Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände: Band 10 Teil 1 [Reprint 2020 ed.] 9783110805468, 9783110165791


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German Pages 492 Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
Editorischer Bericht
Inhaltsverzeichnis
1. Examenspredigt über 1. Kor. 3, 21-23
2. Gott und das Absolute bei Schelling
3. Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte
4. Konfirmandenunterricht
5. Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens
6. Das Problem der Geschichte
7. Theodicee (1. und 2. Version)
8. Der Begriff des christlichen Volkes (1. und 2. Version)
9. Rechtfertigung und Zweifel (1. und 2. Version)
10. Sozialismus und Christentum
11. Kirche und Kultur
12. Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (I)
13. Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (II)
14. Volkshochschule und Weltanschauung (1. und 2. Version)
15. Pessimismus und Christentum
16. Religion und Kultur
17. Religion und Erneuerung
18. Die Krisis von Kultur und Religion
19. Religiöser Sozialismus
20. Die gegenwärtige Krisis von Kultur und Religion
21. Die religiöse Erneuerung des Sozialismus
22. Die Umstellung der Debatte
23. Das Unbedingte und die Geschichte
24. Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung
25. Mythos und Metaphysik
26. Religiöser Sozialismus und Pazifismus
27. Schleiermacher und die Erfassung des Göttlichen im Gefühl
28. Hegel und die Erfassung des Göttlichen im Denken
29. Die ökonomische Geschichtsauffassung, ihre geistigen Zusammenhänge und ihre gegenwärtige Umbildung
30. Einleitung in die Geschichtsphilosophie
31. Rechtfertigung und Zweifel (1. und 2. Version)
32. Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus"
Personenregister
Sachregister
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Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände: Band 10 Teil 1 [Reprint 2020 ed.]
 9783110805468, 9783110165791

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PAUL T I L L I C H RELIGION, KULTUR, GESELLSCHAFT I

1749

1999

?

ERGÄNZUNGS- UND NACHLASSBÄNDE ZU DEN G E S A M M E L T E N WERKEN VON PAUL TILLICH BAND X

W DE G DE G R U Y T E R EVANGELISCHES VERLAGSWERK GMBH BERLIN • NEW YORK 1999

PAUL TILLICH

RELIGION, KULTUR, GESELLSCHAFT UNVERÖFFENTLICHTE T E X T E AUS DER DEUTSCHEN Z E I T ( 1 9 0 8 - 1 9 3 3 ) ERSTER T E I L

HERAUSGEGEBEN VON ERDMANN

STURM

W DE

G DE G R U Y T E R EVANGELISCHES V E R L A G S W E R K BERLIN • N E W Y O R K

1999

GMBH

Vorwort Mit diesem und einem gleichzeitig erscheinenden weiteren Band lege ich bisher unveröffentlichte Texte Paul Tillichs aus der Zeit zwischen 1 9 0 8 und 1 9 3 3 vor. Es sind in der Hauptsache Entwürfe, die er aus unterschiedlichen Gründen nicht publiziert hat, Vorarbeiten zu veröffentlichten Vorträgen und Aufsätzen sowie Vorarbeiten und Versuche zu geplanten, aber nicht zustande gekommenen Veröffentlichungen. Alle diese Entwürfe dokumentieren zusammen mit den veröffentlichten Arbeiten Tillichs die Bewegung seines Denkens. Die Gegenstände, mit denen Tillich sich in diesen Texten beschäftigt, reichen von der Theologie über die Philosophie bis zur Ethik und Sozialphilosophie. Ich habe die Texte lediglich zeitlich geordnet und sie in beiden Bänden unter die Überschrift „Religion, Kultur, Gesellschaft" gestellt. Diese Trias meint im Sinne Tillichs selbstverständlich nicht ein Neben-, sondern ein Mit- und Ineinander. Das sie verbindende Element ist das der Religion oder, wie Tillich es gern formuliert und im „System der religiösen Erkenntnis" (= T e x t Nr. 4 2 ) entfaltet, „das, was uns unbedingt angeht". Meinen herzlichen Dank sage ich wiederum Frau Dr. Erdmuthe Farris geb. Tillich (New York) für die Erlaubnis der Publikation der T e x t e ihres Vaters. Auch der Andover-Harvard Theological Library der Harvard Divinity School in Cambridge, Mass., insbesondere M r . T i m o t h y Driscoll, dem Curator of the Archives Office, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Aus dem dortigen Paul Tillich-Archiv wurden mir zunächst Tillichs Handschriften mikroverfilmt zugänglich gemacht. In den Jahren 1 9 9 6 bis 1 9 9 8 konnte ich dann jeweils zwei W o c h e n im Paul-Tillich-Archiv arbeiten und die von mir transkribierten Texte mit den Originalhandschriften vergleichen. Auch habe ich manchen T e x t im Archiv erst entdeckt und identifiziert. Des •weiteren danke ich Herrn Dr. Uwe Bredehorn, dem Leiter der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Marburg, für seine immer präzise und kompetente Auskunft, nicht zuletzt auch für die Entdeckung der Xerokopien der Handschriften, deren Original ich nicht mehr ausfindig machen konnte. Herrn Joachim Müller

VII

(Berlin) danke ich für die Erlaubnis der Publikation der 2. Version des Textes Nr. 8. Frau Doris Lax, M.A., und Herrn Prof. Dr. Dr. Werner Schüßler sage ich Dank für wertvolle Hinweise und Anregungen. Herrn Dr. Hasko v. Bassi und dem Verlag Walter de Gruyter danke ich für das Interesse an der Edition der Handschriften Tillichs und die bewährte gute Zusammenarbeit. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat meine Arbeiten am Paul-Tillich-Archiv in Cambridge unterstützt. Die Fritz Thyssen Stiftung hat die Verfilmung und Auswertung der Handschriften sowie die Herstellung des Manuskripts beider Bände gefördert. Beiden Institutionen danke ich an dieser Stelle herzlich für ihre Hilfe. Münster, im Januar 1999

Erdmann Sturm

VIII

Editorischer Bericht

1. Allgemeines zu den Handschriften und Typoskripten Jedem der in den beiden Bänden „Religion, Kultur, Gesellschaft" publizierten Texte Paul Tillichs sind Angaben „ Z u m T e x t " vorangestellt, die Auskunft geben über das jeweilige handschriftliche Original, auf das für die überwiegende Zahl der Texte zurückgegriffen werden konnte, bzw. über die Kopie der Handschrift oder das Original-Typoskript. Für jeden der 80 Texte konnte ich jeweils die Originalhandschrift bzw. eine Kopie des Originaltyposkripts zugrundelegen, freilich im Falle des Textes N r . 5 und 6 nur eine ältere, aber vorzügliche Xerokopie des (wahrscheinlich verschollenen) handschriftlichen Originals. Die Texte N r . 13 bis 80 (mit Ausnahme von Nr. 42, 62, 63 und 74) hat Tillich - wie auch das Manuskript der Vorlesung über Hegel (1931/32) (= E G W VIII) in schwarze Wachstuchhefte eingetragen. In den vorderen Deckel dieser Hefte hat er selbst Signaturen eingeritzt, so für die Hegel-Vorlesung die Signatur H, für die Marburger Dogmatik die Signatur D, für die Berliner philosophischen Vorlesungen die Signatur P (jeweils mit römischen Ziffern für die einzelnen Hefte). Die Hefte mit den Texten Nr. 13 bis 80 (mit den oben genannten Ausnahmen) tragen die Signatur Vo, womit das Wort „Vorträge" abgekürzt wird und nicht, wie man im Paul-Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library und entsprechend auch im Archiv der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft annahm, das Wort „ V o l u m e " . Tillich hat mit diesen Signaturen nicht an eine spätere Archivierung gedacht, sondern die gleich aussehenden schwarzen Hefte eindeutig unterscheiden und ordnen wollen. Gelegentlich bedient er sich dieser Signatur auch innerhalb eines Heftes, indem er auf ein anderes Heft verweist. Freilich finden sich in diesen VoHeften nicht ausschließlich Vortagsentwürfe und Vortragsmanuskripte, sondern auch Manuskripte von Rezensionen.

IX

2. Zur Auswahl, Anordnung und Datierung der Texte Ausgewählt wurden nur die Texte, die überhaupt noch nicht veröffentlicht wurden. Auch die an entlegener Stelle publizierten Texte blieben unberücksichtigt. Demgegenüber wurden Vorarbeiten zu bereits veröffentlichten Vorträgen berücksichtigt, sofern sie als Vorarbeiten bzw. Entwürfe in Frage kommen und den Denkweg, den Tillich bis zur endgültigen Version des Textes ging, dokumentieren. Nicht aufgenommen wurden kleinere Textfragmente. Die Texte sind zeitlich, d.h. nach ihrer vermuteten Abfassungszeit angeordnet. Die Datierung war in einigen Fällen nicht mit Sicherheit auf ein bestimmtes Jahr vorzunehmen. Einen gewissen Anhaltspunkt bot die Reihenfolge der Eintragung in das Heft. Da Tillich gleichzeitig mehrere Hefte beschrieben hat, ergibt sich aus der Signatur nicht immer ein sicherer Aufschluß über die Reihenfolge der Eintragungen in diese Hefte, d.h. die Texte eines Jahres können sich möglicherweise auf drei oder mehr Hefte verteilen, wobei sich Tillich nicht an die Reihenfolge der Signaturen hielt. Doch ist die Reihenfolge der Eintragungen innerhalb eines Heftes erkennbar und damit eine zeitliche Reihenfolge der Eintragung rekonstruierbar. In vielen Fällen war eine Datierung möglich durch die Feststellung des Datums des Vortrages, insbesondere durch die Mitteilungen der Kant-Gesellschaft in den „Kant-Studien". Tillich hat die schwarzen Wachstuchhefte von Vo I bis Vo XLII signiert. Sie sind bis auf die Hefte X X V , XXVI, X X X , XXXIII, X X X I V und X L erhalten. Die meisten der in den Heften Vo I bis XLII eingetragenen Texte sind in den siebziger Jahren im Auftrag der Deutschen Paul TillichGesellschaft auf der Basis von Fotokopien der Originale transkribiert worden. Diese Fotokopien werden in Paul-Tillich-Archiv der Universitätsbibliothek Marburg aufbewahrt. Die Transkripte, die sich in den Archiven von Harvard und Marburg befinden, weisen jedoch eine große Zahl von Lesefehlern und Lücken auf. Die Transkripte wurden offensichtlich nicht mehr mit den Kopien verglichen. Ich selbst bin bei der Textherstellung so vorgegangen: Alle Handschriften und Typoskripte lagen mir in vorzüglichen Mikrofilmaufnahmen vor, von denen Papierkopien erstellt wurden. Auf dieser Basis wurde eine erste Version des Textes hergestellt. Diesen habe ich dann bei mehrmaligen Aufenthalten im Paul-Tillich-Archiv in Cambridge, Mass., Wort für Wort mit den Originalen verglichen und

X

korrigiert. Tillichs Sütterlin-Handschrift war nicht immer leicht zu entziffern. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man sie oft nur entziffern kann, wenn man gleichzeitig auch den Sinn des Gelesenen entdeckt, und umgekehrt gilt, daß der Sinn sich erst erschließt, wenn man die Schrift entziffern kann. 3. Die Bearbeitung der Handschriften und Typoskripte durch den Herausgeber (1) Tillichs Orthographie, soweit sie nicht auf Versehen beruht, sondern seine spezifische, noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Orthographie ist, wurde beibehalten. Beispiele: Transcendenz, Princip, Barok, mannichfaltig, antique, heut. Die Groß- und Kleinschreibung sowie die Zeichensetzung wurden allerdings den heute geltenden Regeln angepaßt, d.h. lange Satzketten, durch Semikola und Doppelpunkte gegliedert, wurden in einzelne Sätze aufgelöst. (2) Tillichs Text, der ja nicht für eine Veröffentlichung geschrieben wurde, sondern in der Regel Vorlage für einen Vortrag war, ist nahezu „druckreif" formuliert, ist aber ein stilistisch „kurzer" Text, d.h. Artikel, Prädikate und andere Wörter müssen oft hinzugedacht werden. Gelegentlich habe ich solche fehlenden Wörter, erkennbar durch eckige Klammern, hinzugesetzt. Sprachliche und stilistische Fehler und Unebenheiten, Anakoluthe und dgl. wurden von mir korrigiert. Auch in diesen Fällen wird in einer Fußnote der genaue Wortlaut der Handschrift zur Kontrolle mitgeteilt. (3) Die Fußnoten haben zwei unterschiedliche Funktionen: a) Sie geben textkritische Informationen über Wörter, Satz- und Textteile, die Tillich während der Niederschrift oder später gestrichen hat. Diese textkritischen Informationen werden eingeleitet durch „Folgt gestr.", „Davor gestr." oder „Über gestr." Oder sie geben, eingeleitet durch „ H s . " oder „Typoskript", den genauen Wortlaut der H s . bzw. des Typoskripts an, wenn dieser aus sachlichen Gründen von mir geändert wurde. b) Sie erläutern Namen, Begriffe, Sachverhalte etc., deren Kenntnis dem Verständnis des Textes dient. Alle diese Fußnoten stammen vom Herausgeber. Lediglich die Buchstaben-Fußnoten der 1. Version des Textes Nr. 4 2 ( „ D a s System der religiösen Erkenntnis") sowie die Fußnote 1 des Textes Nr. 7 4 enthalten Anmerkungen Paul Tillichs, worauf auch ausdrücklich aufmerksam gemacht wird.

XI

4. Zeichen, Siglen, Abkürzungen [ ] [?] Folgt gestr.:

Davor gestr.:

Über gestr.:

Hs. kursiv GW EGW

MW/HW PTAH

PTAM

Ergänzung durch den Herausgeber Das voranstehende Wort ist nicht zweifelsfrei lesbar bzw. entziffert Innerhalb der Niederschrift von Tillich gestrichenes Wort oder Satzteil im Anschluß an das Bezugswort des Textes Am Anfang eines Satzes geschriebene und dann von Tillich gestrichene Wörter oder Sätze vor dem Bezugswort des Textes. Das Bezugswort des Textes steht im Manuskript über der Zeile und ersetzt in der Zeile Geschriebenes und Gestrichenes. Das Gestrichene wird im Apparat mitgeteilt. Handschrift Unterstreichung im Original Paul Tillich, Gesammelte Werke (hg. von Renate Albrecht), 14 Bde.; Stuttgart 1959ff. Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, bisher 9 Bände.; Stuttgart 1971 ff.; Berlin/New York 1994ff. Paul Tillich, MainWorks/Hauptwerke (ed. by/hg. von Carl Heinz Ratschow); Berlin/New York 1987ff. Paul Tillich Archives, Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School, Cambridge, Massachusetts, USA Paul-Tillich-Archiv Marburg, Universitätsbibliothek Marburg, D-35008 Marburg

XII

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Editorischer Bericht 1. Examenspredigt über 1. Kor. 3, 21-23 2. Gott und das Absolute bei Schelling 3. Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte 4. Konfirmandenunterricht 5. Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens 6. Das Problem der Geschichte 7. Theodicee (1. und 2. Version) 8. Der Begriff des christlichen Volkes (1. und 2. Version) . . 9. Rechtfertigung und Zweifel (1. und 2. Version) 10. Sozialismus und Christentum 11. Kirche und Kultur 12. Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (I) 13. Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (II) 14. Volkshochschule und Weltanschauung (1. und 2. Version) 15. Pessimismus und Christentum 16. Religion und Kultur 17. Religion und Erneuerung 18. Die Krisis von Kultur und Religion 19. Religiöser Sozialismus 20. Die gegenwärtige Krisis von Kultur und Religion 21. Die religiöse Erneuerung des Sozialismus 22. Die Umstellung der Debatte 23. Das Unbedingte und die Geschichte 24. Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung 25. Mythos und Metaphysik 26. Religiöser Sozialismus und Pazifismus 27. Schleiermacher und die Erfassung des Göttlichen im Gefühl 28. Hegel und die Erfassung des Göttlichen im Denken . . . .

XIII

VII IX 1 9 55 63 75 85 101 114 127 231 233 237 250 264 272 275 282 293 303 305 311 328 335 351 356 371 375 387

2 9 . Die ökonomische Geschichtsauffassung, ihre geistigen Zusammenhänge und ihre gegenwärtige Umbildung . . . . 4 0 4 3 0 . Einleitung in die Geschichtsphilosophie 426 3 1 . Rechtfertigung und Zweifel (1. und 2. Version) 432 32. Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus" 454 Personenregister 469 Sachregister 473

XIV

1.

Examenspredigt über 1. Kor. 3, 21-23 (Entwurf) Zum Text: Hs. in: PTAH, 114:003, Heft 3. Durch Schreiben des Königl. Konsistoriums der Provinz Brandenburg vom 3.8.1908 war Tillich folgendes Thema zur Bearbeitung für die 1. theologische Prüfung genannt worden: „Eine Predigt über 1. Kor. 3, 21-23 mit vorangestellter ausführlicher Disposition'" (PTAH 802:009). Die Arbeit war binnen drei Monaten vorzulegen. Der hier veröffentlichte Text stellt gewiß nicht die Endfassung der Predigt dar. Es fehlt auch die vorangestellte Disposition. Abfassungszeit: Herbst 1908. Übersetzung des Textes Niemand r ü h m e sich der Vorzüge von Lehrern, die doch Menschen sind. Denn zwar habt ihr über sie alle (und nicht nur über sie, sondern sogar über die ganze Welt) M a c h t und Freiheit - aber ihr seid Christi Eigentum, und der ist keiner Partei, sondern Gott angehörig, so daß, was rühmenswert ist, von Gott stammen muß, alles andere aber nicht Grund zum Rühmen ist. Niemand r ü h m e sich eines einzelnen Lehrers, denn ihr habt ja über sie alle M a c h t , aber nur insoweit sie zu Christus stimmen, der über Euch M a c h t hat, aber nicht im Sinne einer Partei, sondern im Sinne [von] Gottangehörigkeit. Weil Gott gegen die Weisen dieser Welt vorgeht, darf man sich nicht der Menschen rühmen. Z w a r haben wir absolutes Nutzungsund Gestaltungsrecht gegenüber allen Dingen, aber auf uns hat Christus Recht. Nicht rühmen: nicht weil es an sich Unrecht ist, eine Lehre zu empfangen, sondern weil dieses Empfangen seine N o r m an Christus hat, an dem der Lehrer [seine Norm] haben muß. Es gibt nur eine Parteiung: Für oder wider Christus. Liebe Gemeinde! Das verlesene Wort 1 zeigt uns, daß die Kämpfe um die christliche Folgt gestr.: ist das Ergebnis, zu dem Paulus in seinen Auseinandersetzungen

1

Wahrheit, um Lehre und Lehrer so alt sind wie die christliche Kirche selbst. Schon lange, ehe er dies Wort schrieb, hatte Paulus Lehrstreitigkeiten durchzukämpfen gehabt. Er hatte sein Evangelium von Christus allein verteidigen müssen gegen Christen, die ihre eigne Gerechtigkeit nicht lassen wollten und Christus und damit Gott die Ehre raubten.2 Der Kampf ist leicht, wo der Gegner offen zu dem nein sagt, wo ich nicht anders kann und nie anders können werde als ja sagen, oder wo der Gegner ja sagt, wo ich um des Gewissens willen nur nein sagen kann. Wer Jesus Christus kennt, der wird auch heute ohne Zaudern und Schwanken zu vielem nein sagen, was ihm angepriesen wird, und an vielem unerschüttert festhalten, auch wenn viele nur noch ein Lächeln dafür haben, die noch einen zweiten Grund legen wollten neben dem, der gelegt ist.3 Ihr habt Christum verloren, ihr seid von der Gnade gefallen, ruft Paulus diesen zu. Den Grund, auf dem wir stehen, lassen wir uns nicht erschüttern. Aber es gibt noch weit mehr, das nicht so offen liegt, und es ist nicht nur so, daß auch die Lüge den Mantel der Wahrheit anzieht, um besser fortkommen zu können, sondern die Wahrheit selbst erscheint in mancherlei Gewand. Und das eine Gewand ist passender als das andere, und wir müssen prüfen, welches wir wählen wollen. So war es auch in Korinth. Und so ist es in unserer Zeit, ein Rühmen, ein Ringen, ein Streiten, ein Kampf, eine Leidenschaft4 in einem Maße wie selten zuvor. Sehen wir, was Paulus in einer Lage von ähnlicher Größe und ähnlicher Gefahr der Christengemeinde zu Korinth sagte und was wir für unsere Zeit daraus lernen können. Wir fragen nach der rechten Stellung des Christen zu Lehren und Lehrern und antworten: Ein offenes Ohr für alle Welt: alles ist euer; ein offenes Herz allein für Gott: Ihr aber seid Christi.

über die korinthischen Lehrstreitigkeiten kommt. Lehrstreitigkeiten hatte Paulus auch schon vorher durchzukämpfen gehabt. 2

Folgt gestr.: Das war freilich noch ein ganz anderer Kampf; da handelte es sich um das herrlichste Gut des Christen, die freie Gnade Gottes; wer die unsicher machen wollte, dem konnte Paulus nur zurufen: dem Fluch mußt du verfallen, und wärst du ein Engel vom Himmel und wärst du ich selbst.

1

Folgt gestr.: Ihm gegenüber hat Paulus das furchtbar scharfe Wort gesprochen: Folgt gestr.: die ebensosehr ein Zeichen von pulsendem Leben ist, als sie der Grund eines inneren Zerfalls werden kann.

4

2

„Darum rühme sich niemand eines Menschen", beginnt der Apostel. Da haben wir das erste Hemmnis für ein offenes Ohr: die Partei, der Parteistolz, die Parteigehässigkeit. In Korinth war es bald nach der Gründung der Gemeinde dazu gekommen. Paulus hatte Abschied genommen, und andere Lehrer hatten weitergearbeitet. Ein Apollos hatte seine Rednergabe in den Dienst der Gemeinde gestellt. Vielleicht war Petrus dagewesen und hatte mit vollem Herzen von den Tagen des Erdenwandels des Herrn erzählt. Aber anstatt die mancherlei Gaben mit Dank zu empfangen, hatte man sich über die Vorzüge der Lehrer gestritten, und unversehens war es zu Parteilosungen und Parteischlagworten gekommen. Die Apollosschüler rühmten die hohe Redekunst ihres Lehrers, die moderne Art, mit der er auf die Zeitfragen und Zeitgedanken einging. Die andern gaben demgegenüber der grundlegenden, einfachen und doch überwältigenden Predigt des Paulus den Vorzug. Die Petrusschüler endlich rühmten sich, einen Augenzeugen des Lebens des Herrn zum Meister zu haben und darum Jesus von Nazareth besser zu kennen als die andern. Und weil jeder nur auf seinen Lehrer schwor, verschloß er sein Ohr gegen den anderen, und der Reichtum der Gaben wurde zum Schaden für die Gemeinde. Blicken wir 1500 Jahre weiter in die Zeit, wo Luther vom Kampfplatz seines Lebens abgetreten war und ein jüngeres Geschlecht wahren sollte, was er uns wiedergeschenkt hat. Da klang es so manchmal: „Lieber römisch als kalvinisch", im erbitterten Parteistreit zwischen den Erben des einen großen Evangeliums, und Gott hat dies Wort in manchem Land zu furchtbarer Wahrheit werden lassen im Blut und Jammer des großen Krieges. Danken wir der gnädigen Leitung seines Geistes, daß der Haß der evangelischen Konfessionen der Vergangenheit angehört, und laßt ihn niemals wieder aufflackern! Wenn wir nun Christi [sind], so können wir getrost sprechen: Alles ist unser, auch die Konfession. Und du, lieber Christ unserer Tage, hast auch du einen Lehrer, eine Partei, ein Schlagwort, das dich taub macht gegen alle anderen? Beschränkst du deine Freiheit selbst durch falsches Rühmen über Menschen? Beraubst du dich selbst der mancherlei Gaben des göttlichen Geistes, der viel, unendlich viel größer ist, als daß eine Zeit, eine Partei, ein Lehrer und wärstu der gewaltigste, der vor allem unendlich viel größer ist, als daß du ihn fassen kannst? Wahrlich, es gibt auch in unseren Tagen Parteien und Parteigeschrei, Rühmen und Verachten der Lehrer und der Lehren. Rühmst du dich vielleicht, zu der Partei,

3

zu den Lehrern zu gehören, die an den alten Formen der Verkündigung festhalten, und verschließt dein Ohr gegen alle, die unserer Zeit mit den Worten unserer Zeit predigen wollen? Oder gehörst du zu diesen und verachtest die andern? „Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft" [1. Kor. 4, 20]; und wer kennt die Kraft jeder Lehre? Hast du, der du dich deines modernen Christentums rühmst, an all den Kranken- und Sterbebetten gestanden, in denen das schlichte Wort der alten Verkündigung den Herzen reichen Trost gab? Kennst du all die vielen, denen das Wort von der Erlösung durch sein Blut die Last schwerer Schuld vom Gewissen nahm? Und weißt du, der du dich rühmst, in der alten, bewährten Lehre zu stehen, von all den dankbaren Herzen, die den Herrn liebten und denen die alten Formen eine schwere Last waren, die sie zerdrückte, und die dem Herrn erhalten wurden durch die Botschaft, daß es nur auf ihn und allein auf ihn, aber ganz auf ihn ankommt, auf welche Art er auch verkündigt werde?5 Aber nicht allein der Gegensatz von alt und neu ist es: Gott sei gedankt, es gibt noch viel mehr Lehrer und Arten der Lehre. Da sind die starken Naturen, die mit kraftvoller Begeisterung dem Herrn Jesus die Welt unterwerfen wollen6, alle Güter der Kultur, der Kunst, der Wissenschaft, alle Bewegungen des Volkslebens bewegen wollen durch seinen Geist. Da sind die stillen Naturen, die im einsamen Kämmerlein mit ihrem Gott Zwiesprache halten und hier die unerschöpfliche Quelle immer neuer Kraft und Seligkeit finden und dies als das tiefste Wesen aller Frömmigkeit verkündigen. Da sind endlich die liebes- und gemeinschaftsbedürftigen Herzen, die nicht schweigen können von der Gnade, die ihnen zuteil geworden, und mehr als andere den Willen zu gemeinsamem Glauben haben 7 . Alles ist Euer; das ist das hohe Gut, dessen sich die Sekten selbst berauben, wenn

5

Folgt gestr.: Wenn du das Auge Gottes hättest und alles wüßtest und auch die Z u k u n f t kennen würdest, so dürftest du dich rühmen, aber nicht des Lehrers, der am festesten gebaut hat, sondern Gottes, der ihm seinen Geist dazu gab, und auch dann würde es dabei bleiben: Alles ist euer, kein Glied macht das andere überflüssig.

'

Folgt gestr.: niederreißen alle Lügen, die sich erheben wider die Erkenntnis Christi, gefangenzunehmen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi, die nicht dulden wollen, daß irgendein Gebiet des Lebens, irgendeine Frage der Menschheit fernbleibe von dem Geist des Herrn. Folgt gestr.: die in brüderlicher Gemeinschaft, in gemeinsamer Erbauung und Erkenntnis sich bauen wollen zum heiligen Bau der christlichen Gemeinde.

7

4

sie um eines Lehrers, um einer Lehre, um einer Gabe willen sich ausschließen von dem Reichtum der Gaben in Lehre und Geist, die die große Gemeinde in sich birgt. Hüten wir uns, auch wenn wir keine Sekte bilden wollen, den Geist der Sekte in unser kirchliches Leben dringen zu lassen, den Geist des Hochmuts, der nur seinen Lehrer gelten läßt, und den Geist der Unfreiheit, der sich vor den anderen verschließt. Der Geist Christi spricht: Alles ist Euer. Aber Paulus bleibt nicht bei der Aufzählung der Lehrer stehen, nicht nur Paulus oder Apollos oder Kephas gehört ihnen, sondern auch die Welt, das Leben, alles Gegenwärtige. Damit beugt er einer zweiten Gefahr vor, die sich in der christlichen Gemeinde leicht einstellt. Daß sie ihr Ohr verschließt gegen alles, was außen ist, gegen alle Stimmen, die in der Welt rufen 8 . Auch die Welt hat ihre Lehrer, und wir 9 sollten Gottes Wirken nicht verachten, der auch in ihnen sein Werk treibt. Liebe Gemeinde, es gibt auch einen Unglauben gegen Gott, dem es nicht möglich ist, mit Luther zu sprechen: Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, und weiter mit Jakobus [1, 17] zu sprechen: „Alle gute und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab". Und dieses Unglaubens machen wir uns schuldig und rauben Gott die Schöpferehre, wenn wir uns verschließen gegen alles, was der Menschengeist Großes und Wahres geschaffen hat. Da tun wir ein doppeltes schweres Unrecht, gegen uns selbst und gegen die Welt. Gegen uns selbst, daß wir uns der Erkenntnis Gottes berauben, in Natur und Geist, in den Sternen des Himmels, in den Pflanzen und allen Geschöpfen und mehr noch in des Menschen Denken und Fühlen, in den Schätzen, die Gott verborgen hat in seinem Geist 10 , - so daß wir ihm nicht danken können für die Herrlichkeit seiner Schöpfung 11 , die Tiefe seiner Weisheit. Laßt uns weit unser Ohr öffnen gegen alle, die uns reden von den Tiefen, die in des Menschen Herz verborgen sind, von den Höhen, auf die des

*

Folgt gestr.: locken, angreifen und klagen. W e r will all das Elend, all die Sünde, all die Feindschaft nennen, die daraus erwachsen sind, d a ß die Christenheit ihr O h r verschlossen hat?

*

Folgt gestr.: wer wollte sagen: dal? wir Christen nichts von ihnen lernen könnten, wer wollte Gottes Wirken hemmen, von dem und durch den alle Dinge sind?

10

Folgt gestr.: daß wir uns der Erkenntnis Gottes in alledem berauben, so d a ß

11

Folgt gestr.: für die G r ö ß e , sein Ebenbild sein zu dürfen,

5

Menschen Geist sich schwingen darf, von den Kräften, die in ihm schlummern 12 . Freilich, wir wissen, daß im Herrn alle Erkenntnis beschlossen liegt, aber nur der erhält von ihm Antworten, der fragt; nur der wird von ihm gestillt, der eine heiße Sehnsucht hat, nur dem ist er der Fels, der gekämpft hat und schwach geworden ist. Darum wollen wir uns von den Lehrern der Welt, von ihren Dichtern und Denkern hinabführen lassen in die Tiefen des Menschengeistes, seines Ringens, seines Siegens und seiner Verzweiflung, damit uns 11 die Herrlichkeit Christi um so heller erstrahle. Ja, wir wollen Gott bitten, daß er uns solche Lehrer in der Welt und für die Welt schenke, die doch nicht von der Welt sind, sondern von Gott. Denn alles ist euer, das heißt nicht nur, ihr habt ein Recht an alle Stimmen in der Welt, nein, noch vielmehr, ihr habt Pflicht gegen alle. Öffnet Eure Ohren weit, um zu hören, wo Stimmen sind, die da rufen 14 , damit nicht andere kommen, die nicht im Namen Jesu hören und antworten. Wäre es möglich, daß soviel göttlicher Irrtum und soviel gottfeindliche Lüge die Welt beherrschte, wenn wir mit dem Namen des Herrn überall da geantwortet hätten, wo nun ein fremder Name regiert? Viele Götzen konnten sich nur deshalb breit machen, weil die Christenheit vergaß, Gott an ihre Stelle einzusetzen. Hat der Götze der unfehlbaren Wissenschaft nicht deshalb soviele Anbeter gefunden, weil die Christenheit ihr Ohr verschlossen hatte gegen die Stimme der wahren Wissenschaft, weil sie sich immer nur fürchtete vor ihren Ergebnissen, statt zu wissen, daß jede ihrer Erkenntnisse Gotteserkenntnis ist? 15 . Der Götze des socialen Fortschritts hätte nicht die Menschen unseres Volkes dem Herrn entrissen und zu seinen Anbetern machen können, wenn die Christenheit auf die Stimme aus der Tiefe zur rechten Zeit gehört hätte und nicht vergessen hätte: Alles ist euer, auch die sociale Frage. Soll ich noch andere Fragen unserer Tage nennen, ihr kennt sie selbst, ihr kennt die Götzen und ihre Diener. Im Namen des Herrn, mit dem Kampfesruf:

12

"

H 15

Folgt gestr.: Wissen wir das alles oder sind wir soviel klüger als die anderen? Folgt gestr.: uns umso heller erstrahle der Glanz dessen, in dem gelöst sind alle Fragen, in dem überwunden sind alle Tiefen, in dem erklommen sind alle Höhen. Ein Unrecht gegen uns ist es, wenn wir das versäumen, und ein noch größeres Unrecht gegen die anderen Folgt gestr.: um Hülfe, sei es in Irrtum und Sünde, sei es in N o t und Folgt gestr.: und weil sie es nicht wagte zu bekennen, d a ß keine Erkenntnis Wert [hat], die nicht letztlich Gotteserkenntnis ist.

6

Alles ist unser, nur unser und unseres Herrn, stürzt jene Götzen und zwingt ihre Diener zurück in den Gehorsam Christi! Nicht dadurch, daß ihr euer Ohr verschließt vor dem Fragen, vor dem Ringen und Suchen, sondern daß ihr demütig daran lernt, um dann antworten zu können. Der Geist des Herrn kann und muß allein auch hier antworten und helfen. Wir sind Streiter Christi, lassen wir uns keine Stellung im Schlachtfelde rauben. Besetzen wir jeden Hügel und jeden Fels, hinter dem sich der Feind verschanzen kann. Nur mühsam und mit Opfern werden verlorene Posten wiedererobert. Darum von vornherein ein offenes Ohr für alle Welt: alles ist unser. Alles ist unser: die Welt, das Leben, die Gegenwart. Hier müssen wir ringen mit den anderen Mächten, die darauf Anspruch erheben, aber uns gehört noch mehr, wo uns niemand folgen kann: das Zukünftige und das Tor, das dahin führt, der Tod. Uns gehört der Tod. Ein gewaltiges Wort: der Tod, dem sonst alles gehört, alle Menschen, dem selbst der Herr gehörte, aber weil er ihn überwunden hat, gehört er seinen Jüngern, ist für sie trotz aller seiner Schrekken nur der Weg zu Gott. Soweit führt uns der Apostel, um zu zeigen, ein wie törichtes Ding es ist, sich eines Lehrers zu rühmen, sich von einer Partei sich seine Freiheit über alle Dinge rauben zu lassen. Ein offenes Ohr für alle Welt. Ist das nun wirklich der endgültige Rat, den der Apostel gibt, gibt es nicht doch Dinge, vor denen wir unser Ohr verschließen müssen, müssen wir das „alles" in unserem Textwort nicht doch begrenzen und statt dessen setzen: alles, was uns hilft im Glauben und der Erkenntnis? Liebe Freunde, der Apostel schließt auch mit einem Aber, doch an einer anderen Stelle 16 , und macht keine teilweise Einschränkung, sondern eine vollständige. Er sagt darum nicht: ein Teil der Welt ist euer, ein anderer Teil nicht, sondern er sagt: Alles ist euer, ganz ohne Ausnahme, ihr aber seid Christi, ebenso ganz, ebenso ohne Einschränkung. Dadurch wird der Mensch nicht in zwei Teile zerrissen, mit dem einen Ohr hört er auf die Welt, mit dem anderen auf Christus, sondern er hört mit beiden Ohren auf die Welt. Aber im Herzen hat er den Richter, der entscheidet, was von dem Gehörten wahr ist und darum mit dem Herrn im Herzen wohnen kann, und was falsch ist und keinen Platz hat neben

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Folgt gestr.: Er sagt nicht: alles ist euer, a b e r die[s] und das Verkehrte nicht, sondern er sagt o h n e Einschränkung: alles ist euer; er macht die Einschränkung an einer anderen Stelle und nicht teilweise, sondern vollständig.

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ihm. Und wir wissen ja, wie etwas beschaffen sein muß, damit es bei ihm Platz haben kann: Es muß von Gott sein. Darum die zweite Losung: ein offenes Herz allein für Gott; ihr aber seid Christi. Jetzt brauchen wir uns nicht mehr zu fürchten, von der Menge der Stimmen verwirrt zu werden, die im Namen Christi auf uns einreden. Wir haben den Maßstab, nachdem wir die Lehre beurteilen können. Paulus hat ihn an einer anderen Stelle noch deutlicher genannt: „Niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne den heiligen Geist" [1. Kor. 1 2 , 3 ] . 1 7 Das müssen wir freilich mit allem Ernst und aller Strenge gegen uns selbst tun, so gut und einleuchtend uns auch eine Lehre erscheine, sie prüfen, ob sie wirklich bekennt: Jesus ist der Herr. Daran können wir den Wert der neuen Formen erkennen, ob sie nicht doch nur ein Gewand sind, hinter dem sich ein anderer Name verbirgt, heiße er Freiheit, die nicht Gebundenheit im Herrn ist, heiße er Persönlichkeit, die sich selbst für die Quelle der Wahrheit und Kraft hält und nicht schwach geworden ist am Kreuze Christi, heiße er Fortschritt, der über den Herrn Jesus hinaus will. Es gibt auch Lehrer, die so reden und doch den Namen des Herrn für sich in Anspruch nehmen. Da heißt es: nicht das Ohr verschließen, aber das Herz; nicht ungerecht, ohne Kenntnis Urteile anderer nachsprechen, sondern die Geister prüfen und beurteilen, denn wir sind Christi. Das ist aber auch der Maßstab, mit dem wir das Alte prüfen sollen. Die katholische Kirche hatte viel Lehren und Satzungen um Christus herum gemacht; sie hat vieles im Namen Christi gesagt, was nicht von seinem Geiste stammt. Wenn wir nicht wieder in denselben Fehler fallen wollen und uns für unfehlbar halten, so müssen wir auch die Lehre derer prüfen, die das Alte verkünden." Was keine andere Empfehlung hat als sein Alter und die Gewohnheit, ist eine Last und ein Hemmnis und kann vor Christus nicht bestehen. Und so müssen wir es mit allen Lehrern machen und uns selbst hindurchringen zu einer Lehre, die bezeugt, daß wir ein offenes Ohr haben für alle Lehrer und doch ein verschlossenes Herz gegen alles, was nicht mit dem Herrn sich verträgt. Das ist eine Aufgabe, die niemals ganz gelöst wird, die auch im Alter nicht abgeschlossen ist.

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Folgt gestr.: und niemand k a n n sagen: Verflucht sei der Herr, der den Geist hat.

"

Folgt gestr.: alles ist w a h r , was vom Herrn stammt und ihn bekennt, alles wird vergehen, w a s hindert, d a ß seine Herrlichkeit strahle. Wir sind Christi, sagt Paulus, nicht: wir sind der alten Lehre.

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2. Gott und das Absolute bei Schelling Zum Text: Hs. in: FT AH, 101:002, 2 Hefte, eingetragen unmittelbar vor dem Entwurf der phil. Dissertation „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien" (Breslau 1910). Abfassungszeit: 1910

Einleitung 1. Die Entstehung des Problems In Platens Tagebuch findet sich die Schilderung einer Erlanger Vorlesung Schellings über den Weg zu den letzten Principien alles Denkens. „Man muß", sagte Schelling, „schlechthin alles Seiende, ja ich scheue mich nicht, es auszusprechen- man muß Gott selbst verlassenAls er dies gesagt hatte, erzählt Platen, sei eine solche Todtenstille erfolgt, als hätte die Versammlung den Atem an sich gehalten. Weniger gemildert durch religiöse Scheu, mit fast blasphemischer Schärfe drückt Eduard von Hartmann, der aus seiner weitgehenden Abhängigkeit von Schelling nie einen Hehl gemacht hat, denselben Gedanken aus, wenn er sagt: „Ein selbstbewußter Gott müßte vor Verzweiflung über die Unlösbarkeit dieses Rätsels seiner von ihm ewig vorgefundenen Subsistenz wahnsinnig werden." 2 Und subjektiv bezeichnet er „die Fähigkeit vor dem Problem der grundlosen Subsistenz wie vor einem Medusenhaupt zu erstarren" als „den wahren Prüfstein metaphysischer Anlage". Wenn die Philosophie von allem einzelnen abstrahiert und alles Seiende zurückläßt, bis sie bei dem reinen Sein angekommen ist, dem „Unvordenklichen", wie Schelling es nennt, dem Urfaktum, daß 1

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Die Tagebücher des Grafen August von Platen. Aus der Handschrift des Dichters herausgegeben von Georg von Laubmann und Ludwig von Scheffler. Zweiter Band, Stuttgart 1900, S. 442. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewussten. 2. Theil: Metaphysik des Unbewussten. 10. Aufl., Leipzig o. J. (ca. 1900), S. 459.

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etwas ist, daß nicht nichts ist, so liegt derselbe Abgrund vor ihr, in den der Theologe hinabblickt, wenn er mit dem Begriff der göttlichen Aseität dem regressus causalitatis ad infinitum Halt gebietet. Aber auch diese Schranke der Schule durchbrach die geniale Urkraft des Görlitzer Theosophen [Jakob Böhme], die deutlich sah, daß in Gott selbst ein Grund seiner Existenz sein muß, der nicht ihm gleich ist; denn sonst hätte Gott kein „anderes", an dem er offenbar werden könnte. Die Philosophie beginnt mit dem Absoluten; will sie der existierenden Welt gerecht werden, so muß sie hinaufsteigen zu Gott als dem „Herrn des Seins" (II, 4, 38 3 ). Die Theologie beginnt mit Gott; will sie den Grund aller Existenz aufdecken, so muß sie hinabsteigen in die Tiefe des göttlichen Wesens, [zu] seinem „Herrschersitz". Götzendienst mag es heißen, wenn der Philosoph dem Absoluten Gottes Würde erteilt, nur zu einem relativen Henotheismus, nicht zum absoluten Monotheismus kann der Theologe gelangen, wenn er Gott nicht als den erkennt, „der das Seiende ist", wenn er in ihm nur ein Seiendes sieht, ein „Einzelwesen", „das nicht durch sich selbst, sondern nur insofern absolut ist, als man über ihm kein Höheres weiß (1,1, 309, Anm.). Und wenn die Philosophie eine Freiheitslehre braucht, um das Faktum der Welt, d.h. des Abfalls von der Idee zu erklären, und darum das „Notwendige in Gott" in die Freiheit des Geistes verklären muß, so braucht die Theologie eine Notwendigkeitslehre, damit die Natur nicht ein zweiter Gott werde, der nur zu bald den ersten verdrängt. Weil der Deismus und der ihm verwandte Theismus keine Natur in Gott kannte, zeugte er den Naturalismus. Wer endlich vor diesem sich auf den Glauben Jesu und die Gemeinschaft mit ihm und seinem Gott wie auf eine Insel zurückzieht, der soll nicht vergessen, daß das Christentum seinen universalen Charakter durchgesetzt hat, weil es sich bewußt war, daß es „zu seiner Vorraussetzung keine anderen Verhältnisse hat, als durch welche auch die Welt besteht" (I, 10, 409), und daß die moderne Entwicklung dieses Wort Schellings gerechtfertigt hat; der Verzicht der Theologie auf den Begriff des Absoluten hat die Leugnung der Absolutheit des Christentums durch die Theologie nach sich gezogen. Es ist wunderbar, wie Schellings divinatorischer Geist in der Frömmigkeit gerade Schleiermachers diese Gefahr sah: In der Recension der Schleiermacherschen „Weihnachtsfeier" redet er den

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Schelling, F . W . J . : Sämmtliche W e r k e . Erste Abtheilung, Stuttgart 1 8 5 6 - 1 8 6 1 (= I). Zweite Abtheilung, Stuttgart 1 8 5 6 - 1 8 5 8 (= II).

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„Religionsverächtern" das Wort und nimmt die Tatsache eines negierenden Geistes dieser Art als Beweis für die „Nicht-Universalität" dieser Frömmigkeit in Anspruch (I, 7, 498-510). Um die Welt zu erklären, muß der Philosoph Gott über das Absolute erheben. Um die Welt zu erklären, muß der Theologe das Absolute zur Basis der Gottheit Gottes machen. Es ist klar: diese Problemstellung ist zugleich die koncentrierteste Fassung des Problems Theologie und Philosophie oder [des Problems] „die Absolutheit des Christentums". Das Problem in dieser Formulierung klar erkannt und mit allen Mitteln seiner philosophischen Genialität durchgeführt zu haben, ist Schellings Bedeutung für die theologische Debatte der Gegenwart. 2. Historische Orientierung Die Problemstellung läßt zunächst zwei entgegengesetzte Antworten zu. Gott und das Absolute werden entweder identificiert oder völlig getrennt; die Identifikation kann wieder eine doppelte sein: Entweder Gott wird unmittelbar mit dem Absoluten identificiert oder das Absolute mit Gott. Daraus folgen drei verschiedene Stellungen: Spinoza und Leibniz einerseits, Jacobi andrerseits. Daß dies die Art ist, in der Schelling sich selbst orientiert hat, geht daraus deutlich hervor, daß er seine Stellung am schärfsten in der Streitschrift gegen Jacobi 4 , der ihn des Spinocismus beschuldigt, zum Ausdruck bringt und zwar in der Form eines Kampfes nach beiden Seiten. Und was Leibniz betrifft, so sieht Schelling in der „falschen Abhängigkeit", in der der Begriff des Absoluten „von der Idee Gottes gehalten wurde", den „Knoten der ehemaligen" (Leibniz-Wolffschen) „Metaphysik, der nur dadurch aufzulösen ist, daß beide Begriffe getrennt gehalten werden" (II, 3 , 1 6 8 ) . Den Knoten hat Kant aufgelöst; bei ihm stehen der Begriff „des notwendig Existierenden" und „des höchsten Wesens" als notwendige Vernunftbegriffe unvermittelt „nebeneinander" (168); das ist seine Übergangsstellung. Principiell gemacht hat die Trennung erst die Glaubens- und Gefühlsphilosophie Jacobis, nach der die Wissenschaft ein Interesse daran hat, daß kein Gott sei und der Glaube einen Gott, der erkannt werden könnte, für keinen Gott erklärte. Ist Spinozas Stellung Pantheismus, Leibnizens [Stel*

F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich J a c o b i und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden Lüge redenden Atheismus (I, 8 , 1 9 - 1 3 6 ) .

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lung] Theismus, so verteilt Jacobi Theismus und Pantheismus auf Wissen und Glauben; demgegenüber sucht Schelling die Synthese in einem Monotheismus, der den Pantheismus zur Basis und den Theismus zum Ziel hat. Die eingehendere Auseinandersetzung der genannten Standpunkte, soweit sie Schelling geleistet hat, fällt in die Darstellung selbst. Dasselbe gilt von Fichtes Philosophie, mit der Schellings erster Standpunkt identisch ist. 3. Gang der Untersuchung Schellings Philosophie ist die Geschichte seiner philosophischen Entwicklung; das gilt in hervorragendem Maße für unser Problem, das geradezu den Leitfaden der Entwicklung bildet. Eine andere als historisch-genetische Darstellung ist darum im allgemeinen ausgeschlossen. Für gewöhnlich unterscheidet man fünf oder sechs Perioden. Im Sinne einer Gleichordnung ist das aber falsch. In diesem Sinne gibt es nur zwei Hauptabschnitte, die durch die Freiheitslehre von 1809 getrennt sind; mit ihr beginnt - zwar nicht ohne Vermittlungen, aber doch deutlich genug - die eigentlich religiöse Periode. Schelling ist, wie Fichte, von Kant ausgegangen. Seine Philosophie ist die „zweite Tochter der kritischen Philosophie", und sie hat ihre Mutter nie verleugnet. Die Fragestellung bleibt von Anfang bis zu Ende kritisch: Wie muß das Objekt beschaffen sein, damit es Gegenstand des Wissens sein kann? Alle Behauptungen Schellings sind Antworten auf diese Frage, die auf die verschiedenartigsten Gegenstände angewandt wird. Darum muß an diesem Kanon die grundlegende Orientierung über die verschiedenen Perioden und Epochen stattfinden; auf erkenntnistheoretischer Basis erwächst Schelling auch das Gottesproblem, und das ist das Eigenartige und Bedeutende allen früheren Versuchen gegenüber; der erste Teil wird also die erkenntnistheoretische Wurzel aller Lösungen zum Gegenstand haben müssen und damit zugleich der allgemeinen Betrachtung der Entwicklung Schellings dienen; erst an zweiter Stelle kann dann die Durchführung in den metaphysischen Centraiproblemen gezeigt werden. Endlich ist es unumgänglich, die Bedeutung unseres Problems an der Gestaltung der abhängigen Problemgebiete nachzuweisen, soweit ein direkter Einfluß deutlich erkennbar ist. Schelling ist eben darum so außerordentlich lehrreich, weil er die ganze Fülle seines geistigen Besitzes immer wieder unter den verschiedenen Gesichtspunkten seiner neu gewonnenen Principien durchgearbeitet hat.

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I. Erkenntnistheoretische Grundlegung A. Die Gotteserkenntnis als Selbsterkenntnis des Absoluten 1. Die Gotteserkenntnis als Selbsterfassung des Ich Wie kann das Subjekt an das Objekt so herankommen, daß Wissen entsteht? Dieses Grundproblem der Erkenntnistheorie hat Kant mit dem Nachweis der Idealität der Erfahrungsobjekte beantwortet. Der Beschränkung der Subjektivität auf die Form der Erfahrung durch die Kantianer, die bei Kant schon durch die Lehre von der Synthesis der Einbildungskraft in der Anschauung überwunden war, wurde von Fichte durch die Zurückfiihrung sämtlicher Funktionen auf das Ich als Princip der Erkenntnis der letzte Grund genommen. Im Ich ist die geforderte Einheit von Subjekt und Objekt gegeben; nur das Ich kann Princip des Wissens sein. Freilich nicht das individuelle Ich, sondern das Ichhafte, das allem Indviduellen zu Grunde liegt, Kants Bewußtsein überhaupt, das absolute Ich. - Eine andere Linie führt von der Kritik der praktischen Vernunft zu demselben Resultat. Kant hatte hier den Primat des Willens verkündigt5 und in der intelligiblen Freiheit das Wesen der transcendenten Welt gesetzt. Damit ist in der Freiheit, im ursprünglichen Willensakt, das Unbedingte gefunden, das alles andere bedingt: das Ich ist ursprüngliche Tat. Das ist nach Schelling die kopernikanische Tat Kants, daß er zeigte, das Unbedingte kann nicht im Reich des Bedingten, des Objektiven zu finden sein, auch nicht in einem Gott, der Objekt der Erkenntnis wäre. Ein absolutes Objekt vernichtet das Subjekt und die Freiheit. Das Unbedingte ist aber allein die Freiheit. Das Absolute ist Freiheit, und nur im Akt der Freiheit ist es zu erkennen. Gott wird erkannt, insofern er realisiert wird, und er ist realisiert, wo Freiheit ist. Sehr wichtig zum Verständnis ist eine Äußerung Schellings über die Postulate der praktischen Vernunft. Er wirft den Kantianern vor, daß sie „unter dem praktischen Postulat der Existenz Gottes nicht die Forderung" verstehen, „die Idee von Gott praktisch zu realisieren, sondern nur die Forderung, zum Behuf des moralischen Fortschritts ... das Dasein Gottes theoretisch ... anzunehmen und also objektiv vorauszusetzen" (I, 1, 333 Anm.). Das ist Rückfall in den

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Folgt gestr.: , der zwar Vernunft ist, aber nie Gegenstand des theoretischen Erkennens werden kann, sondern in Freiheit schafft.

