 14 Millionen Einwohnern. 3 ) Im Norden begrenzte das Eismeer und das Weiße Meer, im Westen die Finnischen Seen, ein Teil der Ostsee, weiter südlich der Lauf des Dnjepr das russische Gebiet; im Süden waren das Asowsche und das Easpische Meer die Grenzen, während im Osten noch weit nach Asien Rußlands Macht und Herrschaft hineinragten; als ökonomische Grenze kann im Osten der Ural angenommen werden, da Sibirien eine andere wirtschaftliche Struktur hatte. Die Bevölkerung war relativ gleichmäßig verteilt, da nur eine geringe Anzahl von Städten vorhanden war, und dadurch größere Bevölkerungskonzentrationen unterblieben. Besonders schwach besiedelt waren die Tundren und Wälder im Norden und Nordosten und die Steppen im Süden; durch eine größere ') Die Kirchengüter wurden 1764 säkularisiert und dem staatlichen Domänenbesitze einverleibt; die Bauern, anfangs dem neugeschaffenen Kollegium für Ökonomie zugewiesen, wurden allmählich den Domänenbauern gleichgestellt. Semewsky, II. S. 264, 267. ») Semewsky, a. a. 0. II. S. 1, 2, 123, 124. 3 ) Mackenzie Wallace, a. a. 0. S. 721.

DIE SOZIALEN UND WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN.

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Dichtigkeit zeichneten sich die Gebiete an verkehrsreichen Flußläufen und die Landstriche mit sehr fruchtbarem Boden aus; am dichtesten war die Bevölkerung im Zentrum des Reiches, um Moskau herum.1) Die Bevölkerung bestand neben den Adeligen, Geistlichen, Beamten, den Militärpersonen und dem Hofstaat aus der großen Masse der Kopfsteuerpflichtigen. Die Kopfsteuerpflichtigen machten 85,3 °/o der gesamten Bevölkerung aus und setzten sich aus den Bauern, Kaufleuten und Handwerkern zusammen. Die Bauern repräsentierten 97,38%, die Kaufleute 2,49°/'o und die Handwerker 0,13 °/o der steuerzahlenden Bevölkerung. Im Verhältnis zu der Gesamtbevölkerung stellten die Bauern 84,1 °/o.4) Aus der außerordentlich großen Zahl der Bauernbevölkerung und aus der geringen Entwickeltheit der Städte wird man unschwer schließen können, daß landwirtschaftliche und ländlich-gewerbliche Tätigkeit die Hauptbeschäftigung der Bevölkerung ausmachte. Die wirtschaftliche Struktur war gleichmäßig und primitiv. Das Bußland der Zeiten Peters war fast ausschließlich Agrarstaat. Mit Ausnahme der wenigen Städte bedeckten abgeschlossene Hauswirtschaften, Gutshöfe und Bauernhöfe, die weiten Ebenen vom Eismeer bis zur Steppe, vom Ural bis zur Westgrenze. Inneres und äußeres Staatsleben stand in den Kinderschuhen; der Handel war, soweit er in den Händen von Bussen sich befand, Kleinhandel; den überseeischen, zum Teil sogar den russischen Binnenhandel beherrschten Ausländer.8) Von den ') Miljukow, a. a. 0. I. S. 11. *) Diese Zahlen sind sämtlich für die dritte Revision, d. h. Zählung der Kopfsteuerpflichtigen (1762—64) berechnet, da uns entsprechende Zahlen für die erste Revision (1722—24) fehlen. Jedoch werden die relativen Angaben auch die Zeit der ersten Revision recht genau treffen. Die Bevölkerung von Großrußland und Sibirien betrug 1762—64 ungefähr 17 Millionen: 7 346 263 waren Kopfsteuerpflichtige, davon 7153890 Bauern. Semewsky, a. a. 0. I. S. 17, 18. *) Tugan-Baranowsky, Die russische Fabrik in der Vergangenheit und Gegenwart. St. Petersburg 1900. S. 2; Kilburger, Kurzer Unterricht vom russischen Handel (1674). Aus Büschings Magazin für neuere Geschichte und Geographie III. Teil Hamburg 1769, S. 248, 249, 322; Storch, Historisch-Statistisches Gemälde des russischen Reichs. Riga 1797—1803. IV. 417, V. 125, 126. Scherer, Histoire raisonnie du commerce de la Russie.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUM WOLLINDUSTRIE.

Städten, die als Rückzugsorte vor andringendem Feind entstanden sind, war erst 1 6 4 8 — 1 7 0 0 eine größere Anzahl zu wirklich städtischem Leben gekommen (v. Keußler).1) Auch von diesen waren nur wenige zu Mittelpunkten des Handels geworden, z. B. Moskau, Archangel, Astrachan, Nowgorod, Pskow. Mittelpunkte des Gewerbes waren die Städte des alten Rußland nicht Diese wenigen Handels- und Bevölkerungszentren, auch das Vorhandensein einer Moskauer Großkaufmannschaft, bedeuteten wenig „in dem Meere der bäuerlichen Naturalwirtschaft, welches das vorpetrinische Rußland darstellte". 2 ) Von einem Gewerbe im Sinne eines zunftmäßig betriebenen Handwerks konnte demnach nicht gesprochen werden; ein städtisches Gewerbe war nicht vorhanden, und alle Bemühungen Peters und seiner Nachfolger, ein städtisches zünftiges Handwerk ins Leben zu rufen, waren ergebnislos.3) Dagegen war auf dem Lande eine reichgegliederte gewerbliche Tätigkeit entwickelt. Wohl war der Ackerbau das Primäre — die ländliche Bevölkerung widmete sich in erster Linie landwirtschaftlicher Tätigkeit. Doch schon in ältester Zeit genügte diese Tätigkeit zur Bedürfnisbefriedigung oft nicht, sodaß, unterstützt durch die langen arbeitsleeren Wintermonate, der Bauer zu gewerblicher Beschäftigung veranlaßt wurde. Ursprünglich waren die gewerblichen Produkte nur für den Eigenbedarf der Hauswirtschaften bestimmt; allmählich wurden Überschüsse verkauft, doch war die Erzeugung von Tauschwerten „nur Nebenbeschäftigung neben landwirtschaftlicher Tätigkeit als Hauptbeschäftigung". 4 ) Es handelt sich hier also in erster Linie doch um eine hauswirtschaftliche Eigenproduktion; es ist nach Büchers Terminologie das Hauswerk und zwar in seiner fortgeschrittensten Paris 1788. I. S. 113. Brückner, a. a. 0. S. 297, 376, 377, 378. v. SchulzeGävernitz, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland. Leipzig 1899. S. 7. ») Schmoller, a. a. 0 . I. S. 267. ') v. Schulze-Gävernitz, a. a. 0 . S. 7. s ) Wittschewsky, Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik. Berlin 1905. S. 12. 4 ) Ordega, Die Gewerbepolitik Rußlands von Peter I. bis Katharina II. Tübingen 1885. S. 7.

DIE SOZIALEN UND WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN.

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Entwickelungsform: die ländliche Bevölkerung verlegt sich in der Folge auf einen besonderen Zweig des Hauswerks und produziert auf Absatz. Allmählich „bildet sich, wie in vielen Teilen Bußlands, aus dem Hauswerke ein unendlich formenreiches bäuerliches Kleingewerbe". 1 ) Dieses Produzieren auf Absatz geschah in Rußland in bescheidenem Maße schon zu Zeiten Peters; die erzeugten Waren wurden durch herumziehende Kaufleute aufgekauft und auf Messen und Märkten vertrieben. 4 ) Das Bild des russischen gewerblichen Lebens im Anfang des 18. Jahrhunderts ist vollständig, wenn wir der wenigen Fabriken gedenken, die aber ihrer geringen Anzahl und ihres technischen Unvermögens wegen zu gar keiner Bedeutung gelangten. 3 ) Auf diese Weise fiel dem ländlichen bäuerlichen Kleingewerbe eine hervorragende Rolle zu; es ersetzte in gewissem Sinne das westeuropäische zünftige Handwerk. E s entsteht nun die Frage, wie sich das ländlich-bäuerliche Gewerbe unter die schon genannten vier Gruppen der Unfreien verteilte, und ob es geographisch verschieden intensiv betrieben wurde. Einleitend ist zu bemerken, daß bäuerliches Gewerbe nicht überall und nicht in gleichem Maße neben landwirtschaftlicher Tätigkeit zu finden war. Manche Zweige gewerblicher Tätigkeit waren außerdem in Abhängigkeit von historischen, ökonomischen und wirtschafts-technischen Gründen an bestimmte Landstriche gebunden. Die gewerblich tätigen Kräfte wurden aus sozialen und ökonomischen Gründen hauptsächlich von einer der vier großen Gruppen der russischen Unfreien gestellt Die folgenden Seiten sind einer Untersuchung über die Verteilung der gewerblichen Tätigkeit in den drei Zonen uDd über den Grad der Beteiligung der verschiedenen Unfreiengruppen gewidmet. In der Waldzone und den noch nördlicher gelegenen Gel ) Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. Tübingen 1901. S. 189, 190, 191. ») Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 2, 4; Ordega, a. a. 0. S. 82. ») Scherer, a. a. 0. II. S. 41; Storch, a. a. 0. III. S. 14,15, 26. Ordega, a. a. 0. S. 6, 7, 8.

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I. DIE GRUNDLAGEN' DES BÜSSISCHEN' BAUMWOLLIN'DUSTRIE.

bieten mit ihren undurchdringlichen Wäldern und zahlreichen fließenden und stehenden Gewässern saßen zum größten Teil Domänenbauern und Bauern der Geistlichkeit;1) ihre Lage war erträglich, yor allem wohl durch die reichliche Landzuteilung.4) Da der geringwertige Boden und das rauhe Klima den Ackerbau vielfach nicht aufkommen ließen, betrieben die Bauern als Hauptbeschäftigung Viehzucht, Jagd und Fischerei oder, als Holzfäller usw., eine höchst unrationelle Waldwirtschaft 3 ) Daneben war das Wandergewerbe stark entwickelt, während sonstige Gewerbe kaum vorhanden waren. Gutsherrliche und Apanagenbauern waren im Norden kaum zu finden, da dem Fürsten wie auch dem adeligen Grundherrn der reiche Ackerboden des Schwarzerdelandstrichs viel verlockender erschien. Im 18. Jahrhundert scheinen sich allerdings die Apanagenländereien mehr nach Norden hin ausgedehnt zu haben, während im Zentrum durch große Schenkungen und Verleihungen viel früheres Apanagenland in den Besitz adeliger Grundherren überging. In den südlich an die Waldzone anschließenden jetzigen mittelrussischen Gouvernements waren hauptsächlich gutsherrliche Bauern angesiedelt 4 ); nach der Beschäftigungsart der Bewohner ist dieser Landstrich streng in zwei Teile zu scheiden. In dem nördlichen Teile hatte die extensive Wirtschaftsweise die Erträge, aus dem so wie so schon wenig fruchtbaren Boden, derartig herabgesetzt, daß die durch landwirtschaftliche Tätigkeit erzielten Güter allein zur Bedürfnisbefriedigung und zur Leistung der Abgaben an den Grundherrn nicht genügten. Dieses Defizit in den bäuerlichen Budgets konnte nur dadurch gedeckt werden, daß die Bauern ihre gewerbliche Tätigkeit ') Semewsky, a. a. 0 . I. S. III; II. S. 195. ») Semewsky, a. a. 0. II. S. 266, 264, 265, 596. *) Semewsky, a. a. 0. II. S. 697. 4 ) Für die Zeiten Katharina II. hat Semewsky genaue Berechnungen über die Verteilung der gutsherrlichen Bauern angestellt. Von der Gesamtbauernbevölkerung waren gutsherrliche Bauern in den Gouvernements: Smolensk 80°/o, Twer 64°/», Jaroslaw 76°/o, Kostroma 72°/o, Moskau 66'/o, Wladimir 6 7 ° / o , Nishny-Nowgorod 69°/«, Kaluga 83°/o, Tula 80°/o, Rjasan 75°/o, Orel 68«/«, Pensa 61®/«, Tambow 45°/«, Kursk 47°/«, Woronesh 37»/o. Semewsky, a. a. 0 . I. S. 584.

DIE SOZIALEX UND WIRTSCHAFTLICHEN GRUNDLAGEN.

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steigerten. Diese Entwickelung wurde von den Grundherren, deren Macht rechtlich kaum beschränkt war, durch Erhöhung von Abgaben und Diensten gefördert. Dem Grundherrn stand es jederzeit zu, die Landanteile beliebig zu schmälern oder den Bauern das Land ganz wegzunehmen. Es lag vollständig in seiner Hand, die Bauern zum Betreiben bestimmter Gewerbe zu zwingen, indem er entsprechende Abgaben in natura verlangte. So konnte der Grundherr seine Bauern direkt zu gewerblicher Tätigkeit und sogar zur Herstellung bestimmter gewerblicher Produkte veranlassen. Indirekt spornte er sie zu gewerblicher Tätigkeit an, wenn er sie auf Obrok setzte, d. h. sie gegen Zahlung einer Rente von Frohnarbeiten und anderen Verpflichtungen ihm gegenüber entband. Da die landwirtschaftliche Tätigkeit in diesem Landstrich nicht genug einbrachte, um den Obrok zu entrichten, so waren die Bauern darauf angewiesen, zur Herstellung gewerblicher Erzeugnisse für den Markt überzugehen. Entzog der Grundherr ihnen auch noch das Land, so blieb diesen Obrokleuten nichts übrig als abzuwandern und zu versuchen in einem Wandergewerbe, in Handelsunternehmungen oder als Fabrikarbeiter ihren Unterhalt und den an den Herrn zu entrichtenden Obrok zu verdienen. Der Grundherr setzte seine Bauern in erster Linie dann auf Obrok, wenn der Ackerboden schlecht und die auf den einzelnen Bauer entfallenden Landanteile klein waren. E r konnte alsdann aus seinen in Handel und Gewerbe beschäftigten Bauern größere Vorteile ziehen und sein Land noch außerdem verwerten. Semewsky weist im einzelnen für die mittelrussischen Gouvernements nach, daß Frohnde überall dort zu finden ist, wo guter Boden und kleine Güter, umgekehrt das Obroksystem, wo wenig und schlechter Boden und große Güter vorherrschten. Das Obroksystem wiederum bringt Gewerbe, besonders Wandergewerbe, mit sich; unter den Obrok- daher auch gewerbereichen Gouvernements sind für das Ende des 18. Jahrhunderts hervorzuheben: Kostroma (85°/o) Wandergewerbe, Jaroslaw (78°/«), Nishny-Nowgorod (82°/o) Wandergewerbe, Wladimir (50°/o), Kaluga (58°/o) Wandergewerbe; die in Klammern befindlichen

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLI.VDUSTRIE.

Zahlen bedeuten den Prozentsatz des Obroks.1) Das Obroksystem war also, wie aus dem Gesagten leicht zu ersehen ist, für die Entwickelung des Gewerbes von großer Wichtigkeit Außer den schon angeführten Ursachen der Intensität gewerblicher Tätigkeit auf diesem Landesteile, die aber vorwiegend wirtschaftlicher Natur waren, sind es noch auf geographischem und ethnologischem Gebiete liegende Vorzüge, welche zu der Entwickelung gewerblicher Rührigkeit beitrugen. Im Norden begrenzt von der Waldzone, im Süden von der Zone der Schwarzerde, durchquert von der Oka und dem Oberlauf und einem Teil des Mittellaufes der Wolga, nimmt der mittelrussische Landstrich eine im wahren Sinne des Wortes zentrale Lage ein. Wasserverkehrsstraßen vermitteln den Verkehr mit Norden und Süden, Osten und Westen. Das im Norden angrenzende Gebiet liefert Holz, das im Süden anliegende Getreide. Dieser Landstrich mit Übergangscharakter durch seine natürliche Lage zum Sitz von Handel und Gewerbe ganz besonders begünstigt, hat als Bewohner die Großrussen, die sich durch große Betriebsamkeit, Rührigkeit und Fassungsgabe für gewerbliche und Handelstätigkeit auszeichnen.4) Die Neigung der Bewohner Mittelrußlands zu gewerblicher Beschäftigung läßt sich recht treffend durch eine bei dem russischen Nationalökonom Nikolay-on s) zitierte Stelle charakterisieren: „Die Weberei als Hausbeschäftigung, die nicht auf den Markt gelangt, sondern dem persönlichen Gebrauch dient, war den Einwohnern des mittleren Landstriches Rußlands von jeher bekannt. Gewebe für Kleidung, ebenso wie die übrigen Gegenstände des häuslichen Gebrauchs wurden von den Konsumenten selbst produziert, nur die höheren Schichten beuteten die Arbeit ihrer Haussklaven aus. Die patriarchale Lebensstruktur des alten Rußland enthielt keine Elemente, die geeignet waren, die häuslichen Beschäfti*) Semewsky, a. a. 0 . I. S. 20—30. *) Schmoller, a. a. 0 . I. S. 152; BesobrasofT, Die Volkswirtschaft in Rußland. St. Petersburg 1882. I. S. 81. *) Nikolay-on, Die Volkswirtschaft in Rußland nach der Bauernemanzipation, München 1899. S. 130. Zit. aus dem Sammelwerk der statistischen Berichte über das Moskauer Gouvernement B. VII, W. III, S. 32.

DIE SOZIALEN UND WIRTSCHAFTUCHEN CRUNDLAGEN.

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gungen der Bevölkerung in Gewerbe z u verwandeln". A n einer Änderen Stelle heißt es: .,Von jeher bildete die Weberei die Hauptbeschäftigung der Bauern (im Gouvernement Moskau) und zwar zielte diese Produktion auf den persönlichen Gebrauch ab, etwas später kam die Bearbeitung der Leinengewebe und der groben Gewänder für den Markt". Das Vorhandensein eines alten Leinengewerbes in diesem Landstrich stellte auch eine Reihe von Diplomaten und Gelehrten fest. Kilburger, Weber, Schlözer, Pallas, Georgi und Storch, die zu den verschiedensten Zeiten Rußland bereist und dabei volkswirtschaftliche Studien angestellt haben, berichten über die Leinenweberei in Mittelrußland. ] ) Besonders verbreitet soll dieses Gewerbe in dem Gebiet der jetzigen Gouvernements Kostroma, Wladimir und Jaroslaw gewesen sein. 4 ) Kostroma ist schon im 16. und 17. Jahrhundert wegen seiner Leinenausfuhr nach Holland bekannt. 3 ) Es scheint demnach, daß die Leinenweberei unter den bäuerlichen Gewerben in diesem Landstrich eine führende Rolle innegehabt hat. In dem südlichen Teil des mittelrussischeu Landstrichs, in den Gouvernements der Schwarzerde, war Obroksystem und gewerbliche Arbeit wenig bekannt. Der außerordentlich fruchtbare Boden brachte dem Ackerbau die ausschließliche Vorherrschaft. Daraus ergab sich dann, daß die meisten Bauern ( 7 4 °/o) auf Frohnde waren. Von den einzelnen Gouvernements hatte Smolensk 70 °/o, Tula 92 %, Rjasan 8 1 °/o, Tambow 78 °/o, Orel 6 6 % , Kursk 92°/o Frohnde. 4 ) Wandergewerbe wurden in ge') Kilburger, a. a. 0.; Anonym (Weber), Das veränderte Rußland, Frankfurt und Leipzig 1738—iO; v. Schlözer (Haigold), Neuverändertes Rußland oder Leben Katharina II. Riga, Leipzig 1767; Pallas, Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches, St. Petersburg 1771 —76. 3 Bde.; Georgi, Bemerkungen einer Reise im russischen Reiche in den Jahren 1772, 1773, 1774. St. Petersburg 1775, 2 Bde.; Storch, a. a. 0. ») Besobrasoff, a. a. 0. I. S. 53. ') Semenow, Geographisch-Statistisches Wörterbuch des russischen Reiches. St. Petersburg 1863—65. II. S. 747. 4 ) Ausnahmen kamen natürlich vor: z. B. Twer und Moskau, in denen die Frohnde vorherrschte im nördlichen Teil, und Kaluga, Pensa and Woronesh mit vorwiegend Obrokbauern im sttdlichen Teil; doch waren

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I. DtE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHES BAUMWOLLLVDUSTRIE.

ringem Maße, sonstige gewerbliche Tätigkeit über den Eigenbedarf der Wirtschaften hinaus so gut wie gar nicht betrieben. Ihre schlechte ökonomische Lage konnten diese Bauern nicht verbessern, ebensowenig wie sie sich den Fesseln der Leibeigenschaft entziehen konnten. Die in den mittelrussischen Gouvernements neben den gutsherrlichen Bauern ansässigen Apanagenbauern werden, ebenso wie die wenigen Domänenbauern und Bauern der Geistlichkeit, im Norden hauptsächlich Gewerbe, im Süden Ackerbau betrieben haben. Über die Beschäftigungsarten der Bauernbevölkerung in den südlich an den mittelrussischen Landstrich angrenzenden Steppen, ist eine wissenschaftliche Untersuchung nicht bekannt Doch war die Hauptbeschäftigung der Bewohner der Steppe, soweit sie besiedelt war, ohne Zweifel eine landwirtschaftliche; Viehzucht, Pferdezucht und ein äußerst extensiver Ackerbau. Eine Ausfuhr gewerblicher Erzeugnisse nach nördlicher gelegenen Gebieten aus den Steppen ist jedenfalls nicht bekannt. Aus dieser kurzen Untersuchung geht zur Evidenz hervor, daß die natürlichen Vorbedingungen des nördlichenTeils des mittelrussischen Landstrichs zu gewerblicher Tätigkeit hindrängten; unter der bäuerlichen Bevölkerung dieses Gebietes bildeten die gutsherrlichen Bauern weitaus die Mehrheit. Die gutsherrlichen Bauern aber waren aus rechtshistorischen und ökonomischen Gründen ganz besonders auf gewerbliche Beschäftigung angewiesen. Ausschlaggebend war die starre Abhängigkeit von den Grundherren. Bei allen anderen Bauern fehlte der harte Druck, die unmittelbare Nähe des Grundherrn; ihre ökonomische Lage war, wenn auch nicht glänzend, so doch bedeutend besser, als die der gutsherrlichen Bauern. 1 ) Aus der Wechselwirkung dieser beiden Momente, dem besonders geeigneten Boden und der außerordentlich angepaßten Bevölkerung, ist die hervorragende Blüte des bäuerlichen Gewerbes in dem nördlichen Teil des mittelrussischen Landstrichs zu erklären. Als Begleitursachen für die Sonderstellungen immer wichtige Gründe maßgebend. Semewsky, a. a. 0 . I. S. 20—30. ') Semewsky, a. a. 0 . II. S. 5, 26, 78, 255, 265.

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DIE GEWERBLICHEN' BETBIEBSFORMEN.

für diese Entwickelung sind die günstige geographische Lage und die Blutzusammensetzung der Bewohner anzuführen. Unter den bäuerlichen Gewerben des nördlichen Teils des mittelrussischen Landstrichs aber nahm die Leinenweberei eine besonders wichtige Stellung ein. HI. DIE GEWERBLICHEN BETRIEBSFORMEN. Wohl jede historische Studie über Rußland hat mit der Regierungszeit Peters des Großen zu beginnen; reichen die Wurzeln in noch tiefere Zeiten hinein, so ist jedenfalls die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts der Anfang einer neuen Entwickelungsphase. Finanzpolitik, Handels- und Gewerbepolitik, innere und äußere Politik in Rußland müssen Peter den Großen ihren Schöpfer oder grundlegenden Reformator nennen. Wenn wir der wirtschaftlichen Struktur Rußlands gedenken, wenn wir uns an das Fehlen des städtischen Handwerks, an die geringe Entwickeltheit des auf Absatz produzierenden bäuerlichen Gewerbes und an die wenigen unrationell betriebenen Fabriken im vorpetrinischen Rußland erinnern, so muß es uns im höchsten Maße verwundern, unter den Nachfolgern Peters eine leidlich entwickelte Industrie mit einer neuen, recht eigenartigen Verfassung vorzufinden. Peter der Große war, als Kind seiner Zeit, Merkantilist. Auf seinen Reisen (1697—1698) hatte er den Wohlstand und die wirtschaftliche Rührigkeit anderer Völker kennen gelernt; die Armut und gewerbliche Rückständigkeit Rußlands trat ihm nach seiner Rückkehr besonders lebhaft vor Augen. Nachdem er die Zügel der Regierung straff angezogen, die inneren Unruhen und die äußeren Kriege siegreich überwunden hatte, schritt er an den Ausbau des inneren Staatslebens. Auf ein gutorganisiertes Heer sich stützend, regelte er Verwaltung, Gesetzgebung, Rechtspflege und Wirtschaftspolizei.1) Diese Reformen, vor allem der Unterhalt des großen stehenden Heeres, beanspruchten Ausgaben, die aus den alten, ') Brückner, Peter der Große (Allg. Geschichte von Oncken), Berlin 1879. S. 496. H a m m e r a c h m i d t , Baumwollindustrie in RuOland.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUJTWOLLINDUSTRIE.

nicht regelmäßig fließenden Steuerquellen, nicht zu decken waren.1) Es mußte daher eine Reihe neuer Steuerquellen gefunden werden. Zu diesen gehörten auch die Kopfsteuer und eine Reihe wirtschaftspolizeilicher Vorschriften. Dem Bestreben, recht wenig Geld an andere Länder zu zahlen, dem eigenen Lande aber recht viel Geld zuzuführen und dadurch die Staatseinkünfte zu heben, ist auch in letzter Linie, den merkantilistischen Anschauungen Peters entsprechend, die Schöpfung einer Industrie zuzuschreiben.2) Die ersten Bemühungen Peters in derGewerbepolitik richteten sich darauf, eine Industrie zu schaffen, die ihn in seinen zahlreichen Kriegen vom Ausland unabhängig machte.3) Neben Fabriken, die Erzeugnisse für die moderne Kriegstechnik herstellten, wurden Bergwerke, Tuch-, Leinwand-, Papier- und andere Fabriken errichtet. Die Durchführung der Neuerungen, die durch das Befolgen der merkantilistischen Grundsätze hervorgerufen waren, stieß auf große Schwierigkeiten, da alle wichtigeren Voraussetzungen für einen geregelten Gewerbebetrieb fehlten: die technischen Mittel, Maschinen und Werkzeuge mußten aus dem Auslande beschafft werden; Arbeiter, sogar auch ungeschulte, gab es nicht; zudem fanden sich nur wenige Unternehmer, die Kapital, technische Kenntnisse und vor allem Lust hatten, gewerbliche Betriebe zu errichten.4) Deshalb bedurfte es der größten Anstrengungen und weitgehender Konzessionen Peters, um die nötigen Grundlagen für eine lebensfähige Industrie herzustellen. Die meisten Fabriken wurden auf Staatskosten erbaut und eingerichtet und dann einem Unternehmer zur Bewirtschaftung übergeben; andere erhielten Monopole zur Herstellung bestimmter Waren für ganz Rußland oder nur einen Teil desselben auf festgesetzte Zeitdauer, meist 5 oder 10 Jahre. In anderen Fällen ') Brückner, Peter der Große, S. 511. *) Stieda, Peter der Große als Merkantilist, Russische Revue 1874, Bd. IV. S. 197, 198; Brückner, Peter der Große. S. 516 £f.; Wittschewsky, a. a. 0. S. 9, 11. ") Ordega, a. a. 0. S. 38; Nisselowitsch, Die Geschichte der Fabrikgesetzgebung in Rußland, St. Petersburg 1883, 1884. I. S. 19. ') Storch, a. a. 0. III. S. 25.

DIE GEWEBBLICHEN BETBIEBSFOBMEN.

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gab der Staat zinsfreie Darlehen, Geldunterstützungen ohne unbedingte Rückzahlsverpflichtung, Land, Bau- und Heizmaterial, verschrieb ausländische Meister, gestattete zollfreie Einfuhr von Werkzeugen und Maschinen. Alle diese Fabriken, teils auf Staatskosten erbaut, teils mit besonderen Privilegien ausgestattet, werden unter dem Namen P o s s e s s i o n s f a b r i k e n zusammengefaßt Sie standen unter Staatsaufsicht und waren soweit abhängig, daß eigenmächtige technische Veränderungen ebenso wie Änderungen in der Produktion erst behördlicher Genehmigung bedurften. Dafür wurde die Abnahme bestimmter Produktionsmengen gewährleistet. Personen, die derartige Fabriken übernahmen, wurde Abgabefreiheit, Dienstfreiheit und Zollprivilegien versprochen. Trotz dieser bedeutenden Unterstützungen scheinen sich nicht sehr viele russische Unternehmer mit der Übernahme von Fabriken einverstanden erklärt zu haben, denn Peter hat auf seinen Reisen neben Gelehrten, Technikern, Offizieren, Seeleuten und Handwerkern viele Fabrikanten und tüchtige Meister veranlaßt, in Rußland Dienste zu nehmen.1) Da die Ausländer, was Sprache und Kenntnis der Verhältnisse anbetraf, den Russen gegenüber im Nachteil waren, so wurden ihnen noch größere Privilegien bei der Gründung von Fabriken zugesagt, als dieses bei Einheimischen geschah. Es wurde ihnen zugesichert: 1. Der freie Eintritt und das freie Verlassen Rußlands mit ihrem ganzen Vermögen. 2. Der zollfreie Verkauf der in ihren Fabriken gefertigten Produkte, während einer begrenzten Zeit. 3. Das Recht, die notwendigen Rohmaterialien und Arbeitsinstrumente zollfrei in Rußland zu kaufen, sowie aus dem Auslande zollfrei zu beziehen. 4. Sie sollten frei von allen Abgaben, Diensten und von der Einquartierung sein und keiner anderen Obrigkeit als dem Manufakturkollegium unterstehen, welches ihnen in Notfällen zu helfen und sie zu schützen verpflichtet war. ') Auf der ersten Reise 1898 gelang es Peter 640 Industrielle zu gewinnen. Ordega, a. a. 0. S. 36; vgl. auch Storch, a. a. 0 . III. S. 16, 16.



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I. DIE GRUNDLAGEN DES RUSSISCHEN B ACM WOLLINDUSTRIE.

5. Bei ihrer Ankunft in Bußland sollten sie vorbereitete Wohnungen finden und 6. einige Jahre lang Geldvorschüsse von der Krone bekommen.1) Unter solch günstigen Bedingungen sind wohl manche Ausländer nach Bußland gekommen; doch auch ihre Fabriken unterstanden der Beaufsichtigung der ßegierung, die sich, wie bei den Fabriken Einheimischer, vornehmlich auf zwei Punkte bezog. Es wurden den Fabriken die Produktionsmengen, die Art der Herstellung und Qualität der Erzeugnisse vorgeschrieben; den Tuchmanufakturen z. B. die Arten und Breiten der zu verfertigenden Tuche; die Preise wurden für mehrere Jahre im voraus festgesetzt und einige Fabriken, darunter hauptsächlich die Tuchmanufakturen, verpflichtet, nur an den Staat zu liefern. Änderungen in der Technik durften und konnten auch nicht vorgenommen werden, da sich dadurch ja die Produktionsmenge hätte ändern können; „Anpassung der Produkte, der Preise und Löhne an wechselnde Konjunkturen gab es bei diesen Fabriken nicht, ebensowenig wie Konkurrenz untereinander und dadurch erzwungenen technischen Fortschritt".8) Zweitens wurde von Staatswegen das Verhältnis dieser Fabrikanten den Arbeitern gegenüber festgesetzt; vor allem wurde den Besitzern oder Verwaltern von Possessionsfabriken durch Ukas von 1721 das Becht zuerkannt, Bauern mit Land zu ihren Fabriken zu kaufen, jedoch mit der Bedingung, daß diese Dörfer nie von den Fabriken getrennt würden. Manchen Fabrikanten, denen schon eingerichtete Fabriken übergeben wurden, wurde zugleich eine Anzahl Domänenbauern zugewiesen. Jedoch durften Nichtadelige Bauern auf ihren Fabriken nur nach beschränktem Possessionsrecht besitzen. Der praktische Erfolg des Ukas von 1721 war demnach, daß er eine neue, andersartige Klasse von Unfreien schuf, die sich von den anderen russischen Unfreien in erheblichem Maße unterschied.3) Oft konnten die Fabrikanten ') Ordega, a. a. 0. S. 68, 69; Storch, a. a. 0. III. S. 30. ») Schulze-Gävernitz, a. a. 0. S. 33. *) Das Recht Nichtadeliger Bauern zu kaufen, wurde oft geändert:

DIE GEWERBLICHEN BETRIEBSFORMEN.

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billiger als durch Kauf zu den nötigen Arbeitskräften kommen. Vielen wurde in der Form von Privilegien das Recht gegeben, Bettler, Strolche, Verbrecher. Soldatenweiber, Soldatenkinder, öffentliche Mädchen aufzugreifen und in den Fabriken zu beschäftigen. Die Regierung genügte durch diese Maßnahme einem doppelten Zweck; sie entledigte sich einer Menge herumlungernden Gesindels und verschaffte zugleich den Fabrikanten Arbeitskräfte. Ein weiterer sehr wichtiger Teil der Arbeiter auf Possessionsfabriken setzte sich aus den Läuflingen zusammen, die auch zu den billig erreichbaren Arbeitskräften gehörten. Es wimmelte im Reich von Leibeigenen, die der Strenge und Willkür ihrer Herren entlaufen waren; sie wurden aufgegriffen, konnten oder wollten von ihrer Abstammung nichts wissen und wurden ohne weiteres Fabriken zugewiesen. Die Läuflinge bildeten ein für die Possessionsfabriken so wesentliches Kontingent, daß Peter 1722 den rechtmäßigen Besitzern verbot, die Läuflinge zurückzufordern, wenn die Fabrikanten angaben, „daß dadurch die Fabrik Schaden erleiden könnte".1) Diese letzte Tatsache möchten wir besonders hervorheben, da Peter der Große durch eine Reihe von Ukasen die Aufnahme von Läuflingen allen — mit Ausnahme also der Fabrikanten — verboten und mit den schwersten Strafen belegt hat Alle diese den Possessionsfabriken zugewiesenen Bauern: 1762 bestimmte die Kaiserin Elisabeth, wie viele Bauern zu jeder Fabrik gekauft werden dürften. Peter III. verbot den Nichtadeligen überhaupt, Bauern zu erwerben. Katharina II. bestätigte dieses Verbot auf Drängen des Adels bald nach ihrem Regierungsantritt; nur den Ausländern, die auf eigene Rechnung Fabriken in Rußland errichteten, wurde gestattet, Bauern zu kaufen. Paul I. hob das Verbot 1798 auf und gestattete den Ankauf von Bauern zu Fabriken im Rahmen des Ukas von 1752. Da die Fabrikanten oft Umsiedelungen ihrer Fabrikbauern vornahmen, gestattete Alexander I. 1802 den Ankauf von Bauern zu Fabriken nur mit der Beschränkung, daß sie in nächstgelegenen Dörfern gekauft würden und ihr Wohnort nicht geändert werden dürfe. 1816 wurde der Ankauf von Bauern zu Fabriken definitiv verboten. Semewsky, a. a. 0. I. S. 458—463. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 22; vgl. für spätere Zeit Semewsky, a. a. 0. I. S. 466.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER BUSSISCHEX BAUMWOLLINDUSTRIE.

die auf Grund des Ukas von 1721 zu Fabriken gekauften Bauern, die Domänenbauern, die Bettler, die Verbrecher, Läuflinge usw. wurden unter einem der Nachfolger Peters, der Zarin Anna Joanowna (1730—1740), in die Gruppe der Possessionsbauern verschmolzen.1) Anna Joanowna verordnete durch Ukas von 1736, daß alle Arbeiter, die sich an einem bestimmten Tage auf Possessionsfabriken befanden, mit ihren Familien für ewig diesen Fabriken zugeschrieben, d. h. „immobile Pertinenzen" derselben werden sollten. Ausgenommen waren die gewöhnlichen tagelöhnernden Schwarzarbeiter; ferner mußte für Bauern, die anderen gehörten, Zahlung geleistet werden.2) Diese beiden Ukase von 1722 und 1736 beweisen zur Genüge, wie sehr Peter und seine Nachfolger die Industrie unterstützten und wie sehr vor den Interessen der Fabrikanten alle Rücksicht auf andere zurücktrat Zu all diesen verschiedenartigen Elementen, die durch einen Gewaltakt in die Klasse der Possessionsbauern zusammengeschweißt worden waren, traten Ende des 18. Jahrhunderts und hauptsächlich im 19. Jahrhundert zahlreiche Lohnarbeiter, die sich auf Grund eines freien Arbeitsvertrages an die Inhaber der Possessionsfabriken vermieteten. Diese Arbeiter waren, wie auch die Mehrzahl aller Lohnarbeiter, Obrokbauern. Die Possessionsbauern betrachteten sich niemals als Leibeigene des Fabrikanten; sie waren auch nach der Terminologie ihrer Zeit nicht Leibeigene des Fabrikanten, sondern der Fabrik. Sie konnten nur zu Fabrikarbeiten, nicht zu Feldarbeiten oder zu persönlichen Diensten des Fabrikanten angehalten werden; auch hatten sie einen „genügenden Lohn" zu beanspruchen. Die Possessionsbauern durften nicht von der Fabrik wegverkauft, versetzt, freigelassen oder auf andere Fabriken gebracht werden. Sie hatten das Recht, sich über Ungebühr des Fabrikanten zu beschweren. Nachtarbeit gab es kaum, hingegen wurden Frauen und Kinder in Fabriken beschäftigt. Der Lohn wurde meist in *) Der Terminus Possessionsbauern bildete sich erst im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts heraus; er wird jedoch von uns der Einfachheit halber schon auf eine frühere Zeit angewandt. •) Nisselowitsch, a. a. 0 . I. S. 56, 57, 58.

DIE GEWERBLICHEN BETRIEBS FORMEN.

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Geld gezahlt; in manchen Fällen erhielten die Possessionsbauern an Stelle des Geldlohnes Ackerland; sie arbeiteten dann 3 Tage in der Fabrik und 3 Tage auf ihrem Acker. Diese letzte Art der Lohnzahlung erinnert an die Verfassung einer anderen gewerblichen Betriebsform — der gutsherrlichen Fabriken.1) Tatsächlich behandelten die Fabrikanten ihre Possessionsbauern wie Leibeigene. Wie sehr die genau fixierten Rechte der Possessionsbauern nur toter Buchstabe waren, wie willkürlich die Fabrikanten mit ihren Bauern umgehen konnten und wie nachlässig die Beschwerden von den zuständigen Behörden behandelt wurden, beweisen die zahlreichen und oft blutigen Unruhen auf den Possessionsfabriken. Die Anlässe zu den Unruhen sind die verschiedenartigsten: zu geringer Lohn; unberechtigte Strafen und Lohnabzüge, zu lange Arbeitsdauer, zu große festgesetzte Arbeitsleistungen, Wegnahme von Ackerland der Possessionsbauern, Willkür und Grausamkeiten der Fabrikanten ; oft waren die Unruhen auch Akte der Selbsthülfe, wenn die Behörden in der ihnen eigenen Weise die Beschwerden unbeachtet ließen und selbst Eingaben an Senat und Kaiser ohne Erfolg blieben. Da die Beschreibungen, die Tugan-Baranowsky von diesen Unruhen gibt, für die Denkungsart und für die soziale Stellung der Fabrikanten und der Arbeiter äußerst charakteristisch sind und auch das Vorgehen der Behörden vortrefflich beleuchten, sei es uns gestattet, einige Beispiele für Unruhen auf Possessionsfabriken anzuführen. Auf der großen Jaroslawschen Manufaktur in Jaroslawl, einer Leinenweberei, die 1817 außer den Lohnarbeitern 1048 Possessionsbauern männlichen und 1323 weiblichen Geschlechts beschäftigte, entstand 1803 unter den Arbeitern Unzufriedenheit; der Grund war zu geringer Lohn.*) Die Delegierten der Arbeiter, die eine entsprechende Beschwerde der Jaroslawschen Gouvernementsverwaltung vorlegen wollten, wurden abgewiesen und mit Peitschenhieben bestraft, ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 117. ) Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 144, 145.

s

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUJTWOIXJXDUSTKIE.

Diesen Mißerfolg suchten die Arbeiter wett zu machen, indem sie im darauffolgenden Jahre eine Bittschrift an den Kaiser Alexander I. nach Petersburg sandten; doch auch diesen Delegierten ging es nicht besser: sie wurden arretiert, erhielten Peitschenhiebe, und zwar wurde diese Strafe, „um den Arbeitern Gehorsam einzuflößen" auf dem Fabrikhof öffentlich ausgeführt Auch dieser Mißerfolg schreckte die Arbeiter nicht ab; abermals wanderten Delegierte nach Petersburg zum „Väterchen"; die Angelegenheit wurde dieses Mal dem Senat überwiesen, der entschied, die Arbeiter sollten in Zukunft „die hohen Behörden nicht mit so unbegründeten Klagen belästigen". 1806 wurden wiederum Abgesandte nach Petersburg zum Kaiser geschickt, um Klage zu führen über die Gewalttätigkeiten der Besitzer und zu geringen Lohn; der Erfolg unterschied sich in nichts von den früheren: die Abgesandten erhielten Peitschenhiebe und wurden nach Jaroslawl zurückgesandt. Danach scheinen die Arbeiter das Nutzlose ihrer Bemühungen eingesehen zu haben und verhalten sich 11 Jahre ruhig. 1817 erst geht eine Bittschrift an den Minister des Innern Kosodawlew und den Justizminister Troschtschinsky mit dem Ersuchen um Lohnerhöhung. Eine Kommission erscheint daraufhin auf der Fabrik, um die Zustände zu untersuchen: sie findet, daß „die Unzufriedenheit der Arbeiter nicht infolge der Not, sondern infolge Aufstacheins zu Ungehorsam und Eigenwillen entstanden sei". Trotzdem hält die Kommission es für notwendig, den Lohn zu erhöhen. Im nächsten Jahre suchen die Possessionsbauern bei dem Justizminister Fürst Lobanow-Rostowsky um Befreiung nach, da der Besitzer sie mißhandle. Der zur Untersuchung kommandierte Beamte findet die Klage unberechtigt und hält auch den Lohn für genügend hoch. Der Hauptgrund der Unzufriedenheit wäre „die andauernde Trunkenheit und Zügellosigkeit der Leute; ihr Müßiggang bringe sie auf aufrührerische Gedanken". Dabei arbeiteten diese „Müßiggänger" 16 Stunden den Tag. Um die Arbeiter zu beruhigen, wurde ein Reglement für die Fabrik ausgearbeitet; danach wurde der Tagelohn etwas erhöht und die Arbeitsdauer auf 14 Stunden festgesetzt Da den Wünschen der

DIE GEWERBLICHEN BETRIEBSFOBMEN.

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Arbeiter immer noch nicht vollständig Genüge geleistet worden ist, gehen 1823 abermals Delegierte nach St Petersburg und klagen über Mißhandlung seitens des Besitzers und zu geringen Lohn. Nach langen Verhandlungen wird der Lohn um 7 °/o erhöht und die Arbeitsdauer auf 13 Stunden im Sommer und 12 Stunden im Winter herabgesetzt So endigten die 20jährigen Kämpfe hier mit dem Siege der Possessionsbauern, ohne daß irgend welche militärische Maßregeln hätten ergriffen werden müssen. Weit energischer waren die Maßnahmen der Regierung auf der Tuchfabrik von Gardenin im Dorfe Bondary des Gouvernements Tambow.1) Im Jahre 1811 führten die Arbeiter dieser Possessionsfabrik beim Gouverneur von Tambow darüber Klage, daß der Fabrikherr aufgehört habe, ihnen Lohn zu zahlen und ihnen ihr Ackerland weggenommen habe. Einige zur Untersuchung entsandte Beamte meldeten, daß die Arbeiter „aufgehört hätten zu arbeiten und ihnen grob gesagt, sie würden auf der Fabrik auch nicht mehr arbeiten". Als ein Beamter einige Hauptschreier arretieren lassen wollte, eilten alle Arbeiter zur Hülfe und erklärten „sie würden alle Beamten totschlagen und das Haus des Fabrikherrn zertrümmern". Die Beamten verließen darauf eiligst die Fabrik, und es erschien nach mehreren Tagen eine Abteilung Militär. Die Ursachen der Unzufriedenheit der Arbeiter wurden einer nochmaligen Untersuchung unterzogen, die damit endete, daß 4 Hauptanstifter mit der Knute, 3 andere mit einfachen Peitschenhieben bestraft wurden. Die übrigen Arbeiter nahmen daraufhin die Arbeit wieder auf. Auf der Leinen- und Baumwollweberei von Browkin im Gouvernement Tula weigerten sich 1837 die Possessionsbauern weiter zu arbeiten, weil der Fabrikherr ihnen keinen Lohn mehr zahlte. Bei der Untersuchung stellte es sich heraus, daß von 111 männlichen Seelen nur 44 Lohn erhielten; die übrigen erhielten Ackerland, das sie bearbeiten konnten. Trotz der Vorstellungen des Fabrikherrn und der Behörden weigerten sich die Arbeiter, ohne Lohn zu arbeiten; eine Militärabteilung, die bald darauf auf die Fabrik geschickt wurde, statuierte ein Exempel: l

) Tugan-Baianowsky, a. a. 0 . S. 159.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER BUSSISCHEN

BAUMWOLLINDUSTRIE.

8 Anstifter erhielten Peitschenhiebe und wurden nach Sibirien expediert; alle anderen wurden mit einer Polizeistrafe (Ruten) bestraft Das Militär blieb einen Monat im Dorfe stehen, das während dieser Zeit vollständig zugrunde gerichtet wurde, und die Arbeiter nahmen die Arbeit wieder auf.1) Diese Unruhen, die im ersten und hauptsächlich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts in erschreckendem Maße zunahmen, machten den Besitzern von Possessionsfabriken viel Sorge. Dazu kam noch, daß der Fluch der Possessionsfabriken sich fühlbar machte: die Possessionsbauern mußten beschäftigt werden und zwar nur mit Fabrikarbeit; die Produktionsmenge nach der Konjunktur einzurichten, war nicht möglich, weil dieselbe in vielen Fällen vorgeschrieben war; Vervollkommnungen derTechnik waren ausgeschlossen, weil sie bei der festgesetzten Produktionsnorm eine Verringerung der Arbeitskräfte zur Folge gehabt hätten. Außerdem rief die Abhängigkeit vom Kommerzkolleg, das Reglements und Verordnungen meist für jede Fabrik besondersherausgab, andauernde Untersuchungen und Reklamationen hervor, die nur zu ganz geringen Erfolgen führten, aber unglaublich viel Mühen und Reibereien verursachten. Die Lage des Inhabers einer Possessionsfabrik war demnach im 19. Jahrhundert nicht leicht: die Unterstützungen und die Abhängigkeit von der Regierung waren unerträglich geworden ; die unumstößliche Verpflichtung, alle Arbeitskräfte mit Fabrikarbeit beschäftigen zu müssen, die Produktionsmenge aber nicht vergrößern zu dürfen, mußte bei dem rapiden Fortschreiten der Technik jener Zeit, bei der sich frei entwickelnden Konkurrenz und dadurch, daß die Regierung Monopole und Privilegien aufhob oder schmälerte, unbedingt zum Ruin führen. Deshalb forderten die Interessen der Fabrikanten selbst eine Reorganisation des veralteten Instituts der Possessionsfabriken. Verschiedene Eingaben von Fabrikanten, ihren Possessionsbauern die Freiheit geben zu dürfen, führten zum Gesetz vom 20. Dezember 1824, das die Befreiung, genau „die Entlassung der Bauern in andere Beschäftigungsarten" gestattet, jedoch erst ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 160.

DIE GEWERBLICHEN BETBIEBSFOBMEN.

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nach in jedem einzelnen Falle eingeholter Erlaubnis des Ministerkomitees. Diese Bestimmung wurde erweitert durch das Gesetz vom 18. Juni 1840, auf Grund dessen ungefähr 15—20000 Possessionsbauern die Freiheit erhielten. Insgesamt soll auf diese Weise ungefähr die Hälfte der Possessionsfabriken von der erzwungenen zur freien Arbeit übergegangen sein; 1 ) die übriggebliebenen Possessionsbauern mußten sich ihre Lage noch bis zur allgemeinen Bauernreform vom 19. Februar 1861 gefallen lassen. Mit der Bauernreform fielen auch die Possessionsfabriken, nachdem sie 150 Jahre bestanden und die verschiedensten gewerbepolitischen Frontwechsel überlebt hatten. Sie fielen, als ihrer Grundbedingung, der unfreien Arbeit, ein Ende gesetzt war. Aus diesen wenigen Strichen läßt sich die Rolle, die den Possessionsfabriken in den Kinderjahren der russischen Industrie zuteil wurde, etwa folgendermaßen charakterisieren: die Possessionsfabriken waren die ersten großen Manufakturen in Rußland; sie waren die Wiege der russischen Industrie; ihre Verfassung war, so unmenschlich sie dem liberalen 19. Jahrhundert erschien, vom Standpunkt des Merkantilismus Peters, äußerst zweckmäßig; die Auswüchse und die wirtschaftliche Unzweckmäßigkeit traten erst mit den Fortschritten auf den Gebieten der Technik, der Arbeitsteilung und der Kapitalkonzentration hervor. Neben den Possessionsfabriken, diesen für die Zeitgenossen Peters gewerbetechnischen Kolossen, ruhte die Herstellung gewerblicher Erzeugnisse nur noch in den Händen der, sonst meist Landwirtschaft treibenden, Bauern. Die Herstellung gewerblicher Produkte auf Gutshof und Bauernhof geschah in erster Linie für den Eigenbedarf, doch wurden gelegentlich Überschüsse an herumziehende Aufkäufer losgeschlagen. Auf dem Boden dieses bäuerlichen Gewerbes entstand eine andere Betriebsform der jungen russischen Industrie — die g u t s h e r r l i c h e n Fabriken. Die in diesen Fabriken beschäftigten Arbeiter waren, was ohne weiteres verständlich ist, meist leibeigene Bauern des adeligen Gutsherrn. Am übersichtlichsten lassen sich diese Bauern in folgende Kategorien scheiden: ') Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 135.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE.

1. Hofleute; mit den Hofleuten kann man in der deutschen Agrarverfassung am besten das Gesinde vergleichen. Jedoch konnte der russische Grundherr sich die Hofleute aus seinen Bauern beliebig aussuchen und beliebig lange auf dem Hofe behalten. Typisch für die russische „Gesinde"-Verfassung war auch die Größe der Haushaltungen; reiche Adelige brachten es bis auf 500 Köpfe. Man findet unter diesen Dienerschaften Köche, Diener, Mägde, Schneider, Schuster, Kutscher, Gärtner, Tischler, Steinarbeiter, bisweilen auch Ärzte, Architekten, Astronomen, große Musik- und Theatertruppen.l) 2. Die Bauern; zu unterscheiden sind die Fronbauern und die Obrokbauern. Die Fronbauern hatten Abgaben in natura und Dienste zu leisten. Die Obrokbauern hatten keine Dienste zu leisten; sie entrichteten eine Natural- und eine Geldabgabe. 3. Die Obrokleute; sie zahlten eine feste jährliche Geldabgabe, hatten auf dem Lande ihres Grundherrn keinen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern wanderten ab. Sie betrieben vielleicht Landwirtschaft, indem sie von einem anderen Gutsbesitzer Land pachteten; meist aber widmeten sie sich ländlichgewerblichen oder städtischen Berufen oder wurden Fabrikarbeiter. ') Alle diese Bauern haben direkt oder indirekt an der Entwickelung der Industrie mitgewirkt Bei der Schilderung des Entstehens der gutsherrlichen Fabrik ist jedoch für den Anfang die dritte Kategorie, die Obrokleute, auszuscheiden. Weibliche Hofleute, die in Haus und Hof gerade keine Beschäftigung hatten, mußten spinnen und weben, wobei meist die Arbeitsmenge genau bestimmt wurde. Oft wurde auf dem Gutshofe Spinnen und Weben als Frondienst geleistet, vor allem von den Weibern im Winter. So verlangte beispielsweise der Graf Schermetjew in Iwanowo von den Mädchen, die 18—20 Jahre alt waren, 3 Pfund; 20—25 Jahre 5 Pfund; 25—30 Jahre 10 Pfund Gespinst Andere ließen die Bäuerinnen im Jahre je ') Beispiel einer solchen Haushaltung bei Miljukow, a. a. O. I. S. 51. ') Vgl. G. F. Knapps Kolleg über praktische Nationalökonomie (Ackerbau, Gewerbe, Handel).

DIE GEWERBLICHEN BETRIEBS FORMEN.

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12 Arschin Tuch und Leinwand spinnen und weben; falls kein Tuch gewebt wurde, 20—24 Arschin Leinwand.1) Schließlich konnte der Grundherr auch dadurch in den Besitz gewerblicher Produkte gelangen, daß er seine Bauern auf Obrok setzte und die Abgabe neben Geld noch in Gespinst, Geweben und ähnlichem leisten ließ. Da er die Art der zu liefernden gewerblichen Produkte bestimmte, konnte er die Bauern direkt zu dem Betreiben dieses oder jenes Gewerbes zwingen. War die Organisation so weit, wie eben geschildert, vorgeschritten, wird man doch nur von einer Eigenproduktion sprechen können. Wohl konnte der Grundherr die gewerbliche Produktion dadurch steigern, daß er mehr gewerbliche Abgaben verlangte; doch wird er das nur in den seltensten Fällen getan haben, da es nicht in dem Geist jener Zeit lag, große Reichtümer anzusammeln, sondern vor allem nur den Lebensunterhalt zu gewinnen. Ein Umschwung in dieser landwirtschaftlichen Verfassung mit vorwiegend naturalwirtschaftlichem Charakter trat erst ein, als die Grundherren ihre Ansprüche auf Geldabgaben zu steigern begannen. Das Verlangen nach größeren Geldabgaben kam um die Mitte des 18ten Jahrhunderts zum Durchbruch, in Abhängigkeit von dem immer wachsenden Luxusbedürfnis der Grundherren. Die auf dem Gutshofe hergestellten gewerblichen Erzeugnisse genügten den verfeinerten Ansprüchen nicht mehr, es mußten aus Westeuropa importierte Gegenstände angeschafft werden. Wenn man sich noch die Prachtentfaltung des Hofstaats und in den Haushaltungen der Adeligen zur Zeit der Kaiserin Katharina II. gegenwärtig hält, ist das erhöhte Geldbedürfnis des Adels wohl zu verstehen. Geld konnte sich der adelige Grundherr verschaffen, wenn er seine Bauern auf Obrok setzte und die Abgabe hauptsächlich in Geld leisten ließ. Doch war diese Abgabe im Verhältnis zu den Ansprüchen des Grundherrn sehr gering; sie betrug während der Regierungszeit Katharinas durchschnittlich 1—5 Rubel pro männliche Seele.2) ') Der Industriebote, Moskau 1860. S. 201; Semewsky, a. a. 0. I. S. 55, 72. ») Semewsky, a. a. 0. I. S. 52. 53.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN BAUJTWOLLINDUSTRIE.

Bedeutend rationeller war das Produzieren gewerblicher Erzeugnisse auf Absatz: die Arbeitskräfte waren durch die Arbeitsverpflichtung der Fronbauern gesichert Zuerst vereinigte wohl ein Grundherr einen Teil seiner Bauern in Werkstätten, in denen die Arbeit als Frondienst geleistet wurde. Anfänglich waren die Bauern nur bestimmte Tage in solchen Betrieben beschäftigt In manchen Fabriken wurde, wie das damals hieß, „brat na brata" gearbeitet, d. h. genau übersetzt „Bruder für Bruder", also in zwei Schichten, von denen abwechslungsweise jede auf der Fabrik beschäftigt war, während die andere Feldarbeiten verrichtete. ') In diesem Falle wurde also die Fabrikarbeit an Stelle anderer Fronarbeit geleistet. Die Bauern arbeiteten 3 Tage auf der Fabrik als Frondienst und 3 Tage auf dem Felde zu ihrem eigenen Nutzen. Sie erhielten daher auch für die Zeit ihrer Beschäftigung in der Fabrik keinen Lohn. Doch schon bald sahen die Grundherren ein, daß die Bauern abwechselnd mit der Fabrikarbeit und mit Feldarbeiten beschäftigt, nichts ordentliches leisten konnten. Diese Anfänge eines gutsherrlichen Gewerbeunternehmens wuchsen sich also erst zu einem regelmäßigen, stabilen Manufakturbetriebe aus, wenn der Gutsherr die Tauglichsten unter seinen Bauern aussuchte, sie vollständig von den Feldarbeiten losriß und ausschließlich zu Fabrikarbeiten verwandte. Das Gesetz verbot dem Gutsherrn nicht, seine Ackerbauern zu Fabrikarbeitern zu machen. Waren die Bauern vollständig von den Feldarbeiten losgerissen, erhielten sie Wochen-, Monatsoder Stücklohn; der Lohn wurde verschieden ausgezahlt, in Geld oder in Geld und Naturalien. Eine kleine Änderung in der Verfassung der gutsherrlichen Fabrik trat ein, als Paul I. durch Ukas vom 5. April 1797 bestimmte, daß die Bauern ihren Grundherren nicht mehr wie drei Tage in der Woche Frondienste zu leisten hätten. Demzufolge war auch in den Fabriken nur eine dreitägige Fronarbeit möglich, mit anderen Worten von den zur Fabrikarbeit bestimmten Bauern arbeitete immer nur die Hälfte als Fabrikarbeiter, die anderen bearbeiteten für sich selbst das Ackerland, l

) Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 107.

DIE GEWERBLICHEN' BETRIEBSFOBMEN.

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um auf diese Weise den Betrieb kontinuierlich führen zu können. Übrigens gab es noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts gutsherrliche Fabriken, die mit ausschließlich zu Fabrikarbeiten verwendeten leibeigenen Bauern betrieben wurden.1) Viele Gutsherren, die selbst nicht in der Lage waren, Fabriken zu errichten, suchten auf eine andere Weise ihre bäuerlichen Arbeitskräfte in den Dienst der plötzlich vorteilhaft gewordenen Fabrikindustrie zu stellen: sie verkauften oder vermieteten ihre Bauern an Fabrikanten oder an Agenten, die Zwischenhandel trieben. Für jeden gemieteten Arbeiter zahlte der Fabrikant dem Gutsherrn oder Agenten eine bestimmte Summe, meist 25 Rubel per Jahr; der Fabrikant hatte außerdem die Verpflichtung, dem Arbeiter Wohnung zu geben, ihn zu beköstigen und zu kleiden. Waren diese von anderen Gutsherren gemieteten Bauern, die sogenannten Kabalnije Rabotschije, auch sehr billig, so konnte man sie nur dort brauchen, wo wenig Geschicklichkeit und Kenntnisse erforderlich waren; sie gaben sich gar keine Mühe, und stets drohten dem Fabrikanten Fluchtversuche und Diebstähle.*) Neben diesen unfreien Arbeitskräften verwendeten die gutsherrlichen Fabrikanten vor allem seit dem 19. Jahrhundert auch freie Lohnarbeiter, die aus den, von anderen Gutsherren auf Obrok gesetzten Bauern hervorgingen. Als die Grundherren die Vorteile der Fabrikindustrie einzusehen begannen, ergriff sie ein nervöses Gründungsfieber. Die Regierungszeit der Kaiserin Katharina II. zeichnet sich durch einen großen Aufschwung der Industrie aus, nicht zum mindesten durch die Gründungstätigkeit der Grundherren. Die Zeit des Hochstandes der gutsherrlichen Fabrik war das erste Viertel des 19. Jahrhunderts; einen letzten Ansatz zu größerer Ausbreitung machte sie in den 30iger und 40iger Jahren desselben Jahrhunderts, danach sinkt ihre Bedeutung. Mit dem Jahre 1861 wurde ihre ursprüngliche Verfassung zertrümmert; die adeligen Grundherren, nicht mehr in der Lage, die unfreie Arbeit zu benutzen, mußten der Konkurrenz der bürgerlichen Unternehmer ') Semewsky, a. a. 0. I. S. 80. ») Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 92, 93.

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I. DIE GRUNDLAGEN DES BUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTHIE.

mit ihren modernen, kapitalistischen, auf freier Lohnarbeit basierten Betrieben weichen. Zum Vergleich mit den Possessionsfabriken sei noch ein Beispiel des Typus einer gutsherrlichen Fabrik aus dem vortrefflichen Buch von Semewsky erzählt 1 ) Wir bemerken aber ausdrücklich, daß die Verfassung, nicht die Größenverhältnisse des Betriebes, das als besonders typisch Hervorzukehrende ist; die meisten gutsherrlichen Fabriken hatten einen erheblich größeren Umfang. Der Verfassung nach gehört dieser Betrieb der ältesten Periode an, also der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Gutsherr Oserow besaß eine Leinenfabrik im Gouvernement Wjatka; es arbeiteten daselbst 16 männliche und 60 weibliche Leibeigene; die 60 Frauen spannen in besonderen Häusern des Gutsherrn, oder in ihren eigenen Hütten, die 16 Männer verwebten das gesponnene Garn. Sie erhielten Stücklohn; für ein Stück Leinwand 1. Sorte, an dem ein Weber 135 Tage arbeitete. erhielt er 7 Rubel oder 5 Kop. = 10 Pfg. per Tag; für ein Stück Leinwand 2. Sorte, Arbeitsdauer 100 Tage, 4 Rubel Lohn oder 3 8 /* Kop. = 71/« Pfg. per Tag. Außer dem Geldlohn erhielt jeder Weber monatlich 2 Pud = 32,76 kg Roggenmehl. Die Frauen erhielten gar keinen Lohn oder etwas Naturallohn; sie wurden also augenscheinlich vom Gutshof aus beköstigt und gekleidet. Die Zahl der Arbeitstage im Jahre war 224. Die Zahl der Arbeitstage war hier so gering, weil jedenfalls während der Erntezeit die Fabrikarbeiten eingestellt wurden. In gutsherrlichen Wirtschaften war es also möglich, durch die Arbeit der Hofleute, durch Abgaben der Fronbauern und der Obrokbauern und hauptsächlich durch die Fabrikfronarbeit, die gewerbliche Produktion derartig zu steigern, daß sie schließlich zum größten Teil auf den Absatz gerichtet war. In den bäuerlichen Wirtschaften war das anders: der Bauer neigte noch viel weniger als der Grundherr zu einer wesentlich auf den Erwerbszweck gerichteten gewerblichen Tätigkeit Wurde der Bauer nicht zu gesteigerter gewerblicher Arbeit gezwungen, wie das bei den gutsherrlichen Bauern geschah, so begnügte ') Semewsky, a. a. O. I. S. 79, 80.

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DIE GEWERBLICHEN BETRIEBSFORMEN.

er sich mit der Herstellung gewerblicher Produkte für den Eigenbedarf. Eine Ausnahme machte der Norden, dessen bäuerliche Wirtschaften sich naturgemäß zuerst einer erhöhten gewerblichen Tätigkeit zuwandten: der Grund war, wie schon erwähnt, die geringe Fruchtbarkeit des Ackerbodens, auf dem die Bauern saßen, dessen Ertrag Abgaben und Lebensunterhalt nicht aufbringen konnte. Jedoch beschränkte sich die gewerbliche Tätigkeit auf dem Hofe auf wenige und schwach betriebene Zweige, während das Wandergewerbe eine beliebte und gewinnbringende Einnahmequelle war. In den bäuerlichen Wirtschaften war es also im Gegensatz zu den gutsherrlichen nicht möglich, die Produktion beliebig steigernd, auf Absatz zu produzieren; demzufolge kann von einer einheitlichen gewerblichen Verfassung nicht gesprochen werden. Der Unterschied der Possessions- von der gutsherrlichen Fabrik lag in der Verschiedenheit ihrer Entstehungsarten in wirtschaftlicher und gewerbepolitischer Beziehung und in der verschiedenen Intensität der Unfreiheit der Arbeitskräfte vom Gesichtspunkte des damals geltenden Rechts aus. Das gemeinsame ihres Typus war die Anwendung erzwungener, unfreier Arbeit Jedoch konnten die beiden Betriebsarten ihren Typus verhältnismäßig nur kurze Zeit rein halten; schon Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigten sowohl gutsherrliche als auch Possessionsfabriken zahlreiche Lohnarbeiter. Diese gemeinsame Eigenschaft der beiden geschilderten Betriebsformen ist das wichtigste und prinzipielle Unterscheidungsmerkmal von der dritten gewerblichen Betriebsform — den bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabriken. Die Unterscheidung läßt sich jedoch noch weiter ausdehnen: die bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabriken unterscheiden sich von den gutsherrlichen und von den Possessionsfabriken in ihrer Entstehungsart und in ihrer Verfassung. Sie umfassen, wenn wir uns etwas allgemein ausdrücken wollen, Ende des 18. Jahrhunderts alle wichtigeren Industriezweige, die von der Regierung nicht unterstützt worden waren. Damit haben wir die eine wesentliche Art ihres Entstehens: weder Monopole oder Privilegien, noch eine indirekte H a m m e r a c h m i d t , Banrnwollindnitrie in Rußland.

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I. DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCHEN

BAUMWOLLINDUSTRIE.

Unterstützung, wie z. B. das historisch begründete Vorhandensein der Leibeigenschaft das die gutsherrlichen Unternehmer stärkte, wurde den bürgerlich - bäuerlichen Lohnfabriken zuteil. Der Grund des Aufkommens dieser Industriezweige war die Nachfrage. Als weitere Eigenart ist hervorzuheben, daß fast alle Industriezweige dieser Gruppe dem Boden bäuerlichen Gewerbefleißes entsprungen sind. Daraus läßt sich schon manches auf die Verfassung schließen: die Betriebe waren klein, der Unternehmer anfänglich oft ein leibeigener Bauer, der mit seiner Familie oder einigen Verwandten das ganze Arbeiterpersonal vorstellte. Die Arbeit war also nicht erzwungen. War nur die Familie oder Verwandte beschäftigt, so erfolgte wohl die Teilung des Erlöses nach Anordnung des Familienoberhauptes; wurden fremde Arbeitskräfte eingestellt, so erhielten sie Lohn. Das wesentlich Typische an der Verfassung der bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabriken war demnach die Form des Kleinbetriebes im weitesten Sinne des Wortes und die ausnahmslose Beschäftigung von Lohnarbeitern. Die Hauptvertreterin der bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabrikcn ist die Baumwollindustrie. Wir haben bei der Schilderung dieser dritten gewerblichen Betriebsform nur die hauptsächlichsten prinzipiellen Merkmale hervorgehoben, da wir in dem Entstehen und der ersten Entwickelung der Baumwollindustrie die beste Darstellung für die Entstehungseigenart und für die Verfassung der bürgerlichbäuerlichen Lohnfabriken verkörpert finden. Die Baumwollindustrie steht jetzt sowohl in bezug auf die Wichtigkeit für den Volkskonsum, als auch durch die Zahl der beschäftigten Arbeiter an der Spitze der gesamten russischen Industrie.

ZWEITES ABSCHNITT.

DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE (BIS 1800). Die ersten Baumwollstoffe gelangten nach Europa im 12. und 18. Jahrhundert, am wahrscheinlichsten von Indien. Hier und da bürgerten sie sich ein, doch war selbst in England, das in der Technik der Baumwollbearbeitung die ersten Fortschritte machte, bis ins 17. Jahrhundert an eine Ausfuhr nicht zu denken. Man war also auf den Import von Indien angewiesen, das auch tatsächlich während des ganzen Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert Europa mit Kattunen und Baumwolle versah. Jedoch waren die indischen Baumwollstoffe viel zu teuer, als daß sie in allgemeinen Gebrauch hätten kommen können.1) In Rußland sind die Nachrichten über Konsum oder gar Verarbeitung von Baumwollstoffen in ältesten Zeiten sehr verstreut und gering. Die erste uns bekannte sichere Nachricht entstammt dem Jahre 1569, welches dadurch merkwürdig war, daß Zar Joann IV. (1533—1584) einer englischen Handelsgesellschaft ein Handelsmonopol gab. Unter den Einfuhrartikeln der Engländer werden u. a. auch Baumwollstoffe angeführt.') Olearius, der 1636 Rußland bereiste, spricht von „Weiberkleidung von persianisch Kattun", während die Kleidung der Männer auf dem Lande, also der Bauern, meist noch aus Leinwand hergestellt wurde.8) Kilburger, der 1674 in Rußland war, gibt ') Handwörterb. d. Staatswissensch. II. Art. Baumwollind. S. 486—492. •) Storch, a. a. 0. IV. S. 217. 3 ) Olearius, Offt begehrte Beschreibung der persianischen Reise, so 3*

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II. DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE

sogar genaue Zahlen der Einfuhr von Baumwollstoffen nach Archangel an.1) Gelangten die ersten Baumwollstoffe über Archangel oder Cholmogory am Weißen Meer, also im hohen Norden, nach Rußland, so wählten späterhin Baumwollgewebe stets den bequemeren und näheren Weg die Wolga hinauf. Karawanen aus Persien, Buchara, Chiva, selbst aus dem fernen China führten die Baumwollstoffe an die Häfen des Kaspischen Meeres, die dann auf der Wolga bis ins Herz Rußlands drangen. Die buntgefärbten Gewebe scheinen den Russen gefallen zu haben, jedenfalls war der Handel so lohnend, daß orientalische Kaufleute sich veranlaßt sahen, eigene Färbereien in Rußland anzulegen. Die Hausfärberei mit Pflanzensäften war in manchen Gegenden Rußlands und Sibiriens ein altes bäuerliches Gewerbe. Die mit diesen Farben gefärbten Stoffe hatten „ein gutes Ansehen, und viele erhalten sich auch beim Waschen ohne zu verbleichen.2) Als die bunten, vor allem mit türkisch-rot gefärbten, Baumwollgewebe nach Wladimir gelangten, entstanden dort bald Versuche, das Färben nachzuahmen. Zuerst nur auf einer Seite mit vergänglichen Ölfarben. Garelin, ein schriftstellernder Fabrikant, setzt den Beginn der Färberei in Iwanowo, einem Kirchdorf des Gouvernements Wladimir, um den Anfang des 18. Jahrhunderts. Einer Bemerkung aus der Reisebeschreibung von Pallas kann man jedoch entnehmen, daß die Baumwollfärberei selbst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts noch keine allzugroße Ausbreitung gefunden hatte.8) Jedenfalls sind alle Angaben über die Bearbeitung der Baumwolle in Rußland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zum mindesten mit der größten Vorsicht aufzunehmen. Die ersten anerkannten Tatsachen in dem Entstehen einer russischen Baumwollindustrie beziehen sich auf die ersten Jahre der zweiten durch Gelegenheit einer holsteinischen Legation an den König von Persien geschehen. Schleswig 1647. S. 136, 136. ') Kilbnrger, a. a. 0. S. 282, 289. ») Storch, a. a. 0. III. S. 106, 107. *) Pallas, a. a. 0. I. S. 48.

DER RUSSISCHEN BADMW0LLIXDUSTR1E.