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Dogmatismus 6 . Es gibt keine Gotteserkenntnis, wenn Gott von uns geschieden, Objekt ist. Gotteserkenntnis ist Selbsterkenntnis, denn Gott ist das absolute Ich, das unbedingte Princip des Wissens als Einheit von Subjekt und Objekt. Es ist deutlich, daß bei dieser Begründung des Begriffs des Absoluten eine Anwendung des Gottesbegriffs nur in Form der Identificierung mit dem Absoluten stattfinden konnte. Ein erkenntnistheoretisches Motiv, etwa nach Analogie der Spaltung des absoluten Ich in viele individuelle, Gott als ein überragendes Einzelich zu fassen, lag nirgends vor; auch fehlte der Begriff, der eine derartige Unterscheidung ermöglicht hätte, ohne Gott gänzlich seiner Absolutheit zu entkleiden: die Natur. 2. Die Gotteserkenntnis als Selbsterfassung der Natur Die Naturphilosophie hat diesen Schritt getan, und darin besteht ihre weit über die Einzelausführung der naturphilosophischen Probleme hinausragende Bedeutung. Wie in der Philosophie der Renaissance die Hinwendung zur Natur den Durchbruch in das „freie Feld objektiver Wissenschaft" bedeutete, so erhob die kritische Philosophie sich mittelst der Naturphilosophie aus dem rein erkenntnistheoretischen Formalismus, ohne doch ihre kritischen Voraussetzungen aufzugeben. Und wie in der Philosophie der Renaissance die Naturphilosophie in Bruno zu einem ästhetisch-optimistischen Monismus und in Böhme zu einer mystischen Synthese von Pantheismus und Theismus führte, so hat Schelling diese beiden Möglichkeiten nacheinander auf Kantscher Basis durchgeführt. Wie endlich die stoische Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos der Renaissance den Hebel ihrer Naturbetrachtung gab und die alt-mystische Analogie des menschlichen und göttlichen Innenlebens die Theosophie schuf, so begründete Schelling nacheinander die Lehre von der Selbsterkenntnis der Natur im Menschen und der Erkenntnis Gottes durch die Selbsterkenntnis des Menschen mit den Mitteln des erkenntnistheoretischen Idealismus. Daß Schelling das naturphilosophische Problem als ein kritisches betrachtete, hat er deutlich genug ausgesprochen: „wir wissen nur das Selbsthervorgebrachte, das Wissen im strengsten Sinne des Wortes ist also ein reines Wissen a priori" (I, 3,

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Folgt gestr.: u n d wird an a n d e r e r Stelle als jämmerliche „ B e d ü r f n i s " - T h e o l o gie (S. 3 0 9 , Spinocismus)

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276). Um den Schein eines Gegensatzes gegen die Erfahrung abzuwehren, heißt es: „Nicht also wir erkennen die Natur, sondern die Natur ist a priori" (1,3,279). „Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie)" (I, 3, 284). Und diese natura naturans ist das Absolute, das nur erkannt wird, wenn wir uns mithineinstellen in das Triebwerk seiner Tätigkeit. Darum gibt es Naturerkenntnis, weil die Natur als unbewußte Intelligenz „hellsehend" nur schafft nach der Idee der bewußten Intelligenz, die sie im Menschen erreicht: „Herauf zu des Gedankens Jugendkraft, wodurch Natur verjüngt sich wiederschafft" (1,4,548). Welche Bedeutung diese Naturerfassung für die Überwindung des rationalen Supranaturalismus hat, wird an anderer Stelle erörtert werden; hiermit soll nur gezeigt sein, daß die Naturphilosophie in ihrer ersten Konception dem religiösen Problem noch so fern wie möglich stand, d.h. die Identifikation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis vollständig war. Einzig die Unterscheidung von natura naturans und naturata (die übrigens nicht der Spinozistischen gleichgestellt werden darf) enthält den Keim zu weiteren Entwicklungen in sich: Die natura naturata, das bloße Naturprodukt liegt jenseits der Grenze des Wissens. Wie ist es zu erklären? 3. Die Gotteserkenntnis als Selbsterfassung der Indifferenz Je selbständiger die Naturphilosophie gegenüber der Transscendentalphilosophie wurde, desto stärker wurde die Notwendigkeit einer einheitlichen Begründung beider (Seiten des Wissens). Das Princip der Identität oder Indifferenz (die Ausdrücke wechseln fortwährend) ist nicht zu verstehen, wenn es etwa auf ein monistisches Bedürfnis, den Dualismus von Geist und Materie zu vermitteln, zurückgeführt wird. Ein solches Bedürfnis hätte die Naturphilosophie schon vollständig befriedigt. Die Identität ist ein durchaus erkenntnistheoretisches Princip; es ist aber auch keineswegs logisch zu deuten etwa als eine metaphysische Projektion des Satzes der Identität. Die Identität Schellings ist Identität von Subjekt und Objekt, Wissendem und Gewußtem, Ideellem und Reellem, in der Idee des objektiven Wissens oder der Vernunft. Schelling hat sich seine neugewonnene Stellung im Gegensatz zu Fichte zu deutlichem Bewußtsein gebracht. Die Polemik gegen ihn durchzieht alle Schriften

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dieser Periode. Er wirft ihm vor, den Standpunkt der Identität dadurch verfälscht zu haben, daß er das absolute Ich nicht principiell vom empirischen losgerissen habe und darum nie aus der Subjektivitätsphilosophie herausgekommen sei. Das empirische Ich sei nur eine Seite des Gegensatzes, ein relativer Indifferenzpunkt, wie auch die Natur ein solcher ist, aber nicht der absolute, wo der Gegensatz von Subjekt und Objekt nicht im Subjekt und nicht im Objekt, sondern im absoluten Subjekt-Objekt aufgehoben ist. „ D a s absolute Bewußtsein ... nur durch das Medium des im empirischen Bewußtsein vorkommenden reinen Bewußtseins sehen, heißt... jene allgemeine Einheit des Endlichen und Unendlichen auf einen einzelnen Fall einschränken" (1,4, 354). Allerdings einen besonderen Fall: denn mit ihm ist „das eigentliche Princip der Sünde, die Ichheit, zum Princip der Philosophie gemacht" (I, 7, 26). Damit ist der entscheidende Schritt getan, durch den das Absolute in seinem reinen Wesen unterschieden wird von der existierenden Welt, einschließlich des Ich. Schon in der grundlegenden Darstellung von 1801 unterscheidet er das Wesen, „sofern es existiert und sofern es Grund von Existenz ist" (I, 4 , 1 4 6 ) 7 . Die Erkenntnis des Absoluten, welches zugleich die einzige wahre Erkenntnis ist, hat sich über alle Reflexion, die am einzelnen, vergänglichen, differenten Ding haftet, zu erheben zu der intellektuellen Anschauung, in der Subjekt und Objekt identisch sind, in der die Vernunft sich selbst erkennt. Das Organ der Gotteserkenntnis ist die intellektuelle Anschauung, die völlig loslöst vom eignen Ich und Teilnahme verschafft an der Seligkeit der göttlichen Selbsterkenntnis. Auch hier ist Gott identisch mit dem Absoluten, aber das Absolute ist nicht mehr identisch mit der Welt. Auch hier ist Gotteserkenntnis Selbsterkenntnis, aber nicht mehr Selbsterkenntnis des Ich, auch nicht mehr Selbsterkenntnis der Natur, sondern Selbsterkenntnis der absoluten Indifferenz, an der teilzunehmen nur in den Momenten möglich ist, wo Natur und Ich dahinten gelassen sind. Aber sie sind da und machen immer wieder ihre Herrschaft geltend. Wie sind sie zu erklären? Mit verstärkter Macht kehrt die Frage zurück.

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Schelling: „Denn A und B als seyend in dem primum Existens und als immanenter Grund der Realität desselben sind Attraktiv- und E x p a n s i v k r a f t " (I, 4, 146).

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4. Übergänge a. Das göttliche und das natürliche Princip der Dinge „Die Trennung aber der beiden Welten, jener, welche das ganze Wesen des Absoluten im Endlichen, und jener, welche es im Unendlichen ausdrückt, ist auch die des göttlichen von dem natürlichen Princip der Dinge" (I, 4, 305). Hier liegt offenbar eine Unterscheidung von dem Absoluten und dem göttlichen Princip der Dinge vor. Aber diese Unterscheidung ist ein Schein, den die Philosophie zerstören muß. Weder das Endliche noch das Unendliche hat in der Trennung ein Recht; ihre Einheit im Absoluten zu sehen, ist allein Wahrheit. Erst als auf ganz anderem Wege die Möglichkeit realer Gegensätze im Absoluten erkannt war, wurde die Unterscheidung bedeutungsvoll; und das göttliche und das natürliche Princip kehren als die beiden Potenzen wieder, die in Spannung liegen. Wichtig ist dieser Übergang außerdem geworden durch die gleichzeitige historische Konstruktion des Christentums, in der das Göttliche oder Unendliche als das Princip der Geschichte gefaßt wurde. b. Die Idee als Gegenstand der absoluten Selbsterfassung Im Lauf der Entwicklung des Identitätsstandpunktes traten die Momente deutlich hervor, die seine Überwindung vorbereiteten. Rein erkenntnistheoretisch war es die Überführung der Potenzen in die Ideenlehre, die den Umschwung ermöglichte. Die Potenzen waren ursprünglich die Grade des Übergewichtes des ideellen oder reellen Faktors in der existierenden Welt; sie waren die Formen, in denen 8 die Indifferenz aktuell im Universum wirkte. Die Anschauung der jeweiligen Potenz der Indifferenz in den Dingen ist die Erkenntnis des actu existierenden Gottes. Aber warum die Potenzen sich wieder in einzelnen Dingen darstellten, das war so nicht zu erklären; die fortschreitende Herabsetzung der Erscheinungswelt hob Potenzen zu dem Rang von Ideen empor, in denen Gott sich selbst anschaut, die aber in- und miteinander sind und nicht wie die erscheinenden Dinge neben- und außereinander. Aber' von der Idee zur Wirklichkeit „gibt es keinen stetigen Übergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung denkbar" (I, 6, 38).

» Hs.: der

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c. Die Freiheit als Grenze der absoluten Selbsterfassung Es ist wichtig zu betonen, daß auch dieser Übergang aus einer erkenntnistheoretischen Fragestellung hervorgegangen ist. Schelling hat die Ausführung des Gedankens, daß nur durch einen Akt der Freiheit der Sprung vom Absoluten in die Sinnenwelt möglich sei, als Antwort auf eine Schrift Eschenmayers erscheinen lassen, in der dieser das Problem des Abfalls von der Idee für die Philosophie unlösbar der Religion überlassen will; dagegen lehnt sich Schelling auf, mit dem Zugeständnis, daß freilich die Philosophie „zu den erscheinenden Dingen ein bloß negatives Verhältnis" (I, 6 , 38) hat, daß sie aber das höchste Princip aller Erscheinung, die Ichheit, die nichts ist als ihre eigne Tat, besitzt. Sie kann darum die Möglichkeit des Abfalls der Ideen vom Absoluten nachweisen, die Wirklichkeit ist freie Tat. Daß die Ideen, in denen Gott sich selbst erkennt, Freiheit haben müssen, wie er selbst, ist mit der göttlichen Selbsterfassung in ihnen gegeben; daß sie diese Freiheit zu eigner Selbsterfassung und damit zur Trennung vom Absoluten benutzen, ist Grenze der intellektuellen Anschauung, ist irrational. In der Freiheit glaubte Schelling am Anfang seiner ersten Periode das Einheitsprincip gefunden zu haben, in der Freiheit fand er am Ende derselben Periode das Princip der Trennung - auch von Gott und dem Absoluten. B. Die Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis der geschichtlichen Persönlichkeit 1. Die Gotteserkenntnis durch spekulative Psychologie Wer unter dem Eindruck der Hauptschriften des Identitätssystems in die Lektüre der Freiheitslehre eintritt, ist vollkommen überrascht von dem formellen und inhaltlichen Gegensatz; es bedarf eingehenden Studiums, ehe dieser Eindruck auf das richtige Maß zurückgebracht ist und die Linien, die von der ersten zur zweiten Periode führen, wieder deutlich hervortreten. Die erkenntnistheoretische Linie war bis zu dem Punkt gezogen worden, wo die existierende Welt aus einem irrationalen Willensakt abgeleitet wird; es waren zunächst nur die Ideen, die sich in Freiheit vom Absoluten lösen; aber die Freiheit, die sie hatten, war ihnen ja vom Absoluten gegeben, mit dem sie wesensidentisch sein sollten. Eine tiefere Durchführung des irrationalen Princips mußte dazu fortgehen, im Absoluten

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selbst ein irrationales Princip zu unterscheiden. Die Freiheitslehre tat diesen Schritt: Aus dem indifferenten Grunde erhebt sich der dunkle Wille und scheidet sich von der Idee, um im kosmogonischen Proceß von ihr wieder zum Grund, zur Basis gemacht zu werden; im Menschen ist das Ziel erreicht, aber das Selbstische, der Wille, die Naturgrundlage hat die Freiheit, sich wieder zu erheben: der Mensch kann seine Herrscherstellung dazu mißbrauchen, um sich selbst zu verherrlichen; damit aber verliert er die Herrschaft über den Grund, und dieser bricht hervor als Princip des Bösen. Diese Andeutungen genügen, um die Umbildung der Erkenntnistheorie verständlich zu machen. „Gotteserkenntnis durch spekulative Psychologie" ist dieser Abschnitt überschrieben. Zunächst bedarf das „durch" im Unterschiede von dem „als" der ersten Periode der Rechtfertigung. Die intellektuelle Anschauung - das muß immer wieder betont werden - ist nicht die mystische Anschauung, die der Mensch von Gott als etwas von ihm Geschiedenes hat, sondern es ist die Selbsterkenntnis des Absoluten, die reale Einheit von Subjekt und Objekt, welche das Wesen des Absoluten ausmacht. Und diese Einheit ist in allen Fällen die gleiche: die intellektuelle Anschauung ist ein völliges Übersteigen jeder Eigenheit. Das ist die unmittelbare Folge des erkenntnistheoretischen Grundprincips. Jetzt ist die Wirklichkeit aus einer Spannung, aus einem realen Widerstreit der in der Indifferenz vereinigten Potenzen abgeleitet; die Seligkeit der intellektuellen Anschauung ist durch einen irrationalen Willensakt gestört. Die Indifferenz kann sich nicht mehr anschauen, denn sie ist nicht mehr da. Zur Selbstanschauung kann sie erst kommen, wo sie wiederhergestellt ist, im Menschen; aber diese Wiederherstellung ist nicht eine einfache Zurücknahme des Processes; es ist Selbstheit, Kreatur entstanden: der Zustand der dunklen Unentschiedenheit ist verklärt zur Herrschaft des Geistes. Auf der Basis der im Menschen überwundenen Natur tront die Gottheit als Persönlichkeit. „Durch" Selbsterkenntnis kommt der Mensch zur Gotteserkenntnis: Gott hat eine Selbstheit, einen Grund, der ihn zum Einzelwesen macht und anderen Einzelwesen gegenüberstellt. Höchst charakteristisch dafür ist, daß Schelling jetzt den Verstand als das Organ der Gotteserkenntnis bestimmt; die Vernunft ist Organ für das Negative, die Substanz: „Wäre das unmittelbare Wissen der Vernunft ein Wissen Gottes, so könnte Gott auch nur das unmittelbar Seiende, das heißt er könnte nur Substanz sein" (I, 10, 174). Aber Gott ist etwas Positives, Persönlichkeit, und die Vernunft

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„soll gerade das Unpersönliche sein" (173). Das Organ für das Positive, Persönliche, mit dem nur ein empirisches Verhältnis stattfinden kann, ist aber der Verstand (173). Ihm gebührt „in der Philosophie die erste Stelle" (173). Die Vernunft gehört dem Volk, der Verstand allein unterscheidet den König (254). Aber: durch „Selbsterkenntnis" kommt der Mensch zur Gotteserkenntnis, denn in ihm ist ja die Wiederherstellung der Einheit gegeben: die Erkenntnistheorie wird zur Psychologie, aber weil die idealistische Grundbedingung in Kraft bleibt, zur spekulativen. Der Vorgang ist wichtig genug, um noch einer näheren Betrachtung unterzogen zu werden: die Erkenntnistheorie hat es mit den konstanten Faktoren, welche die Erfahrung bedingen, zu tun. Jeder dieser Faktoren ist eindeutig, unter allen Umständen gleichartig und notwendig. Als Bedingungen von Objekten überhaupt sind sie zugleich die notwendigen Faktoren aller Wirklichkeit, die aus ihnen a priori abgeleitet werden kann. Jetzt tritt der Wille und damit das zweideutige, sich selbst ungleichartige, freie Princip in den Gesichtskreis: dem rationalen Aphorismus ist damit ein Ende gemacht. Schon früh hatte Schelling gesehen, daß eine Konstruktion der Geschichte a priori nicht möglich ist. Was durch Freiheit bestimmt ist, kann nur a posteriori erkannt werden. Denn Freiheit ist das Irrationale, nicht, wie bei Fichte, die praktische Vernunft. Die Gotteserkenntnis ist also Geschichtserkenntnis, nicht, wie vorher, Naturerkenntnis. Der grundlegende und typische geschichtliche Vorgang ist nun die Persönlichkeit selbst. Die Persönlichkeit ist kein Naturwesen, sondern ein geschichtlicher Vorgang; das ruhende Subjekt-Objekt der Naturphilosophie ist in einer inneren Spannung begriffen; die Persönlichkeit ist zusammengesetzt aus einem dunklen, irrationalen Grunde und dem Idealen9, das den Grund in einem fortwährenden Ringen zu unterwerfen sucht; einen Prozeß fortschreitender Bewußtwerdung nennt Schelling diesen Vorgang, der das Wesen der Persönlichkeit ausmacht. Die Analyse der Elemente der Persönlichkeit und die Beobachtung ihrer Verhältnisse ergibt die geforderte Psychologie. „Alles, schlechthin alles, auch das von Natur Äußerliche, muß uns zuvor innerlich geworden sein, ehe wir es äußerlich oder objektiv darstellen können ... Es muß auf jenes Innerste seines Wesens zurückgeführt worden sein, das für ihn gleichsam der lebendige Zeuge aller Wahrheit ist" (I, 8, 202). - „Gewiß

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Übei gestr.: Geist

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ist, daß, wer die Geschichte des eignen Lebens von Grund aus schreiben könnte, damit auch die Geschichte des Weltalls in einen kurzen Inbegriff gefaßt hätte" (I, 8, 207). Diese Psychologie ist empirisch, insofern sie auf Beobachtung beruht, spekulativ, insofern sie nach der idealistischen Grundvoraussetzung ihre Resultate unmittelbar auf die Welt- und Gotteserkenntnis anwendet. Das Resultat ist starker bewußter Anthropomorphismus. Gott ist „was er sein will. Also muß ich erst seinen Willen zu erforschen suchen; nicht aber ihm zum voraus wehren zu sein, was er will" (I, 8,168). „Wenn er selbst herabsteigt von jener Höhe und sich mit der Kreatur gemein macht, warum sollte ich ihn mit Gewalt auf dieser Höhe erhalten wollen?" „Wenn er nun aber menschlich sein wollte, wer ... dürfte etwas dagegen einwenden?" (I, 8, 168). Die Indifferenz ist jene Höhe, von der Gott herabsteigen muß, um zugänglich zu werden. Die Absolutheit ist die Tiefe, aus der sich das Licht des Geistes erheben muß, damit ein Gott sein kann, der in Freiheit erkannt wird von freien Persönlichkeiten.

2. Die Gotteserkenntnis durch spekulative Religionsgeschichte a. Die Erkenntnis der Theogonie durch die Religionsgeschichte Die Persönlichkeit ist ein Proceß, auch Gottes Persönlichkeit. Die Psychologie erkennt die Elemente dieses Processes, die Religionsgeschichte ihn selber. Die Religionsgeschichte ist der Proceß, durch den Gott fortschreitend personalisiert wird. Die Gotteserkenntnis ist spekulative Religionsgeschichte. Der Ausführung dieses Gedankens hat Schelling den größten Teil seines Lebens gewidmet, ohne doch seit der Freiheitslehre eigentlich neue Konceptionen gewonnen zu haben. Auch die Scheidung der Philosophie in rationale oder negative und positive ist in der Freiheitslehre völlig vorbereitet. Die negative Philosophie ist nichts als die spekulative Psychologie der Freiheitslehre, wenn auch Schelling versucht hat, diese Tatsache durch die abstrakt logische Entwicklung des Seins-Begriffes zu verhüllen; aber das Sein-Könnende, die erste Potenz des Seins, ist nichts als der Wille der Freiheitslehre. Und die Methode, nach der die Potenzen des Absoluten entwickelt werden, nennt Schelling selbst empirisch, nämlich Empirie des reinen Denkens, das die Möglichkeit entwickelt, während die Empirie der Geschichte die Wirklichkeit zeigt. Ist diese Erklärung der negativen Philosophie richtig, so bedeu-

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tet sie sachlich keinen Rückfall Schellings in einen überwundenen Standpunkt, sondern ist nichts als die Explikation der Freiheitslehre in der Richtung auf die psychologischen Grundmomente der Spekulation. (Anmerkung: Durch die Einkleidung seiner Gedanken in die dialektische Form hat Schelling sich selbst diesen Tatbestand verdunkelt und die Auslegung in falsche Bahnen gelenkt. Die Zurückführung der negativen Philosophie auf die spekulative Psychologie der Freiheitslehre erklärt sie dagegen im Zusammenhang der Schellingschen Gesamtentwicklung aufs beste.) Die negative Theologie zeigt, daß im Absoluten die Potenzen liegen, die, in Spannung geraten, zur Personalisierung Gottes führen; sie gewinnt diese Erkenntnis tatsächlich aus der eignen Persönlichkeit, und ihr Resultat ist darum die göttliche Persönlichkeit. Die positive Philosophie zeigt aus der Beobachtung des Faktums der Welt und der Geschichte der Religionen, daß die im Absoluten erkannte Möglichkeit, sich zur Persönlichkeit zu entwickeln, Wirklichkeit geworden ist. Sie nimmt zu diesem Zweck einfach das Faktum der Religionen und sucht es zu erklären. Die Momente, aus denen sich die Erklärung zusammensetzen muß, liefert die spekulative Psychologie; aus der Geschichte der Religionen muß erkannt werden, daß und wie diese Potenzen in Wirksamkeit getreten sind. Der kosmogonische und der religionsgeschichtliche Proceß sind Momente des theogonischen. b. Philosophische, theologische und religiöse Gotteserkenntnis '"Solange Gott gleich dem Absoluten war, war Gotteserkenntnis intellektuelle Anschauung und Religion Handeln in Einheit mit dem Absoluten. Die Theologie hatte nur ein Recht als spekulative Konstruktion der Dogmen. Wirkliche Probleme konnten in dieser Hinsicht erst entstehen, als die Loslösung des Gottesbegriffes vom Absoluten erfolgt war. In der Philosophie der Offenbarung hat sich Schelling eingehend darüber ausgesprochen. Er wehrt sich dagegen, daß seine Philosophie der Offenbarung mit einer Dogmatik verwechselt werde. „Ich erkläre übrigens noch ausdrücklich, daß es nicht um 10

Vor gestr.: Es ist notwendig, zum Schluß das Verhältnis von philosophischer, theologischer und religiöser Gotteserkenntnis zu betrachten. Erst in diesem Abschnitt ist diese Frage möglich. Schelling hat sich deutlich d a r ü b e r ausgesprochen.

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einen Erweis, sondern nur um die Erklärung des Christentums zu tun ist, das wir als Tatsache voraussetzen ... Vom Christentum als Lehre ist eigentlich nicht die Rede" (II, 4, 34). Die Tatsache des Christentums ist aber die Christi, wie er im Neuen Testament verkündigt ist. Davon ist scharf zu unterscheiden die Dogmatik, die sich nach der jeweiligen Zeitphilosophie richtete (31) und auch jetzt mit den Mitteln der gegenwärtigen Philosophie erarbeitet werden muß. Will nun Schelling diese Dogmatik geben? Offenbar nicht, wenn er sagt, er wolle „keine eigentliche Lehre aufstellen, etwa eine spekulative Dogmatik" (30). Wenn er nun in der Folge doch in eingehende Auseinandersetzung der christlichen Centraidogmen eintritt, so muß hierin die Trübung eines klaren Gedankens durch eine unklare Terminologie gesehen werden. (Das bei Schelling sonst kaum vorkommende Wort „eigentlich", dieser Terminus der Unklarheit, macht es von vornherein wahrscheinlich.) Die Lehre, die er nicht geben will und nicht geben kann, ist das, was Glaubenslehre genannt werden muß, die Explikation „der Tatsache der Person Christi" ohne den Versuch, sie „mit unserer anderweitigen Erkenntnis natürlicher, göttlicher und menschlicher Dinge in Zusammenhang" (II, 4 , 1 7 ) zu bringen. Diese Aufgabe leistet die Philosophie, und in Bezug auf diese ihre Aufgabe fragt Schelling: „Von welcher Art muß die Philosophie sein, um auch das Christentum in sich aufnehmen und begreifen zu können?" (II, 4, 34). Nicht umgekehrt darf die Frage gestellt werden. - Schelling hat sich in diesen Zusammenhängen auch über die Frage nach dem Verhältnis des Glaubens zum Wissen geäußert. Das letzte Ziel der Wissenschaft ist das „absolut Erstaunenswerte" (II, 4 , 1 3 ) ; ehe dieser Endpunkt nicht erreicht ist, hat die Wissenschaft keine Ruhe, ist er aber erreicht, so erfordert dies Außerordentliche, soll es als wirklich angenommen und innerlich aufgenommen werden, den höchsten Glaubensmut. Das „absolut Erstaunenswerte" ist aber Christus. Wenn Schelling an anderer Stelle (I, 4, 406) Glauben und Wissen wie Bejahung der Wirklichkeit und Erkenntnis der Möglichkeit unterscheidet, so ist hier „Möglichkeit" nicht im Sinne einer rationalen, sondern im Sinne der positiven Philosophie zu verstehen, nämlich als Fähigkeit, die Tatsache des Christentums zu erfassen im Zusammenhang des universalen kosmound theogonischen Processes. Denn das Kriterium der Möglichkeit ist nach obigem Citat nirgends anders herzunehmen als aus dem Christentum selbst. „Der Glaube bleibt so etwas ganz für sich, unabhängig von aller Wissenschaft ..., das Persönlichste, in das als

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innerstes Heiligtum menschlicher Freiheit nichts von außen, auch nicht die Wissenschaft, eingreift" (I, 10, 406). „Hierin ist jeder dem anderen gleich und der Wissende wie der Unwissende". - Glaube Theologie - Philosophie: das ist das normale Verhältnis: der Glaube bejaht aus Erfahrung heraus die „absolut erstaunenswerte Tatsache" der göttlichen Gnadenoffenbarung in Christus, die Theologie stellt diese Tatsache explicite dar und zwar in der Hauptsache durch historische Untersuchungen, dadurch, daß „man des Materials durch strenge und genaue Kritik sich versichert" (II, 4, 33). Endlich hat die Philosophie diese Tatsache in den universalen Zusammenhang so einzufügen, daß ihr in keiner Weise Gewalt angetan wird. Durch diese Lösung des Problems: Theologie und Philosophie ist dem Glauben einerseits und der Theologie die volle Freiheit und Unabhängigkeit von aller Philosophie gegeben, andererseits der Glaube in engste Verknüpfung mit der Philosophie gebracht. Das entspricht ganz dem Verhältnis von Gott und dem Absoluten. Gott ist das Einzelwesen, das in Freiheit sich herabläßt zum Menschen nach seinem Willen. Aber es ist das absolute Einzelwesen, das alles Einzelne ist, das als Thron für seine Herrlichkeit alles Seiende hat, und der darum auch in allem sichtbar wird. Schelling hat die von ihm erstrebte Synthese von Philosophie und Theologie in dem Begriff der philosophischen Religion zusammengefaßt. Dieser Begriff steht in scharfem Gegensatz gegen die natürliche Religion des Rationalismus, die nur ein ideelles Verhältnis des Menschen zu Gott kennt. In aller Religion aber handelt es sich um ein reelles Verhältnis Gottes zum menschlichen Bewußtsein 11 (II, 1,250). Die philosophische Religion kann also inhaltlich keine anderen Elemente haben als Mythologie und Offenbarung; aber sie hat diese Elemente als begriffne. Durch die Offenbarung wurde das Bewußtsein frei von der Mythologie, aber unter dem Druck der Antithese gegen das Heidentum unfrei gegenüber der Offenbarung. Dieser unfreie Zustand ist der Katholicismus und der orthodoxe Biblicismus. Der philosophischen Religion ist das Christentum eine Realität, die sie begreifen will, nicht eine Autorität. Das Mysterium freilich, das absolut Erstaunenswerte, der Wille zum Kreuz, kann, wie jeder ursprüngliche Wille, nicht begriffen werden; mit Recht aber fordert

"

Schelling: „ein reales Verhältnis des menschlichen Bewußtseyns zu G o t t " (II, 1, 250).

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Schelling von den Dogmen, daß sie entweder verständlich sein sollen oder auf Erklärung überhaupt verzichten (II, 4 , 3 1 ) . Mysterium ist Wille und Persönlichkeit. Hier kann nur beobachtet und bejaht werden. Das ist Glaube und Theologie. Erkennbar aber ist der Zusammenhang dieser Fakta mit dem universalen Weltproceß. Frei macht eine solche Erkenntnis, weil sie von vorn anfängt, nämlich in der Freiheit des Geistes selbst. Weil aber diese Freiheit im Grunde ein Werk des Christentums ist, so ist die philosophische Religion auch in ihrer philosophischen Ausprägung bedingt durch die Religion. Schelling kritisiert an dieser Stelle die vorkantsche Metaphysik und Scholastik mit dem Vorwurf ihrer Unfreiheit. Sie nimmt die Erfahrung, die Verstandesschlüsse und die Offenbarungsautorität unbegründet auf; darin besteht ihre falsche Weisheit, ihre menschliche Vernünftigkeit. Das ist Kants religiöse T a t , daß er uns zu Unmündigen gemacht hat und uns hinabgeführt hat in die Tiefe der geistigen Persönlichkeit und ihrer Geschichte. Darin ist die Wirkung der Offenbarung, nämlich die Erlösung von der materiellen kreatürlichen Potenz und die Herrschaft des Geistes zur vollen Auswirkung gekommen: Nirgends zeigt sich das religiöse Bewußtsein des deutschen Idealismus deutlicher als in Schellings Begriff der philosophischen Religion.

II. Metaphysische Durchführung A. Das anthropologische Problem: die Principien 1. Der Wille als Identität von Dualität oder Substanz „Schlechthin handeln aber heißt W o l l e n " (I, 1, 3 9 5 ) . „Der Geist ist ein ursprüngliches W o l l e n " ( 3 9 5 ) . „Über diese Handlung können wir nicht hinaus, und darum ist sie mit Recht das Princip unseres Philosophierens" ( 3 9 5 ) . So sprach Schelling in einer seiner Erstlingsschriften. „Gebt mir eine Natur von entgegengesetzten Tätigkeiten ... und ich lasse euch daraus die Intelligenz mit dem ganzen System ihrer Vorstellungen entstehen" (I, 3, 4 2 7 ) . So formuliert er das Princip seines transcendentalen Idealismus. „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein" (I, 7, 3 5 0 ) . Auf diesen Satz als eine selbstverständliche Voraussetzung will er seine Freiheitslehre bauen. Schelling ist ebenso wie Fichte bedingungsloser Voluntarist. Beide sind es durch Kant. Nun kann bei Kant ein doppelter Ansatz beobachtet werden. Der

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eine in der „reinen Vernunft", wo die synthetische Tätigkeit des Ich das Objekte schaffende Princip ist; und der andere in der „praktischen Vernunft", wo die intelligible Freiheit auch fähig ist, den intelligibien Fall zu erklären. Fichte knüpfte an die erste Bedeutung an. Frei sein heißt sich selbst gleich sein, nicht bedingt sein durch etwas anderes. An die zweite Bedeutung knüpft Scheilings Freiheitslehre an. Freiheit heißt: Sich selbst ungleich sein können, unvernünftig sein können. Nicht etwa: unvernünftig sein müssen, „selbständiger und vollkommener Wille" ist auch jetzt allein der vernünftige, „indem der Verstand eigentlich der Wille in dem Willen ist" (I, 7, 359). 12 Schelling hat diesen Fortschritt, wie er selbst betont, mittelst der Naturphilosophie gemacht; für Fichte war das Objekt das der freien Tätigkeit Entgegengesetzte, das Nicht-Ich, die unbegreifliche Schranke, die Natur; Schelling suchte auch die Natur als Wille und Tätigkeit zu fassen, als unbewußtes Ich. Der unbewußte Wille war als Basis des Bewußtseins erkannt: ein bedeutender Fortschritt der psychologischen Selbstanalyse. Im „System des transcendentalen Idealismus" ist die bewußtlose Tätigkeit identisch mit der reellen, expansiven, die bewußt mit der ideellen repulsiere. Der Kampf der beiden Willen mit dem Übergewicht des reellen Bewußtlosen macht die Natur aus; im Menschen war das Gleichgewicht erreicht, wo dann im fortschreitenden Proceß der Erhebung der Natur ins Bewußtsein die ideelle Tätigkeit das Übergewicht erringt. Der bewußtlose Wille ist zugleich der reelle, die notwendige Basis alles Geistigen. Soweit war Schelling fortgeschritten, als durch die Identitätsphilosophie diese ganze Welt des Ringens der beiden Willen zu einer Scheinwelt wurde, gegenüber der Identität beider Tätigkeiten vor ihrer Trennung. Hier kann nicht mehr von Tätigkeit geredet werden, sondern nur „eine Tätigkeit, die so ruhig wie die tiefste Ruhe", und „eine Ruhe, die so tätig, wie die höchste Tätigkeit" (I, 4, 305) ist die Identität. Damit war als Jenseits von bewußtlosem und bewußtem Willen der ruhende Wille erkannt, der nichts will, als sich selbst. „Der lautere Wille, aber nicht der Wille zu etwas ..., der Wille sofern er nicht wirklich will... Die stille Innigkeit, die sich ihrer selbst nicht annimmt und ihres nicht Seins nicht gewahr wird" (I, 8, 236). Diese Selbstbejahung, die zugleich Selbstanschauung ist, nennt Schelling Selbstaffirmation. (Aus diesem Begriff allein sollte klar sein, daß

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Am R a n d : Aber der Wille k a n n sich dem Verstand anschließen.

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Schelling auch in seiner Identitätsperiode das Willensprincip nicht aufgegeben hat; auch die intellektuelle Anschauung ist ruhender Wille. Daß übrigens dieser Begriff aus den Tiefen mystischer Selbstanschauung stammt, ist an allen bedeutenden Mystikern erkennbar; insofern ist das Princip psychologisch.) Damit waren alle Elemente gegeben, mittelst deren Kombination das Princip der Freiheit zu neuer Bedeutung erhoben wurde. Das philosophische Interesse Schellings richtet sich auf die Frage, wie aus der ursprünglichen Einheit des selbstgenügsamen Willens der Widerstreit der Potenzen entstehen könne. Dazu mußte in der Einheit selbst ein Princip des Zwiespalts gefunden werden, und dies Princip konnte nur der unbewußte Wille sein, der die reale Basis bildet, die von der Idee zur Gestaltung „überredet" wird. In der Identitätsphilosophie war die Welt des Widerstreits der beiden Willen als irrational erkannt. Der Widerstreit entsteht durch die Unwillfährigkeit der reellen Tätigkeit gegenüber der ideellen. Also war die reelle Tätigkeit das irrationale Princip: der Schluß ist deutlich. Das Wesen des Irrationalen ist aber, anders sein zu können, als das Wesen es bestimmt, mit sich selbst in Widerspruch treten zu können. Der Wille vereinigt somit in sich die Möglichkeit, sich selbst zu bejahen, nämlich den eignen Inhalt, die Idee, und mit sich selbst in Widerspruch zu treten, sich der Idee zu verschließen. Der Widerspruch ist also ein innerer Selbstwiderspruch des Willens, nicht ein Widerspruch von ideelosem Willen und willensloser Idee. (Anmerkung. Eduard von Hartmann wirft es Schelling als Inkonsequenz vor, den Gegensatz nicht so formuliert zu haben. Er erklärt es aus Schellings Absicht, mit der Potenzenlehre die Trinitätslehre zu verbinden. In Wirklichkeit muß Hartmann der Vorwurf gemacht werden, daß er das Schopenhauersche Willensprincip ohne weiteres in Schelling hineingelesen hat; aber bei Schelling gibt es gar kein an sich irrationales Princip und kann es aus seinen Voraussetzungen heraus auch nicht geben. Der Nerv seiner Identitätsphilosophie liegt ja gerade darin, daß nirgend etwas rein Ideelles oder rein Reales zu finden ist, sondern überall nur eine relative Indifferenz. So erscheint auch in der Freiheitslehre der Wille des Grundes keineswegs als schlechthin irrational, sondern er hat in sich das Licht, das durch die Tätigkeit des Verstandes aus ihm hervorbricht. Ausschlaggebend aber ist die Beobachtung, daß das Jenseits der beiden Potenzen ein Wille ist, nicht eine Substanz, die weder Wille noch Idee ist, wie bei Hartmann.)

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Der Widerspruch ist wirklich geworden; zunächst beobachtbar in dem konstanten Proceß der Persönlichkeit. Schelling nennt das Resultat dieses Processes Geist, und auf diesen Begriff muß sich die Aufmerksamkeit vornehmlich richten. 2. Der Wille als Einheit der Dualität oder Geist a. Der normale Proceß Geist ist zur Einheit mit dem idealen Princip erhobene „Selbstheit". „Dadurch, daß sie Geist ist, ist also die Selbstheit frei von beiden Principien" (I, 7, 364). Im Menschen „offenbart sich der Geist, d.h. als actu existierend" (I, 7, 364). „Dem Geist allein ist es gegeben, im Actus Potenz, im Willen Quelle des Wollens, d.h. Wille zu bleiben" (II, 2, 57f.). „Persönlich nennen wir ein Wesen gerade nur, inwiefern es frei vom Allgemeinen und für sich ist, inwiefern ihm zusteht, außer der Vernunft nach eigenem Willen zu sein" (II, 2,281). An der Selbstheit hat der Geist das Princip seiner Freiheit. Darum sagt Schelling auch direkt: „Die Selbstheit als solche ist Geist" (I, 7, 364). Das Bedeutungsvolle an diesen Formulierungen ist das Hervortreten eines neuen Princips. Aus der Zweiheit der Principien ist eine Dreiheit geworden: ein Fortschritt, dessen Wichtigkeit Schelling klar erkannt hat. „Es ist nicht schwer, die Bemerkung zu machen, daß das Hauptgebrechen aller neueren Philosophie in dem Mangel der mittleren Begriffe liegt" (I, 8, 286). Dieser Mangel stammt daher, daß „sie keinen Begriff der Persönlichkeit, d.h. der zur Geistigkeit erhobenen Selbstheit, sondern nur die abgezogenen Begriffe des Endlichen und des Unendlichen hat" (I, 7, 370f.). Darum ist sie unfähig, das Böse zu erklären. - Das Verständnis des dritten Princips ist abhängig von der Erkenntnis des amphibolischen Charakters des ersten. Dieses wird beschrieben als die Nacht, ohne die kein Licht ist, als die Schwere, die gestaltet wird vom Lichtwesen, als die Basis aller Kreatur, das Nein, das sich dem Ja, das Krumme, das sich dem Geraden, das Linke, das sich dem Rechten entgegenstellt. Sie ist die Kraft der Eigenheit, die tätige Kraft der Selbstverschließung, wodurch jedes Ding zu einer Eigenheit wird, sie ist der dunkle Rest, der nie vom Verstand der Vernunft erschlossen werden kann, das13 irrationale

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Hs.: der

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Fatum alles Seienden, aus dem sich die Schwermut erklärt, die über alles Leben ausgegossen, die Sehnsucht, dieses Band der Sympathie des Menschen mit der Natur, das Gefühl, das schön und herrlich ist, wenn es im Grunde bleibt, der Wahnsinn, der alles Große schafft, wenn er geregelt ist vom Verstand, die Armut, die beim Mahl des Zeus erscheint und, mit der Idee vermählt, allen Reichtum der Welt erschließt. Aber sie muß es nicht: von der Idee in ihrem Centrum erschlossen, wird sie frei von sich selbst. Aus dem dunklen Drang hat sie sich erhoben zur Freiheit. 14 Diese Erlösung der Sehnsucht ist das Werk des Verstandes, des Universalwillens, der das Ebenbild Gottes ist, durch den die Kreatur im Band mit der Einheit bleibt. Der Verstand enthüllt durch Scheidung der Kräfte den in der Sehnsucht verschlossenen „Lebensblick" (I, 7, 363), der ihm ähnlich ist; und wenn der Lebensblick im Innersten erschlossen ist, im Menschen, ist die volle Verklärung des Grundes in die Idee erreicht. „Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Princips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts" (I, 7, 363). „Dies Ebenbild Gottes hat die Sehnsucht im Centro ergriffen, als sie mit dem Licht in Gegensatz trat" (363). Zunächst sei darauf hingewiesen, daß die Idee als Universalwille erschien und die Sehnsucht im Innersten den Lebensblick hat, der der Idee homogen ist. Weiter sei bemerkt, daß die Schilderung namentlich der ersten Potenz sich ausgesprochen psychologischer Begriffe bedient. Die kosmogonischen Principien stammen aus spekulativer Psychologie. Endlich, und das ist von großer Bedeutung, kehrt die Konstruktion in ihren Ausgangspunkt zurück, insofern im Menschen die normalen kosmischen Verhältnisse zur Darstellung kommen. Dadurch ist der erkenntnistheoretisch-psychologische Idealismus als Ausgangspunkt spekulativ gerechtfertigt. Rein abstrakt gefaßt, stellt sich der Proceß der Geistwerdung des Willens folgendermaßen dar: 1. Die Indifferenz des reinen, sich selbst (die Idee) wollenden Willens. 2. Die Abwendung des Willens von sich selbst (der Idee), wodurch er zur inhaltsleeren Sucht wird. - Gleichzeitig das Heraustreten des Willenswesens (der Idee) aus der Indifferenz. 14

Folgt gestr.: von sich selbst. Dies ist das Werk des Verstandes, des Worts, das Gott in die Welt spricht, und Ebenbildes Gottes, das durch einen Refle[xionsproceß]

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3. Die Einwirkung des Willenswesens (der Idee) auf die Sucht zur Entfaltung des in der Sucht verborgenen Wesens bis zu dessen Verklärung in der Synthesis des freien Geistes. 1 und 3 unterscheiden sich wie substantielle und synthetische Einheit oder wie substantielle und aktuelle Indifferenz. Darauf aber kam es an; denn aktuelle Indifferenz (Indifferenzierung) ist die existierende Welt. Dieses Resultat ist aber nur zu erreichen, wenn die Sucht, der Grund, die Dunkelheit nie ganz überwunden wird, sondern als Grund immer bestehen bleibt. „Die Sehnsucht aber, vom Verstände erregt, strebt nunmehr, ... sich in sich selbst zu verschließen, damit immer ein Grund bleibe" (I, 7, 361). Von „dem Widerstreben der Sehnsucht" sagt Schelling, daß es notwendig ist zur vollkommenen Geburt. Dieses Widerstreben bewirkt nämlich, daß die Scheidung des Lichts von der Finsternis nur eine allmähliche ist, so daß Einzelnes entstehen kann, Kreatur, Selbstheit. Diese Selbstheit bleibt auch da, wo die Synthese vollkommen ist, im Menschen; auch er ist Kreatur; aber gerade weil er Kreatur ist, ist er Geist; denn Geist ist die lebendige Einheit beider Principien. Lebendig aber heißt synthetisch, und synthetisch heißt auflöslich. Geist, d.h. die lebendige, aktuelle, freie Einheit der beiden Principien ist insofern ein kreatürliches Princip oder besser die Einheit eines Kreatürlichen und eines Überkreatürlichen. Wäre die Einheit unauflöslich, so wäre kein Unterschied von der Einheit in Gott. Gott wäre nicht offenbar (I, 7, 364).1S

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Folgt gestr: Wesentlich dieselben Resultate liefert nun die Betrachtung der Principienlehre der negativen Philosophie. Die Indifferenz, das Überseiende wird in drei Potenzen konstruiert. Das Sein-Könnende, das rein Seiende, die Einheit beider. Zunächst wird stark betont, daß das Überseiende identisch ist mit dem Wollen-Könnenden. Denn „kein wirkliches Sein ist ohne ein wirkliches, wie immer näher modificiertes Wollen denkbar" (II, 3, 206). „Nichtwollen ist ein ruhendes, Wollen ein entzündetes Feuer (II, 3,207). Das Wollen Könnende ist aber lautere Freiheit, zu sein und nicht zu sein und insofern das Überseiende. Die Indifferenz hat den Charakter des notwendig Seienden verloren, weil sie an den Potenzen die Möglichkeit hat, zu sein und nicht zu sein. Das, was in der Freiheitslehre Grund war, wird jetzt das System der Potenzen. Die Potenz K&T' f£oxr|v bleibt die erste, das unmittelbar sein Könnende, aber, da es in dieser Potenz natürlich ist, ins Sein überzugehen, so steht ihr die andere zurückführende entgegen, und die Möglichkeit ihrer Einheit ist in der dritten gegeben. Das Wollen ist ruhend, solange die Potenzen einander zugewandt sind, die Möglichkeit der Entzündung liegt in der ersten Potenz, dem bloß Sein-Könnenden. Sobald sie ins Sein übergeht, löst sich das Band mit dem rein Seienden, der Idee, dem Willen, der nicht will, und auch die dritte Potenz

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In der Freiheitslehre war die Stellung der Principien demnach: ursprüngliche Einheit, Hervorbrechen der Dualität, synthetische Einheit oder Geist. Das Problem der Freiheitslehre war der Geist; die Darstellung begann mit dem Hervorbrechen der Dualität. Seitdem richtete Schelling die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis der ursprünglichen Einheit zur Dualität. An dem Hervorbrechen der Dualität hat die Einheit die Möglichkeit, aktuell zu existieren; dadurch werden beide Seiten des Gegensatzes zu Potenzen der Natur in Gott. Denn die Natur ist der Grund zur Existenz; aber auch der Geist muß dann Potenz werden; denn der innerste Kern des göttlichen Grundes ist erst in ihm enthüllt. Daher bleibt jedoch die erste Potenz die „Potenz Korr' É£OXT|V", denn in ihr allein liegt der Anfang jedes Processes. Da diese Potenzen die Natur Gottes, sein Notwendiges ausmachen, so kann die Indifferenz nur das Freie in ihm sein. Die Freiheit Gottes besteht aber darin, daß er das Sein annehmen kann oder nicht, er ist das Überseiende. Dies ist der höchste und tiefste Begriff der Schellingschen Spekulation. Die Fragen der Einleitung: „Warum ist etwas? Warum ist nicht nichts?" findet hier ihre Lösung: die Frage hat sich nicht bis zum Höchsten erhoben, bis zu dem, was weder Sein noch nichts ist, was die Macht hat, das Sein sich anzuziehen und nicht. Es hat die Macht dazu. Denn in seiner Natur, in den Potenzen sind die Principien alles Seins gegeben; aber er braucht es nicht; er kann sie in vollkommener Potentialität lassen. So ist die Natur Bedingung der Freiheit; der Begriff der Freiheit in seiner höchsten Vollendung aber die Freiheit, zu sein und nicht zu sein, die nichts weiter ist als eben diese Freiheit; d.h. als Wille. Es wäre ein Beweis von Mißverständnis, würde hier der Einwand erhoben werden, daß doch dieser Wille auch wieder vor dem unauflöslichen Rätsel seiner Subsistenz stehen müßte. Dieser Wille in seiner Lauter-

wird aufgehoben. Dadurch aber wird auch der ruhende Wille, die Idee, erregt zur Selbstbehauptung, und weil die Einheit in Gott unzerreißlich ist, wird im Weltproceß die erste Potenz stufenweise zur Potenzialität reduciert. N e u ist in dieser Darstellung, abgesehen von der Fassung der Identität als Überseiendem, die A u f n a h m e des Geistes unter die ursprünglichen Potenzen, die durch die „Weltalter" geschah. Die Bedeutung dieser Verschiebung trifft weniger die eigentliche Principienlehre als vielmehr die Fassung des Gottesbegriffes. Die Geistigkeit Gottes, die Schelling in der Freiheitslehre nur andeutungsweise behandelte, wird jetzt nach Analogie der menschlichen Geistigkeit gefaßt und dementsprechend ein vom Weltproceß unterschiedener ewiger Proceß der Geistwerdung in Gott gefunden. Das Nähere gehört in den folgenden Abschnitt.

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keit hat eben keine Subsistenz. Was ist, ist dem Sein verpflichtet, aber die reine Freiheit zu sein, ist dem Sein nicht verpflichtet; alles Substanzielle, alles, was zum Sein gehört, ist in der Natur Gottes, d.h. in den drei Potenzen gegeben, deren freier Einheit u.s.w. b. Der unnormale Proceß Dem normalen Proceß der Geistwerdung entspricht ein unnormaler, der Selbstzerstörung des Geistes oder der Sünde. Die Möglichkeit der Sünde liegt in dem irrationalen, kreatürlichen Princip, aber nicht an sich, sondern nur insofern es im Menschen frei von sich geworden ist in dem Band mit dem idealen. Die zum Geist erhobene Selbstheit ist der Grund der Möglichkeit des Bösen. Die Selbstheit kann die Macht, die [sie] aus ihrer centralen Stellung hat, dazu mißbrauchen, aus dem Centrum des göttlichen Lichts in die Peripherie zu gehen, weil die göttliche Liebe alle Selbstheit verzehrt und zum Grunde macht. Das ist die Versuchung, die an die Angst, im Centrum vor Gott zu stehen, anknüpft und die Lüge vorspiegelt, als wäre die Selbstheit etwas ohne das göttliche Licht. Also zu versuchen ist das Wesen des Grundes, der alle Mächte der Selbstheit zur Erregung bringen will, um in seiner ganzen Tiefe sich offenbaren zu können, damit der Wille der Liebe in seiner gewaltigsten Siegeskraft offenbar und die Geburt Gottes vollkommen würde. Aber trotz dieser Teleologie der Sünde ist sie Freiheit und nicht Mangel, Disharmonie, nicht Mangel an Harmonie, Getrenntheit, die doch Einheit sein will, nicht Unverbundenheit. Irrtum, der doch Wahrheit sein will, und darum Lüge. Das sind die mittleren Begriffe, die Schelling fordert. Der Mensch kann nur über dem Tier stehen oder unter ihm, und nicht Erde ist der Gegensatz von Himmel, sondern Hölle. Aber andererseits darf nicht vergessen werden, daß auch nach Schelling die Sünde das MTI ov ist, nämlich das Nicht-Seiende, das da strebt, ein Seiendes zu sein. Auch für Schelling ist das Böse Schein, aber Schein, der Wahrheit sein will, Lüge. Im Begriff der Lüge findet Schelling auf höherem Standpunkt das tiefste Wesen des platonischen ut) OV, das allem an der Natur orientiertem System notwendig ist. Das Wesen der Sünde als Lüge offenbart sich in der nie befriedigten Sucht, in dem Verlangen, wie einst im Centrum die Kräfte der gesamten Welt in der Hand zu haben, und der Vergeblichkeit dieses Ringens; denn nur in der Unterordnung unter die Liebe ist die Selbstheit im Centrum; zwar wirkt auch jetzt Gott noch in ihr, aber sein Wille wird zum Unwillen, zum verzehrenden Grimm, bis durch den Tod die

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Lüge offenbar wird und die Sucht hinabgedrückt wird in den Grund, in den sie gehört. Damit ist die Beschreibung der Principien, wie die spekulative Psychologie sie erkennt, vollendet, und die Wirklichkeit des Weltprozesses, dessen Möglichkeit begründet ist, zeigt die spekulative Religionsgeschichte.

B. Pantheismus, Theismus, Monotheismus 1. Schellings Beurteilung des Pantheismus Es war die unermüdliche Polemik Jacobis gegen Spinozas Pantheismus, die Schellings Auseinandersetzung mit dem Pantheismus zu einer Auseinandersetzung mit Spinoza machte. Schelling unterscheidet eine doppelte Fassung des Pantheismus, die naturalistische, nach der alle Dinge gleich Gott sind - mit ihrer Bezeichnung als Ruchlosigkeit französischer Aufklärung tut er sie ab - und die spinozistische, nach der Gott alles Seiende ist, das Seiende aber ganz etwas anderes als die einzelnen Dinge. Damit identificiert er im Wesentlichen den Standpunkt der Identitätsphilosophie, nur daß Spinozas Substanz ein Subjekt-Objekt sei, bei dem das Subjekt verloren gegangen ist: Nominalistischer Pantheismus. Schellings Kritik richtet sich nun nicht etwa gegen den Satz, daß Gott alles Seiende ist, sondern dagegen, daß Gott unmittelbar mit dem Seienden identificiert wird. Spinoza verliert gegen das Sein, das „blindlings über ihn [herjeinstürzt" und dem er „keinen Anfang weiß", seine Freiheit (II, 2, 38). Der Pantheismus besteht nicht darin, daß gesagt wird, alles Sein sei nur das Sein Gottes, sondern darin, daß er dies notwendig und blind ist. Aber Gott ist das Sein-Könnende in dem Sinn, daß es von seinem Willen abhängt, ob er sein will oder nicht. Der Begriff der Aseität sagt, daß Gott sein eigener Grund ist, aber der Grund wird im Pantheismus nicht festgehalten, sondern er geht unmittelbar ins Sein über. Gott ist der „Herr des Seins" (II, 2, 45): In diesem Wort faßt sich Schellings Kritik des Pantheismus zusammen.

2. Schellings Beurteilung des Theismus Der Theismus kam Schelling einerseits in der Form der Jacobischen Gefühlsreligion entgegen, andererseits in der rationalistischen Aufklärungstheologie und Philosophie. Beide Arten nennt Schelling Subjektivismus, den Rationalismus, weil die Willkür des aufgeklär-

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ten Verstandes, nicht die Sache selbst oder der Wille der Sache reden läßt, die Gefühlstheologie, weil ihr jeder Begriff über Gott schon zu objektiv ist. Subjektivismus und Theismus, das gehört nach Scheliing zusammen. Denn jenes Einzelwesen, das aller Erreichbarkeit mit Mitteln des Denkens enthoben ist, weil es nichts zu tun hat mit den die erkennbare Welt konstituierenden Principien, ist ebensosehr dem subjektiven Gefühl überlassen wie der absolut transcendente Gott, der nur durch willkürliche Schlüsse aus der Immanenz gesucht werden kann. Der entscheidende Differenzpunkt ist die Stellung zur Natur. Der Theismus ist solange unbefriedigend, als er nicht den Naturalismus in sich aufnimmt, d.h. die Natur erklärt. Der Theismus schafft einen „unnatürlichen Gott und eine gottlose Natur" (I, 8, 70). Solange nicht die Zweiheit in Gott selbst verlegt wird, ist die Leugnung eines persönlichen Gottes wissenschaftlich aufrichtig. „In der leeren, unterschiedslosen Unendlichkeit, die der bloße Theismus in Gott setzt, ist das Selbstbewußtsein so unbegreiflich als die Persönlichkeit" (II, 2, 74). Scheliing erkennt in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen Theismus und Deismus an. „In neuerer Zeit haben sich die Theisten von ihnen [den Deisten] unterscheiden wollen, wahrscheinlich ... weil jede Sekte gern noch eine andere unter sich hat, gegen die sie sich als rein und lauter darstellen kann" (II, 2 , 77). Beide stehen vor der Entwicklung, die in der Naturphilosophie ihren Schwerpunkt hatte, und beide können den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen: der Theismus kann ohne den Pantheismus nicht einmal anfangen. „Der Theismus ist das Unbestimmte; die richtige Denkart zu bezeichnen ist jedenfalls ein Zusatz nötig" (II, 2 , 70). Der Gott des Theismus ist ein Herr ohne Herrschaft, ein Gott, der nicht das Absolute zu seinem Grunde hat.