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Hälfte des 18. Jahrhunderts und haben als Schauplatz das Dorf Iwanowo. Das Kirchdorf Iwanowo1) — jetzt die nicht unbedeutende Fabrikstadt Iwanowo-Wosnessensk, genannt das russische Manchester, — befindet sich im nordöstlichen Teil des Gouvernements Wladimir im Kreise Schuja, an einem kleinen Flüßchen Uwodj gelegen. Die Einwohner beschäftigten sich mit Ackerbau, Wollschlägerei und der Herstellung von Leinengeweben. Bäuerliches Gewerbe scheint hier schon uralt zu sein; denn trotzdem der Boden sich nicht durch besondere Fruchtbarkeit auszeichnet, ist Iwanowo schon im 16. Jahrhundert als reiches Dorf bekannt.*) Die gewerbliche Rührigkeit der Iwanower rühmt auch der Geschichtsschreiber von Ssusdal, einer Stadt des Gouvernements Wladimir im 18. Jahrhundert: „In diesem Kirchdorf besitzen die Einwohner Leinenfabriken , deren Erzeugnisse auch in anderen Orten einen guten Ruf haben; Kaufleute führen viele dieser Tücher in alle Gegenden".®) Die erste Leinenfabrik in der Nähe von Iwanowo im Dorfe Kochma gründete 1720 ein Ausländer Tames. Diese Fabrik soll der Ausgangspunkt der Iwanowoschen Leinenfabrikation gewesen sein. Nicht unmöglich ist es auch, daß die Leinenweberei durch Wandergewerbe in die nächstliegenden Teile des Gouvernements Kostroma, wo bekanntlich dieses Gewerbe schon im 16. und 17. Jahrhundert blühte, übernommen ist. Auf gleiche Weise wird auch die Leinendruckerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Iwanowo gelangt sein; Anhalt dazu gab die Heiligenbildermalerei, die im Gouvernement Wladimir, vor allem im nächstliegenden Kreise Wjasniki, ein alteingesessenes Gewerbe war.4) Auch war in dem ') Iwanowo wurde 1561 von Joann IV. seinen Schwägern den Fürsten Tscherkassky verliehen; es war vordem schwarzes Dorf; 1741 erhielt es Graf Schermetjew, als er eine Tscherkassky heiratete. Semenow, a. a. 0. II. S. 299. •) Semenow, a. a. 0. S. 299. *) Meschtschersky und Modsalewsky, Sammlung von Materialien zur Hausindustrie in Rußland, St. Petersburg 1874. Zit. Das Gouvernement Wladimir, St. Petersburg 1869. S. 28—30. ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0. Zit. Wladimirsche Gouvernementsnachrichten 1871. Nr. 11.

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II. DAS

ENTSTEHEN

CXD

DIE

ERSTEN

ANFÄNGE

Iwanowo benachbarten Dorfe Gorizy schon vor Mitte des 18. Jahrhunderts eine Druckerei vorhanden, die Leinengewebe mit Ölfarben bedruckte.1) Die Tamessche Fabrik hat für die Weberei in Iwanowo jedenfalls die Bedeutung gehabt, daß kleine technische Vervollkommnungen den bäuerlichen Webern zugänglich gemacht wurden; war doch in jener Zeit die Fabrik die einzige Trägerin technischen Fortschritts, sodaß frühere Fabrikarbeiter oft Pioniere fortgeschritteneren Gewerbes wurden. Die Iwanower waren also Mitte des 18. Jahrhunderts keine Neulinge im Betreiben von Gewerben mehr; auch machte sie die Leinenweberei und Leinendruckerei mit der Beschaffenheit und der Behandlungsweise von Faserstoffen auf das Genaueste bekannt. Trotzdem bedurfte es eines Anstoßes von außen, um die Baumwollbearbeitung in Iwanowo einzuführen. Die Gewerbepolitik Peters des Großen und seiner Nachfolger mit ihrer überschwänglichen Privilegien- uud Monopolwirtschaft bevorzugte in echt merkantilistischer Weise Fabriken, die Waren produzierten, deren Herstellung bis dahin in Rußland noch unbekannt war. Zu diesen bevorzugten Betrieben gehörte auch die erste Baumwolldruckerei, die im Jahre 1752 von 2 Engländern Chamberlain und Cosence in St. Petersburg eröffnet wurde. Im darauffolgenden Jahre erhielten die Besitzer ein Monopol für ihre Erzeugnisse auf 10 Jahre.8) Die ihnen gewährte Unterstützung wurde noch dadurch besonders wirksam, daß die Kaiserin

Elisabeth

mischen

Leinwand

(1741—1762) das Bedrucken der verbot

Dieses Verbot wurde

einhei-

1762

von

Peter III. aufgehoben und diese Aufhebung von Katharina II. bald nach ihrem Begierungsantritt bestätigt; Katharina bestimmte ferner, daß das Monopol den Fabrikanten Chamberlain und Cosence nicht mehr erneuert werden sollte, „wegen des allzu sichtbaren Nutzens solcher Fabriken für das ganze Reich". 3 ) Für die Materialien

aus dem Auslande sollte, wie schon früher, auch in

' ) Jahrbuch der Freien ökonomischen Gesellschaft. 1854. B. III. Abt. II. S. 103. *) Storch, a. a. 0. III. S. 328. 3 ) v. Schlözer, a. a. 0. S. 149.

DER RUSSISCHEN BAUMWOLLIXDÜSTRtK.

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Zukunft der vorgeschriebene Zoll bezahlt werden; die in Rußland bedruckten Stoffe sollten nicht schlechter sein als die ausländischen und nach den festgesetzten Preisen verkauft werden. Weiter ist von dieser Fabrik nichts bekannt, sie kann wohl nach Ablauf des Monopols sang- und klanglos verschwunden sein. Storch berichtet von diesem Monopol: „Der Erfolg hiervon war, daß dieser Zweig der Fabrikation im ganzen Reiche niedergehalten wurde, ohne daß er deshalb in Petersburg zu einer merklichen Vervollkommnung gedieh".1) Eine weit wichtigere Rolle fiel der Fabrik eines anderen Ausländers zu. Ein Deutscher Leimann hatte in Schlüsselburg, einem Städtchen unweit von Petersburg, eine Färberei eröffnet, in der er mit einem, bis dahin in Rußland noch unbekannten, Verfahren Baumwollstoffe färbte. Das Verfahren scheint der russischen Regierung sehr beachtenswert vorgekommen zu sein, denn im Jahre 1764 wurde der Fabrikant Leimann durch Senatsbeschluß veranlaßt, 20 Kinder von Kaufleuten für die Dauer von 12 Jahren auf seine Fabrik zu nehmen und sie in der Farbenmischung und im Drucken zu unterrichten.8) Auf dieser Fabrik befanden sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts mehrere Iwanower, die auf Obrok gesetzt waren und in der Leimannschen Fabrik als Lohnarbeiter Beschäftigung gefunden hatten. Sie erlernten die Druckerei, erwarben sich Kenntnisse in der Farbenzusammenstellung, entwendeten wohl auch einige Geheimnisse der Farbenmischung und kehrten in ihr Heimatsdorf zurück. In Iwanowo angelangt, stellte einer von ihnen, Butrimow mit Namen, da inzwischen auch das Monopol von Chamberlain und Cosence abgelaufen war, mehrere Drucktische und, wie behauptet wird, auch einige Webstühle auf und verwertete so seine in Schlüsselburg erworbenen Kenntnisse.3) Da das Bedrucken von Baumwollstoffen sehr einträglich war, begann bald eine Reihe von Bauern, die über etwas Kapital l ) Storch, a. a. 0 . III. S. 446. *) Semenow, Statistische Mitteilungen über die Manufakturindustrie in Rußland, St. Petersburg 1857. VIII. S. 4. ') Der Industriebote, a. a. 0 . S. 160, 196 ff.

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II. DAS ENTSTEHEN UND DIE EBSTEX ANFÄNGE

verfügten und denen die Leinendruckerei noch von früher Ii er geläufig war, in kleinen Betrieben oder in ihren Hütten dem Beispiele des Butrimow nachzueifern. Doch beschränkte sich die Produktion bei der äußerst primitiven Technik und bei dem Fehlen tieferer Kenntnisse des Färb- und Druckverfahrens auf mehrere hundert Stück bedruckten Baumwollstoffs (das Stück enthielt meistens 50 Arschin = 35,42 m) und auf 2 oder 3 verschiedene Sorten.1) Die große Nachfrage nach bedruckten Stoffen und die enormen Gewinne, welche die Unternehmer einstrichen, ließen manche dieser kleinen Druckereibetriebe schon in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts zu recht ansehnlichen Unternehmungen auswachsen. Die Nachfrage nach rohen Baumwollgeweben wird deshalb immer größer, sodaß eine Reihe von Druckern in ihren Betrieben Webstühle aufstellten; dadurch konnte der Drucker direkt das Baumwollgarn kaufen, er vergrößerte also die Produktionsentwickelung in seinem Betriebe um eine Etappe, verringerte demnach die Gestehungskosten des fertigen Fabrikates. Die Baumwollweberei, der die Bahn durch die vorbereitende Tätigkeit der Druckerei geebnet war, nahm ihren Ursprung in fabrikmäßigen Betrieben, oder richtiger ausgedrückt, nach der Technik jener Zeit, in Manufakturen, d. h. in Betrieben, in denen gewerbliche Produkte durch eine größere Anzahl von Arbeitern, mittelst Handarbeit in spezialisierter Tätigkeit hergestellt wurden. Daneben mag wohl auch schon früher im Gouvernement Wladimir Baumwollweberei betrieben worden sein; im Anfang in der Weise, daß die Leinenkette mit Baumwollgarn durchschossen wurde. 8 ) Das Baumwollgarn gelangte auf demselben Wege wie die Gewebe aus Asien, hauptsächlich aus Buchara, wo es mit der Handspindel gesponnen wurde, nach Mittelrußland. Handgesponnenes Garn wurde wohl auch in Bußland z. B. im Kaukasus und in Kasan verfertigt, aber in so geringem Maße, daß es kaum Erwähnung verdient 8 ) ') Der Industriebote, a. a. 0. S. 199. ») Schulze-Gävernitz, a. a. 0. S. 79. ') Storch, Rußland unter Alexander I. St. Petersburg und Leipzig. H. S. 235.

DER RUSSISCHEN BAUM WOLLINDUSTRIE.

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Trotz der Tätigkeit der Webemanufakturen waren noch die meisten Drucker auf die Einfuhr asiatischer Gewebe angewiesen. Zudem konnten auch die Manufakturen vor der Konkurrenz der rasch um sich greifenden Hausweberei der Bauern nicht Stand halten. Da den Bauern des Gouvernements Wladimir die Technik der Weberei wohl bekannt war, hatte sich schon zu Ende des 18. Jahrhunderts die Baumwollweberei in den Hütten und Häusern der Bauern verbreitet; die meisten Bauern brauchten nur das frühere Material, Flachs, mit dem neuen Material, Baumwolle, zu vertauschen. Hierbei kam den Iwanowoschen Bauern zugute, daß Katharina Q. 1769 gestattet hatte, in jedem Hause Webstühle aufzustellen; die lästige Steuer von einem Rubel per Stuhl wurde 1775 aufgehoben. Eine größere Ausdehnung und eine feste Organisation erhielt die Baumwollweberei in den Häusern und Hütten der Bauern erst im darauffolgenden Jahrhundert Wir sehen also, daß in Bußland, nachdem Hülfsmittel in Gestalt von technischen Kenntnissen erlangt waren, unterstützt durch die Vorschulung und glückliche Begleitumstände, die Baumwollbearbeitung in Iwanowo entstand und ihre erste Ausbreitung fand. Die Druckerei, in Kleinbetrieben entstanden, zeigte ebenso wie die Weberei einige Konzentrationsbestrebungen; doch zersplitterten beide Industriezweige mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in ganz kleine Einheiten. Die Form des Kleinbetriebes im weitesten Sinne des Wortes ist typisch für die Verfassung der Baumwollweberei und -druckerei. Die Bauern in Iwanowo waren Leibeigene des Grafen Schermetjew; sie errichteten, wie wir sahen, Webereien, Bleichereien, Färbereien, Druckereien und andere Betriebe. Die Gutsherren sahen allgemein gewerbliche Tätigkeit ihrer Bauern sehr gern und ließen ihnen auch das erworbene Geld und Gut, trotzdem rechtlich die Bauern ein Eigentumsrecht weder an beweglichem noch an unbeweglichem Eigentum hatten; war doch der Reichtum der Bauern die Basis für die Höhe des Obroks. Für das für unsere Darstellung wichtige Dorf Iwanowo hatte der Gutsherr folgende Bestimmungen getroffen: An Gewerbetreibende, wie Ackerbauern wurden gleiche

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II. DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN

ANFÄNGE

Anteile an Fronland per männliche Seele verteilt; jeder Bauer zahlte für das Tjaglo 15 Rubel jährlichen Obrok. Unter Tjaglo verstand man eine Arbeitseinheit, z. B. ein Bauer mit einem Pferd, meist jedoch ein verheiratetes Paar, Mann und Frau. 1 ) Für die Zahlung des Obroks hafteten die Dorfgenossen solidarisch. Die Verteilung der Zahlung des Obroks geschah nicht streng nach dem Tjaglo, sondern nach der Wohlhabenheit, sodaß manche reiche Bauern bis 50 Tjaglo zahlten. Das Errichten von Fabriken und Häusern war nach eingeholter Erlaubnis der Gutsverwaltung gestattet; doch wurden davon noch besondere Grundsteuern erhoben. Die Iwanowoschen leibeigenen Bauern besaßen ihrerseits auch Leibeigene; 1794 sollen 3797 männliche und 4491 weibliche Seelen in Iwanowo 528 männliche und 659 weibliche Leibeigene besessen haben. Außer dem Obrok hatten die Bauern, die mehr als 500 Rubel oder irgend welche Betriebe besaßen, jährlich '/«"/o des Kapitals zu entrichten; vom Mietzins erhielt den vierten Teil der Gutsherr. 4 ) Den Durchschnittsobrok mit allen Steuern berechnet Garelin auf 75—87 Assignatenrubel per Tjaglo. s ) Aus dieser hohen Durchschnittsquote ersieht man, welch ungeheure Summen manche Iwanowoschen Bauern an ihren Gutsherrn zahlten. Es ist leicht begreiflich, daß diese reichen bäuerlichen Fabrikanten mit allen Kräften danach strebten, sich loszukaufen; doch nur ungern ließen die Gutsherren ihre reichen Einnahmequellen ziehen. Garelin behauptet, daß bis zum 19. Februar 1861 in Iwanowo sich 50 Bauernfamilien losgekauft hatten, durchschnittlich mit einer Zahlung von 2 0 0 0 0 Rubel. Storch erzählt sogar, daß der Iwanowosche Fabrikant Gratschew seine Freiheit mit 250 000 Rubel erkaufen mußte. 4 ) ') Leroy-Beaulieu, a. a. O. 1. S. 503. ») Semewsky, a. a. O. I. S. 54, 259, 327, 328, 338. s ) Garelin, Die Stadt Iwanowo-Wosnessensk. Schuja 1884. I. S. 210. Für die 90iger Jahre des 18. Jahrhunderts nimmt Semewsky den Obrok der gutsherrlichen Bauern durchschnittlich auf 7 Rubel per Seele an. Semewsky, a. a. O. I. S. 59. Storch berichtet von einigen Obrokbauern des Grafen Schermetjew, welche diesem bisweilen 1000 Rubel und mehr für ihren Paß zahlten. Storch, Gemälde von St. Petersburg. Riga 1793. II. S. 37. 4 ) Storch, Stat.-Hist. Gem. VII. S. 302.

DER RUSSISCHES

BAUMWOLLIKDUSTRIE.

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Die Fabrik und das zugehörige Land blieb aber auch nach der Loskaufszahlung Eigentum des Gutsherrn, und der Freigelassene hatte nunmehr Fabrik und Maschinen von seinem früheren Herrn zu mieten. Höchst bezeichnend für die Umwandlung eines unfreien Bauern zum Fabrikanten ist die Geschichte der Morosows, einer der ersten russischen Fabrikantenfamilien der Gegenwart. Der Stammvater Morosow, 1770 geboren, war der Leibeigene eines gewissen Rjumin im Moskauschen Gouvernement und arbeitete auf einer Weberei; gegen Ende des Jahrhunderts eröffnete er selbst eine Seidenweberei, in der er anfangs allein mit seiner Familie arbeitete. Seine Ehrlichkeit, die Unverfälschtheit der Seiden und die Dauerhaftigkeit der Farben machte ihm einen Namen und schuf ihm viele Abnehmer. Es gelang ihm, sich ein kleines Vermögen zu verdienen und sich 1820 mit seiner Familie für 17 000 Rubel loszukaufen. Unterstützt von günstigen Konjunkturen ging er in den 40iger Jahren zur Baumwollbearbeitung über, und heute verfügen seine Söhne über einige der größten russischen Baumwollfabriken.') Auch in Iwanowo waren sämtliche Fabrikanten Leibeigene oder frühere Leibeigene des Grafen Schermetjew. Wenn sie sich loskauften, wurden sie meist Kaufleute und führten ihre Betriebe weiter; sie gehörten also von dieser Zeit dem Bürgerstand an. Da die erste Baumwollverarbeitung in den Betrieben der Schermetjewschen Leibeigenen vorgenommen worden war, kann man als weiteres Charakteristikum für das Entstehen der russischen Baumwollindustrie anführen, daß sie in bürgerlichbäuerlichen Betrieben entstanden ist Wir haben bisher geschildert, wo und wann die Baumwollindustrie entstanden ist, wir haben die Art des Betriebes und die Unternehmer kennen gelernt — es erübrigt noch, einige Worte über die Stellung der Regierung zur Baumwollindustrie und über die Arbeiter der Baumwollbetriebe zu sagen. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 98; Schischmareff, Kurze Schilderang der Industrie im Gebiete der Nishny-Nowgorodschen und der SchujaIwanowoschen Eisenbahnen. St. Petersburg 1892. S. 28, 29.

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II. DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE

Die Fortschritte der Industrie während der Regierungszeit Peters des Großen hatten ihre Ursachen weniger in einer Entwickelung natürlich -wirtschaftlicher Erscheinungen, als in den rücksichtslos-energischen, merkantilistisch- fiskalischen Maßnahmen der Regierung. Wenn auch die Nachfolger Peters mit der kleinlichen Reglementierung des Gewerbewesens und dem Schutzzoll brachen, wurde die Gewerbepolitik doch nur soweit moderiert, als es die Industrie ohne Schaden zu nehmen vertragen konnte. Auch kehrte schon die Kaiserin Elisabeth wieder zu der Peterschen Monopol Wirtschaft zurück, und der Tarif von 1757 war eine Rückkehr zum Schutzzoll. Selbst Katharina II. (1762—1796) „die Philosophin auf dem Throne" mit ihren physiokratischen Auffassungen über die Ungebundenheit des individuellen Erwerbstriebes, mit den naturrechtlichen und Freihandelstheorien, konnte ihren wirtschaftlichen Liberalismus nur in Worten und Schriften leuchten lassen; eine Durchführung dieser Ideen geschah nur soweit, als politische und fiskalische Interessen es gestatteten.1) Bei der Beurteilung der Stellung der Regierung zur Baumwollindustrie müßte also erörtert werden, inwiefern Monopole und Privilegien oder zollpolitische Maßnahmen auf ihre Entwickelung eingewirkt haben. Die Wirkungen des Monopols, das Chamberlain und Cosence erhielten, sind bereits untersucht worden. Dieser Betrieb hat mit der Entwickelung der Baumwollindustrie nichts zu tun, auch ist gerade das Monopol, wie Storch behauptet, volkswirtschaftlich schädlich gewesen. Andere Monopole sind während der ersten 50 Jahre russischer Baumwollindustrie nicht erteilt worden. Die Maßnahmen, welche die Regierung bezüglich der Baumwollindustrie in der Zollpolitik ergriff, haben keinen handelspolitischen, sondern einen rein fiskalischen Hintergrund. Die Zolltarife von 1766 und 1782 sind freiheitlicher als der Tarif von 1757;*) die Zollsätze konnten schon ihrer geringen Höhe wegen nur fiskalischen Zwecken dienen. Die Baumwollindustrie ») Wittschewsky, a. a. 0. S. 19. ') Lodyshensky, Die Geschichte des russischen Zolltarifs. St. Petersburg 1886. S. 90, 114, 140.

DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTBIE.

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ist demnach entstanden ohne jegliche Unterstützung der Regierung in wirtschaftspolitischer Beziehung. Die Untersuchung über die Arbeiter in Baumwollbetrieben ist mit großen Schwierigkeiten verknüpft: über ihre ökonomische Lage, über ihr Leben und Treiben ist so gut wie nichts bekannt. Es lassen sich nur einige Angaben über Possessionsfabriken aus der Enquete des Manufakturkollegs im Jahre 1803 verwerten. Da aber die unfreie Arbeit in der Baumwollindustrie nur einen geringen Bruchteil ausmachte, kann man die Mitteilungen des Manufakturkollegs nicht ohne weiteres generalisieren.1) Der Lohn auf Baumwoll-Possessionsfabriken soll durchschnittlich für erwachsene männliche Arbeiter 8,50 Rubel per Monat gewesen sein. An dem hohen Lohn mit ca. 10 Rubel per Monat hatten jedoch nur die Weber und Drucker Anteil, während die anderen Arbeiter sich mit dem damals gebräuchlichen Durchschnittslohn von 4 Rubel per Monat begnügen mußten. Der Lohn der Frauen betrug in den Baumwoll-Possessionsfabriken ca. 3 Rubel, während der Durchschnittslohn einer Frau mit 2,50 Rubel anzusetzen ist. Kinder erhielten ebenfalls ca. 3 Rubel, gegenüber dem Durchschnittslohn von 1,80 Rubel. Oft jedoch verdienten Frauen und Kinder auch nur 7 resp. 5—6 Kopeken per Tag.») Der Lohn der unfreien Arbeiter in den Possessionsfabriken der Baumwollindustrie war demnach höher als in den anderen Possessionsfabriken. Die angeführten Zahlen geben jedoch kein klares Bild, wenn wir nicht den realen Wert des damaligen Assignatenrubels feststellen. Der sicherste Wertmesser ist unzweifelhaft der Preis für Lebensmittel, z. B. der Getreidepreis. Ein Pud Roggenmehl kostete in Moskau 1799—1803 durchschnittlich 66 Kopeken, ') In dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts waren einige Leinwandpossessionsfabriken zur Baumwollbearbeitung übergegangen, weil das Herstellen von Baumwollstoffen sehr vorteilhaft war. Daraus darf man natürlich nicht auf eine Änderung in der Verfassung der Baumwollfabriken schließen. ») Semewsky, a. a. O. I. S. 571, 572; Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 187, 188, 189.

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H. DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE

im Jahre 1900 durchschnittlich 95 Kopeken.1) Die Preiserhöhung beträgt also 44°/o. Erhöhen wir die vorgenannten Löhne um 4 4 % , so erhalten wir folgende Löhne: Monatslohn in Rubeln im Durchschnitt der Fabriken

Weber und Drucker. Männer Frauen Kinder

.

. 6,48—8,64 5,76 3,63 2,59

in Baumwollfabriken

14,40 5,76 4,32 4,32

Zu diesen Löhnen traten noch hinzu Naturalleistungen des Fabrikanten. Die Possessionsbauern erhielten oft Ackerland, freie Wohnung und beinahe stets Lebensmittel; bisweilen wurden ihnen auch die Steuern bezahlt. Doch behauptet Tugan-Baranowsky nach eingehenden Studien, daß diese Naturalleistungen bei weitem nicht die Höhe des Geldlohnes erreichten.2) Er schätzt sogar den tatsächlichen realen Lohn, bestehend aus Geldlohn und aus in Geld umgesetzten Naturalleistungen, nicht höher als den Geldlohn, da seiner Meinung nach die Fabrikanten aus Eigennutz die Löhne höher angaben, als sie tatsächlich waren. Yon den Löhnen der freien Arbeiter auf Possessionsfabriken liegen keine genauen Nachrichten vor, doch können wir behaupten, daß sie höher gewesen sind als die der Possessionsbauern. Der Lohn wurde als Stück-, Tage-, Wochen- und Monatslohn gezahlt Die Arbeitsdauer betrug 12 Stunden, oft mehr. Die Zahl der Arbeitstage im Jahre war 260, auf Baumwollfabriken meist 280. Die materielle Lage der Arbeiter auf Baumwollfabriken läßt sich für das Ende des 18. und den Anfang des 19. Jahrhunderts nicht genauer feststellen, als daß sie besser gewesen sei als die Lage der Arbeiter auf anderen Fabriken. Aus welchen Bauernklassen rekrutierte sich nun die Ar') Für die Jahre 1799—1803: Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 188. Zit. Das Bäckereigewerbe in Moskau, Moskau 1894; für das Jahr 1900: Rechenschaftsbericht des Komitees der Moskauer Getreidebörse für 1900. •) Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 188.

DER RUSSISCHEN

BAUMWOLLINDUSTRIE.

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beiterschaftderBaumwollfabriken? Ein compte rendu des Ministers des Innern gibt für 1804:199 Baum Wollwebereien und -Druckereien an, die an 3709 Webstühlen und Drucktischen 6566 Arbeiter beschäftigten. Yon diesen 6566 Arbeitern waren 5436 Lohnarbeiter, also meist Obrokleute; von den übrigen 1130 waren 986 Possessions- und 144 gutsherrliche Bauern.1) In Prozenten ausgedrückt, setzten sich die Arbeiter auf Baumwollfabriken aus 2,2 °,o gutsherrlichen Leibeigenen, 15°/o Possessionsbauern und 82,8 o/o lohnarbeitenden, also meist Obrokleuten zusammen. Die wenigen gutsherrlichen fronarbeitenden Bauern kommen nicht in Betracht; die Possessionsbauern waren in den von der Leinwand- zur BaumwoUbearbeitung übergegangenen Betrieben beschäftigt; die weitaus größte Zahl stellten die Lohnarbeiter, die, man kann wohl sagen fast ausschließlich, Obrokleute waren. Hatten die ersten russischen Baumwollbetriebe ausgesprochenen Familiencharakter und waren dadurch schon auf die freie Arbeit der Familienmitglieder angewiesen, so waren auch späterhin für das Beschäftigen von Lohnarbeitern wichtige Gründe maßgebend. Viele Betriebe waren so kleiu, daß sie den Familiencharakter beibehielten und sich auf die Arbeitskraft der Familienangehörigen beschränkten. Auch war in diesen Kleinbetrieben das Einstellen unfreier Arbeitskräfte mit großen Schwierigkeiten verbunden, weil die Unternehmer, oft selbst noch Leibeigene, den Ankauf von leibeigenen Bauern nur selten bewerkstelligen konnten. Der ausschlaggebende Faktor, vor allem bei den kapitalkräftigen und freien Unternehmern, ist die Überzeugung davon gewesen, daß die gemieteten Lohnarbeiter, also die Obrokleute, bedeutend besser arbeiteten als die Fronbauern und die Possessionsbauern.') Und tüchtiger sorgfältiger Arbeiter bedurfte die Baumwollindustrie für die exakte Herstellung der Gewebe und für das Bedrucken dieser Gewebe mit den verschiedenfarbigen Stempeln und Maschinen. ') Storch, Alexander I., VIII. S. 143. *) v. Haxthausen, Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands. Hannover 1847. I. S. 116; Storch, Alexander I., V. S. 61.

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II. DAS ENTSTEHEN UND DIE ERSTEN ANFÄNGE

Wenn wir die Betriebe der Baumwollindustrie nach dem Stand der Unternehmer bürgerlich-bäuerliche Fabriken nannten, so können wir, nachdem festgestellt worden ist, daß sie zum größten Teil Lohnarbeiter beschäftigten, ein weiteres Charakteristikum in den Terminus einfügen — wir nennen sie bügerlichbäuerliche Lohnfabriken. Aus der eben angeführten Statistik läßt sich außer der Vorherrschaft der Lohnarbeit noch eine andere Eigenart der Baumwollindustrie folgern. In der Baumwollindustrie kamen auf einen Betrieb nui 33 Arbeiter. Und dabei wird dieser Durchschnitt nur dadurch erreicht, daß einige große Possessionsfabriken sich der Baumwollbearbeitung zugewandt und in Iwanowo mehrere Unternehmen einen bedeutenden Umfang erreicht hatten.') Der geringe Umfang ist demnach ein weiteres Charakteristikum für die Betriebe der Baumwollindustrie. Wenn man die Eigenart der Baumwollindustrie, und damit auch der Betriebsform der bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabriken, noch deutlicher hervorheben will, lohnt es sich, einen Vergleich mit den gutsherrlichen und den Possessionsfabriken nach den prinzipiellen Unterscheidungsmerkmalen, d. i. Umfang der Betriebe und Zahl der Lohnarbeiter, anzustellen. Wir greifen einige Industriezweige heraus, die für die verschiedenen Betriebsformen besonders typisch waren; wir brauchen dabei die gutsherrlichen und die Possessionsfabriken nicht zu scheiden, weil sie in diesen beiden prinzipiellen Punkten übereinstimmten. Possessions- und gutsherrliche Fabriken waren in der Tuch-, Eisen-, Papier- und Leinenindustrie vertreten; bürgerlich-bäuerliche Lohnfabriken in der Baumwoll-, Seiden-, Tau- und Lederindustrie. Im ganzen zählte man im Jahre 1804: 2423 Fabriken mit 95 202 Arbeitern, davon 45 625 Lohnarbeitern; auf jeden l ) Der Fabrikant Gratschew in Iwanowo stellte in seiner Weberei per Jahr 6800 Stück Baumwollgewebe her, die er dann nebst 23600 Stück auslandischen rohen Baumwollgeweben zu bedruckten Baumwollstoffen verarbeitete. Seine Jahresproduktion belief sich auf 625000 Rubel. Die Fabrik eines anderen Schermetjewschen Leibeigenen Jamanowsky produzierte für 121000 Rubel Baumwollstoffe. Storch, Alexander I., V. S. 80.

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DER RUSSISCHEN' BAUMWOLLINDUSTRIE.

Betrieb kamen demnach 39 Arbeiter; der Prozentsatz der Lohnarbeit war 48. auf einen Betrieb

Prozentsatz der Lohnarbeit

Tuch- und Wollindustrie . 185 9,7 Eisenindustrie 159 27,8 Papierindustrie 98 25,7 Leinenindustrie . . . . 83 60,4 Baumwollindustrie . . . 33 82,8 Seidenindustrie . . . . 27 74 Tauindustrie 26 85 Lederindustrie 7 97 Zusammenfassend können wir also über das Entstehen der Baumwollindustrie und über die Verfassung ihrer Betriebe folgendes feststellen: die Baumwollindustrie nahm ihren Anfang auf einem durch seine geographische Lage und durch die Blutzusammensetzung seiner Einwohner begünstigten, durch die Bodenbeschaffenheit und durch das Betreiben uralter Gewerbe, hauptsächlich der Leinenweberei, hinlänglich vorbereiteten Boden; sie entstand ohne Unterstützung der Regierung, weder durch Monopole noch durch eine begünstigende Zollpolitik in kleinen Betrieben, nur durch die Nachfrage; nach vorübergehenden Konzentrationsbestrebungen arbeitet sich die eigentliche Verfassung heraus: kleine Betriebe, die durch Lohnarbeit gespeist werden, bis in die kleinsten Einzelheiten zersplitternd, oft von Leibeigenen, aber stets von bäuerlichen oder bürgerlichen Unternehmern errichtet ') Die statistischen Daten nach Storch, Alexander I., Vm. S. 143 und Semenow, statistische Mitteilungen, III. S. 262. In Fabriken waren beschäftigt im Jahre 1769: 21864 Possessionsbauern 5720 gutsherrliche Bauern 18093 Lohnarbeiter also im ganzen . . 46 677 Arbeiter; davon waren 39,3°/o Lohnarbeiter. Semewsky, a. a. 0. I. S. 77.

H a m m e r B c h m i d t , Baumwollindustrie in Ruitland.

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DRITTER ABSCHNITT.

KLEINBETRIEB UND ÜBERGANG ZUM GROSSBETRIEB IN DER RUSSISCHEN BAUMWOLLINDUSTRIE (1800—1861). I. AUSBREITUNG BIS ZUM MOSKAUER ZUSAMMENBRUCH (1812).

Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts war die Baumwollindustrie in Rußland heimisch geworden. Im Jahre 1762, dem Jahre des Regierungsantritts Katharina II. hatte mau 24 Baumwollwebereien und 29 Färbereien und Druckereien gezählt.1) In den 34 Jahren dieser Regierung hatte die junge Industrie bedeutende Fortschritte gemacht; wohl waren ihr keine direkten Unterstützungen zuteil geworden, doch hatte ihr jedenfalls die allgemeine Tendenz der Gewerbepolitik genützt: Bevorzugung der Kleinbetriebe und der Handarbeit vor der Großindustrie.8) Trotz der freiheitlichen Zolltarife war es ihr gelungen, Wurzel zu fassen und auch die eigensinnige Unbeständigkeit der Handelspolitik Pauls I. (1796—1801) konnte ihre Entwicklung nicht hemmen.8) Ein compte rendu des Ministers des Innern vom ') Sammelwerk von Mitteilungen und Materialien des Finanzministeriums 1865. Nr. 6. S. 220—243. «) Wittschewsky, a. a. 0. S. 19, 20. s ) Am 25. März 1797 wurden alle Hamburger Schiffe in russischen Häfen beschlagnahmt, am 12. Oktober 1799 wurde den dänischen Schiffen die Einfahrt nach russischen Häfen verboten, im November 1800 Sequestrierung aller englischen Waren in Rußland, am 8. Februar 1800 Handel mit Frankreich wieder aufgenommen, mit Preußen und England verboten — nachdem der Handel 1793 durch Katharina II. eingeengt worden war

AUSBREITUNG BIS ZUM MOSKAUER ZUSAMMENBRUCH.

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Jahre 1804 stellte fest, daß in Rußland 199 Baum Wollwebereien und -Druckereien existierten, die an 3709 Webstühlen und Drucktischen 6566 Arbeiter beschäftigten; das waren 8°/o aller Betriebe und 7°/o aller Arbeiter. Doch war die volkswirtschaftliche Bedeutung der Industrie noch gering. Die Bearbeitung der Baumwolle beschränkte sich zumeist auf das Drucken und Appretieren; das Weben des Baumwollgarns war noch nicht genügend verbreitet, sodaß man nicht nur auf die Einfuhr der Garne, sondern auch auf den Import der rohen Gewebe angewiesen war. Über die Güte der Erzeugnisse und über die Herstellungsgegenstände lassen wir Heinrich Storch berichten, den besten Kenner der russischen Volkswirtschaft jener Zeit. „Man verfertigt in Rußland Zitze,1) Halbzitze, feine und grobe Kattune, Mitkai (groben Musselin), Kitaika (ein chinesisches Baumwollzeug, das dem Nanking der englischen Manufakturen ähnlich ist), Kumatsch (ein buntes Baumwollzeug), Barchent, Manchester, Boya, baumwollene Tücher, Strümpfe, Mützen und Bänder; aber größtenteils haben diese Waren nur eine geringe Vollkommenheit, auch sind sie bei weitem nicht hinreichend die Einfuhr dieser Artikel entbehrlich zu machen. Die Zitzfabriken, unter denen es wirklich einige bedeutende gibt, verschreiben gewöhnlich ausländischen Mitkai, den sie nach dem Geschmack der russischen Käufer mit Farben, Blumen, Dessins bedrucken".8) Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte die Baumwollweberei und Baumwolldruckerei, von dem Gouvernement Wladimir ausgehend, in den nächstliegenden Teilen der benachbarten Gouvernements Moskau, Kostroma, Iaroslaw und in geringem Maße auch in den Gouvernements Twer, Kaluga, Tula und Nishny-No wgorod Eingang gefunden. Iwanowo war aber nach wie vor das Zentrum —, am 2. März 1801 Ausfuhr russischer Waren ohne kaiserliche Erlaubnis verboten. Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Berlin 190t. I. S. 22. ') Zitz = Sitez nennt man in Rußland bedruckten Baumwollstoff, ungefähr entsprechend dem Kattun. «) Storch, Hist.-Stat. III. S. 236, 237.

4*

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III. KLEKBETR. ü . ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RÜSS. BAUMWOLU-VD.

der Baumwollbearbeitung, vor allem der Druckerei geblieben. Doch schon im Laufe des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts entsteht den Iwanowoschen Unternehmern ein ernster Nebenbuhler in den Moskauer Webern. Die günstigen ökonomischen und technischen Vorbedingungen, die Vorzüge auf geographischem und ethnologischem Gebiete, die sich von denen des Gouvernements Wladimir kaum unterschieden, bahnten der Baumwollweberei den Weg nach Moskau. Das einträgliche Gewerbe fand rasche Verbreitung, sodaß sich Moskau bald zum Mittelpunkt der Weberei emporarbeitete, während Wladimir nach wie vor die Druckerei beherrschte. Diese beiden Gouvernements bildeten die wesentliche Keimstätte der Baumwollindustrie; daneben wurde die Bearbeitung der Baumwolle auch in den angrenzenden Gebieten vorgenommen. Allgemein läßt sich für den Anfang des 19. Jahrhunderts sagen, daß sich die Entwickelung der Baumwollindustrie auf dem mittelrussischen Landstriche abspielte.1) Die Fortschritte in der Technik der Baumwollbearbeitung, zollpolitsche Maßnahmen, die Marktverhältnisse in Rußland und die Verkehrspolitik trugen dazu bei, daß Rußland, das ursprünglich alle Baumwollwaren aus Asien bezogen hatte, ein aufnahmefähiges Absatzgebiet für westeuropäische baumwollene Garne und Gewebe wurde. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurden noch alle Garne und Gewebe aus Asien nach Rußland eingeführt In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts ging der Import der asiatischen Gewebe zurück, als der englische Konkurrent auf dem Markte erschien. Die Erfindungen der Schnellschütze (1738) und später des mechanischen Webstuhls (1785) hatten dem englischen Weber eine bedeutende Überlegenheit verschafft In bezug auf Baumwollgarne war Rußland indessen noch auf Asien angewiesen. Nach einer Statistik für die Jahre 1793—1795 war der Wert der Einfuhr von Baumwollgarn und Rohbaumwolle von europäischen ') Radzig, Die Baumwollindustrie in Rußland. St. Petersburg 1891. S. 10; Mitteilungen über die Manufakturen in Rußland im Jahre 1812, Ausgabe des Ministeriums des Innern; desgl. fiir die Jahre 1813 und 1814; Allrussische Ausstellung in Moskau 1882. Hist.-Stat. Obersicht der russischen Industrie. Bd. 2: Die Industrien der Faserstoffe.

AUSBREITUNG BIS ZUM MOSKAUER ZUSAMMENBRUCH.

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Handelsplätzen jährlich 189800 Rubel; von Asien über Astrachan Garn für 787 500 Rubel (17 500 Pud) und Rohbaumwolle 32500 Rubel (2500 Pud).1) Doch schon bald, um das Jahr 1800, unterlag auch die indische Spinnerin in dem Wettstreit mit der englischen mechanischen Spinnmaschine; die Zunahme der Baumwollkultur in Amerika und die Erfindungen von Wyatt, Hargrave und Crompton (1772 bis 1774, 1775) bahnten den englischen Gespinsten den Weg nach Rußland. Damit war das Schicksal der asiatischen Garne besiegelt; wohl wurden sie immer noch nach Rußland importiert, doch hielten sie mit den viel gleichmäßiger gesponnenen, billigeren, mechanischen Garnen einen Vergleich nicht aus. Sie gelangten zu einer gewissen Wichtigkeit, wenn Krisen die Garneinfuhr aus Westeuropa abflauen ließen. Die englischen Gespinste und Gewebe hatten auf diese Weise die Vorherrschaft auf dem russischen Markt erlangt Die russischen Weber und Drucker waren auf die Einfuhr dieser englischen Erzeugnisse angewiesen. Wie gestaltete sich nun gegenüber dieser Zwangslage der Weber die Handelspolitik der Regierung? Der theoretische Liberalismus der Handelspolitik Katharina IT. wurde durch die konfusen Maßnahmen Pauls gründlich zerstört Die kurze Dauer seiner Regierung verschonte Rußland vor größeren undfolgenschwererenSchäden.Umdiebeimischelndustrie zu fördern und den Rubelkurs zu heben, nach anderen Versionen, um den Luxusbedürfnissen der höheren Gesellschaft zu steuern, erließ er ein Einfuhrverbot aller baumwollenen, leinenen und seidenen Stoffe, das aber von seinem Nachfolger sofort wieder aufgehoben wurde. Mit dem Regierungsantritt Alexander I., der in freihändlerischen Anschauungen erzogen war, schien es, als ob ein Frontwechsel in der Handelspolitik vor sich gehen sollte. Auch der erste Leiter des, im Jahre 1802 zugleich mit den anderen Ministerien neu geschaffenen, Komraerzministeriums, Graf Rumjanzew, entwickelte ein viel versprechendes Programm: *) ') Storch, Hist.-Stat. Supplementband S. 53, 55. *) Geschichte des Finanzministeriums 1802—1902. St. Petersburg 1902. I. S. 127.

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HI. KLEIXBETR. U. ÜBERGANG Z. GfiOSSBCTR. I. D. RUSS. B A U M W O L L I N I ) .

1. Verringerung der Einfuhr, ausschließlich durch Herstellung entsprechender Waren im Inlande, 2. Vergrößerung der Ausfuhr durch Fortschaffen von Hemmnissen und Störungen im Inlande und durch Erforschung neuer Absatzmärkte, 3. Erweiterung des Transithandels. Seine Vorarbeiten zu einem freiheitlicheren Zolltarif gediehen im Oktober 1804 zu einem Entwurf, kamen aber über dieses Stadium nicht heraus. Während der Bemühungen um einen neuen Zolltarif wurden in den Jahren 1802 — 1807 einige Änderungen von Zollsätzen angeordnet, u. a. auch einige Zollerhöhungen auf baumwollene Garne und Gewebe, jedenfalls zum Schutz der heimischen Industrie. Die bedeutendste Zollerhöhung geschah im Jahre 1802, als die Zölle auf rohe baumwollene Gewebe verdoppelt wurden, von 10 auf 20 Kopeken per Arschin; wurde das Gewebe bedruckt, so erfolgte die Zurückzahlung von Vi dieses Zolles.1) Von ziemlicher Bedeutung war auch die zollfreie Einfuhrerlaubnis von Maschinen und Werkzeugen, die in Fabriken gebraucht werden sollten. Abgesehen von einigen Erleichterungen des südrussischen und des Transithandels sind keine wesentlichen Punkte des Rumjanzewschen Aktionsprogramms zu einer Verwirklichung gediehen. Auch befanden sich schon im Jahre 1806 die Handels wege unter der Einwirkung kriegerischer Maßnahmen.2) Durch die Wucht der Ereignisse wurde Rußland in das Getriebe europäischer Händel hineingezogen, und bald standen seine handelspolitischen Maßnahmen vollständig unter dem Einfluß der auswärtigen Politik. Im Tilsiter Frieden hatte sich Rußland durch eine geheime Abmachung verpflichtet, England zu einem Frieden mit Frankreich zu bewegen. Falls England in den Frieden nicht einwilligen sollte, „würde der Kaiser Alexander mit Frankreich gemeinsame Sache machen" und zu demselben Vorgehen

die

Höfe

von

Kopenhagen, Stockholm und Lissabon auffordern.8) Da England l ) Radzig, a. a. O. S. 9. *) Geschichte des Finanzministeriums, a. a. O. I. S. 132. a ) Oncken, Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreichs und der Befreiungskriege (Allg. Geschichte von Oncken) Berlin 1886. U. S. 292, 293.

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sich nicht zum Frieden bequemte, trat Rußland der Kontinentalsperre bei: durch Ukas vom 28. Oktober 1807 wurde das Embargo auf die in russischen Häfen befindlichen englischen Schiffe gelegt und alles Eigentum der Engländer in Rußland sequestriert; alle in England weilenden russischen Schiffe mußten sofort zurückkehren: die Einfuhr von englischen Waren jeglicher Art, auch der englischen Kolonien, nach Rußland wurde verboten. Durch diesen Abbruch der Handelsbeziehungen war auch die Einfuhr englischer Maschinengarne und englischer Gewebe unmöglich gemacht; vor allem das Ausfallen der Garne, mit denen England die russischen Weber versorgte, übte auf den russischen Baumwollmarkt einen starken Druck aus. Es wurde wohl versucht, die Einfuhr asiatischer Garne zu vergrößern; doch war die gänzlich unorganisierte Handspinnerei im Osten nicht imstande, sich der plötzlichen Änderung in der Nachfrage anzupassen. Die anderen Länder waren teils infolge einer zu geringen Entwickelung der Baumwollindustrie, hauptsächlich aber wegen des durch die andauernden Kriege und wirtschaftlichen Krisen, hervorgerufenen allgemeinen Niederganges der Industrie nicht in der Lage, den russischen Markt mit Baumwollgarn zu versehen; die französischen Baumwollfabrikanten hatten sehr große Transportkosten aufzuwenden — der Seeweg war zu gefährlich —, auch störten sie die Erschwerungen im Bezug der Rohstoffe.1) So werden wohl wenig französische baumwollene Garne und Gewebe nach Rußland gelangt sein. Trotzdem der Schmuggel mit englischen Garnen in schönster Blüte stand, war der russische Markt schließlich doch nur auf die asiatische Einfuhr angewiesen, die aber der Nachfrage nicht im entferntesten genügte. Diesen Zeitpunkt, der dem Händler, der Baumwollgarn vorrätig hatte, gewissermaßen ein Monopol gab, erfaßten einige unternehmende Kaufleute: sie beschlossen, in Rußland selbst Garn herzustellen und schritten zur Anlage von Baumwollspinnereien. Schon vor dieser Zeit sind zwei Versuche, in Rußland ') Herkner, Die Oberelsässische Baumwollindustrie und ihre Arbeiter. Straßburg 1887. S. 90.

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IU. KLEIXBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RCSS. BAUMVOLL1XD.

Baumwolle zu spinnen, zu verzeichnen, von denen jedoch nur der eine mit einem teilweisen Erfolg gekrönt war. 1793 hatte der Schlüsselburger Fabrikant Leimann eine Spinnmaschine mit 104 Spindeln aufgestellt;1) der Erfolg war bei der geringen Spindelzahl und der verhältnismäßigen Billigkeit des importierten Garns nicht schwer vorauszusehen. Ein weit ernsterer Versuch wurde von der kaiserlichen Alexandrowschen Manufaktur im Jahre 1805 gemacht. Diese Fabrik war im Jahre 1799 in S t Petersburg gegründet worden, um in Kußland die mechanische Woll- und Baumwollspinnerei einzuführen. Sie ist die erste größere Baumwollspinnerei Rußlands gewesen und hat in der späteren Entwickelung der Spinnerei eine bestimmte Rolle gespielt; ihre Tätigkeit kann man als nur teilweise erfolgreich bezeichnen, weil die Herstellung der Garne unverhältnismäßig teuer war. Die erste durch die Kontinentalsperre hervorgerufene Baumwollspinnerei war ein Unternehmen, das die Kaufleute Pantelejew und Alexandrow 1808 in Moskau gründeten. Die Maschinen zu dieser Fabrik lieferte die kaiserliche Alexandrowsche Manufaktur, die, durch die Yermittelung des Moskauer Gouverneurs Lansky, darum angegangen war.*) Das Pantelejewsche Unternehmen erfreute sich infolge des, durch die Kontinentalsperre bedingten Monopols, einer solchen Blüte, daß alsbald eine Reihe gleichartiger Betriebe errichtet wurde. Im Jahre 1812 zählte man in Moskau 11 Baumwollspinnereien mit 780 Spinnmaschinen;') diese Spinnmaschinen entstammten entweder der Alexandrowschen Manufaktur, oder waren von Schülern derselben nach dort befindlichen Vorbildern zusammengesetzt worden. Die Spinnerei hatte demnach, wie es schien, in Rußland festen Fuß gefaßt Inzwischen aber waren wichtige Ereignisse in der auswärtigen Politik eingetreten, die mit wesentlichen Änderungen in der Zollpolitik eng verknüpft waren. Zu persönlichen Verstimmungen reizten die Vorschriften, die Napoleon dem Kaiser Alexander bezüglich der Richtung der russischen ') ») *) steriums

Semenow, Statistische Mitteilungen. Indnstriezeitung 1866, Nr. 33. Sammelwerk von Mitteilungen und Materialien des Finanzmini1865, Nr. 10. S. 156—182.

AUSBREITUNG BIS ZUM MOSKAUER ZUSAMMENBRUCH.

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Handelspolitik gab.1) Ausschlaggebend aber war, daß Rußland die auf Grund des Kontinentalsystems gegen England gerichtete Sperre nicht mehr ertragen konnte. Durch die Kontinentalsperre war der Handelsumsatz von 120 Millionen im Jahre 1806 auf 83 Millionen im Jahre 1808 heruntergegangen; die ungünstige Handelsbilanz, die Entwertung des Papiergeldes, das Sinken des Wechselkurses, die Steigerung der Warenpreise mußten die Kräfte der Volkswirtschaft aufreiben.*) Deshalb forderten Volkswirtschaft und Staatsfinanzen eine Änderung der Handelspolitik. Nach der Ansicht Speranskys, dem die Ausarbeitung eines neuen Programms zugewiesen war, verlangten Staatswirtschaft und Handel eine Erleichterung der Ausfuhr und eine allmähliche Verringerung der Einfuhr. Demnach bildet auch das Statut über den Neutralen Handel, das 1811 in Kraft trat, eine Rückkehr zum Schutzzoll, der in mancher Beziehung einen prohibitiven Charakter trug: unentbehrliche Rohstoffe wurden zollfrei gelassen oder mit niedrigen fiskalischen Zöllen belegt, die meisten Halbfabrikate und Fabrikate aber hochbelastet oder zur Einfuhr verboten. In dem Rahmen dieses Tarifes war auch die Einfuhr von Waren der englischen Kolonien gestattet, sobald sie auf Schiffen unter neutraler Flagge geschah.8) Dieses Handelsstatut war eine Umgehung des Tilsiter Vertrages, d. h. ein Nichteinhalten der Kontinentalsperre, und wurde zu einer wesentlichen Veranlassung des endgültigen Bruchs Rußlands mit Napoleon und demzufolge des Krieges von 1812. Mit einem Teil der Baumwollwaren war eine Ausnahme gemacht worden: die Einfuhr von Baumwollgarn war mit recht geringen Zöllen gestattet, wahrscheinlich weil die Regierung die Unzulänglichkeit der Garnmenge, welche die russischen Spinnereien zu liefern in der Lage waren, erkannt hatte. Dagegen waren baumwollene Gewebe verboten oder mit sehr hohen Zöllen belegt: rohe Baumwollgewebe z. B. mit 60 Kopeken Ass. per Arschin.*) Die neuen zollpolitischen Grundsätze, die in bezug auf ') ') 3 ) 4 )

Oncken, a. a. 0. II. S. 468, 469. Geschichte des Finanzministeriums, a. a. O. I. S. 134, 136. Lodyshensky, a. a. 0. S. 166. Lodyshensky, a. a. 0. S. 164, 165.

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III. KLEIXBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOI.LIXD.

die Einfuhr fast prohibitiv waren, hatten eine kräftige Belebung aller russischen Industriezweige zur Folge. Allerdings waren die Preise industrieller Produkte mit der Prohibition außerordentlich gestiegen, und die Konsumenten begannen sich über diese indirekte Besteuerung zu beschweren. Da aber wichtige fiskalische Rücksichten im Vordergrund standen, vor allem auch, weil die Regierung diese Richtung der Handelspolitik nur als vorübergehende Maßregel betrachtete, wurden die Klagen der Konsumenten nicht berücksichtigt Von den Gewerbetreibenden äußerten nur wenige Unzufriedenheit mit der handelspolitischen Frontänderung. Hauptsächlich die Baumwollspinner waren durch die Verringerung der Garnzölle in eine starke Erregung versetzt worden, die sich erat legte, nachdem ihnen einige Zollerhöhungen zugestanden waren. Doch schon 1812 bestürmten die Spinner wiederum den Finanzminister mit der Bitte, die Garneinfuhr zu verbieten; 1 )

durch die erhöhten Garnzölle war nämlich

der

Schmuggel zu einem sehr rentabeln Geschäft geworden, und so gelangten große Garnmengen unter Vermeidung der Zollhäuser in die russischen Webereien. Englisches Garn fand auch unter dem Namen „Brabanter Garn" Eingang nach Rußland und genoß als solches die dem befreundeten Frankreich zugestandenen Zollvergünstigungen.8)

Doch war diese Einfuhr nicht stark genug,

um den russischen Spinnereien ernste Konkurrenz zu machen, zumal diese Spinnereien allein die Nachfrage nach Garn nicht decken konnten. Waren die Spinner in den Unterhandlungen über diese zollpolitischen Fragen als Sieger hervorgegangen, so wurden sie schwer heimgesucht von den kriegerischen Ereignissen des Jahres 1812. Als Napoleon auf seinem Zug durch Rußland in Moskau Quartier genommen hatte, wurden durch den berühmten Brand von Moskau sämtliche Baumwollspinnereien zerstört; auch die in der Nähe Moskaus gelegenen Betriebe, Webereien und Druckereien, und die umliegenden Dörfer hatten schwer gelitten.

Nachdem

' ) Industriezeitung 1866, Nr. 33. Sammelwerk von Mitteilungen und Materialien des Finanzministeriums 1865, Nr. 10. ») Garelin, a. a. 0 . S. 183, 185, 189.

DIE DRUCKEREI

IX

IWAJiOWO.

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es gelungen war, die Franzosen aus Rußland zu vertreiben und das Kriegstheater sich immer mehr nach dem Westen verschoben hatte, petitionierten alsbald die abgebrannten Moskauer um ein vollständiges Einfuhrverbot von Baumwollgarn und -Gewebe. Diesen Petitionen widersetzten sich mit großer Energie die Weber und Drucker von Wladimir, die gar kein Interesse an Garnzöllen hatten und denen das Monopol der Moskauer Spinner teuer genug zu stehen gekommen war. Einmütig aber ging ein Entrüstungssturm aller Kaufleute und Fabrikanten durch das Land, als 1813 das Gerücht laut wurde, der Finanzminister Gurjew beabsichtige einen freiheitlicheren Zolltarif einzuführen.1) Die Kaufleute und Gewerbetreibenden hatten sich so sehr an eine Sicherung vor fremden Industrieprodukten gewöhnt, daß sie auch von einem gemäßigten Schutzzoll den vollständigen Ruin der vaterländischen Industrie befürchteten. Dieser nationalen Meinungsäußerung wurde nachgegeben — das Prohibitivsystem blieb bestehen, trotzdem Gurjew nachwies, daß die Volkswirtschaft alljährlich immensen Schaden litt.8) Den Bitten der Moskauer Spinner gegenüber aber hatte die Regierung taube Ohren; die Garnzölle wurden nicht so stark erhöht, daß das Wiedererrichten der Spinnereien wirtschaftlich zweckmäßig gewesen wäre. II. DIE DRUCKEREI IN IWANOWO. Die Spinnerei in Moskau war somit im Jahre 1812 untergegangen, und Weberei und Druckerei konnten sich nur langsam von den harten Schlägen erholen. Um so schneller schritt die Baumwollindustrie im Gouvernement Wladimir fort, die durch den Krieg kaum gelitten hatte und die nach dem wirtschaftlichen Untergang des Moskauer Nachbars mehrere Jahre hindurch auf dem Binnenmarkte gewissermaßen ein Monopol besaß.8) Eine eigentliche Konkurrenz hatte auch vor 1812 zwischen Moskau und Wladimir nicht bestanden, da die Absatzgebiete im Ver') Lodyshensky, a. a. 0. S. 172, 173, 174. ) Lodyshensky, a. a. 0. S. 171 ff. 3 ) Allrussische Ausstellung, a. a. 0 . r

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III. KI.EIXBLTR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBKTR. I. D. RUSS. BAUMWOJ.I.IND.

hältnis zu der Zahl und der Größe der Betriebe viel zu zahlreich waren. Doch war, nachdem Moskau für mehrere Jahre lahmgelegt war, die Wladimirsche Industrie, vor allem die Druckerei, in der Lage, die Preise für rohe Gewebe und bedruckte Stoffe allein zu bestimmen. Von dieser wirtschaftlichen Alleinherrschaft machten die Wladimirschen Drucker in ausgiebigstem Maße Gebrauch — ihre Gewinne waren enorm; man nennt daher die Jahre 1812—1822 das goldene Zeitalter der Drucker. Die Drucker betrieben ihr Gewerbe in ihren eigenen Häusern, indem sie die Hülfeleistung der Familienangehörigen oder einiger Verwandter in Anspruch nahmen. Das auf dem Rasen gebleichte rohe Gewebe wurde auf einem möglichst langen Tisch ausgebreitet und mit einem hölzernen Stempel bedruckt; auf dem Stempel waren diejenigen Teile erhaben ausgeschnitzt, die auf dem Gewebe das Muster darstellen sollten; für die zweite Farbe mußte ein anderer Stempel benutzt werden usw. Nachdem das Drucken beendigt war, wurde an den Stellen des Gewebes, auf denen die Zeichnung nicht vollständig zur Erscheinung getreten war, das Muster mit dem Pinsel nachgemalt. Der farbige Stoff wurde alsdann getrocknet, gewaschen, abermals getrocknet, gestärkt, getrocknet, gemanget (Kalander) und geplättet. Nachdem das nun fertige Gewebe in Stücke zusammengelegt war, wurde es sofort auf dem Basar in Iwanowo an Händler verkauft. 1 ) Waren alle diese technischen Manipulationen auch recht einfach, so bedurften sie doch einer bestimmten Sorgfalt; vor allem mußte das Drucken mit den verschiedenen Stempeln auf demselben Muster und das Nachmalen der schadhaften Stellen sehr exakt geschehen. Die Kunst des Druckens war deshalb hochgeschätzt, und die Drucker, die Elite der Baumwolle bearbeitenden Arbeiterschaft, erzielten bei der großen Nachfrage enorme Gewinne. Mit Hülfe seiner Frau und zweier Söhne konnte ein Drucker leicht in zwei Tagen 20 Stück bedruckten Baum') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 430 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir 1862, S. 1—75; Herkner, a. a. 0 . S. 15 berichtet von einer gleichen Technik in Mülhausen um die Mitte des 18. Jahrhunderts.

DIE DRUCKEREI IN IWANOWO.

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Wollstoffes herstellen und sie auf dem Ortsbasar verkaufen; der Reingewinn betrug ungefähr 2 Rubel Silber per Stück.1) Die Baumwolldruckerei hatte in der geschilderten Form keine an feste Grenzen gebundene Organisation. Die fertige Ware wurde auf dem nächsten Markte verkauft, und zwar nicht unbedingt an denselben Händler. Doch war ein freier Absatz nur möglich, wenn in unmittelbarer Nähe ein Handelsplatz war, und auch da nur solange, als die Nachfrage sehr stark war. Wohnte der Drucker zu weit, oder mußte er sich auf dem Markte lange nach einem Abnehmer umsehen, so war es viel zweckmäßiger, einen Vermittler mit dem Vertriebe der Waren zu beauftragen. So etwa mag sich der Übergang von der selbständigen Hausindustrie zum Verlagssystem vollzogen haben. Neben diesen selbständigen hausindustriellen Druckereibetrieben wird für diese Zeit noch von großen Manufakturbetrieben berichtet. Speziell inlwanowo sollen schon 1817 besonders große Baumwollbetriebe bestanden haben: Gratschewa 900 Webstühle, 103 Drucktische ? Arbeiter, Jamanowsky 1000 „ 110 „ ca. 1500 „ Garelin 1021 „ 85 „ 1407 „ ») Uns will es scheinen, als ob es sich hier nicht um Manufakturen mit 1500 Arbeitern handelt; wir meinen, daß hier der Fabrikant hauptsächlich Verleger war; er mag wohl selbst einige Weber und Drucker in einem ihm gehörenden Gebäude beschäftigt haben, meist wird er auch wohl eine Appreturwerkstätte gehabt haben. Dagegen ließ er jedenfalls die meisten Arbeiter in ihren Häusern an ihrem Webstuhl und Drucktisch arbeiten, um die Gebäudekosten und die Auslagen für die technischen Mittel zu sparen; zumal in Iwanowo, wo beinahe jeder Bauer einen Drucktisch oder Webstuhl aus der früheren Zeit der Leinenbearbeitung besaß. Der Fabrikant wies den Druckern das rohe Gewebe zu; diese lieferten das bedruckte Gewebe wiederum an den Fabri') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 430 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir 1862, S. 1—75. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 97 zit.: Gouvernementsnachrichten von Wladimir 1867. Nr. 13.

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III. KLEIXBETR. U. tlBERGAXG Z. GROSSBKTR. I. D. RUSS. BAUMWOLLIXD.

kanten gegen einen bestimmten Lohn ab, der es dann in seiner Appreturwerkstätte fertigstellen ließ. Solche Drucker verdienten bis 1 Rubel Silber am Tag.1) Durch die hohen Löhne und die großen Gewinne gelang es oft hausindustriellen Druckern, selbst zu Verlegern zu werden, nachdem sie sich einiges Geld erspart hatten. Die Beschäftigung mit dem Bedrucken der Baumwolle war allgemein als sehr gewinnbringend bekannt, sodaß nicht nur Bauern des Gouvernements Wladimir, sondern auch Obrokleute anderer Gouvernements sich diesem Gewerbe zuwandten. Auf diese Weise wuchs in den SOiger Jahren die Zahl der Drucker auf 7 000 in Iwanowo und auf 1 0 0 0 0 im ganzen Gouvernement Wladimir. 2 ) Das Überangebot an Arbeitskräften führte einen Lohnsturz herbei; der Übergang vom Drucker zum Unternehmer war sehr schwierig geworden. Eine weitere einschneidende Wirkung auf die Lebensverhältnisse der Drucker hatte die Einführung der Druckmaschinen. Die einzige technische Verbesserung hatten im 19. Jahrhundert nach dem Franzosenkrieg (1812) einige Kriegsgefangene, wahrscheinlich Elsässer, durchgeführt Dann ruhte jeder technische Fortschritt bis in die BOiger Jahre, nachdem 1828 das Privileg, welches der Fabrikant Weder für zylindrische Druckmaschinen erhalten hatte, abgelaufen war.8) Als erster führte der Moskauer Kaufmann Titow eine Druckmaschine ein, die er aus Mülhausen verschrieben hatte; desgleichen veranlaßt» er den Koloristen Schwarz aus Mülhausen nach Rußland zu kommen und übertrug ihm die Leitung seiner Druckerei. 4 ) Gegen die Mitte der 30iger Jahre gelangten die ersten Walzendruckmaschinen nach Iwanowo. Die Wirkung dieser technischen Neuerung war eine durchschlagende, wie überall der Übergang von handarbeitender Menschenkraft zu maschinentätiger motorischer Kraft große Um') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 430 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir 1862, S. 1—75. ») Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 430 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir 1862, S. 1—75. ») Tengoborsky, Die Produktivkräfte Rußlands. St. Petersburg 1858. II. *) Tengoborsky, Die Produktivkräfte Rußlands. II.; Scherer, Die Baumwollindustrie (Übersicht über die Industrien Rußlands) 1863. II.

DIE DRUCKEREI IN IWAXOWO.

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wälzungen hervorgerufen hat; vor allem, wo es sich um eine ursprünglich Ackerbau treibende Bevölkerung handelt, die sich infolge der Einträglichkeit des Gewerbes, allmählich fast ausschließlich industrieller Beschäftigung zugewandt hatte.1) Die Fabrikanten-Verleger errichteten Fabrikgebäude, in denen sie die Druckmaschinen aufstellten; die motorische Kraft erzeugten Pferde oder fließende Gewässer. Neben den Walzendruckmaschinen waren in Rußland gleichzeitig, oder wahrscheinlich schon früher die Perrotinen oder Plattendruckmaschinen bekannt geworden. Die Perrotine ahmt den Handdruck nach, sie druckt mit flachen Formen; doch wird die Form selbsttätig mit Farben gespeist und das zu bedruckende Zeug wird nach jeder Berührung mit der Form selbsttätig um eine Formbreite verschoben. Von den hausindustriellen Druckern wurden Tausende brotlos durch das Wegfallen der Aufträge oder dadurch, daß die maschinell bedruckten Stoffe durch ihre Billigkeit die Handdruckstoffe verdrängten; nur wenige in den von Verkehrsmittelpunkten abgelegenen Dörfern, konnten sich durch den Handdruck kümmerlich den Lebensunterhalt verdienen. Von den früheren Handdruckern strömten viele in die „Fabrikstadt" Iwanowo, um hier in den Fabriken Arbeit zu finden. Doch die Arbeitskraft sparenden Maschinen konnten nur einem kleinen Teil der Arbeitsuchenden Beschäftigung gewähren; der Arbeitslohn sank deshalb nochmals, sodaß die Drucker nicht mehr wie 10—15 Rubel Silber im Monat verdienen konnten.8) Durch die Vier- (Viel-)farbendruckmaschine von Hummel in Berlin, die 1847 zum erstenmal zur Anwendung kam, wurde das Drucken mit mehreren Farben zugleich ermöglicht, also wiederum eine Verringerung der menschlichen Arbeitskräfte hervorgerufen. An Stelle der Pferde- und Wasserkraft trat allmählich als motorische Kraft der Dampf. Durch diese technischen Verbesserungen ging die Zahl der Drucker in der Hausindustrie, wie in den Fabriken, immer mehr zurück. Im Jahre 1862 gab es im ganzen Gouvernement Wladimir nicht mehr als 2000 Drucker. Mit der Abnahme der Zahl der Be') Vergleiche die Entwickelung der Baumwollweberei in Lancashire. ") Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 260.

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HI. KLEWBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETE. I. D. RUSS. BAl'lTWOLLI.VD.

schäftigung findenden Arbeiter, sank infolge des Unterbietens ihr Lohn; er betrug 1862 ungefähr 3 0 — 4 5 Kopeken Silber im Tag bei 14 stündiger Arbeit. 1 ) Die Druckerei im Gouvernement Wladimir wurde also um das Jahr 1860 teils mit der Hand, teils mit Maschinen betrieben; die Maschinen waren Walzendruckmaschinen und Perrotinen. 4 ) Es wurden ungefähr zwanzig verschiedene Sorten bedruckter Baumwollstoffe hergestellt, die dem Preise nach zwischen 7 uud 4 0 Kopeken Silber per Arschin schwankten. Ein Teil der rohen Gewebe wurde selbst erzeugt, die meisten jedoch wurden gekauft. Die fertigen Stoffe wurden teils an herumziehende Händler aus Moskau, Kasan, Jaroslaw und anderen Städten verkauft, welche die Fabriken selbst aufsuchten. Bedeutend größer war der Absatz nach Moskau, wo die Wladimirschen Waren besondere Yerkaufsstände hatten. Der hauptsächliche Absatz aber waren die Messen in Nishny-Nowgorod, Rostow, Irbit und anderen Orten. Der Verkauf der Stoffe fand meist gegen bar, selten auf Kredit statt. Unter den Arbeitern nahmen die erste Stelle die Koloristen ein, welche die Farben zusammenzustellen und vorzubereiten hatten. Diese Tätigkeit übten in vielen Fällen Ausländer, bisweilen auch Russen aus, in kleinen Betrieben die Unternehmer selbst. Die Gehälter der Koloristen schwankten zwischen 200 und 4 0 0 0 Rubel Silber im Jahr. Nächst ihnen sind die Zeichner zu nennen, welche die Muster erdachten und zeichneten; sie waren häufig Absolventen der Stroganowschen Schule, manchmal arbeiteten sich auch Modellstecher zu dieser Stellung herauf; sie erhielten Jahresgehälter von 200 bis 1 0 0 0 Rubel Silber. Die Modellstecher schnitzten die Muster, welche sie mit Messingdraht und Messingblech verstärkten; sie arbeiteten teils in ihren Dörfern und Häusern und erhielten dann Stücklohn — 2,50 bis 15 Rubel Silber, verdienten ungefähr 100 bis 150 Rubel im Jahr, — oder sie wohnten bei den Fabriken, hatten neue ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 431 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir 1862, S. 1—76. *) Das folgende nach dem Jahrbuch der Freien ökonomischen Gesellschaft 1860, Abt. II. Bd. III. S. 104,105,106.

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DIE DRUCKEREI L\ IWAKOWO.

Muster herzustellen und alte zu reparieren und standen im Jahresgehalt — 80 bis 120 Rubel Silber. Am zahlreichsten waren auf den Druckereien die Drucker; sie wohnten bei oder in den Fabriken, arbeiteten das ganze Jahr und erhielten Stücklohn, 5 bis 15 Kopeken Silber für den Satz; von geringeren Sorten konnte der Drucker täglich 6 bis 8 Sätze fertig bringen, von besseren Sorten 2 bis 4. Diese Stücklohnarbeiter erzielten jährlich 100 bis 150 Rubel Silber, standen sie aber in Jahresgehalt, so brachten sie es nur auf 60 bis 70 Rubel. Die Knaben (9 bis 14 Jahre), die den Druckern die Farben rieben, erhielten 10 bis 12 Rubel Silber jährlich; sie waren die Schüler der Drucker und machten in dieser Stellung gewissermaßen ihre Lehrzeit durch. Alle anderen Arbeiter verdienten nicht mehr als 6 bis 7 Rubel im Monat; nur die Packer erzielten 100 bis 120 Rubel jährlich. Alle Arbeiter beköstigten sich selbst. Der Preis für 1 Pud Roggenmehl betrug in den Jahren 1852—1854 in Moskau 47 Kopeken;') das Verhältnis zu dem Preise für 1900, 95 Kopeken, zeigt also eine Steigerung von 102°/o. Nach dem jetzigen Kaufwert des Geldes wären demnach die Löhne für Arbeiter auf Druckereien im Gouvernement Wladimir im Monat durchschnittlich folgende: Stücklohn

Modellstecher Drucker Knaben Packer Alle anderen Arbeiter

21 Rubel 21 „ — „ — „ — „

Zeitlohn

17 Rubel 11 „ ca. 2 „ 18,50 „ 13 „

Von diesen Löhnen ist noch der Obrok abzuziehen, der nach der Erwerbsfähigkeit schwankte. Die Löhne sind also im allgemeinen gegen den Anfang des Jahrhunderts gesunken; doch muß in Erinnerung gebracht werden, daß die Löhne im ersten Viertel des Jahrhunderts speziell in Iwanowo besonders hoch waren, ferner muß das Sinken des Getreidepreises berücksichtigt werden. Trotz des Zurückgehens sind die Löhne im ') Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 203 zit.: Das Bäckereigewerbe in Moskau. H a m m e r s c h m i d t , Banmwollindnstrie in RnOland.