3. Der Theismus auf der Basis des Pantheismus „Indem die Theologen auch das Princip des Pantheismus nicht wollen (offenbar weil sie sich nicht zutrauen, es beschwören zu können), berauben sie sich des Mittels, wahren Monotheismus zu erlangen". (II, 2,40). Dieses Wort kann als Motto der Schellingschen Religionsphilosophie gelten. Monotheismus als Synthese von Pantheismus und Theismus. Das Princip des Pantheismus aber ist das Absolute. „Daß bei Gott allein das Sein und daher alles Sein nur das Sein Gottes ist, diesen Gedanken läßt sich weder die Vernunft noch das Gefühl rauben. Er ist der Gedanke, dem allein alle Herzen schlagen"

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(II, 2, 39f.). Und das Princip des Theismus ist der persönliche Gott: „ V e r n u n f t und Gefühl befriedigt kein Gott, der ein lauteres Es ist, sie verlangen einen, der Er ist" (I, 8, 255). Schelling hat der D u r c h f ü h r u n g seiner Religionsphilosophie eine Reihe von Darstellungen gewidmet, die nicht unerheblich voneinander abweichen. Die grundlegende bleibt freilich die Freiheitslehre, aber in i h r " fehlt noch ganz der eigentlich theogonische Proceß. Der ursprüngliche kosmogonische steht im M i t t e l p u n k t des Interesses. In den „Weltaltern" n i m m t der ewige theogonische Proceß den größten Teil der Darstellung ein. Und in der positiven Philosophie wird von der Wiederherstellung und Erlösung der Welt gehandelt. a. Die ewige Vergangenheit in G o t t Wir betrachten zunächst den ursprünglichen theogonischen Proceß im Anschluß an die „Weltalter". Für ihn ist charakteristisch der Begriff der ewigen Vergangenheit. Es ist leicht einzusehen, wie Schelling auf ihn g e f ü h r t wurde. Das Bewußtsein ist ein Proceß; dieser Satz stand aus der spekulativen Psychologie fest. Es gibt kein Bewußtsein, sondern n u r ein Bewußtwerden: „ D a s Bewußtsein besteht n u r im Akt des Bewußtwerdens" (I, 8 , 2 6 3 ) . „Ein ewiges Bewußtse»« läßt sich nicht denken, oder es w ä r e der Bewußtlosigkeit gleich" (II, 1, 262). Und: „Es gibt kein Bewußtwerden ... o h n e ein Vergangenes zu setzen." Anmerkung. An dieser Stelle m a c h t Schelling eine wertvolle psychologische Bemerkung, die wir wiedergeben, weil sie ein Beweis f ü r die Abhängigkeit der metaphysischen Spekulation von der Psychologie ist: „Vergangenheit, ein ernster Begriff, allen bek a n n t , und doch von wenigen verstanden ... Der Mensch, der nicht sich selbst überwunden, hat keine Vergangenheit... N u r der Mensch, der die Kraft hat, sich von sich selbst (dem Untergeordneten seines Wesens) loszureißen, ist fähig, sich eine Vergangenheit zu erschaffen ..." (II, 1, 259). In der Freiheitslehre war der Geist als Princip von Bewußtsein u n d Persöhnlichkeit erkannt. Aber nur andeutungsweise w a r von der Möglichkeit gesprochen, mit demselben Princip die Geistigkeit Gottes zu verstehen. In den „Weltaltern" wird dieser Schritt mit Bewußtsein getan und zwar durch 1 7 Scheidung der N a t u r in Gott mit ihren

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Folgt gestr.: wird nur die Möglichkeit der Schöpfung aus der Sünde dargestellt Folgt gestr.: Erhebung des Geistes zu einer göttlichen Potenz

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drei Potenzen seiner Freiheit. Jetzt bilden die Potenzen insgesamt die Natur, das Notwendige Gottes, dem die Freiheit als das Göttliche in Gott gegenübersteht. Darin besteht der ewige Proceß, daß Gott1" die Natur ewig als Grund setzt, als unmittelbare Macht zu sein. Nicht das Notwendige folgt aus dem Freien, das Freie überwindet das Notwendige. Gott hat sich von Ewigkeit her von der Notwendigkeit seiner Natur, dem Untergeordneten seines Wesens losgerissen. „An ihr erkennt er sich als den, der war, weil er sie als seine ewige Vergangenheit setzt... Er erkennt sich an ihr als den, der ist, als den ewig Gegenwärtigen im Gegensatz mit dem, das vor ihm als ein ewig Vergangenes ist. An ihr erkennt er sich als den, der sein wird, weil er sich als die ewige Freiheit gegen sie und damit sie als den möglichen Vorwurf eines zukünftigen Wollens erblickt" (I, 8, 264). Nur so ist ein Bewußtsein in Gott und damit eine freie Offenbarung verständlich. „Das, was sich geben soll, muß zuvor sich selbst haben, was sich aussprechen will, erst an sich selber kommen" (263). Es muß etwas sein, das sucht, und etwas, das findet, und beide müssen eine voneinander unabhängige Wurzel haben. Eine Ewigkeit, die in sich nicht gegliedert ist, einen Anfang hat, eine Mitte und ein Ende, ist leer und unlebendig. Darum ist Gott der Lebendige, der Selbstgenugsame, weil er in seiner Natur eine ewige Vergangenheit und in der Schöpfung eine ewige Zukunft hat. Darum ist er der Selige, weil er das Princip der Unseligkeit, das Chaos, das ziellose Rad der Natur sich untergeordnet und es also geordnet hat. Dadurch ist das göttlich Leben in sich vollendet und abgeschlossen. Aber die Unterordnung ist keine gezwungene, die Natur ist göttlich und bewährt ihre Göttlichkeit in der Freiwilligkeit ihrer Unterwerfung, getrieben freilich durch die Not der Sehnsucht, aber in Freiheit, jederzeit wieder hervorzubrechen. Darin besteht die Freude des göttlichen Lebens, daß sie ein beständiges Beruhigen und Besänftigen jener Natur ist, ein beständiges Wiederfinden der Einheit. Darin liegt aber zugleich die Möglichkeit der Trennung und der Kosmogonie. Ehe wir auf diese eingehen, müssen wir uns auf die Lösung, die bis jetzt das Problem: Gott und das Absolute gefunden hat, besinnen: Erstrebt war die Synthese von Pantheismus und Theismus. Es fragt sich, wie weit dies Ziel erreicht ist. Der Pantheismus identificiert Gott unmittelbar mit dem Sein. Schelling macht Gott zum Übersei-

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Folgt gestr.: an der Natur den Grund hat

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enden, der Freiheit hat, das Sein anzunehmen oder nicht. Der Theismus trennt Gott von allem Sein. Schelling läßt Gott sich von einer Natur in ihm losreißen, ohne daß diese Natur je aufgehoben werden könnte. Weil Schelling eine ursprüngliche Dualität der Principen in Gott legt, kann er ihn als lebendigen und persönlichen und absoluten Geist erfassen. Von großer Wichtigkeit ist es nun, daß Schelling dieses Resultat erreicht, ohne den Weltproceß dazu heranzuziehen. Gottes Geistigkeit ist ein ewiger Proceß. Ewigkeit ist innere Lebendigkeit, nicht tote Simultaneität. Wenn Persönlichkeit zur Geistigkeit erhobene Selbstheit oder die lebendige Einheit einer natürlichen Basis mit einem ideellem Princip ist, so ist Gott Persönlichkeit, Einzelpersönlichkeit. Was kann nun der kosmogonische Proceß Neues bringen? b. Der kosmogonische oder trinitarische Proceß Er ist Offenbarung Gottes. Offenbarung ist Übergang der Potenz in den Aktus. Die Potenzen zeigten Gott von Ewigkeit die Möglichkeit der Kreatur, und wie Visionen zogen die Bilder der Welt, die Ideen an seinem Inneren vorüber, es war seine Weisheit, die vor Schöpfung der Welt vor ihm spielte. Nun entscheidet er sich zur Seinsannahme: die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, ist im innersten Kern die Liebe zum Menschen. Ihn wollte der Grund, als er sich erhob, ihn wollte Gott, als seine Freiheit von der Liebe zur Seinsannahme bewogen wurde. Gott als Aktus wird vom Menschen realisiert. Das menschliche Bewußtsein ist die Gott setzende Potenz. Insofern spricht auch Schelling davon, daß Gott im Menschen zum Bewußtsein komme, nämlich der in der Spannung der Potenzen wirksame aktuelle Gott; aber die Einheit des Überseienden wird durch die Spannung der Potenzen nicht aufgehoben, und darum bleibt Gott der absolute Geist in sich vor und über aller Kreatur. Und doch hat der kosmische Proceß auch für Gott eine Bedeutung. Erst in ihm erweist der Überseiende sich als Herr des Seins auch in der Spannung und Aktualisierung der Potenzen. Erst in ihm vollendet sich die Synthese von Pantheismus und Theismus im Monotheismus oder der Trinität. Die Ausführung dieser Idee sei zunächst kurz skizziert: Der freie Entschluß Gottes zur Schöpfung bedingt die Erhebung der ersten Potenz, die nicht sein sollte, sondern ewig Grund bleiben soll, ins Sein; dadurch entsteht die Rückwirkung der zweiten, die in allmählichem Proceß die erste wieder zur Basis macht und so auch der dritten, die das eigentlich Sein-Sollende ist, zur Realisierung verhilft. 1. ist causa

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materialis, das natürliche, kreatürliche, selbstische Princip. 2 . ist causa formalis, das ideelle universale Princip. 3. ist causa finalis: Geist. Der Proceß, von dem die Rede ist, ist die Natur. Im Menschen ist ihr Ziel erreicht. Das Sein-Könnende ist wieder Grund geworden. Das Bewußtsein des Menschen ist unmittelbar Gott setzend, nämlich die Einheit der Potenzen als realisiert. Aber diese Einheit ist in ihm auflöslich; er [der Mensch] kann nicht tun, was Gott tut, die Einheit aufheben und die Selbstheit aktualisieren. Tut er es, so löst sich das Band, und die Selbstheit beherrscht ihn. Der Sündenfall ist geschehen und damit das Princip der Selbstheit, das im Naturproceß nur kreatürlich, irrational, dunkel und Schmerz schaffend war, wird zum Princip der Bosheit. Damit ist die zweite Potenz wieder verdrängt, und von neuem muß sie den Kampf beginnen, diesmal im Bewußtsein des Menschen; im religionsgeschichtlichen Proceß 1 9 setzt sich die Herrschaft der zweiten Potenz durch. Er ist dem Naturproceß analog und endet wie dieser im Menschen (in der griechischen Mythologie). Aber der Akt der Sünde war ein realer, und nur durch eine reale M a c h t kann er überwunden werden, freilich erst, nachdem die subjektiven Folgen im Bewußtsein des Menschen beseitigt waren. Die Herrschaft der zweiten Potenz war eine außergöttliche; erst wenn sie diese Außergöttlichkeit opferte und damit zugleich dem Princip der Sünde, in der der göttliche Unwille als verzehrendes Feuer wirkte, ihr Recht ließ: das Recht, die Kreatur zu vernichten; erst da war die Einheit wieder hergestellt und der dritten Potenz Raum gegeben, ans Ziel zu führen. Die Identificierung der realisierten Potenzen mit der trinitarischen Persönlichkeit ist deutlich. Die zweite Potenz ist der Sohn, die dritte der Geist, und die erste der Vater, insofern er den Sohn zeugend ist, das heißt, insofern durch die erste Potenz die Erhebung der Potenzen zu göttlichen Persönlichkeiten durch den kosmischen Proceß ermöglicht wurde. Schelling hat sich eingehend mit dem naheliegenden Einwand auseinandergesetzt, daß so Sohn und Geist nicht ewig sind. Er erwidert mit Recht, daß vor der Schöpfung, das heißt Aktualisierung der Potenzen, auch von einer aktuellen Zeugung des Sohnes nicht die Rede sein könne, daß diese eben identisch sei mit der Schöpfung, das heißt Aktualisierung der Potenzen. In der vorweltlichen Ewigkeit ist Gott als Vater ebenso Potenz wie Sohn und Geist, denn vor ihrer Aktualisierung sind alle

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Folgt gestr.: der mit dem griechischen Polytheismus endigt

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Potenzen Nicht-Seiendes, weil niemand ist, der sie ist. Sobald sie aber in Gegensatz und damit in Wirksamkeit treten, geben sie die Naturbasis für einen dreifachen göttlichen Willen, der erste, der die Basis aller Realität bildet, der zweite, der diese Basis zu einzelnen Gestaltungen zwingt, ihre Unendlichkeit und Kreaturfeindlichkeit negiert, der dritte, der das Ziel setzt, in dem beide sich finden. Die Verbindung eines Willens mit einer Naturbasis ist aber Persönlichkeit. Insofern ist der Weltproceß eine fortschreitende Personalisierung Gottes, obgleich die ewige Personalisierung Gottes darüber bestehen bleibt, denn er ist der Ewige. Erst jetzt kann der Begriff des Monotheismus seine Anwendung finden, denn die Voraussetzung des Monotheismus ist die Trinität. Im Polytheismus herrschen die Potenzen nacheinander; im Monotheismus ist ihre Einheit erkannt und durch die Offenbarung realisiert. Die trinitarischen Persönlichkeiten sind kosmische Potenzen. Der kosmogonische Proceß, der natürliche und der geschichtliche, ist ein theogonischer, nämlich eine fortschreitende Realisierung des Monotheismus. In ihm ist die Einheit von Pantheismus und Theismus gefunden.

4 . Die Resultate: Gott und Welt a. Gott und Natur „Um die Welt zu erklären, muß der Philosoph Gott über das Absolute erheben, um die Welt zu erklären, muß der Theologe das Absolute zur Basis der Gottheit Gottes m a c h e n " . Hat Schelling das Problem: Gott und Welt so gelöst, daß Theologie und Philosophie, Glaube an den persönlichen Gott und Anschauung des letzten Princips aller Dinge in ihrer Einheit verstanden sind? Das Problem zerfällt in die beiden: 1. Gott und Natur, 2 . Gott und Mensch. 1. Die Philosophie fordert: Alles, was ist, ist Gottes Sein, denn er ist das Absolute. Die Theologie fordert: Gott ist über allem Sein, denn er ist freie Persönlichkeit. Schelling antwortet: Alles Seiende ist Aktualisierung der göttlichen Natur; er selbst ist frei von seiner Natur. b. Gott und Mensch 2 . Die Philosophie fordert: das Böse ist kein Realität. Die Theologie fordert: das Böse ist etwas Positives. Schelling antwortet: das Böse ist etwas Positives, denn es ist ein Akt des freien Willens. Aber es hat keine Realität, denn es ist Lüge. Die beiden Forderungen der Philo-

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sophie hätte Schelling nicht erfüllen können, hätte er nicht das Princip des Absoluten oder der Notwendigkeit auf Gott angewandt. Die beiden Forderungen der Theologie hätte Schelling nicht erfüllen können, hätte er nicht das Princip des Geistes oder der Freiheit auf Gott angewandt. Die Einheit beider hätte Schelling nicht zeigen können, hätte er nicht beide Principien im Begriff Gottes als des absoluten Geistes vereinigt. c. Individualität Der Gegensatz von Spinoza und Leibniz war im tiefsten Grunde ein Gegensatz zwischen Universalismus und Individualismus. Spinoza ging vom Absoluten aus, denn er war Universalist, Leibniz ging von Gott aus, denn er war Individualist. Das Problem in seiner zugespitztesten Form ist das Unsterblichkeitsproblem; in dieser Form ging die Debatte in der vorkantschen Metaphysik hin und her. Kant erklärte die Unsterblichkeit für ein Postulat der praktischen Vernunft, Fichte und Schelling für eine durch Freiheit zu realisierende Idee. Sei frei, das heißt auch: sei unsterblich. Aber die Freiheit ist ja das, was jenseits Raum, Zeit und Individualisierung liegt; sie ist das Ichhafte und Absolute. Genau gesprochen, ist also nicht das Individuum unsterblich, sondern das Überindividuelle. Die Naturphilosophie brachte darin keine Änderung zu Stande. Alles Individuelle ist ein mißlungener Versuch, die Gattung darzustellen. 1. „Die Unsterblichkeit des Individuums besteht darin, daß es im Ganzen als ein Ewiges aufbewahrt ist" (1,2,365). 2. Das, was die Naturphilosophie wirklich gewonnen hatte, kam im Identitätssystem zum Durchbruch: Der Unsterblichkeitsgedanke wird - freilich negativ - auf die Einheit von Leib und Seele angewandt. Leib und Seele sind in der Differenz nur für einander da, und darum beide der Dauer unterworfen. „An sich ist nur die Einheit beider ... in der allerseligsten Natur ..., das Urbild also, welches unerschaffen und wahrhaft oder unvergänglich ist" (1,2, 365). Die unsterbliche Seelensubstanz war damit überwunden; unsterblich ist die Idee, in der Leib und Seele eins sind. Darum ist das Sterben der Individuen das Normale. „Durch Geburt, Zeitleben und Tod trägt nach göttlicher Ordnung jedes Wesen dasjenige ab, was er der bloßen Endlichkeit, dem bloßen Begriffensein in Gott, schuldig ist" (I, 7, 166). „Die sinnliche, unter Relationen ringende Natur hat getan, was sie vermochte, ein hinfälliges Bild geschaffen von dem, was ewig lebt, und dieselbe nimmt es zurück auf die gleiche

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Art, wie sie es hervorrief" ( 1 , 7 , 1 6 8 ) . Der Wunsch der in empirischen Zwecken Versunkenen, unsterblich zu sein, ist ein Verlangen nach der „Unsterblichkeit des Sterblichen" (I, 6, 567). „Für empirische Zwecke aber gibt es keine Ewigkeit" (I, 6, 567). Für den, der in der Ewigkeit lebt, fängt aber die Ewigkeit hier schon an (568). - Das Problem der Individualität ist im Sinn Spinozas gelöst, aber mit Platonischem Einschlag. Nur diese Modifikation ermöglichte den Umschwung. Wie, wenn die Idee sich selbst individualisiert? Wie, wenn sich Gott selbst individualisieren wollte? Ist dann der T o d auch das Normale? Weil das ruhende Band des Subjekt-Objekts durch göttlichen Willen aktualisiert ist, muß es darum zerreißen? Schelling sagt, wenn irgend etwas, so scheine der Organismus zur Unzerstörbarkeit bestimmt. Weil aber durch die Erregung des finsteren Naturgrundes beim Rückfall Licht und Finsternis entzweit sind und dadurch die Natur ihren wahren Einheitspunkt verloren hat, muß sie sich selbst zerstören (I, 7, 377). „Auch in der Natur ist ein Böses, Gift z.B., ... und was der höchste Beweis der Wirklichkeit eines solchen Rückfalls der ganzen Natur und insbesondere des Menschen ist - der T o d " (I, 7, 459). „Die ganze Erde ist eine große R u i n e " (I, 9, 33). Die ganze Natur hätte sich in und mit dem Menschen zum unvergänglichen Leben erheben sollen; nun ist der Übergang in die Geisterwelt nur durch den T o d möglich. Anmerkung. Die Konstruktion der Geisterweit hat bei Schelling eine große Rolle. Selbstverständlich ist für ihn der Gedanke rein geistiger Wesen ohne Naturbasis unmöglich; aber an der Potenzenlehre hatte er das Mittel, einen Zustand mit überwiegender Idealität zu postulieren. Die Geister stehen insofern über dem Menschen; dennoch ist der Mensch das centrale Wesen, weil in ihm die ganze M a c h t beider Principien so vereinigt ist, daß er das Band beider Welten und der Erlöser der Natur ist. Er allein von allen Wesen hat Freiheit im eigentlichen Sinn. Im T o d wird das innerste Wesen offenbar, das durch die überwiegende Leiblichkeit auf Erden verhüllt war; er ist eine Beraubung für alle; denn d a s wahre Wesen des Menschen ist ein Gleichgewicht von Reellem und Ideellem. Nur der Kern des Naturgrundes, der nötig ist, die Individualität zu erhalten, folgt mit in die Geisterwelt. Wer dann im Leben nichts gewesen ist als Sucht und Begierde, der wird in diesem Charakter offenbar werden und auf den Potenzzustand reduciert; dann ist er das Unterworfene, die Basis und für sich selbst als gänzliche Nichtrealität erklärt. Die aber, bei denen die Sucht

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schon zur Basis gemacht war, werden nach Beendigung des geistigen Zwischenzustandes wieder zur vollen Geist-Leiblichkeit gelangen: das ist die Auferstehung. Es könnte scheinen, als o b diese Konstruktionen einen Rückfall in die vorkantsche Metaphysik bedeuten. Die Unterschiede sind aber folgende: 1. Die Aufklärung suchte aus dem Begriff der Seele als einfacher Substanz ihre Unsterblichkeit zu schließen. Schelling stellt die Unsterblichkeit als eine Aufgabe fortschreitender Aneignung der Naturbasis durch das Ideelle hin. Eine Aufgabe, die gelöst und nicht gelöst werden kann. Nicht die Substanz ist ewig, sondern das lebendige Band, wenn es erhalten wird; aber es ist zerreißbar. 2 . Die Aufklärung kannte eine Unsterblichkeit der seelischen Substanz. Schelling weiß, daß es keine Individualität ohne selbstische Grundlage, d.h. ohne Natur geben kann; er hat daher von vornherein keinen Unsterblichkeits-, sondern einen Auferstehungsglauben. 3 . Die Aufklärung endete in einem unüberwindlichen Dualismus von Gut und Böse und hatte als Gegenpol die Lehre von der Apokatastasis. Schelling weiß, daß Wille nur durch Wille überwunden werden kann, selbst von Gott; aber er kennt den Begriff eines Nicht-Seienden, das sein will und nicht sein soll und darum zum Nicht-Sein gebracht werden kann. „Dann ist Gott wirklich alles in allem, der Pantheismus w a h r " (I, 7 , 4 8 4 ) . Das ist Schellings Synthese von Universalismus und Individualismus, dem Absoluten und Gott. d. Die Theodicee Das Theodiceeproblem kann negativ und positiv verstanden werden. Im ersten Fall ist die Frage: Wie kann Gott das Böse zulassen, im zweiten Fall, welches ist das Ziel, das durch die Sünde erreicht wird? Schließlich kann die ganze Frage abgewiesen werden mit dem Satz, daß es gar nichts gibt, weswegen Gott gerechtfertigt werden soll. Z u dieser letzten Auskunft wird jeder Pantheismus seine Zuflucht nehmen müssen. Solange Schelling Gott und das Absolute identificiert, denkt er ebenso. Denn alles, was ist, „folgt aus der unendlichen N a t u r " (I, 6, 5 4 5 ) „Auch die Privation ist also nur Privation respective unseres Verstandes, nicht aber in Ansehung Gottes" (I, 6, 5 4 6 ) . „Absolut betrachtet ist daher nichts unvollkommen, sondern nur in Vergleichung" (VI, 5 4 6 ) . Aber woher kommt daher Verstand, woher kommt die Vergleichung? In der Übergangsschrift „Philosophie und Religion" entsteht das Problem mit neuer M a c h t in beiden Formen. Schelling beantwortet die erste Frage mit der „alten, heiligen Lehre" (I, 6, 4 7 ) von dem intellektuellen Fall der Ideen und ihrer Bestrafung

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mit der Verkehrung der Ideen in eine Sinnenwelt; und auf die positive Frage antwortet Schelling: „Die erste Selbstheit der Ideen war eine aus der unmittelbaren Wirkung Gottes herfließende: die Selbstheit und Absolutheit aber, in die sie sich durch die Versöhnung einführen, ist eine selbstgegebene" (I, 6, 63). Beides wird weiter ausgeführt in der Freiheitslehre. Die menschliche Freiheit ist die negative Theodicee. Schelling hebt die Debatte über den Freiheitsbegriff sofort über die vorkantsche Stufe hinaus, dadurch daß er den empirischen Indeterminismus ebenso wie den physischen und psychologischen Determinismus ablehnt und mit Kant und Fichte die intellegible Freiheit für das Wesen des Ich erklärt. Diese Freiheit ist deshalb außerhalb alles Kausalzusammenhangs, weil sie ja die Bedingung von Raum, Zeit und Kausalität ist. Sie ist aber auch nichts vom Ich verschiedenes, etwa eine Eigenschaft von ihm, sondern sie ist das Ich selbst; „das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigene Tat" (I, 7, 385). Aber diese Tat „geht dem Leben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit (unergriffen von ihr) hindurch als eine der Natur nach ewige Tat" (1,7,385). Ein Bewußtsein kann es von ihr nicht geben, da sie erst das Bewußtsein macht. Nur das widerspruchsvolle Gefühl von Verantwortlichkeit und Notwendigkeit bei der einzelnen empirischen Tat ist Durchbruch jener überbewußten Tat ins Bewußtsein. - Aber Gott hat vorausgesehen, daß der Mensch das Böse wählen würde, daß der Grund der göttlichen Natur sich abwenden würde von Gott selbst. Wie konnte er dennoch die Schöpfung wollen? „Die Erregung des Eigenwillens geschieht nur, damit die Liebe im Menschen einen Stoff oder Gegensatz finde, darin sie sich verwirkliche" (1,7,401). Diese Erregung der Selbstheit ist das mögliche Princip des Bösen, aber nicht das Böse selber, in ihr bewegt sich Gott nicht nach seinem Herzen, sondern nach seiner Natur. Seine Natur hat aber die Möglichkeit in sich, sich seiner Liebe zu entziehen. Hätte er aber darum sich nicht offenbaren sollen? „So denn also Gott um des Bösen willen sich nicht geoffenbart, hätte das Böse über das Gute und die Liebe gesiegt" (I, 7, 402). „Der Wille des Grundes muß in seiner Freiheit bleiben, bis daß alles erfüllt, alles wirklich geworden sei. Würde er früher unterworfen, so bliebe das Gute samt dem Bösen in ihm verborgen" (1,7, 404). Denn dies ist die Endabsicht der Schöpfung, daß, was nicht für sich sein könnte, für sich sei, in dem es „aus der Finsternis", als einem von Gott unabhängigen Grunde, „ins Dasein erhoben" wird (404). Wenn aber gefragt wird, warum das Vollkommene nicht im Anfang war,

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so antwortet Schelling: „Weil Gott ein Leben ist, nicht bloß ein Sein. Alles Leben aber hat ein Schicksal und ist dem Leiden und Werden Untertan. Auch diesem also hat sich Gott freiwillig unterworfen, schon da er zuerst, um persönlich zu werden, die Licht- und die finstre Welt schied" (I, 7, 403). Wer also sagt: Gott hätte die Welt nicht schaffen sollen in Voraussicht des Bösen, der sagt: „Damit also das Böse nicht wäre, müßte Gott selbst nicht sein" (I, 7, 403). Der Triumph der Liebe ist die Rechtfertigung Gottes; weil er mehr ist als das Absolute, wollte er mit der Welt auch die Sünde, die er voraussah. Weil er wußte, daß er Herr des Seins bleiben würde auch in der Empörung seiner Kreatur und die Dualität durch die Scheidung vernichtet würde, schuf er die Welt. Gott und Welt, Theologie und Philosophie, Absolutheit des Christentums, das waren die drei Probleme, die in der Fragestellung Gott und das Absolute enthalten waren. Die Antwort Schellings auf die erste hat der erste Teil, die Antwort auf die zweite hat der zweite Teil gezeigt. Der dritte soll eine Antwort geben auf die Frage nach der Absolutheit des Christentums.

III. Religiöse Konsequenzen 1. Die Würdigung der Geschichte Die Wertung der Geschichte für die Gotteserkenntnis Schelling fordert für die Theologie eine strenge und genaue Kritik „des historischen Materials". Diese Forderung sticht merkwürdig ab von der völlig unkritischen Weise, mit der er das Neue Testament behandelt und an den durch Baur und Strauß angeregten Debatten vorübergeht. Dies ist um so bemerkenswerter, als er in der „historischen Konstruktion des Christentums" in den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" einen sehr klaren Blick für das historisch-kritische Problem zeigt. Sätze wie „Schon in dem Geiste des Heidenbekehrers Paulus ist das Christentum etwas anderes geworden, als es in dem des ersten Stifters war," (I, 5, 300) und wir können sagen, „Christus sei eine historische Person, deren Biographie schon vor ihrer Geburt verzeichnet gewesen" (I, 5, 426), nehmen, wie Strauß selbst zugestanden hat, die Resultate seiner Kritik im Wesentlichen voraus. „Christus, als der Einzelne, ist eine völlig begreifliche Person, und es war eine absolute Notwendigkeit, ihn als symbolische Person und in höherer Bedeutung zu fassen" (I,

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5, 296f.). Man habe schon mit den Naturalisten verhandelt, wenn „man sich mit ihnen auf Ächtheitsdebatten einließ; diese haben ihr Recht, aber man dürfe sie nicht zum Fundament der Theologie machen; die biblischen Briefe sind ein historisches Zeugnis für die erste Geschichte des Christentums, aber der christlichen Idee keineswegs adäquat. Schellings Ausführungen sind ein scharfer Protest gegen jeden Biblicismus ebensosehr gegen den kritischen, wie gegen den apologetischen, obgleich er selbst als Historiker ausgeprägt kritisch stand. Selbst dem katholischen Bibelverbot sucht er auf diese Weise ein Recht abzugewinnen. Aber er überblickt die Bedeutung dieser seiner Stellung nicht. „Daß in Christo zuerst Gott wahrhaft objektiv geworden, zeigt die Geschichte; denn wer vor ihm hat das Unendliche auf solche Weise geoffenbaret?" (II, 1, 526) - Das steht ihm fest. Wie aber, wenn auch das zweifelhaft wird? Fällt dann nicht die ganze historische Konstruktion des Christentums hin? Schelling hat sich diese Frage nicht gestellt. Wir können sie verneinen. Die geniale Konception überragt auch hier die Einzelausführung. Die Konstruktion des Christentums ist eine Konstruktion der Geschichte. Das Christentum eröffnet die dritte Weltperiode, die Periode der Vorsehung. „Die Menschwerdung Gottes ist also eine Menschwerdung von Ewigkeit. Der Mensch Christus ist in der Erscheinung nur der Gipfel und insofern auch wieder der Anfang derselben" (I, 5, 298). „Das wahre Unendliche in das Endliche kam, nicht um dieses zu vergöttern, sondern um es in seiner eignen Person Gott zu opfern und dadurch zu versöhnen. Die erste Idee des Christentums ist daher notwendig der Menschgewordene Gott, Christus als Gipfel und Ende der alten Götterwelt" (I, 5, 292). Die Idee des Menschgewordenen, der das Endliche opferte, um Gott zu versühnen, ist der Inhalt des Christentums. Diese Idee ist durch Symbolisierung (s.o.) auf Christus übertragen; offenbar ist es gleichgültig, ob mit mehr oder weniger Recht. Jesus ist der erste Christ, nicht der Christus. Er ist der Anfangspunkt der christlichen Mythologie, die im Unendlichen und darum in der Geschichte lebt und sich an [eine] geschichtliche Persönlichkeit knüpft. Schellings „historische Konstruktion des Christentums" ist darin ungeschichtlich, daß sie das Wesen des Christentums in einer Idee sieht; sie ist darin geschichtlich, daß sie diese inhaltlich als Konstruktion der Geschichte faßt: Gott offenbart sich als Gott der Geschichte. Aber Gott selbst hat keine Geschichte; denn er ist das Absolute; und das Endliche wie das Unendliche sind nur Offenbarungsweisen des Einen Absoluten. - „Wer von einer

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(«¿ergeschichtlichen Geschichte nichts weiß, hat keinen Raum, wohin er eine Persönlichkeit wie Christus stellen könnte" (II, 4, 35). Dieser Satz der Philosophie der Offenbarung bedeutet die völlige Antithese zu der historischen Konstruktion des Christentums. Schelling kennt jetzt eine übergeschichtliche Geschichte Gottes. Das Endliche und Unendliche sind reale Potenzen, die in realem Kampf miteinander stehen. Christus selbst ist eine solche Potenz, (die zweite, ideelle, früher das Unendliche); durch seinen Kampf, insbesondere durch seinen Kreuzesgehorsam, hat er die Einheit in Gott wiederhergestellt und damit die Welt vom Zorne Gottes erlöst. Der Anfang dieses Processes liegt frei schon in der Geschichte der Mythologie; aber in ihr handelt es sich nur um reale Beziehungen der göttlichen Potenzen zum Bewußtsein der Menschen. In Christus ist die Potenz historische Persönlichkeit geworden. Nachdem durch seinen Tod die erste Potenz völlig in ihre Stellung als Grund zurückgebracht ist, ist auch die dritte frei geworden: der Geist kann ausgegossen werden. Schelling stellt sich in diesem Zusammenhange selbst die Frage, ob es nicht möglich wäre, auch das Christentum mythologisch zu erklären; er gibt selbst eine solche Erklärung 20 , sagt aber nun, daß sie unmöglich gemacht ist „durch den einzigen Umstand, daß Christus eine historische Persönlichkeit ist" (II, 4, 230). Dies ist historisch sicher, da die „Hoheit der Evangelien" allein durch die „Hoheit Christi" erklärt werden könne (II, 4, 233). Schelling scheint vergessen zu haben, daß er einst eine andere Erklärung gekannt hatte. In Wirklichkeit stammt seine Gewißheit von der Fakticität Christi aus seiner Gesamtanschauung, wie sich auch die Erörterung über den Unterschied von Mythologie und Christentum auf ganz andere Gründe stützt. Es ist aber in der Offenbarung nicht mehr auf das Bewußtsein abgesehen, wie in der natürlichen Religion, dem Heidentum, sondern auf einen Willensakt, dem, weil er stärker ist als der Tod, kein Wille, auch [nicht] der allerstärkste zu widerstehen mag; denn „Wille kann nur durch Wille überwunden werden". Der göttliche Unwille, dessen Wirkung auf das Bewußtsein am Ende der Mythologie aufgehoben war, mußte reell aufgehoben werden, dadurch daß

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Folgt gestr.: In derselben Weise, wie im Heidentum durch eine reale Einwirkung der göttlichen Potenzen auf das Bewußtsein die zweite Potenz die Herrschaft wiedererlangte, könnte sie durch einen Bewußtseinsproceß diese Herrschaft freiwillig der dritten übergeben, welche die Einheit beider ist. Auch so wäre der theogonische l'roceß vollendet.

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der Sohn seine durch den Fall gewonnene außergöttliche Herrlichkeit Gott opfert, indem er durch den Tod das Recht des göttlichen Zornes wirken läßt. Nicht von21 Offenbarung Gottes in ideeller Weise ist die Rede, sondern von einem Akt Gottes, der die Welt erlöst. Die ideelle Offenbarung war am Ende der Mythologie erreicht; aber der Zorn Gottes war nicht aufgehoben; das geschieht jetzt, und das zu bewirken ist Christi Aufgabe. Der eigentliche Offenbarungsgesichtspunkt fehlt völlig. Über die Wunder wird gesprochen, das Wort Jesu nicht selbständig gewürdigt. - (Der Zusammenhang dieser übergeschichtlichen Betrachtungsweise der Geschichte mit dem Absolutheitsproblem hat Schelling am deutlichsten bei der Würdigung des Kreuzes Christi aufgezeigt: „Wenn in der Welt kein Gottverwandtes, kein zum Leben Gottes selbst gehöriges Princip ist, wie kann er durch einen Vorgang in der Welt auf solche Weise verletzt sein, daß nur ein so außerordentlicher Entschluß das Mißverhältnis aufheben konnte?" (II, 4, 202). „In den objektiven Principien des Seins" (202) ist durch die Übertretung etwas verändert, nicht bloß im Menschen. Die Heilstatsachen haben nicht nur das Heil des Menschen zum Ziel, sondern das Heil der Welt überhaupt; das heißt aber, da Gott auch das Absolute ist, das Heil Gottes selbst.) Schelling hat sich mit voller Schärfe die Alternativen gestellt: Offenbarung oder Erlösung. Offenbarung eröffnet die unveränderlichen Verhältnisse der Gottheit dem Bewußtsein. Sie erfolgt darum immer im Bewußtsein und führt nie weiter als zu einer mythologischen Betrachtung der Geschichte. Erlösung verändert die objektiven Verhältnisse des Seins und damit dessen, der das Seiende ist, Gottes. Sie erfolgt darum durch objektive Vorgänge, bei denen alles auf ihre Fakticität ankommt. Die Identitätsphilosophie entscheidet sich für die erste Alternative: Gott ist das Absolute, er hat keine Geschichte. Die positive Philosophie bejaht das zweite: Gott ist der Überseiende, aber das Seiende ist sein Dasein: Er hat eine Geschichte, die Geschichte des Universums, die sich durch den Menschen entscheidet. Schelling hat die Darlegung dieser Geschichte „Philosophie der Offenbarung" genannt. Offenbarung ist bei ihm der Durchbruch der übergeschichtlichen Geschichte in die irdische. Schellings Bedeutung liegt nicht sowohl darin, daß er die Alternative klar gesehen hat, als vielmehr darin, daß er die deutliche Linie von ihr zum Gottesgedanken gezeigt hat durch die Bestimmung des Problems: Gott und das Absolute. 21

Hs.: auf

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2 . Religion und Sittlichkeit Im engen Zusammenhange mit der geschichtlichen Auffassung der Religion steht die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Sittlichkeit. Religion und Sittlichkeit, diese Problemstellung war für die gesamte von Kant abhängige Entwicklung das Problem der Religion überhaupt. Schelling sah gleich im Anfang den Mißbrauch, den die Kantianer mit dem moralischen Gottesbeweis trieben. Er tritt ihnen mit dem Vorwurf entgegen, daß ihnen die Religion Sache der Nützlichkeit ist, daß sie ihn 22 gebrauchen, weil sie ohne ihn die Moral nicht zu Stande bringen, wie ihn die Aufklärung gebrauchte, um die Welt zu erklären. In seinen ersten Anfängen war Schelling durch Fichte darüber hinausgehoben. Gott ist eine Idee, die realisiert werden muß durch freie T a t ; Religion ist Freiheit und T a t . In der freien T a t stellt sich die Einheit mit Gott dar: Gott ist eine unendliche Aufgabe. Religion ihre Erfüllung. Religion und Sittlichkeit sind unmittelbar eins. - Die Identitätsperiode bedeutet eine wichtige Vertiefung des religiösen Verständnisses, ohne das Verhältnis zur Sittlichkeit wesentlich zu ändern: das Absolute ist Identität höchster Tätigkeit und höchster Ruhe. Das Handeln ist nur eine Potenz der Indifferenz, die freilich identisch ist mit Religion. In sämtlichen Aufzählungen der ideellen Potenzen wird Religion und Handeln identificiert. Religion ist der Heroismus, der in Einheit mit der wahren Erkenntnis handelt. „Ein Mensch ist religiös, dem es auf eine göttliche Weise unmöglich ist, in seinem Handeln seinem Wissen zu widersprechen; dies kommt nicht aus ihm selbst, sondern aus dem, was über allen M a ß s t a b erhaben ist" (I, 6, 5 5 8 ) Religion ist Einheit mit dem Absoluten, dargestellt im Handeln. Das Höchste ist die Kunst. Der Fortschritt besteht darin, daß Schelling jetzt den M o r a lismus völlig überwunden und die Superiorität des Gottesgedankens über die Sittlichkeit erkannt hat. Es sei ein Greuel, Gott aus der Sittlichkeit fordern zu wollen, denn das schließe die Meinung ein, als ob der Mensch irgend etwas sein könnte ohne Gott und vor Gott. Es gibt keine Sittlichkeit als Sittlichkeit der Menschen, die das Individuum sich geben und deren es sich rühmen könnte (I, 6, 2 9 7 ) . Nie kann Handeln jene Harmonie mit dem Unendlichen erreichen. Entweder ist sie da oder nicht. Ist sie da, so ist sie unendliche intellek-

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Gemeint: der Begriff der Religion

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tuelle Liebe zu Gott, absolut betrachtet, die Liebe, mit der Gott sich selbst liebt (I, 6, 63). Schelling hat diese Lebensgestaltung später Quietismus genannt und gesagt, der Spinozismus sei sein System. Es ist nicht schwer nachzufühlen, wie dieser Übergang aus dem sittlich kraftvollen, aber nicht von Moralismus freien Fichteanismus zu Stande kam. Schelling hatte Gott in der Natur gefunden und in ihrer wunderbaren Einheit von Freiheit und Notwendigkeit das Höchste geschaut. (In diesem Augenblick von Schellings Entwicklung steht Schleiermacher mit seinen „Reden"). „Was ist der wahre Geist des Naturforschers? - Er ist Andacht, Frömmigkeit gegen die Natur, Religion, unbedingte Unterwerfung unter die Wirklichkeit und die Wahrheit, wie sie in der Natur ausgesprochen und mit der Natur selbst eins ist" (I, 7, 109). Allen naturfeindlichen Moralisten schleudert er das harte Wort entgegen: „Weil nämlich sie in der Natur nichts erblicken als den Spiegel ihrer verächtlichen Lust, darum soll sie zerbrochen und verdammt sein". Die religiös betrachtete Natur befreit die Religion von der Moral und die Moral vom Gesetz. Schelling hat die Gefahr erkannt, die in dieser Entwicklung lag: war die grundlegende Einheit mit Gott weder durch Erkennen noch durch Handeln zu erreichen, so schien nur die Möglichkeit zu bleiben, sie im Gefühl zu finden und damit dem Subjekt zu überlassen. Ist schon der Moralismus „Anhänglichkeit an das Ich und das eigene Subjekt" (I, 7, 135), so noch vielmehr, wenn es in einer gefälligen Form als „Sehnsucht, Andacht, Gefühl, Glaube" (I, 7, 135) hervortritt. Aber „wahre Religion ist nicht ein mußiges Brüten, empfindsames Hinschauen oder Ahnden" (I, 6, 559). „Im stillsten Dasein und ohne Reflexion offenbart die Pflanze die ewige Schönheit. So wäre dir am Besten, schweigend und gleichsam nichtwissend Gott zu wissen. Dieses nichtwissende Wissen erkennt, bevor ihr für das Höchste ausgebt das Ahnden und den Glauben." In der Mystik findet der Naturphilosoph den Kern der Religion, nachdem die Natur Handeln und Erkennen nur zu unvollkommenen Äußerungen des Ewigen hat herabsinken lassen. Und wie alle Mystiker, wußte auch er, daß diese Einheit mit Gott eine Gnade ist, die nicht gesucht, sondern nur gefunden werden kann. Aber das Princip des Handelns forderte sein Recht, wie das des Erkennens. Freilich: „Auch der Philosoph hat seine Entzückungen. Er bedarf ihrer, um das Gefühl der unbeschreiblichen Realität jener höheren Vorstellungen gegen die erzwungenen Begriffe einer leeren und begeisterungslosen Dialektik verwahrt zu werden. Ein anderes aber ist, die Beständigkeit

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dieses anschauenden Zustandes verlangen" (I, 8,203). „Der Mensch verjüngt sich immer wieder und wird neuselig durch das Einheitsgefühl seines Wesens" (I, 8, 203). Aber „wir leben nicht im Schauen". Die jenseitige Einheit ist auseinandergelegt und „ein jedes Ding durchläuft, um zu seiner Vollendung zu gelangen, gewisse Momente: auch Gott. Das Organ dieser Erkenntnis ist der Verstand und die Methode die Dialektik. - Und ebenso ist es mit dem Handeln. „Das Aufgeben des Handelns läßt sich nicht durchsetzen; es muß gehandelt werden" (II, 1, 560). Die Kontemplation in ihren drei Stufen als mystische Frömmigkeit, Kunst, intellektuelle Anschauung bringt es nur bis zu einem ideellen Verhältnis zu Gott als absoluter Indifferenz. Dabei könnte es bleiben, wäre der Zwang zum Handeln nicht da und mit ihm der Zwiespalt, dem man durch die Kontemplation entgehen wollte. Bis dahin ist die alte Philosophie gekommen, weil sie Gott nur als das Absolute kannte, aber nicht als den Lebendigen. Des Aristoteles Begriff der Selbstanschauung Gottes ist der höchste Begriff der Mystik (II, 1, 560). Daß Gott auch das Absolute ist, das ist das Recht der Mystik, daß er mehr ist als das Absolute, das ist ihre Grenze. - Dadurch wird nun der Begriff der Religion frei für eine höhere Bedeutung. Die Erfahrung des ewigen Zwiespalts, der durch die intellektuelle Anschauung nur in Augenblicken, durch das Handeln nie überwunden werden kann, die bleibende Unseligkeit macht, daß das Ich nun Gott selbst verlangt: „Ihn, ihn will es haben, den Gott, der handelt, bei dem eine Vorsehung ist, der als ein selbst tatsächlicher dem Tatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz: der der Herr des Seins ist... Denn Person sucht Person" (II, 1, 566). „Das Verlangen nach dem wirklichen Gott und nach Erlösung durch ihn ist nichts anderes als das lautwerdende Bedürfnis der Religion" (568). „Ohne einen aktiven Gott... kann es keine Religion geben, denn diese setzt ein wirkliches reales Verhältnis des Menschen zu Gott voraus" (568). Religion haben heißt „den Gott in der Wirklichkeit" haben, mit ihm „vereinigt (versöhnt)" sein (578). „Am Ende der negativen Philosophie habe ich nur mögliche Religion, nicht wirkliche, nur 'Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft'" (578). Das Tatsächliche des Abfalls, die Kluft zwischen Gott und Mensch, die Erkenntnis, „wie allem sittlichem Handeln der Abfall von Gott, das Außer-Gott-Sein zu Grunde liegt und es zweifelhaft macht" (576), kurz das Erlösungsbedürfnis im tiefsten und umfassendsten Sinn führt zur Religion; denn in ihr ist die Erlösung zu finden. Aber nicht das Ich kann diese Erlösung gewinnen: das

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Handeln gewinnt sie nicht, das hatte Schelling an der Natur erkannt, die intellektuelle Anschauung gewinnt sie nicht, denn es muß gehandelt werden, das Gefühl gewinnt sie nicht, es ist das Subjektivste des Subjektiven, eine gefällige Form des Handelns oder eine niedere Form der Anschauung: Gott muß mit seiner Hülfe entgegenkommen: „Ich verlange ... eine Seligkeit, worin ich aller Eigenheit, also auch der Sittlichkeit als eigner enthoben werde" (577). „Und es wird also doch nichts andres bleiben und kein philosophisch sich dünkender Hochmut uns abhalten, dankbar anzunehmen, daß unverdient und aus Gnaden uns zu Teil werde, was wir anders nie erlangen können" (577). Wenn unter Rechtfertigung die ausschließlich göttliche Aktivität auf unser Heil verstanden wird, so ist Schellings Religion in beiden Perioden seiner Entwicklung Rechtfertigungsglaube. In der ersten Periode von der Natur entnommen, gipfelt er in der Gnade der intellektuellen Anschauung und ist im Leben die innere Gelassenheit des Rechtfertigungsgläubigen; denn Gott ist das Absolute. In der zweiten Periode aus der Geschichte entnommen, gipfelt er in der Gnade des persönlichen Gottes, der sich als Person der Person hingibt und von sich aus die Kluft zwischen Gott und Mensch aufhebt, und ist im Leben der Kampf des Geistes gegen Sünde und Lüge: Die Gleichung: Rechtfertigung gleich Sündenvergebung hätte Schelling darum nicht anerkannt, weil die Kluft zwischen Gott und dem Menschen keineswegs bloß auf sittlichem Gebiet vorliegt, wie auch der Fall ebenso sehr Lüge (im Sinne von Irrtum, der Wahrheit sein will) wie Sünde war, und sein Erfolg die Erlösungsbedürftigkeit der ganzen Welt. Weil das Christentum Welterlösung, darum ist es die absolute Religion. Man hat Schelling den Gnostiker unter den Idealisten genannt. Wie die Gnostiker hätte er das Christentum in den Zusammenhang einer übergeschichtlichen Geschichte eingeordnet, deren irdische Erscheinungsform die Geschichte der Religionen ist. Wie die Gnostiker hätte er den Kampf der Religionen als den Kampf göttlicher Potenzen verstanden. Wie jene hätte er das Christentum in fremde philosophische Begriffsbildungen und theosophische Hypostasen eingezwängt. Und darum: Wie jene müsse er von der Theologie abgelehnt werden. Die beiden ersten Vergleiche sind im Wesentlichen anzuerkennen, keineswegs aber der dritte. Schelling kennt eine übergeschichtliche Geschichte, denn sein Gott ist ein geschichtlicher Gott, nicht bloß einer, der selbst fern von aller Geschichte sich in ihr

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fortschreitend offenbart im Bewußtsein der Menschheit. Aber [enthält] 23 die christliche Lehre von der Weltschöpfung in der Zeit von dem Sündenfall und der Umänderung der gesamten Natur dadurch, von der Inkarnation des Sohnes Gottes, von dem Fall des Satans und der Ausgießung des Geistes, von der Endkatastrophe und der Neuschaffung von Himmel und Erde nicht auch Fakten einer übergeschichtlichen Geschichte? Und kennt nicht auch Schelling andererseits die unveränderliche Wesenheit Gottes, die ein verzehrendes Feuer ist und eine Verborgenheit, die nie ergründet werden kann? Der Herr des Seins bleibt Herr aller Geschichte und in allem Werden, dem er sein Sein anheim gibt, er der große Ironiker, der bejaht, um zu verneinen, und verneint, um zu bejahen, der sich ebenso durch die Schöpfung verhüllt wie offenbart, offenbart dem, der hinter die Vorstellung der Potenzen hinschaut in die Lauterkeit des göttlichen Seins. Und wenn es Schelling zum Vorwurf gemacht wird, daß er die Dreiheit der göttlichen Offenbarungspotenzen nur für die Weltgeschichte realisiert haben will, so muß daran erinnert werden, daß alle Zeit auch christliche Theologen sich für [die] ökonomische Trinität entschieden haben, daß aber Schelling viel mehr behauptet hat als sie, wenn ihm die Möglichkeit des dreifachen Willens Gott ewig an der dreigestalteten Natur bewußt war und er von Ewigkeit her Freude hatte an Sohn und Geist als Bürgen seiner Herrschaft auch über die erregte Natur. Und was den Kampf der Potenzen und Religionen betrifft, so denkt Schelling unzweifelhaft biblischer über das Heidentum als die meisten neuen Theologen. Er sucht zu zeigen, daß es reale kosmische Mächte waren, von denen der Menschheit Bewußtsein durch die Offenbarung befreit wurde, und diese Macht ist Gottes kreatürliche Potenz, die, ursprünglich Gottes Schöpfermacht durch die Sünde erregt ist zur widergöttlichen Wirkung und deren Substanz nur der Unwille Gottes ist. Von niederen und höheren Göttern, wie in der Gnosis, ist keine Rede, wohl aber von dem Sohn Gottes, der die Kreatur erlöst von dem Zorne Gottes. Und wenn hier wirklich ein Gegensatz stattfindet, so doch kein anderer als in der christlichen Heilslehre, wo Gott real versöhnt wird und Christus real Fürbitte leistet vor dem Trone Gottes. Auch hier liegt ein doppelter Wille vor, aber die Einheit Gottes, die dahintersteht, wird nicht aufgehoben. Wo aber wirklich Phantastisches mit unter-

23

H s . : ist

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läuft, da darf eine gerechte Würdigung es nicht den Principien, sondern muß es der Ausführung zur Last legen. Der eigentliche Anstoß wird dann auch an dem dritten Vergleichspunkt mit der Gnosis genommen und zwar speciell an der Verbindung von naturphilosophischer und geschichtsphilosophischer Konstruktion. Daß die trinitarischen Hypostasen geschichtliche Potenzen sind, das wird noch unter Einschränkungen zugestanden, daß sie aber kosmische sind, abgelehnt. Geschichtsphilosophie ist so alt wie das Christentum. Es war die erste und zunächst wichtigste Form, in der das Christentum sich seines Absolutheitsanspruches bewußt wurde. Das Urteil: Jesus ist der Christus enthält im Keim alle christliche Geschichtsphilosophie. Und andererseits: Nur im Christentum kann es Geschichtsphilosophie geben, denn nur in ihm findet sich das Bewußtsein, am Ende der Geschichte zu stehen. Jeder ernsthaften Parusiehoffnung liegt dieses Bewußtsein zugrunde. Und dieses Bewußtsein ist eben nichts anderes als das der Absolutheit. „Die historische Konstruktion des Christentums ist nicht möglich ohne die historische Konstruktion der ganzen Geschichte" 2 4 . Wer diesem Satz Schellings zustimmt, wird ihm in dieser Beziehung aus seiner Anwendung philosophischer Kategorien auf das Christentum keinen Vorwurf machen. W e r ihn ablehnt, verzichtet auf das Urteil: Jesus ist der Christus. Ganz anders scheint die Sache nun in den naturphilosophischen Betrachtungen zu liegen. Die griechische Spekulation ist im Grunde immer Naturphilosophie. Keiner hat das deutlicher gesehen als Schelling. Sie denkt in Kategorien, die unmittelbar aus der Naturbetrachtung genommen sind und wendet sie auf Gott an. Im griechischen Logosbegriff gipfelt die naturphilosophisch-theologische Spekulation. Mit diesem Begriff hat die wissenschaftliche Theologie Alexandriens die Gnosis überwunden und den kosmischen Universalismus des Christentums zur Darstellung gebracht. Als mit dem Verständnis der griechischen Philosophie die Bedeutung des Logosbegriffs immer mehr sank, wurde die Natur das Banner aller, die von den Fesseln der kirchlichen Theologie frei werden wollten; und die Theologie konnte der entgötterten Natur nur einen unnatürlichen G o t t entgegenstellen. Der Universalismus des Christentums fand an der Natur seine Grenze und damit seine Zerstörung. Da gab

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Schelling: „Die historische Construction des Christenthums kann wegen dieser Universalität seiner Idee nicht ohne die religiöse Construction der ganzen Geschichte gedacht werden" (I, 5, 2 9 9 ) .