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III. KIJÖXBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOLLIND.

zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts allgemein als sehr hohe bekannt und stehen den heutigen nicht nach. Wenn wir die Jahre 1812—1822 als das goldene Zeitalter der Baumwolldruckerei bezeichneten, während dessen die Druckerei zum weitaus größten Teil als Hausindustrie betrieben wurde, so ist die Epoche 1822—1836 am besten charakterisiert durch die ungeheure Zunahme der Zahl der Drucker und durch den damit verbundenen Lohnsturz. Die Verleger ziehen die Grenzen der Organisation enger, die Drucker geraten in ein stärkeres Abhängigkeitsverhältnis. Die weitere Entwickelung stand unter dem Einfluß der Anwendung von Maschinen; die Folge war einerseits ein Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte und eine neue Lohnverringerung, anderseits eine Konzentration des Betriebes. Die weitverzweigten Verlegerorganisationen traten zurück vor der Konkurrenz der zentralisierten maschinellen Großbetriebe. In Iwanowo waren besonders die 50 iger Jahre durch eine verstärkte Einführung von Walzendruck- und Dampfmaschinen ausgezeichnet. Die Fabrikanten hatten eingesehen, daß das Eindringen bedruckter baumwollener Stoffe in alle Volksklassen erst durch große Verbilligung, also durch eine bedeutende Verbesserung der Produktionsbedingungen, möglich werden konnte. Eine Verbesserung der Produktionsbedingungen konnte aber nur geschehen in der Form des fabrikmäßigen Großbetriebes, unter Anwendung mechanischer Kraft und technisch vervollkommneter Maschinen. Diese Entwickelung wurde unabhängig von den Vorgängen in Iwanowo durch eine wirksame Gründertätigkeit von Ausländern in den beiden Hauptstädten gefördert. Rastloser Fleiß, geschäftliche Rührigkeit gepaart mit tüchtigen technischen Kenntnissen und klarer Dispositionsfähigkeit haben vielen Ausländern in der günstigen Zeit der Jahre 1840—1860 zu großartigen wirtschaftlichen Erfolgen verholten. Die Ausländer ließen sich besonders gern in Moskau und Petersburg nieder, da ihnen diese Städte zugänglicher waren und in geschäftlicher Beziehung mehr westeuropäisches Kolorit trugen. Speziell auf dem Gebiete der Färberei und Druckerei wurden in diesem Zeiträume viele technische Verbesserungen durch

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DIE WEBEREI IX MOSKAU UND WLADIMIR.

Ausländer eingeführt Der Elsässer Steinbach brachte das Verfahren der ununterbrochenen Bleiche, der Elberfelder Rabenek die Kunst mit Türkischrot zu färben nach Moskau.1) Vervollkommnungen in der Druckerei sollen noch durch Köchlin eingeführt worden sein „den besten Koloristen Frankreichs".*) In Petersburg gehörte die beste Druckerei ebenfalls einem Ausländer Lütsch; in Moskau sind noch zu nennen der Nachfolger Steinbachs, auch ein Elsässer Emil Zindel, und Albert Hübner.3) Abgesehen von den technischen Verbesserungen, die sie mitbrachten, trugen die Ausländer noch dadurch zu einer gedeihlichen Entwickelung der Industrie bei, daß sie, von ihrer Tätigkeit im Auslande daran gewöhnt, fast ausschließlich Maschinenarbeit anwandten. Ein weiteres Bestreben richtete sich auf die Vergrößerung ihrer Betriebe — auf die Konzentration. Auf diese Weise finden wir in Iwanowo und im ganzen Gouvernement Wladimir und in den beiden Hauptstädten in den 60iger Jahren technischen Fortschritt und Konzentrationsbestrebungen : die Druckerei hatte technisch und wirtschaftlich festen Fuß gefaßt III. DIE WEBEREI IN MOSKAU UND WLADIMIR. Wir haben im zweiten Abschnitt die Entstehung der Baumwollweberei in Manufakturen und die Zersplitterung dieser Betriebe, das Eindringen des Webstuhls in die Hütte des Bauern, geschildert. Wir wiesen ferner darauf hin, daß Moskau zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Mittelpunkt der Weberei wurde. Es stellt sich jetzt die Frage ein, woher der Drucker die rohen Baumwollgewebe, die unter den Handdruckstempel oder unter die Maschine wanderten, im 19. Jahrhundert bezog. Wir kommen zu der Darstellung der Baumwollweberei im 19. Jahrhundert 4 ) ') Scherer, Die Baumwollindustrie, a. a. 0 . *) Krjukow, Schilderung der industriellen Kräfte des europäischen Rußland. St. Petersburg 1853. ') Brandt, Das ausländische Kapital. St. Petersburg 1901. III. S.43,44. ') Literaturnachweise bei Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0.

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Ungefähr um dieselbe Zeit, als die englischen Baumwollgarne, den asiatischen Konkurrenten überwindend, sich den russischen Markt sicherten, begann das Weben baumwollener Zeuge sich auszudehnen. Schon war die Weberei der harten Organisation der Manufakturen entlaufen und hatte sich in die Hütten und Häuser der Bauern geflüchtet Doch nur kurze Zeit dauerte die Selbständigkeit; schon bald war die Weberei unter eine andere kapitalistische Organisation zusammengefaßt — der des Verlegers. So finden wir die Baumwollweberei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ein großes Gebilde weitverzweigter, von einander unabhängiger Verlags-Hausindustrien eingeschlossen. Ein anderer Weg dieser Organisationsänderung vollzog sich in der Weise, daß der Fabrikant, der den Vorzug des Garnverteilens an die Weber vor der manufakturmäßigen Weberei erkannt hatte, seinen Webern vorschlug, sie sollten nun in ihren Häusern, mit ihren Webstühlen sein Garn verweben. Auch hier stellte sich bald eine vermittelnde Zwischenperson ein. Das uralte Gewerbe der Leinenweberei hatte dem Verweben des Baumwollgarns den Boden vorbereitet. An manchen Orten trug auch eine Webemanufaktur zur Ausbreitung der Weberei bei. Doch war die Leinenweberei eine Verarbeitung S. 385—421. Die wichtigsten Nachweise: S. 413, 414 zit.: Zeitschrift des Ministeriums des Innern 1860. T. XIV. Abt. V. S. 14, 25; 1858 T. XXXII. Abt. III. S. 6—12; 1860 T. XLI. Abt. VI. S. 16; 1861 T. XLVIII. Abt. VI. S. 5—9. S. 408 zit.: Gouvernementsnachrichten von Kaluga 1860, Nr. 12. S. 417 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Kaluga 1861. S. 134—197. S. 402 zit.: Poprozky, Das Gouvernement Kaluga T. I. S. 587—590. S. 417 zit.: Preobrashensky, Beschreibung des Gouvernements Twer in landwirtschaftlicher Beziehung S. 451, 452. S. 420 zit.: Das Gouvernement Wladimir. Nach Mitteilungen von 1859. St. Petersburg 1863. S. 28—30. S. 406 zit.: Sammelwerk des Statistischen Komitees des Gouvernements Wladimir. T. III. S. 66. S. 406,407,417 zit.: Gouvernementsnachrichten von Wladimir, 1843 Nr. 4; 1847 Nr. 9 ; 1865 Nr. 19, Nr. 37, Nr. 39, Nr. 41, N. 51; 1&36 Nr. 26; 1867 Nr. 42; 1860 Nr. 4, Nr. 12, Nr. 40—42; 1868 Nr. 32, Nr. 35. S. 412 zit.: Zeitschrift für Manufaktur und Handel 1858 T. III. und T. IV. S. 16, 16. S. 409, 410 zit.: Zeitschrift der Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft 1861 Nr. 1, S. 1—38; 1863 Nr. 7, S. 2 9 - 5 4 .

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selbstgewonnenen, oder allenfalls von einem Gemeindegenossen erhaltenen Rohstoffes. Bei dem Übergang zur Baumwollweberei stellte sich die Schwierigkeit des Rohstoffbezuges ein. Da im Anfang des 19. Jahrhunderts das Baumwollgarn ausschließlich aus dem Auslande, aus England und Asien importiert und dann meist auf große Märkte und Messen transportiert wurde, war es den Webern direkt garnicht zugänglich. Andererseits hatten auch die Wenigsten das nötige Bargeld, um sich das Garn zu kaufen. Deshalb drängte die Lage der Dinge dazu, daß eine Mittelsperson den Verkehr zwischen dem Garnimporteur und dem Hausweber vermittelte. Anfangs mögen diese Rolle wohl reichere Gemeindegenossen eingenommen haben, die auf diese Weise zu einer vorherrschenden Stellung in der Gemeinde gelangten. Doch bald rückten Verleger an ihre Stelle, welche diese Vermittelung geschäftsmäßig betrieben. Die Verleger kauften das Garn bei den Garnimporteuren auf den Messen oder in größeren Städten und verteilten es in einem bestimmten Dorfe an alle Bauern, die sich zum Weben anboten. Voraussetzung war natürlich, daß diese Weber dem Verleger einigermaßen bekannt waren. An einem vorher festgesetzten Termin lieferten die Hausweber das Gewebe ab und erhielten für ihre Arbeit einen ebenfalls vorher fixierten Lohn. Um Streitigkeiten zu vermeiden, wurde dem Bauer Kette und Einschlag meist nach dem Gewicht geliefert und ebenso das Gewebe bei der Übergabe gewogen, wobei gegenüber dem ersten Gewicht eine kleine Differenz gestattet war. Da der Garnimporteur das Garn in Strähnen verkaufte und der Hausweber keinen Raum und keine Vorrichtungen zum Schlichten hatte, pflegten die Verleger kleine Schlichtereien zu errichten und bisweilen auch das Garn selbst zu färben. Selbstverständlich arbeiteten auch die Verleger ohne besondere Maschinen: sie führten die notwendigen Verrichtungen mittels sehr primitiver Manipulationen aus. Beispielsweise wurde im Gouvernement Kaluga, im Kreise Medyn, das Schlichten in besonders dazu hergerichteten Häusern vorgenommen.1) Das Garn wurde ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 408, 409 zit.: Die Gouvernementsnachrichten von Kaluga 1860, Nr. 12.

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erst, um von dem ihm anhaftenden Öl befreit zu werden, 48 Stunden in Laugenwasser gekocht. Darauf wurde es herausgenommen, ausgerungen und in ein dünnflüssiges Klebemittel (Kleister aus Weizenmehl und Wasser) getaucht. Nachdem das Garn noch leicht ausgerungen war, damit die Fäden beim Trocknen nicht zusammenklebten, begann eine höchst merkwürdige Arbeit In dem sehr stark erhitzten Baum nahm ein Arbeiter aufrechtstehend die Enden einiger dieser mit Klebstoff durchzogenen Strähne in die Hände, zog die gestreckten Arme hoch über den Kopf und ließ alsdann die anderen Enden der Strähne mit großer Wucht auf einen am Boden liegenden glatten Stein schlagen. Nach einigen Schlägen ergriff er die Strähne an den anderen Enden und wiederholte diese Tätigkeit, bis das Garn durch die Bewegung und durch die sehr heiße Luft ziemlich trocken war. Zum vollständigen Austrocknen wurde das Garn dann noch in Trockenkammern aufgehängt. Ein Arbeiter konnte an einem Tage ungefähr 11—12 Pfund Garn schlichten und erhielt für diese Arbeit bei freier Wohnung und Beköstigung 8 Rubel monatlich. Das geschlichtete Garn erhielt der Weber, der alsdann das rohe Gewebe dem Verleger übermittelte. Der Verleger bleichte und färbte bisweilen das Gewebe selbst und verkaufte es dann auf Messen und Märkten; teilweise schloß er Verträge ab und hatte dann die Gewebe an einen Drucker abzuliefern, oder er war auch selbst Drucker-Fabrikant. In diesem Falle war die Verlegertätigkeit Nebenbeschäftigung und erklärte sich aus dem Bedürfnis, einen sicheren Gewebelieferanten zuhaben. In manchen Fällen ließ der Fabrikant den Verkehr mit den Hauswebern durch eine Zwischenperson, einen Kommissionär ausführen. Der Kommissionär hatte das vom Fabrikanten gelieferte Garn den Webern zu übergeben und das Gewebe wiederum an seinen Auftraggeber abzuliefern. Der Kommissionär führte hier nur die Rolle eines Vermittlers aus, er „verlegte" nicht selbständig, sondern war ein Angestellter des Fabrikanten, der ihm für seine Tätigkeit meist einen bestimmten Lohn für jede Arschin abgelieferten Gewebes gewährte. Die Kommissionäre waren meist selbst tüchtige Weber, leiteten wohl die Hausweber hie und da zum Weben

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an und hatten jedenfalls einen nicht unwesentlichen Einfluß auf die Entwickelung der Hausweberei.1) Die Organisation der Hausweberei der Baumwolle in Rußland richtete sich, in der geschilderten Form, nach zwei Seiten: sie umfaßte den Rohstoff und den Absatz. Wir haben es hier also mit dem Verlagssystem zu tun, das allerdings nach der Bücherschen Terminologie nur des Kriteriums der Absatzorganisation bedarf.2) Neben dieser doppelten Regelung bestand auch die Organisation des Absatzes allein und zwischen diesen beiden zahlreiche Zwischenformen. Abgesehen von der Verlagshausindustrie war in Rußland noch eine selbständige Hausindustrie vertreten. Solche Hausweber, die durchweg zu den wohlhabenderen Bauern gehörten, kauften das Garn selbst ein und verkauften das Gewebe wiederum selbst auf dem nächsten Basar oder an herumziehende Händler. Die selbständige Hausweberei ist jedoch in Rußland niemals stark verbreitet gewesen. Die Hausweber übten allgemein ihre Tätigkeit in ihren Hütten aus; ihr ganzes Handwerkszeug bestand aus dem hölzernen Webstuhl, der nächst dem großen Ofen, dem Wahrzeichen des russischen Bauernhauses, den größten Teil des Raumes in der kümmerlichen Hütte ausfüllte. Da durch die Mirverfassung landlose Bauern nicht vorhanden waren, hatte der Hausweber stets ein paar Deßjaünen Land. Er konnte dadurch einen Teil seines Lebensunterhaltes bestreiten, doch genügte in manchen Teilen des mittelrussischen Industriebezirks das gewonnene Getreide nicht einmal für ein halbes Jahr. Durch das Verrichten der Feldarbeiten wurde die für die Weberei übrig bleibende Zeit auf 7 bis 9 Monate beschränkt. Kinder und Greise, auch überflüssige Arbeitskräfte, pflegten das ganze Jahr hindurch zu weben, doch mußten die meisten Weber ihre Tätigkeit für mehrere Monate unterbrechen. Allgemein betrieben also die russischen Hausweber, in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Mir, Acker') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0. S. 414 zit.: Zeitschrift des Ministeriums des Innern. 1861 T. XLVIII. Abt. VI. S. 5—9; S. 403 zit.: Baranowitsch, Das Gouvernement Rjasan. S. 259—264. ') Bücher, a. a. 0. S. 201, 202.

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bau; sie yerblieben demnach in der Agrarverfassung, während sie durch die Herstellung gewerblicher Produkte auf Absatz auch in die gewerbliche Verfassung eingedrungen waren. In der Hütte des Bauern war mit dem Weben nicht ein bestimmtes Familienglied beschäftigt, es webte, wer gerade Zeit hatte; aber ununterbrochen hörte man das einförmige Klappern der Lade. Die Beschäftigungslosigkeit im Winter ließ nun den Bauern darüber nachdenken, ob nicht vielleicht mehrere Angehörige der Familie sich andauernd diesem Gewerbe widmen könnten. Die Enge der Bauernhütten und das Bestreben, möglichst vielen Angehörigen während des Winters Beschäftigung zu geben, veranlaßten den Bau von größeren, hohen und hellen Häusern, den sogenannten Sswetelki. Diese Webstuben, in denen 5, 10, sogar bis 20 Webstühle Platz finden konnten, erleichterten natürlich die Organisation ganz bedeutend. Bisweilen wurden solche Webstuben auch auf Veranlassung der Verleger oder durch Zwischenhändler zur Hebung und Anmunterung der Weberei eingerichtet. In den Webstuben arbeiteten nicht nur Mitglieder derselben Familie; oft vereinigten sich mehrere Familien und bauten gemeinsam eine Sswetelka. Häufig wurden auch Webstühle oder der Raum für einen Webstuhl vermietet, oder es wurden auch Lohnarbeiter angestellt. Dieses gemeinsame Arbeiten mehrerer Familien oder Lohnarbeiter in demselben Räume führte in Rußland zu keiner Arbeitsverfassung. Rohstoff und Absatz waren unabhängig von der räumlichen Arbeitsvereinigung organisiert. Tugan-Baranowsky weist deshalb mit Recht die schwärmerischen Behauptungen Haxthausens über das Vorhandensein von Assoziationen im Saint-Simonistischen Sinne in Rußland energisch zurück.1) Die Verfassung der Hausweberei blieb in der geschilderten Form bis in die 40 iger und 50 iger Jahre bestehen; in manchen Dörfern mag sie auch noch länger bestanden haben, in manchen setzte der Umschwung schon früher ein. Allgemein änderten sich aber die Produktionsbedingungen so stark, daß die wirtschaftliche Lage der Hausweber stark erschüttert wurde. Das *) Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 291; Haxthausen, a. a. 0. I. S. 182.

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Verlagssystem blieb indessen bestehen, es besteht in Mittelrußland noch jetzt, und die Hausweberei nahm gerade in diesen kritischen Jahren quantitativ einen bedeutenden Aufschwung. In allen Teilen des Produktionsprozesses machte sich aber eine Entartung geltend. Im Anfang der 50 iger Jahre, in der Zeit des Krimkrieges, waren die Klagen über die jämmerliche Lage der Hausweber in aller Munde. Nach dem Kriege trat mit dem allgemeinen Aufschwung auch eine Besserung in der Lage der Hausweber ein, die aber nur von kurzer Dauer war. Die durch den amerikanischen Bürgerkrieg hervorgerufene Baumwollkrise und die Bauernemanzipation ließen die Hausweberei mehrere Jahre brachliegen. Im Anfange des 19. Jahrhunderts hatte die Hausweberei einen bedeutenden Aufschwung erlebt. Da die Nachfrage der Drucker nach rohen Baumwollgeweben, man erinnere sich an das goldene Zeitalter der Drucker, recht bedeutend war, die Hausweberei aber noch in der Entwickelung der Organisation stand, die Verbreitung also noch eine relativ beschränkte war, kann die Lage der Hausweber allgemein als recht günstig bezeichnet werden. Jedenfalls war das erste Viertel des 19. Jahrhunderts die beste Zeit, die die hausindustriellen Baumwollweber in Bußland je erlebt haben. Man kann daher diese Zeit auch das goldene Zeitalter der Weber nennen; doch ist diese Bezeichnung nur eine relative, da die Weber niemals die märchenhaften Gewinne der Drucker kennen gelernt haben. In manchen Gegenden in den 30 iger Jahren, allgemeiner in den 40 iger und 50 iger Jahren trat eine Verschlechterung der Lage der Hausweber ein und im Anschluß daran die Entartung der Verfassung der Weberei. Zwei Gründe waren vor allem maßgebend: das Angebot von Arbeitskräften in der Hausweberei, das in keinem Verhältnis zu der Arbeitsmöglichkeit, dem vorhandenen Garn, stand, und späterhin die Anwendung mechanischer Webstühle. Eine zahlenmäßige Beweisführung ist in diesem Falle nicht möglich, da es keine Statistiken über die Hausindustrie in Rußland vor 1861 gibt. Wir können aber den allmählichen Verfall der Hausweberei an der Entartung ihrer Verfassung und in-

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direkt durch einige Kombinationen mit statistischem Material schildern. Durch die prohibitive und hochschutzzöllnerische Handelspolitik im 19. Jahrhundert hatte sich die Baumwollbearbeitung in Rußland verbreiten können und durch die Verbilligung der Erzeugnisse hatten die baumwollenen Stoffe auch unter den ärmeren Bevölkerungsklassen Eingang gefunden. Jede Zunahme der Baum Wollindustrie bedeutete aber zugleich eine Ausbreitung der Hausweberei; und die Ausbreitung der Hausweberei schloß eine Verschlechterung der Lage der Hausweber in sich, da sie das Angebot der Arbeitskräfte unverhältnismäßig steigerte. Um ein übersichtliches Bild von der Verbreitung baumwollener Erzeugnisse in Rußland geben zu können, müssen wir den Verbrauch baumwollenen Garnes annähernd feststellen. Wir bedienen uns einer Statistik, welche die Einfuhr von Rohbaumwolle und Baumwollgarn angibt. Von der eingeführten Rohbaumwolle bringen wir 20°/o in Abzug, um den Abfall und den Konsum an Watte auszuschalten. Zu der auf diese Weise ungefähr bestimmten Gewichtsmenge in Rußland hergestellten Garnes schlagen wir das eingeführte ausländische Garn hinzu. Von der so berechneten Garnmenge nehmen wir an, daß sie ausschließlich den Webereien zuströmte; die Herstellung von Spitzen und von Zwirn gehört einer späteren Zeit an und ist von untergeordneter Bedeutung. Nach dieser Berechnung würde sich die Zunahme der Weberei, nach der zum Verbrauch möglichen Garnmenge, etwa folgendermaßen gestalten : 1 ) 1 8 1 2 - 1 5 : 1 7 2 0 0 0 P.; 1 8 3 6 - 4 0 : 8 4 5 0 0 0 P.; + 24,4«/o; 1 8 1 6 - 2 0 : 2 3 7 000 P.; + 37,8°/o; 1 8 4 1 - 4 5 : 1 0 1 2 0 0 0 P.; + 19,8 •/«; 1 8 2 1 - 2 5 : 2 9 2 000 P.; -f- 23,2 ®/o; 1 8 4 6 - 5 0 : 1 2 4 3 000 P.: + 22,8 °/o; 1 8 2 6 - 3 0 : 5 1 4 0 0 0 P . ; + 7 6 °/o; 1 8 5 1 - 5 5 : 1 4 5 4 0 0 0 P.; + 1 7 •/«; 1 8 3 1 - 3 5 : 6 7 9 000 P.; + 30,9 °/o; 1 8 5 6 - 6 0 : 2 313 000 P.; + 59,1 %>; l ) Pokrowsky, Sammelwerk von Mitteilungen über Geschichte und Statistik des auswärtigen Handels Rußlands. St. Petersburg 1902. I. S. 274, 277. Desgl. Tabellen S. 134, 136.

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Da aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hausweberei weitaus vorherrschend war, so ist ein großer Teil dieser enormen Ausbreitung der Hausweberei zuzuschreiben. Eine weitere statistische Zusammenstellung beleuchtet den Anteil der Hausweberei an der Zunahme der Baumwollbearbeitung noch besser: Arbeiter auf Baumwollwebemanufakturen

Einfuhr von Rohbaumwolle und Garn.

1836 : 94 751 1852 : 81454 1857 : 75 517

865 000 1960 000 2 765 000.1)

Da die Verbreitung der menschliche Arbeitskraft sparenden Maschinen, der mechanischen Webstühle, einer späteren Zeit angehört, so bedeutet sowohl die Vergrößerung der Einfuhr als auch die Abnahme der Arbeiter in Webereien ausschließlich eine Ausdehnung der Hausweberei. Demnach hatte die Hausweberei in den 30iger, 40iger und 50iger Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen. Während aber die Hausweberei immer größere Dimensionen annahm, war der Lohn der Weber starken Schwankungen unterworfen und hatte im allgemeinen eine niedergehende Tendenz. Der Jahreslohn eines Baumwollwebers im Gouveruenemt Wladimir betrug in Assignatenrubeln: Für Gewebe niederer Sorte

1808 1813 1829—58

432 Rubel 359 „ 125 „

Für Gewebe höherer Sorte

504 Rubel 449 „ 166 „ *)

Wie ist nun diese Lohnverringerung mit dem enormen Anwachsen der Hausweberei in Einklang zu bringen? Wir hatten darauf hingewiesen, daß der Boden für die Baum') Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 231 zit.: Rechenschaftsberichte des Departements für Handel und Manufaktur (Archiv des Departements für Handel und Manufaktur); Die Rohbaumwolleinfuhr ist hier voll angeführt, da wir Tugan-Baranowsky folgen müssen. *) Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 266 zit.: Der Industriebote. 1861. T. XIV.

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wollweberei in Mittelrußland denkbar günstig vorbereitetet war. Da die Technik der Baumwollweberei sich in nichts von der der Leinenweberei unterschied, trat mit der Verbreitung der baumwollenen Stoffe ohne Schwierigkeit an Stelle des selbstgewonnenen Flachsgarnes das Gespinst der ausländischen Baumwolle. Aber gerade dieser Vorzug, die Möglichkeit der schnellen und anfänglich wirtschaftlich zweckmäßigen Verbreitung, wurde der Hausweberei der Baumwolle zum Unheil. Infolge der Einfachheit der Technik und der Anlehnung an die frühere Leinenweberei war das Angebot der Arbeitskräfte unverhältnismäßig groß. Jeder Bauer, der sich während des Winters nicht einem Wandergewerbe zuwandte, konnte seine Arbeitskraft in dieser Zeit in den Dienst der Weberei stellen. Abgesehen von diesem technischen Arbeitsantriebe waren noch zwei weitere vorhanden: das zunehmende Unfruchtbarwerden des Ackerbodens und die Geldabgabensteigerung der Gutsherren. Durch diese technischen und wirtschaftlichen Momente ist die Verbreitimg der Hausweberei und das Angebot von Arbeitskräften auch über die Nachfrage hinaus erklärt Wie aber ist die Ausdehnung der Hausweberei in den 30iger, 40iger und 50iger Jahren, also während einer niedergehenden Tendenz des Lohnes zu erklären? Zum Teil werden hierbei wohl die beiden obengenannten wirtschaftlichen Gründe mitgewirkt haben, vor allem aber die Unmöglichkeit, den Lebensunterhalt nur durch die anderen Faktoren, in erster Linie den Ackerbau, gewinnen zu können. Andererseits konnte der russische Hausweber die Lohnverringerung verhältnismäßig leichter ertragen, da er als Bauer einen Teil der zur Bedürfnisbefriedigung nötigen Güter aus der Landwirtschaft bezog. Durch den Zusammenhang mit der Landwirtschaft ist es allein zu erklären, daß der russische Hausweber in der Lage war, bei den bedeutenden Lohnrückgängen das Weben des Baumwollgarns weiter zu betreiben. Nur dadurch ist es möglich, die unausgesetzte Zersplitterung der Webemanufakturen und die Ausdehnung der Hausweberei zu verstehen. Die Dezentralisationstendenz in bezug auf die Betriebe vom Standpunkte des Fabrikanten war dagegen leicht verstand-

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lieh: da das Angebot an Haaswebern ununterbrochen wuchs, der Lohn entsprechend fiel, wurde es von Jahr zu Jahr rationeller, das Gewebe von Hauswebern herstellen zu lassen. Der Fabrikant verfolgte also nur ganz konsequent seine Interessen, wenn er Garn zum Verweben an die Hausweber verteilte oder die Gewebe von Verlegern bezog. Dieser krasse Widerstreit der Interessen in Verbindung mit der wirtschaftlich trostlosen Lage der Hausweber und dem Ausbeutungssystem der Verleger mußte irgendwie hervortretend Ausdruck finden. In Ermangelung einer sozialen Organisation fand er seinen Ausdruck nicht in Streiks, Aufruhren und Zerstörungen, sondern in einem Kleinkampf zwischen dem einzelnen Weber und dem Verleger, in schlechter Arbeit und schlechter Lohnzahlung — in Betrügereien. Der Gewinn des Bauern aus der gewerblichen Betätigung konnte auf verschiedene Art geschmälert werden: entweder offenkundig durch Verringerung des Lohnes oder versteckt durch nicht vollwertige Zahlung. Aüf die Lohnverringerung haben wir schon hingewiesen, wie verhielt es sich nun mit der nicht vollwertigen Zahlung. Die Verleger und Zwischenhändler zwangen die Hausweber an Stelle des Geldlohnes Garn anzunehmen oder auch andere Sachen, z. B. lahme Pferde, schlechte Wagen und Schlitten.1) Oft brachten sie die Weber auch in ein Abhängigkeitsverhältnis, indem sie ihre Steuern bezahlten oder ihnen Geld und Lebensmittel V o r s c h ü s s e n . 8 ) Die Verleger und Zwischenhändler hatten selbst einen schweren Stand, da mit der Zunahme der Zahl der Weber auch die Zahl ihrer Berufsgenossen wuchs. Um sich der Konkurrenz der Kollegen zu erwehren, mußten sie die Fabrikanten recht billig bedienen und andererseits den Webern möglichst geringe Löhne zahlen. Aus dieser mißlichen Lage der Verleger und Zwischenhändler ist zum Teil der Druck auf die Hausweber zu erklären. Die Hausweber ihrerseits blieben dem Lohndruck und den Übervorteilungen ihrer Auftraggeber ') Sammelwerk des Statistischen Komitees des GouvernementsWladimir 1866. Bd. V. S. 25, 26. *) Gouvernementsnachrichten von Wladimir. 1854. Nr. 30.

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nichts schuldig. Sie „erfinden die verschiedensten Mittel, um ihren Lohn zu erhöhen; sie benetzen z. B. das Gewebe, bevor sie es abgeben, mit Wasser oder einer starken Salzlösung, um das Gewicht zu erhöhen, da sie das Material nach Gewicht erhalten und abliefern; manchmal kommt es auch vor, daß das von den Verlegern erhaltene Garn verschwindet und nicht mehr aufzutreiben ist".1) Auch von den Verlegern wurde gern das Garn vor dem Abgeben an den Weber in einen feuchten Raum gehängt; dem gegenüber beschwerten die Weber das Gewebe mit Mehl, Kreide usw. Eine höchst merkwürdige Rolle hatten bei diesen Betrügereien die Gutsherren, die dem Treiben ihrer Leibeigenen nicht nur ruhig zusahen, sondern sogar ihre Schwindeleien offen begünstigten.8) Es ist jetzt natürlich nicht möglich, festzustellen, wer mehr betrogen hat, es ist auch volkswirtschaftlich höchst unwesentlich. Man kann aber erklären, weshalb dio Betrügereien vorkamen, wenn man nicht von vornherein moralische Minderwertigkeit voraussetzen will: befand sich der Verleger in wirtschaftlicher Abhängigkeit von einem Fabrikanten, als Angestellter oder durch Verträge, so suchte er den wirtschaftlichen Druck, der auf ihm selbst lastete, abzuwälzen; der Hausweber, der nicht weiter abwälzen konnte, versuchte durch verstärktes Betrügen das wirtschaftliche Übergewicht wenigstens zum Teil zu paralysieren. Wenn der Verleger wirtschaftlich unabhängig, meist also ein größerer Unternehmer war, hatte er selbst nur in den seltensten Fällen die Verhandlungen mit den Hauswebern zu führen; diese Tätigkeit übten Kommissionäre — also Angestellte aus, die sich in derselben Lage befanden wie die abhängigen Verleger. Es könnte also scheinen, als ob die Hausweber einem so starken Druck ausgesetzt waren, daß sie auf jeden Fall Betrügereien vornehmen mußten. Jedenfalls waren die unlauteren Machenschaften der Hausweber so verbreitet, daß die Regierung es für zweckmäßig hielt, 1846 ein Gesetz zu erlassen, kraft dessen die Garn verteilenden Ver«) Das Wissen. St. Petersburg 1871. Nr. 3, S. 233—245. *) Schulze-Gävernitz, a. a. 0. S. 85.

DIE WEBEREI LS' MOSKAU UND WLADIMIR.

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leger und Zwischenhändler ihre Ansprüche gegenüber den Hauswebern nachdrücklicher geltend machen konnten.1) Die Fabrikanten hatten jedoch noch ein anderes Mittel, um die Hausweber gefügig zu machen — die Anwendung des mechanischen Webstuhles. Dieses Mittel wirkte unfehlbar, alle Betrügereien konnten abgeschnitten werden. Die erste mechanische Baumwollweberei wurde 1846 in Schuja gegründet "Weitere mechanische Betriebe wurden in den Gouvernements Moskau und Wladimir erbaut, doch war die Hausweberei auf Handstühlen noch bis zum Ende der 50iger Jahre vorherrschend. Für das Jahr 1857 schätzte Semenow die Zahl der Hausweber noch auf 256 000. 2 ) Erst die Zeit nach der Bauernbefreiung ebnete dem mechanischen Webstuhl die Bahn. „In den Gegenden, in welchen es mechanische Webereien gibt, verschwinden allmählich die kleinindustriellen Produzenten, wie es sich in den Bezirken zu Kolomna, Sserpuchow, Dmitrowsk und Moskau, in den Gegenden, die sich unmittelbar an die Ortslage dieser Fabriken anschließen, beobachten läßt; zugleich wird die Produktion einiger Gewerbe zum ausschließlichen Gegenstand der mechanischen Produktion, wie z. B. Mitkal, Baumwollzeug, Kreton usw."3) Die Baumwollweberei der Zeitperiode 1800—1850, die treffend charakterisiert ist als Kampf der Klein- mit der Großweberei und mit dem schließlichen Siege der Kleinweberei endete, übte außer dem dezentralisierenden und wirtschaftlich demoralisierenden Einfluß noch eine andere Wirkung aus. Der Baumwollweberei, die in Mittelrußland allenthalben die Leinenweberei verdrängt hatte, gelang es in manchen Gegenden den aus dem Yerweben des Flachsgarnes gezogenen Gewinn zu ersetzen; so z. B. in den Gouvernements Wladimir, Moskau. In den Gouvernements Jaroslaw und Kostroma dagegen hatte sich die Baumwollweberei nicht genügend eingebürgert und, da trotzdem durch die allgemeine Konkurrenz der Baumwolle die auf Export ar') *) 3 ) Berichte Bd. VIII.,

Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 227. Semenow, Statistische Mitteilungen. Nikolay-on, a. a. 0 . S. 132 zit.: Sammelwerk der statistischen über das Gouvernement Moskau. Abt. wirtschaftliche Statistik ID. S. 31, 32, 33.

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beitende Leinenweberei zurückging, wurde die Hausweberei dieser Gegenden in schwere Krisen hineingezogen.1) Eine genaue Untersuchung über diese zerstörenden Wirkungen der Verbreitung der Baumwollweberei gehört nicht in den Rahmen dieser Arbeit. Wir werden aber den Einflüssen der Baumwollbearbeitung auf die anderen Gewerbe bisweilen begegnen, wenn wir uns jetzt der Verteilung der Hausweberei der Baumwolle zuwenden. 4 ) Die zeitliche Begrenzung dieser Schilderung sind die Jahre 1840—60, in denen die Baumwollhausweberei bekanntlich ihre größte Ausdehnung hatte. Mit großen Strichen gezeichnet, läßt sich die Lage der Baumwollweberei folgendermaßen skizzieren: die größte Verbreitung ist in den Gouvernements Wladimir und Moskau zu finden, von denen aus das Eindringen nach den im Norden und Süden gelegenen Gouvernements, aber mit verschiedenem Erfolge, geschah. Im Norden hatte sich die Baumwollweberei in den Gouvernements Kostroma, Jaroslaw, Twer, im Süden in den Gouvernements Rjasan, Tula, Kaluga ausgebreitet. Im Osten von Wladimir hatte der Handel und das Wandergewerbe NishnyNowgorods der Weberei den Eingang verwehrt, während im Westen Moskaus das Gouvernement Smolensk mit seiner ausgebreiteten Waldwirtschaft und dem stark entwickelten Ackerbau keine günstigen Vorbedingungen für eine auf den Absatz gerichtete Weberei aufzuweisen hatte. So konzentrierte sich also die Hausweberei der Baumwolle in den Gouvernements Wladimir und Moskau, von denen sie sich strahlenförmig ausdehnte, dem Osten und Westen geringe Beachtung schenkend. In dem Gouvernement Wladimir war Iwanowo der Mittelpunkt der Baumwollbearbeitung geblieben. Aber aus dem kleinen Kirchdorfe, in dem um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Bedrucken baumwollener Gewebe seinen Anfang nahm, war eine bedeutende Fabrikstadt geworden — das russische Manchester. Von Iwanowo mit dem Kreise Schuja, indem es liegt, hatte sich die Weberei in zwei breiten Streifen fortgepflanzt, nach dem ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 71. ») Vgl. die Karte S. 9, 10.

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Südosten und nach dem Südwesten. Der südöstliche Streifen geht von Iwanowo über die Kreisstadt Schuja nach den Kreisen Kowrow, Wjasniki und Gorochowez. Der ganze südliche Teil des Gouvernements ist infolge der bedeutenden Flachssaaten für die Baumwollweberei weniger günstig gewesen. Der südwestliche Streifen zieht sich über den nördlichen Teil des Kreises Kowrow, über das Dorf Leshnewo nach dem Kreise Ssusdal und umfaßt, den Kreis Jurjew überschreitend, das südliche Gebiet des Kreises Perejaslawl und das östliche des Kreises Alexandrow. Im Mittelpunkte dieser nach dem Osten und Westen verbreiteten Weberei stand Iwanowo, da die meisten Gewebe in die Iwanowoschen Druckereien oder wenigstens auf den Iwanowoschen Markt wanderten. Nur der westliche Teil des Kreises Alexandrow gehörte wirtschaftlich zu Moskau; die Hausweber dieses Kreises arbeiteten im Auftrage Moskauer Fabrikanten. Der Kreis Alexandrow war auch die Wirkungsstätte des bekannten Großunternehmers Baranow, der eine Druckerei mit 736 Arbeitern hatte und daneben 5000Weber in den umliegenden Dörfern beschäftigte.1) In das Bedrucken und Appretieren der baumwollenen Stoffe teilte sich mit Iwanowo eine Anzahl von naheliegenden Städten und Dörfern, während der Kreis Schuja allgemein, ebenso wie die östlichen und westlichen Kreise des Gouvernements, in erster Linie rohe Gewebe herstellte. Doch nahm Iwanowo nach der Zahl bedruckter Gewebe und nach den auf seinem Basar abgesetzten rohen Geweben weitaus die erste Stelle ein. Iwanowo zählte im Anfange der 60iger Jahre 4872 ständige Einwohner und 1 6 — 2 0 0 0 0 Angereiste, die in Baumwolldruckereien beschäftigt waren oder einen Handel mit Garn und Geweben betrieben.1) In der Bauwollindustrie waren ständig 17 000 Menschen in 150 großen und kleinen Betrieben beschäftigt 10 dieser Fabriken wurden mit Dampf getrieben.3) Im Kreise Schuja waren 200 Dörfer mit der Weberei beschäftigt und im ganzen 60000 •) Semenow, Geogr.-Stat. I. S. 62. •) Semenow, Geogr.-Stat. II. S. 300. 9 ) Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 412 zit.: Sammelwerk der Freien ökonomischen Gesellschaft. 1864. T. II. S. 53, 64. H a m m e r B c h m i d t , Baumwollindustrie in Rußland.

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III. KLEIXBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUUWOLLLVD.

Menschen; von diesen übten aber nur 15000 ihre Tätigkeit in Fabriken aus, während 45 000 in ihren Häusern oder in Webstuben das Garn verwebten.1) Die anderen Gebiete im Gouvernement Wladimir, die sich mit der Baumwollbearbeitung beschäftigten, arbeiteten nur als Ausnahme selbständig: meist waren sie Handlanger der Iwanowoschen Drucker. Im Ganzen sollen im Gouvernement Wladimir 80000 Handstiihle in den Hütten und Webstuben der Bauern für Iwanowo tätig gewesen sein, während in Fabriken nur 18000 aufgestellt waren.2) Nur eines Betriebes im Kreise Pokrow sei noch gedacht, der allerdings wirtschaftlich mehr nach Moskau zu inklinierte, aber infolge seiner Zugehörigkeit zum Gouvernement Wladimir hier erwähnt werden muß. Es ist die Nikolsky-Manufaktur der Gebrüder Morosow, die im Jahre 1861 84020 Spindeln, 460 mechanische und 400 Handstühle zählte. Außer diesen auf der Fabrik aufgestellten Webstühlen, wurde für den Morosowschen Botrieb noch von Hauswebern in den Gouvernements Wladimir, Moskau, Rjasan, Tula, Smolensk und Kaluga gearbeitet. Der Absatz der Produkte war hauptsächlich nach Moskau gerichtet, doch geschah der Vertrieb gelegentlich auch nach den benachbarten Messen.3) Dieser Betrieb ist typisch für die neue Form der Verfassung, die sich mit der Anwendung der mechanischen Kraft in der Weberei und mit der Verbreitung der Spinnerei einbürgerte. Einem großen Unternehmen, in dem sich als Basis eine Spinnerei befand, wurde eine fabrikmäßige Weberei angegliedert, die aber nicht groß genug war, um alles in dem Betriebe gesponnene Garn zu verweben. Der Rest wurde durch Kommissionäre an die Hausweber verteilt; war die Konjunktur günstig, so wurde noch Garn gekauft und die Verlegertätigkeit gesteigert Oft war einem solchen Unternehmen noch eine Druckerei und Appretur angeschlossen, von der dann der Stoff in bedrucktem Zustande auf den Markt gelangte. Der Unternehmer war also nicht nur ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 412 zit.: Sammelwerk der Freien ökonomischen Gesellschaft Abt. II. T. III. S. 93. 1860. *) Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 405 zit.: Sammelwerk von Wladimir. Moskau 1867. S. 11. s ) Semenow, Geogr.-Stat. III. S. 469.

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DIE WEBEREI IX MOSKAU UND WLADIMIR.

Fabrikant im engeren Sinne, sondern auch Händler und Verleger. Nach den Fortschritten der Technik und nach der Rentabilität der verschiedenen Tätigkeiten, konnte er das eine oder das andere Geschäft bevorzugen. Jedenfalls gehörten zu diesen sogenannten gemischten Betrieben große Kapitalien, scharfe Dispositionsfähigkeiten und eine sehr genaue Kenntnis des Marktes. Abgesehen von dieser wichtigsten Ausnahme war die Tätigkeit der meisten Wladimirschen Hausweber auf die Iwanowoschen Drucker oder auf den Iwanowoschen Markt gerichtet. Trotzdem die Lage dieser Weber auch nicht glänzend war, so findet man verhältnismäßig wenig Klagen über die wirtschaftliche Lage der Hausweber in den Gouvernementszeitungen und Berichten jener Zeit. Die Klagen wenden sich mehr gegen die schlechten Wohnungs- und gesundheitlichen Verhältnisse und gegen die Schwierigkeit der Arbeit, nicht aber gegen die Lohnrückgänge. „Der Ackerbau, lesen wir an einer Stelle, ist nicht in der Lage, der Bevölkerung auch nur für ein halbes Jahr den Lebensunterhalt zu gewährleisten, deshalb sitzen alle Frauen vom frühen Morgen bis zum späten Abend, oft bis Mitternacht an den Webstühlen; kleine Mädchen bereiten die Spulen vor und Knaben von 6 bis 10 Jahren reiben die Farben für die Männer. Die schwere Arbeit und die Art der Beschäftigung selbst sind der Grund für die Kurzlebigkeit der hiesigen Bevölkerung, außerdem die schlechte Nahrung, der geringe Baum und der Schmutz in den Wohnungen, in denen auch die Webstühle aufgestellt sind."1) „Die Webstuben werden recht geräumig gebaut, um mehrere Webstühle aufstellen zu können, dafür sind sie aber niedrig, ohne Fußboden, feucht und wirken deshalb sehr ungünstig auf die Gesundheit der Arbeiter. Männer und Frauen, Knaben und Mädchen arbeiten in einem Räume und wer zu weit wohnt, schläft auch dort Alle Weber kränkeln deshalb oft und sind überhaupt schwächlich".4) ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 407 zit.: Gouvernementsnachrichten von Wladimir. 1860. Nr. 40—42. ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 418 zit.: Gouvernementsnachrichten von Wladimir. 1854. Nr. 30. 6*

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n i . KLÖNBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMVOLLIND.

Das Gouvernement Moskau konnte man in bezug auf die Beschäftigung mit Baumwollweberei in dem genannten Zeitraum in zwei Hälften teilen. Die östliche Hälfte, die noch den Kreis Moskau umfaßte und die Kreise Dmitrow und Podolsk durchschnitt, hatte eine sehr starke Verbreitung der Hausweberei aufzuweisen, während im westlichen Teile die Bauern Wandergewerbe und die verschiedenartigsten Kleingewerbe betrieben. Vor allem die an das Gouvernement Wladimir angrenzenden Kreise Dmitrow und Bogorodsk und die südlich auliegenden Bronnizy, Kolomna und Sserpuchow lieferten zahlreiche Gewebe nach Moskau.1) Unter diesen östlichen Kreisen war Bogorodsk der wichtigste. „Der Kreis liegt in einer teils sandigen, teils sumpfigen, teils mit Wald bedeckten Ebene. Da der Boden weder für den Ackerbau noch für die Viehzucht geeignet ist, sind in diesem Kreise viele Baumwoll-, Wolle- und Seidefabriken und in jedem Dorfe, beinahe in jedem Hause, stehen Webstühle. Die Bauern verlassen ihre Beschäftigung nur für kurze Zeit, da der Ackerbau unwesentlich ist; im Winter aber verwandelt sich der ganze Kreis in eine ungeheuer große Fabrik". 2 ) Von den beiden Mittelpunkten der Baumwollweberei, die bis in die 60 iger Jahre durch das Überangebot an hauswebenden Arbeitskräften und durch das allmähliche Eindringen des mechanischen Webstuhls noch verhältnismäßig wenig bedrängt wurden, hatte sich dieses Gewerbe in die nördlich und südlich anliegenden Gouvernements verbreitet. Naturgemäß hatte sich die Weberei besonders in den südlichen Teilen der Gouvernements Kostroma und Jaroslaw befestigt, da aus diesen Gebieten der Absatz nach Iwanowo leicht möglich war. Als Lieferanten für Iwanowo sind vor allem die Kreise Kineschma und Nerechta des Gouvernements Kostroma bekannt 3 ) ') Material zu einer Statistik Rußlands. Gesammelt vom Ministerium des kaiserlichen Hauses. 18ö8. I. S. 43 ff. ') Meschtschersky undModsalewsky, a. a. 0 . S. 417. Die Bevölkerungsbewegung im Kreise Bogorodsk des Gouvernements Moskau im Jahrzehnt 1847—1866. Vgl. auch: Das Wissen. 1871. Nr. 3. a ) Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. 0 . S. 410 zit.: Zeitschrift der kaiserlichen Geographischen Gesellschaft. 1853. Nr. 7.

DIE WEBEREI Di MOSKAU CSD WLADIME.

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Im Kreise Nerechta wurden 1857 baumwollene Gewebe auf 20 044 Stühlen gewebt 1 ) Außer den südlichen Kreisen des Gouvernements Jaroslaw, Rostow und Uglitsch, war die Weberei in den an Wladimir und Moskau angrenzenden Teilen des Gouvernements Twer verbreitet Doch war der Ertrag so gering, daß viele Weber sich anderen Tätigkeiten, vor allem Wandergewerben, zuwandten. Arbeitete ein Weber das ganze Jahr mit Ausnahme der Zeit der Feldarbeiten, so verdiente er 20 bis 25 Rubel Silber; der Winter allein konnte etwa 15 Rubel Silber einbringen. So leicht die Weberei der Baumwolle nach Kostroma und Jaroslaw eingedrungen war, so schwerwiegend waren die Folgeerscheinungen. Die Leinenweberei, die seit vielen Jahrhunderten in diesen Gebieten blühte, wurde durch die Konkurrenz der Baumwolle von einer schweren Krise heimgesucht und mit ihr die ganze Leinenindustrie. Während die Zahl der Leinenfabriken von 1762 bis 1804 von 135 auf 285 gestiegen war, sank sie von 1804 bis 1861 von 285 auf 100;') und dabei waren es hauptsächlich die für den Export arbeitenden großen Betriebe, die ihre Tätigkeit einstellen mußten. Das Verweben des Baumwollgarnes hatte sich in Kostroma und Jaroslaw eingebürgert, weil diese Tätigkeit anfänglich einträglicher war, als die Leinenweberei. Als nun aber durch die Billigkeit der baumwollenen Stoffe die Leinengewebe aus dem Massenkonsum mehr und mehr zurückgedrängt wurden, wurde die Hausweberei leinener Stoffe auf Absatz und die Großindustrie unwirtschaftlich. Da die Baumwollweberei aber nor die südlichen Teile der beiden Gouvernements umfaßte und den durch die Krise der Leinenindustrie in dem ganzen Gebiete der beiden Gouvernements entstandenen Ausfall nicht ersetzen konnte, nahm der Schaden, den sie verursachte, enorme Dimensionen an. Von den im Süden benachbarten Gouvernements sind für die Ausdehnung der Baumwollweberei Rjasan und Kaluga von ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 415 zit.: Gouvemementsnachrichten von Kostroma. 1864. Nr. 23. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 69.

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IU. KLELVBETE. ü . ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOI.LIXI).

größerer, Tula von untergeordneterer Bedeutung. In dem Gouvernement Rja.san, in dem meist alte Holzgewerbe betrieben wurden, finden sich schon seit 1825 Webstühle. Einige Bauern, die vordem auf Moskauer Fabriken tätig gewesen waren, hatten das Verweben des Baumwollgarnes den Bewohnern einiger Dörfer der Kreise Jegorjewsk und Saraisk zugänglich gemacht Seitdem hatte sich die Hausweberei von diesen beiden Kreisen nach dem Süden hin verbreitet Das große Unternehmen der Gebrüder Chludow, das in den 40 iger Jahren gegründet wurde, gab vielen Hauswebern Beschäftigung, sodaß es in den Kreisen Jegorjewsk und Saraisk kaum ein Dorf gab, in dem keine Webstühle standen. Das Gouvernement Tula mit seinen unbedeutenden Webedistrikten Kaschira und Odojew betrachten wir nicht eingehender, sondern wenden uns dem Gouvernement Kaluga zu. Den Anstoß zu einer größeren Ausbreitung der Baumwollweberei gab die Gründung einer Baumwollweberei im Kreise Malo-Jaroslawez in den 30 iger Jahren. Dieser Betrieb veranlaßte die Entwickelung einer bedeutenden Verlegertätigkeit; die Weberei breitete sich in dem Kreise Malo-Jaroslawez aus und drang in die benachbarten Kreise Tarussa, Borowsk und Medyn. Ende der 50 iger Jahre zählte man in diesen vier Kreisen 4 0 0 0 0 bäuerliche Webstühle, davon in dem industriereichen Kreise Medyn allein 15 000. „Die Baumwollweberei ist die wichtigste gewerbliche Tätigkeit im Gouvernement Kaluga. Sie hat die Form der Hausindustrie. Einige Kaufleute haben hier Kontore, um das aus Moskau bezogene Garn an die Bauern zu verteilen, das Gewebe einzusammeln und nach Moskau zu transportieren.1) Die Weberei konzentrierte sich also auch um das Jahr 1861 um Moskau und Wladimir. In den jetzigen Industriebezirken Petersburg und Polen war das Verweben des Baumwollgarnes um die Zeit der Bauernemanzipation wenig verbreitet und hatte auch eine andere Verfassung. Großbetrieb und mechanische Kraft und oft Anschluß an Spinnerei und Druckerei ') Meschtschersky und Modsalewsky, a. a. O. S. 408 zit.: Gouvernementsnachrichten von Kaluga. 1860. Nr. 12.

DIE WEBEREI IX MOSKAU UM) WLADIMIR.

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waren die typischen Merkmale des Nordens und Westens. Die Hausweberei fand, mit Ausnahme mancher polnischer Gebiete, keinen geeigneten Boden vor und trat, wo sie hatte bestehen können, vor der Überlegenheit der mechanischen Webstühle zurück. Seit den 30 iger Jahren hatten sich die Produktionsbedingungen auch für die mittelrussische Hausweberei verschlechtert Mit dem Eindringen des mechanischen Webstuhls machte sich sofort eine starke Zentralisation geltend, zugleich mit einer scharfen Eonkurrenz gegenüber dem bäuerlichen HandstuhL Der mechanische Webstuhl warf die Arbeitsteilung um, welche zwischen WebeQianufaktur und Hausweberei bestanden hatte: das Arbeitsgebiet des bäuerlichen Hauswebers waren die einfachen, groben Baumwollzeuge gewesen, während die Webemanufaktur sich der Herstellung der feineren Stoffe gewidmet hatte. Diese Arbeitsteilung hatte eine Berechtigung, weil die Manufakturen infolge der unanfechtbaren Billigkeit der Hausweber sich nach Gewebearten umsehen mußten, die jene nicht herstellen konnten. Mit der Anwendung des mechanischen Webstuhls wurde das Moment der Billigkeit der Hausweber hinfällig: die Maschine arbeitete besser, rascher und bedeutend billiger als der Weber. Die Bedienung von Maschinen mit mechanischer Kraft hatte zur Voraussetzung eine Konzentration des Betriebes. Und so finden wir auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Verringerung der Zahl der Betriebe, dagegen eine Vergrößerung der Arbeiterzahl und der Produktion.1) Das Bild der Entwickelung der Weberei nach der Bauernemanzipation war also ein ganz ähnliches wie bei der Druckerei in den 30 iger Jahren. Die Verlegerorganisationen mußten zurücktreten vor der machtvolleren Verfassung der Großbetriebe, die mechanische Weberei verdrängte den Handstuhl. Der moderne kapitalistische Großbetrieb ist also die neue Verfassungsform der russischen Weberei; die Hausweberei vegetierte wohl noch fort, war aber auf der ganzen Linie geschlagen. l ) Die Fabriken des europäischen Rußland. Ausgabe des Departements für Handel und Manufaktur. St. Petersburg 1894. S. IV, V.

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III. KLE1XBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMVOLLLND.

IV. DIE SPINNEREI IN ST. PETERSBURG. Wir hatten bereits geschildert, wie die ersten Versuche in Rußland Baumwolle zu spinnen nach einer kurzen Blüte durch die kriegerischen Ereignisse des Jahres 1812 ihr Ende gefunden hatten. Da die Regierung die Interessen der Spinner als Maßstab für die Höhe der Zollsätze nicht anerkannte, ruhte die Baumwollspinnerei in privaten Unternehmungen vom „Franzosenjahr" bis in die 20iger Jahre, weil eine Produktion mit Aussicht auf Gewinn ausgeschlossen war. Auf der kaiserlichen Alexandrowschen Manufaktur wurde indessen unverzagt weiter gesponnen, trotzdem die Billigkeit der englischen Garne auch dem Versuch einer Konkurrenz jede Aussicht nahm. Für die Einfuhr von Erzeugnissen der Baumwollindustrie, mit Ausnahme der Gespinste, waren die Zollsätze des Tarifes von 1811 fast prohibitiv gewesen. Der Tarif von 1811, ursprünglich nur für die Dauer eines Jahres bestimmt, blieb während 5 Jahren bestehen. Die großen Hoffnungen, die auf seine Folgeerscheinungen gesetzt worden waren, hatten sich nicht verwirklicht Als einzige Lichtseite läßt sich hervorheben, daß die heimische Industrie während dieser Zeit auf dem noch unsicheren Boden Wurzel fassen konnte. Dafür hatte aber die Bevölkerung die heimischen Industrieprodukte stark zu überzahlen, der Fiskus litt unter dem Ausfall der Zolleinkünfte und die Finanzlage des Staates erfuhr keine Besserung.1) Das wesentliche Moment für eine Umkehr von der Prohibition waren aber nicht diese wirtschaftlichen und finanziellen Gründe, sondern politische Erwägungen. Ein neuer Tarif trat am 31. März 1816 in Kraft; er gab das Einfuhrverbot in vielen Fällen auf, sicherte aber das Fortbestehen schutzzöllnerischer und fiskalischer Interessen; er machte den Eindruck einer vorsichtigen Übergangsmaßnahme. Dieser erste gemäßigte Tarif der Regierung Alexanders wird mit der Heiligen-Allianz-Stimmung des Wiener Kongresses in Verbindung gebracht; Alexander soll «) Wittschewsky, a. a. 0. S. 42.

DIE SPINNEREI IN ST. PETERSBUBG.

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sich hier verpflichtet haben, eine ökonomische Annäherung Rußlands mit dem Westen zu ermöglichen.1) Andere wieder weisen auf die damals in Rußland verbreitete freihändlerische Bewegung hin, die durch die Unzufriedenheit der Landwirtschaft treibenden Klassen mit den ungemein hohen Preisen der Industrieprodukte hervorgerufen war.*) Eine weit schroffere Maßregel war der Tarif von 1819, der gemäßigtste, den Rußland je besessen hat Die Notwendigkeit einer Änderung des Zolltarifs war eingetreten durch die Regelung der Polnischen Frage. Auf dem Wiener Kongreß war den Polen eine gleichmäßige wirtschaftspolitische Behandlung der aufgeteilten Landesteile seitens der Teilungsmächte Rußland, Österreich und Preußen zugestanden worden. Die Verhandlungen über diese Frage fanden im Jahre 1819 ihren Abschluß und verpflichteten u. a. Rußland zu einer Reihe zollpolitischer Änderungen, die eine Abwendung vom Tarif von 1816 bedeuteten. Diese zollpolitische Wandelung war aber natürlich keine prinzipielle, nicht etwa ein Übergang zum Freihandel, sondern nur eine Verringerung der Zollsätze in den Grenzen des Schutzzolles. Immerhin hatte die russische Industrie durch den plötzlichen Übergang zu einer liberaleren Handelspolitik eine schwere Krise zu überwinden. Die Einfuhr über die europäische Grenze stieg rapid unter der Wirkung des neuen Zolltarifes:s) 1819: 155454992 Rubel 1820: 227349 564 „ 1821: 196162343 „ Die Bemerkung des Grafen Kankrin, des späteren Finanzministers, der Tarif von 1819 habe die russische Industrie ertötet, dürfte wohl stark übertrieben sein. Dagegen verdient eine Äußerung wohl Beachtung, welche die Moskauer Kaufmannschaft in einem Gutachten über einen mit dem deutschen Zollverein •) Lodyshensky, a. a. 0 . S. 175. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 277. 3 ) Blioch, Die Finanzen Rußlands im 19. Jahrhundert. St. Petersburg 1882. I. S. 146.

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III. KLEIXBETR. ü . ÜBKRGAJiG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BiUMWOI.U.VD.

abzuschließenden Handelsvertrag im Jahre 1865 tat:') „Rußland wurde mit fremdländischen Fabrikaten überschwemmt; seine eigenen Fabriken gingen zugrunde, die Preise für landwirtschaftliche Produkte fielen so, daß die Landwirte sie nur mit Verlusten losschlagen konnten und die Steuern gingen nur schwer ein. Die finanzielle Lage war traurig, der innere Wohlstand des Seiches in hohem Maße gestört". Auch in der Baumwollindustrie machten sich die Folgen des neuen Tarifes durch das Steigen der Einfuhr bemerkbar:1) Garn

1818: 1819: 1820: 1821:

18579000 Rubel 19 251000 „ 27 015 000 19848 000

Gewebe

11904 000 Rubel 7 894000 22930000 r> 18949000

Wenn auch mancher Baumwollbetrieb infolge der Panik, welche die Masseneinfuhr hervorrief, geschlossen worden sein mag, so teilen wir die gebräuchliche Ansicht über die schädliche Wirkung des Tarifes von 1819 in bezug auf die Baumwollindustrie nicht. Der russische Markt war, was Baumwollstoffe anbelangt, aufnahmefähig genug, um außer den eingeführten wohlfeileren, auch die heimischen teureren aufzunehmen.9) Außerdem war bei der gewerblichen Verfassung der Weberei und Druckerei in Bußland diese Unterbrechung der Tätigkeit für die kurze Dauer des Bestehens des Tarifes nicht allzuschwer zu überwinden. Schon bald nach dem Inkrafttreten des Tarifes von 1819 war die Regierung der enormen Zunahme der Einfuhr und des damit verbundenen Rückgangs der bodenständigen Industrie gewahr geworden. Es erfolgte deshalb 1822 eine Umkehr von dem ') Stieda, Russische Zollpolitik. Jahrb. f. Ges. Verw. u. Volksw. 1883. S. 915 zit.: Gutachten der Moskauer Kaufmannschaft. Moskau 1865. S. XXV. ') Lodyshensky, a. a. 0. S. 196. *) Die Aufnahmefähigkeit des Marktes im Verhältnis zu der vorhandenen Garn- und Gewebemenge beweist die Tatsache, daß Fabrikanten und Händler sich um Absatzmärkte augenscheinlich nicht zu bemühen brauchten. Es ist bekannt, daß auf der Petersburger Gewerbeausstellung im Jahre 1829 die Petersburger Händler erst von einigen bedeutenden Moskauer Baumwollfabriken hörten. Allrussische Ausstellung, a. a. 0.

DIK SPINNEREI IN ST. PETEBSBUKQ.

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nur kurze Zeit beschrittenen Wege liberaleren Schutzzolles. Mit der ausgesprochenen Absicht, die Industrie zu fördern und eine aktive Handelsbilanz herzustellen, trat der neue Tarif ins Leben, als der erste einer langen starren Schutzzollära.1) Die leitenden Grundsätze lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: *) 1. Einfuhrverbot für Industrieartikel, die im Inlande hergestellt wurden, 2. hohe Einfuhrzölle auf Luxusgegenstände, 3. freie Einfuhr oder geringe Verzollung von Maschinen, Instrumenten, Materialien und von unentbehrlichen Rohstoffen. Demnach war die Einfuhr von Rohbaumwolle zollfrei, Garn und rohes Gewebe hochbelastet, alle anderen Gewebe verboten. Der Tarif hat die an sein Erscheinen geknüpften Erwartungen vollständig erfüllt: die Industie erlebte einen allgemeinen Aufschwung und schon das Jahr 1822 schloß mit einer aktiven Handelsbilanz ab. „Keine Maßnahme der Regierung in Rußland, behauptet Aksakow, hat solch einen Aufschwung in der Industrie hervorgerufen, wie der berühmte Tarif von 1822. Die Gouvernements Moskau, Wladimir, Kostroma bildeten einen ganzen Industriekreis". s ) Auch auf die Entwickelung der Baum Wollindustrie hatte der Tarif einen sehr günstigen Einfluß: er schuf vor allem wieder die Möglichkeit für das Entstehen von Spinnereien. Yon 1812—1822 war die Baumwollspinnerei nur in der Alexandrowschen Manufaktur betrieben worden; der hochschutzzöllnerische Tarif von 1822 stellte die Vorbedingungen für eine rationell zu betreibende Spinnerei wieder her. Im Jahre 1823 wurde die Baumwollspinnerei des Geheimrats Rachmanow ge*) Wittschewsky nennt die mit dem Tarif von 1822 eingeleitete Zollpolitik das Bewahrungssystem — eine Mittelstufe zwischen Hochschutzzoll und Prohibition; das System wurde schon bald unter Kankrin aufgegeben, um einer Vertretung protektionistischer und fiskalischer Interessen Platz zu machen, a. a. O. S. 56, 71. ') Stieda, Russische Zollpolitik. S. 916; Geschichte des Finanzministeriums. I. S. 143. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 283 zit.: Aksakow, Untersuchung über den Handel auf den Messen der Ukraina. St. Petersburg 1858.

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III. KLEINBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RÜSS. BAUMWOI.LLN'D.

gründet, der 1824 die Unternehmen von Pochwisnew in Moskau und Rennenkampf in Petersburg folgten.1) Es ist sehr bezeichnend, daß nach der langen Pause, in der die Zufuhr- und Absatzverhältnisse und die Produktionsbedingungen wohl einer genauen Prüfung unterzogen werden konnten, Spinnereien in Petersburg begründet wurden. Petersburg lag günstig für die Zufuhr der Rohbaumwolle auf dem Wasserwege; der Absatz aber mußte jedenfalls in Petersburg selbst oder in der Nähe stattfinden, da ein Beschicken der mittel- und südrussischen Märkte infolge der unentwickelten Verkehrsmittel und der hohen Transportkosten sehr erschwert war. Der nordrussische Markt scheint demnach aufnahmefähig genug gewesen zu sein. Über die Produktionsbedingungen läßt sich für jene Zeit schwer etwas sagen, doch liegt die Annahme nahe, daß wenigstens die Löhne, wie auch heute, höher waren als in Mittelrußland. Demnach müssen die Zufuhr- und Absatzverhältnisse für die Anlage der Petersburger Spinnereien ausschlaggebend gewesen sein. Jedoch hatten diese wenigen Spinnereien wegen ihres geringen Umfanges nur eine ganz untergeordnete Bedeutung, die meisten Weber waren noch auf die Einfuhr ausländischer Garne angewiesen. Eine größere Ausdehnung nahm die Baumwollspinnerei erst in den Jahren 1835—1850. Der Grund zu der Zurückhaltung vor Gründungen von Baumwollspinnereien lag teils darin, daß zur Errichtung solcher Betriebe große Kapitalien vorhanden sein mußten und es auch mit großen Schwierigkeiten verknüpft war, geschulte Arbeiter zu erhalten, hauptsächlich aber in der Unmöglichkeit gute Spinnmaschinen verwenden zu können. England, das die ersten Fortschritte in der Baumwollbearbeitung gemacht hatte, hatte sich durch Ausfuhrverbote von Maschinen in technischer Beziehung von dem übrigen Europa vollständig abgeschlossen. Da die Maschinenfabrikation in Rußland aus den ersten Anfängen noch nicht herausgekommen war, mußten die russischen Spinnereien ihre Maschinen aus Belgien, Frankreich und Deutschland beziehen. Die auf dem Kontinent hergestellten ') Sammelwerk von Mitteilungen und Materialien des Finanzministeriums. 1866. Nr. 6 ; Scherer, Die Baumwollindustrie, a. a. 0.

DIE SPINNEREI CS" ST. PBTEKSBÜKG.

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Spinnmaschinen waren aber so schlecht, daß die kontinentalen Baumwollindustrien sich der Überlegenheit der Engländer nur durch hohe Schutzzölle einigermaßen erwehren konnten. Auf diese Weise beherrschte England in der damaligen Zeit den Baumwollmarkt vollständig; vor allem die englischen Game waren so gut wie konkurrenzlos. In den Jahren 1774, 1781 und 1782 war die Ausfuhr von Maschinen, Werkzeugen, Plänen und Mustern, die zur Herstellung von allerlei Baumwollzeugen, Kaliko und Musselinen dienten, verboten worden. Zugleich war auch die Auswanderung der in dieser Industrie beschäftigten Arbeiter und Künstler untersagt worden.1) Verfehlungen gegen die Gesetze wurden mit hohen Gefängnis- und Geldstrafen geahndet Diese Ausfuhr- und Auswanderungsverbote wurden erst im Jahre 1825 durch Georg IV. aufgehoben.") Während dieser Zeit besaß England eine Überlegenheit gegenüber dem Kontinent, die hauptsächlich auf technischem Gebiete lag. Der weniger wichtigen Erfindung der Jenny waren 1772—1774 in den Vorspinnmaschinen und im Drosselstuhl (Watermaschine) Ergebnisse langjähriger Arbeiten gefolgt Highs, Hargrave, Lees und Wyatt teilen sich in das Verdienst diese, die ganze Betriebsweise ändernden, Erfindungen gemacht zu haben. Ihr Landsmann Crompton konstruierte mehrere Jahre später die Mulemaschine, durch die das Garn gleichzeitig gestreckt, gedreht und aufgewunden wurde; ihm gelang es später die selfacting-mule herzustellen, ein Hin- und Herbewegen des Spinnwagens, wodurch ein gleichmäßiges Strecken und Drehen des Garnes ermöglicht wurde.8) Während der Dauer des Ausfuhrverbotes waren die englischen Baumwollerzeugnisse, hauptsächlich die Garne, infolge der den Engländern allein zugänglichen fortschreitenden Technik unüberwindbar. Doch auch später blieb das Übergewicht der englischen Baumwollindustriellen bestehen. Die großen Gewinne hatten viele Unternehmer veranlaßt, ') Statutes at Large 14. Geo. III. Cap. 71 Cap. 37 (Jahr 1781); 22. Geo. III. Cap. 60 (Jahr ') Statutes at Large 6. Geo. IV. Cap. 105 ') Watts, The facts of the cotton famine.

(Jahr 1774); 21. Geo. III. 1782). (Jahr 1825). London 1866. S. 15.

94 III. KLELVBETK. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RCSS. BAUSTVVOLLIND. Baumwollbetriebe zu gründen. Nachdem der innere Konsum befriedigt war, wandte man sich dem Export zu. Trotzdem die Exportmöglichkeiten so gut wie unbegrenzt waren, machte sich doch mit der Zeit infolge der Handelspolitik und dem Erstarken der Industrie in den kontinentalen Staaten eine Konkurrenz unter den englischen Baumwollfabrikanten bemerkbar. Diese Konkurrenz, die Fortschritte der Technik und das Entstehen einer geschulten Arbeiterschaft ließen die Produktionskosten bedeutend zurückgehen. Besonders große Preisrückgänge knüpften sich an die Krisenjahre 1825, 1836, 1 8 3 9 — 4 0 ; Krisen waren in England stets Träger technischen Fortschrittes. 1 ) Auf diese Weise verfügten die Engländer über hervorragend günstige Produktionsbedingungen, als die anderen Industrien nach dem Jahre 1825 mit ihnen den Wettstreit aufnehmen konnten. Da die weiteren technischen Verbesserungen auch stets in England gemacht wurden, also zuerst den Engländern zugänglich waren, blieb die Weltstellung Englands auf dem Baumwollmarkte weiter bestehen. Der beste Maßstab hierfür ist die Ausfuhr von Baumwollgarn und Gewebe, die unbekümmert um die Aufhebung des Ausfuhrverbotes der Maschinen vorwärts schritt: Baumwollgarn Baumwollstoffe in Millionen Pfund Sterling

1820 1825 1830 1835 1840 1845

2,83 3,21 4,13 5,71 7,10 6,96

13,69 15,15 15,29 16,42 17,57 19,16

Summa

16,52 18,36 19,42 22,13 24,67 26,12*).

Während nun im letzten Viertel des 18. und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts den englischen Fabrikanten die technischen Vervollkommnungen mühelos in den Schoß fielen, waren die kontinentalen Baumwollfabrikanten ängstlich bemüht, sich Maschinen, Maschinenteile oder Maschinenpläne zu verschaffen. Wohl gelang es, hie und da Arbeiter aus England ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 66. *) Handwörterbuch der Staatswissenschaften. II. S. 486.

DIE SPINNEREI Di ST. PETERSBURG.