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der Idealismus die Mittel zur Überwindung des Zwiespalts; nicht unmittelbar aus der Natur, sondern aus der Tiefe des Innenlebens war das neue Princip geschöpft: die Freiheit. Die Natur ist werdende Freiheit. Die Freiheit aber ist ein christliches Princip. Erst als das Bewußtsein befreit war von den äußeren Mächten des Heidentums, erst als die Natur, in der das Göttliche unmittelbar gefunden wurde, geopfert war am Kreuz, konnte christlicher Idealismus in der Freiheit das Weltprincip finden; die Natur war wiedergewonnen für die Einheit des Geisteslebens und dasselbe Moment, das in frühesten Tagen dieses Werk vollbracht hat, hat sie im Alter eingefügt in die Einheit des göttlichen Lebens und damit in die Einheit der Geschichte. So fällt auch dieser Teil der dritten Vergleichung mit den Gnostikern hin. Weil es ein christliches Princip war, mit dem der Idealismus die Natur neu gewonnen, konnte er die Naturphilosophie in Religionsphilosophie verklären. Weil dieses Princip die Freiheit war, wurde Gott nicht unfrei gegenüber seiner eigenen Absolutheit, sondern frei auch von seiner eigenen Natur, an der er die Basis seiner Absolutheit hat. Gott ist der Herr.

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3. Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte Breslauer Promotionsvorlesung Zum Text: Hs. im PTAH (109: 006, Heft 1). In der Hs. ist der Text ohne Überschrift. Es handelt sich aber zweifellos um Tillichs Manuskript des am 22. August 1910 anläßlich seiner Promotion zum Dr. phil. der Universität Breslau gehaltenen Vortrages „Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte" (so die Mitteilung von Thema und Datum auf dem Titelblatt der gedruckten Dissertation „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien", Breslau 1910). „Kant verstehen, heißt über Kant hinausgehen." Mit diesem Wort charakterisiert Windelband die gegenwärtige philosophische Situation 1 , und an anderer Stelle bemerkt er, daß die „historische wie ... systematische Ausgleichung" [der empiristischen und rationalistischen Interpretationen] der Kantischen Lehre „schließlich der pragmatischen Notwendigkeit unterlegen" ist, „ d a ß sich daraus allmählich eine Rückkehr zu Fichte entwickelt hat". 2 D a ß diesem Vorgang in der T a t eine innere Folgerichtigkeit zukommt, soll uns eine Betrachtung des Princips der Fichtischen Philosophie, des Freiheitsbegriffs bei Fichte lehren. In ihr kommen die Motive des Kriticismus zur vollen Auswirkung. Das Unausgeglichene und Widerspruchsvolle der Kantischen Aufstellungen verschwindet, und wenn auch, wie wir sehen werden, in bestimmter Beziehung eine Verengung des Gesichtskreises eintrat, so war doch das Centrum gefunden, von dem aus im Verlaufe der idealistischen Entwicklung immer weitere Kreise gezogen werden konnten.

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Wilhelm Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Tübingen 1883 (Vorwort, letzter Satz). Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 5. Aufl., Tübingen 1910, S. 538.

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Die kritische Philosophie ist allein verständlich a u s der doppelten Antithese gegen Empirismus und D o g m a t i s m u s . Fichtes Werk ist es gewesen, die empiristischen und dogmatistischen Reste, die bei K a n t geblieben waren, vollends zu überwinden. Wir betrachten d a r u m die Genesis seines Freiheitsbegriffs in dieser doppelten Richtung: 1. als konsequente Durchführung des kantischen Anti-Empirismus, 2. als konsequente Durchführung des kantischen Anti-Dogmatismus. Die Kritik der reinen Vernunft untersucht die Bedingungen, unter denen theoretische Naturerkenntnis möglich ist, und findet die apriorischen Formen der Anschauung und des Denkens als die notwendigen Funktionsweisen der beiden Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit und Verstand. D a s Wesen der kritischen M e t h o d e ist damit principiell erfaßt. Sie hat die Gültigkeit der Vernunfttätigkeiten festzustellen ohne Rücksicht auf ihre psychologische Entstehung und in voller Freiheit gegenüber dem empirischen T a t b e s t a n d . N u n aber entsteht die Frage nach dem Kriterium einer derartigen Gültigkeitserklärung, und diese Frage ist von Kant zwar aufgeworfen, aber nicht zu endgültiger L ö s u n g gebracht worden. Aus der Erfahrung kann es nicht stammen; aber auch in einem mystischen Überzeugungsgefühl, das jedem wahren Vernunftmoment in seiner Vereinzelung zukäme, ist d a s Kriterium nicht zu sehen. M a g dies in der Praxis häufig hinreichend sein, ebenso häufig ist es irreführend und vor der wissenschaftlichen Skepsis wehrlos. Weil die Wahrheit eine ist, d a r u m ist d a s Wissen des Wissens nur aus einem Princip heraus möglich. So hat denn Kant in der transcendentalen Logik sämtliche Kategorien aus dem Princip der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperception hergeleitet. Neben der Logik steht aber die transcendentale Ästhetik mit ihren zwei Formen R a u m und Zeit. Woher die Zweiheit von R a u m und Zeit, und w a r u m nicht mehr? Woher die Zweiheit von Sinnlichkeit und Verstand und w a r u m nicht mehr? Auf die erste Frage bleibt Kant die Antwort ganz schuldig; denn wenn er an einigen Begriffen wie Bewegung und Veränderung den negativen Beweis führt, daß sie nicht reine Anschauungen sind, so ist d a s keine Antwort. Besser steht es um die zweite Frage, da Kant in der Lehre von den Axiomen der Anschauung und den Anticipationen der Wahrnehmung innerhalb der transcendentalen Logik eine Art Deduktion von R a u m und Zeit gibt, nämlich aus der Synthesis des Mannichfaltigen, also dem Princip der Deduktion der Kategorien. Der Primat des Denkens über die Sinnlichkeit ist damit gegeben und der Weg gezeigt, auf dem eine wirklich einheitliche, von den Zufäl-

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ligkeiten empirischen Aufgreifens freie Deduktion der theoretischen Vernunfttätigkeiten möglich war. Wir sehen, Freiheit in dem bisher angedeuteten Sinn ist Unabhängigkeit von dem psychologisch notwendigen und darum principiell zufälligen empirischen Bewußtseinsinhalt. Die positive Bestimmung des Begriffs, d. h. die Auffindung des höchsten Grundsatzes, der von jeder Empirie befreit, war zwar in der Kritik der reinen Vernunft in der Deduktion der Kategorien gegeben, aber nur verhüllt in eine komplicierte psychologische Terminologie. Erst von der praktischen Vernunft aus gewann Fichte die einheitliche Grundformel für sämtliche Vernunfttätigkeiten. Zwischen den beiden Kantischen Kritiken lag die Sache ähnlich wie zwischen den Vermögen der theoretischen Vernunft. Eine Begründung 3 der Zweiheit von theoretischer und praktischer Vernunft fehlte; sie 4 war im Anschluß an Tradition und Psychologie aufgenommen. Andererseits war in den Erörterungen über die Autonomie die Möglichkeit eines Zusammenschlusses angedeutet, aber nicht mehr. Empiristische Rudimente hier wie dort. Innerhalb der Kritik der praktischen Vernunft ist nun zweifellos die sittliche Autonomie, d.h. die Selbstbestimmung der praktischen Vernunft als übersinnlicher und überindividueller höchstes Princip. Jede Abhängigkeit der sittlichen Gesetzgebung von materialen, d.h. außer ihr selbst liegenden Motiven ist ihre Zerstörung. Nur in der Freiheit unbedingter Selbstbestimmung erfaßt sich die praktische Vernunft. Freiheit ist Selbstsetzung. Von hier aus fällt nun das hellste Licht auf die Deduktion der Kategorien der reinen Vernunft: Soll das Princip der Deduktion unabhängig sein von aller Empirie, so darf es überhaupt nichts Gegebenes, Gesetztes sein, d.h. es muß das Setzen selbst sein. Freiheit gleich Selbstsetzung. Die reine tätige Selbstbestimmung der Vernunft ist das Princip schlechthin, in dem theoretische und praktische Vernunft zusammengefaßt sind. Die Autonomie der Vernunft begründet ihr theoretisches ebenso wie ihr praktisches Vermögen, und diese Autonomie ist ihre schlechthinnige Freiheit. Das Ich setzt sich selbst, ist die erste absolute nicht Tatsache - sondern Tathandlung, in der alle anderen enthalten sind. Es war eben bemerkt worden, daß dieser Fortschritt in der principiellen Erfassung des Kriticismus zugleich eine Verengung zur

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Über gestr.: des Gegensatzes

4

Hs.: er [bezieht sich auf „des Gegensatzes"; sie = die Zweiheit],

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Folge hatte. Das ist in doppelter Hinsicht der Fall. In der Kritik der praktischen Vernunft wird das Postulat der Freiheit als Vermögen der willkürlichen Aufnahme von Maximen aufgestellt. Dieser - im Gegensatz zum Princip der Vernunftautonomie, etwa als formal zu charakterisierende - Freiheitsbegriff verschwindet bei Fichte. Er hat im durchgeführten System der Vernunft keinen Platz. Erst in der Begründung des Irrationalismus durch Schelling ist er wieder in den Vordergrund getreten und hat in Schellings erster Potenz seine systematische Ausgestaltung erfahren. Schelling steht an diesem entscheidenden Punkt näher an Kant als Fichte. Noch in einer zweiten wichtigen Beziehung ist das der Fall. Kant hat selbst den Zwiespalt zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zu überwinden gesucht, aber in ganz anderer Weise als Fichte. Statt in der Antithese Notwendigkeit - Freiheit die Notwendigkeit aus der Freiheit abzuleiten, setzt er ihre Identität einerseits in das organische Naturgeschehen, andererseits in das künstlerische Schaffen und Nachschaffen. Er legt damit den Grund für die Naturphilosophie und den ästhetischen Idealismus, die sich aber beide durch die Fassung der Freiheit als Identität von Fichte unterscheiden. Sollen die Führer des Idealismus nach ihrer Stellung zum Freiheitsbegriff gruppiert werden, so steht Fichte mit Hegel auf der einen, Kant mit Schelling und Schiller auf der anderen Seite. Von dem jetzt erreichten Verständnis des Fichtischen Freiheitsbegriffs aus lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die gegenwärtige Situation der Philosophie zu werfen, wie sie von Windelband in dem Vortrag über „Die Erneuerung des Hegelianismus" skizziert und zugleich principiell kritisiert ist. 5 Windelband begrüßt den modernen Hegelianismus im Sinne einer normativen Kulturphilosophie, die ihr Material aus der Geschichte der Kulturwerte entnimmt und ihre Normen nach kritischer Methode feststellt. Gegen die Wiederaufnahme der Hegeischen Metaphysik wehrt er sich durch eine doppelte Abgrenzung. Die „unmittelbare Evidenz" der Vernunftwerte „in ihrer immanenten sachlichen Selbstbegründung ... zur tatsächlichen Geltung zu bringen", sei „das ganze Geschäft der Philosophie" 6 ; ihr innerer „Zusammenhang in seiner 7 Totalität" sei eine „notwendige 5

' 7

Wilhelm Windelband, Die Erneuerung des Hegelianismus. Festrede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Heidelberg 1910. Windelband, a.a.O., S. 13. Hs.: ihrer

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Voraussetzung", aber „ein unlösbares Problem" 8 . Dies die eine Restriktion. Was heißt aber „immanente sachliche Selbstbegründung" gegenüber der geschichtlichen Mannichfaltigkeit? Und was heißt „unmittelbare Evidenz" gegenüber der Fülle dessen, was als evident gegolten hat? Gerade das Merkmal des Unmittelbaren charakterisiert nach Fichte das Unfreie. Freiheit von dem Gegebenen wird nur erreicht, wo die Unmittelbarkeit zerstört ist durch das Nein der Antithese. Nur in der Synthese ist Freiheit von der Empirie, aber die Synthese ist das Vermittelte. These-Antithese-Synthese, Unmittelbarkeit, Widerspruch, Mittelbarkeit, da sind wir bei der dialektischen Methode, und sie ist die einzige Form, in der die von Windelband geforderte „immanente sachliche Selbstbegründung"' der Vernunftwerte sich vollziehen kann, wenn das Material die Geschichte ist.10 Die Bejahung der dialektischen Methode ist die notwendige Konsequenz des Übergangs von der Psychologie zur Geschichte. Und dieser Übergang selbst ist notwendig, um den Kriticismus über das Dilemma eines psychologistischen Empirismus einerseits, eines inhaltslos formalen Apriorismus andererseits hinwegzuführen. Fichtes Freiheitsbegriff als methodisches Princip des Kriticismus ist realisiert in der dialektischen Methode. Die zweite Restriktion Windelbands verbietet eine metaphysische Hypostasierung des kantischen „Bewußtseins überhaupt". Das würde insofern Fichte treffen, als er das Princip der Freiheit identificiert mit der Selbstsetzung des absoluten Ich. Was heißt aber metaphysische Hypostasierung?" Wenn es die Setzung eines Seins bedeuten soll, das allen Bedingungen der Erfahrung enthoben ist, so kann bei Fichte keine Rede davon sein. Daß das Ich absolut genannt wird, ist nichts als der Ausdruck für die Tatsache, daß die Geltung eines jeden Vernunftwertes eine überindividuelle und überempirische, also unbedingte ist, daß darum jede Erfassung eines Vernunftwerts in eine über alle Einzelheiten und Gelegenheiten hinausgehende Ordnung der Dinge einführt. Der Satz vom absoluten Ich ist in dieser Beziehung durchaus analytisch. Und daß diese überindividuelle Ordnung der Vernunftwerte ichhaften Charakters ist, nicht ein Abstraktum

"

W i n d e l b a n d , a.a.O., S. 14.

9

W i n d e l b a n d , a.a.O., S. 13.

10

Folgt gestr.: Die dialektische M e t h o d e ist der

"

Folgt gestr.: Windelband d e n k t wahrscheinlich an einen Schluß vom Bedingten auf das Sein eines Unbedingten, wie

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und noch weniger eine spirituelle Kraftsubstanz, das liegt unmittelbar im Begriff der Freiheit als Tätigkeit schlechthin, als Setzen ohne alles Gegebensein. Auch in dieser Beziehung ist der Satz vom absoluten Ich analytisch. Wo der Kriticismus gegenüber dem Empirismus bis in seine letzte Konsequenz, d.h. bis zum Princip der Freiheit als ,2 unbedingtes Handeln durchgeführt ist, da muß die Freiheit als absolutes Ich charakterisiert werden. Alle bisherigen Ausführungen handelten von der konsequenten kritischen Überwindung des Empirismus durch Fichtes Freiheitsbegriff. Wir gehen jetzt in Kürze auf die andere, antidogmatistische Seite der kritischen Philosophie und ihre Vollendung durch Fichte ein. Man hat häufig in der Zersetzung des kantischen Ding-an-sichBegriffs die Haupttat Fichtes sehen wollen. Aber schon die Kritiken Jacobis und Schulzes13 sowie Maimons 14 Lehre vom Bewußtseinsdifferenzial und Reinholds ls Satz vom Bewußtsein hatten diese Aufgabe nach ihrer negativen Seite geleistet. Und andererseits fehlt auch das Motiv jeder Ding-an-sich-Lehre, das Irrationale im Gegebenen, bei Fichte nicht". Eine Deduktion des einzelnen Empirischen als solchen gibt die Wissenschaftslehre nicht, sondern sie stellt die Forderung, die gesammte Tatsächlichkeit als die vom Ich sich selbst gesetzte Schranke erkennend und handelnd in unendlichem Progressus zu überwinden. Der teleologische Rationalismus schließt einen ätiologischen Irrationalismus nicht aus, sondern ein. Der Gegensatz von Dogmatismus und Rationalismus, wie ihn Kant faßt, ist viel tiefer und umfassender, als eine Beschränkung auf das Ding-ansich-Problem es erscheinen läßt. Er gründet sich zunächst auf die Möglichkeit, das Ich als17 Ding zu denken. Bei jedem Gedanken eines Dinges, auch wenn ich mich selbst als Ding denke, bin ich als Subjekt des Gedankens Voraussetzung. Die alte Metaphysik dachte das Ich als Ding mit Eigenschaften wie Einfachheit, Unvergänglichkeit etc.

12 13 14 15

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17

Folgt gestr.: unbedingte Selbstsetzung Gottlob Ernst Schulze Salomon Maimon Karl Leonhard Reinhold Folgt gestr.: Warum das Ich sich ein Nicht-Ich gegenübersetzt, ist auch für Fichte nicht anders zu beantworten als durch eine Veränderung der Fragestellung: Nicht aus einer Ursache, sondern zu einem Zwecke, nämlich dem Sittlichen, setzt sich das Ich als ein beschränktes. Folgt gestr.: unsterbliches

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Kant hat in den Paralogismen der reinen Vernunft gezeigt, daß das Ich-Bewußtsein die bloß subjektive Bedingung jeder möglichen Erkenntnis, der unmittelbare Ausdruck der Einheit der Apperception ist, die von jeder dinglichen Erkenntnis vorausgesetzt wird, selbst aber nicht wie ein Ding behandelt werden darf. Spinoza dachte das Ich untergegangen in die Einheit der All-Substanz, und mit dem Pathos für das Universum predigte er diesen Untergang in das absolute Ding als höchstes Gut. Aber eben dieses Pathos zeigt, daß auch er nicht vom Ich loskam, sondern als Substrat des Unterganges immer wieder ein Ich dachte. Das Ich kann nicht über sich hinwegkommen, und es darf nicht. Hier liegt die Entscheidung, das Ding ist das Bedingte. Ist das Ich ein Ding, so ist der Fatalismus unvermeidlich. Aber das ist das Gebot des kategorischen Imperativs: Du sollst frei sein, du sollst unabhängig von dem zufällig-notwendigen Empirischen das in sich notwendige Vernünftige realisieren. Du darfst dich nicht zum Ding machen, auch wenn du es könntest. Weil es deine Pflicht ist, frei zu sein, darum ist es deine Pflicht, die Freiheit zum Princip zu erheben. In dieser Form nimmt Fichte Kants Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunft auf und reinigt sie damit von dem dogmatischen Rest, der ihr bei Kant anhing. Die Freiheit postulieren, heißt nicht, aus praktischen Motiven ihre theoretisch nicht zu erweisende Realität denken, sondern heißt: An sich selbst die Forderung stellen, frei zu sein, und eben damit die Freiheit realisieren. Gott postulieren, heißt nicht aus praktischen Gründen seine Existenz theoretisch anzunehmen, sondern die Freiheit des absoluten Ich im Individuellen zur Darstellung zu bringen. Unsterblichkeit postulieren, heißt nicht die Fortdauer der Seele nach dem Tode aus sittlichen Gründen zu behaupten, sondern sich über die in Raum, Zeit und Kategorien eingeschlossene Welt des Bedingten erheben zu dem Unbedingten, der Freiheit. Damit ist der dogmatistische Sauerteig völlig aus der Postulatenlehre herausgetrieben, das System der Vernunft auch nach dieser Seite hin rein durchgeführt - freilich auch hier nicht ohne die entsprechende Verengerung Kant gegenüber. Das System der Vernunft vermag das Was der Welt zu erklären, nicht aber das Daß. Sie kann zeigen, daß, wenn eine Welt ist, sie die Geschichte des sich-selbst-setzenden Ich sein muß. Aber warum eine Welt ist, das kann überhaupt nicht bewiesen werden, d.h. als notwendig deduciert werden, das ist irrational. Aber in Kants Postulatenlehre, speciell in der Fassung der Freiheit als

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Willkür, war die Möglichkeit [gegeben]1*, das Irrationale aus der Sphäre der Tatsächlichkeit in die der Freiheit und Tat zu erheben. Kants Lehre vom intelligiblen Fall ist der erste Versuch der Durchführung dieses Gedankens, Schellings Religionsphilosophie und philosophischer Empirismus das erste System, das principiell das Irrationale im Freiheitsbegriff in den Mittelpunkt stellt. Um die beiden Brennpunkte des doppelten Freiheitsbegriffs läßt sich die idealistische Philosophie wie in eine Ellipse grup[p]ieren. In dem einen Brennpunkt steht Fichte und das Princip seines Systems, die Freiheit als Selbstsetzung der Vernunft. Auf der anderen [Seite] Schelling und das Princip seiner Religionsphilosophie, die Freiheit als Macht, sich selbst zu widersprechen. Auf der einen Seite dialektische Methode, Kulturphilosophie, Rationalismus, auf der andern Seite philosophischer Empirismus, Naturphilosophie, Irrationalismus; dort Erklärung des Was oder negative Philosophie, hier Erklärung des Daß oder positive Philosophie. Beide Seiten aber zusammengehalten durch das Princip der Freiheit als Tat. Und" das ist Fichtes Werk.

"

Hs.: zu geben

"

Folgt gestr.: dies Princip zuerst als Princip aufgestellt zu haben ist

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4. Konfirmandenunterricht Zum Text: Hs. in: PTAH US: 020. Die besondere Art des Schreibhefts (Papier), in dem sich das Manuskript findet, verwandte Tillich sonst nur für die während seines Vikariats in Nauen (April 1911- bis April 1912) gehaltenen Predigten (9 Hefte, PTAH 1 IS: 002). Somit ist nach äußeren Kriterien das Heft mit der Aufschrift „Konfirmandenunterricht" (PTAH US: 002) eindeutig der Zeit in Nauen zuzuordnen. Danach haben wir es hier mit einem Text zu tun, den Tillich für den Konfirmandenunterricht in Nauen verfaßt hat. Wahrscheinlich hat er auf dieses Konzept auch als Hilfsprediger an der Erlöserkirchengemeinde in Moabit (1912/13) zurückgegriffen - Abfassungszeit: 1911. 1. Stunde Wesen, Zweck und Mittel des Unterrichts 1. Wesen und Zweck: Die Eltern geben Erziehung, die Lehrer Wissen, der Geistliche sucht, zu Gott zu führen. (Gute Menschen, kluge Menschen, Goites-Menschen) - Parallele zwischen Gottesdienst und Unterricht. 2. Mittel: (a) Von Seiten des Geistlichen: Nicht als Lehrer, sondern als Seelsorger, als Freund, an den man sich wenden kann und den man fragen kann und den man fragen soll. Darum auch: nicht strafen, (b) Von Seiten der Kinder: Der Wille, ein Gotteskind zu werden. Das entsprechende Verhalten: Beten, Bibellesen, in den Gottesdienst gehen, sittliches Verhalten: Für ein gutes Gewissen sorgen. - Wissen und Gewissen. - Ernste Schlußmahnung. Lernen: Jer. 29, 13-14 So ihr mich von ganzem ... Jer. 31, 3 Ich habe dich je und je Lesen: 1. Mose 1 Psalm 104

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2. Stunde 1 Gott in der Schönheit der Natur 1. Vorlesung von Ps. 104. - Besprechung (a) Das Licht: die Farben, Mannigfaltigkeit und Einheit, Regenbogen. (b) Wolken: der Kreislauf des Wassers, der Schatten ... (c) Wind: die Strömungen etc. ... (d) Land und Wasser, Vulkanismus. (e) Der Strand als Grenze. (f) Flüsse und Quellen. (g) Die Umwandlung der Erde in Pflanzen und Früchte.... Die Tiere. ... Der Instinkt. (h) Die Erhabenheit und der Wechsel am Sternhimmel. (i) Die Erhabenheit des Meeres 2. Die rechte Stellung zur Natur: Verwunderung, Ehrfurcht, Dankbarkeit ... Lernen: Ps. 104, 24 Herr, wie sind deine Werke ... Ps. 19, 2 (-7) Lesen: 1. Mose 2; Hiob 38 und 39. 3. Stunde Gott der Schöpfer 1. Allgemeines. Die Buchstaben auf der einsamen Insel; und die Frage nach dem Woher. Die Buchstaben Gottes in der Welt ... Das Kunstwerk in der Wüste. Die Welt als Kunstwerk ... Die Kantische Welterklärung und der Gottesgedanke. ... 2. Die Einzelheiten der Schöpfungsgeschichte. Der Sinn des Sechstage-Werkes, das Recht der Kritik, Einzelkritik ... Die Entwicklungslehre bis hin zum Menschen. 3. Ewigkeit und Zeit, Unendliches und Endliches. Die Unvorstellbarkeit und Erhabenheit des Unendlichkeitsgedankens. Lernen: Joh 1, 1-3 Im Anfang ... Rom. 11, 36 Von ihm und durch ihn ... Lesen: Jes. 40-42; Ps. 98 Neben einer Klammer, die die 2. und 3. Stunde miteinander verbindet: oder einheitlich möglich

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4. Stunde (3 bis 2 Stunden !!) Die Schöpfung des Menschen 1. Die Ebenbildlichkeit . Der Mensch besteht aus Leib, Seele, Geist. - Ebenbildlichkeit nur betr(effend) Geist. 2. Der Leib. Schöpfungsgeschichte und Entwicklungslehre. 3. Die Heiligkeit des Leibes und die Geschlechter. 4. Die Funktionen der Seele. Die Seele der Tiere (und Pflanzen). 5. Der Geist, (a) Der fühlende Geist (Schönheit) (Gott der Künstler).- (b) Der denkende Geist (Vernunft) (Gott die Wahrheit). - (c) Der wollende Geist (Gewissen) (Gott der Heilige). 6. Die Weltherrschaft des Menschen. Lernen: 1. Thess. 5, 23; Ps. 8, 5. Lesen: Ps. 32; Offbg. 27, 1-10; 1. Mose 4. 5. Stunde (2 Stunden!) Das religiöse Bedürfnis des Menschen 1. Die Endlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge und die Sehnsucht nach dem Ewigen. 2 2. Die Einsamkeit jedes einzelnen und die Sehnsucht nach absoluter Gemeinschaft. 3. Die Allgemeinheit der religiösen Anlage. Lesen: Ps. 90; Ps. 73 Lernen: Ps. 42, v. 2, 3, 6. Lesen: Ps. 4 2 . 4 3 ; Ps. 14; Ps. 16 Zusammenfassung. I. Gott und die Natur 1. Die Schönheit und die Zweckmäßigkeit der Natur zeigt uns, daß sie nicht durch sich selbst entstanden ist, sondern durch einen allmächtigen Geist, der sie geschaffen hat und erhält. Diesen Geist nennen wir Gott. 2

Am R a n d : Vergänglichkeit: Pflanzen, Tiere, Weltall, M e n s c h . Friedlosigkeit des M e n s c h e n . G e n u ß , Arbeit, andere M e n s c h e n .

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2. Aus der Natur erkennen wir die Allmacht, die Weisheit und die Schönheit Gottes. 3. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel und der Naturwissenschaft widersprechen sich nicht. Denn in der Bibel kommt es nicht darauf an, wie, in welcher Zeit und in welcher Reihenfolge die Dinge geschaffen sind, sondern, daß Gott sie geschaffen hat. 4. Es ist ein größerer Beweis für Gottes Allmacht und Weisheit, wenn ein Ding sich aus dem anderen entwickelt hat, als wenn jedes besonders geschaffen ist. II. Der Mensch 1. Der Mensch ist Leib, Seele und Geist; das sind aber nicht drei Teile, sondern drei Eigenschaften desselben Wesens. 2. Der Menschenleib ist eine Weiterentwicklung des Tierleibes. 3. Die Seele ist das bewußte Innenleben des Menschen, seine Gefühle, die Wahrnehmungen seiner Sinne, seine Vorstellungen. Auch die Tiere haben eine Seele. 4. Weil der Mensch Geist ist, ist er das Ebenbild Gottes; denn Gott ist Geist. 5. Die erste Fähigkeit des Menschen ist das Denken. Das Denken sucht die Wahrheit.- Die Fähigkeit, irdische Dinge zu erkennen, nennen wir Verstand. - Die Fähigkeit, ewige Dinge zu erkennen, nennen wir Vernunft. - Zum Denken gehört das Sprechen: Denken ist leises Sprechen, Sprechen ist lautes Denken. 6. Alle Erkenntnis ist Gotteserkenntnis; denn Gott ist die Wahrheit. 7. Die zweite Fähigkeit des Geistes ist das Schönheitsgefühl. Alle Schönheit ist eine Offenbarung Gottes, denn Gott ist die Schönheit. 8. Die dritte Fähigkeit des Geistes ist das Gewissen. Das Gewissen ist mahnend vor der bösen Tat und strafend nach der bösen Tat. Ein gutes Gewissen erlangen wir allein durch Vergebung der Sünden. 9. Das Gewissen ist Gottes Stimme im Menschen, denn Gott ist der Heilige. 10. Die höchste Fähigkeit des Geistes ist die Fähigkeit, Gemeinschaft zu haben mit Gott. - Die Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen heißt Religion. 11. Alle Völker zu allen Zeiten haben Religion. Die Gottesleugner setzen einen Götzen an die Stelle Gottes. 12. Jedes Menschen Seele hat eine Sehnsucht nach Gott. Die Vergänglichkeit aller Dinge und das eigene Sterben führt zu Gott; denn Gott ist der Ewige.

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10. Stunde Wesen und Ursprung der Sünde 1. Die Möglichkeit der Sünde. Gott ist Geist. Die Natur ist „Leib". Der Mensch ist Geist und Leib. W o der Geist herrscht, ist keine Sünde; wo der Mensch über den Geist herrscht, ist Sünde. 2. Der Geist ist Wahrheit; die Sünde ist Lüge. 3. Der Geist ist Schönheit; die Sünde ist Häßlichkeit. 4. Der Geist ist Güte; die Sünde ist Bosheit. 5. Der Geist ist Glaube; die Sünde ist die Gottesferne. Exemplifikation aller vier Seiten an Gen. 3 und einem Beispiel aus dem Leben. 6. Adam und Eva Bilder für den Menschen überhaupt. Rom. 11, 32 Rom 3, 23 Rom 3-5 11. Stunde Verbreitung der Sünde, Himmel und Hölle 1. Die Mythologie der Sündenfallgeschichte. (Vergleich mit Entwicklungslehre. Adam = Mensch; Eva = Mutter des Lebens) 2. Der Teufelsglaube. Über Engel und Teufel. Über die Möglichkeit anderer Vernunftwesen. 3. Über Paradies, Himmel und Hölle. Schilderung von Hölle auf Erden (Ballsaal - Verfolgter Mörder). Himmel auf Erden (Krankenstube - Abendandacht in einer armen Familie). Himmel = Gemeinschaft mit Gott, gutes Gewissen. Hölle = Trennung von Gott, böses Gewissen. 4. Die Erbsünde; über Vererbung und Kindersünden. Lesen: Rom. 6, 7 Lernen: Jak. 1, 13-15 12. Stunde Erbsünde und eigene Sünde 1. Über Vererbung im allgemeinen. Beispiele. 2. Die Erbsünde und das Erbgute. 3. Die Gesellschaftsünde und das Gesellschaftsgute. 4. Die Geburt der eignen Sünde. Eigne Sünden, (a) Tatsünden, (b) Unterlassungssünden.

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(a) Gedanken-, Wort- und Werksünden (a) Sünden gegen uns selbst, (b) gegen andere, (c) gegen Gott Die centrale Sünde: Egoismus bewußt und unbewußt Lesen: Matth. 5; Rom 7, 18 u. 19; Rom. 6, 2 3 ; 1. Mose 8, 21 Lernen: 1. Mose 6-12 13. Stunde Das Heidentum 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Gottesferne infolge der Sünde (Bosheit, Irrtum, Häßlichkeit). Gottessehnsucht nach Gott. Suchen, ohne zu finden. Geisterglaube, Animismus, Ahnenverehrung. Die Verehrung aller Naturgegenstände bis hinauf zum Menschen. Götzen und Götzenbilder. Vielgötterei, Völkertum. Zauberer und Priester. Opfer.

8. Die Weissagung im Heidentum (Mysterien). Lesen: 2. Mose 19 und 2 0 v. 18 und 32 Lernen: Jes. 60, 1-3 Zusammenfassung Die Sünde 1. Sünde ist Herrschaft der Natur über den Geist. Nur im Menschin ist Sünde möglich, denn nur im Menschen ist Natur und Gest vereinigt. 2. Gott ist die Wahrheit, die Sünde ist die Lüge. Gott ist die Güte, die Sünde ist die Bosheit. Gott ist die Schönheit, die Sünde ist das Häßliche. Die Sünde ist Trennung von Gott. 3. Die Geschichte vom Sündenfall ist von einem prophetischen Dichter geschrieben. 4. Adam und Eva sind das Bild für alle Menschen. Schlange und Teufel sind Bilder für die Macht der Sünde. 5. Hölle ist Trennung von Gott und böses Gewissen. Himmel ist Gemeinschaft mit Gott und gutes Gewissen.

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Himmel und Höile sind im Menschenherzen. 6. W i r erben die Anlage zum Bösen und Guten von unseren Vorfahren. Das ist die Erbsünde und das Erbgute. 7. Diese Anlage wird verstärkt durch böses und gutes Beispiel. Das ist die Gemeinschaftssünde und das Gemeinschafsgute. 8. Es folgt die eigne Sünde und das eigne Gute. 9. Wir unterscheiden: T a t - und Unterlassungssünden. Gedanken-, Wort- und Tatsünden. Bewußte und unbewußte Sünden. Sünde gegen Gott, gegen andere, gegen uns selbst. 3 10. Durch die Sünde ist die Menschheit von Gott getrennt, hat aber die Sehnsucht nach Gott behalten. Diesen Zustand nennen wir Heidentum. 11. Die Heiden beten nicht zu Götterbildern, auch nicht zu Naturdingen, sondern zu geistigen Wesen, welche in diesen Bildern oder Naturdingen gegenwärtig sind. 12. Weil die Heiden den einen, allmächtigen Gott nicht kennen, beten sie zu vielen Göttern. 13. Weil die Heiden keine wahre Gemeinschaft mit Gott haben, glauben sie an Priester und Zauberer, welche die Gemeinschaft mit Gott vermitteln sollen. 14. Weil die Heiden keine Vergebung der Sünden haben, leben sie in Furcht und bringen die schwersten Opfer. 15. Aber auch im Heidentum lebt die Ahnung von dem wahren Gott und der vollkommenen Gemeinschaft mit ihm. 14. Stunde Die Geschichte Israels. Offenbarung und Ungehorsam. Das Christliche, Wahre im Judentum: 1. Das erste Gebot. Die Einheit und Geistigkeit Gottes. 2. Die anderen Gebote. Die Liebe zu den Menschen. Das Heidnische im Judentum. (1) Sabbath-Gebot und Beschneidung, (2) Gesetz über Rein und Unrein, (3) Opfer und Priester, (4) der Heilige Ort, die Heilige Zeit, die heiligen Gegenstände. Der Erfolg: Das Heidnische wird gehalten, das Christliche nicht. Jes. 3 1 , 3 1 ; Jes. 9 - 1 2 .

1

Am R a n d : Alle Sünden haben ihren Grund in der Selbstsucht.

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15. Stunde Die Weissagungen in Israel 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Sach. 9, 9 5. Mose 18, 15 1. Mose 4 9 , 10 Jes. 9, 6 Jes. 4 0 , 3 Jes. 4 9 , 6 Jes. 6 0 , 1-3 Mich. 5, 1

Tochter Zion, freue dich Einen Propheten etc. Es wird das Zepter Denn uns ist ein Kind Es ist eine Stimme eines Predigers Es ist ein Geringes Mache dich auf und werde Licht Und du Bethlehem Zusammenfassung

1. Im Alten Testament ist Wahres und Irriges, Christliches und Heidnisches vermengt. 2. Wahr und christlich ist der Glaube an einen Gott, der Geist ist und den kein Bild darstellen kann. 3. Wahr und christlich sind die Gebote der Liebe und Barmherzigkeit gegen die Menschen. 4. Heidnisch ist der Glaube an heilige Zeiten, wie Sabbath und Festtage, an heilige Handlungen, wie Beschneidung, an heidnische Orte, wie der Tempel, an heilige Gegenstände, wie Altar und Bundeslade. 5. Heidnisch ist die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren, das Opfer und die Priester. 6. So kam es, daß das Volk Israel keine vollkommene Gemeinschaft mit Gott fand und sich immer lieber an das Heidnische hielt als an das Wahre, Christliche. 7. Weil es aber keine wahre Gemeinschaft mit Gott hatte, konnte es auch seine Gebote nicht erfüllen, sondern die Gebote verlockten es zur Sünde. 8. Darum sehnte es sich nach einer vollkommenen Gemeinschaft mit Gott, wo das Heidnische nicht mehr sein wird oder die Gebote nicht nur auf Tafeln, sondern im Herzen stehen. 9. Es sehnte sich nach einem Erlöser. Diese Sehnsucht findet ihren Ausdruck in den messianischen Weissagungen. Das Leben Jesu 1. Seine Geburt von Maria und Joseph, den Stillen im Lande. Seine Jugend in Nazareth; sein Gang in den Tempel. Luk 2, 4 9 Wisset ihr nicht ...?

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2. Die Taufbewegung des Johannes. Der Gehorsam Jesu gegen die Taufforderung. Die Geistesbegabung. Die Amtsversuchungen. Matth. 3, 17 Dies ist mein lieber Sohn ... 3. Die Berufung der Jünger, die Aussendung der Jünger. Die Sendung und der Zweifel des Johannes. Matth. 11, 6 Selig ist, der sich nicht ... 4. Die Offenbarung des Messiasgeheimnisses an die Jünger. Die Flucht und die Verklärung. Matth. 16, 15.16 5. Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung. Matth. 21, 9 6. Der Kampf mit Sadducäern und Pharisäern. Der Todesbeschluß. Matth. 22, 37-39 Du sollst lieben ... 7. Abendmahl und Verrat des Judas. Die Abendmahlsworte. 8. Gethsemane und die Verhöre. Matth. 26, 39 Ist's möglich ... 9. Golgatha und Grab. Matth. 27, 46 Eli, Eli ... 10. Auferstehung und Himmelfahrt. Jesu Person Menschensohn und Gottessohn Joh. 3, 16 Mark. 10, 45 Menschensohn = wahrer Mensch; Gottessohn = wahres Bild Gottes. Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Die Gottesbildlichkeit ist Geistigkeit, Herrschaft des Geistes über die Natur. Nicht Zerstörung der Natur. (a) Beweise, daß die Natur nicht zerstört [ist]. Leibliches: 1. Luk. 2, 52 Er wächst ...; 2. Matth. 3, 15 Er läßt sich taufen; Matth. 4, 2 Ihn hungert; Joh. 19, 28 Mich dürstet; Joh 4, 6 Er ist müde; 6. Matth. 8, 24 Er schläft; 7. Er stirbt. Seelisches: 1. Luk. 19, 41 Er weint; 2. Er freut sich. Joh. 2; 3. Mark. 10, 21 Er liebt; 4. Er zürnt. Joh. 2; Joh. 11, 33; 4. Matth. 4. Er hat Freude an der Welt und am Erfolg. 5. Gethsemane. Er zittert. 6. Er verzweifelt (Kreuz). 7. Er irrt (Judas; Eschat[ologie]).

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Geistiges: 1. Er läßt sich taufen. 2. Er kämpft mit der Lüge, die ihm die Todesnotwendigkeit ausreden will. 3. Er ist nicht allmächtig, sondern nur im Dienste Gottes. 4 . Er kämpft mit dem Ungehorsam. 5. Er geht einsam in die Wüste und betet (Luk. 5, 16). Zusammenfassung I. Die Hauptabschnitte des Lebens Jesu 1. Die Jugend Jesu wurde weder beeinflußt von der frommen Volkspartei, den Pharisäern, noch von der ungläubigen Herrscherpartei, den Sadduzäern, sondern von den Stillen im Lande, die auf den Messias hofften und in der Schrift lebten. 2 . Bei der Taufe durch Johannes kam über Jesus die Gewißheit, daß er der verheißene Messias sei; durch die Versuchungen der Wüste wurde ihm gewiß, daß der Weg des Messias Leiden und nicht Herrlichkeit sei. 3. Er predigte, wie Johannes, die Nähe des Himmelreichs und den W e g zum Himmelreich und tat Werke der M a c h t und Barmherzigkeit; niemand aber sagte er, daß er der Messias sei. 4 . Seit der Verklärungsvision und dem Petrusbekenntnis wußten die Jünger das Messiasgeheimnis. Zu derselben Zeit wußte Jesus, daß der Messias sterben müßte. 5. Die Juden erwarteten einen Messias, der mit großer Kraft aus dem Himmel kommen und das Himmelreich auf Erden aufrichten würde. Sie mußten es deshalb für eine Gotteslästerung halten, wenn ein einfacher Mensch sich für den Messias hielt. 6. Judas verrät dem Hohenrat das Messiasgeheimnis. Infolgedessen wurde Jesus wegen Gotteslästerung angeklagt und verurteilt und auch die Jünger wurden an ihm irre. 7. Erst am Ostertage wurde den Jüngern das Messiasgeheimnis ganz enthüllt: daß die Herrlichkeit des Messias in seiner Niedrigkeit, die Kraft des Messias in seinem Leiden, das Leben des Messias in seinem Tod zu finden ist. II. Die Person Jesu 1. Jesus wird in den Evangelien Menschensohn und Gottessohn genannt. Das ist bildlich gemeint: der, welcher das wahre Wesen des Menschen und das wahre Wesen Gottes hat. 2. Weil er das wahre Wesen des Menschen hat, darum hat er auch

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das wahre Wesen Gottes; denn der Mensch ist das Ebenbild Gottes. Gottessohn ist das Rätsel, Menschensohn die Lösung. 3. Er ist wahrer Mensch nach Leib, Seele und Geist: 4. Sein Leib hungert und dürstet, er ist müde und schläft, er leidet und stirbt. 5. Seine Seele empfindet Freude und Schmerz, Liebe und Zorn, Mitleiden und Mitfreuden; er zittert und bebt vor dem Tode, er verzweifelt am Kreuz. 6. Sein Geist muß kämpfen gegen die Lüge und die Sünde. Er muß immer von neuem um die Gemeinschaft mit Gott beten und ringen. 7. Aber er hat die Lüge überwunden und ist die Wahrheit geworden; er hat das Häßliche abgewiesen und ist die Schönheit geworden. Er hat die Sünde besiegt und ist der Heilige geworden. Er hat die Gemeinschaft mit Gott festgehalten und ist der erstgeborene Sohn Gottes geworden. Das Werk Jesu I. Offenbarung Gott ist Geist. Die Menschen stellen sich den Geist verschieden vor (Heidentum). Die Wissenschaft stellt sich Gott verschieden vor. Der einzelne Beter denkt ihn sich anders als der andere. Joh. 1 , 1 8 ; Joh. 14, 9 „Wer mich siehet" Vom Antlitz Jesu. (1) Heiliger Ernst: Er verkündet Buße. Er straft die falsche Geistigkeit der Pharisäer. Er droht seinen Jüngern mit Verdammnis. Er verdammt die Städte. Er erzählt vom letzten Gericht. Er spricht das Wehe über Judas. (2) Heilige Gnade: Er nimmt sich der Kinder an. Er liebt den suchenden Jüngling, er heilt die Kranken, er vergibt dem Gichtbrüchigen die Sünden; er ist bei den Zöllnern und Sündern; er bittet für seine Feinde. Hebr. 1, 1-2; 1. Tim. 6, 16. II. Erlösung (a) von der Sorge. Matth. 6, 33. Von dem Geld. Matth. 6, 24. Rom. 8, 28-38 und 39 Vorsehungsglaube. (b) vom Tode 1. Kor. 15, 42-44 und 55 und 57, (c) vom Irrtum Joh 8, 31 und 32; Joh. 8, 12; (d) von der Schuld. 2. Kor. 5, 21; 1. Petr. 1, 18 und 19; Jesaja 53, 4 und 5; Joh. 1, 2 9 ; 1. Joh. 1, 7; Matth. 20, 28.

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Die Sünde ist Feindschaft gegen Gott. Das Kind, das gesündigt hat, fürchtet sich, meidet den Vater. Der Zorn Gottes ist über uns, und darum wollen wir nichts von ihm wissen; aber das Kind will auch keinen schwachen Vater haben, der gleich verzeiht und alles durchgehen läßt. Und doch muß es wieder mit ihm eins werden. Wie ? Der Vater trägt das Leiden selbst, indem er den Zorn wirken läßt, wo er doch Liebe haben möchte. So hat Gott die Strafe selbst getragen, indem er seinen Sohn schickte. ... Dafür [ein] Beispiel: Der König hat den Aufstand unterdrückt; Tausende sollen sterben; da erbarmt sich der Sohn des Königs und nimmt die Strafe auf sich; dadurch werden die anderen beschämt und ergriffen von der Liebe und kommen wieder zum König und seinem Sohn. Aber der Sohn ist unschuldig, darum ... weckt Gott Christus wieder auf. Der Sinn dieser Gedanken gegenüber dem platten Rationalismus. Die Grenzen des Verstehens. Der Trost, der aus diesen Gedanken quillt. Hier das Centrum des ganzen Christentums. ... Allgemeines über das Schuldgefühl der Menschen, die Bitterkeit, die innere Unruhe, die Freudlosigkeit, die Lieblosigkeit. Der wahre Mensch ist der, der schuldfrei ist vor Gott. „Vergib uns unsere Schuld" als Centraigebet des Christen. Primäre Resultate: Erlösung vom Unfrieden, Rom. 5, 1 (a-c). (e) Erlösung von der Knechtschaft der Sünde. Rom. 1, 16; Rom. 3, 28; Eph. 2, 8 und 9. Verdienst oder Gnade. Das Werk macht zum Knecht und bringt Furcht. Die Gnade macht zu Kindern. Die Gnade wird ergriffen durch den Glauben: Der Glaube ist die geöffnete Hand; die Schwierigkeit des Glaubens. Der Glaube als Vertrauen. Der Glaube als Gemeinschaft mit Gott. Glaubenstypen: Der Pharisäer und Zöllner. Petrus. Thomas. Paulus. Der Katholicismus und Luther. Die Geburt der Liebe aus dem Glauben. Man liebt aus Dankbarkeit. Man liebt, wenn man vertraut, Liebe gleich Gemeinschaft. Liebe gleich Erkenntnis. 1. Kor. 13, 13. Die Liebe zu Gott schafft Liebe zu dem, der Gott auch liebt. - Das Gesetz.

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5.

Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens Zum Text: Hs. verschollen, Xerokopie der Hs. (Schulheft) im PTAM. Im Schulheft finden sich u.a. eine Gliederung der Denkschrift „Kirchliche Apologetik" (= GW XIII 34-58), die Gliederung des zweiten im „Bericht über die apologetische Vortragstätigkeit im Winter 1912/13" (GW XIII 59-63) angekündigten Vortrags „Der Mut zur Wahrheit" (vgl. GW XIII 60) sowie eine Liste von 16 Mitarbeitern an den sog. Vernunftabenden. Der Inhalt des Vortrags entspricht dem im Bericht (GW XIII 60) genannten Thema „Die gegenwärtige Lage des Denkens und ihre geschichtlichen Voraussetzungen". Mit diesem Vortrag eröffnete Tillich im Winter 1912/13 seine apologetische Vortragstätigkeit. Abfassungszeit des Textes: Winter 1912/13. Meine Damen und Herren! So paradox es klingen mag: Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens ist der Gewissenskonflikt eines Bettelmönchs. Nicht von den aufgeklärten Heiden der Renaissance, nicht von den gelehrten Humanisten stammt die Freiheit des Denkens, sie alle hielten Frieden mit der Kirche, ihnen allen fehlte der Mut und der Wille zum Märtyrer, sondern von dem Mönch Luther, der zum Ketzer und Propheten wurde, weil ihm die Autoritäten seiner Zeit den Weg zu Gott versperrt hatten. Ein Stück Religionsgeschichte war die Befreiung des Denkens von der Religion, und Religionsgeschichte ist und bleibt alle Geschichte des Denkens in ihrer innersten Tiefe. Aus den mythischen Phantasien der Religion über Weltentstehung und Weltgrund ist die griechische Wissenschaft geboren. In der steten Auseinandersetzung, den heftigsten Kämpfen mit den Göttervorstellungen des Volkes nahm sie ihren Fortgang; auf ihrem Gipfel angekommen, nannte sie das Höchste und Letzte, zu dem sie gelangte, Gott, und gegen Ende suchte sie eine neue Religion zu schaffen und gab der christlichen Kirche die religiöse Mystik als wertvollstes Geschenk für die Zukunft. Und nicht anders ist es in der neueren Zeit, wie wir noch sehen werden. Wer den Schlüssel der religiösen Fragestellung hat, dem tun sich die Pforten zu dem innersten Leben des Gedankens auf, die dem profanen, unreligiösen Blick für immer verschlossen bleiben.