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herüberzulocken und Pläne oder gar Teile von Spinnmaschinen herüberzuschmuggeln, doch waren solche Versuche sehr kostspielig und die geschmuggelten Pläne und Maschinen oft nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik. Auch wäre es wirklich schwer gewesen, bei der rapid fortschreitenden Technik jener Zeit unter den so schwierigen Umständen über jede Errungenschaft der Technik unterrichtet zu werden. Trotz aller dieser Schwierigkeiten entstanden auf dem Kontinent in allen Ländern Baumwollindustrien, deren Maschinen allerdings im Vergleich zu den englischen veralteten Systemen entstammten. Besonders rückständig waren die auf dem Kontinent benützten Spinnmaschinen, während der mechanische Webstuhl allgemein noch später in Anwendung kam. Unter solchen Umständen war in Rußland- die kaiserliche Alexandrowsche Manufaktur gegründet worden, die späterhin auch die anderen russischen Spinnereien mit Maschinen versorgte.1) Doch ließ die scharfe Konkurrenz der englischen Garne die russische Spinnerei bis in die Mitte der 30iger Jahre nicht zu einer sicheren Stellung kommen. Dagegen waren die Weberei und Druckerei, wie wir bereits gesehen hatten, dank den prohibitiven oder unerreichbar hohen Zollsätzen zu einer kräftigen Blüte gelangt. Durch den Zollschutz hatten diese beiden Industriezweige ihre Wurzeln tief in den Boden senken können, ihr Entstehen und ihre Kräftigung ist damit erklärt Der Grund zu der ungeheuren Ausbreitung aber liegt auf anderem Gebiete. Wir hatten darauf hingewiesen, daß die Produktionskosten der englischen Baumwollerzeugnisse sich andauernd verringerten. Nach jedem Preisrückgang drangen die englischen Garne mit erneuter Wucht gegen die russische Zollmauer an. Um mit den Engländern auch nur einigermaßen mit Hülfe des Zollschutzes auf dem Binnenmarkte konkurrieren zu können, mußten die Russen jeden Preissturz der Baumwollerzeugnisse in England mit einer Preisermäßigung beantworten. Die größten Preisrückgänge wurden, wie schon bemerkt, in England durch die Krisen hervorgerufen, welche stets einen ') Vgl. N i s s e l o w i t s c h , a. a. 0 . I. S. 128, 129.

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i n . KLEtN'BETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOLIJXD.

Ansporn zu technischen Verbesserungen gaben. Wollen wir uns nun der Krisen der Jahre 1825, 1836, 1839—40 erinnern und die Preisschwankungen in England und Rußland betrachten. Durchschnittsjahrespreis für Red printing cloth in Manchester 1 )

1822 1825 1826 1827 1836 1837 1839 1840 1842 1844

14 16 10 10 10 7 8 7 6 6

sh. 6 pence 11 3 „ 11 6 11 1» 11 11 11 q Yl " 11

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a „

Durchschnittsjahrespreis für 1 Pud engl. Garns Nr. 18—30 in Schuja*)

106—112 Assignatenrubel 102—118 105—110 85—90 „ 87—97 73—79 „ 72—76 62—71 68—70 64—69 „

a ^ ,, Die Preise für englisches Garn in Rußland erlebten also im Anschluß an die Krisen nach jedem Preissturz in England eine Preisverringerung; dementsprechend mußten selbstverständlich auch die Preise für russische Garne und Gewebe ermäßigt werden. Dieser Yerbilügung der Baumwollstoffe, durch die auch den ärmeren Bevölkerungsklassen der Verbrauch ermöglicht wurde, ist hauptsächlich die enorme Ausbreitung zuzuschreiben, welche die Baumwollweberei und -Druckerei in den Jahren 1822—1850 in Rußland genommen haben. Bei der Baumwollspinnerei lag die Frage anders. Der Zolltarif von 1822 hatte den Zoll für rohes Garn auf 4 Rubel, für gefärbtes auf 5 Rubel per Pud festgesetzt; nach zwei Jahren wurde der Zollsatz auf 5 und 6 Rubel erhöht. Nehmen wir den Durchschnittspreis von einem Pud rohen Garnes Nr. 18—30 in den Jahren 1822—1825 mit 113 Assignatenrubel = 28'I» Silberrubel an, so würde der Zoll (5 Rubel) 17,7 °/o des Gampreises ausmachen. Trotzdem der Zollsatz für rohes Garn bis

') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 64 zit.: Journal of the Statistical Society of London. 1861. S. 445. *) Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 64 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir für 1862.

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DIE SPINNEREI IN ST. PETERSBURG.

zum Tarif von 1841 bestehen blieb, hatte sich die Zollbelastung des Garnes in diesem Zeitraum bedeutend verändert Da der Preis des Garnes unausgesetzt sank, der Zoll aber von einer stabil bleibenden Gewichtsmenge erhoben wurde, mußte sich das Verhältnis von Zoll zu Garnpreis zu ungunsten des Garnpreises verschieben. Der Preis des Garnes fiel im Jahrfünft 1826—1830 auf 21, 1831—1836 auf 21'/», 1836—1840 auf 19 'U Silberrubel. Dementsprechend stieg die Zollbelastung in diesen fünfjährigen Perioden auf 23,8%, 23,2%, 26%. Die Zollbelastung des rohen Garnes war also ohne Steigerung der Zollsätze von 17,7 °/o (1822 bis 1825) auf 26 % (1836 bis 1840) gestiegen.1) Für diese erste Ausbreitung der Spinnerei war also in erster Linie der sich selbsttätig steigernde Zollschutz maßgebend; eine indirekte Wirkung übte auch die Verbilligung der Garne aus, denn nur dadurch war die automatische Zollerhöhung möglich. Direkt aber wirkte die Verbilligung der Garne auf die Entwickelung der Spinnerei nicht ein. Wohl war die Billigkeit ausschlaggebend für den Massenverbrauch baumwollener Stoffe, doch konnte sich ceteris paribus der russische Weber ebensogut englischer als auch russischer Gespinste bedienen: er verwebte dasjenige Gespinst, welches billiger war. Wenn sich also in der Folgezeit der Verbrauch der Weber hauptsächlich auf russische Garne richtete, so lag das an der Billigkeit, — die englischen Garne der niedrigeren und mittleren Nummern wurden durch den Zollschutz ferngehalten. Diese selbsttätige Steigerung des Zollschutzes übte also eine starke erzieherische Wirkung auf die junge Baumwollspinnerei aus. Da die Statistiken über die Zahl und Größe der Betriebe höchst unzuverlässig sind und von den verschiedenen Quellen auch verschieden angegeben werden, so bleibt als einziger Wertmesser eine Untersuchung über die Zu- und Abnahme der Ein') Die Preise des Garnes nach Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 64 zit.: Jahrbuch des Gouvernements Wladimir. Die Umrechnung der Assignaten in Silberrubel nach Kaufmann, Die Kreditbillette, ihr Sturz und Wiederaufrichtung. St. Petersburg 1888. S. 31, 32. H a m m e r a c h m i d t , Banrnwollmdustrie in Rufiland.

7

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m. KLETKBETR. V. ÜBEBGANG Z. GROSSBETR. I. D. RÜSS. BACMWOLLIXD.

fuhr von Garn und Rohbaumwolle. Die Angaben über die Einfuhr können einigen Anspruch auf Genauigkeit erheben, da sie su fiskalischen Zwecken gemacht wurden. Wenn wir die Einfuhr von Rohbaumwolle und Garn nach Jahrfünften berechnen, so erhalten wir durchschnittlich für ein Jahr: 1 )

Im Jahre

Einfuhr in Pud von Rohbaumwolle

1821-- 2 5 1826-- 3 0 1831-- 3 5 1836-- 4 0 1841-- 4 5 1846-- 5 0

70 103 149 320 527 1 115

000 000 000 000 000 000

Zunahme . „ . . . > in Prozenten Abnahme — J

Garn

Rohbaumwolle

Garn

236 000 432 000 560 000 589 000 590 000 351000

+ 47,1 + 44,6 + 114,8 + 64,7 + m,6

+ 83 + 29,6 + 5,2 + 0,2 - 40,5

Die Einfuhr von Rohbaumwolle nimmt also bis 1835 stetig, aber mäßig zu und macht dann im Jahrfünft 1836—-1840 einen sehr großen Sprung; das darauffolgende Jahrfünft steht anscheinendunter dem Einfluß der Krise von 1839—1840, während in den Jahren 1846—1850 wieder eine bedeutende Zunahme zu verzeichnen ist. Die Einfuhr von baumwollenem Garn war in dem Jahrfünft 1826—1830 noch um 83 °/o gewachsen ; dann beginnt die relative Steigerung schwächer zu werden, bis sie im Jahre 1845 den Nullpunkt erreicht; von diesem Jahre sinkt die Garneinfuhr unausgesetzt. Nach dieser Statistik und der daran angeschlossenen Betrachtung müssen wir die erste bedeutende Ausdehnung der Baumwollspinnerei in die Jahre 1836—1840 verlegen. Im Jahre 1839—1840 setzte alsdann eine schwere Krise in England ein, der wohl die geringe Zunahme der Industrie im folgenden Jahrfünft zuzuschreiben ist; möglicherweise trugen auch die Nachwehen des Preissturzes von 1837 dazu bei. Jedenfalls wird ') Pokrowsky. a. a. 0. I. S. 274, 277.

DIE SPINNEREI IN 8T. PETERSBURG.

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über die schwere Lage der russischen Baumwollspinnerei in einem Bericht an den Finanzminister vom 10. Dezember 1838 bitter geklagt Der Preissturz auf Baumwollgarn im Jahre 1837 und die große Einfuhr aus England und Buchara hätten veranlaßt, „daß 18 Baumwollspinnereien in Moskau, Ealuga und einigen anderen Gouvernements wegen Zahlungsunfähigkeit der Besitzer geschlossen werden mußten und daß die anderen Baumwollspinnereien mit weniger als 4 000 Spindeln demselben Schicksal nicht entrinnen würden".1) Ein anderer Bericht vom 6. November 1840 weist auf die schwere Krise hin, welche die Baumwollspinner durchlebten, die sich mit besonderer Wucht auf die kleinen Unternehmer entlud. Zu diesen von außen her einbrechenden Krisen traten in den Jahren 1839 und 1841 schwere Mißernten, welche die geringe Kaufkraft des Volkes noch mehr schwächten. Dieser verhältnismäßig geringe Fortschritt verdient deshalb besondere Beachtung, weil gerade im Jahre 1841 eine erhebliche Zollerhöhung auf Baumwollgarn eingeführt worden war (von 5 und 6,75 Rubel auf 6,50 und 8 Bubel); durch diese Erhöhung und durch das Sinken des Garnpreises auf 16 V* Silberrubel stieg die Zollbelastung auf 39,4 °/o. Die Lage des inneren Marktes war also in ihren Wirkungen stärker als die hochschutzzöllnerische Handelspolitik. Immerhin gab es im Jahre 1843 schon 40 Spinnereien mit 350000 Spindeln.1) Wenn man den Durchschnitt betrachtet, will es scheinen, als ob die letzte Krise konzentrierend gewirkt hätte. In demselben Jahre fand in Moskau eine Ausstellung statt, von der wir eine Schilderung eines Begleiters des bekannten volkswirtschaftlichen Schriftstellers von Haxthausen, Dr. Kosegarten, besitzen.8) Über die russischen ungefärbten und gefärbten Baumwollgarne und über die baumwollenen Gewebe äußert sich Kosegarten recht lobend; die Garne waren aus amerikanischer und aus asiatischer Baumwolle hergestellt, umfaßten aber nur ') Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 66 zit.: Archiv des Departements fUr Handel und Manufaktur. *) Scherer, Die Baumwollindustrie, a. a. O. 3 ) Haxthausen, a. a. 0 . II. S. 538, 539, 640, 543, 647, 548. 7*

100

m . KLELVBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOLUND.

die niedrigeren Nummern bis Nr. 40. Auch Modelle von Baumwollspinnmaschinen waren ausgestellt, doch fanden sie die Anerkennung der Sachverständigen nicht Als eine der größten Baumwollspinnereien Rußlands bezeichnet er eine Fabrik im Dorfe Wosnessensk; sie zählte 12000 Spindeln, 700 Arbeiter und wurde mit Wasser- und Dampfkraft betrieben. Die Leitung des Betriebes lag in den Händen eines Engländers. Es scheint eine vorzüglich eingerichtete Fabrik gewesen zu sein, denn sie verfügte über die neuesten technischen Errungenschaften jener Zeit (Stopping motion). Die Manufakturausstellungen gehörten zu dem System der Kankrinschen Industriepolitik. Der Manufakturrat, eine Unterabteilung des Departements für Handel und Manufaktur, hatte diese Ausstellungen alle 4 Jahre abwechselnd in Petersburg und Moskau abzuhalten, „um das Publikum mit den Fortschritten der vaterländischen Industrie bekannt zu machen und die Vorurteile zu besiegen, die allem Ausländischen den Vorrang gaben; Auszeichnungen und Belohnungen für die hervorragendsten Erzeugnisse sollten den Wetteifer unter den Fabrikanten wecken und sie zu weiteren Vervollkommnungen ihrer Erzeugnisse antreiben".1) Der Manufakturrat hatte im Auslande Agenten zu unterhalten, die musterhafte Fabriken anzusehen und dann Beschreibungen nach Rußland zu senden hatten; sie mußten sich über neue Erfindungen auf dem Laufenden erhalten und neue Muster, Zeichnungen und Modelle von Maschinen, sogar ganze Maschinen dem Manufakturrat zukommen lassen. Alle diese Neuerungen wurden ausgestellt, um den Fabrikanten die Möglichkeit zu geben stets über den neuesten Stand der Technik unterrichtet zu sein. So gut gemeint diese Bemühungen auch waren, so wenig werden sie die technische Entwickelung der Industrie gefördert haben. Nach dem geringeren Fortschritt der Jahre 1841—1845, nahm die Baumwollspinnerei im darauffolgenden Jahrfünft wieder einen kräftigen Aufschwung, der an den der Jahre 1836—1840 erinnerte. Die Jahre 1835—1850 sind für die Baumwollspinnerei ') Geschichte des Finanzministeriums. I. S. 342.

101

DIE SPINNEREI IX ST. PETERSBUBG.

die Kinderjahre gewesen, sie sind der wichtigste Zeitraum für ihre Geschichte vor der Bauernemanzipation. Gesichert durch einen hohen Döllschütz war die Spinnerei entstanden; schwere wirtschaftliche Krisen zwangen zu technischem Fortschritt und zur Konzentration der Betriebe; die Konzentration war wichtig, weil speziell die Baumwollspinnerei sich am rationellsten in der Form des Großbetriebes betreiben ließ. Das Jahrzehnt 1851 bis 1860 scheint auf den ersten Blick unter einer ruhigen Entwicklung gestanden zu haben.

Im Jahre

1851—55 1856—60

Einfuhr in Pud von

Zunahme . _ .. , > in Prozenten Abnahme — )

Rohbaumwolle

Garn

Rohbaumwolle

1 670 000 2 620 000

118 000 217 000

+ 49,8 + 56,9

Garn

- 66,4 + 83,9»)

Doch waren tatsächlich einige Ereignisse eingetreten, die teils durch sich selbst teils durch ihre Folgen einen maßgebenden Einfluß auf die russische Baumwollindustrie ausgeübt haben. Nachdem 1846 Zollverringerungen auf Farbstoffe und Chemikalien eingeführt worden waren, erschien 1851 ein neuer Zolltarif, der erste unter dem Nachfolger Kankrins dem Grafen Wrontschenko. Wenn man von den vielen die Volkswirtschaft schädigenden Einflüssen der Kankrinschen Handels- und Finanzpolitik absieht, so muß man zugeben, daß er seine genau abgesteckten Ziele erreicht hat Die Handelsbilanz war sehr günstig, d. h. für Rußland aktiv, die Staatsfinanzen befanden sich in einer ungewohnt glänzenden Lage. Trotzdem sich schon Kankrin in den letzten Jahren seiner Amtstätigkeit einer freiheitlicheren Zollpolitik zugewandt hatte, begann bald nach seinem Bücktritt die Opposition gegen den starren Schutzzoll nachdrücklicher hervorzutreten.8) Der Zolltarif von 1851 war deshalb liberaler als seine Vorgänger. Viele Ausfuhrverbote wurden aufgehoben, die meisten Zollsätze herabgesetzt Allgemein war man bestrebt, ') Pokrowsky, a. a. 0 . I. Tabellen S. 134, 136. ») Wittschewsky, a. a. 0. S. 73.

102

III. KLELVBETR. U. ÜBERGANG Z. GR088BETR. I. D. HTJSS. BAUMWOLUXD.

die Industrie zu unterstützen, indem man die Einfuhr von Rohstoffen, Farbstoffen und Chemikalien, Werkzeugen und Maschinen erleichterte; andererseits suchte man durch eine gesteigerte Einfuhr die Zolleinnahmen zu erhöhen. Der Zoll auf Baumwollgarn wurde herabgesetzt, auch die Sätze auf rohe, gefärbte und bedruckte Gewebe, die seit 1836 und 1838 zur Einfuhr gestattet worden waren, wurden bedeutend verringert. Auf der Rohbaumwolle ruhte ein schon 1840 eingeführter fiskalischer Zoll von 25 Kopeken für das Pud. Doch alle Einfuhrerleichterungen von Halbfabrikaten und Fabrikaten konnten auch in der Folgezeit der Entwickelung der Industrie keinen Schaden zufügen. Der hohe Schutzzoll hatte seine Schuldigkeit getan; er hatte die Entwickelung der Baumwollindustrie unterstützt. Er konnte nunmehr bedeutend ermäßigt werden, nachdem die Produktionsbedingungen in Rußland günstiger geworden und die Absatzgebiete durch die Verbilligung der baumwollenen Stoffe zahlreicher waren. Die Zollsätze hätten sogar, ohne Schaden für die Industrie, noch mehr verringert werden können, da die Zollbelastung infolge der Preisrückgänge immer noch eine relativ sehr hohe war. In ihren Folgen viel wichtiger war die Abschaffung der Zollgrenze zwischen Rußland und Polen, die gleichzeitig mit dem Erscheinen des Tarifes von 1851 vorgenommen wurde. Wohl war die polnische Manufaktur, gleich nach dem Fallen der Zollschranke, nicht imstande durch eine Massenausfuhr den Wettstreit mit der russischen Industrie a u f z u n e h m e n . D o c h begann schon Anfang der 60iger Jahre ein breiter Strom polnischer Industrieprodukte sich in das Gebiet der alten russischen Volkswirtschaft zu ergießen.*) Neben diesen handelspolitischen Erscheinungen, die mehr durch ihre Folgen auf die Entwickelung der Industrie eingewirkt haben, steht als wichtiges Ereignis der Krimkrieg, dessen Einfluß in erster Linie ein augenblicklich-plötzlicher war. Durch ') Luxemburg, Die industrielle Entwickelung Polens. Leipzig 1898. S. 10. *) Luxemburg, a. a. 0. S. 12.

DIE SPINNEREI Dt ST. PETERSBURG.

103

die Blockierung der Seehäfen wurde die Einfuhr von Rohbaumwolle und Baumwollgarn außerordentlich erschwert; infolgedessen verringerte sich die Zunahme der Rohbaumwolle und die Garneinfuhr nahm um 66,4 %> ab. Indessen gewann die Baumwollspinnerei Zeit, die Folgen der unmäßigen Gründertätigkeit der letzten 15 Jahre durch die industrielle Ruhe im Inlande und durch die Sicherheit vor ausländischer Konkurrenz zu überwinden. Die Spindelzahl der Baumwollbetriebe war auf rund eine Million gestiegen (1853). *) Nach dem Krimkriege nahm die Garneinfuhr wieder zu, zum Teil wohl auch durch die abermalige Verringerung der Zölle im Jahre 1857. Doch haben diese und spätere Zunahmen der Garneinfuhr auf das Fortschreiten der Spinnerei nicht hemmend einwirken können. Die ausländischen Garne, denen der russische Zollschutz nicht zu hoch erschien, waren ausschließlich Gespinste der höheren Nummern; in Rußland aber wurden noch bis in die Mitte der 60iger Jahre nur Garne niederer und mittlerer Nummern gesponnen, Schuß bis Nr. 40, Kette bis Nr. 50.«) Für die Geschichte der Baumwollspinnerei der Yorreformzeit erscheint noch ein Faktor erwähnenswert, auf den SchulzeGävernitz zuerst hingewiesen hat. Da der internationale Handel Rußlands verhältnismäßig wenig entwickelt war und die russischen Kaufleute im Auslande wenig Vertrauen genossen, war es dem Unternehmer, der eine Baumwollspinnerei gründen wollte, nicht leicht, sich Maschinen und später Rohbaumwolle aus England und Amerika zu verschaffen. Als Retter in der Not erschien der Importeur. Den Banken in Westeuropa wohl bekannt, war der Importeur das Bindeglied zwischen dem russischen Baumwollspinner und der Maschinen- und Baumwollfirma Englands und Amerikas. „Der Weg war gewöhnlich folgender: der deutsche Importeur finanzierte den russischen Spinner, versah ihn mit englischen Maschinen und Vorarbeitern, häufig auch englischen ') Scherer, Übersicht über die Pariser Weltaasstellung 1867: Die Baumwollindustrie. *) Scherer, Übersicht über die Pariser Weltausstellung 1867: Die Baumwollindustrie.

104 m. KLEENBUTK. V. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. BVSS. BAUHWOLLIND. Fabrikdirektoren, um sodann an ihm einen festen Abnehmer für Baumwolle zu besitzen."1) Die ausländischen Importfirmen in Rußland haben also der Industrie Handlangerdienste geleistet; Dienste, die für ein gedeihliches Fortkommen der Industrie von der größten Wichtigkeit waren. Yor allem die Erleichterung der Maschinenanwendung kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Auch wurden die Spinner nicht nur zum Errichten von Betrieben, sondern später auch zur Vervollkommnung ihrer technischen Mittel angereizt Ohne die Hülfe der ausländischen Importeure wäre die technische Zurückgebliebenheit der russischen Baumwollspinnereien noch größer gewesen. Wenn wir nun die russische Baumwollspinnerei um das Ende der 50 iger Jahre überschauen, so bietet sich uns ein neues Moment für die Charakterisierung der geographischen Arbeitsteilung. Wenn wir Wladimir den Mittelpunkt der Druckerei und Moskau das Zentrum der Weberei nannten, so müssen wir die Basis der Spinnerei in den hohen Norden nach St Petersburg verlegen. Im Ganzen zählte man 1860 in Bußland 57 Spinnereien mit 41900 Arbeitern, die Spindelzahl belief sich auf 1600 000.') Davon entfielen auf St. Petersburg: Moskau : Wladimir :

Fabriken

Spindeln

Webstühle

Arbeiter

13 18 9

605 000 370000 210000

1770 2 230 1180

8350 13 500 7 000

Der Rest verteilte sich auf Polen, Finnland und einige andere Gouvernements. Die tonangebende Rolle St. Petersburgs in der Spinnerei schließt nichts Wunderbares in sich. Da die Rohbaumwolle, die Rußland konsumierte, so gut wie ausschließlich aus Amerika kam, so ist es klar, daß die Schiffe, welche die Baumwolle herübertransportierten, einen russischen Ostseehafen aufsuchten. Hier kam St. Petersburg aus verschiedenen Gründen als der beste Hafen zuerst in Betracht. Diese in der Baumwollspinnerei dominierende Stellung behielt aber St. Petersburg verhältnismäßig nur kurze Zeit. Einerseits wurden die Verkehrsbedingungen ') Schulze-Gävernitz, a. a. O. S. 90. *) Scherer, Die Baumwollindustrie, a. a. 0 . ; Pokrowsky, a. a. 0. I. S. 276.

105

DIE SPINNEREI IN ST. PETERSBURG.

zwischen den Ostseehäfen, hauptsächlich Reval, und Mittelrußland verbessert; andererseits machte die aus Asien herbeigeführte russische Baumwolle allmählich die amerikanische Baumwolle für den mittelrussischen Industriebezirk zu einem gewissen Teil entbehrlich. So fiel auch der Schwerpunkt der Spinnerei mit der Zeit dem mittelrussischen Industriebezirk zu. Bei einem flüchtigen Blick auf die Statistik fällt es auf, daß in Petersburg im Gegensatz zu Moskau und Wladimir die Zahl der Betriebe und der Arbeiter im Verhältnis zur Zahl der Spindeln sehr klein ist Damit sind die Kernpunkte der Verschiedenheit der Betriebsweise in Petersburg und in MoskauWladimir getroffen; es sind die Unterschiedsmerkmale, die für die heutige Zeit mit derselben Berechtigung geltend gemacht werden können. In St Petersburg finden wir im Verhältnis zum mittelrussischen Industriebezirk größere Konzentration der Betriebe und größere Produktivität des Arbeiters. Daneben in Moskau-Wladimir eine fast ausnahmslose Anwendung der Nachtarbeit im Gegensatz zu St. Petersburg, wo die Fabriken nur äußerst selten des Nachts in Betrieb erhalten wurden. Um einen Vergleich an der Hand der eben angeführten statistischen Zahlen durchführen zu können, müssen wir zuerst die Webstühle ausschalten: Bei dem Vergleich der technischen Mittel schließen wir die Webstühle ohne weiteres aus, da wir bei einer Untersuchung über die Spinnerei naturgemäß nur die Spindeln zu berücksichtigen haben. Bei dem Vergleich der Arbeitskräfte ziehen wir von der Gesamtzahl für jeden Webstuhl je einen Arbeiter ab. Wir führen neben den Zahlen für 1860 noch die für 1900 an,1) um das Prinzipielle in der Verschiedenheit der Betriebsweise und der Arbeitsbedingungen der beiden Industriebezirke zu betonen. 1860

1900

1860

auf 1000 Spindeln Arbeiter:

St. Petersburg: Moskau: Wladimir:

10,9 30,5 27,7

9,25 1 V J

>

1900

auf 1 Betrieb Spindeln:

46 538 20 555 23 333

71953 M

'

') Statistik der Baumwollindustrie für 1900. Offizielle Ausgabe. ') Für 1900 gelten die Zahlen für den ganzen mittelrussischen Industriebezirk.

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m . KLEINBETR. TJ. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOLLIXD.

Diese Zusammenstellung würde ein falsches Bild der tatsächlichen Verhältnisse geben, wenn wir nicht noch die Nachtarbeit berücksichtigen würden. Da wir über eine Angabe der Arbeitsstunden im Jahre 1860 nicht verfügen, müssen wir uns auf die Betrachtung der Statistik von 1900 beschränken. W i r berechnen, um die Intensität des Arbeiters ganz genau festzustellen, wie viele Arbeiter auf 1 0 0 0 0 Arbeitsstunden kommen: S t Petersburg Moskau-Wladimir

3,47 3,93

Dieser Unterschied ist für ein industriell geübtes Auge sehr bedeutend, für ein Laienauge natürlich nicht so auffallend wie der Unterschied von 9,25 und 19,29. Diese scheinbar unwesentliche Verschiedenheit der Arbeitsintensität gibt aber, wenn man die Zahl der Arbeiter auf 1000 Spindeln danebenstellt, einen klaren Beweis von der enormen Anwendung der Nachtarbeit im mittelrussischen Industriebezirk. Die Konzentration der Betriebe in Petersburg war hauptsächlich abhängig von der durchschnittlich größeren Kapitalkraft und von dem Übergewicht in technischer Beziehung. Die Petersburger Spinnereien wurden fast immer von Engländern geleitet, die stets auf technische Vervollkommnungen drangen; durch den starken materiellen Rückhalt war es möglich, bessere Spinnmaschinen, vor allem solche mit größerer Spindelzahl, und Dampfmaschinen anzuschaffen. 1 ) Dem gegenüber mußten sich die mittelrussischen Spinnereien mit Spinnmaschinen alten Typs behelfen, die weniger Spindeln enthielten und unökonomisch arbeiteten. Die motorische Kraft war seltener Wasser, meist Pferdekraft, die dem Dampf in vielen Beziehungen nachstanden. Eine Folge der technischen Zurückgebliebenheit war der Mehraufwand an menschlichen Arbeitskräften. Die alten Spinnmaschinen, vor allem aber die vorbereitenden Maschinen bedurften einer bedeutend größeren Zahl ') Vergl. z. G. die Schilderung der Baumwollspinnerei des Barons Stieglitz bei Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen. Dresden und Leipzig 1841. II. S. 46.

DIE SPINNEREI IN ST. PETERSBURG.

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von Arbeitern. Zudem waren die Arbeiter des mittelrussischen Industriebezirks stets weniger produktiv. Die Baumwollspinnerei kann rationell nur mit Hülfe einer geschulten Arbeiterschaft betrieben werden, also einer Arbeiterschaft, die mit den nötigen Vorkenntnissen versehen möglichst lange, vor allem aber dauernd, in Spinnereien beschäftigt war. Die Fabrikarbeiter setzten sich um das Jahr 1860 aus Obrokleuten oder aus freien Bauern und einigen wenigen Bürgern zusammen — die Arbeiterschaft bestand also zum weitaus größten Teil aus Bauern, die aus ihren Dörfern abwanderten, um städtische Berufe zu ergreifen. Alle diese Bauern aber hatten, bevor sie abwanderten, wenn auch nicht ausschließlich, Ackerbau betrieben. Sie mußten also zu den Fabrikarbeiten angelernt werden. Die Bauern waren, wie bekannt, durch die Mirverfassung an ihre Gemeinde gebunden — sie gehörten nach wie vor, wenn auch nur äußerlich, in die agrarische Verfassung. Sie konnten stets durch Gemeindebeschluß gezwungen werden, in ihr Heimatsdorf zurückzukehren ; oft reisten sie auch freiwillig uach Hause, z. B. um die Feldarbeiten zu verrichten. Diese Verbindung mit dem Mir ließ die Bauern nicht zu rechten Fabrikarbeitern werden. Da nun die meisten Fabrikarbeiter den gewerblichen Gouvernements Rußlands entstammten, ist es klar, daß die in mittelrussischen Fabriken beschäftigten infolge der geringen Entfernung viel öfter und meist auch früher in ihre Dörfer zurückkehrten. Der Fabrikant in Moskau und Wladimir war demnach einem Wechsel seiner Arbeiter viel mehr ausgesetzt als der Petersburger. Der Petersburger Unternehmer konnte daher auf eine stabilere, also auch eine mehr geschulte, Arbeiterschaft rechnen. Um diese ungünstigere Lage in technischer und wirtschaftlicher Beziehung und in den Arbeiterverhältnissen einigermaßen auszugleichen, waren die Fabrikanten des mittelrussischen Industriebezirks von jeher bestrebt, durch Nachtarbeit die in Baulichkeiten und Maschinen investierten Kapitalien stärker anzuspannen. Zudem kam noch, daß in Mittelrußland die in gutsherrlichen und Possessionsfabriken sehr schroff ausgebildete Leibeigenschaft die Anwendung der Nachtarbeit, eine größer«

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m . KLEINBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RUSS. BAUMWOLLKD.

Ausnützung der Arbeitskraft, selbstverständlich erscheinen ließ, wenn sie nach Ansicht der Unternehmer zweckmäßig war. So waren die Verhältnisse im mittelrussischen Industriebezirk, von denen sich der Petersburger Industriebezirk in technischer, wirtschaftlicher und sozialer Beziehung ganz bedeutend unterschied. Die Sonderstellung des Petersburger Industriebezirkes ist in allen angeführten Punkten noch jetzt vorhanden. Man kann nur jetzt nicht mehr allein von dem Petersburger und dem mittelrussischen Industriebezirk sprechen, sondern muß auch den sehr wichtigen polnischen in die Untersuchung hineinziehen. Für die Zeit um das Jahr 1860 läßt sich von dem polnischen Baumwollzentrum Lodz, in dem auch die ersten Baumwollfabriken entstanden, wenig sagen. Eine nachhaltige Wirkung der polnischen Industrie auf die Absatzgebiete Rußlands wird erst merkbar mit einer allmählichen Annäherung der beiden Volkswirtschaften, die erst nach dem Jahre 1851, der Aufhebung der Zollgrenze, möglich wurde. Die Verfassung der Baumwollspinnerei in der Zeit der Bauernemanzipation hatte sich gegenüber älteren Zeiten prinzipiell nicht geändert Entstanden in der Form fabrikmäßiger Betriebe, nahm sie nur immer mehr die Form des Großbetriebes an. Im Jahre 1843 waren auf einen Betrieb 8 800 Spindeln gekommen, 1860 schon 28 100. In dieser Beziehung ist also die Verfassungsgeschichte der Baumwollspinnerei mit der der Weberei und Druckerei übereinstimmend: kann auch von einem Übergang vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb nicht die Bede sein, so ist ein Verdichtungsprozeß, d. h. bedeutende Konzentrationsbestrebungen zu verzeichnen. In einer Wechselwirkung mit den zunehmenden Konzentrationsbestrebungen befand sich die verstärkte Anwendung mechanischer Kraft und neuer, technisch vervollkommneter Maschinen. V. DIE ANFÄNGE DER FABRIKGESETZGEBUNG. Die Voraussetzung einer Arbeiterschutzgesetzgebung in den westeuropäischen Staaten war die Ausdehnung der Fabrik-

DIE ANFÄNGE DER FABRIKGESETZGEBUNG.

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industrie. Nachdem die Zunftverfassung zertrümmert, nachdem die mit motorischer Kraft arbeitende Maschine an die Stelle des Handarbeiters getreten war, mußte die Rücksicht auf den Arbeiter dem kapitalistischen Interesse des Unternehmers weichen. Das „Werkstattverhältnis" zwischen Meister und Geselle hatte aufgehört; die Arbeitsteilung ließ das Interesse des Unternehmers an den gewerblichen Kenntnissen des Arbeiters in bezug auf den ganzen Produktionsprozeß vollständig verschwinden. Die Bedienung der Maschine beanspruchte wenig technisches Können. Höchstens das Beherrschen einer bestimmten Handhabung. Arbeitgeber und Arbeiter standen sich als Fremde gegenüber, die Kluft zwischen Kapital und Arbeit erweiterte sich. Die Arbeitskraft wurde zu einer Ware, zu einem Werkzeug der Güterbeschaffung. Zu dieser moralischen Herabwürdigung der menschlichen Arbeitskraft trat eine wirtschaftlich-physische: Frauen und Kinder ersetzten in vielen Industrien die Arbeit der Männer. Die Frauen- und Kinderarbeit, die Verdrängung der menschlichen Tätigkeit durch die Maschinenarbeit führte zu einem Überangebot der Arbeitskräfte. Die aus diesem Überangebot resultierende Konkurrenz der Arbeitsuchenden hatte starke Lohnrückgänge im Gefolge. Die technische und wirtschaftliche Überlegenheit gab den Unternehmern Waffen in die Hand, denen gegenüber die Arbeiter von vornherein als Besiegte gegenüberstanden. Die Monopolwirtschaft der Unternehmer auf dem Arbeitsmarkte führte zu einem Ausbeutungssystem, dessen offensichtliche Schäden die Regierungen veranlaßten, Maßregeln zum Schutz der sozial (politisch) und wirtschaftlich Schwächeren zu ergreifen. Die Gesetzgebung nahm sich zuerst der besonders stark Bedrängten, der Frauen und Kinder an; sie beschränkte sich anfänglich nur auf die gefährlichsten und ungesundesten Industriezweige ; sie regelte in erster Linie die Arbeitszeit, das Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses, die Art der Lohnzahlung, bestimmte wie die Streitigkeiten der Unternehmer und Arbeiter zu schlichten wären, schuf Aufsichtsbehörden und verlangte Schutzvorrichtungen und hygienische Maßregeln. Erst allmäh-

110 in. KLEINBETR. ü. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. HUSS. BAUMWOLLIXD. lieh wurde diese Gesetzgebung auf alle Arbeiter ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und auch auf Arbeiter, die außerhalb von Fabriken beschäftigt waren, ausgedehnt. Der Inhalt der Gesetzgebung wurde erweitert und auf alle Industriezweige im Prinzip gleichmäßig angewandt Diese Umwandelung der auf einige wenige Industrien beschränkten Fabrikgesetzgebung in eine Arbeiterschutzgesetzgebung, welche bestrebt ist, „normale Lebensbedingungen für den Erwerb der arbeitenden Klasse überhaupt zu schaffen", gehört aber erst der neueren Zeit an.1) Der Weg, den die Fabrikgesetzgebungen der einzelnen Länder einschlugen, die Art und die Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge, die Gesichtspunkte, von denen aus die Gesetze erlassen wurden, ihre Intensität und ihre Wirksamkeit — alles war abhängig von der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwickelung des Landes und seiner sozialen Gliederung, und deshalb überall verschieden. Überall aber wurde sie hervorgerufen durch die kapitalistische Produktionsweise, durch die Verschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze zwischen Unternehmer und Arbeiter. Ganz andere Bahnen, als die westeuropäischen Staaten, verfolgte die russische Fabrikgesetzgebung vor der Bauernemanzipation. Der Grund lag in der prinzipiellen Verschiedenheit der gewerblichen Betriebsformen in Rußland und Westeuropa, er lag in der Anwendung unfreier Arbeitskräfte. Er ist ferner zu suchen in der eigenartigen gewerblichen Entwickelung Rußlands, welche ganz allgemein die Fabrikindustrie ohne das Zwischenglied des städtischen Handwerks entweder direkt aus Westeuropa nach Rußland verpflanzte, oder aus hausindustriellen Formen entstehen ließ. Die Verschiedenartigkeit der gewerblichen Betriebsformen in Rußland selbst, die Verschiedenheit der industriellen Voraussetzungen in dieser großen Volkswirtschaft, die mangelhafte Ausbildung des vermittelnden Verkehrs ließen eine gleichmäßige Behandlung der Industrie und der in industriellen Betrieben beschäftigten Arbeiter nicht zu. ') Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. I Art. Arbeiterschutzgesetzgebung S. 471.