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Doch zurück zu Luther: Er hat die Bresche geschlagen in die Mauern päpstlichen Gedanken- und Gewissenszwanges, und durch diese Bresche drang die Fülle neuen freien Lebens, das im ausgehenden Mittelalter aufgekeimt war und doch zu keiner Entfaltung hatte kommen können. Es war im Protestantismus durch die Tat Luthers für immer entschieden, daß das Gewissen eines einzelnen das göttliche Recht hat, sich gegen jede menschliche Autorität um der Wahrheit willen zu behaupten. Das System der Autorität war im Princip zerbrochen. — Im Princip, sage ich, denn die Wirklichkeit scheint dagegen zu sprechen. Luther selbst hat die Verfolgung der Täufer, d.h. der Subjektivisten und Freigeister seiner Zeit, gutgeheißen, und auf Luther folgte eine Periode der strengsten Orthodoxie, die selbst den Katholicismus an dogmatischer Härte und Unterdrückung jedes Zweifels und jeder Kritik übertraf. Es sind Kräfte in dem Princip der Autorität wirksam, die zu verstehen wir bis in das Dunkel der Vorzeit zurückblicken müssen. Die Furcht vor dem Geheimnisvollen, Wunderbaren, Übernatürlichen, vor Wesen und Kräften, die hinter der Oberfläche der Dinge wirken und denen der Mensch willenlos preisgegeben ist, das war es, was die älteste Menschheit wie in einem Zauberbann gefangen hielt und sie der Autorität des Priesters und Zauberers 1 unterwarf. In Zaubermitteln und Zauberformeln, in wunderlichen Zeremonien und schrecklichen Opfern betätigt sich die Gebundenheit des altheidnischen Geistes. Er ist in Furcht und Knechtschaft sein Leben lang. Bis die Frühlingszeit der Menschheit kam und sie erwachte von ihren dumpfen Träumen und die Gesänge Homers die Götterwelt mit dem lichten Gewände der Poesie umkleidete und die Frage[n] der Denker nach dem Wesen der Dinge die Natur entzauberten und zugleich in Israel durch das Wort der Propheten Opfer und Priestertum ein Geringes wurde[n] gegen die großen Forderungen Gottes: Liebe zu üben und demütig zu sein vor Gott. Wie ein Frühlingssturm brauste der freie Geist durch die Menschheit, hier allein gebunden durch das Gebot der Schönheit und Wahrheit, dort allein durch das Gebot des Guten und des Gehorsams gegen Gott; aber der Frühling ging vorüber, und der Sommer, und die Menschheit wurde müde. Die schöpferischen Kräfte erlahmten, die Gegenwart wurde

Folgt gestr.: des Mittelalters

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arm; der Geist der Prophetie verstummte. Der Gedanke wußte nichts Neues mehr zu schaffen. Da blickte man zurück in die Vergangenheit und ihre Größe. Ihr Reichtum machte sie der armen Gegenwart zur Autorität. An die großen Namen der Vorzeit knüpfte man an; unter ihrem Namen schrieb man. J e älter, desto verehrungswürdiger; und aus der Tiefe des Volks kamen die Mythen und Zauberformeln der Urzeit in die Höhe und schienen den an ihrer Weisheit Verzweifelnden als unmittelbare göttliche Offenbarung, heiliger und wertvoller als alles, was die Gegenwart zu bieten hatte. In Israel aber, dem Volk, das erwählt war, die religiöse Entwicklung der Menschheit zu tragen, kam das Princip der Autorität zur schärfsten Ausprägung. Unnahbare Heiligkeit umkleidete jeden Buchstaben der Schrift, so daß nicht einmal Schreibfehler verbessert werden durften. Um den Geist legte sich der Buchstabe wie eine harte Kruste und war daran, ihn zu ersticken. Buchstabenknechtschaft war das Judentum geworden. In diese alternde Welt, die sich zurücksehnte nach den Autoritäten ihres Kindesalters und doch nicht befriedigt wurde von ihnen, weil die Naivität verloren war, trat Jesus Christus und wurde die Autorität, die alles andere bei Seite schob, in der das gesteigertste Autoritätsbedürfnis volles Genüge fand. Und auf diesem Grunde richtet die christliche Kirche das gewaltigste System der Autorität auf, das die Welt gesehen hat; nicht mehr in der alten sterbenden Welt, sondern unter jungen kindlichen Völkern, die der Autorität bedurften und mit Begierde die Formen und Mittel des Systems der Autorität aufnahmen, die die alternde Welt geschaffen hatte. Die hinreißende Gewalt ungebrochenen Glaubens, die imponierende Macht priesterlich-göttlicher Weltherrschaft, die wundervolle Welt des Wunders, des mystischen Dämmerlichts, in dem nichts unmöglich und das Unmöglichste das Wirklichste ist, die weltverneinende Kraft der Askese nicht nur auf dem Gebiet des Lebens, sondern auch auf dem des Denkens: das alles vereinigte sich, um diesem Gebäude der mittelalterlichen Kirche eine Autoritätsstellung zu geben, durch die sie geradezu an Gottes Stelle trat. Und nun sollte das alles fallen. Der Bau war zertrümmert und konnte so nie wieder aufgerichtet werden. Aber die Wege der Geschichte sind verschlungen. Noch ließ die Kraft autoritativen Glaubens die Geister 2 nicht los. Während Luther, weil er in der pau2

Folgt gestr.: der M e n s c h e n

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linischen Lehre von der Gesetzesfreiheit3 den Trost für sein beunruhigtes Gewissen fand, die Bibel der Kirchenlehre entgegensetzte, machten des Propheten Schüler ein neues Gesetz daraus und stellten eine neue Autorität neben die alte. An Stelle der Kirchenlehre der Schriftbuchstabe, an Stelle des Papstes, der die Kirchenlehre verkündigt, die Professoren der Theologie, die die Schrift auslegen. Allein das ist Halbheit. Denn nun handelt es sich darum, wie die Schrift ausgelegt wird, nach welchen Maßstäben? Wenn mit verschiedenen Maßstäben ausgelegt wird, wer entscheidet, welches der richtige ist? Soll der Standpunkt der Schriftautorität wirklich durchgeführt werden 4 , so gibt es nur eine Möglichkeit: Rückkehr zu dem, der im Namen der unfehlbaren Kirche mit Unfehlbarkeit die richtige Auslegung verkündigt, zum Papst; aber eben aus dem Protest gegen diesen Weg ist der Protestantismus geboren, er ist unmöglich! Meine Damen und Herren! Sie sehen! Mit diesen letzten Bemerkungen sind wir im Kampf der Gegenwart. Hinter allen kirchlichen Kämpfen, mögen sie Apostolikums-Streit oder sonstwie genannt [sein], steht der Kampf um die Schrift. Hinter dem Kampf um die Schrift aber steht der Kampf um die Geltung einer Autorität, welche die Wahrheit verbürgt. Meine Damen und Herren! Es ist nicht orthodoxe Rechthaberei, es ist nicht pietistische Enge, sondern es ist der unmittelbare Lebenstrieb des religiösen Bewußtseins, wenn es sich seine Bibel, d.h. seine Autorität nicht nehmen lassen will; und dennoch fehlt diesem Kampfe für die Autorität die hinreißende Kraft der übermächtigen Wahrheit, weil er auf dem Boden des Protestantismus in sich selbst zwiespältig ist und die innere Konsequenz der Wahrheit stärker bleibt als selbst die heißesten Wünsche des Gefühls. Die Geburt des Protestantismus allein durch die Macht der Wahrheit hat das bewiesen. Somit haben wir die eine große Linie gezogen, die für das Denken der Gegenwart charakteristisch ist, die Linie der Autorität. Wir haben ihren Ursprung in der Urzeit und dem innersten Wesen des Menschen, ihre höchste Entfaltung im Mittelalter und ihre Selbstaufhebung im Protestantismus betrachtet. Es ist die Größe und die Not

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Über gestr.: weil er in den großen Gedankengängen des Paulus Über gestr.: wenn einmal der Standpunkt der Autorität restlos durchgeführt ist,

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unserer Zeit, das Ende dieser Entwicklung mitzuerleben und vor die Aufgabe gestellt zu sein, hier neue Wege zu suchen um der Wahrheit willen, auch unter den schwersten Opfern. Wie notwendig es aber ist, diese Linie der Autorität in neuen Formen weiterzubilden, das zeigt die Betrachtung der anderen großen Linie, des freien Denkens von den Tagen seiner Befreiung an. Wie einst die Frage der alten griechischen Philosophen nach dem Wesen der Natur die großartige phantastische Welt der alt-heidnischen Mythen und Kosmogonien in sich selbst zusammensinken ließ und die Welt entzaubert vor dem Blick des Denkers stand, so hat das Neuerwachen der freien Naturwissenschaft die mystische Dämonenund Wunderwelt des5 Mittelalters vertrieben durch das helle, klare Sonnenlicht der Naturerkenntnis. Die ewig offene Natur, die jeder sehen kann, der will, ihre unverbrüchlichen Gesetze, die jeder nachprüfen kann durch das Experiment, ihre Ordnung und Harmonie, ihre Nüchternheit und Tiefe: das alles ist immer wieder die Macht, an der auch die schönste und gefühlsgetragenste Welt der Phantasie zerbrechen muß. Die Natur, die nur erkannt wird durch freie Beobachtung, sie ist immer wieder die starke Wurzel freien Denkens. Der Natur gegenüber gibt es keine Autoritäten, denn jeder kann selbst nachprüfen. 6 Mit der Naturwissenschaft aber ging Hand in Hand eine andere, die allergewisseste, abstrakteste, nüchternste aller Wissenschaften, die Mathematik. Keine andere Wissenschaft erreicht auch nur annähernd die Exaktheit und völlige Sicherheit der mathematischen Beweise. Die mathematische Evidenz wurde zum Ideal der wissenschaftlichen Evidenz überhaupt. Wahrheit ist, was so klar und einleuchtend ist wie die mathematischen Sätze. Das trifft aber in erster Linie zu auf die mathematische Naturwissenschaft: Newtons Gesetz der Schwere, Galileis Fallgesetze, Keplers Berechnung der Planetenbahnen wurden das Fundament der neuen Weltanschauung. Cartesius, der Anfänger der modernen Philosophie, ist das typische Beispiel für diese Lage. Er beginnt mit dem völligen Zweifel; alles, was Autorität heißt, selbst die Autorität unserer sinnlichen Wahrnehmung, wird in Frage gestellt. Nur eins bleibt gewiß: Ich, der ich zweifle, kann doch daran nicht zweifeln, daß ich zweifle. Ich 1

Folgt gestr.: Katholicismus

6

Folgt gestr.: So wuchs denn im 17. Jahrhundert, getragen von den siegreichen Fortschritten der Naturwissenschaft, eine Weltanschauung empor, die sich

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denke, also bin ich, so hat es Cartesius formuliert. Und weiter hat alles Gewißheit, was so gewiß ist wie mein Denken, was die Notwendigkeit des Denkens hat. Denknotwendig aber ist vor allem Gott nach Cartesius. Und auf diese Denknotwendigkeit wird nun weiter ein System der vernünftigen Theologie aufgebaut, zu deren Anerkennung jedermann allein durch die Denknotwendigkeit gezwungen werden kann, ohne jede Kirchen- oder Schriftautorität. Das große Meisterbild aller mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltanschauung aber ist Spinozas Ethik. Hier ist die WeltenMathematik vereint mit der tiefen Mystik eines Geistes, der wie kaum ein zweiter in Harmonie stand mit dem Geist des Universums, von dem er sprach. Er war ohne Schüler, unbekannt, verfolgt, ausgestoßen von seinen jüdischen Glaubensgenossen, lange Zeit vergessen, und dennoch unter allen Sternen, die am geistigen Himmel der neuen Zeit stehen, der leuchtendste: Schelling, der Philosoph, Schleiermacher, der Theologe, und Goethe, der Dichter und Mensch, nannten ihn ihren Meister. Wenn dagegen in neuester Zeit ein Epigonenmonismus sich mit Spinozas Namen deckt und mit unphilosophischer Arroganz das monistische Jahrhundert für eröffnet erklärt, so ist demgegenüber zu erinnern, daß nicht die Epigonen und Nachbeter die wahren Nachfolger großer Geister sind, sondern vielmehr die selbständigen Denker, die oft im schärfsten Gegensatz zu dem stehen, dessen Werk sie fortsetzen. Welche Denker das waren, die Spinozas Werk fortführten, soll uns das Folgende zeigen. Eine Weltanschauung wie die mathematisch-naturwissenschaftliche des 17. Jahrhunderts führt eine bestimmte Gemütsstimmung mit sich, Gefühlswerte, durch die sie eindrucksvoll und wirksam [wird]7. Wir hatten schon von dem Bewußtsein der Harmonie gesprochen, von dem die ganze Persönlichkeit Spinozas durchdrungen war. Mit theoretischer Klarheit wurde diese Stimmung ausgesprochen von Leibniz, dem schöpferischen Mathematiker und tiefsinnigen deutschen Philosophen. Er formulierte den philosophischen Optimismus. Die Welt ist die beste aller möglichen Welten; der Mangel, der ihr anhaftet, kommt aus ihrer Endlichkeit; nur das Unendliche ist ohne Mangel; eine Welt ohne Mängel zu schaffen, wäre auch für Gott unmöglich gewesen. Es ist dies eine deutliche Konsequenz der naturwissenschaftlichen Weltanschauung: Eine Welt mathematisch-lo-

7

Hs.: werden

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gischer Vernunftwahrheiten kann nur als vollkommen angesehen werden: denn Vernünftigkeit ist eben Vollkommenheit. Diese Gedanken der großen Mathematiker und Philosophen des 17. Jahrhunderts und diese ihre Gemütsstimmung wurde[n] im 18. Jahrhundert [fortgeführt]". Es entstand die Geisteswelle, die wir jetzt mit oft nur schlecht begründeter Geringschätzung Aufklärung oder Rationalismus nennen. Aufklärung ist nichts anderes als Popularisierung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltanschauung der großen Denker des 17. Jahrhunderts. Durch die Aufklärung wurde das wirklich, was die religiöse Umwälzung ermöglicht hatte: das Autoritätsprincip verlor seine Kraft im Bewußtsein der Massen. Die sogenannten englischen Deisten, Literaten zweiter Ordnung, begannen den Kampf gegen alles, was übervernünftig, wunderbar, autoritativ im Christentum ist. Sie wirkten vor allem auf Frankreich, durch Voltaire und Friedrich den Großen auch auf Deutschland; hier kam ihnen die sogenannte vernünftige Philosophie Wolffs entgegen, und all das wirkte zusammen zu einem fast völligen Zusammenbruch der alten kirchlichen Traditionen. Freilich, ein Dreifaches hielt der Rationalismus fest: Gott, Willensfreiheit, Unsterblichkeit der Seele. Für dies Dreifache wurden Beweise aufgestellt, von denen man glaubte, sie wären so klar und sicher wie jeder mathematische Beweis. Gott und die Seele, Rechenexempel für den Weltenmathematiker. Aber wie, wenn man sich verrechnet hätte? Und schon mehrten sich die Stimmen, die das aussprachen. War überhaupt jemand durch diese Beweise für das Dasein Gottes überzeugt worden? Wenn aber nicht, so blieb allein die Natur übrig und ihre Gesetze. Der Naturalismus war das Resultat der naturwissenschaftlichen Entwicklung, und weil auch in der Natur eigentlich nur die Gesetze der Körperbewegung sich exakt berechnen ließen, der mechanistische Materialismus. In Frankreich wurde er zuerst ausgesprochen, und 1792 setzte der Revolutions-Konvent die Vernunft an Stelle Gottes. Materialismus das Ende der Wege des Denkens, des freien, wissenschaftlichen Denkens - so schien es einen Augenblick. Aber es gibt noch einen anderen Ausgang. Aufklärung und Rationalismus waren aufgebaut auf die Überzeugung: Was denknotwendig ist, ist auch wahr und entspricht der Wirklichkeit. Das schien so selbstverständlich, daß niemand daran zweifelte. Nun aber zweifelte jemand daran: der

Lücke in der Hs.

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Engländer David Hume stellte die Frage: Mit welchem Recht behauptet ihr, daß das Gesetz von Ursache und Wirkung, in dem ja alle Naturgesetze enthalten sind, wirklich ein Gesetz der Natur und nicht vielmehr eine Gewohnheit Eures Denkens ist? Meine Damen und Herren! Es war ein Moment höchster Spannung für das moderne Denken, für die ganze moderne Kultur, als Hume das Gesetz der Kausalität in Frage stellte. Denn diese Frage allein genügt, um den Rationalismus und Materialismus ein für alle Mal zu zerbrechen; aber sie genügt auch, wenn sie unbeantwortet bleibt, das geistige Leben überhaupt zu zerbrechen. Denn mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung ist die Wahrheit selbst in Frage gestellt. Wo aber der Wahrheitsgedanke zerbrochen ist, da ist der Geist des Menschen selbst zerbrochen; er ist nur eine praktisch eingerichtete Maschine zur Befriedigung der höheren oder niederen Lebensbedürfnisse. Mensch und Tier stehen qualitativ auf gleicher Stufe. Aber die Antwort wurde gegeben; Immanuel Kant ist der Vater des modernen Geisteslebens geworden, dadurch, daß er sie gab. Ja wohl, die Gesetze der Natur sind Gesetze Eures Geistes. Aber eben darum sind sie wahr. Nicht die Natur gibt dem Geist Gesetze, sondern der Geist der Natur; die Natur ist nichts, was jenseits des Geistes stände, ein eignes Leben nach eignen Gesetzen führend, sondern sie ist die vom Geist geformte und gebildete Welt der Erscheinung. Weil der Geist sich selbst wiederfindet und seine eignen Gesetze im Naturerkennen, darum ist Naturerkenntnis wahre Erkenntnis. Der Wahrheitsgedanke ist gerettet, vertieft und verinnerlicht. Und nun folgten die großen Tage des deutschen Idealismus; nun folgte Fichte, der Philosoph des Ich, der Tat und des Willens; er, der größte Gegner Spinozas, war sein wahrer Fortsetzer. Wo Spinoza vom Universum, von der Substanz, gewissermaßen von dem absoluten Ding gesprochen hatte, da sprach Fichte von dem absoluten Ich, das Tat und Freiheit ist. Im Anfang war die Tat. Es folgte Schelling, der Philosoph der Natur, der die vom Rationalismus und Materialismus entgeistigte Natur von neuem lebendig machte, indem er zeigte, daß die Natur im Innersten Leben und Geist ist. Im Anfang war die Kraft. Es folgte die Romantik, die sich an Goethe und Schelling anschloß und mit genialer Fähigkeit des Nachempfindens den Reichtum der alten Traditionen, die Mystik und Tiefe des Mittelalters, von neuem lebendig machte und im Laufe ihrer Entwicklung dem Christlich-Religiösen, ja dem Katholischen so nahe kam, daß einige

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ihrer Führer, wie Friedrich von Schlegel, katholisch wurden: Triumphe des Autoritätsprincips auf dem Gipfel moderner Kultur und freien Denkens. Es folgte Hegel, der Philosoph der Geschichte, der Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Geschichte, alle Seiten des Geisteslebens zusammenfaßte zu dem umfassendsten und durchgebildetsten System, das die Geschichte der Philosophie kennt. Der Geist erforschet alle Dinge, denn er erfaßt in allem nur sich selbst. Im Anfang war der Geist. Staunend stand die Welt vor diesem Riesenbau. In diesem System, das alles Wirkliche umfaßte, schien das freie Denken sein Ziel gefunden zu haben, ein Ziel, gleich achtunggebietend wie das System der Autorität; selbst eine Art Autorität, eine Autorität innerer Art, der niemand sich entziehen könnte. Die große Kluft der Zeit schien überbrückt, das Denken Frieden gefunden zu haben nach drei Jahrhunderten tiefster Unruhe. Eine Fülle von Schülern, meistens Theologen, sorgten für Verbreitung der Lehre ihres Meisters; er war ein Fürst im Reiche des Geistes wie kaum einer zuvor. Und nun 2 0 - 3 0 Jahre später: der Bau war zertrümmert; jeder Gassenjunge des Geistes wurde beklatscht, wenn er seine Unwissenheit und Niedrigkeit gegen jene Großen unserer zweiten Renaissance ausließ. Der tausendfach überwundene Materialismus wurde eine M a c h t wie nie zuvor. Eine Abwendung vom Geistesleben, gewaltig unterstützt durch die Entwicklung der Technik und Industrie und die Hebung des Wohlstandes, vollzog sich. Auch Theologie und Kirche verließen zu ihrem Schaden den scheinbar gänzlich zertrümmerten Bau. Die Theologie hätte tiefer sehen sollen, sie hätte sehen sollen, daß die Fundamente und Mauern noch standen, obgleich dieser oder jener Zierrat, ja dieses oder jenes Gewölbe zerfallen waren. Sie hätte eine Trägerin des Idealismus, des Glaubens an die Kraft [und] Wahrheit des Princips der Innerlichkeit, bleiben sollen, anstatt ängstlich zurückzukehren in die Trümmer des Systems der Autorität und zu versuchen, mit allerlei neuem Putz aus den Trümmern das Alte wieder erstehen zu lassen. Die Kluft zwischen ihr und den Gebildeten wäre nicht so groß geworden. Nun aber die Frage: Wie war diese ganze tragische Wendung möglich? Oder vielmehr: warum war sie notwendig? Meine Damen und Herren! Weil es den Principien des freien Denkens widerspricht, daß ein System, und sei es das großartigste, die Stelle einnimmt, die das System der Autorität einnahm. Aus dem freien Denken folgt das

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niemals ruhende Recht der Kritik, die Notwendigkeit des Weiterarbeitens. Tritt ein System mit dem Anspruch auf, das Ende der Wege des Denkens zu sein, so folgt Rückschlag mit doppelter Gewalt. Das war die Tragik des deutschen Idealismus. So scheint denn in der Tat Skepsis, Verzweiflung an der Wahrheit das Ende dieser Linie des freien Denkens zu sein, und es ist kein Wunder, wenn die skeptische Stimmung bei weitem die überwiegende ist. Nur ein Ausweg scheint übrig zu sein: Rückkehr zur Autorität; aber diese ist in sich selbst zusammengebrochen. Das ist die gegenwärtige Lage des Denkens. Sie erscheint verzweifelt; aber eben dieses totale negative Resultat ist die Voraussetzung für ein Positives. Solange die beiden von mir gezeichneten Linien selbständig nebeneinander hergingen und jeder von sich selbst glaubte, allein wahr zu sein, war eine Überbrückung nicht möglich. Nun aber, wo jede von beiden in sich selbst in ihrer Einseitigkeit zusammengebrochen ist, besteht die Möglichkeit, eine Einheit zu finden, in der beide ihre Ausschließlichkeit verloren haben. 9 Weil wir an die Wahrheit, weil wir um unseres Geistes und um unseres Gewissens willen an die Wahrheit glauben müssen, darum glauben wir auch, daß dieser Weg gefunden werden kann.

Folgt gestr.: D a r a n mitzuarbeiten, heute und an den folgenden Abenden, lade ich Sie ein.

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6.

Das Problem der Geschichte Zum Text: Hs. (Schulheft) verschollen, Xerokopie der Hs. im PTAM. Die äußeren Kriterien der Hs. gleichen denen der Hs. des Vortrags „Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens" (Text Nr. S). Der Vortrag gehört in die Reihe der apologetischen Vorträge Tillichs. Abfassungszeit: Winter 1912/13. Einleitung. Meine Damen und Herren! Das Problem der Geschichte stammt, wie fast alle dringenden und lastenden Probleme des Geisteslebens der Gegenwart, aus den Gegensätzen des 18. Jahrhunderts. In dem Ringen des Rationalismus gegen die älteren Traditionen wurde das Recht aller Tradition, alles geschichtlich Gegebenen, der Geschichte selbst zweifelhaft. Die reine Vernunft, angetan mit der blendenden Rüstung mathematischer und naturwissenschaftlicher Evidenz, maßte sich die unumschränkte Herrschaft über das Reich des Gedankens an und bekämpfte rücksichtslos jeden Gegner, der unter dem Rechtstitel der geschichtlichen Offenbarung oder Entwicklung irgendein Gebiet für sich in Anspruch nehmen wollte. Es waren alte Gegensätze, die hier mit neuer Gewalt hervorbrachen. Die griechische Wissenschaft 1 , wurzelnd in den großen Problemen der Naturphilosophie, gipfelnd in einem System logischer Kategorien, hat es nie zu einer wahrhaft geschichtlichen Betrachtung der Welt gebracht. Das Entwicklungssystem des Aristoteles ist durchaus unzeitlich, rein dialektisch gemeint. Das ethische Ideal des Weisen in den späteren Schulen ist derartig individualistisch und abstrakt-unhistorisch, daß selbst die Entwicklung eines Unweisen zu einem Weisen principiell geleugnet2 wird, die sittlichen Differenzen der Menschen wie Naturdifferenzen behandelt werden. 3 Gegen diese Weltbetrachtung, für welche die 1

Über gestr.: Philosophie

2

Über gestr.: negiert

1

Folgt gestr.: In der unmittelbaren Einheit mit der Natur blieb der griechische Geist beschlossen und kein Bruch mit dem Natürlichen

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immer gleiche Natur, die ewige Unverbrüchlichkeit ihrer Gesetze, das einzig Wirkliche ist, wandte sich der neue Geist mit dem Urteil, daß all das nur einen Akt der großen Welttragödie bedeute, deren Entscheidung soeben gefallen sei und die ihrer Vollendung entgegeneile. Alles Wissen, die die Natur den Philosophen dargeboten hat, ist unwert gegenüber den neuen Erkenntnissen, deren Inhalt der Heilsratschluß Gottes ist. Mit anderen Worten: die Naturphilosophie wird bei Seite geschoben durch eine kosmische Geschichtsphilosophie. Vom Himmel auf die Erde herabgeholt wurde die Geschichtsphilosophie von Augustin. Inhalt alles irdischen Geschehens ist nach ihm der Kampf der beiden Reiche, des von Gott und des vom Satan gestifteten. Der endliche Sieg des Reiches Gottes ist das Ziel aller historischen Entwicklung, und die Stufen des Sieges sind zugleich Perioden der Geschichte. Die Gegenwart gehört zur letzten Periode: Die Geheimnisse des Weltplanes sind offenbar und werden autoritativ von der Kirche tradiert. Geschichtsphilosophie, Tradition und Autorität verbinden sich und schaffen das Mittelalter. Aber die mittelalterliche Wissenschaft war in sich zwiespältig. Die griechische Philosophie hatte im Dogma ihren letzten großen Triumph gefeiert, und auf den verschiedensten Wegen strömte griechischer Geist im Laufe der Zeit ins Abendland. Aristoteles wurde der Philosoph schlechthin. Mystiker predigten die zeit- und geschichtslose Einheit mit dem Absoluten. Im Protestantismus regte sich die Subjektivität gegenTradition und Gewissensbindung. Dies Dreifache: aristotelischscholastischer Rationalismus, pantheistische Mystik, autoritätsfeindlicher Subjektivismus verbanden sich zu der gewaltigen Geistesbewegung, die im 18. Jahrhundert aller Tradition und Geschichte den Todesstoß geben wollte und mit Hilfe des Enthusiasmus für die wiedererstandene Naturwissenschaft in4 reichstem Maße auch gegeben hat. An Stelle der Autorität tritt die freie Forschung, an Stelle der Tradition die reine Vernunft, an Stelle der Geschichtsphilosophie Naturwissenschaft und rationale Metaphysik. Die wirkliche Geschichte wird durch den Nachweis unschädlich gemacht, daß ihr wesentlicher Inhalt zu allen Zeiten die reine Vernunft war. Was aber ist die reine Vernunft? Wie ist sie zu finden, und was ist ihr Inhalt? Inhalt? Ist es berechtigt, nach einem Inhalt der reinen Vernunft zu fragen? Ist sie nicht vielmehr eben darin rein, von materialen Inhal-

4

Folgt gestr.: weitem Maßstabe

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ten unabhängig, daß sie keinen Inhalt hat, daß sie im rein Formalen, in der völligen Abstraktion sich bewegt? Kants Kritik der praktischen Vernunft ist das Musterbeispiel für den absoluten Formalismus der reinen Vernunft. Aber die Wahrheit ist nur in der Identität von Denken und Sein, von Abstraktion und Konkretion, von Form und Inhalt. Die Abstraktion für sich ist wertlos, sie steht dem Konkreten, Materiellen machtlos gegenüber. Die unlebendige Einheit, die unfähig ist, sich in einer Vielheit zu entfalten und die Vielheit wieder zurückzunehmen in die Einheit, ist für die Erkenntnis ebenso unzulänglich wie die spröde Mannichfaltigkeit des gegebenen Stoffes. Der Akt der produktiven Synthesis oder der Geistigkeit, objektiv angeschaut als Naturorganismus, ist das allein brauchbare Erkenntnisprincip. Kants Lehre von der Synthesis der Apperception und von der immanenten Teleologie des Naturorganismus waren in dieser Beziehung die Wege, auf denen die idealistische Philosophie sich aus Kant herausfand und die große Synthese von reiner Vernunft und Geschichte begründete. Das absolute Ich, die absolute Identität, die absolute Idee sind die lebendige Einheit innerer Mannichfaltigkeit, und Natur und Geschichte bieten dem Philosophen die Anschauung dieses lebendigen Verhältnisses, nach welchem das einzelne sich absondert und wieder zurückkehrt in die Einheit der Idee. Die systematische Durchführung dieser immanenten Dialektik an der gesamten Wirklichkeit ist5 das Ziel der philosophischen Arbeit. Was die Geschichtsphilosophie betrifft, so stehen wir vor einer dreifachen Aufgabe: 1. Erstens ist die Deduktion des Begriffs der Geschichte innerhalb des 6 Systems zu leisten. 2. Zweitens ist die Art und das Ziel des Geschichtsprocesses zu bestimmen. 3. Drittens endlich müssen die Probleme einer Konstruktion des Geschichtsverlaufes in allgemeinster Form behandelt werden.

I. Die Deduktion der Geschichtc ... innerhalb des Systems werden wir am besten in drei Stufen vornehmen und zwar so, daß wir von den allgemeinen Voraussetzungen des Geschichtsbegriffs zu seiner speziellen Bestimmtheit herabsteigen. Die erste grundlegende Bedingung aller geschichtlichen Betrachtungs-

5

'

Folgt gestr.: die Aufgabe des philosophischen Systems Folgt gestr.: philosophischen

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weise ist schon berührt, es ist die lebendige Einheit von Abstraktem und Konkretem in der Idee. So ist bei Fichte das absolute Ich nichts anderes als das Sein der lebendigen Wahrheit, der Wahrheit, die eben darin sich als lebendig erweist, daß sie die Fülle aller Realität zusammengeschlossen hält in absoluter Synthesis. So entfaltet sich nach Schelling die absolute Identität von Subjekt und Objekt in einem Universum von Potenzen, in deren ideeller Seite das Subjektive, in deren reeller Seite das Objektive überwiegt, die aber ihrem Wesen nach in Ewigkeit zurückkehren in die absolute Identität. So entwickelt Hegel 7 die Idee als den ewigen dialektischen Proceß, der das Sich-Bestimmen Gottes zum Unterschiede seiner von sich selbst und zugleich das ewige Aufheben des Unterschiedes ist. Das Konkrete, Einzelne, ist in der Idee gesetzt, aber so, daß es zugleich mit der Bestimmung gesetzt ist, wieder aufgelöst zu sein in die Einheit der Idee. Der dialektische Proceß ist ein ewiger; das dialektische Werden ist zeitlos. Jeder Moment der Entwicklung hat gleiche Absolutheit, überall kann angefangen, überall aufgehört werden. Das Ende ist nur Durchgangspunkt zu einem neuen Anfang. Das dialektische System ist ein vollkommener Kreis, in dem Anfang und Ende jederzeit identisch ist. Aber eben darum ist das Dialektische an sich nicht fähig, die Deduktion wirklicher Geschichte zu liefern. Erst wo die Idee sich als Natur frei aus sich entlassen hat, in die Form ihres Andersseins übergegangen ist, entsteht der Boden für8 Geschichte. Erst wenn die Ideenwelt die Freiheit der absoluten Identität benutzt hat, um sich loszureißen aus der ursprünglichen Einheit, und übergegangen ist in Einzelheit und Selbstheit, kann ein Proceß entstehen, in dem wirklich etwas geschieht, nämlich die Wiederherstellung der Idee in der Existenz. Erst wenn das absolute Ich in Widerspruch gesetzt ist zum Nicht-Ich, entsteht der aktuelle Weltproceß, jener Kampf von Ich und Nicht-Ich, in welchem das Nicht-Ich ins Unendliche überwunden wird. Dieser Übergang aber von der Idee zur Existenz, vom Sein zum Dasein ist selbst nicht dialektisch. Er ist die schlechthinnige Grenze des Dialektischen und nur aus Freiheit abzuleiten. Der zweite Grundsatz, daß dem Ich das Nicht-Ich schlechthin entgegengesetzt wird, ist nach Fichte der Form, d.h. der Entgegensetzung nach, absolut, nicht aus dem ersten ableitbar. Der Übergang

7

Folgt gestr.: in der Logik

"

Folgt gestr.: wirkliche

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von der Idee zur Erscheinungswelt ist nach Schelling nur durch ein[en] Sprung, ein absolutes Abbrechen möglich. Und auch Hegel spricht von einem freien Entlassen der Idee, in ihr Anderssein sich zu entlassen. In der Tat, je energischer die Konkretheit des Absoluten betont wird, um so unmöglicher wird es, den Übergang von ihm zum Relativen zu deducieren. Somit ist die freie, unableitbare Selbstäußerung der Idee, die Verwandlung' des ewigen dialektischen Processes in einen zeitlichen, die10 Voraussetzung der Geschichte, die erste11 Stufe der Deduktion des Geschichtsbegriffs12, aber die Idee in ihrem Anderssein ist unmittelbar nicht Geschichte, sondern Natur. Natur ist die Idee in ihrer Äußerlichkeit, in dem gleichgültigen Bestehen des Einzelnen gegeneinander, in dem ungelösten Widerspruch von Notwendigkeit und Zufälligkeit. Freilich, das darf nicht außer Acht gelassen werden, auf dem gegenwärtigen Stand der Deduktion ist die Rede von der existierenden Natur, nicht von der Natur an sich, das heißt dem Anderssein innerhalb der Idee selbst, das in ewigem dialektischen Proceß wieder aufgehoben wird. Eben darin besteht ja das Eigentümliche der existierenden Natur, daß sie losgelöst ist vom Geist, daß sie sich eine Selbstständigkeit gegeben hat, die der Idee schlechthin fremd ist. Es ist ein Akt der Freiheit, durch den die Idee sich in Unangemessenheit mit sich selbst gebracht hat, aber die unmittelbare Folge dieses Freiheitsaktes ist nicht Freiheit, sondern Notwendigkeit. Freiheit ist allein im Geist.'3 Wo aber die Freiheit fehlt, kann nicht von Geschichte geredet werden. Gegen diesen Satz streitet das moderne Bewußtsein mit dem Begriff der Naturgeschichte. Die fascinierende Wirkung des biologischen Entwicklungsgedankens hat es ganz vergessen lassen, daß dieser Begriff nichts ist als die Anwendung einer geschichtlichen Kategorie auf die Natur. Aber diese Anwendung ist falsch. Zwar brauchen wir die Vorstellung einer zeitlichen Metamorphose nicht mit Hegel als nebulose Reprojektion begrifflicher Verhältnisse in das Dunkel der Vergangenheit abzulehnen, sondern können uns durch-

'

Über gestr.: Aufhebung

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Folgt gestr.: engere

"

Über gestr.: zweite

12

Folgt gestr.: Was aber bis jetzt abgeleitet resp. aufgezeigt ist, hat unmittelbar noch keinen Anspruch darauf, Geschichte genannt zu werden.

13

Folgt gestr.: W o der Geist sich selbst entäußert, gibt er seine Freiheit auf, wenn es auch in Freiheit geschieht.

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aus auf den Standpunkt der modernen Biologie stellen. Eine Veränderung im Naturbegriff wird dadurch keineswegs zu Stande gebracht. Für diesen ist es schlechthin gleichgültig, ob die Arten zu jeder Zeit koexistierend waren oder ob es eine Zeit gab, wo die Natur sich stufenweise zu ihrem gegenwärtigen Stand entwickelte. Die Koexistenz im Räume ist und bleibt die wesentliche Form aller Natur. Das schon stellt sie in totalen Gegensatz zur Geschichte, deren wesentliche Form das Nacheinander der Zeit ist. Was nun den Fortschritt in der Natur betrifft, so ist ein solcher freilich zu konstatieren, aber es bleibt durchaus ein Fortschritt in der Natur. Die höchste Produktion der Natur, der menschliche Organismus, ist zwar insofern höchste Realisierung der Idee, als er lebendige Einheit innerer Mannichfaltigkeit ist, aber er selbst existiert in der Form der Selbstheit, der Ausschließlichkeit gegen die anderen, der abstrakten Subjektivität, und so ist gerade er der höchste Ausdruck des Andersseins der Idee. Die Natur kommt von sich selbst nicht über sich selbst hinaus, sie ist gezwungen, sich ins Unendliche selbst zu reproducieren und durch Entstehen und Vergehen die Nichtigkeit des einzelnen in seiner Vereinzelung zu erweisen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, nämlich der Sonne, die das Natürliche trägt und belebt. Die Natur hat keine Geschichte, aber der Geist hat Geschichte; unter seiner Sonne wird Neues, nämlich durch Freiheit. Ein Akt der Freiheit, gleich dem, wodurch die Idee sich entäußerte, ist es, durch den sie zurückkehrt in sich selbst. Und dieser Akt ist die Geschichte.14 Das ist die zweite Stufe der Deduktion des Geschichtsbegriffs. Der Geist hat Geschichte; er ist wesentlich als geschichtlicher. Das aber muß Gegenstand einer dritten Stufe der Deduktion werden. Wir hatten gesehen, daß die höchste Entfaltung des Andersseins der Idee der Mensch als Einzelner ist. Die Selbstbehauptung hat hier ihren denkbar höchsten Grad erreicht, und mit Recht nennt Schelling das individuelle Ich Princip des Sündenfalls, im Sinne nämlich jener Naturwerdung der Idee. In ihm kann das aller Natur wesentliche Auseinander von Zufälligkeit und Notwendigkeit am deutlichsten angeschaut werden. Jede seiner Handlungen ist willkürlich, eben darum aber geleitet von einer ganz äußerlichen Notwendigkeit. Hier

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Folgt gestr.: Damit ist die D e d u k t i o n der Geschichte principiell vollendet. Sie ist der Proceß, in welchem die in ihr Anderssein übergegangene Idee in sich zurückkehrt.

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beginnt nun die Reaktion der Idee gegen ihre Selbstentfremdung. Um der Freiheit willen muß die Willkür überwunden werden, und sie wird überwunden durch die Gemeinschaft. Gegen das Princip der Vereinzelung kämpft die Idee, wie in der Natur, mit der Bildung eines Organismus, d.h. einer lebendigen Einheit innerer Mannichfaltigkeit; denn so will es das Dialektische. In den großen Ideen des Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit schafft sich der Geist eine Objektivität, in der er das wirklich ist, was er substantiell ist, Freiheit. Die Gemeinschaft ist der Ort aller Geschichte, und die Gemeinschaften sind ihre Träger. In ihnen spielt sich ab jener Riesenkampf der Freiheit gegen Willkür und Knechtschaft, in ihnen gewinnt die Idee Schritt für Schritt die verlorene Einheit und lebendige Harmonie des Verschiedenen zurück. Hier ist alles Wille und T a t , Kampf und Sieg. Der Wille der Selbstheit, durch den die Idee in ihren Widerspruch gezogen und dem Verhängnis des Widerspruchs ausgeliefert ist, kämpft gegen den Willen des Geistes, der die Liebe ist, und treibt ihn durch immer tieferen Widerspruch zu immer reicherer Entfaltung. Denn der Geist ist Sieger. Was im letzten Grunde der Geschichte wirksam ist, ist doch nichts anderes als die Idee, in welcher der Widerspruch ewig aufgehoben ist. Die Träger der Geschichte sind Gemeinschaften. Jede Gemeinschaft ist zwar in sich die Zusammenfassung einer Mannichfaltigkeit, in Bezug auf andere Gemeinschaften aber ein Individuum, ein ausschließlich Einzelnes. Darum steht sie unter dem Widerspruch alles Einzelnen, gesetzt zu sein mit der Bestimmung, wieder aufgehoben zu werden. In diesem Sinne nennt Hegel die Weltgeschichte das Weltgericht. Nur in der Gesamtheit aller historischen Gemeinschaften kommt der Geist aus seiner Entfremdung zu sich; aber diese Gesamtheit ist nie als solche existent. Die existierende Welt steht eben unter der Herrschaft der Einzelheit. Und im Begriff des individuellen Volksgeistes als des wichtigsten Trägers der Geschichte kommt die innere Antinomie der Existenz zu lebendigem Ausdruck. 1 5 Das ist die geschichtsphilosophische Bedeutung des Volkstümlichen. Noch eine Frage ist in diesem Zusammenhang zu erledigen. Im Geistesleben war das Handeln in Gemeinschaften als Basis der geschichtlichen Funktionen bestimmt. Wie steht es nun um die Ge-

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Folgt gestr.: Diese Bemerkungen sollen zugleich den W e g zu einer philosophischen Deduktion der V ö l k e r andeuten.

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schichtlichkcit der übrigen Geistesfunktionen: Kunst, Religion, Philosophie? Zunächst ist klar, daß keine dieser Tätigkeiten ihrem Begriff nach in dem Sinne geschichtlich ist wie z.B. das rechtliche Handeln, denn dieses zielt unmittelbar auf Veränderung, es will die Realisierung der Freiheit ermöglichen und zu diesem Zwecke die Unfreiheit aufheben, es hat den Willen zur Umgestaltung in sich. Es setzt die Selbstentfremdung der Idee und das Verhängnis der Selbstheit voraus. Ganz anders die Kunst, die inneren Erlebnissen Ausdruck verleiht, die Wissenschaft, die denkend den Geistesproceß nachbildet, die Religion, die ihrem Begriff nach Einheit des individuellen Geistes mit dem Absoluten ist. Diese sind an sich geschichtslos. Es ändert ihr Wesen nicht, wenn wir sie vollendet, absolut denken. Das absolute Erkennen, das absolute Kunstwerk, die absolute Einheit mit Gott sind vollziehbare Begriffe, nicht aber absolutes Handeln; denn dieses wäre von einem Zustand nicht zu unterscheiden. Nur wo Wille mit Wille ringt, kommt es zur Tat und zur Geschichte. Darum zeigt sich der ethische Gehalt eines Systems am deutlichsten in seiner Stellung zur Geschichte, und sein geschichtlicher Charakter an der grundlegenden Stellung der Ethik. So ist Fichtes Philosophie eminent geschichtlich, weil sie in höchstem Maße ethisch ist. So fordert Schelling seit der Freiheitslehre eine geschichtliche Philosophie, weil er Wille und Tat in den Mittelpunkt seiner Principienlehre stellt, so ist Hegel der Meister des geschichtlichen Denkens geworden, weil er den objektiven Geist in Recht, Moral, Ethik wesentlich als geschichtlichen faßt und die Funktionen des absoluten Geistes, Kunst, Religion, Philosophie auf seiner Basis abhandelt und dadurch sie selbst vergeschichtlicht. Auf diese Weise entstehen Kunst-, Religions- und Philosophiegeschichte als Konsequenzen des geschichtlichen Charakters, den die Idee durch die Tat der Selbstentäußerung angenommen hat. Wir sind am Ende der Deduktion und fassen den Gang noch einmal kurz zusammen: Die allgemeine Voraussetzung der Geschichte ist dialektische als lebendige Einheit innerer Mannichfaltigkeit. Die erste Stufe der Deduktion führt von der Idee zum Anderssein oder der Natur, die zweite von der Natur zum Geist, die dritte zum objektiven, gemeinschaftsbildenden Geist, insbesondere der Ethik. Eine freie Tat ist es, durch welche die Idee Natur wird, eine freie Tat, durch welche der Geist sich losreißt von der Natur, eine freie Tat, durch welche der Geist sich als sittlicher Organismus objektiviert. Freiheit ist die Göttin der Geschichte.

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II. Wesen und Ziel der Geschichte Die Natur des Dialektischen bringt es mit sich, daß über Wesen und Ziel des Geschichtsprocesses, von dem wir jetzt sprechen wollen, zwei scharf entgegengesetzte Standpunkte auftreten. Der erste hält sich an das Konkrete, Einzelne der Idee und gründet sich auf den Satz, daß jedes Einzelne eine Totalität darstellt, in der die Idee eine bestimmte, konkrete Existenz gewonnen hat. Er schließt daraus, daß jedem Moment des Geschichtsprocesses, insofern in ihm ein Moment der Idee realisiert ist, Absolutheit zukommt. Keine Zeit hat einen wirklichen Vorzug vor der anderen. Die Unterschiede sind nicht quantitative der Vollkommenheit, sondern qualitative der konkreten Bestimmungen, die an Wert gleichartig sind. Zu allen Zeiten sind die Stufen von der größten Vollkommenheit bis zur größten Unvollkommenheit vorhanden. Zu allen Zeiten gibt es vollkommene Gemeinschaft mit Gott, absolute Kunst und absolute Philosophie. Zu allen Zeiten gibt es einige, in denen der Geist sich erfaßt, und viele, die in unentwickelter Geistigkeit leben. So findet man sich mit den ethischen Kategorien ab. Der bezeichnete Standpunkt kann charakterisiert werden auf religiösem Gebiet als esoterische Mystik, auf kirchlichem als Klerikalismus, auf politischem als aristokratischer Konservativismus. Der Mystiker, der Wissende fühlt sich [als] Glied einer Gemeinschaft innerer Art, die zu allen Zeiten, allenthalben bestanden hat und die immer dann von ihrer Höhe herabsinkt, wenn sie den Versuch macht, exoterisch zu werden. Der Priester kennt die Geheimnisse der Religion und hat die Qualifikation, zu vermitteln und zu herrschen, der Aristokrat ist geboren zum Herrschen, die Masse ist an und für sich politisch unreif, und jeder Versuch, dies Verhältnis zu ändern, ist revolutionär. Die Berufung auf das geschichtlich Gewordene ist dabei nur Ausdruck für den Willen, die konkrete Bestimmung des Gegebenen festzuhalten, zu verabsolutieren, und der Abneigung, Allgemeinbegriffe als Maßstäbe der Kritik des Bestehenden anzulegen. Wir können diese Anschauung nicht geschichtslos nennen; sie wird dem Konkreten, M a n nichfaltigen der Geschichte wohl gerecht. Da sie aber in schärfster Spannung zu dem Abstrakten steht, so ist ihr Schicksal, von einer Auffassung bekämpft zu werden, die durchaus im Abstrakten lebt. Sämtliche vergangenen sowie das gegenwärtige Zeitalter werden als minderwertig beurteilt, als Stufen, die möglichst bald zu verlassen sind. Die Idee des stetigen Fortschritts beherrscht das Denken voll-

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ständig und projiciert sämtliche Werte in eine ideale Zukunft, eine letzte Generation, in welcher der Geist subjektiv, objektiv und absolut realisiert ist. Sämtliche Anlagen des subjektiven Geistes, die bis dahin nur zu oft verkümmern mußten, sind zur höchsten Entfaltung gebracht, der objektive Geist hat sich in dem absoluten Staat das absolute Kunstwerk geschaffen. Der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten hat aufgehört. Allgemeine und allgemeingültige Vernunft fallen zusammen. Die absolute Religion stellt sich in einer unmittelbaren Einheit aller mit dem absoluten Geist dar, und die absolute Philosophie, die alle Momente der Vergangenheit in sich begreift, ist Gemeingut. Die religiöse Bezeichnung dieses Standpunktes ist Chiliasmus, eine dem kräftigen geschichtsphilosophischem Bewußtsein des Spätjudentums entstammende Erscheinung, die von der officiellen Kirche abgelehnt, immer wieder auftauchte. Politisch wird dieser Gedanke getragen durch den demokratischen Liberalismus. Auf sittlich-pädagogischem Gebiet wirkt er als Aufklärung und weltverbesserischer Moralismus. Das eigentlich Charakteristische dieses Standpunktes ist der Glaube an innergeschichtliche Realisierung der Idee in einem bestimmten Zeitalter, nämlich dem letzten. So stark geschichtliches Gepräge sich der Forschrittsidealismus auch geben mag, er schlägt dennoch um in Entleerung der Geschichte, insofern alles Frühere gegenüber dem abstrakten Ideal des letzten Zeitalters entwertet wird. Zu einer wahrhaft geschichtlichen Auffassung bringt es demnach keiner der beiden Gegner. Die Einsicht in die wahre Natur des Dialektischen zeigt, daß einerseits das Einzelne als solches in dem bloßen Nacheinander ohne Fortschritt keine höhere Wahrheit als die der Natur hat; es bleibt im Grunde ein Nebeneinander und darum Außereinander. So ist denn auch der fruchtbare Boden aller Mystik die Naturreligion, und es sind Naturkategorien, mit denen der Priester und der Aristokrat seinen Vorrang begründet, und diejenige Form des Konservativismus, der daran gelegen ist, daß nicht viel Neues unter der Sonne geschehe, möchte die Menschen möglichst nahe bei der Natur festhalten. Daß der absolute Geist in der Geschichte sein Anderssein überwindet, ist diesem Standpunkt verborgen; er bleibt im Anderssein, in [der] Kategorie des Natürlichen hängen. Das ist sein Mangel. Umgekehrt übersieht der abstrakte Fortschrittsstandpunkt, daß der Geschichtsproceß ein Teil des gesamten Weltprocesses ist und mit diesem unter der Bestimmung der räumlichen und zeitlichen Einzelheit steht. Die völlige Realisierung der Idee in einem bestimmten

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Zeitmoment ist darum ebenso a b s t r a k t " wie die Entwertung aller vorgehenden Momente. Das wahre Verhältnis von Idee und Geschichtsproceß ist dies, daß der gesamte Proceß in jedem seiner Momente ein M o m e n t der Idee realisiert. Während aber in der Idee ein ewiger Übergang von einem Moment zum anderen ist und darum kein Moment als solches in seiner Vereinzelung existiert, nimmt es in der Geschichte eine abstrakte Selbstständigkeit und Ausschließlichkeit an. In den niederen, ärmeren Stufen des Processes liegt zwar der ganze Reichtum der Idee potentiell beschlossen, aber diese Potenz kann nicht zum Aktus werden. Darin eben liegt das Verhängnis der idee-entfremdeten Wirklichkeit, daß Potenz und Aktus auseinanderfallen. Der Ägypter kann nicht als Ägypter Grieche, der antique Mensch nicht als solcher mittelalterlich werden. Moses kann nicht Paulus, Augustin nicht Luther werden, ebensowenig wie Thaies Plato und Kartesius Hegel. Damit das Folgende sich entwickeln kann, muß das Vorhergehende als solches sterben. Nur wenn es seine Bestimmtheit als einzelnes aufgegeben hat, wird es aufgenommen in das Nachfolgende. Aber, und das ist das Entscheidende: auch umgekehrt ist der Weg nicht möglich. Der Grieche kann nicht wieder Ägypter werden, der Moderne nicht wieder antique, Paulus nicht Moses, Hegel nicht Thaies. Er kann bis zu einem gewissen Grade Verständnis für den untergeordneten Standpunkt haben, denn irgendwie ist dieser auch in seinem enthalten. Aber der Geist der Zeiten bleibt der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln. 1 7 Die Spiegelung braucht nicht falsch zu sein, aber sie ist nicht die Wirklichkeit selbst; denn zu dieser gehört die Ausschließlichkeit, das Absolutheitsbewußtsein des beschränkten Standpunktes. M a n versuche es, den inneren Zustand eines Tieranbeters oder eines pharisäisch strengen Juden oder eines ägyptischen Künstlers oder eines griechischen Naturphilosophen innerlich zu reproducieren, es wird trotz der besten Geschichtsphilosophie nicht gelingen. Nur die Idee, nur der absolute Geist hat die M a c h t , sich in jeder seiner Gestalten 1 8 zu erfassen, nicht aber eine konkrete Geistigkeit, auch nicht die höchste. Damit ist die Idee der letzten absoluten Generation widerlegt. Am Ende der Geschichte steht die reichste Entfaltung, aber die

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Über gestr.: undenkbar

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„ D a s ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln" (Goethe, Faust, 5 7 7 f . ) .

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Folgt gestr.: als sich selbst wiederzufinden

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Armut auch dieses Reichtums besteht darin, daß er den ärmeren Gestalten gegenübersteht als einzelner, ohnmächtig, sie zu setzen und wieder in sich zurückzunehmen. Dies kommt allein der Idee zu. Die romantische Fähigkeit des Nacherlebens fremder Geistigkeit bleibt lediglich ideell mit der Bestimmung der reellen unüberbrücklichen Geschiedenheit. Die hier dargelegte dialektische Wertung der Geschichte vereinigt das doppelte Motiv, den jeweilig gegenwärtigen Zustand als wertvolle Bestimmung der absoluten Idee zu bejahen, zugleich aber die inneren Antinomien zu suchen, die es unmöglich macht, bei ihm stehenzubleiben, und den Fortschritt fordert. Zum Beispiel in Bezug auf die konkrete Religion, durch welche der Geist einer Gemeinschaft im Innersten bestimmt ist, ergibt sich die Forderung lebendiger, bewußter Aneignung der gegebenen Lebenswerte statt abstrakter und darum Leere und Irreligion schaffender Kritik und Fortschrittsstimmung. Zugleich aber besteht die Forderung, die inneren Schwierigkeiten und Widersprüche, die mit steigender Kraft des religiösen Lebens steigend fühlbar werden, durch konkrete schöpferische Synthesen zu überwinden und so dem notwendigen Fortschritt ohne abstrakte Kritik zum Siege zu verhelfen. Paulus und Luther sind hier die wichtigsten Beispiele, Pharisäismus und Orthodoxie auf der einen, Antinomismus und Rationalismus auf der anderen Seite die wichtigsten Gegenbeispiele. Was die oben skizzierte politische Antithese betrifft, so fordert die dialektische Geschichtsbetrachtung eine Aufhebung der naturhaften Kategorien, auf die der aristokratische Konservativismus sich stützt, zugleich aber eine Einschränkung der demokratisch-liberalen Abstraktionen. Das geschichtlich Gegebene ist als solches nicht das schlechthin Wertvolle, Unantastbare, gleichsam ein Naturorganismus, aber es ist auch nicht mit Hilfe einer Abstraktion der reinen Vernunft zu entwerten, sondern es ist zu bejahen und aus sich selbst vermöge seiner dialektischen Natur, d.h. vermöge der in ihm lebendigen Widersprüche fortzubilden. Die naturhaften Vorzüge irgendeiner Menschenkategorie sind ebenso aufzuheben wie das abstrakte Vorurteil für die Masse. Die Menge soll gleichsam das Abstraktum bilden, das sich in einzelnen zur konkreten Existenz bringt, und als Ziel des politischen Fortschritts kann nur die Realisierung dieses dialektischen Verhältnisses von Gemeinschaft und einzelnen angegeben werden. Der objektive Geist, die organisierte Gemeinschaft soll den subjektiven Geist in jedem einzelnen derartig zur Entfaltung

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kommen lassen, daß der absolute Geist in vollkommenstem Maße Existenz gewinnt, ungehindert durch den Druck der Masse oder die Selbstsucht subjektiver Willkür. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, in welcher Weise aus dem Wesen des Dialektischen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Art und des Ziels der Geschichte gewonnen werden können. III. Die Konstruktion der Geschichte Das letzte, vielleicht schwierigste Problem der Geschichtsphilosophie betrifft die Möglichkeit einer Konstruktion des GeschichtsVerlaufes in Perioden, und doch ist nach allem, was gesagt ist, eine solche Konstruktion für die Beurteilung der konkreten Erscheinungen unumgänglich notwendig. Zunächst könnte es scheinen, als ob das Verhältnis von dialektischem und historischem Proceß den Anhaltspunkt für die Geschichtskonstruktion geben müßte. Es wäre dann für jeden dialektischen Moment der entsprechende historische aufzusuchen. Das ist in gewissen Grenzen zweifellos richtig, obwohl der Geschichtsproceß viel zu kompliciert ist, um ohne weiteres als Entfaltung des Dialektischen im zeitlichen Nacheinander begriffen zu werden. Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber darin, daß der Philosoph das System als notwendige Form der Wahrheit anzustreben hat, d.h. einen geschlossenen Kreis von Gedankenkreisen, während die Geschichte gradlinig weiterläuft und neue ungeahnte Möglichkeiten in sich birgt. Daraus folgt: der konsequente Geschichtsphilosoph muß sich selbst an das Ende der Geschichte stellen, wenn er ein System der Geschichtsphilosophie aufstellen will. So ist es denn auch seit den Anfängen der Geschichtsphilosophie gewesen. Das Bewußtsein, am Ende der Tage zu leben, ist dem eschatologischen Judentum und dem Urchristentum gemein. Augustin und das Mittelalter versetzten sich selbst in das letzte Zeitalter, und die moderne Geschichtsphilosophie von Lessing bis Hegel spricht von einem dritten Zeitalter, das im Anbrechen sei und in dem die Geschichte zu ihrem Ziele komme. Hegel spricht es [als] wahrscheinlich aus, daß der Weltgeist jetzt aus seiner Entfremdung wieder zurückgekehrt sei. Dieses Bewußtsein ist uns schwer verständlich, und man versucht es sich so zurechtzulegen, daß der einzelne der Gesamtentwicklung weit voraus sei und alles Kommende nur die Durchsetzung des Bewußtseins jener einzelnen in der Menge bezwecke. Aber diese Auslegung ist weder historisch noch begrifflich haltbar; histo-

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risch nicht, denn jene Geschichtsphilosophen haben sich immer als das Organ ihres Zeitgeistes betrachtet, nicht als Propheten einer fernen Zukunft; sachlich nicht, denn das Verhältnis von Gemeinschaft und einzelnen ist nach allen Voraussetzungen so beschaffen, daß der einzelne ein konkreter Ausdruck des Gesamtgeistes ist, der eben in diesen einzelnen zu sich selbst kommt. Nur die Verehrer einer geschichtslos reinen Vernunft können jene Abstraktion und Scheidung vollziehen. Es scheint also doch keinen Ausweg aus dem Dilemma eines Verzichtes auf Geschichtsphilosophie oder eines phantastischen eschatologischen Bewußtseins zu geben. Aber eine genaue Betrachtung des Wesens einer geschichtsphilosophischen Konstruktion wird zeigen, daß dem nicht so ist. Freilich, sobald irgendein Gesichtspunkt zum Princip gemacht wird, der dem Begriff der Geschichtsphilosophie an sich fremd ist, bleibt der Zweifel unüberwindlich, ob dieser Gesichtspunkt wirklich der letzte und höchste ist. Wenn aber die Geschichtsphilosophie nichts anderes konstruiert als sich selbst, so ist sie diesem Zweifel gegenüber gewappnet, denn in diesem Falle hieße ein anderes Princip suchen soviel wie die geschichtliche Betrachtung der Welt für überwunden halten. Damit aber hätte die Geschichtsphilosophie sich selbst aufgegeben. Will sie dies nicht tun, so bleibt ihr nach dem Gesagten nichts anderes übrig, als ihre eigene Existenz resp. Nichtexistenz zum Konstruktionsprincip zu machen. Nur so ist sie gegen jeden Vorwurf der Willkürlichkeit gesichert. Dies sieht wie eine den Wert der Geschichtsphilosophie, d.h. ihre konkrete Anwendbarkeit bedeutend herabmindernde Selbstbescheidung aus, ist es aber keineswegs, wie die nähere Betrachtung zeigen wird. Es ist wohl zweifellos - und damit knüpfe ich an die Einleitung an - , daß in diesem Falle die entscheidende Grenze der beiden Zeitalter mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte zusammenfällt. Erst in der christlichen Theologie wird der Weltproceß als Geschichte gefaßt. Man könnte demgegenüber auf die jüdische Litteratur hinweisen, die durchweg einen geschichtlichen Geist atmet. Aber ihr fehlt das andere von uns verlangte Merkmal: die metaphysische Deutung der Wirklichkeit als Geschichte. Im Judentum handelt es sich lediglich um das jüdische Volk und seine Schicksale in der Völkerwelt; eine philosophische Welterklärung soll damit nirgends gegeben werden. Derartige Ideen treten erst durch die Verbindung mit dem Griechentum auf jüdischem Boden auf, gelangen aber erst im Christentum zu weltgeschichtlicher Bedeutung. Der in Christus angeschaute Zusammenschluß Gottes

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und der Menschheit in einer historischen Persönlichkeit ist die wahre Geburtsstätte geschichtlicher Weltbetrachtung. Gott hat Geschichte, die Welt ist Geschichte. Mit diesem Urteil ist nun auf allen Gebieten eine Fülle von Gesichtspunkten für die konkrete Arbeit der Geschichtsphilosophie gegeben. Natur und Geschichte sind außerordentlich koncentrierte Begriffe, deren Explikation einen Reichtum einzelner Bestimmungen zum Vorschein bringt, die jede schematische Behandlung der Geschichte unmöglich machen. Zugleich ist hier der absolute Spielraum für empirische Bereicherung der geschichtlichen Anschauung und dementsprechend fortwährend neuer geschichtsphilosophischer Gruppierungen und Kategorienbildungen. Nur eine Kategorie muß festbleiben: Die Geschichtsphilosophie muß ihr eignes Recht konstruieren aus ihrem Gegensatz zur naturphilosophischen Weltbetrachtung in Kunst, Religion, Ethik und Philosophie. In diesem Sinne muß der Geschichtsphilosoph sich in der Tat ans Ende der Tage stellen. Aber noch in einem andern. Jede neue geistige Bewegung tritt zunächst als unmittelbarer Gegensatz zu dem Vorhandenen auf. Die geschichtliche Weltbetrachtung stellte die naturphilosophische sich gegenüber mit der schlechthin verurteilenden Bestimmung des Heidnischen. Das eigentlich Mittelalterliche beruht auf diesem Dualismus, der von den verschiedensten Gegenmotiven durchkreuzt, sich dennoch behauptete. Es ist das Zeitalter der Geschichtsphilosophie, die sich selbst in ausschließlichem Gegensatz zur Natur konstruiert. Aber diese Abstraktion gefährdet die Geschichtsphilosophie selbst, indem sie den größten Teil der Vergangenheit als schlechthin negativ und darum unbestimmbar beurteilt. Wie es darum das Wesen des Geistes ist, Natur und Geist zu umfassen, so ist das Wesen der Geschichtsphilosophie, sich und die Naturphilosophie zu begreifen. Wahre Geschichtsphilosophie ist erst möglich, wo auf dem Boden des geschichtlichen Zeitalters die Zusammengehörigkeit von Natur und Geist zum Bewußtsein gekommen ist. Dies ist das dritte Zeitalter, von dessen Beginn die Geistesheroen dieser klassischen Periode überzeugt waren und das in seinem Verlaufe einen unendlichen Reichtum konkreter Gestaltungen birgt, die wir nicht einmal ahnen, geschweige denn konstruieren können. Die ungeheuren Völkermassen, welche den Geist des ersten Zeitalters bis jetzt in Erstarrungszuständen konserviert haben, werden durch die Mission in die Einheit des modernen Kulturlebens geführt und bringen neue Kräfte herbei. So wird die Mission zu einem geschichtsphilosophisch kaum zu überschätzenden Faktor, der zu-

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gleich die Konstruktion der Philosophie bestätigt. Der Weltverkehr schließt die Völker, die in der Periode des Naturdaseins vereinzelt nebeneinander stehen konnten, zur Einheit des geschichtlichen Lebens zusammen. Wir haben das Recht und die Pflicht, Geschichtsphilosophie zu treiben, weil wir wissen, was der Geist ist, und uns auf den Satz des ersten großen Geschichtsphilosophen berufen dürfen, des Apostels Paulus: ö 6e TTVEuuomicös ¿tvorxpivei utv TravTct, aCrrös 5e Cnf oüSevös ¿vcacpivETon (1. K o r . 2 , 15).

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7. Theodicee

Zum Text: Die Überschrift stammt vom Herausgeber. - 1. Version (Entwurf, ohne Überschrift): Hs. in einem Tagebuch, bes. des Jahres 1916 (PTAH, 801:004, dort unter B bis H zu finden), worin sich auch der 1. Entwurf der im Februar 1916 gehaltenen Probevorlesung „Volk und Christentum" befindet, der aber offensichtlich später eingetragen worden ist als der Entwurf der Theodicee. - 2. Version (ebenfalls ohne Überschrift) in: PTAH, 203:009 (auf losen Blättern). Die 1. Version nimmt Bezug auf den Krieg.- Möglicherweise wollte Tillich die Probevorlesung im Habilitationsverfahren in Halle 1916 über dieses Thema halten, vielleicht aber auch die Antrittsvorlesung. - Abfassungszeit der 1. Version (Entwurf): 191S oder 1916. 1. Version (Entwurf) Einleitung. Das Problem der Theodicee entsteht, sobald die Gottesidee in einen solchen Konflikt mit der Welterfahrung tritt, daß eine Erklärung der Welt aus dem Gottesbegriff zweifelhaft wird. Theodicee ist der Versuch, die erfahrene Unvollkommenheit der Welt mit der notwendigen Vollkommenheit Gottes zu vereinigen. Zwei Möglichkeiten gäbe es, dem Theodiceeproblem auszuweichen. 1. Die Leugnung der erfahrungsmäßigen Unvollkommenheit der Welt. Diese Leugnung ist niemals versucht worden und innerlich unmöglich, da selbst der Illusionismus zur Theodicee Anlaß geben würde. 2. Die andere Möglichkeit ist die, dem Gottesgedanken das Merkmal der Vollkommenheit zu nehmen. Nun ist es zwar im Polytheismus möglich, unvollkommene Götter anzunehmen; aber das ist nur eine Verschiebung des Theodiceeproblems, das sich dann entweder auf den ersten schöpferischen Gott oder auf eine hinter den Göttern liegende Macht bezieht, und die Unvollkommenheit der Götter ist selbst Theodiceeproblem. Dahinter steht die wichtige Wahrheit, daß der Gottesgedanke nicht abgeleitet ist aus der Welterfahrung, sondern sich im Gegensatz zu ihr behauptet. Darum ist das Theodiceeproblem unausweichlich. Zu lösen ist es aber nur vom Gottesgedanken aus.

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Es ist weder ästhetisch noch ethisch-atheistisch zu lösen. Die ästhetische Bemerkung, daß ohne Schatten das Licht nicht bemerkbar würde, scheitert überall da, wo Lebenswerte, geistige und sittliche Werte unwiederbringlich vernichtet werden, scheitert an der Tatsache des Todes, dem Schatten ohne Licht, und an der vollkommen sittlichen Forderung, die das Böse auch nicht als Folie oder Entwicklungsstufe zum Guten anerkennt. Tiefer ist die ethische Lösung: ohne Schmerz keine Tiefe, keine Güte. Sie setzt voraus, was sie beweisen soll, das Relative, das nur durch Negation zum Bewußtsein seiner Relativität kommt, und sie führt zu der Konsequenz, daß Gott das Böse um des Guten willen wollen müsse. Theodicee ist Arbeit am Gottesbegriff und jeder Gottesbegriff enthält eine Theodicee. Darum gleichzeitig die Frage: Welche Theodicee fordert der Monotheismus, und welche Gestalt gewinnt der Gottesbegriff des Monotheismus durch die Theodicee? 1 Erster Teil. Die pessimistisch-dualistisch-empiristische Reihe 2 a. Der Manichäismus führt alles Negative auf ein selbständiges Princip zurück, die Gottheit der Finsternis, die im Kampfe liegt mit der des Lichtes. Die Theodicee ist damit gegeben oder vielmehr der Gottesgedanke ist, wie nirgends sonst, Produkt der Theodicee. Ja, das Interesse der Theodicee zerreißt den Gottesgedanken, beraubt Gott seiner Absolutheit; seine Unvollkommenheit ist die, daß er kämpfen muß, um Herr zu sein. Die Theodicee ist absolut einfach, aber sie grenzt daran, eine Abbiegung zu sein. Was berechtigt uns, dies Theodicee zu nennen? Die Unmöglichkeit, das Bewußtsein zu

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Folgt gestrichen: Vorher noch eine schematische Aufzählung. Die Unvollkommenheit des Raumes oder der Schmerz. Die der Zeit oder der Tod. Die des Gemüts oder die Traurigkeit. Die des Geistes oder der Irrtum, die des Willens oder die Sünde. Dies letzte nur der einzelne Willensakt. Die Sünde als Begriff ist mehr als Unvollkommenheit, nämlich ihre Voraussetzung; sie ist Widerspruch und nimmt einen besonderen Platz in der Theodicee ein.

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Folgt gestrichen: a. Einleitung. Es ist die gleiche Zeit, die zwei weltgeschichtliche Ausgestaltungen des Gottesgedanken vom Theodiceeproblem her und damit Lösungen des Theodicee-Problems gab: Die Zeit, da der Monotheismus des Christentums sich in der Welt durchsetzte. Die eine im Manichäismus, die andere im Neuplatonismus. Beide weithin zurückkehrend bis in das myt[h]enbildende Urbewußtsein der Menschheit, beide weiterwirkend infolge ihrer principiellen Kraft in der hellsten Kulturgegenwart.

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zerspalten. Die Unmöglichkeit eines Gleichgewichtes der Kräfte zwingt zu der offenen oder stillen Voraussetzung, daß das Licht Sieger bleibt. Ohne das wäre der Manichäismus 3 unerträglich gewesen. Die unbedingte religiös-ethische Hinwendung zu dem Gott des Lichtes zeigt, daß die theoretisch-problematische Vollkommenheit Gottes praktisch nicht verleugnet werden konnte. Wir entnehmen für das Problem: Die widerstrebende Forderung, zwei göttliche Principien aufzustellen, ohne Aufgabe der göttlichen Vollkommenheit, an die die Religion gebunden ist. b. Der depotenzierte Gott der Finsternis oder der Teufel. Er ist der Versuch, die Vollkommenheit Gottes zu wahren, und die Erscheinungen der Negativität auf einen Willen zurückzuführen, der Gott gegenübersteht. Hier die Alternative: Je selbständiger der Teufel, desto unvollkommener Gott; je untergeordneter der Teufel, desto schwerer die Rechtfertigung Gottes; der Teufel ist ein Kompromiß und zergeht in dieser Alternative. Seine Wurzel, wie die des Dualismus die Beobachtung der Organisation des Negativen. Organisation ist positiv. Die Organisation ist zu beobachten bei der Versuchung und dem Verderben des einzelnen, sowie bei dem Ineinandergreifen des Bösen in der Gemeinschaft, insbesondere beim Kampf gegen das Gute. Je stärker dieser Gedanke, desto näher am Dualismus. Weltorganisation gegen Weltorganisation - nur unter dem Vorzeichen der Zulassung. Eben das aber führt weiter. c. Böhme und Schelling. Der erste Satz der Böhmeschen Spekulation als fruchtbarstes Princip der Theodicee. Die Wiederaufnahme dieser Gedanken in Schellings Naturphilosophie. Ihre voluntaristische Vertiefung. Die Theodicee als Freiheitslehre. Die Begründung des Negativen in Raum und Zeit durch die Negativität des Willens. Das Primat des moralischen Übels. Das Problem dieser Stellungnahme: das Verhältnis von Übel und Gott. Die negative Potenz in Gott, die im Menschen zur Sünde wird. Die Einordnung der Teufelslehre bei Schelling. Der Teufel als Entwicklung einer göttlichen Potenz. Die Basis dieser Naturphilosophie. Der Eindruck von der inneren Antinomie der Natur. Das Leiden auf dem Antlitz der Tiere. Die mitseufzende Kreatur. Der lebendige Realismus beider. Schellings Beeinflussung durch Karolines Tod.

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Folgt gestrichen: einfacher Polytheismus gewesen.

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d. Schopenhauer. Die Vollendung des pessimistischen Momentes. Die Sammlung der negativen Empirie. Die Statuierung des Sündenfalls in Gott. Der Gott mit den diabolischen Zügen (Schlatter). Der Sündenfall des Willens in Gott. Der Zufall als die Grenze der göttlichen Vollkommenheit. - Das Extrem dieser Reihe, die Abbiegung ins Negative. Die Kraft der Anschauung: die Empirie; die Schwäche: die Relativisierung Gottes: Nicht Monotheismus, sondern Dualismus. Zweiter Teil. Die optimistisch-monistisch-rationalistische Reihe a. Die Entstehung dieser Reihe aus dem spekulativen Monismus oder der harmonischen Weltbetrachtung der Griechen. Die Konzentrierung des Geistes auf das Positive in der Welt. Die Statuierung ontologischer Grade. Aber in jedem Grad das ganze Sein, der ganze Gott. - Die Erklärung der Welt als Emanation. Die asketisch mystische Befreiung von der Verknüpfung mit dem Negativen. Die Rückwendung des Processes, aber keine Erlösung. Auch die Sünde das Nicht-Seiende; vom Nicht-Seienden braucht nicht erlöst zu werden; ist es durchschaut, so ist der Geist befreit und der Leib wird frei durch die innere Hinwendung zu dem graduell Positivsten. Das Problem: Die Erfassung des Negativen als Nicht-Seiendes. Die Rationalität der Emanation. Dialektische Leugnung des Übels. b. Spinoza. Alle Realität in der einen Substanz, die Mannichfaltigkeit nur durch Betrachtungsweisen, nur formal gehaltlos. Die Größe dieser Anschauung. Die an Monotheismus (Spinoza - Jude) angrenzende Tiefe der Anschauung. Die Überwindung der Affekte; dennoch keine Lösung des Problems. Woher die Form zur Substanz? Ihre dialektische Bedeutung, woher die unüberwundenen Affekte ? Spinoza und Schelling über ihrer Reihe. c. Leibniz. Die klassische Theodicee. Voraussetzung: Die Vollkommenheit Gottes. Das eine Vollkommene. Das andere notwendig unvollkommen als abgeleitet. Das dreifache Übel. Die Notwendigkeit einer bewußten Theodicee aus dem freien Willen Gottes. Die bestmögliche Welt. Aber wie wenn der Empirismus diese immer schlechter als gar keine findet ? Die Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben, durch den Krieg. Die rein rationalistische Theodicee kann das Negative nicht erklären, die mit Willensentscheidung kann es erklären, steht aber der Empirie machtlos gegenüber und kann dann die Frage nicht beantworten: Warum hat Gott das gewollt?

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d. Hegel. Keine Scheidung zwischen Absolutem und Relativem; im Relativen kommt das Absolute zum Ausdruck; wie beim Neuplatonismus, aber mit dem Entwicklungsgedanken; alles Negative ist Entwicklungsmoment; alles Leiden und Sterben ist Durchgang des Absoluten zu sich selbst. Die Qual des Relativen ist sein unzureichendes Verhältnis zur Idee. e. Von hier Ausblick in den Entwicklungsgedanken überhaupt. Jeder Entwicklungsgedanke eine Theodicee. Aber jeder Entwicklungsgedanke eine schlechte Theodicee; denn die Durchgangsstufen bedürfen der Rechtfertigung. Wie die optimistische Theodicee durch das Erdbeben, so die voluntaristische durch den Krieg. Beispiele. Doch ist die Kritik an Hegel noch tiefer. Das „Entlassen" der Idee ist ebensowenig gerechtfertigt wie das Überfließen des Plotin. Das Problem dieser Linie: 1. Welches ist die Notwendigkeit des Relativen bei Gottes Vollkommenheit?

Dritter Teil. Die Konstruktion des monotheistischen Gottesgedankens aus der Theodicee a. Die Grundlage des Monotheismus ist das monistische Princip. Denn die Grundlage der Theodicee ist die Heiligkeit Gottes. Wir beugen uns zuerst unter die Größe des spinozistischen Gottesgedankens, der ein Hymnus auf die Majestät Gottes ist, fern von allem monistischen und pantheistischen Betrieb. Was wohl oberflächlichem Denken als Herabziehung Gottes in die Welt scheinen kann, das ist in Wahrheit Vernichtung der Welt vor Gott. Das Thema, das allem Monotheismus zu Grunde liegt, ist der Satz: Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer. Hier gilt das Doppelte: In unserem Gottesgedanken kein Eigenleben, keine Tiefe, keine Realität außer Gott. Und in unserer Theodicee rückhaltlose Bejahung des göttlichen Rechtes, das Endliche zu negieren: das ist unendlich schwer; denn das Endliche hat den Existenzwillen, aber Gott offenbart seine Schrekken jetzt. Nichts Furchtbares unterbleibt. Unser Kulturidealismus war eine Sünde gegen Gottes Heiligkeit. Und jede Theodicee versagt, die mit Gottes Güte beginnt, weil sie den Eigenwillen schont, weil sie ein Recht auf Existenz neben Gott behauptet. Das dialektische Unrecht aller Existenz neben Gott und die Hingabe an Gottes Recht ist die echte Theodicee.

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b. Und doch vernichtet Gott das Relative, und es muß verstanden werden, woher das Schaffen und Vernichten. Und dialektisch, woher das Negative, die Form, die Emanation, das Unvollkommene, und hier tritt die andere Gedankenreihe ein: die tiefste dialektische Tiefe, die aber, weil sie die Voraussetzung aller Dialektik ist, selbst nicht mehr erfaßt werden kann; daß das Denken dem Sein gegenübersteht, kann das Denken nicht erfassen, das ist ihm Tatsache, das ist Princip des Tatsächlichen. In Gott ist Tatsächlichkeit, auch hier ist Lebendigkeit die Überwindung des Tatsächlichen. Das starre Absolute wird lebendig. Gott nimmt Teil an der Tatsächlichkeit. Gott hat Teil am Relativen. Der Eingang Gottes in das Relative ist Christologie, ist Lehre vom Kreuz; der Monotheismus wird zur Trinitätslehre. Die Theodicee wird zur Christologie. Gott leidet mit uns. Jedes Grabkreuz ist ein Symbol des sieghaften Kampfes Gottes mit der Tatsächlichkeit. Hier versagt Spinoza; hier tritt ihm gegenüber der Görlitzer Meister und Schelling, der das Kreuz fand. Das ist das Recht Gottes in allem Relativen, daß er es selbst tragend überwindet. Gottes Mitleiden ist real. Gott ringt in jedem Moment, dem die Theodicee zukommt, mit der Wirklichkeit. Zur Heiligkeit die Gnade. c. Dies die Theodicee der höchsten Spitze. Dazu eine Theodicee der konkreten Lebensmomente. Die lebendige Setzung des Relativen für Gott. Die Theodicee des Geistes oder der Gerechtigkeit. Hierzu Elemente aus Plotin und Hegel. Rom. 8, 15. Der Glaube, daß Gott jeden nach seinem Platz im System, nach seiner Positivität behandelt. Dies Wissen nur im Allgemeinen. Der einzelne Fall ein Glaube. Hier die ästhetisch-pädagogisch-voluntaristischen Gedanken am Platz. Aber immer unter dem Bewußtsein ihrer Realität. Wir kennen das Einzelne nicht, weil wir das Ganze nicht kennen; und darum ist jedes Einzelschicksal seiner Relativität entsprechend relativ verborgen. Die unendliche Gegenrede und die letzte Unbefriedigtheit des Gedankens. Nur im Allgemeinen die Anwendung auf mich. - Je lebendiger positiver, desto lebendiger, den Geist sollen wir realisieren; die lebendige Theodicee selbst führen. Absolut aber und vollendet steht über uns das doppelte Gottesrecht. Das ist Monotheismus, das ist Theodicee.

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2. Version Einleitung. Begriff und Methode der Theodicee a) Begriff der Theodicee D a s Problem der Theodicee entsteht aus dem Widerspruch zwischen Gottesbegriff und Welterfahrung. Die Welt soll aus Gott abgeleitet werden; aber ihr Zustand macht diese Ableitung fraglich. Z u m Gottesbegriff gehört notwendig Vollkommenheit, die Welterfahrung enthält eine unübersehbare Fülle von Unvollkommenheit. Wie kann das Unvollkommene von dem Vollkommenen stammen? Hebt es nicht den Begriff der Vollkommenheit auf, Unvollkommenes zu setzen? Theodicee ist der Versuch, den vollkommenen Gott um der Unvollkommenheit der Welt willen zu rechtfertigen. Die Theodicee ist ein notwendiges und allzeit lebendiges Problem des menschlichen Geistes. Es ist nicht möglich, die Unvollkommenheit der Welt zu leugnen. Selbst der zu leugnende Schein wäre Unvollkommenheit. Es ist auch nicht möglich, die Vollkommenheit Gottes in Frage zu stellen. Auch hinter den unvollkommenen Göttern des Polytheismus steht der vollkommene erste Gott oder eine verborgene Macht über den Göttern, und die Götter werden selbst Objekte der Theodicee. Was den Gott zum Gott macht, ist seine Vollkommenheit, und nichts zeigt deutlicher, daß der Gottesgedanke unabhängig von der Welterfahrung entstanden ist, als die Spannung mit ihr im Theodiceeproblem. b) Methode der Theodicee Wissenschaftliche Theodicee ist Arbeit am Gottesbegriff. Alle Versuche der Theodicee vom Weltbewußtsein aus sind unzulänglich. 1. Die ästhetische Methode scheitert an der Vernichtung von Werten, an der Tatsache des Todes, an der absoluten sittlichen Forderung. 2. Die teleologische Methode (die pädagogische Wirksamkeit des Leidens) setzt voraus, was sie erklären will, nämlich Wesen von einer Unvollkommenheit, die eine solche Pädagogik notwendig macht; und sie scheitert da völlig, wo die Pädagogik nicht zu ihrem Ziele kommt (Natur und Sünde und Tod). 3. Die ethische Methode (Der Wert der menschlichen Freiheit ist größer als der Unwert der Sünde.) Diese Lösung, der in Verbindung mit dem Gottesgedanken eine Wahrheit zukommt, scheitert in der

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naiven Form an der Tatsache der Naturordnung, des Leidens und Sterbens der Naturwesen, der objektiven Ordnung, des Irrtums und der Sünde in der Menschheit, die über den einzelnen hinausgeht und ihn ins Verderben bringt.- Und selbst in Verbindung mit dem Erlösungsgedanken würde eine derartige Theodicee nur begründet sein, wenn sie eine universelle, notwendige, die Freiheit aufhebende Erlösung behauptete. Die Unerlöstheit eines einzigen würde immer [von] neuem die Theodicee fordern. Damit aber wäre die Voraussetzung dieser Lösung aufgehoben. Theodicee ist Arbeit am Gottesbegriff, und jeder Gottesbegriff enthält eine Theodicee. Darum ist für die christliche Theologie die Doppelfrage zu beantworten: „Welche Theodicee fordert der Monotheismus, und welche Gestaltung gewinnt der Gottesbegriff des Monotheismus durch die Theodicee?"

Erster Teil. Die dualistische Reihe Die weltgeschichtlichen Ausgestaltungen der Theodicee lassen sich in zwei Reihen ordnen 4 , eine dualistische und eine monistische Reihe. Die dualistischen Ausgestaltungen sind ihrer Weltanschauung nach realistisch, ihrer Lebensauffassung nach pessimistisch. Die monistischen dagegen sind idealistisch und optimistisch. I. Form. Der Manichäismus Er ward gleichzeitig mit dem Neuplatonismus, dem Ausgangspunkt der monistischen Reihe, geschichtlich wirksam in einer Zeit, als der Montheismus des Christentums seinen weltgeschichtlichen Sieg errungen hatte (3. Jahrhundert p. Chr.). Alles Negative in Welt und Leben wird zurückgeführt auf ein persönliches göttliches Princip, den Gott der Finsternis, der mit dem des Lichtes im Kampf steht: Der Gottesgedanke ist vollkommen Produkt der Theodicee. Die Theodicee ist restlos gelöst — aber um den Preis der Vollkommenheit Gottes; die Gottheit ist zerrissen, sich widerstrebend, in der Macht begrenzt. Es wäre im Grunde falsch,

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Folgt gestr.: , deren Ausgangspunkt ungefähr gleichzeitig ist, und beide

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von einer Theodicee zu reden, wenn dieser Dualismus rein zu ertragen wäre. Aber der endliche Sieg des Lichtes, sowie vor allem die ernsthafte und unbedingte Hingabe an den Gott des Lichtes zeigen, daß auch für die Manichäer ein Gott in Wahrheit der Vollkommene war; und darum ist es eine Theodicee. II. Form. Der Teufelsglaube Er ist der depotenzierte Gott der Finsternis, der Zeit und M a c h t nach untergeordnet und doch der persönliche Träger und vor allem Organisator des Bösen. Als solcher ist er eine positive M a c h t neben Gott, und der ausgesprochene Teufelsglaube tastet an Gottes Vollkommenheit. Darum ist der Teufelsglaube für die Theodicee unbrauchbar; entweder schlechthin untergeordnet, dann fällt alle Verantwortung auf Gott, oder selbständig, dann ist Gottes Vollkommenheit fraglich. Der Teufel ist ein Kompromiß zwischen Monotheismus und Dualismus. III. Böhme und der spätere Schelling Der erste Satz der Philosophie des Görlitzer Meisters J a k o b Boehme eröffnet der Theodicee eine neue Bahn: der Satz, daß kein Wesen sich selbst erfassen kann ohne ein anderes, an dem es zu sich kommt. Er und nach ihm Schelling in seinen tiefsinnigen Untersuchungen über [„Das Wesen der menschlichen Freiheit"] reden darum von dem Grunde in Gott, dem negativen Princip, das doch zugleich Grundlage alles Lebens und aller Existenz ist. Phantastisch malt Böhme die Geburt der Naturwesen aus, die unter Kampf und Qualen dem Grund entspringen. In lebendiger, mitfühlender Intuition spricht Schelling von dem Ausdruck des Leidens auf dem Angesichte aller Kreatur. In späteren Schriften spricht er von einer eignen Potenz in Gott, dem Willen, der zum Widerspruch wird und durch den Widerspruch das Lebendige schafft. Eine eigentümliche Lebendigkeit kommt durch diese Gedanken, so schwierig und problematisch sie auch sind, in den Gottesbegriff. Es wird anschaulich, was göttliches Leben ist, nicht ein totes abstraktes Sein, sondern eine Fülle, ein pleroma des Lebendigen. Schelling hat diese Gedanken mit dem Freiheitsbegriff verbunden und die alte Erklärung des Negativen in der Welt aus der Freiheit und Sünde des Menschen in sein System aufgenommen. - Im M e n -

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sehen kommt das negative Princip in Gott zum Bewußtsein; im Menschen wird es zum bewußten Widerspruch, zur Sünde. J a , selbst eine Satanologie hat Schelling auf Grund dieser Gedanken entworfen; so gleichmäßig geht dieser Gedanke durch die ganze Reihe, daß er sich auf den Höhen der kantischen Schule wiederfindet; das negative Moment in Gott nimmt satanische Züge an. - Ob es Schelling gelungen ist, die Vollkommenheit Gottes zu retten, muß problematisch bleiben. - Doch ist ihm als Idealisten das Negative das relativ Nichtseiende. IV. Form. Schopenhauer Zweifellos nicht gelungen ist dies Schopenhauer, dessen Gott nach Schlatter satanische Züge trägt. In ihm kommt das negative Princip, das bisher neben, unter Gott gestanden hatte, zur Herrschaft über Gott; demgemäß wird die Welt lediglich negativ betrachtet. Die Welt ist eine grauenvolle Irrung des Absoluten, von der es erlöst werden muß. Gott hat Unrecht bekommen.

Zweiter Teil. Die monistische Reihe I. Form. Spinoza Gott allein hat Recht. - Das ist das Thema der andern Reihe, und wir beginnen ohne Rücksicht auf die erste Gestaltung mit der größten Form der monistischen Theodicee, mit Spinoza. Das Relative und Unvollkommene ist nicht in Wahrheit; es hat im Grunde keine Realität. Alle Realität liegt in der einen ewigen Substanz, die Dinge sind Modi seiner Existenz, sind nicht-seiend. - Wer das sagt, ist ein Jude; es ist im Grunde jüdischer Monotheismus, der hier seine letzte weltvernichtende Spitze offenbart. Es ist kein platter Pantheismus, der von vielen, die sich auf ihn berufen, verkündet wird; es ist Hymnus auf Gottes Vollkommenheit und die Nichtigkeit der Welt. II. Form. Leibniz Der paradoxen Zuspitzung entbehrt Leibniz; bei ihm ist die Theodicee, die klassische Theodicee, anschaulich, durchsichtig. Am Anfang steht auch bei ihm die Vollkommenheit Gottes, die jedes andere Vollkommene ausschließt; aber er vernichtet das Unvollkommene 110

nicht dialektisch, sondern er läßt es bejaht sein durch Gottes Willen, der sich zur Schöpfung entschieden hat. Gott konnte keine bessere Welt schaffen; sie ist die bestmögliche; denn Gott allein ist vollkomm e n - Während bei Spinoza der Schein der Realität, den die Dinge haben, nicht erklärt wird, ist Leibniz wehrlos gegen die pessimistisch-empiristische These, daß die bestmögliche Welt schlechter ist als gar keine. Gegen beide erhebt sich die Realität.- Leibniz und das Erdbeben von Lissabon. III. Form. Hegel Der Gegensatz vom Vollkommenen ist aufgehoben. Im Relativen kommt das Absolute zum Ausdruck; jedes Relative ist Durchgang und Entwicklungsstufe. Die Qual und das Recht des Relativen ist es, Durchgang zu sein. Der Entwicklungsgedanke schafft die Theodicee. - In dieser Form ist die Theodicee weltgeschichtlich wirksam geworden und hat den modernen entwicklungsgeschichtlichen Kulturoptimismus gezeitigt. Aber der Entwicklungsgedanke ist eine schlechte Theodicee; er rechtfertigt Gott nur in Bezug auf das Entwicklungsziel. Aber alle Zwischenglieder; wozu? Und darum stehen wir jetzt vor einer Erschütterung des Kulturoptimismus, namentlich in der Socialdemokratie. Das Theodiceeproblem ist von neuem lebendig.

Dritter Teil: Die dreifache Lösung Lösung geben heißt, die Momente der Lösung herausarbeiten. Die Lösung selbst ist unendlich. a) Das monistische Princip und die Heiligkeit Gottes. Die Grundlage des Monotheismus ist das monistische Princip. Nicht von einem kümmerlichen Epigonenmonismus, nicht von einer pantheistischen Herabziehung Gottes in die Welt, sondern von der Majestät des allein Vollkommenen, neben dem alle Existenz im Unrecht ist. Wir können die volle Kraft und Höhe des Monotheismus nie erreichen, ohne mit dem anzufangen, was in Wahrheit Anfang ist, Anfang alles Seins und alles Denkens, und nicht nur Anfang, sondern auch Tiefe und Wesen und Ziel und Abgrund. Gott ist ein verzehrendes Feuer; für das Denken, wie uns Spinoza zeigt, der in diesem Abgrund die Welt verlor; für das Dasein, wie wir

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täglich sehen in der Vernichtung des Lebendigen, in dem Zertreten der Lebens- und Kulturwerte, in dem Sterben von Leib und Geist. Das ist die erste Tat der Theodicee, das Recht Gottes anzuerkennen, das unbedingte Recht, uns keinen Schrecken, keine Vernichtung zu ersparen. Alle Begriffe von Schuld und Unschuld, von Wert und Unwert, von Zweck und Zwecklosigkeit sind demgegenüber verschwindend. Uns fehlt jeder Rechtsanspruch Gott gegenüber; versagt haben in unseren Tagen alle Theodiceen, die von Gottes Güte und Vorsehung ausgingen; in ihnen war noch der Wille des Relativen, sich neben und außer Gott zu behaupten; in ihnen war dialektisch der Versuch, den Weltgedanken neben dem Gottesgedanken zu erhalten; und darum mußte sie in diesem Zerbrechen der Welt und des Relativen selbst zerbrechen. Gott hat Recht, bedingungslos, und jede Theodicee ist Unrecht, das ist der erste Satz der Theodicee. b) Auf dieser Grundlage kommt nun zum Monos das Theos, das Andere Böhmes zum Einen. Es ist an dieser Stelle nicht von ferne möglich, die dialektische Tiefe dieses Problems zu entwickeln. Es ist nur das Doppelte festzuhalten. Das Andere, der Grund, der Wille des Widerspruchs u.s.f. ist relativ nichtseiend, hat nicht Gottes Realität, ist für ihn nicht ein anderer Gott; Gottes Herrschaft und Herrlichkeit wird nicht angetastet.- Andererseits hat er Teil an Gottes Realität, ist für Gott Tatsächlichkeit. Die Tatsächlichkeit ist nicht ein Spiel, nicht ein Willkürakt Gottes wie bei Leibniz. Gott hat Teil am Tatsächlichen, sein Leben ist Leben im Tatsächlichen, seine Herrlichkeit Herrschaft über das Tatsächliche. Es wirkt so Gott verdunkelnd, wenn wir Gott möglichst weit fern halten von der Tatsächlichkeit wie die seligen Götter zwischen den Atomen des Epikur. Dann entsteht die zornige Frage nach der Güte eines solchen Gottes. Wo er aber teilnimmt am Tatsächlichen, wo er selbst das Tatsächliche trägt, eingehend in die Form der Relativität, sich selbst stellend unter sein Gericht - da ist wirkliche Theodicee. Gott selbst treibt sie, indem er am Tatsächlichen teilnehmend das Tatsächliche erlöst zu seiner eignen Herrlichkeit. So wird der Monotheismus zur Trinität und die Theodicee zur Christologie. c) In dem unbedingten Recht Gottes der Welt gegenüber und zugleich in dem Teilnehmen Gottes an der Relativität der Welt liegt das Fundament jedes Monotheismus und jeder Theodicee. Auf diesem Fundament aber erhebt sich ein lebendiges System angewandter Theodicee. Durch das Nein und Ja, das Gott für jedes Relative hat,

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entsteht ein gottgegebenes Recht, ein Sinn und Ziel für jeden und jedes. Ein jeder hat eine bestimmte Stellung, einen Wert, ein Recht in der Weltordnung. Diese Stellung ist uns nur bedingt offenbar; nur der, der das Ganze kennt, kennt auch des einzelnen Sinn und Ziel. Für den einzelnen bleibt nichts als zuerst Gott Recht zu geben, dann sich innerlich mit Gott über das Tatsächliche zu erheben und endlich die Gewißheit zu haben, daß alles Negative und alles Positive, was ihn trifft, dem entspricht, was er in Wahrheit und vor Gott ist; so werden auch relative Gesichtspunkte lebendig, ästhetische, pädagogische, ethische, entwicklungsgeschichtliche. Hier entsteht für die Wissenschaft die unendliche Aufgabe, die Selbstoffenbarung Gottes in Leben und Geschichte zu erfassen, wie Plotin und Hegel es taten, und jedem seinen Platz zu geben. Hier ist für den einzelnen die Aufgabe, sich lebendig einzufügen in die Stelle, die ihm gebührt, in das Schicksal, das seinem Wesen gemäß ist. Aber dabei wissen, wir, daß dies alles relativ ist, und in den höchsten Augenblicken, wo Leben und Kultur, wo Welt und Gott zerbrechen, da bleibt nichts übrig, als zu sagen: Gott hat Recht vor aller Theodicee. Das ist die wahre Theodicee.

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8.

Der Begriff des christlichen Volkes Habilitationsvortrag

Zum Text: Der Entwurf des Habilitationsvortrags von 1916 findet sich in dem Tagebuch, das auch als Kriegstagebuch für das Jahr 1916 diente (PTAH, 801:004). Zuvor hatte Tillich dort die 1. Version des Textes „Theodicee" eingetragen. - Die Hs. der Vorlesung selbst (= 2. Version) befindet sich zur Zeit in der Privatsammlung Joachim Müller (Berlin). Beide Versionen sind ohne Überschrift.- Von den von Tillich vorgeschlagenen Themen für die Probevorlesung hatte die Theologische Fakultät Halle das Thema „Der Begriff des christlichen Volkes" bestimmt. Die Probevorlesung hat Anfang Februar 1916 stattgefunden (vgl. Brief Tillichs an seinen Vater vom 13.1. 1916, PTAH). Zum Thema der Vorlesung äußert sich Tillich im Schreiben vom 19.12.1915 an seinen Vater (EGW V, 97). - Abfassungszeit: Januar 1916 (vgl. EGW V, 97).

1. Version (Entwurf) Einleitung: Anrede. Erlaubnis zu persönlicher Bemerkung. Entstehung des Themas aus der Debatte über die Wirkungen des Krieges auf das Volk. Die Stichworte: Entscheidungsstunde, Hinkehr zu Gott, Bekehrung. Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Rettung von Optimismus und Pessimismus. Aber noch andere Probleme. I. Einige mehr formale Bemerkungen über die Begriffsbiidung „christliches V o l k " a. Die doppelte Auffassung des Volkslebens 1. Die abstrakte, objektivierende, wissenschaftliche (?)' Auffassung. Das Volk als lebendiger Organismus. Seine wichtigsten Lebens-

K l a m m e r und Fragezeichen von Tillich selbst.

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tätigkeiten. Das Verhältnis derselben zueinander. Der Begriff der Gesundheit und der Lebenskraft. Die möglichen Zerstörungen des Organismus von innen und außen. 2. Die personhafte Auffassung. Das entscheidende Merkmal der freien Entscheidung. Dies nicht bildlich, sondern ernsthaft gemeint. So die Propheten. Das Sohnesbewußtsein Israels. Dies eher als die individuelle Persönlichkeit. Die Entscheidung für oder gegen das eigene Glück. Die Träger dieser Entscheidung. Der machtgewordene Wille, ganz gleich ob einzelner oder viele[r]. Die notwendige Selbstbejahung des Organismus. Die Möglichkeit der Selbsthingabe der Person. b. Die doppelte Auffassung des Christlichen 1. Die Religion eine Funktion neben anderen. Das Christentum eine Religion neben anderen, bedingt, wechselnd, in Wechselwirkung stehend. Christlich sein heißt, in einer bestimmten Form religiös tätig sein; einer der vielen geschichtlichen Formen des religiösen Lebens angehören. 2. Die offenbarungsgeschichtliche Auffassung. Der Protest gegen die Subsumtion des Christentums unter die Religionen. Tat Gottes, nicht der Menschen. Eingriff, nicht Geschichte. Schöpfung, nicht Entwicklung. Und sie geht den ganzen Menschen an, nicht bloß einer Provinz [zugehörig], wendet ihn um, ist Tat höchster, freiester Entscheidung, ist Hingabe an Gott und Menschen. Die Lösung des Gegensatzes wäre Lösung der Theologie. Auch hier hält die religionsgeschichtliche Betrachtung beim Menschen fest, sie liegt in der Sphäre seiner Selbstbejahung; die andere Betrachtung führt über ihn hinaus bis zur Selbstverneinung. II. Die Begriffsverbindungen a. Die Verbindung des abstrakten mit dem religionsgeschichtlichen Begriff. Der christliche Staat. 1. Die Bekehrung geht vor sich äußerlich oder innerlich. Das Entscheidende ist der Machtwille, und der kommt zum Ausdruck im christlichen Staat. Der Staat übernimmt das Christentum und stellt Forderungen. Die Konfliktsmöglichkeit liegt in der Notwendigkeit des Staates, auf alle Funktionen Rücksicht zu nehmen. Das Ende des christlichen Staates ist weder Duldung noch Aufhe-

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bung der Verbindung von Kirche und Staat; das gibt es nicht, sondern nur Abwendung zu einer neuen Religion. Frankreich trotz allem ein christlicher Staat. Christliche Prediger im Heer. 2. Die Innenseite: Die christliche Kultur und die christliche Kirche. Die Entstehung der christlichen Kultur auf mannichfaltigem Wege. Ihr Bestand auch dann, wenn die Kultur scheinbar unchristlich ist. Antique Kunst. Sittlichkeit. Der Boden ist anders. Die christliche Volkskirche. Die Notwendigkeit der Bildung von Volkskirchen. Die Unmöglichkeit, nur einzelne zu bekehren. Die Bildung einer christlichen Kultur in den ersten Gemeinden. Ihr Sieg. Das Leben der Volkskirche in der Wechselwirkung. Ihre Kraft und ihre Schwachheit. Die Freikirche. Das Ende der Volkskirche. Der Kirchenaustritt der großen Massen. Nicht aber die Schwäche. Selbst in der höchsten Kraft noch ganz relativ und in der höchsten Schwachheit Träger des Absoluten. Das Totalprincip als Bedingung der christlichen Kirche in Luthertum und Forderung. Hier der andere Weg zum Ende. b. Die personale und absolute Betrachtungsweise. Wann hat sich ein Volk zu Gott bekehrt, wann von ihm abgekehrt? (a). Kein Maßstab ist 1. Die Bekehrung aller. Siehe das Alte Testament. Damit wäre dem Princip des göttlichen Handelns zuwider gehandelt. 2. Die Bekehrung der herrschenden Kreise. Dies für die anderen äußerlich und in seinen Wirkungen gefährlich. 3. Die Massenbekehrung. Es ist eine Quantität, und die ist unsicher und gilt nicht. (ß). Auch der Maßstab der Hingabe an Gott und die anderen kommt nicht in Betracht. - Der Wille des Volkes ist Machtwille. Nicht Opfer, sondern Sieg. Nicht religiöse [Betätigung], sondern Machtbetätigung. (y). Hier aber liegt die Entscheidung: Die Hingabe an die anderen geht durch die Macht, die Hingabe an Gott durch das Opfer, selbst das der Existenz. Unsere Bekehrung ist unser Kriegswille. Unsere Hingabe ist unser Siegeswille. Unser Gehorsam ist unser Opferwille. So geht das Christentum über jede Entscheidung hinaus, und wir wollen unseren Optimismus nicht an dem religiösen Leben, sondern an der Opferbereitschaft unseres Volkes messen und an dem Sieg.

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2 . Version Meine Herren! Die Entscheidungsstunde, in die unser Volk durch den Weltkrieg gestellt ist, die tiefgehende religiöse Bewegung der ersten Monate, viel mehr aber noch das Nachlassen dieser Bewegung und das ungebrochene Wiedererscheinen der alten unreligiösen Diesseitigkeits-Gesinnung in der Doppelform von Genußsucht und gesellschaftlicher 2 Verbitterung, das alles macht die Frage nach der Christlichkeit unseres Volkes brennend und stellt wissenschaftliches Denken vor die Aufgabe einer nüchternen, von Wünschen und Enttäuschungen unbeirrten Untersuchung über den begrifflichen Sinn und die möglichen Erscheinungsformen der Wortverbindung „Christliches V o l k " . Der erste Teil unserer Aufgabe, die rein begriffliche Untersuchung, hat jeden der beiden Bestandteile der fraglichen Wortverbindung daraufhin zu prüfen, o b und unter welchen Bedingungen er geeignet ist, mit dem anderen in ein begriffliches Verhältnis zu treten; was hat das Volk für eine Beziehung zum Christlichen, und welche Verbindung das Christentum mit dem Völkischen? W i r beginnen mit dem Hauptwort, dem Volk, und unterscheiden eine doppelte Auffassung des Lebens eines Volkes, die organische 3 und die personhafte. Die organische" Betrachtungsweise sieht das Leben des Volkes nach Art eines lebendigen Naturwesens an. Sie zeigt die verschiedenen Betätigungen des Volksganzen auf, sucht ihre innere Einheit, ihre Gegensätze, Spannungen, Wechselwirkungen, Ausgleiche. Sie leitet aus dem Zusammenwirken von gegebener Anlage und geschichtlichem Boden das Wachsen und Absterben eines Volkes her sowie das Kräftigwerden oder Nachlassen, das gegenseitige Hemmen oder Fördern der verschiedenen Lebenstätigkeiten. Sie betrachtet die Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichem und gesellschaftlichem, kriegerischem und religiösem, staatlichem und sittlichem, künstlerischem und technischem Handeln, etwa wie der Naturforscher und Arzt das Verhältnis von Atmung und Ernährung, Fortpflanzung und Kopfarbeit, und das Wachsen und Abnehmen der einzelnen Lebensäußerungen bei einem menschlichen Einzelwesen

2

Über gestr.: socialer

1

Über gestr.: gliedhafte

4

Über gestr.: gliedhafte

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untersucht. Die Frage nach der Volksgesundheit wird von entscheidender Bedeutung, und Staats-, Gesellschafts-, Volkswirtschaftslehre wetteifern mit Schriftstellerei, Erziehungslehre und Kirche zur Herstellung eines gesunden Volkslebens. Der Maßstab für das, was gesund ist, ist natürlich in diesem Falle noch viel schwieriger zu bestimmen als bei einem Naturwesen; doch wird lebendiges Wachstum bei innerer Ausgeglichenheit sämtlicher Lebenstätigkeiten den allgemeinen Maßstab abgeben können. In diesem Zusammenhang steht nun auch die religiöse Betätigung als eine unter den andern und mit den andern. Die Kräftigkeit oder Schwäche des religiösen Lebens, sein Verhältnis zu den anderen Geistestätigkeiten, seine geschichtliche Bestimmtheit wird unter dem Gesichtspunkt des naturhaft gesetzmäßigen Wachstums betrachtet. Auch das geistige Leben des Volkes wird zum Gegenstand gemacht und tritt unter die Gesetze, die für alles Gegenständliche gelten, Kausalität und Wechsel-Wirkung. Demgegenüber hebt nun die personhafte Betrachtungsweise das Selbständige, Unableitbare, Freie im Volksleben dadurch heraus, daß sie das Volk nach Art einer Persönlichkeit betrachtet. Hierbei ist zu bemerken, daß es sich nicht etwa um das Unableitbare in jeder geschichtlichen Tatsache handelt, insonderheit der geschichtlichen Einzelpersönlichkeit. Das muß auch der andere Standpunkt anerkennen. Sondern es handelt sich darum, ob das Volk als Träger selbständiger freier Entscheidungen anzusehen ist, ob es eine Verantwortlichkeit hat und in den Grenzen, die der Freiheit überhaupt gesetzt sind, sein eigenes Schicksal schmiedet. Das bejaht die personhafte Auffassung. Sie lehnt es darum ab, daß die Anwendung des Persönlichkeitsbegriffs auf das Volk als Bild genommen wird. Da das Wesentliche des persönlichen Lebens, die bewußte freie Entscheidung, in Betracht kommt, so liegt eben wirkliche, nicht nur bildliche Gleichartigkeit vor. Da nun aber das Volk, äußerlich betrachtet, eine Summe von Menschen ist, so entsteht die Frage nach dem sichtbaren Träger des Volkswillens. Die Antwort wird sein müssen: Die Volkspersönlichkeit ist verkörpert in dem zur Macht gewordenen Volkswillen. Das kann der Wille einer Mehrheit sein, ebenso gut aber der einer Minderheit, eines Kreises, eines Einzelnen, dem die anderen sich fügen, und zwar nicht nur politisch, sondern auch kulturell. Von der Gestaltung dieses machtgewordenen Volkswillens hängt das Schicksal des Volkes, soweit es durch Freiheit bestimmt ist, ab. Ihn muß zu beeinflussen suchen, wer auf die Entscheidungen des Volkes

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Einfluß gewinnen will. Die Entscheidung selbst aber liegt in der Tiefe der durch keine dinghaften Denkformen zu erfassenden Volkspersönlichkeit. Ich habe in den bisherigen Ausführungen das Wort „Volksseele" vermieden, da es die Klarheit der Unterscheidungen beeinträchtigt hätte. Wird es angewandt, so muß es scharf unterschieden werden von Volkspersönlichkeit. Es bezeichnet das, was durch Anlage in einem Volk vorhanden ist, während Persönlichkeit auf die Fähigkeit der freien Entscheidung geht. Freilich wird die Volksseele mitgestaltet durch die geschichtlichen Entscheidungen, und sie ist andererseits die Voraussetzung solcher Entscheidungen. Aber der Unterschied bleibt. Auch die gliedhafte Betrachtungsweise kann von einer Volksseele sprechen als dem Inbegriff der eigentlichen geistigen Lebendigkeit eines Volkes. Ein Vergleich der beiden Anschauungen zeigt, daß ein ausschließender Gegensatz nicht besteht, wenigstens für den nicht, der von Kant gelernt hat, die dinghaften Denkformen, besonders das Gesetz der Ursache, als Setzung der Freiheit zu verstehen. Auf das Nähere dieser viel verschlungenen Fragen einzugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich. Dafür ist an Folgendes zu erinnern: Jedes Naturwesen hat den unmittelbaren Trieb zur Selbsterhaltung, Vergrößerung seines Lebensbereiches und Fortpflanzung. Die gliedhafte Betrachtungsweise des Volkslebens muß auf diesen Grundtrieb alles Lebendigen natürlich das größte Gewicht legen und ihn zur Grundlage seiner Untersuchungen machen. Ist doch jede Arbeit an der Volksgesundheit selbst ein Ausfluß dieses völkischen Selbsterhaltungstriebes. Nun ist es das Wesen der Freiheit, vom Zwange des selbstbejahenden Naturtriebes zu erlösen und an die Stelle der Selbsterhaltung die Selbsthingabe zu setzen. Wo aber Selbsthingabe ist, da ist einerseits die Möglichkeit der Gemeinschaft und andererseits die Erhebung über den Kreis der Diesseitigkeit und die Hingabe an das Ewige, Unbedingte. Ist es der personhaften Auffassung des Volkslebens möglich, diese beiden Merkmale der Freiheit und damit Persönlichkeit des Volkes aufzuweisen? Mit dieser Frage, die in Erinnerung zu halten ist, beschließen wir diesen Teil unserer Erörterung. Die Betrachtung des Begriffs „christlich" hat an dieser Stelle lediglich von dem Gesichtspunkt aus zu geschehen, daß die Verbindung mit dem Begriff „ V o l k " verständlich wird. Es wird zu diesem Zwecke zu unterscheiden sein die religionsgeschichtliche und die offenbarungsmäßige Auffassung des Christentums.

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Die religionsgeschichtliche Auffassung stellt das Christentum unter den allgemeinen Religionsbegriff, betrachtet es [als] eine Religion neben anderen, als einen besonderen Fall des allgemeinen religiösen Lebens der geschichtlichen Menschheit. Christlich sein heißt religiös tätig sein in einer durch das geschichtliche Christentum bestimmten Form. Christ sein bezeichnet die Angehörigkeit zu einer der christlichen Bekenntnisse, Kirchen, Kultus- und Glaubensformen. Es ist eine rein erfahrungsmäßige Feststellung 5 . Zugleich wird die religiöse Geistestätigkeit als eine besondere neben den anderen, als besondere Provinz im Geistesleben behandelt und in ihrer Eigenart, ihren Bedingungen und Beziehungen zu den übrigen Geistestätigkeiten beobachtet, bei dem einzelnen wie in einem geschlossenen Kulturkreis. „Christlich" ist hier überall nur der Ausdruck einer eigentümlichen Bestimmtheit des allgemein religiösen Lebenstriebes. Die offenbarungsmäßige Betrachtungsweise erhebt Einspruch dagegen, daß das Christentum unter den Religionsbegriff gestellt wird und das eigentümlich christliche Leben dem religiösen Leben überhaupt untergeordnet wird. Sie sieht darin eine Beeinträchtigung, ja eine Verneinung des Selbstanspruches des Christentums. Das Christentum ist nicht eine Religion, d.h. eine Erscheinung der Religionsgeschichte, sondern eine Tat Gottes in der Welt, und das christlichreligiöse Leben ist nicht eine Form der religiösen Geistestätigkeit, sondern eine Umwandlung der gesamten Persönlichkeit durch Gottes Wirken. Ein Christ sein heißt ein Bekehrter sein, christlich sein heißt die Wiedergeburt des inneren Menschen grundsätzlich erlebt haben. Dieses Erlebnis ist zugleich die einzige unbedingte persönliche Tat, die Tat der Freiheit von aller unterpersönlichen Bindung, die Tat der Hingabe an die Gemeinschaft in der Liebe, an Gott im Glauben. Es werden alle Seiten des geistigen Lebens dadurch erfaßt, nicht bloß die religiöse Provinz; es ist die Urtat, die Selbstsetzung der geistigen Persönlichkeit. Auch hier nehmen wir keine Rücksicht auf die Fülle der Fragen, die aus diesem Gegensatz hervorgehen, sondern richten unsere Aufmerksamkeit auf einen Begriff, der wie der Begriff der Volksseele in der vorhergehenden Betrachtung eine gewisse Vermittlung zwischen den Gegensätzen bildet: der Begriff der christlichen Erziehung und ihr ständiges Ergebnis, die christliche Kultur. Sie ist die unmittelbare 5

Folgt gestr.: Auf alle tieferen Fragen der religionsgeschichtlichen Forschung kann hier nicht eingegangen werden.