DIE ANFÄNGE DER FABRIKGESETZGEBUNG.

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Die gutsherrlichen Fabriken, in denen zumeist die Arbeitskraft der eigenen Leibeigenen des Grundherrn ausgenützt wurde, konnten in bezug auf ihre Arbeiterschaft keinen Beschränkungen unterworfen werden. Jede gesetzliche Vorschrift, welche die Arbeiter dieser Fabriken direkt betroffen hätte, wäre ein Eingriff in die grundherrlichen Rechte der Unternehmer gewesen. Die bürgerlich-bäuerlichen Lohnfabriken mit ihrer, vorwiegend aus Lohnarbeitern bestehenden, Arbeiterschaft blieben von jeder Einmischung der Regierung frei, bis in den 30iger Jahren des 19. Jahrhunderts auch die Verhältnisse der Lohnarbeiter einer Regelung unterzogen wurden. Die Possessionsfabriken dagegen, auf deren Bewirtschaftung sich die Regierung einige Einwirkung vorbehalten hatte, wurden mit Vorschriften über Produktion und über die Regelung der Arbeiterverhältnisse reichlich bedacht. Allerdings wurden die Verhältnisse der Arbeiter mehr vom Standpunkte der Produktivität des Betriebes als von humanen und sozial-ethischen Gesichtspunkten aus geordnet. Meist erhielt jede Possessionsfabrik ein besonderes Reglement, welches den Produktions- und Absatzbedingungen, dem Stand der Technik des Betriebes und der Zusammensetzung des Arbeitermaterials Rechnung trug. Diese Reglementierung des Gewerbewesens, man kann sie kaum Fabrikgesetzgebung nennen, war also im höchsten Maße kasuistisch. Sie war durch die Gewerbepolitik der damaligen Zeit sehr erklärlich und infolge der Abhängigkeit der Possessionsfabriken von der Regierung vollständig berechtigt Die Veranlassung zu neuen Reglements, welche die Lage der Arbeiter verbesserten, wurde durch die Arbeiterunruhen auf den Possessionsfabriken hauptsächlich im ersten und zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts gegeben.') Es wäre unzweckmäßig und ' ermüdend, sich hier durch die Fülle der Reglements einzelner Possessionsfabriken durchzuarbeiten, es dürfte genügen zur Veranschaulichung der Behandlung des Gewerbewesens in Rußland im 18. Jahrhundert einige besonders typische Beispiele solcher Reglements anzuführen. ') Vgl. oben S. 23, 24, 26.

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III. KLEtNBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETR. I. D. RÜSS. BAUMWOLLIND.

Am 2. September 1741 wurde für die Tuchfabriken ein Reglement und eine Arbeiterordnung herausgegeben, an denen eine Kommission längere Zeit gearbeitet hatte. Das Reglement befaßte sich mit dem Fabrikbetriebe und der Produktion: Die Gebäude sollten feuersicher sein, die Arbeitsräume hell, rein gehalten, die Webstühle sollten nicht zu nahe voneinander stehen; die Fabrikanten sollten stets mit Rohstoffen versehen sein, damit der Betrieb nicht still zu stehen brauchte, sie sollten sparsam sein; jede Fabrik sollte eine Glocke haben, mit der Beginn und Beendigung der Arbeit angezeigt werden konnte; nachts sollten Wächter um die Fabrik gehen; es sollten Hospitäler eingerichtet werden; die Länge und Breite der Tuche wurde festgesetzt; „der Fabrikunternehmer soll seine Fabrikarbeiter, wenn sie ihre Pflicht tun, nicht kränken und beleidigen, sondern in christlicher Weise gut behandeln und ihnen vor allem den erarbeiteten Lohn, wenn sie sich nichts zu Schulden kommen ließen, unverzüglich auszahlen".1) Die Arbeiterordnung behandelte das Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter und regelte die Arbeitsbedingungen. Die Arbeitszeit wurde auf 15 Stunden von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends mit einer zweistündigen Mittagspause von 10—12 Uhr festgesetzt, in den Wintermonaten von 4 Uhr morgens bis 8 Uhr abends mit einer einstündigen Mittagspause. Am Sonnabend hörte die Arbeit früher auf, an Sonn- und Feiertagen wurde überhaupt nicht gearbeitet. Den Arbeitern wurde ausdrücklich vorgeschrieben, daß sie, wenn die Reihe an sie käme, Wächterdienste zu verrichten und ihre Werkzeuge im Staud zu halten hätten. Frauenarbeit war nicht obligatorisch. Zuwiderhandlungen gegen die Fabrikregeln wurden mit Geld und körperlichen Strafen geahndet Nichterscheinen und Zuspätkommen zur Arbeit, Spielen um Geld, Trunkenheit, Ungehorsam und Unhöflichkeit gegen Vorgesetzte wurde besonders streng bestraft. Streitigkeiten zwischen den Arbeitern untereinander schlichtete der Fabrikant, Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern wurden vom Manufakturkollegium untersucht Alle Sonnabende sollte der Lohn ausbezahlt werden, ') Nisselowitsch, a. a. 0. I. S. 66, 67.

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von dem ein viertel zurückzubehalten war; darüber sollten monatliche Abrechnungen stattfinden. Der Lohn, ebenso wie die täglich zu leistende Arbeitsmenge war in der Arbeiterordnung bestimmt Ferner wurde noch verfügt, daß diese Fabrikregeln zuerst drei Sonnabende nacheinander und dann jeden Monat einmal vor den versammelten Arbeitern zu verlesen wären.1) Da den Fabrikanten keine Strafen für die Nichteinhaltung der Vorschriften angedroht wurden und die Kontrolle jedenfalls sehr oberflächlich war, hat weder das Reglement noch die Arbeiterordnung praktische Anwendung gefunden. Den Wünschen der Regierung wurde Genüge geleistet, wenn die Tuche in der vorgeschriebenen Weise verfertigt und in der vertragsmäßigen Menge und Güte abgeliefert wurden. Aus den Bestimmungen dieses Reglements und der Arbeiterordnung lassen sich einige Schlüsse auf die Lage der Arbeiter in den Possessionsfabriken der Tuchindustrie ziehen. Immerhin aber wäre es recht gewagt, die Beurteilung der Arbeiterverhältnisse, z. B. in der Tuchindustrie, hauptsächlich nach den Reglements vorzunehmen. Die Reglements sind ein Spiegel der Schäden, welche die Regierung sah und verbessern wollte, niemals aber ein getreues Bild der tatsächlichen Verhältnisse. Weder den nächsten Nachfolgern Peters noch der Kaiserin Katharina II. war es gelungen, die Lage der Arbeiter zu verbessern.1) Wenn es manchen Regenten auch nicht an dem nötigen Ernst gefehlt haben mag, so scheiterten doch alle Versuche an dem Widerstande, den ihnen die, durch Grundherren und Fabrikanten ängstlich verteidigte Leibeigenschaft entgegensetzte. Der phantastische Paul war nicht fähig, eine folgerichtige Politik nach irgend einer Richtung zu betreiben. Auch die Regierung Alexanders I. konnte sich nicht über ein unsicheres Versuchen emporschwingen. In seinen ersten Regierungsjahren erschien ein Einzelreglement, das sich durch einige neue Gesichtspunkte auszeichnete. Als die Seidenfabrik in Kupawna im Jahre 1803 einem ') Nisselowitsch, a. a. 0. I. S. 67 ff. ') Nisselowitsch, a. a. 0 . I. S. 109. H a m m e r s c h m i d t , Banmwollindnstrie in Bauland.

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i n . KLELVBETR. U. ÜBERGANG Z. 0 R 0 8 8 B C T R . I. D. RUSS. BAUMWOLLIN D.

Privatunternehmer übergeben wurde, gab die Regierung diesem ein genau ausgearbeitetes Reglement mit Es sollten auf der Fabrik nur Bauern beschäftigt werden, die zu Fabrikarbeiten fähig wären; die Arbeitszeit sollte 12 Stunden nicht überschreiten; die Arbeiter sollten nur zu denjenigen Arbeiten angehalten werden, zu denen sie sich wirklich eigneten. Die Arbeiter sollten Stücklohn erhalten, der monatlich ausbezahlt wurde und zwar auf der Grundlage, daß Frauen jährlich 18—22 Rubel und Männer 50—80 Rubel verdienten. Alle 10 Jahre sollte der Lohn um so viel erhöht werden, um wieviel sich die Lebensmittel in diesem Zeitraum relativ verteuert hatten. Minderjährige, Altersschwache und Kranke, welche auf der Fabrik nicht beschäftigt werden konnten, sollten eine angemessene Unterstützung erhalten. Die Arbeiter konnten Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände kaufen, wo sie wollten, sie mußten aber die Kopfsteuer und die anderen Staatssteuern selbst tragen.') Vollständig neu war die Vorschrift, daß der Fabrikant die Fähigkeiten des Arbeiters zu berücksichtigen und sich bei der Beschäftigung des Arbeiters danach zu richten habe. Ebenso ungewohnt war die Verpflichtung des Fabrikanten, für Kinder, Altersschwache und Kranke zu sorgen. Jedoch darf man nicht glauben, daß solche Bestimmungen eine bedeutende Änderung der Verhältnisse hervorgerufen hätten. Das Fehlen von Aufsichtsbehörden und von Strafen raubte den Reglements einen großen Teil ihrer Wirksamkeit. Im Allgemeinen kann man 6agen, daß nicht nur die Reglements eine so wenig nachhaltige Wirkung hatten; auch die wenigen Fabrikgesetze vor der Bauernemanzipation blieben aus denselben Gründen meist toter Buchstabe. Der Schwerpunkt des Interesses liegt deshalb nicht in dem Zustandekommen der Gesetze, sondern darin, und das gilt auch von den Vorarbeiten und den Gesetzentwürfen, daß sich in ihnen die Anschauung der Behörden und Fabrikanten über das Gewerbewesen und über die Arbeiterfrage mit großer Klarheit wiederspiegelt Die ersten generellen Fabrikgesetze erschienen allerdings erat in den 30 iger ') Nisselowitsch, a. a. 0. II. S. 68, 59.

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Jahren des 19. Jahrhunderts, während sich alle früheren Vorschriften nar auf die unfreien Arbeiter, vor allem auf die Regelung des Arbeitsverhältnisses in den Possessionsfabriken bezogen. Die wachsende Zahl der Lohnarbeiter hatte die Regierung schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts zur Ansicht bekehrt, daß sie mit dieser neuen Art von Arbeitern nun ernstlich zu rechnen habe. Sie glaubte im Interesse der Fabrikanten zu handeln, wenn sie diese neue Arbeiterklasse mit festen Grenzen umgab und den Eintritt an bestimmte Bedingungen knüpfte. So entstand im Jahre 1811 das interessante Projekt „Über die Schaffung eines besonderen Standes freier Arbeiter".1) Nur gelernte Arbeiter sollten aufgenommen werden; sie hatten einige Vorrechte, z. B. waren sie von den Gemeindesteuern befreit; andererseits mußten sie aber Befähigungsnachweise, Führungszeugnisse und Aufenthaltsscheine (Pässe) einbringen, die ihnen unter Umständen verweigert werden konnten. Diese letzte Tatsache charakterisiert den Geist des Entwurfes zur Genüge: der Arbeiter war auf das Wohlwollen des Fabrikanten und der Behörde angewiesen. Die Gesetzeskraft wurde aber dem Entwurf nicht zu teil und die Lage der Lohnarbeiter blieb nach wie vor ungeklärt. Vor allem klagten die Fabrikanten darüber, daß die Lohnarbeiter (meist gutsherrliche Obrokleute) häufig die Fabriken mit der Begründung verließen, ihre Gutsherren hätten ihnen die Rückkehr befohlen. *) Einen Vorschlag, diesen Mißstand zu heben, machte zuerst im Jahre 1832 der Moskauer Generalgouverneur Fürst Golizyn. Von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß die Ursache der andauernden Streitigkeiten zwischen Fabrikanten und Arbeitern in dem Fehlen schriftlicher Arbeitsverträge liege, schlug er der Moskauer Abteilung des Manufakturrats einen Entwurf vor, der das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern regeln sollte. Dem Wunsche der Fabrikanten folgend, sollte der Grundherr seine Leibeigenen nicht mehr vor Ablauf des Passes zurückfordern dürfen. Andererseits aber verlangte Golizyn zum Schutze der Interessen der Arbeiter, daß die Unternehmer Lohn') Nisselowitsch, a. a. 0. II. S. 80, 81. ') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 169. 8*

1 1 6 m. KLEINE ET B. U. ÜBERGANG Z. 0R0SSBETR. I. D. BUSS. BAUMWOLUXD.

bücher einführen sollten, in denen die Bedingungen des Arbeitsvertrages und die Lohnzahlungen aufgezeichnet werden mußten. Führte der Unternehmer diese Bücher nicht ordentlich oder gar nicht, so hatte die Polizei den Arbeiter nach seinen (des Arbeiters) Angaben zu entlohnen. Es sollten Tafeln mit den Arbeitsbedingungen in den Arbeitsräumen aufgehängt werden. Die Unternehmer sollten selbst darauf acht geben, daß die Arbeiter nicht zu anderen Fabrikanten übergingen. Wie zu erwarten war, lehnten die Kaufleute und Fabrikanten diesen Vorschlag mit großer Entschiedenheit ab, übergaben ihn aber zur Durchsicht und Verbesserung dem Manufakturrat, der dem gerechten, die beiderseitigen Interessen schützenden, Entwurf eine ausgesprochen fabrikantenfreundliche Färbung gab.1) In diesem neuen Gewand erhielt der Entwurf, an dem allerdings von dem Geiste des Moskauer Generalgouverneurs nicht mehr viel zu bemerken war, am 24. Mai 1835 Gezetzeskraft. Nach diesem Gesetze konnte sich jeder Kopfsteuerpflichtige, der von einer Behörde oder von seinem Grundherrn einen Paß erhalten hatte, für die Zeit, auf die der Paß ausgestellt war, als Fabrikarbeiter verdingen (§ 1). Vor Ablauf des Vertrages durfte der Arbeiter die Fabrik nicht verlassen und auch keine Lohnerhöhung verlangen. Auch die Behörden und die Grundherren der Bauern durften sie nicht zwingen, vor Ablauf des Vertrages zurückzukehren (§ 2). Der Unternehmer konnte den Arbeiter entlassen, wenn dieser seinen Pflichten nicht nachkam, oder sich schlecht aufführte; in diesem Falle war der Fabrikant an eine 14tägige Kündigungsfrist gebunden (§ 3). Die Unternehmer konnten, wenn es ihnen angenehm war, entweder schriftliche Verträge mit den Arbeitern abschließen oder ihnen Lohnbücher geben, in denen die Arbeitsbedingungen, die Höhe des Lohnes und die Art der Lohnzahlung festgesetzt sein mußten. Jede Lohnzahlung sollte vermerkt werden ebenso wie alle Strafen und Lohnabzüge. Der Unternehmer hatte außerdem noch selbst ein Buch zu führen, in dem die Abrechnungen mit den Arbeitern eingetragen wurden (§ 5). Die Fabrik') Tug&n-Bar&nowsky, a. a. 0 . S. 169 ff. Prokopowitsch, Zur Arbeiterfrage in Rußland. St. Petersburg 1906. S. 77.

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regeln sollten ausgehängt werden, damit sich alle Arbeiter mit ihnen bekannt machen konnten (§ 6). Die Fabrikregeln und die Arbeitsverträge oder Lohnbücher waren die Unterlagen für die Untersuchung von Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern (§ 7). Das Gesetz wurde erst in St Petersburg und Moskau eingeführt und allmählich auch auf andere Teile des europäischen Kußland ausgedehnt Wessen Interessen dem Gesetzgeber bei dem Erlaß dieses Gesetzes am Herzen lagen, kann man klar aus den §§ 1 und 2 ersehen. Die Arbeiter konnten den Vertrag unter keinen Umständen lösen, die Fabrikanten aber schon, wenn sich der Arbeiter schlecht aufführte. Da die Beurteilung des Benehmens des Arbeiters dem Fabrikanten zustand, war der Arbeiter jeder Entlassung seines Arbeitgebers gegenüber machtlos. Eine weitere offensichtliche Benachteiligung der Arbeiter lag darin, daß es dem Ermessen des Fabrikanten anheimgestellt war, mit den Arbeitern Verträge abzuschließen oder ihnen Lohnbücher zu geben. Wenn man noch dazu bedenkt, daß den Fabrikanten keinerlei Strafen angedroht waren, wenn sie die Arbeiter ohne vorhergegangene 14tägige Kündigung entließen, oder das Lohnbuch, das bei der Untersuchung von Streitigkeiten wohl meist die einzige Unterlage bildete, nicht führten, so kann das Gesetz von 1835 mit Recht eine Reverenz der Regierung vor dem Unternehmertum genannt werden. Demnach bedeutete das erste russische Fabrikgesetz eine einseitige Berücksichtigung der Unternehmerinteressen.') Die Klagen der Arbeiter ließen indessen nicht nach; im Gegenteil die Unzufriedenheit der Arbeiter wuchs nach diesem Gesetz bedeutend an und machte sich in Unruhen und Streiks Luft Als Sprecher der Arbeiter trat der Finanzminister Kankrin auf, der in einer sehr vorsichtigen Eingabe an den Kaiser Nikolaus I. eine Verbesserung der Lage der Arbeiter anempfahl. Die Fabrikanten sollten dafür sorgen, daß die Luft in den Arbeitsräumen rein wäre, daß die Arbeiter nicht in den Arbeitsräumen zu ') Vollständige Gesetzessammlung, zweite Ausgabe. Bd. X, 8157. Vgl. auch Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 171, 172.

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nächtigen brauchten, daß Frauen und Männer getrennt schliefen. Kankrin verlangte Spitäler, Einschränkung der Tagesarbeit für Kinder; er verlangte, daß die Fabrikanten für gute Ernährung der Arbeiter und auch dafür Sorge trügen, daß sich die Arbeiter dem Alkoholgenuß nicht allzusehr ergäben. Eine Kommission, die mehrere Jahre den Kankrinschen Entwurf studierte, schloß ihre Tätigkeit damit ab, daß sie den Fabrikanten mit liebenswürdiger Vorsicht die Durchführung dieser Vorschläge anempfahL1) Damit schlössen für 10 Jahre auch die Versuche ab, das Arbeitsverhältnis in einem für die Arbeiter günstigen Sinne auszugestalten. Ein äußeres Ereignis führte plötzlich die Arbeiterfrage in den Mittelpunkt des Interesses. Im Jahre 1844 brachen auf der großen Wosnessenschen Baumwollspinnerei in der Nähe von Moskau heftige Arbeiterunruhen aus, welche durch Militär unterdrückt werden mußten. Eine Untersuchung, welche die Ursachen der Unruhen finden sollte, stellte fest, daß in allen Moskauer Fabriken in bedeutendem Maße Kinderarbeit angewendet wurde. Auf 23 Moskauer Baumwollspinnereien arbeiteten 2 100 Kinder, ohne Unterschied tags und nachts. Diese behördlich festgestellte Ausbeutung der Kinder hatte das Gesetz vom 7. August 1845 zur Folge.8) Die Nachtarbeit für Kinder unter 12 Jahren wurde untersagt, wobei mit Nacht die Zeit von Mitternacht bis 6 Uhr vormittags bezeichnet wurde. Die Fabrikanten sollten durch Unterschriften an die Erfüllung dieser Gesetzesvorschriften gebunden werden. Die örtlichen Behörden sollten die Aufsicht führen.3) Das Schicksal dieses Gesetzes ist, wie Tugan-Baranowsky berichtet, recht eigenartig gewesen.4) Da keine Strafen für Nichteinhalten der Vorschriften bestimmt waren, so ist es nicht wunderbar, daß das Gesetz keine praktische Bedeutung erlangt hat; aber höchst merkwürdig ist es doch, daß das Gesetz keinen Platz im Sswod l ) Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 173 ff. ; Rosenberg, Zur Arbeiterschutzgesetzgebung in Rußland. Leipzig 1896. S. 32, 33. *) Tugan-Baranowsky, a. a. O. S. 176. ') Vollständige Gesetzessammlung. Bd. XX 19262. *) Tugan-Baranowsky, a. a. 0 . S. 176.

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Sakonow, dem rassischen Gesetzbuch, gefunden hat. Es wird von keiner Kommission erwähnt, die sich in der Folgezeit mit Fragen der Fabrikgesetzgebung beschäftigt haben, ein untrügliches Zeichen dafür, daß es niemals Anwendung gefunden hat In demselben Jahre erschien noch ein anderes Gesetz, welches den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter erschweren sollte: für das Anstiften und die Teilnahme an Unruhen und Streiks wurden harte Strafen angesetzt Die Arbeiterunruhen, eine für die damalige Zeit auf den gutsherrlichen und den Possessionsfabriken nicht ungewöhnliche Erscheinung, wurden als Auflehnung gegen die öffentliche Gewalt (die Grundherren und die Besitzer von Possessionsfabriken wurden also der öffentlichen Gewalt gleichgestellt) mit schweren Strafen von Haft bis zu Zuchthaus und Zwangsarbeit bedroht. Bei Streiks sollten die Anstifter mit 3 Wochen bis zu 3 Monaten, alle anderen Teilnehmer mit 7 Tagen bis 3 Wochen bestraft werden. Diese letzte Bestimmung, die, wie ausdrücklich zugegeben wurde, den westeuropäischen Gesetzgebungen entnommen war, konnte für die damalige Zeit in Ermangelung jeder Organisation der Arbeiter gar keinen Sinn haben und wurde auch zum ersten Male im Jahre 1870 angewandt1) Diese, in der Geistesströmung jener Zeit ruhende, Furcht vor jeder Arbeiterbewegung, das Bestreben durch starke Einschüchterung auch den Versuch eines wirtschaftlichen Kampfes zu unterdrücken, findet ein würdiges Seitenstück im Gesetz vom 28. Juni 1849. Als die 48iger Revolutionen an mancher westeuropäischen Verfassung kräftig gerüttelt hatten, überkam auch die russische Regierung ein gewisses Unbehagen. Als erster wies der Moskauer Generalgouverneur Graf Sakrewsky auf die Gefahr hin, die in der Ansammlung großer Arbeitermassen in Moskau liege. In einer Eingabe an den Kaiser verlangte Sakrewsky, daß es verboten würde, in Moskau neue Fabriken zu errichten oder die alten zu vergrößern. Vergebens wiesen die Moskauer Fabrikanten darauf hin, daß die russischen Fabrikarbeiter, weil sie den Zusammenhang mit dem Dorfe nicht verloren hatten, ') Prokopowitsch, a. a. 0. S. 46, 47.

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mit dem westeuropäischen besitzlosen Proletariat nicht zu vergleichen wären. Diese Einwendungen blieben aber unbeachtet und die Vorschläge des Moskauer Generalgouverneurs wurden dem Gesetze vom 28. Juni 1849 zugrunde gelegt, das die Errichtung neuer Betriebe erschwerte und dem Gewerbebetriebe überhaupt die Erfüllung bestimmter Formalitäten auferlegte. Zum Glück für die Moskauer Industrie war die Wirkung dieses Gesetzes nicht nachhaltiger, als die der früheren.') Der vermeintliche Sieg auf dem Gebiete der Industriepolitik ließ Sakrewsky sich alsbald auch in der Lösung der Arbeiterfrage versuchen. Er arbeitete einen Entwurf zu Fabrikregeln aus, in dem das Bevormundungsprinzip üppig wucherte. Ein Arbeiter konnte auf einer Fabrik nur angestellt werden, wenn er einen Erlaubnisschein der Ortsbehörde oder der Gutsverwaltung vorzeigte. Der Lohn des Arbeiters konnte unter Umständen an dessen Familie, die Guts- oder Wolostverwaltung abgeführt werden, also an Personen und Behörden, welche diesen Erlaubnisschein ausstellten. Die Arbeiter sollten im Falle von Ungehorsam sofort zur Bestrafung der Polizei abgeliefert werden. Den Arbeitern war der Besuch von Wirtshäusern verboten. Alle Arbeitslosen hatte die Polizei sofort in ihre Heimatsdörfer zu befördern. Diesen Benachteiligungen der Arbeiter stand als einzige Lichtseite gegenüber, daß die Unternehmer gezwungen werden sollten, den Lohn in Geld und nicht in Waren zu zahlen. Der Manufakturrat, die Vertretung der Fabrikanteninteressen und das Finanzministerium lehnten den Vorschlag ab, weil sie Arbeitermangel befürchteten und an eine Hebung der Sittlichkeit der Arbeiter durch Polizeimaßregeln nicht glauben wollten. Auf diese Weise wurde dem Geistesprodukt Sakrewskys jede Aussicht auf Verwirklichung genommen.*) Indessen ließ sich Sakrewsky durch dieses Fiasko nicht abschrecken, er lokalisierte nur sein Projekt In seiner Eigenschaft als Moskauer Generalgouverneur führte er auf den Fabriken ') Vollständige Gesetzessammlung. Bd. XXIV 23368. Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 179. *) Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 180.

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in Moskau ein Lohnbuch ein, welches die Arbeitsbedingungen fixierte und die Pflichten der Unternehmer und Arbeiter bis ins einzelne regelte. Zuspätkommen und Fortgehen von der Arbeit wurde mit einer Geldstrafe in der Höhe eines Tagelohnes bestraft; für Nichterscheinen zur Arbeit Strafe dreifacher Tagelohn; die Arbeiter, die in den Kasernen wohnten, mußten im Sommer um 10 ühr, im Winter um 8 Uhr zu Hause sein; sie durften keine Bekannten und Verwandten beherbergen, auch nicht deren Sachen aufbewahren bei Strafe des dreifachen Tagelohnes; das Rauchen auf dem Fabrikhof, in den Arbeitsräumen und Kasernen, Faustkämpfe, allerlei „gefährliche Spiele", Kartenspiel auf Geld, das Mitbringen von Alkohol auf die Fabrik war streng verboten; die Arbeiter durften keine unanständigen Ausdrücke und Schimpfworte gebrauchen bei Strafe von 50 Kopeken Silber für den Angeber und einer körperlichen Züchtigung durch die Polizei; am Sonntag mußten Arbeiter und Arbeiterinnen jeden Alters in die Kirche gehen, bei Strafe von 15 Kopeken, wovon der Angeber 5 Kopeken erhielt. Strafgelder wurden überhaupt bei den verschiedenartigsten Anlässen erhoben: für Ungehorsam, Unhöflichkeit, Frechheit, Schlägerei, Schimpferei, Lügen, für Unehrlichkeit, Unreinlichkeit in den Wohnräumen, für Gesang während der Arbeit, für das Versäumen des Kirchgangs an Sonn- und Feiertagen; ferner auch für Verletzung der Fabrikregeln, nach Gutdünken des Fabrikanten. Auch die Unternehmer wurden durch die Fabrikregeln Sakrewskys belästigt; z. B. wurde ihnen vorgeschrieben, wieviel Vorschuß sie den Arbeitern geben durften.1) Nachdem Sakrewsky die Moskauer Fabrikanten und Arbeiter mit seinen bureaukratisch-polizeilichen Fabrikregeln beglückt hatte, legte er dem Finanzministerium einen neuen Entwurf vor, welcher in ganz Rußland eingeführt werden sollte. Der Petersburger Manufakturrat lehnte das Projekt ab und im Jahre 1854 wies es auch die Regierung zurück, nachdem es 4 Jahre mehrere Kommissionen beschäftigt hatte. Außer den schon angeführten Gesetzen und Gesetzent') Prokopowitsch, a. a. 0. S. 78 (f.; Tngan-B&ranowsky, a. a. 0. S. 182.

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würfen dürfte noch als historisch interessante Tatsache auf dem Gebiete der Fabrikgesetzgebung vor der Bauernemanzipation die Gründung zweier Kommissionen sein, die mit der Untersuchung der Petersburger Fabrik Verhältnisse beauftragt wurden.1) Da aber die Untersuchung erst in den 60 iger Jahren zum Abschluß gedieh und die wesentlichen Arbeiten der Zeit nach der großen Bauernreform angehören, muß die Behandlung des interessanten und sehr lehrreichen Wirkens dieser Kommissionen einem zweiten Teile unserer Arbeit vorbehalten bleiben. Die fleißige und sachgerechte Tätigkeit dieser Kommissionen führte aber auch zu keinem positiven Erfolge; ihre Veröffentlichungen und Materialsammlungen ruhen in den Archiven. Wenn man die Fabrikgesetzgebung in Rußland vor der Bauernemanzipation überblickt, muß man sich darüber wundern, zu welch geringen tatsächlichen Erfolgen die mühevollen und langwierigen Arbeiten der Kommissionen und Behörden geführt haben. Der Mangel an kontrollierenden Beamten und das Fehlen von Strafbestimmungen machte die Gesetze ebenso wie früher die Reglements nahezu illusorisch. Eine anhaltende Wirkung hatten überhaupt nur die administrativen Verordnungen der lokalen Verwaltungsbehörden, wie z. B. die Fabrikregeln des Grafen Sakrewsky für Moskau. Die Gesetze und Reglements beanspruchen, mit einigen Ausnahmen, nur historisches Interesse als Dokumente der Sozialgeschichte. Auf die Entwickelung der Industrie haben die Gesetze und Reglements, eben weil sie selten befolgt wurden, keinen Einfluß ausgeübt. Auch die administrativen Verordnungen werden kaum störend eingewirkt haben; die Regierung ließ sich den Schutz der Fabrikanten zu sehr angelegen sein, als daß sie eine Schädigung der Fabrikanteninteressen durch lokale Behörden geduldet hätte. Auch die Baumwollindustrie hatte in wirtschaftlicher Beziehung unter der Einwirkung irgendwelcher störender Fabrik') Tugan-Baranowsky, a. a. 0. S. 386 ff.; Litwinow-Falinsky, Die Fabrikgesetzgebung und die Fabrikinspektion in Rußland. St. Petersburg 1904. S. 3 ff.; Rosenberg, a. a. 0. S. 34 ff.

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gesetze und Verordnungen nicht za leiden. Dagegen war die Lage der Arbeiterschaft der Baumwollindustrie, welche in bezug auf die freie Lohnarbeit absolut die höchste, relativ eine der höchsten Stellen einnahm, nicht günstig: die Verhältnisse der Arbeiter blieben andauernd ungeklärt Für die Mißstände, die aus dieser Sachlage erwuchsen, ist die unmenschliche Ausbeutung der Kinder ein treffendes Beispiel. Aber jeder Versuch einer, die Interessen der Arbeiter schützenden, Gesetzgebung scheiterte an dem Widerspruch der Mehrzahl der Fabrikanten.1) Eine einheitliche Fabrikgesetzgebung, die Ansätze einer Arbeiterschutzgesetzgebung, finden sich erst in den 80iger und 90iger Jahren. Für die Geschichte der Baumwollindustrie in Rußland vor der Bauernemanzipation hat die Schilderung der Fabrikgesetzgebung den Zweck, zur Klärung des volkswirtschaftlichen Hintergrundes beizutragen, das Verhältnis der Unternehmer zu den Arbeitern und die Stellung der Behörden zur industriellen Entwickelung, zu den Unternehmern und Arbeitern veranschaulichen zu helfen. Aus diesem Grunde haben wir lediglich die historische Entwickelung der Fabrikgesetzgebung erzählt, ohne uns in Spekulationen einzulassen, zu welchen Folgeerscheinungen andere Gesetze hätten führen können. Wenn man die Entwickelung der russischen Baumwollindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem geistigen Auge vorüberziehen läßt, so wird man, abgesehen von wirtschaftlichen, sozialen und Verfassungsänderungen, einer bedeutenden Veränderung der volkswirtschaftlichen Stellung der Industrie gewahr. In den Jahren 1800—1861 hatte sich die Baumwollindustrie von einer kleinen volkswirtschaftlich bedeutungslosen Industrie zu einem für den Verbrauch aller Volksklassen arbeitenden Fabrikationszweige emporgeschwungen. Die baumwollenen Erzeugnisse waren, die leinenen Bekleidungsstoffe verdrängend, durch ihre Billigkeit zu einem notwendigen Konsumartikel des gesamten ') T u g a n - B a r a n o w s k y , a. a . 0 . S . 181.

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HL KLELNBETR. U. ÜBERGANG Z. GROSSBETB. I. D. RUSS. BAUMWOLLIND.

Volkes geworden. Neben die technische Sicherung, die Anwendung der Spinn- und Druckmaschinen, der mechanischen Webstühle und der Dampfmaschinen, trat als wirtschaftliche Garantie die Nachfrage, die Gewißheit des Absatzes. Die Produktion der russischen Baumwollindustrie war zum allergrößten Teil auf den Verbrauch im Inlande gerichtet; nur eine unbedeutende Menge baumwollener Gewebe wurde nach Asien ausgeführt. Wenn einerseits die russische Baumwollindustrie auf den Absatz in der eigenen Volkswirtschaft angewiesen war, so genügte sie aber auch andererseits den an sie gestellten Ansprüchen. Die Einfuhr baumwollener Garne und Gewebe beschränkte sich auf wenige feine Erzeugnisse, die vorwiegend aus England und Deutschland ausgeführt wurden. Wenn wir die Stellung der russischen Baumwollindustrie auf dem Weltmarkte an der Ausdehnung der Spinnerei messen wollen, so nahm Rußland die sechste Stelle ein und befand sich hinter England, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Deutschland und der Schweiz.') Doch will dieser Vergleich wenig sagen, da der Verbrauch von baumwollenen Erzeugnissen auf den Kopf der Bevölkerung infolge der geringen Kaufkraft in Bußland relativ sehr niedrig war. Dem wirtschaftlichen Niveau des Landes genügte aber die Entwickelung der Baumwollindustrie vollständig. Sie war zu dem volkswirtschaftlich wesentlichsten Industrieweige geworden, nachdem sie sich technisch gefestigt und wirtschaftlich den Eigenarten des volkswirtschaftlichen Lebens Bußlands angepaßt hatte. Sie hatte ihre Wurzeln so tief in den Boden der russischen Volkswirtschaft getrieben, daß ihr die sozialen und wirtschaftlichen Krisen der 60 iger Jahre nicht schaden konnten: weder die Bauernemanzipation, noch die schwere innere Krise und die durch den amerikanischen Bürgerkrieg hervorgerufene Baumwollkrise konnten ihre Entwickelung hemmen. ') Scherer, Übersicht über die Pariser Weltausstellung 1867: Die Baumwollindustrie.

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