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naturgemäße Wirkung der christlichen Religion als tatsächlicher geschichtlicher Erscheinung, ist aber zugleich die Voraussetzung für die überwältigende Mehrheit aller persönlich-christlichen Entscheidungen. Andererseits wird die christliche Kultur fortwährend neu geschaffen durch die Taten der Freiheit und bildet so ganz entsprechend der Volksseele ein lebendiges Glied der Wechselwirkung zwischen dem Organischen und dem Persönlichen, doch so, daß es grundsätzlich auf die Seite des Organischen gehört und nicht etwa als ein Höheres, Vermittelndes zwischen beiden aufgefaßt werden darf. Lebendiger und anschaulicher werden diese allgemeinen begrifflichen Erwägungen, wenn wir nun zur Verbindung der beiden Grundbegriffe, dem Begriff des christlichen Volkes übergehen. Entsprechend den zwei Grundauffassungen, die wir bei beiden Begriffen unterschieden haben, muß noch die Begriffsverbindung unter doppeltem Gesichtspunkt betrachtet werden. Da jedoch der beidemal mitbeachtete Mittelbegriff Volksseele und religiöse Kultur in der Wirklichkeit von außerordentlicher Bedeutung ist, wird es am deutlichsten sein, drei Grundformen der Begriffsverbindung zu unterscheiden: erstens das christianisierte Volk, zweitens das christlich erzogene Volk, drittens das Christenvolk. Das christianisierte Volk und der christliche Staat. Die erste Form, in der uns der Begriff des christlichen Volkes entgegentritt, ist eine Vereinigung der gliedhaften Auffassung des Volkslebens und der religionsgeschichtlichen Auffassung des Christentums. Die geschichtliche Entwicklung bringt ein Volk in den Bereich der christlichen Bewegung, es öffnet sich dem Christentum, gestaltet sein religiöses Leben, Kultus, Vorstellungswelt, Sitte im christlichen Sinne um, natürlich zunächst in derjenigen geschichtlichen Ausgestaltung des Christentums, mit der es in wirkungsvolle Berührung kommt. Es wird nicht überhaupt christlich, sondern es wird griechisch-, katholisch-, reformiert-, lutherisch- und so fort christlich. Das sind lediglich geschichtliche Feststellungen. - Es ist dabei auch gleichgültig, auf welchem Wege diese Christianisierung zu Stande gekommen ist. Das kann sehr äußerliche Gründe haben, wie politische Erwägung oder Zwang eines fremden Eroberns, es kann auch sehr innerlich begründet sein, wie in der langsamen Hinwendung der entscheidenden Kreise zum Christentum. Hierbei ist auch wieder lediglich entscheidend der machtgewordene Volkswille, sei er durch einen Einzelnen, sei er durch die Gesamtheit oder einzelne Kreise dargestellt. So besteht die Möglichkeit, daß ein Volk, auch wenn die Mehrheit

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seiner Glieder bekehrt ist, nicht christlich genannt werden darf, und umgekehrt ein christliches Volk mit heidnischer Mehrheit möglich ist. Beispiel für das erste ist das Römische Reich unter Konstantin, für das zweite die maurischen Reiche in Spanien. Das geschichtlich allein gültige Merkmal dafür, daß ein Volk christlich ist, ist der christliche Staat. Der Staat als die Organisation des völkischen Machtwillens hat auch das letzte Wort über die Gestaltung der religiösen Tätigkeit zu sprechen. Auch wenn er die Ausgestaltung einer besonderen religiösen Organisation, der Kirche, überläßt, hält er die Hand über ihr, insoweit es sich um die harmonische Betätigung aller Tätigkeiten des Volkslebens handelt. Er kann nicht zugeben, daß die übrigen durch die Ausübung der Religion gestört werden. Andererseits hat er dem religiösen Leben zu helfen und ihm Geltung zu verschaffen, zum Beispiel insoweit die Erziehung und öffentliche Sittlichkeit in Frage kommt. In dem Bereich der religionsgeschichtlichen und organischen Betrachtungsweise des Christlichen-Völkischen sind Kämpfe zwischen Vertretern des Staates und der Religion nicht notwendig, aber jederzeit möglich. Sie haben lediglich zufällige, keine grundsätzliche Bedeutung. Sie stehen auf gleicher Stufe mit Kämpfen über politische, sociale, volkserzieherische Fragen zwischen Trägern dieser Kulturtätigkeiten und Vertretern der staatlichen Gewalt. Wo eine Geistestätigkeit so stark gemeinschaftsbildende Kraft hat wie die Religion, da ergibt sich die Notwendigkeit einer besonders engen Verbindung, die in dem Begriff der Staatskirche gegeben ist und einen unmittelbaren Einfluß staatlicher Behörden auf das kirchlich-religiöse Leben bedeutet, so in der Konsistorial-Verfassung der Evangelischen Landeskirche. Doch liegt diese Frage neben dem Hauptwege unserer Ausführungen. Das Ende des christlichen Staates wäre da erreicht, wo der Staatswille sich einer anderen Religion zuwendet, d.h. nicht da, wo der Staat neben der Staatsreligion auch andere zuläßt, und auch da nicht, wo der Staat jede Verbindung mit der Kirche abbricht, wie zum Beispiel in Frankreich. Im ersten Falle nimmt die fremde Religion den Charakter einer geduldeten an; im zweiten Falle ist die Gesamtkultur, zum Beispiel das Gebiet der Volkserziehung, wesentlich bedingt durch Bestandteile der christlichen Religion; und wenn die Verneinung des Christlichen bei den Vertretern des Staates auch noch so weit geht, alles Positive, was ihnen bleibt, stammt doch, wenn auch in Vermittlungen und Verzerrungen, aus dem Christentum. So kann ein unreligiöses und in diesem Sinn unchristliches Volk

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geschaffen werden, aber [ein] im geschichtlichen Sinne christliches Volk bleibt es dennoch. Es könnte noch die Frage entstehen, ob ein Sieg der sogenannten Vernunftreligion, etwa verbunden mit freimaurerischem Kultus, wie er in romanischen Ländern nicht unmöglich erscheint, den geschichtlich-christlichen Charakter eines Volkes aufheben würde. Im Allgemeinen wird diese Frage zu verneinen sein, da die Vernunftreligion eine philosophische Abstraktion aus Elementen ist, die das Christentum gebracht hat. Doch ist es auch denkbar, daß die christlichen Bestandteile mehr und mehr ausgestoßen werden und eine antichristlich-philosophische Religion etwa im Sinne des Neuplatonismus zur Herrschaft kommt. Gewisse Anzeichen in dieser Richtung sind zum Beispiel im französischen Volksleben nicht zu verkennen, doch ist ein begründetes Urteil über diese Entwicklung nicht möglich. Wir gehen nun über zu der zweiten Form des christlichen Volkes, dem christlich erzogenen Volk und der Volkskirche, gewissermaßen der Innenseite zu der bisher betrachteten äußeren Erscheinung. Es handelt sich um Schaffung einer christlichen Kultur durch christliche Volkserziehung. Christliche Kultur ist ein vielfältig zusammengesetztes Gebilde. Es vereinigt in sich außer dem christlichen Element Bestandteile aus dem eigentümlichen Charakter eines Volkes, aus den allgemeinen, die Volksgrenzen durchbrechenden kulturellen Bewegungen, und dies alles auf der Grundlage der natürlich-geistigen Triebkräfte. Weiter ist zu bedenken, daß das Christentum, wenn es von einem Volk an das andere weitergegeben wird, schon das Christentum dieses bestimmten Volkes geworden ist, also auch Elemente des fremden Volksgeistes mit übernommen werden; und da bei diesem der gleiche Fall vorlag, so empfängt das zuletzt christlich gewordene Volk mit dem Christentum eine ganze Reihe derartiger Volkseigentümlichkeiten. Die christliche Volkskultur stellt sich einerseits dar in der Beeinflussung sämtlicher Kulturtätigkeiten durch den christlichen Geist, andererseits in der Existenz der christlichen Volkskirche. Sämtliche Kulturtätigkeiten sind der Ausdruck eines bestimmten geistigen Gehaltes. Ist dieser Gehalt wesentlich mitbestimmt durch das Christentum, so werden auch die Kulturtätigkeiten mehr oder weniger christlich beeinflußt sein; und dieser christliche Charakter bleibt auch dann, wenn irgendwelche Beziehung zum Religiösen nicht unmittelbar vorliegt. In diesem Sinne ist z. B. unsere Kunst auch da christlich, w o sie am meisten von der Antique gelernt hat und wo der Gegenstand dem Religiösen völlig fernliegt. Der

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Boden ist ein völlig anderer. Es sind zwei Weltperioden, die christliche und die vorchristliche. Es sind zwei Lebensperioden im Leben des Volkes. Viele Brücken führen von einer zur anderen, aber es ist ein anderes Land, und das heißt christlich. So ist es auch mit der Volkskirche. Sie ist allen kulturellen Einflüssen offen. Sie nimmt von allen; sie dient allen, dem Recht wie dem Gesellschaftsleben, wie der Sitte, wie der Kunst. Oft ist sie die Nehmende, Getragene, oft die Gebende, Tragende. Mit dieser Wechselwirkung fließt in sie ein Geist des Volkes, Geist fremder Völker, Geist des Altertums und fremder Kulturen, fremder Religionen, doch bleibt sie christlich; und sie öffnet ihre Tore weit. Jeder, der im Volk geboren wird, gehört zu ihr. Sie stellt keine Forderungen an religiöses Leben und Sittlichkeit. Es ist die Kirche des Volkes; es ist ein Volk, das die Kirche darstellt. Auch Freikirchen ändern daran nichts. Eine Generation nach der Losreißung werden sie Volkskirchen für ihre Kreise; es wird zur Selbstverständlichkeit, ihnen anzugehören, sie objektivieren sich in der Sitte. Ausbreitung des Christentums ist darum notwendig Gewinnung von christlichen Völkern. Einzelne Christengemeinden in einem heidnischen Volk sind ein Übergang. Die Gemeinden sind herausgetreten aus dem Kulturorganismus, und dieser empfindet sie mit Recht als Fremdkörper, aber dieser Zustand des reinen Gegensatzes ist gar nicht zu verwirklichen. Die Gemeinde bildet sofort aus ihrem längst geprägten Kulturbewußtsein für sich eine christliche Kultur. Dem Volksorganismus ist dadurch die Kraft des Gegenstoßes zum Teil entzogen. Die Zwiespältigkeit hat ihn ohnehin geschwächt, und so geht er ein in die neue christliche Kultureinheit, diese füllend, bereichernd, sich gleichartig machend. Eine neue christliche Volkskultur ist entstanden. Es handelt sich nun um die letzte Beziehungsform zwischen Volk und Christentum, die Bekehrung der Volkspersönlichkeit mit ihren Folgen: Hingabe an Gott und den anderen. Theologisch gesprochen: Kann ein Volk in die Heilsordnung eintreten? Die Geschichte des jüdischen Volkes bis zu der Auseinandersetzung zwischen Paulus und dem Judenchristentum ist die weltgeschichtliche Verneinung dieser Frage. Von dem 3 F ~IRB6 des Propheten bis zu den öAiyoi der '

Übersetzung: „Ein Rest wird umkehren" (symbolischer Name des Sohnes Jesajas; vgl. Jes 7, 3).

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Bergpredigt und der großen Schaar aus allen Völkern und Sprachen, die der Apokalyptiker schaut 7 , ist eine Linie. An die Völker geht der Ruf, die Einzelnen werden erwählt. Das auserwählte Volk ist das erstberufene Volk, aber es hat seine Berufung verworfen. Seitdem gibt es kein auserwähltes Volk mehr. D a s Evangelium richtet sich an alle Welt, und seine Predigt an alle Völker. Die Kirchengeschichte bestätigt die biblische Überzeugung in doppelter Hinsicht: Ein Volk nach dem anderen wird christlich, innerhalb der christlichen Völker aber befinden sich die Kreise der lebendigen Christen in der Minderheit und in scharfer Kritik an den sittlich-religiösen Zuständen ihrer Zeit. Der machtgewordene Wille eines Volkes bekehrt sich nicht; denn er ist seinem Wesen nach unbekehrbar. Er ist seinem Wesen nach Lebenswille, nicht in der lediglich vegetativen Form des Selbsterhaltungstriebes, auch nicht in der Form des Glückstriebes, sondern in der idealisierten Form des Machtwillens. Die Durchsetzung des Machtwillens ist der Krieg; das vorübergehende Resultat des Kraftausgleichs der Friede. Unkriegerische Völker sind unterwertig. Ein Volk, d a s sich für ein anderes opfern läßt, gilt mit Recht als minderwertig. Nicht Opfer, sondern Sieg ist die wesensgemäße Vollendung des Volkes. Aus dem Kreis des sich selbst bejahenden Machtwillens kann ein Volk nicht heraus. Auch Gott gegenüber nicht. Das Arbeitsziel der sittlich-religiösen Arbeit eines Volkes an sich selbst ist nie das Reich Gottes, sondern immer das Weltreich. Die nationale Forderung lautet nicht: Tut Gutes um des Guten willen, haltet an der Kirche [fest] um der Kirche willen, bleibt bei Gott um Gottes willen, sondern sie lautet: Tut das alles, damit das Volk erhalten bleibt 8 . Innere Mission vom nationalen Standpunkt dient der Socialpolitik, äußere der Kolonialpolitik, anderen Sinn hat sie nicht. Alles ist Ausfluß des völkischen Machtwillens. - Auch die persönliche Frömmigkeit der Träger dieses Machtwillens, sei es ein Einzelner, eine Minderheit, eine Mehrheit, ändert das nicht. Sie können der Religion, der Kirche einen ungeheuren Einfluß auf das Volksleben verschaffen; aber auch dies nur als Ausfluß des Machtwillens und möglicherweise verbunden mit Sittenlosigkeit oder innerer Abwendung von der Religion. Das Auftreten einer kräftigen religiösen

7

"

Offb 19, 1.6. Hs.: bleiben

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Welle im Volksleben kann nie als Wiedergeburt eines Volkes aufgefaßt werden, ebensowenig wie eine Zeit religiöser Indifferenz als Abfall. Das Auf und Ab der religiösen Funktion kann nicht als Wechsel von Bekehrung und Abfall betrachtet werden. Dagegen kann ein Augenblick gedacht werden, w o die religiöse Funktion in einem solchen Maße herabgedrückt ist, daß eine Erkrankung des ganzen Volksorganismus notwendigerweise eintritt. Aber die religiöse Funktion ist nicht die einzige, deren Fehlen für ein Volk die Krankheit zum T o d e bedeutet, und ihr kraftvolles Dasein kann ein Volk nicht immer vom Untergang retten. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß das Urteil: „Ein Volk ist christlich" immer nur im religionsgeschichtlichen und kulturellen Sinne ausgesprochen werden kann, niemals als Urteil über die persönliche Stellung eines Volkes zu Gott. Das Urteil „christlich" im offenbarungsgeschichtlichen Sinne bezieht sich auf die Gemeinde Christi und ihre lebendigen Glieder, auf die Kirche nach ihrer unsichtbaren Seite, während sie nach ihrer sichtbaren Seite normalerweise mit dem Volk zusammenfällt. Es sei mir gestattet, zum Schluß auf einige praktische Folgen der gegebenen Entscheidung aufmerksam zu machen. Zunächst verschwindet nun der Anstoß, den die innere Unchristlichkeit sowie die gegenseitige Feindschaft der christlichen Völker wieder und wieder gibt. Der Maßstab, nach dem auch die christlichen Völker zu beurteilen sind, ist der der Gesundheit, und der Maßstab für die Beurteilung ihres Verhältnisses zueinander ist der Machtwille und sein Ausgleich. - Ferner wird durch unsere Darlegungen der Absicht, ein Volk als solches zu bekehren, ebenso entgegengetreten wie der einseitigen Einschätzung des religiösen Lebens im Zusammenhange des Volkslebens. Hier ist eine Sphäre der relativen, religionsgeschichtlichen, noch nicht der absoluten, offenbarungsgeschichtlichen Kategorien. Darum kann ferner das nationale Motiv nie das entscheidende bei aller theologischen und kirchlichen Arbeit sein. Wie sie äußerlich in der Mission über das Nationale hinausgeht, so innerlich durch die Zielsetzung, nämlich das Reich Gottes, das zwar durch die christlichen Völker auf Erden kommt, aber seinem Wesen nach vor und über ihnen steht, das Christenvolk aus Völkern, denen das Evangelium verkündigt wird.

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9. Rechtfertigung und Zweifel

Zum Text: Der Entwurf „Rechtfertigung und Zweifel", die erste größere Arbeit, die Tillich nach dem 1. Weltkrieg verfaßt hat, ist in einer handschriftlichen Fassung (= 1. Version) und als ein 4S Seiten umfassendes Typoskript (= 2. Version) erhalten (PTAH, 204: 0S3). Die 1. Version ist ausführlicher und weniger gut gegliedert ab die 2. Version. In beiden Versionen begegnen wir zum erstenmal der Wendung „Gott über Gott", die in dem 1924 veröffentlichten Aufsatz „Rechtfertigung und Zweifel" nicht mehr auftaucht. In seinem Brief vom S. 12. 1917 hatte Tillich geschrieben: „Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des Glaubens ohne Gott gekommen, dessen nähere Bestimmung und Entfaltung den Inhalt meines gegenwärtigen religionsphilosophischen Denkens bildet" (EGW V 121). Bemerkenswerterweise hat Tillich diese Ausarbeitung seiner Gedanken nicht veröffentlicht. Wahrscheinlich hat er die Arbeit (darum die 2. Version!) der Berliner Theologischen Fakultät vorgelegt, um sich mit ihr als Privatdozent vorzustellen und sich um ein Stipendium zu bewerben. Folgender Briefentwurf (PTAH 114:003) gibt darüber Aufschluß: „Der Hochwürdigen Theologischen Fakultät erlaube ich mir, diesen Entwurf „zur Begründung eines theologischen Princips" vorzulegen. Nach viereinhalb Jahren Arbeitsverlust durch den Krieg war es mir nicht möglich, eine kleinere, aber abgeschlossene Arbeit, wie es wohl dem Stipendiums-Zweck entsprechender gewesen wäre, vorzulegen. Die Gedanken, die das Kriegsleben übrig ließ, bewegten sich naturgemäß um die principiellsten Dinge, und seitdem hat die Wiedereinarbeitung und die Vorbereitung des ersten Kollegs die meiste Kraft in Anspruch genommen. So konnte ich nichts anderes als einen ausführlichen, gedanklich geschlossenen Entwurf principiellster Art vorlegen. Darüber mußte die Form, die äußere ivie die innere, leiden: die stilistischen Mängel, Unausgewogenheiten des Aufbaus, Unausgeführtes und mißverständliche Knappheit, das Fehlen von Litteraturnachweisen etc. sind in dem Entwurf-Charakter begründet. Doch glaube ich, daß der entscheidende Gedankengang ausreichend deutlich hervortritt. Auf ihn allein kam es mir an. Wenn ich mich trotz der genannten Bedingungen entschlossen habe, die Arbeit einzureichen, so ist außer der materiellen Nötigung der Wunsch maßgebend gewesen, der Hochwürdigen Fakultät, die mich als einen theologisch Unbekannten übernommen hat, einen Einblick in die Probleme und

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Ziele meines systematischen Denkens zu geben, und dazu schien mir nichts geeigneter als die Darstellung meines Hauptproblems, der religiösen Dialektik des Zweifels." Die Arbeit ist nach seinem am 16.4.1919 gehaltenen Vortrag „Über die Idee einer Theologie der Kultur" und vor der Veröffentlichung dieses Vortrags abgeschlossen worden, stammt also aus dem Jahre 1919. Die Version ist nur an wenigen Stellen von Tillich handschriftlich korrigiert, aber äußerst fehlerhaft nach Diktat geschrieben worden, bedurfte also vieler Korrekturen durch den Herausgeber. Überdies ist S. IS verloren gegangen. An der entsprechenden Stelle ist, um den Sinnzusammenhang nicht zu stören, der Text der 1. Version eingefugt worden.

1. Version (Handschrift) Gliederung: A. Das Princip des Protestantismus und das gegenwärtige Kulturbewußtsein 1. Die Beurteilung der modernen Kultur als Antithese zum Rationalismus und Supranaturalismus: die Möglichkeit eines Princips der Einheit. 2. Über den Sinn der theologischen Principien. Die Antinomie Material- und Formalprincip. Das Materialprincip als Voraussetzung des Formalprincips; das Formalprincip als Konkretion des Materialprincips. Die zwei resp. drei Momente des theologischen Princips. B. Das Princip der Rechtfertigung und der Zweifel I. Der ursprüngliche und wesentliche Charakter der Rechtfertigung. 3. Der notwendig synthetische Charakter der Rechtfertigung. Die Aufhebung seines Charakters als Princip durch analytische Deutungen. Die absolute Paradoxie der Rechtfertigung. 4. Der begrenzte Charakter dieses Princips; seine Bedeutungslosigkeit für die gegenständlichen Probleme; seine unbedeutende Stellung bei den Dogmatikern. Die Ablösungsmöglichkeit der Paradoxie aus der begrenzten Form. II. Die Rechtfertigung des Zweiflers. 5. Das Problem des Zweifels an den gegenständlichen Voraussetzungen innerhalb des Rechtfertigungsgedankens. Der Zweifel als Heilsungewißheit und der Zweifel als Wahrheitsungewißheit. 6. Der Zweifel als Sünde. Die Rechtfertigung des sündigen Zwei-

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fels. - Der Zweifel als Wahrhaftigkeit und die Problematik der Rechtfertigung des theoretischen Zweiflers. 7. Die Notwendigkeit dieses Problems seit Auflösung der Substantialität des Gottesbewußtseins. Die Idee der Gottheit des Atheisten. 8. Die Unterbauung des gegenständlichen Gottesgedankens durch einen ungegenständlichen; das Verhältnis beider zueinander. Rechtfertigung und Heiligung des Zweiflers. C. Das absolute Paradox als Princip des Protestantismus 9. Das absolute Paradox als Princip der Theologie. Die Absolutheit des Christentums und das Paradox. Die Unterordnung des Christentums und der Kirche unter das Paradox. 10. Über den berechtigten und unberechtigten Gebrauch des Paradox. Das Paradox als Apriori der Begriffe. 11. Über die Ableitung der theologischen Sätze aus dem absoluten Paradox. Die Historiker führen die problematische Lage des gegenwärtigen Protestantismus auf den Widerspruch zweier 'Grundelemente zurück: die mittelalterlich-supranatural-transcendente und die modernrational-immanente Weltanschauung. Darüber herrscht Einstimmigkeit in allen Lagern. Verschiedener Meinung ist man über die Art des Gegensatzes. Die Extreme von rechts und links fassen ihn als ausschließlich auf. Die moderne Kultur hat das mittelalterliche und altprotestantische System principiell mit Formal- und Materialprincip aufgehoben und bedeutet etwas schlechthin Neues, so denken die einen. Die andern geben 2 den Gegensatz zu, ziehen aber den entgegengesetzten Schluß: Die moderne Weltanschauung muß überwunden werden von dem absolut wahren, im Wesen unveränderlichen System der Offenbarung, wie es die Reformatoren rein und unverfälscht herausgearbeitet haben. Wichtiger sind die Vermittlungsversuche, die den breitesten Raum in der theologischen und populären Literatur einnehmen. Sie unterscheiden das protestantische vom mittelalterlichen System und erkennen dem Protestantismus eine Art Übergangs- und Vermittlungsstellung zu. Der Protestantismus wird gewissermaßen a priori Vermittlungstheologie. Hier gibt es nun zahlreiche Abstufungen. Man kann den Protestantismus mit der Renaissance zusammenstellen und ihn zum Anfang des Neuen ma1

Folgt gestr.: Principien

2

Über gestr.: ihnen Recht

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chen; man kann ihn aber auch wesentlich dem Mittelalter angleichen und ihn lediglich zum Möglichkeitsgrund des Neuen machen, das mit der Aufklärung zum Durchbruch kam. Troeltsch in seiner Abhandlung über den Protestantismus in der „Kultur der Gegenwart" 3 unterscheidet die wesentlich mittelalterlichen Momente im Protestantismus von denjenigen, die der modernen Kultur einen Ansatzpunkt gaben. Aber daß sich tatsächlich etwas daran ansetzte, führt auch er auf die unabhängig einsetzende Aufklärung zurück. Immerhin besagt das Bild des „Ansatzpunktes", daß zwischen Protestantismus und moderner Kultur eine innere dialektische Beziehung besteht, die freilich nie von sich aus aktualisiert wäre. Für den Systematiker ist es nun gerade dieses dialektische Verhältnis, das ihn zur Beachtung zwingt, ganz gleich, inwieweit es in realer Dialektik historisch wirksam geworden ist. Er wird dabei einen Schritt weiter gehen müssen als der Historiker. Er wird nicht nur die Punkte aufzuweisen haben, über die sich der Übergang von einem zum andern vollzog, sondern er wird diese Punkte selbst wieder zu verstehen suchen aus einem letzten Princip, das unterhalb der sichtbaren Übergangspunkte liegt; er wird mit der Möglichkeit rechnen, daß unterhalb der Schicht des sichtbaren Gegensatzes der gegenwärtigen Kulturelemente eine Schicht der Einheit liegt, die unmittelbar nicht zur historischen Wirksamkeit gekommen ist. Ein solches Unternehmen ist rein systematisch und kann sich weder auf historische Beobachtungen stützen noch von ihnen widerlegt werden; es ist eine produktive Begriffsarbeit, die mit sich selbst steht und fällt und auch dadurch nicht erschüttert wird, daß sie zur Erläuterung oder indirekten Bestätigung problematische historische Urteile aufnimmt. Es wird also die systematische Frage gestellt, ob unterhalb des inneren Gegensatzes der modern-protestantischen Kultur eine Einheit vorhanden ist, die, einmal zum Bewußtsein gebracht, die Zwiespältigkeit des religiös-kulturellen Lebens zu überwinden im Stande wäre. Man könnte dabei so vorgehen, daß man den Gegensatz scharf formulierte, seine beiden Seiten auf ein letztes Princip zurückführt und durch logische Analyse eine letzte Einheit zu entdecken suchte. Aber dieser Weg ist nicht anwendbar. Der Charakter beider Seiten

3

Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die Kultur der G e g e n w a r t . Hrsg. v. Paul Hinneberg. Teil I, Abt. IV, 1, II. Hälfte, Berlin und Leipzig 1 9 0 6 , 2 . stark veränderte und erweiterte Aufl. 1 9 0 6 ; neuer selbständiger Abdruck mit „ N a c h t r a g " zur Literatur. Berlin und Leipzig 1 9 2 2 .

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des Gegensatzes reagiert dagegen. Das Absolutheitsbewußtsein des Religiösen kann sich nicht auf formale Gleichsetzung mit einem außerreligiösen Princip verlassen; es würde dabei a priori verlieren, weil seinem Wesen zuwider behandelt sein. Umgekehrt ist es das Wesen der aus der Aufklärung stammenden Kulturbewegung, ein inhaltliches Princip nicht zu haben, sondern lediglich das formale 4 , Bewegung, Fortschritt, Autonomie zu sein. Die Aufstellung eines inhaltlichen Princips würde nur wieder ein M o m e n t in der Bewegung, eine autonome Produktion sein und würde, falls sie sich absolut setzte, das Wesen dessen gerade verfehlen, was sie erfassen wollte. Jener schematische Weg der Vergleichung ist also ungangbar. Es bleibt nun noch der andere Weg, von dem Princip des Protestantismus auszugehen, es in immanenter Dialektik zu entfalten und auf einen Punkt zu führen, durch den es zum religiösen Princip des modernen Kulturbewußtseins werden kann. W i r können demnach unsere Aufgabe so bestimmen: Es soll gezeigt werden, daß 5 das Princip des Protestantismus in sich ein M o m e n t enthält, durch dessen Entfaltung 'es in Einheit kommt mit einem auf Autonomie aufgebauten Geistesleben. Unbrauchbar ist ein Lösungsversuch des Problems, der gewissermaßen den umgekehrten Weg gegangen ist, nämlich von der im Autonomieprincip zu der im Protestantismus 7 liegenden Subjektivität. Die Subjektivität wäre dann der gesuchte Einheitspunkt. Aber die Subjektivität kann nie ein Einheitsprincip werden, sie ist zunächst Negativität und in ihrer höchsten Zuspitzung absolute Negativität; nur insofern sie aufgenommen werden kann in ein Positives, ist sie selbst zur Position befähigt. So ist es allerdings die Wahrheit dieses Gedankens, daß nur durch die im Subjektiven liegende Negation der Protestantismus sich als etwas Selbständiges erfassen und die moderne Kultur das unendliche M o m e n t der Kritik in sich aufnehmen konnte; andererseits ist es nicht zufällig, daß die jenen Gedanken vertretende Theologie in ihrer Wirkung lediglich auflösend gewesen ist und "veranlaßt hat, daß man kirchlicherseits sich dem objektiven M o m e n t des Protestantismus, der Bibelautorität,

4

Folgt gestr.: Fortschritt,

5

Über gestr.: die Rechtfertigung

6

Über gestr.: sie

7

Über gestr.: Rechtfertigungsgedanken

*

Über gestr.: bewirkt

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wieder 'zuwendete, damit aber die Einheit schlechterdings aufgab und den principiellen Konflikt zwischen Autorität und Autonomie über das M a ß verlängerte. Denn gleichzeitig suchte die autonom begründete Philosophie ein inhaltliches 10Kultursystem spekulativ zu erschaffen, das aber notwendig in kurzer Zeit dem ihm immanenten subjektiven Element zum Opfer fiel und in seinen Sturz die auf Subjektivität aufgebaute Theologie mit verwickelte. Es ist die Geschichte der spekulativen Theologie, die damit skizziert ist. Sie empfand das Problem des Widerspruchs tiefer und war in ihrem Lösungsversuch großartiger als die nachfolgende autoritär verkirchlichte Theologie, aber sie hatte den Fehler gemacht, den Unterschied des protestantischen Formal- und Materialprincips ohne weiteres mit dem Gegensatz von objektiv und subjektiv gleichzusetzen. Fiel nun mit dem Formalprincip infolge der Bibelkritik das objektive Moment hin, so blieb nur die reine Subjektivität übrig. Die neue kirchliche Theologie hatte wieder ein lebendiges Verständnis für das Materialprincip, systematisch am bedeutendsten Ritsehl in seiner nach Sache und Titel ganz auf das Materialprincip gegründeten Dogmatik." Man sah wieder den lebendigen religiösen Gehalt, die Fülle der Objektivität im Materialprincip; die subjektivistische Deutung sank in die Niederungen des kirchenpolitischen Kampfes, aber das Problem der Subjektivität blieb ungelöst. Die halbe Rückkehr zum Formalprincip in Form der Heraushebung des synoptischen Jesus oder des Gottesbewußtseins Jesu konnte nicht befriedigen; sie bildete keinen Damm gegen die Wogen der religionsgeschichtlichen Betrachtung, die alles wieder relativiert und subjektiviert. Der Gegensatz steht von neuem in voller Schärfe vor uns, und die theologische Bewegung seit dem Zusammenbruch der spekulativen Theologie kann nur als ein eindrucksvoller Fingerzeig auf die im Materialprincip enthaltenen religiösen "Objektivitäten gewertet werden, als ein Wegweiser zum Ort der Lösung, nicht als die Lösung selbst. Wir hatten von einem Princip des Protestantismus und dann von dem Material- und Formalprincip gesprochen. Es ist nun logisch nicht zu bestreiten, daß eine Zweiheit von Principien dem Wesen des

9

Über gestr.: zugewandt hat

10

Über gestr.: Kulturprincip

"

Albrecht Ritsehl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 1 - 3 , B o n n 1 8 7 0 - 7 4 .

12

Über gestr.: Realitäten

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Princips widerspricht. Princip bedeutet einen Anfang, der nicht nur das zeitlich Erste, sondern auch das sachlich Grundlegende enthält, das „Erste" nicht nur im Sinne des Zählens, sondern auch des Wägens, das Beherrschende, das den Fortgang ständig leitet. Spricht man von zwei Principien, so hebt man entweder diesen Begriff von Princip auf oder man ordnet stillschweigend das eine dem andern unter, falls man nicht beide unbewußt unter ein drittes, höheres Princip stellt. Von zwei angeblichen Principien kann in Wahrheit nur eins oder gar keins Princip sein. Enthält das Materialprincip den maßgebenden religiösen Inhalt einer Religion, das Formalprincip den Ort, in dem der religiöse Gehalt maßgeblich zum Ausdruck kommt, so entsteht die Frage, welcher Übergang von einem zum andern besteht, also entweder vom Material- zum Formalprincip oder umgekehrt. V o m Inhalt her ist zu fragen: Welches M o m e n t des Inhalts gibt einen Grund ab für die Eingrenzung gerade dieses Orts als Formalprincip? Und von der Form her ist zu fragen: Welches Merkmal des Formalprincips zwingt dazu, gerade dasjenige M o m e n t als grundlegenden Inhalt aufzufassen, das das Materialprincip nennt? Beide Fragen können nur eine tautologische oder gar keine Antwort finden. Der einzige Grund, warum ein Ort genannt werden dürfte, in dem der Inhalt maßgeblich gefaßt ist, wäre der, daß an diesem Ort der gemeinte Inhalt einerseits vollkommen, andererseits ausschließlich zu finden ist. Dann aber ist das Formalprincip eine Tautologie des Materialprincips. Andernfalls müßte das Formalprincip eine selbständige religiöse Begründung erfahren, und dann wäre diese Begründung ein zweites Materialprincip. Konkret gesprochen: Entweder die Rechtfertigung in vollkommener Darstellung, aber nur sie und ihre Konsequenzen, ist in der Schrift enthalten; oder aber es gibt eine besondere Begründung der Schriftautorität, abgesehen von der Rechtfertigung. Der erste, irreale Fall würde ein besonderes Formalprincip nicht begründen, die zweite Behauptung führt zu einer Diskrepanz der Materialprincipien. Umgekehrt: Der einzige Grund, warum neben dem Formalprincip ein besonderes Materialprincip genannt werden dürfte, wäre der, daß im Formalprincip Verschiedenes und zwar in nicht vollkommener Form enthalten ist. Dann aber ist es nicht das Formal-, sondern das Materialprincip, das ausschließlich entscheidet und auch die Form bestimmt. Andernfalls wäre ein besonderes Materialprincip sinnlos. Konkret gesagt: Nur weil in der Schrift vielerlei und in nicht unzweideutiger Weise enthalten ist, braucht

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man ein materiales Auswahlprincip. Damit aber ist das Formalprincip als Princip entwertet. Nähme man aber an, daß in der Schrift alle Momente des Materialprincips und alle seine Konsequenzen in vollkommener Weise enthalten wären, so würde das Formalprincip keine selbständige Bedeutung mehr haben, es wäre eine Tautologie, von einem Formalprincip zu reden. Im Katholicismus ist diese Identität von Material- und Formalprincip erreicht: Die Kirche ist gleichzeitig der primäre Gegenstand der Religion und der Ort, an dem sie maßgeblich und in den jeweiligen Lehrentscheidungen eindeutig und vollkommen zum Ausdruck kommt. Der Katholicismus konnte diese Geschlossenheit durch Preisgabe des im religiösen Erleben enthaltenen Moments der Subjektivität erreichen. Sein Princip ist a priori Negation der Subjektivität. Die Frage, ob diese Negation der Subjektivität nicht selbst wieder subjektiv ist, hatte in einem Zeitalter mit ungebrochener Substanzialität des geistigen Lebens keine Bedeutung. Sie kann erst in einer Zeit gebrochener Unmittelbarkeit quälend werden. Im Protestantismus ist nun die Subjektivität bejaht, sie ist im Materialprincip enthalten, und sofort sucht das Objektive eine andere principielle Verankerung, und die Principien treten in Antinomie. Immerhin ist aus diesem Vorgang zu ersehen, daß mit der Aufnahme der Subjektivität in das theologische Princip eine Zwiespältigkeit eintritt, die berücksichtigt werden muß, wenn auch in anderer Form als der Lehre von den zwei Principien. Das eine Princip oder besser das Princip - denn es kann nur eins sein - muß das Moment der Subjektivität in sich tragen, muß die Zweiheit in sich oder besser unter sich aufnehmen. Der logisch unumgängliche Monismus der Principienlehre wird durch die Aufnahme der Subjektivität in das Princip dualistisch aktualisiert. Unter welchen Bedingungen ist das möglich? Nur so, daß das Princip jede mögliche Form der Subjektivität unter sich enthält, ohne selbst von der Subjektivität angetastet zu werden. Dieser Forderung wird aber nur das Absolute selbst gerecht. Das theologische Princip muß also als erstes übergeordnetes Moment etwas Absolutes, seinem Wesen nach jeder subjektiven Kritik Enthobenes enthalten. Dadurch aber wird es unbrauchbar, als Princip einer bestimmten, konkreten Religion zu dienen. In Bezug auf jedes Konkrete verhält es sich als übergeordnete Abstraktion, denn alles Konkrete ist relativ auf anderes Konkretes und damit der subjektiven Kritik zugänglich. Das erste Moment des theologischen Princips ist also an sich absolut und für das Bewußtsein abstrakt. Um

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wirklich aktuelles Princip werden zu können, braucht es ein zweites relatives, konkretes Moment. In diesem zweiten Moment ist die Wahrheit des sogenannten Formalprincips enthalten: Es wird eine konkrete, objektive Bindung gegenüber der ins Unendliche kritischen Subjektivität gewonnen. Aber diese Bindung steht dem Materialprincip nicht gleichwertig gegenüber, sie steht unter ihm; denn alle Absolutheit liegt im ersten absoluten oder abstrakten Moment des theologischen Princips. Es steht als kritische Norm unbedingt über dem Konkreten und wird als Princip doch nur wirksam durch das Konkrete. In der Spannung dieser beiden Momente spiegelt sich die Spannung wieder, die die Subjektivität in das theologische System bringt. N u r in dieser Spannung kann es sich darstellen. Im Katholicismus war die Subjektivität ferngehalten, das Relative absolut gesetzt, im Protestantismus waren zwei selbständige Principien, die sich gegenseitig beschränkten, in der spekulativen Theologie aber war gewissermaßen ein drittes Moment zur Herrschaft gekommen, eine spekulativ gewonnene Synthese von absolut und relativ. Die Spannung war als überwunden gesetzt in einem subjektiv begründeten, konkreten und doch als absolut gesetzten System. Nun kann man zwar von einem solchen dritten Moment des theologischen Princips reden, aber nicht als realem, sondern nur als idealem, nicht als absolutem, sondern nur als unendlichem. Die Synthese, die Aufhebung der Spannung, kann als unendliche Forderung, nicht aber als empirische Lösung gesetzt werden. Der Katholicismus hat die Einheit des Princips durch Ausschluß der Subjektivität, die spekulative Theologie durch Aufbau auf die Subjektivität. Beide bringt die Subjektivität zu Fall. Der Protestantismus kennt weder die unmittelbare Einheit des Mittelalters, noch die synthetische Einheit der Romantik, er trägt in sich die Spannung. Diese Spannung ist zur Zerstörung geworden, weil sie zu einer Zweiheit von Principien zerriß. Sie ist aber nicht Auflösung, sondern höchste Lebensspannung, wenn sie in sich ein übergeordnetes Moment trägt, das in jedem Augenblick mit dem Machtspruch der Absolutheit die Einheit herstellt. Dieses Moment ist zu suchen. Unsere Frage hat jetzt die Doppelgestalt angenommen: Ist in dem Materialprincip der protestantischen Theologie ein Element enthalten, durch das es befähigt ist, einerseits theologisches Princip eines Systems zu werden, das die Subjektivität in sich trägt, andererseits religiöses Princip einer Kulturentwicklung zu werden, die das Moment der kritischen Negativität und des Zweifels ins Unendliche in

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sich enthält? Es ist die gleiche Frage in beiden Formen, und sie fordert die gleiche Antwort. Um den Sinn des protestantischen Materialprincips, der Rechtfertigung allein durch den Glauben, für unsere Fragestellung fruchtbar zu machen, ist in erster Linie darauf zu achten, daß die ursprüngliche Konception dieses Begriffes in der paulinischen Lehre den paradoxen Sinn hat, mit Hülfe von Rechtskategorien in der Anwendung auf das Verhältnis von Gott und Mensch die Sphäre des Rechtlichen für dieses Verhältnis aufzuheben. D a s richterliche Urteil Gottes über den Sünder ist nicht begründet in der realen Qualität des Beurteilten, sondern steht zu dieser in Widerspruch. Auch der Glaube ist nicht eine Qualität, die dieses Urteil real begründen könnte, sondern er ist die Anerkennung der Paradoxie, wodurch das Urteil Gottes für den einzelnen religiöse Konsequenzen gewinnt. Es kommt nun alles darauf an, sowohl in der weiteren Ausgestaltung der Lehre als auch in der Beurteilung der in der Kirchengeschichte vorgetragenen Lehrformen, den Maßstab anzuwenden, daß die Paradoxie des Rechtfertigungsurteils nicht abgeschwächt werden darf. Ritsehl hat in ähnlichem Interesse mit Recht den synthetischen Charakter der Rechtfertigung betont: Das göttliche Urteil fügt dem Begriff des Sünders ein Merkmal hinzu, das nicht aus dem empirischen Bestand des sündigen Menschen analytisch gewonnen werden kann. Aber diese Formel ist noch nicht ausreichend. Sie kann auch nach Ritsehl von Katholiken und Sozinianern anerkannt werden und bedeutet nur, daß es sich in der Rechtfertigung um einen frei schöpferischen Akt Gottes handelt. Das Wesentliche aber ist, daß dieser Akt den Charakter der Paradoxie hat. Die 5ö£a, gegen die er verstößt, ist das Denken in den ethischen Kategorien gut und böse, aufgefaßt vermittelst der juristischen Begriffe gerecht und ungerecht. Es ist darum deutlicher, wenn man von dem paradoxen Charakter des Rechtfertigungsurteils spricht. Die Abschwächungen resp. Aufhebungen der Paradoxie können ausgehen von der mit der Rechtfertigungslehre verknüpften resp. sie begründenden Erlösungslehre oder von der Formulierung der Rechtfertigung selber. Im ersten Falle handelt es sich um einen Versuch, einerseits die juristischen Kategorien als erfüllt hinzustellen, andererseits den synthetischen Charakter der Rechtfertigung zu erhalten, beides durch irgendeine Variation des Stellvertretungsgedankens. Für den Stellvertretungsgedanken gilt die Regel: J e mehr seine Anwendung dazu führt, die Rechtfertigung zu einer Leistung des

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Stellvertreters zu machen, durch den sie für Gott „möglich" wird, desto mehr ist die Paradoxie geschwächt, und umgekehrt: Je mehr es d a s Werk Gottes selbst ist, so daß er in dem Stellvertreter die Stellvertretung selbst übernimmt, desto stärker ist das Paradox gewahrt. W o Christus gewissermaßen zu einem Mittel wird, das für Gott unumgänglich ist, um den Weltzweck seiner Ehre zu erreichen, da wird die Rechtfertigung mechanisiert, Christus zu dem centralen Teil eines Heilsmechanismus, der es Gott ermöglicht 1 3 , an der Paradoxie vorbeizukommen. Die Meditation richtet sich dann auf die Weisheit Gottes, der in der unrettbar scheinenden Lage einen Ausweg gefunden hat. Auch darin liegt noch das Gefühl des Staunens, der Überraschung, d a s Bewußtsein, daß etwas geschehen ist, was alle Erwartung übersteigt, was aber, einmal eingetreten, doch in seiner Vernünftigkeit eingesehen werden kann. Die Paradoxie ist subjektiv, in den anschauenden Menschen verlegt; sie ist aufgehoben, sobald sich d a s Denken auf den Standpunkt Gottes erhebt. Jeder derartigen Deduktion liegt die Voraussetzung zu Grunde, daß die Rechtfertigung für Gott an eine Bedingung gebunden sei. D a s o p u s supererogatorium Christi 14 ist die Bedingung, die gewissermaßen die Unbedingtheit Gottes bei der Rechtfertigung einschränktNun ist es freilich Gott selbst, der diese Bedingung erfüllt, und insofern sich die Reflexion darauf richtet, nähert sich der Gedanke dem andern Pol: Gott selbst übernimmt die Stellvertretung. Es sind die theopaschitischen Paradoxien, die ihrem ursprünglichen Sinne nach lediglich christologisch gemeint, doch einer Wendung auf den Rechtfertigungsgedanken fähig sind. Wo - namentlich in mystischer und erbaulicher Rede - die Hingabe des Sohnes als Leiden Gottes aufgefaßt, w o eine innertrinitarische Spannung angedeutet wird, da ist 15 der Stellvertretungsgedanke nur noch die mythologische Ausdrucksform, durch welche die Paradoxie in einen innergöttlichen realen Proceß verlegt wird. Der mythologische Charakter dieser Gedanken sowie die notwendige Beziehung auf die Christologie verhinderte 16 ihre theologische Durchführung. Für Mystik und Erbauung sind sie zweifellos immer von Bedeutung gewesen.

IJ

H s : ermöglichkeit

M

Vgl. Reinhold Seeberg, Artikel O p u s supererogationis, in: RE, 3. Aufl., Bd. 14, S. 4 1 7 - 4 1 9 .

15

Folgt gestr.: die Paradoxie

"

Folgt gestr.: eine

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Ziehen wir den Abälardschen Lehrtypus heran, so ergibt sich vom Gesichtspunkt des Paradox folgende Sachlage: Insofern Abälard das Werk Christi als Liebesoffenbarung Gottes auffaßt, wird Christus nicht Real-, sondern Mitteilungsbedingung für Gottes Willensentschluß. Dieser ist unbedingt, auch in Bezug auf Christus. Der bedingende Mechanismus des Heils ist vermieden. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Paradoxie in ihrer Reinheit zu erfassen. Aber es ist zugleich die andre Seite vernachlässigt: Das mystischmythologische Moment, die Anklänge theopaschitischer Art, verschwinden zu Gunsten der ethischen Kategorien. Aber gerade in der paradoxen Aufhebung der ethischen Kategorien 17liegt die Kraft des Rechtfertigungsgedankens. Und so kommt es, daß der Protest gegen diesen Lehrtypus sich durch das Gefühl geringer Tiefe desselben stärken kann. Das Mythologische hat hier unter allen Umständen den Vorzug, vor einer moralisierenden Verflachung zu schützen, wenn es auch selbst in Gefahr steht, einer rationalistisch-mechanistischen Ausdeutung anheimzufallen.111 Wir kommen nun zu den Formulierungen des Rechtfertigungsgedankens selber. Dabei ist in erster Linie zu berücksichtigen der katholisch-protestantische Gegensatz. Im Katholicismus liegt das religiöse Paradox nicht im Rechtfertigungsgedanken, sondern in der Christologie. Das Paradox des Katholicismus ist dinglich, das des Protestantismus persönlich. Daraus ergibt sich als notwendige Konsequenz, daß in der Formulierung der Rechtfertigung beide nicht zusammenkommen können. Die oft scheinbar so ähnlichen Formeln decken etwas völlig Verschiedenes. Im Katholicismus ist die Rechtfertigung nur die Fortsetzung der in der Menschwerdung" realisierten Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur durch die sakramentale Tätigkeit. Für den einzelnen ergibt das lediglich die Folgerung, daß er sich bewußt in diesen dinglich paradoxen Proceß hineinstellt. Er muß ihn intellektuell anerkennen und praktisch sich ihm unterstellen, und von dem Maße, indem er dieses tut, ist seine Gerechtmachung abhängig. Das Verhältnis zwischen Gott und ihm ist vermittelt durch die Sphäre der Dinglichkeit und wird eben

17

Über gestr.: besteht

>s

Folgt gestr.: W e n n wir den Rechtfertigungsgedanken einerseits mit dem der Erlösung, andererseits mit dem der Versöhnung unter dieser Fragestellung vergleichen, so ist zu sagen, d a ß

19

Folgt gestr.: dinglich

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dadurch zu einem bedingten. Die Paradoxie wird als das objektive mysterium tremendum erlebt, das aber in der Praxis seinen unbedingten Charakter einbüßt. Für den Protestanten ist das Paradox unmittelbar auf ihn selbst bezogen. Die dingliche Vermittlung spielt lediglich die Rolle der frohen Botschaft, daß Gott dem Sünder gnädig ist. Die Anerkennung dieser Botschaft in der subjektiven persönlichen Wendung des „Für u n s " ist die Form, in der das Paradox hier erlebt wird. Die mystische Betrachtung des dinglichen Paradox, wie sie bei Luther gegenüber der Geburtsgeschichte sich findet, hat keine Selbständigkeit, sondern ist als anschauliche Vergewisserung des persönlichen Paradox gemeint. Damit ist die Grundlage für eine absolute Erfassung des Paradox gegeben. Die relativisierende Vermittlung des dinglichen Paradox ist aufgehoben. Es bedarf keiner Zwischenglieder, um an sie heranzukommen. Daraus ergibt sich zunächst, daß der Glaube nicht als begründend für das Rechtfertigungsurteil gedacht werden darf. Es würde dieses eine Duplikation und dadurch eine Relativisierung ergeben. Es müßte einen zweiten Glauben geben, der sich auf den ersten richten müßte als Begründung der Rechtfertigung, und damit wäre die Richtung auf Gott in direkter persönlicher Form aufgehoben. Es wäre ein Zwischenglied eingeschoben. Für den Glauben selbst aber geht daraus hervor, daß man ihn am besten auffaßt als die persönliche, unmittelbar auf Gott gerichtete Bejahung des Parad o x der Rechtfertigung. Abzulehnen sind ferner diejenigen Fassungen der Rechtfertigung, die sie gründen auf die in der Wiedergeburt gesetzte principielle Änderung des Sünders oder auf den als zukünftig von Gott vorausgesehenen Heiligungsproceß, so daß die Rechtfertigung nun vom Standpunkt des Sünders aus synthetisch, von Gott aus aber analytisch wäre. Die Einsicht in diese Sachlage würde den Sünder veranlassen, sich auf den Standpunkt Gottes zu erheben als den an sich wahren und die Rechtfertigung auch von ihm aus analytisch werden lassen. Es würde das Suchen nach Merkmalen der Wiedergeburt unvermeidlich sein und damit die direkte Beziehung auf Gott verloren gehen. Endlich ist zu betrachten die Analogie, in welche die Rechtfertigung mit dem ethischen Akt der Verzeihung gestellt wird. Die Verzeihung hat unmittelbar ein Moment der Paradoxie in sich, insofern der Tatbestand der Verfehlung als nicht vorhanden beurteilt

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wird. Aber diese unmittelbare Paradoxie hat keinen Bestand, sie löst sich rational auf, und zwar entweder kausal-psychologisch oder teleologisch-ethisch. Entweder wird die Verfehlung übersehen, weil sie nicht so gewertet wurde, daß eine Reaktion unter allen Umständen notwendig ist; oder sie wird vergeben zum Zweck der Wiederherstellung einer sittlichen Gemeinschaft. Insofern nun eine solche ethisches Ideal ist, ist die Verzeihung ethisch rationalisiert. Das erste kommt für Gott nicht in Betracht, obgleich es in der Praxis der Frömmigkeit eine große Rolle spielt und überall da nahe liegt, wo der „Zorn Gottes" theologisch abgelehnt wird. Die andere Form sieht dann die Paradoxie in der Liebe Gottes, die mit dem Menschen eine Liebesgemeinschaft sucht, d.h. aus der paradoxen Bejahung des Sünders als heilig ist die paradoxe Bejahung des Menschen als für Gottes Gemeinschaft begehrenswert geworden. Damit ist das Paradox verschoben auf das Verhältnis von unendlichem Gott und endlichem Menschen, und die Vergebung ist zu einem Mittel zur Verwirklichung dieses Paradox geworden. Damit aber ist die Gefahr einer neuen Verdinglichung gegeben, nicht einer speciellen, historischen wie die der sacramentalen Auffassung, sondern eine generelle metaphysische. Das Verhältnis von unendlich und endlich ist der Logik zwar nur durch ein Paradox zugänglich, aber insofern dieses Paradox als logisch-metaphysisch aufgefaßt wird, hat es eine rationale Selbstverständlichkeit bekommen, soweit es logisch bejaht wird. Die Bejahung aber ist abhängig von dem bedingenden Zwischenglied einer logischen Reflexion. Mit diesem letzten Satz ist aber ein Problem erreicht, das erst später ausführlich zu behandeln ist. Hier war nur zu zeigen, daß die Verdeutlichung des Paradox durch die ethische Idee der Verzeihung zu einer Abschwächung des Paradox führt, zunächst durch ethische Rationalisierung, und wenn das religiöse Moment weiter zurückverlegt wird, durch logische Rationalisierung. Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Paradoxie der Rechtfertigung nur erfaßt wird, wenn die Rechtfertigung 20 allein durch den Glauben kommt. Nur dadurch behält sie ihren schlechthin unbedingten Charakter. Dazu gehört: 1. daß im Glauben das Paradox schlechthin als Paradox erfaßt wird, ohne Rationalisierungen mythologischer (Anselm), ethischer (Abälard, Ritsehl) oder logischer

20

Folgt gestr.: nur durch den Glauben erfaßt

140

Art (Hegel); 2. daß das Paradox in persönlicher, unmittelbarer Beziehung erfaßt wird, nicht in dinglicher, vermittelter Weise (Katholicismus); 3. daß die Erfassung des Paradox nicht selbst wieder Gegenstand des Glaubens wird, weder vom Standpunkt des Menschen (Pietismus) noch vom Standpunkt Gottes (Neukantianismus). Die spekulative Frage nach der Entstehung des Glaubens (Freiheit - Prädestination) folgt aus einer rein objektiven Betrachtung des Problems der Erwählung zum Heil. Es ist aber durchaus falsch, die psychologisch-metaphysische Frage nach der Entstehung des Glaubensakts mit der phänomenologischen Frage nach dem Wesensgehalt des Glaubensaktes zu vermengen. Dieser Wesensgehalt ist völlig unabhängig von der genetischen Frage zu behandeln; ja diese Unabhängigkeit gehört zu seinem Wesen selber. W o in den Glaubensakt die Reflexion auf den Akt als Werk eindringt, da ist er verdorben, auch wenn er prädestinatianisch als Gottes Werk gedeutet wird; denn in diesem Falle nimmt Gott gewissermaßen einen umschaffenden Akt vor, nämlich die Bewirkung des Glaubens, ehe er rechtfertigen kann. Sein Urteil gründet sich auf einen von ihm gewirkten Tatbestand, womit die katholische und pietistische Erweichung der Paradoxie gegeben ist. W o aber ein solcher Gedanke im Bestand des religiösen Denkens vorhanden ist, da dringt er notwendig in den Glaubensakt ein, er wird von diesem schlechthin ausgeschlossen. Der Glaube als Akt der Bejahung des Paradox kann niemals objektives Heilskriterium werden; er würde die Paradoxie aufheben. Da aber jeder andere M a ß s t a b eben durch die Rechtfertigung unmöglich gemacht ist, so kann es das Problem der Erwählung überhaupt nur als geschichtsphilosophisches und psychologisches geben, nicht aber als unmittelbar religiöses. Wenn wir eine Formulierung des Paradox suchen, so wäre ein Satz zu suchen, in dem der logische Charakter des Paradox einerseits, [der persönliche unbedingte Charakter des Glaubens andererseits] 21 zu deutlichem Ausdruck kommt. Dazu eignet sich am besten das bejahende und verneinende Urteil, als einheitlicher absoluter Akt gedacht. D a s absolute Nein und das absolute J a über den Menschen als einheitlicher auf denselben Menschen in seinem gesamten empirischen Bestand gerichteter Akt Gottes ist der letzte Gehalt der Paradoxie der Rechtfertigung, und die Bejahung dieses Urteils, die

Zwei Zeilen der Hs. unleserlich. Ergänzt nach der Version des Typoskripts.

141

Anerkennung sowohl des Nein als auch des Ja oder vielmehr der Einheit beider als göttliches Urteil über mich, ist der Akt des Glaubens. Es ist bekannt und in der Schule Ritschis mit Recht gegen die Orthodoxie geltend gemacht, daß die Rechtfertigung in der Orthodoxie durchaus nicht die Stellung eines maßgeblichen Princips hat, sondern immer mehr zu einer dogmatischen Lehre neben andern geworden ist. Nachdem sie in dem pietistisch-orthodoxen Gegensatz noch eine entscheidende Rolle gespielt hatte, wurde es von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in seiner Bedeutung durch das Formalprincip zurückgedrängt. In den Problemen der Offenbarungslehre spielt es keinerlei Rolle, aber auch für die Fragen der Gotteslehre konnte sie keine entscheidende Bedeutung gewinnen. Zwar versuchte das die Ritschl'sche Schule: Ritsehl, indem er von den Voraussetzungen der Rechtfertigung und Versöhnung sprach, Herrmann 2 2 und Kaftan 23 , indem sie eine moralische Gottesgewißheit zu begründen versuchten. Es liegt nun aber im Wesen des Princips, daß es keine Voraussetzungen, sondern nur Konsequenzen in sich entwickeln kann, und daß es seine Voraussetzung von einem höheren Princip aus bekommen muß. Dieses höhere Princip war bei den beiden letztgenannten Theologen das moralische Bewußtsein. Nun enthält aber die Rechtfertigung gerade die paradoxe Aufhebung der Sphäre des Moralischen, und es ist darum verständlich, wenn den Ritschlianern gerade deswegen eine Gefährdung der Rechtfertigung vorgeworfen wird. - Die Folge dieser Sachlage ist die, daß mit der Auflösung des Formalprincips das religiöse Bewußtsein sein Fundament verloren hat, der articulus stantis et cadentis ecclesiae, weil er nicht zum Fundament gemacht wurde, selbst in die Unsicherheit hineingezogen wurde, und der Kirche das cadere näher gerückt ist als das stare. Unter diesen Umständen ist die Frage naheliegend, ob denn das Princip der Rechtfertigung überhaupt fähig ist, im eigentlichen Sinne Princip zu werden. Darauf ist zu antworten, daß die Rechtfertigung in ihrer unmittelbaren Form zweifellos nicht dazu geeignet ist. Es ist

21

23

Wilhelm H e r r m a n n , Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine G r u n d l e g u n g der systematischen Theologie. Halle 1 8 7 9 . Christlich-protestantische D o g m a t i k . In: Die Kultur der G e g e n w a r t . Hrsg. v. Paul Hinneberg. T . I, Abt. IV. Berlin und Leipzig 1 9 0 6 , 5 8 3 - 6 3 2 . Julius Kaftan, D o g m a t i k . Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen 1897.

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richtig, daß der Kampf Luthers gegen die katholische Lehre der Kampf um ein neues Verständnis der Religion überhaupt und des Christentums insbesondere war. Diese beiden Größen waren also vorausgesetzt. Das Gottesbewußtsein war bei Freund und Feind von substantieller Sicherheit, das Offenbarungsbewußtsein den Heiden gegenüber unerschüttert. Diese beiden Sphären umschließen als größere Kreise das Problem der Heilsgewißheit; sie wurden nicht von ihm berührt und gestaltet. Von der Not des mit Gott ringenden Gewissens gibt es keinen direkten Weg zur Begründung der Gottesoder Offenbarungsgewißheit, nicht einmal den höchst unsicheren des Postulates; denn die Sphäre der Heilsgewißheit setzt die beiden anderen voraus, nicht umgekehrt. Wenn Holl aus gewissen Erscheinungen der Litteratur etc. den Schluß zieht, daß mit einem Erwachen des Schuldbewußtseins auch die Rechtfertigungslehre wieder von Bedeutung sein werde für den modernen Menschen 2 4 , so ist dabei die zweite Voraussetzung nicht in Betracht gezogen: Damit das zweifellos vorhandene Negativitätsgefühl zum Schuldbewußtsein wird, das durch Vergebung überwunden werden kann, muß es bezogen sein auf ein Gottesbewußtsein. Die Rechtfertigung in ihrer historischen Beschränkung auf das Problem der Heilsgewißheit ist also nicht im Stande, theologisches Princip zu werden. Ein selbständiges theologisches Formalprincip ist durch die Reception der Subjektivität unmöglich geworden. Die Subjektivität selbst kann kein Princip abgeben, wohl aber kann sie aus der Rechtfertigung gewissermaßen ein Princip hervortreiben, das im Stande ist, theologisches Princip zu werden. Dieser Weg ist nun zu beschreiben. Aus dem Rechtfertigungsgedanken soll ein Moment herausgelöst werden, das ihm wesentlich ist und von ihm in begrenzter Form getragen und durchgesetzt ist. Diese Loslösung kann aber nicht auf dem Wege der Reflexion geschehen. Denn es soll ein religiöses Princip sein, das zu erarbeiten ist. Es kann nur ein religiöser Proceß sein, der hier zu beschreiben und in seiner dialektischen Notwendigkeit als Konsequenz der Rechtfertigungslehre zu verstehen ist. Es handelt sich um die Frage: Welche Bedeutung gewinnt der Rechtfertigungsgedanke für den Fall des Zweifels an den Voraus-

24

Tillich bezieht sich hier wohl auf mündliche Äußerungen von Karl Holl. In Holls Schrift „ W a s hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu s a g e n ? " (Tübingen 1 9 0 7 ) findet sich der von Tillich erwähnte Gedanke nicht.

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Setzungen dieses Gedankens? Oder: Welche Formung gewinnt der Glaube durch den Zweifel an den ihm immanenten gegenständlichen Voraussetzungen? Wenn es das Wesen des Glaubens ist, das absolute Paradox zu bejahen, so kann die Frage nur so heißen: Welche Formung nimmt die absolute Paradoxie an, wenn diejenigen Voraussetzungen, die seine Formung innerhalb des Rechtfertigungsgedankens bedingen, in ungelöstem Zweifel stehen? Nach den Ausführungen des ersten Teils dürfte es deutlich sein, warum der Zweifel die Tatsache ist, die religiös zu verarbeiten ist. Er ist der religiös-konkrete Ausdruck für die Subjektivität, die in das religiöse Princip aufzunehmen ist. Der Akt, in dem das Subjekt sich von der substantiellen Einheit mit dem O b j e k t löst, in dem es sich selbst als unterschieden von dem O b j e k t und in seiner Freiheit ihm gegenüber erlebt, stellt es zugleich vor die Möglichkeit des Andersseins, der Zwei- und Mehrheit des Zweifels. Im Zweifel ist die Subjektivität rein aktualisiert, sie hat das O b j e k t verloren und noch kein neues gefunden; sie ist ganz in sich selbst. Darum ist Cartesius in seiner Formulierung so klassisch; in ihm erfaßt sich die Subjektivität als Grundelement der kommenden Kultur. Der Zweifel ist ein uneliminierbares Ferment des Geisteslebens geworden. Die Religion hat demgegenüber die höchsten Anstrengungen gemacht, Wege zur Überwindung des Zweifels zu zeigen. Sie hat damit im Grunde ein Repristinationsziel verfolgt; denn der einmal erwachte Zweifel ist überhaupt nicht zu überwinden, es ist sein Wesen, unendlich zu sein, wie die Freiheit des Subjekts unendlich ist. Es kommt aber darauf [an], den Zweifel aufzunehmen in das religiöse Princip, nicht den ins Unendliche mißlingenden Versuch zu machen, ihn zu überwinden. Die Wahrheitsgewißheit, die auf reale Überwindung des Zweifels gegründet ist, bleibt ins Unendliche relativ, d.h. sie bleibt Ungewißheit, wie die Heilsgewißheit, die auf reale Überwindung des Schuldbewußtseins gegründet ist, ins Unendliche relativ, d.h. Heilsungewißheit bleiben muß. Ein gewissermaßen öffentlicher Ausdruck dieses Zustandes ist die Apologetik, durch welche die Kirche sich gleich wie durch ein intellektuelles Werk selbst rechtfertigt. Der peinliche, feines Wahrheitsempfinden verletzende Eindruck dieses „Werkes" gleicht auf ein Haar dem peinlichen Eindruck 2 5 der moralischen Werkgerechtigkeit. V o r dem Absoluten gilt

Folgt gestr.: des ethischen Pharisäismus

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nur das Absolute, und das kann nur aus dem Absoluten, nie aus dem Relativen stammen. Wir haben damit eine Parallele zwischen Heilsgewißheit und Wahrheitsgewißheit aufgestellt, die für das folgende von größter Bedeutung ist. Sie setzt voraus, daß der Zweifel nicht mehr zum Gegenstand des Schuldbewußtseins, also zur Schuld gerechnet wurde, sondern sich zu einer selbständigen Sphäre erhob, die nun stark genug wurde, das Schuldbewußtsein von sich aus zum Gegenstand zu machen und dadurch unter Umständen zu negieren. Selbständig geworden, wird die Sphäre des Wahrheitsbewußtseins die übergeordnete, die auch die Sphäre des Heilsbewußtseins bejaht und verneint. Heim 2 6 faßt beide Seiten unter dem Begriff der tiefsten Not zusammen. Er wird damit aber der Seite des Wahrheitsbewußtseins nicht völlig gerecht. Auch er sucht den Zweifel zu überwinden statt ihn aufzunehmen. Die Überwindung aber geschieht durch ein emotionales Motiv. Infolgedessen gewinnt seine Fassung des Paradox ein Moment der Willkür, das nur durch einen asketischen Akt dem Zweifel entzogen werden kann. Hier liegt zweifellos die genialste Form der Apologetik vor: Es wird anerkannt, daß der Zweifel aus sich heraus nicht zu überwinden ist. Das „Werk" der Überwindung wird als unmöglich abgelehnt. Aber nun wird 2 7 anstelle des Werkes innerhalb der Welt des Erkennens die ganze Sphäre als selbständige negiert. Die Welt wird verlassen, in der eine Lösung unmöglich ist, und ein Jenseits des Zweifels aufgesucht, eine Vorwegnahme der Transcendenz, wie es in der Ethik das mönchische Leben darstellt. Aber es ist wie mit allem Supranaturalismus: das supra führt nicht wirklich über das hinaus, das es überhöhen soll. Es ist in jedem Moment von ihm abhängig, denn es hat aus sich selbst keinen Gehalt. Mit dem Gehalt kommt die Welt und hier der Zweifel wieder in die reservierte Sphäre hinein; und unter diesem Neueindringen leidet der Heimsche Versuch. Wenn wir die beiden Formen des Zweifels vergleichen, so ergibt sich folgendes: der Zweifel als Heilsungewißheit bezieht sich auf die Gesinnung Gottes, der Zweifel als Wahrheitsungewißheit auf die Existenz Gottes. D a s erste setzt das zweite voraus. Das zweite setzt 26

Karl Heim, Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion. Leipzig 1 9 1 6 , S. 109f.

2

'

Folgt gestr.: der Schluß gezogen

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die Objektivität [voraus], von der im ersten eine Aussage gemacht wird. Heilsungewißheit im Sinne der Rechtfertigung ist nur, wo Wahrheitsgewißheit ist. Es sei denn, daß die Heiisungewißheit losgelöst vom Gottesgedanken einfach als tiefste Not bezeichnet wird. Dann hat die Befreiung aus dieser tiefsten Not 2 8 keine notwendige Beziehung auf den Gottesgedanken. Die Wahrheit, die zugleich das Heil ist, kann in etwas anderem bestehen, freilich wenn die „Not" als absolut gefaßt wird, nur in etwas Absolutem. Auch hier besteht die Möglichkeit, die Überwindung der Not zu denken nach Analogie der Erlösung und nach Analogie der Rechtfertigung. Im ersten Falle würde es sich um die reale Versetzung in einen Zustand handeln, in dem die Not aufgehoben ist und die Gnade auch als Gnade des Wahrheitsbesitzes aufzufassen wäre. Dieser Wahrheitsbesitz könnte dann näher als Besitz der Gotteserkenntnis definiert werden, die so lange unzweifelhaft sein würde, wie der Gnadenzustand andauert. Oder die Befreiung wird der Rechtfertigung analog gedacht; dann ist das „Absolute", das die tiefste Not überwindet, nur in unendlicher Problematik als „Gott" zu bezeichnen. Diese abstrakten Gedankengänge sollen nun durch die Entfaltung eines religiös-dialektischen Processes ihre Realisierung erhalten. Die Beurteilung des Zweifels als sündiges Widerstreben gegen Gott geht von der Voraussetzung aus, daß das Gottesbewußtsein in einem Sinne zur menschlichen Wesenheit gehört wie das sittliche Bewußtsein und daß darum der Zweifel an dem Inhalt dieses Bewußtseins eine Anlagewidrigkeit, eine Sünde ist. Der Zweifel wird dabei in enge Beziehung gebracht zu dem Willen, Gott fern zu bleiben; er wird einfach als Mittel aufgefaßt, mit Hilfe des theoretischen Wahrheitsbewußtseins sich Gott zu entziehen trotz der Instanzen im Innern, die dagegen sprechen. Man gesteht also in diesem Fall dem Theoretischen keine Ernsthaftigkeit zu, sondern erklärt es für Selbstbetrug. Wie kommt es nun unter diesen Voraussetzungen zum Glauben? Der erste Weg ist der, daß der also im Gewissen apostrophierte das Urteil über sich anerkennt und seinen Zweifel nicht als Folge der Wahrhaftigkeit aufrecht erhält, sondern als böses Wollen von sich

21

Folgt gestr.: entweder als Erlösung oder als Rechtfertigung gefaßt werden. Wird sie als Erlösung gefaßt, so

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abtut. Dieser Weg wird immer dann unbedenklich sein, wenn der Zweifel nur die Oberfläche berührt hatte, nur ein intellektuelles Spiel war, das abgebrochen wurde, als es drohte, Ernst zu werden. Die Substantialität des Gottesbewußtseins, die Meerestiefe selbst war durch den leichten Kräuselwind dieses Zweifels noch nicht berührt. Das Gleichgewicht stellte sich schnell wieder her. Es kann aber dieser Konflikt auch mit einem inneren Bruch endigen. Wenn die Substanz des Gottesbewußtseins erfaßt ist durch den Zweifel, aber die Bewegung nicht stark genug ist, die Dämme der traditionellen Auffassung zu durchbrechen, dann entsteht eine innere Kreisbewegung, die entweder nie zum Ende kommt, sondern an langsamer Ermattung stirbt, oder der man sich durch einen Willkürsprung entzieht. M a n ist nicht stark genug zum Zweifel an Gott mit gutem Gewissen; man ist zu tief in den Zweifel gekommen, um ihn mit gutem Gewissen aufzugeben. So entspringt man ihm, man unterdrückt ihn, und das unterdrückte Wahrheitsbewußtsein setzt sich um in Fanatismus. Damit aber ist das religiöse Verhältnis von Anfang an verdorben. Auf der Schwelle zum Eintritt ins Heilige steht das asketische Werk des unterdrückten Wahrheitsbewußtseins. Alles Folgende, m a g es noch so sehr im Sinne der Rechtfertigung sich vollziehen, leidet unter diesem Werk, das nicht Glaube war, wenn es sich auch mit Pathos als solchen gibt. Darum ist es so verderblich für die Religion, den Zweifel zur Sünde zu stempeln; er kann es sein, er kann der geschickte Schachzug sein, um der Tiefe des Religiösen mit gutem Gewissen zu entgehen. Aber auch wenn der Verdacht in dieser Richtung vorliegt, ist es falsch, dieses zu behaupten, sich selbst und andern gegenüber, weil es zu einer Vermengung führt. Ist einmal der theoretische Zweifel da, so hat er, auch wenn er bloß Mittel zum Zweck des praktischen Libertinismus ist, d a s Recht, zu verlangen, eigengesetzlich behandelt zu werden. Es ist ja auch ein reiner Fall der beschriebenen Art kaum denkbar. Es wird immer ein Moment Ernsthaftigkeit im Zweifel sein, sonst könnte er nicht einmal den Schein eines guten Gewissens geben. Dieses M o m e n t Ernsthaftigkeit genügt aber, um den ganzen Zweifel ernstzunehmen. Es widerspricht dem Rechtfertigungsglauben, mit Hülfe des moralisch-religiösen Gewissens das Wahrheitsgewissen zu erschlagen, d.h. seiner Eigengesetzlichkeit zu berauben; denn jede derartige Abtötung schiebt zwischen den Glaubenden und den Gegenstand des Glaubens, des Unbedingten, ein Bedingtes ein. Die Bejahung des Unbedingten wird abhängig von der Bedingung

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einer asketischen Selbstverstümmelung, die den Schein eines natürlich-psychischen Vorganges erhält. Daraus ergibt sich, daß, wo der Zweifel als Sünde aufgefaßt wird, es ein normales religiöses Verhalten nur dann gibt, wenn der Zweifel ein schnell abgebrochenes Spiel war, daß aber, sobald er ernsthaft ist, es entweder zu einem Akt intellektueller Askese oder zu einem Zweifel mit gutem Gewissen kommen muß. Es kann noch eine andere Bewegung aus dem Zweifel mit bösem Gewissen folgen: Jene Kreisbewegung, jenes Hin und Her zwischen dem Wahrheitszwang und Gewissenszwang kann, wenn es keinen der besprochenen Auswege findet, zur Verzweiflung führen; es kann sich aus dem ungelösten Zweifel das Gefühl des Verworfenseins entwickeln. Der ungelöste Zweifel an Gott offenbart das Verworfensein vor Gott: Eine tiefe Paradoxie, die das Kehrbild der wahren Paradoxie ist, auf die wir kommen wollen. Hier entsteht gewissermaßen eine Verdoppelung Gottes: Der Gott, an dem gezweifelt wird, der gegenständliche, persönliche Gott der Lehre, des Gebets usf. auf der einen Seite, und der „Gott", der verwirft, die dunkle Objektivierung des erregten, unbefriedigten, verzweifelnden Bewußtseins auf der andern Seite. Schuldig vor diesem „Gott" um des Zweifels willen an jenem und doch kein Bewußtsein um diese Unterscheidung, ein Ertragen der Qual dieser selbstvernichtenden Paradoxie. Welche „frohe Botschaft" kann hier befreien? Allein die, daß der Zweifel an dem Gott im ersten, gegenständlichen Sinne keine Schuld ist an dem Gott im zweiten, unausdrückbaren Sinne; daß Gott vor jeder Bestimmtheit die Wahrheit ist, zu der wir uns wahrhaftig, d.h. im Sinne der Wahrheit „gerecht" nur verhalten können durch den unendlichen Zweifel hindurch.— Nur diese Botschaft, die dem Zweifel das gute Gewissen gibt, kann von der Verzweiflung des unüberwindlichen Zweifels mit bösem Gewissen erlösen auf religiöse Weise, durch Glauben erlösen. Denn es gibt auch eine unreligiöse Selbsterlösung, das ist der Gedanke: Ich bin nicht zur Religion bestimmt, ich bin von Natur unreligiös, die Religion ist nur für bestimmte Menschen, die glauben können, die beneidenswert sind - und doch nicht für intellektuell ganz voll genommen werden. Diese unreligiöse Lösung ist wohl in der Gegenwart die häufigste, weil die religiöse Lösung durch die pharisäische Forderung der Überwindung des Zweifels als Vorbedingung des Glaubens unzugänglich gemacht war. Der Zustand, in dem der Zweifel als Schuld empfunden wird und doch nicht überwunden werden kann, ist der typische Übergangs-

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zustand: D a s Alte schafft dem Neuen ein böses Gewissen, um sich zu erhalten. Es ist ein Übergangszustand, der in sich unerträglich ist, bei dem es keinen Stillstand geben kann, der mit religiöser Notwendigkeit rückwärts oder vorwärts treibt; denn die Erscheinungen des asketischen Sprunges oder der Verzweiflung können nie zu Normalerscheinungen des religiösen Lebens werden. Um sich vor allgemeiner Religionsentfremdung zu retten, muß die Religion aus sich selbst den Weg finden; zurück geht es nicht. Ist die Subjektivität einmal als solche entbunden, so kann sie mit der ihr wesentlichen Unendlichkeit nicht mehr vernichtet werden, es sei denn durch das physische Sterben eines Kulturkreises. Die Religion muß also nach vorwärts, sie muß dem Zweifler das gute Gewissen lassen und ihm doch die Möglichkeit des Glaubens geben. Die Religion versucht es zunächst durch Überwindung des Zweifels in Form der Apologetik. Wir hatten ganz allgemein die Apologetik als intellektuelles „ W e r k " der Kirche charakterisiert, d a s als Werk mißlingen muß. Dieses ist jetzt näher zu begründen; und zwar aus einer allgemeinen Gewißheitslehre her. Es gibt drei Formen der Gewißheit: die Evidenz, die Überzeugung und die Glaubensgewißheit. In der Evidenz schafft das Objekt seine Geltung im Subjekt. In der Überzeugung schafft das Subjekt in sich die Geltung für das Objekt. In der Glaubensgewißheit ist der Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben. Die Evidenz hat zwei Möglichkeiten: Evident ist die reine Form und der reine Inhalt. Die reine Form; denn sie ist die Art des Geistes, auf jeden Inhalt zu reagieren. Sie ist für ihn konstitutiv und darum für den durch sie konstituierten Geist evident. Es handelt sich um die logisch-mathematischen Gewißheiten.- Evident ist der reine Inhalt, das schlechthin jeder Reflexion, jedem Urteil enthobene Unmittelbare, die gesamten Bewußtseinsinhalte, insofern sie nichts sind als vorbegriffliche Bewußtseinsdata. Jedes Urteil führt schon über diese Unmittelbarkeit hinaus und ist problematisch. Damit ist die Beurteilung aller Versuche, die religiöse Gewißheit auf dem Wege der Evidenz zu finden, gegeben. Es handelt sich entsprechend der doppelten Form der Evidenz um zwei Versuche: der eine, der das Gottesbewußtsein in die Evidenz der reinen Form aufnehmen will, der ontologische Versuch, der andere, der das Gottesbewußtsein zu der

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Evidenz des unmittelbaren Erlebens erheben will. Beides ist unmöglich; denn die Ontologie in jeder Form - und es gibt deren mehr, als es ontologische Beweise gibt - beruht auf dem scholastischen Realismus, der dem Angriff des Nominalismus in unendlicher Dialektik ausgesetzt ist. „Das Absolute" der großen philosophischen Systeme ist evident unter Voraussetzung des Realismus. Aber diese Voraussetzung ist nicht evident, weil sie eine Beziehung zum Inhalt hat, der die immanente Evidenz der reinen Form aufhebt. Darum sind die zahlreichen Versuche der Vermittlungstheologie und ihrer apologetischen Schutztruppen, auf dem Wege über das Absolute zu Gott zu kommen, zwar durchaus berechtigt. Aber sie schaffen keine Evidenz, sie sind für den Zweifler, dem sie helfen sollen, „Werk". „Das Absolute ist ein Götze", wie Kahler im Kolleg zu sagen pflegte - mit Unrecht, wenn er dem philosophischen Denken einen Vorwurf machen wollte, mit Recht, wenn er es ablehnte, die religiöse Gewißheit auf dieses Produkt des subjektiven, nicht evidenten Denkens zu gründen. Die Erfahrungstheologie kann nicht mehr leisten. Um über die Unmittelbarkeit des Erlebens hinauszukommen, bedarf sie des Schlusses von der Wirkung auf die Ursache und verläßt damit die Sphäre der 29 reinen Zuständlichkeit, die allein Evidenz hat. Es könnte jedoch unter Verzicht auf Evidenz lediglich die praktische Gewißheit erstrebt werden, die Gegenstände und fremdes Innenleben aus der unmittelbaren Anschauung heraus haben können. In diesen Fällen, zu denen die weitaus häufigsten Tatsachen des praktischen Lebens gehören, wird der Zweifel nie aktualisiert, es sei denn in den seltenen Fällen, wo der Traum oder traumähnliche Geisteszustände die Realitätsfrage in den Vordergrund rücken. Diese praktische Gewißheit ist nicht zu verwechseln mit pragmatischer. Die pragmatische würde sofort aufhören, wenn der Begriff der pragmatischen Wahrheit Überzeugungskraft bekommen hätte. Wären wir gewiß, daß unsere „Gewißheiten" nur Lebenszweckmäßigkeiten wären, so würden sie aufhören, gewiß zu sein. Der Pragmatismus ist also entweder unwahr, weil er unzweckmäßig, lebenswidrig ist, oder er ist wahr, dann gehört diese seine Wahrheit einer J0 anderen Wahrheitsordnung an, in der die Frage zweckmäßig

"

Über gestr.: unmittelbaren

30

Über gestr.: höheren

150

oder unzweckmäßig keine Bedeutung hat. Damit aber hat er sich selbst als Erkenntnislehre aufgehoben. Praktische Gewißheit hat einen sehr viel tieferen Sinn. Sie bedeutet, daß unser Realitätsgefühl keineswegs auf 31 unser 32 psychologisches Ich beschränkt ist und von da aus fortschreitend die Wirklichkeit mehr oder weniger sicher erobert, daß vielmehr unser Realitätsgefühl a priori unterhalb des Gegensatzes von Ich und Gegenstand liegt und diese Scheidung eine reine Abstraktion ist. Die Bemühungen Heims 33 , die absolute Antithetik der Raum-, Zeit- und Ich-Punkte zu überwinden, der Nachweis Schelers 34 , daß das Problem des „fremden Innenlebens" a priori falsch gestellt ist, gehen auf diese praktische Gewißheit. Unser Realitätsgefühl nimmt a priori Inneres und Äußeres, fremdes und eignes Innenleben mit der gleichen Unmittelbarkeit auf, ist aber auch im Stande, an allem, auch dem eignen psychologischen Ich, zu zweifeln und es mit allen Dingen in das Trans des Traumhaften, Unwirklichen, Verschleierten zu heben. Nicht das psychologische, sondern das erkenntnistheoretische Ich ist der 35 ruhende Punkt der Evidenz. Das psychologische Ich steht ihm näher als jeder andere Gegenstand, und das Innere, Psychische wieder näher als das Äußere, der Leib, und dieser als die übrigen Gegenstände. Aber dieser Gradabstufung steht die principielle Distanz gegenüber, die das erkenntnistheoretische Ich von jeder 36 Realität scheidet. Das Realitätsgefühl richtet sich auf einen Lebensstrom, der durch das psychische Ich wie durch die fernsten Gegenstände der Vergangenheit und der Weltenferne und der personalen Scheidung hindurchgeht und sie in die Einheit der praktischen Gewißheit bringt. Es ist unwidersprechlich, daß die Realität der Menschen, mit denen ich täglich zusammenlebe, die gleiche Gewißheitskraft für mich hat, wie die eigne Realität, und daß umgekehrt ich mein eignes Innenleben oft ebenso undeutlich sehe wie das des andern.

"

Über gestr.: das

12

Über gestr.: erkenntnistheoretische Ich des Kartesius

33

Glaubensgewißheit, S. 9 8 - 1 0 5 .

34

M a x Scheler, Die Idole der Selbsterkenntnis, in: Abhandlungen und Aufsätze, 1. Aufl., Bd. II. Leipzig 1915; 2. Aufl. erschienen unter dem Titel: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze 2. durchgesehene Aufl. Leipzig 1919.

35

Über gestr.: kritische

36

Folgt gestr.: anderen

151

Dieser Strom der praktischen Gewißheit, diese Sphäre des Realitätserlebens ist principiell unbegrenzt. Sie kann alles umfassen, was den Bedingungen dieses Stromes angepaßt ist, d.h. was in unmittelbare Beziehung treten kann mit dem das erkenntnistheoretische Ich tragenden psycho-physischen Ich. Zugleich ist diese Gewißheit niemals Evidenz. Sie ist in jedem ihrer Momente von der Evidenz her problematisch. Aber diese Problematik trifft nie den Strom als solchen, der ja die Evidenz der absoluten Unmittelbarkeit hat. Aber es kann den ganzen Strom, jeden seiner Momente auf einmal treffen, in jenem Erlebnis, w o unser Realitätsgefühl keinen Gegenstand mehr findet. Aber auch dann ist das Realitätsgefühl selbst und zugleich die ins Schattenhafte transponierte Wirklichkeit als solche evident. Wenn die Apologetik die religiöse Gewißheit in diese Sphäre der praktischen Gewißheit einreiht, so muß sie zwei Voraussetzungen machen. Sie muß den religiösen Gegenstand in den Proceß der praktischen Realitätserfassung hineinstellen und seinen Bedingungen unterstellen, und sie muß zweitens eine psychische Beziehung zwischen dem psychischen Subjekt und dem religiösen Gegenstand behaupten. Für die ursprüngliche Religion besteht da kein Bedenken. Es liegt durchaus kein Grund vor, den Theophanien, auf die das Realitätserlebnis der ursprünglichen Religion zurückgeht, die Kraft praktischer Gewißheitswirkung abzusprechen. J a , es liegt nicht einmal ein philosophisch-erkenntnistheoretischer Grund vor, den Umkreis der Wirklichkeitserfahrung auf das den bekannten Sinnen Zugängliche zu beschränken. Die Behauptung des Okkultismus und der Theosophie in allen Formen und zu allen Zeiten, Schauungen anderer Art als die gewöhnlichen zu haben, aber mit mindestens der gleichen praktischen Realitätsgewißheit, ist a priori weder abzulehnen noch anzunehmen. Sie ist schlechthin problematisch und vielleicht überhaupt nicht allgemeingültig zu behandeln. Sie würde apologetische Kraft immer nur für die Träger derartiger 3 7 Schauungen haben. Für die übrigen würde eine rein psychische Einwirkung an Stelle dieser höheren physischen treten, ein Realitätsgefühl, das mit der Vorstellung eines psychischen Wesens unanschaulicher Art verbunden ist. Dieses ist die weitaus häufigste Form der praktisch-religiösen Gewißheit (die freilich damit noch keineswegs ausreichend beschrieben ist).

37

Über gestr.: Visionen

152

Wir hatten gesehen, wie die praktische Gewißheit an die Selbstgewißheit des psycho-physischen Ichs geknüpft ist, nicht so, daß erst diese letztere feststünde und von da aus vermittelst unbewußter oder bewußter Schlüsse auf alle übrige Realität ausgegangen würde, sondern so, daß ein einheitliches Realitätserlebnis das psycho-physische Ich mit dem gesamten Bewußtseinsstrom zusammenschließt. Das einzelne Element dieses Stromes hat nun um so mehr praktische Gewißheit, als es mit der Selbstgewißheit des psycho-physischen Ich so verbunden ist, daß seine Negierung eben dieses auch negieren würde. Dasjenige, dessen Bezweiflung unmittelbar die Bezweiflung meiner eignen psycho-physischen Existenz mit sich führen würde, hat die höchste praktische Gewißheit. Es gibt viele Dinge und Verhältnisse, von denen wir sagen würden: „Wenn das nicht ist oder nicht so ist, dann bin ich selbst nicht oder nicht so, wie ich meiner bewußt bin." Aber Evidenz wird auch dadurch nicht erreicht; denn daß Ich, d.h. mein psycho-physisches Ich ist oder so ist, ist keineswegs evident. Evident ist nur, daß es sich bewußt ist, zu sein oder so zu sein. Das Bewußtsein aber kann sein Meinen der Realität nicht nur abstrakt und hypothetisch, sondern in gewissen psychischen Vorgängen auch konkret und kategorisch aufheben und sich rein in sich selbst ohne Beziehung auf ein reales psycho-physisches Subjekt erfassen. Es würde also die Apologetik hier höchstens bis zu der nicht evidenten Gewißheit um das reale psycho-physische Subjekt führen, für das religiöse Bewußtsein zu wenig, insofern die Gottesgewißheit auch in Zuständen der Ungewißheit um irgendeine Realität, einschließlich die eigne psycho-physische, fest bleiben muß, worüber zahlreiche mystische Aussagen über das Versinken des Ich und das Bleiben der höchsten Gewißheit belehren können. Aber es fragt sich, ob die religiösen Erfahrungen überhaupt bis zu der höchsten praktischen Gewißheit führen. Wir hatten gesagt, daß sie ihrer Intention nach sogar darüber hinausführen, wir müssen jetzt sagen, daß sie ihrem Tatbestande nach nicht einmal bis dahin führen. Der Zweifel an der Realität des religiösen Gegenstandes kann zu der schwersten seelischen Erschütterung treiben. Er kann einen Zusammenbruch der gesamten geistigen Existenz zur Folge haben, er kann in einen Zustand unerträglicher Qual versetzen, aber er kann die Selbstgewißheit des Ich nicht aufheben, im Gegenteil: in der Qual des Zweifels wird sich das psycho-physische Ich so fühlbar wie nur irgend möglich. Die Erschütterung, die der religiöse Zweifel

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bringt, ist nicht eine Erschütterung des Realitätsbewußtseins 38 , sondern ist eine Erschütterung des Sinnerlebens der Wirklichkeit. Darin zeigt sich deutlich, daß die Kraft des religiösen Realitätsgefühls [sich] nicht auf die Form der Realität, sondern auf die Bedeutung des als real erfahrenen Inhaltes gründet, im Unterschied von den Realitäten der täglichen Umgebung, die ohne wesentliche geistige Erschütterung problematisch werden könnten, deren Irrealitätserklärung aber das Realitätsbewußtsein überhaupt zersetzen würde 39 . Dieser Tatbestand ist im Allgemeinen auch erkannt worden und hat bewirkt, daß man die religiöse Gewißheit aus der dinglichen in die persönliche Sphäre der praktischen Gewißheit, aus der Seins- in die Wert-Gewißheit erhoben hat. Es ist jedoch vorher noch zu bedenken, welche Wirkung die eben skizzierte praktische Gewißheit für die religiöse Bewegung des Zweifler[s] 40 haben würde. Es scheint mir hier die genaue Analogie zu dem Versuch, durch Evidenzgewißheit die religiöse Gewißheit zu erringen, vorzuliegen. Dort wurde durch das intellektuelle „Werk" der „Götze" des Absoluten gebildet, hier wird durch das emotionale „Werk" die Theophanie der Erfahrung herbeigezwungen, aber die Mantik gelingt nicht immer, und wenn sie gelingt - und es ist möglich, ihr Gelingen zu erzwingen - , steht sie um so mehr dem Verdacht der Illusion offen, als sie mit Anstrengung geschaffen wurde. Glaube aber liegt nicht vor. Die echte Erfahrungstheologie ist ihrem Wesen nach ungläubig, sie richtet den Blick des Zweifels auf die Erfahrung statt auf den Inhalt der Erfahrung. Sie erfordert „Glauben an die Erfahrung" statt Glauben an Gott, sie schafft die duplicatio fidei, von der wir schon bei der pietistischen Glaubenslehre gesprochen hatten. Die Apologetik von Seiten der Erfahrung ist in noch viel höherem Maße als die von Seiten der Evidenz eine unerträgliche Last, die den Menschen auferlegt wird, insofern sie eine argumentatio ad hominem enthält, die in schwerste Gewissenskonflikte, künstliche Selbstübersteigerungen, tiefe Schwankungen der inneren Statik stürzt und leicht zu einer Haßreaktion gegen die Sphäre des Religiösen führt. Objektiv wäre noch hinzuzufügen, daß die praktische Gegenstandserfahrung von sich aus eins nie erreichen kann: die Absolutheit des 31

Folgt gestr.: überhaupt

39

Hs.: würden

40

Hs.: Zweifler

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religiösen Objektes. Radikale Empiristen wie James 41 enthüllen hier die Konsequenz dieser ganzen Richtung, indem sie dem Polytheismus principiell Raum geben. In der Tat kam die Gegenstandserfahrung immer nur zu überragenden Wesen von unendlicher Macht und Bedeutung, nie aber zu dem „Absoluten"; denn was in die Gegenstandserfahrung eintreten soll, muß unter ihren Bedingungen stehen, muß in psycho-physische Beziehungen eintreten können. Die „Götter" und selbst der „eine" Gott sind von hier aus Weltwesen. Ihre Transcendenz ist bloß relativ auf die Sinnenwelt im gewöhnlichen Sinne oder auch überhaupt, aber ihre Transcendenz ist nicht auch transpsychische Seinsform; es sind psychische Wesen höherer Ordnung. Aber das Psychische ist etwas Innerweltliches. Die Qualität der Absolutheit führt auch über das Psychische hinaus und damit über das Gebiet der Erfahrungsmöglichkeit im Sinne der praktischen Gegenstandsgewißheit. So führt auch die objektive Betrachtung mit Notwendigkeit zu einer andersartigen Gewißheitssphäre, und es bietet sich an die Sphäre der Wertgewißheit. Wir hatten sie charakterisiert als diejenige, in der das Subjekt in sich die Geltung für das Objekt schafft; es ist die Sphäre der Wertgewißheit, der Überzeugung (im Fichteschen Sinne). Es erhebt sich nun gleich ein Verdacht gegen die Auffassung der religiösen Gewißheit als Überzeugung, ein Verdacht, der sich aus dem Sprachgebrauch ergibt. „Religiöse Überzeugung" ist die Formel des Relativismus, der jedem seine Überzeugung lassen will, weil er eine religiöse Gewißheit nicht kennt. Das Sprachempfinden läßt keinen Zweifel darüber, daß mit der Änderung der „Gewißheit" in „Überzeugung" eine Gewißheitsminderung verbunden sein läßt, das Eindringen eines subjektiven Momentes, dem die durchaus objektiv empfundene „Gewißheit" wuchtig gegenübertritt. Es fragt sich, was diesem Sprachgefühl zu Grunde liegt. Auszuscheiden ist zunächst der Sprachgebrauch, nach dem „Überzeugung" nichts ist als „Meinung" mit praktisch unerheblichen Unsicherheitskoeffizienten. Vielmehr handelt es sich hier um die Überzeugung, hinter der die Persönlichkeit als Ganzes steht, um Überzeugung, wie sie Fichte als Charakteristik der Ichhaftigkeit gemeint hat.

41

William J a m e s , T h e Varieties of Religious Experience. N e w York 1 9 0 2 ; deutsch: Die religiöse E r f a h r u n g in ihrer M a n n i g f a l t i g k e i t . Leipzig 1917, 2. Aufl. 1914.

155

Diese „Überzeugung" hat nun die Eigenschaft, daß sie sich nicht auf einen Gegenstand an sich bezieht. Auch da, wo es sich um theoretische Wertungen handelt, sind es nicht Seinsurteile, sondern Sinndeutungen, die den Inhalt der Überzeugungen bilden. Wenn Fichte den Wert eines Menschen davon abhängig macht, daß er überhaupt Überzeugungen hat, so meint er damit nicht ürteile über Gegenstände, die einen unbezweifelbaren Gewißheitsgrad haben so etwas trifft auf alle Menschen zu und am meisten auf die in Fichtes Sinne Überzeugungslosen, die in ihren Meinungen befangen sind - , sondern er meint damit die freie Tat der Selbsterfassung des Ich, die Erhebung der freien "sittlichen Persönlichkeit über die Sphäre des unmittelbaren, dumpfen und unbestimmten 43 Bewußtseins. Insofern gibt es im Grunde nur eine Überzeugung, nämlich die Freiheit selbst, die Selbsterfassung und Selbstunterscheidung des Ich gegenüber allem Nicht-Ich, allem Dinghaften, Triebmäßigen, Unfreien. Da nun aber dieser einheitliche Akt sich entsprechend der zeitlich-räumlichen Mannichfaltigkeit in viele einzelne zerlegt, gibt es viele Akte der Überzeugung, in denen sich das Wesen der Überzeugung darstellt. Es ist deutlich, daß Überzeugung in diesem Sinne eine ursprüngliche ethische Tat ist, die sich auf sich selbst richtet, eine „reine Tathandlung" und kein Akt gegenständlichen Erkennens. Eine Apologetik, die von hier aus arbeitet, kann es, wie Fichte selbst gezeigt und in schwerem Kampfe verteidigt hat, nie zu dem Satze bringen: „Gott ist", insofern das Prädikat des Seins in die Sphäre des Gegenständlichen einreiht. Die Überzeugung im Sinne Fichtes führt zu der ethischen und, was bei ihm das gleiche ist, zur metaphysischen Erfassung des Ich, niemals und nirgends aber zu einer Erkenntnis des Nicht-Ich. Und wenn vom „absoluten Ich" die Rede ist, so ist damit nichts gemeint, auf das das Ich sich als Gegenstand beziehen könnte, sondern es ist der im Ich miterfaßte absolute Geltungscharakter der Ichhaftigkeit. Jede metaphysische Hypostasierung, Vergegenständlichung des „absoluten Ich" macht es zu einem Nicht-Ich, hebt seinen Begriff auf. Fichte setzt voraus, daß es nur ein wahrhaft Ich-haftes Verhältnis zur Welt gibt. Er ist darin abstrakt und rationalistisch. Seit Schleiermacher, Hegel und der Romantik ist diese Voraussetzung aufgege42 43

Über gestr.: schöpferischen Folgt gestr.: Gewißheit des bloßen Meinens

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ben und das Ich in seiner individuellen Bestimmtheit in metaphysische Bedeutung gerückt. Überzeugung wird jetzt Selbsterfassung 44 in individueller und doch gültiger Form. Es entsteht der Gedanke des schöpferischen Geistes, der in einer bestimmten konkreten Bestimmtheit doch das Allgemeine, Bedeutungsvolle gibt. Das Künstlerische wird zum maßgebenden Vorbild der Begriffsbildung. Von hier aus gesehen ist Überzeugung individuelle und doch allgemeingültige, zusammengefaßt: schöpferische Werterfassung. In der Sphäre des Gegenständlichen herrscht die Alternative richtigfalsch; hier ist das Individuelle zu überwinden, in der Sphäre der Werterfassung ist es mit dem Allgemeinen zu vereinigen zu dem Schöpferischen, das konkret und doch allgemein gültig ist: Weltanschauungen, Kunstwerke, sittliche Institutionen sind nicht alternativ entweder richtig oder falsch, sondern sie sind entweder unschöpferisch oder schöpferisch, sie sind entweder empirisch notwendig oder principiell willkürlich oder sie stehen jenseits des Gegensatzes von Willkür und Notwendigkeit, in der Sphäre der Freiheit. Es ist klar, daß auch in dieser Auffassung der Überzeugung von gegenständlichen Überzeugungen keine Rede sein kann, daß es sich um Sinndeutungen und Werterfassungen handelt. Nur dann ist die Alternative richtig - falsch ausgeschaltet, die in jedem Gegenstandsurteil, insonderheit dem Existentialurteil, ihren notwendigen Platz hat. Zu einer Überzeugung logisch-religiöser Gegenständlichkeit kann also die Sphäre der Überzeugung im Sinne der Werterfassung nicht führen. Der Gewißheitscharakter dieser Art Erlebnisse liegt darin, daß hier ebenso wie in der Sphäre der Evidenz Subjekt und Objekt in einem sind. Das Objekt ist nichts, was dem Subjekt in irgendeiner Selbständigkeit gegenüberstände, es ist das gleiche, o b man von einer Erhebung des Subjekts in die Sphäre des Gültigen, Geistigen, der Werte oder ob man von einer Realisierung der Wertordnung in einem konkreten Subjekt spricht. Der Begriff des im individuellen Geist sich entfaltenden absoluten Geistes läßt, richtig verstanden, den Unterschied von Subjekt und Objekt nicht zu; nur durch Uneigentlichkeiten und Mythologisierungen kann diese Scheidung zu Stande kommen. Es sind deswegen alle Versuche hoffnungslos, von der Wertsphäre aus zur Seinssphäre zu gelangen. Die Apologetik, die in dieser Richtung den Zweifel zu überwinden such-

"

F o l g t g e s t r . : in Bezug auf eine i n d i v i d u e l l e R e a l i s i e r u n g des G e i s t e s

157

te, konnte nicht über den Sprung vom Werterfassen zum Gegenständlich-Religiösen hinweghelfen. Die nach Analogie des moralischen Gottesbeweises gebildeten Deduktionen konnten nie über ein Werterlebnis hinauskommen. Der Glaubenbegriff, den sie in Anwendung brachten, war durchaus in sich zwiespältig. Er enthielt erstens das Element der Überzeugung im besprochenen Sinne. Insofern es sich in dieser Überzeugung um eine undemonstrierbare schöpferische Tat des Ich handelt, konnte wohl der Glaubensbegriff herangezogen werden. Es liegt hier in der Tat die Vorstufe zum Glauben im eigentlichen Sinne vor, die Tat der Selbstsetzung des Ich ist durchaus frei, unbedingt. Aber es ist nicht das Unbedingte, das absolute Paradox, das sie bejaht; es sind Schöpfungen, die unter einem Nein stehen. Es ist keine völlige Loslösung vom Ich erreicht, sondern das Wertbewußtsein ist zugleich immer ein gesteigertes Ich-Bewußtsein, und darin hat es seine Relativität: es ist mithineingezogen in die Schwankungen des Ichs, und die Unterschiede der verschiedenen Ichs; und es ist vor allem wehrlos gegenüber dem Wert-Nichtigkeitserlebnis, d.h. es hört da auf, wo die Religion, wo der Glaube anfängt. Die Apologetik hat zweifellos recht, wenn sie aus der Seins- in die Wertsphäre, aus der Evidenz und praktischen Gewißheit zu der „Überzeugung" hinführt; aber sie irrt, wenn sie meint, damit den religiösen Zweifel überwunden zu haben, sie hat das Wertgebiet eröffnet, nicht mehr. Will sie mehr, so begeht sie eine peTaßacns eis äXXo yevos, das Charakteristikum aller moralischen Gottesbeweise. 45 Das andere Element, was in dem Glaubensbegriff dieser Apologetik enthalten ist, ist der Sprung aus der Wert- in die Seinssphäre. Hier wird eine Analogie zu dem paradoxen Charakter des Glaubens gesucht; in Wahrheit wird Paradoxie mit Willkür verwechselt. Die Willkür dieser Analogie kommt in der Forderung zum Ausdruck, die an den Zweifler gerichtet wird, er solle es mit Gott versuchen, wagen, er würde dann selbst merken, daß es das Rechte war. Das Wagnis des Glaubens wird zum Glaubensexperiment. Die Vergewisserung wird nicht im Glaubensakt selbst gesucht, sondern in einer

43

Folgt gestr.: Wird der moralische Gottes beweis aus der logischen in die ethische Sphäre gewendet, so bedeutet er die Forderung: Es einmal mit G o t t zu versuchen. Das sittliche Gewissen würde dann schon die Richtigkeit dieses Versuches zeigen. Das sittliche Bewußtsein würde als vollgültiger Zeuge vor dem logischen auftreten;

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zukünftigen Erfahrung. Bis dahin ist der Zustand der Ungewißheit unüberwindlich. Ein willkürlicher, nicht gläubiger Akt soll in Zukunft durch Erfahrung gerechtfertigt werden, d.h. die Apologetik, die auf dem „Überzeugungswege" nicht über das moralische Bewußtsein hinausgekommen ist, kehrt zurück zum „Erfahrungsweg", den sie eben verlassen hatte, aber in vergröberter Weise; denn das Glaubensexperiment ist nicht nur ein Werk im ächtesten Sinne, sondern es zwingt auch, den Blick ununterbrochen auf das Ich zu richten, in dem ja das Experiment zur Durchführung kommen soll. Es ist ein typisch ungläubiges Verhalten, das hier gefordert wird. Somit kommt weder die Evidenz noch die praktische, noch die Überzeugungsgewißheit zur Überwindung des Zweifels in Betracht. Somit bliebe nur ein Ausweg: ein Unbedingtes zu finden, das die Voraussetzung des Zweifels selbst konstituiert und deswegen nicht von ihm berührt werden kann, das aber andererseits nicht identisch ist mit der formalen Evidenz, sondern inhaltlichen Charakter hat. Die Glaubensgewißheit kann dem Zweifel gegenüber nur Bestand haben, wenn sie den Zweifel nicht zu überwinden braucht, weder durch Evidenz noch durch Überzeugung, sondern wenn sie ihn in sich aufnehmen kann. 46 Es ist hier der Platz, sich mit Heim auseinanderzusetzen; denn auch er führt die Dialektik des Zweifels durch bis zur äußersten Konsequenz, auch er sucht einen Punkt zu finden, der jenseits aller antithetischen Möglichkeiten liegt, die vielmehr erst von ihm aus seine Begründung erfahren. Dieser Punkt ist für ihn Christus, das absolute Konkretum. Seine Bejahung ist weder notwendig noch willkürlich, weder in Objektivitäten des Denkens, noch in Subjektivitäten der Persönlichkeit begründet; denn diese Kategorien sind in ihm aufgehoben und finden erst in ihm ihre Begründung, und mit ihm alle apriorischen Formen des Denkens und Lebens: Zeit, Raum, Ruhe-Bewegung, Wirklichkeit-Vorstellung, Ich, Kausalität, konkretabstrakt etc. Diese Formen sind nur Ausdrücke für die tiefste Not, in der sie alle unterzugehen drohen und aus der sie gerettet werden dadurch, daß der eine feste Punkt gefunden wird, der nicht in das dialektische Widerspiel hineingezogen werden kann. Mit welchem Recht und in welchem Sinne wird nun Christus zu diesem festen Punkt? Die Frage müßte von Heim abgelehnt werden; denn ein

4

'

Folgt gestr.: Wie das geschehen k a n n , m u ß die Dialektik des Zweifels zeigen.

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Recht aufweisen hieße ja: auf etwas anderes Bezug nehmen, das die Rechtsbegründung abgeben müßte, und nach einem Sinn fragen hieße ja: Sinnkategorien in Anwendung bringen, die ihren Sinn erst erhalten müßten. Aber Heim würde natürlich auch nicht zugeben wollen, daß seine Entscheidung ohne Recht und ohne Sinn vor sich geht. Kann er diese Konsequenz von sich abwehren? Ich glaube kaum. Denn nehmen wir an, daß im Moment der tiefsten Not, wo auch die Auflösung aller Kategorien bis zur letzten Tiefe erlebt ist, sich dem Bewußtsein verschiedene Konkreta als absolut anbieten, so ist 47 nur eine Entscheidung nötig, die als solche nicht nur die Kategorien willkürlich-notwendig, sondern auch alle übrigen Sinnkategorien in Bewegung setzt. Heim beruft sich Christus gegenüber auf den absoluten Anspruch, den er macht und den wir entweder als göttlich oder als diabolisch betrachten müßten. Die geschichtliche Betrachtung zerstört derartige dogmatische Alternativen, die der Alternative von „Meineid" Christi oder seiner Gottessohnschaft bedenklich ähnlich sehen. Schon die Realitätsfrage gibt das Recht derartiger dogmatischer Versuche, die Pistole auf die Brust zu drükken, auf; erst recht die Frage nach dem historischen Sinn derartiger Ansprüche. Aber mehr noch: es können, selbst wenn die Frage der Alternative entschieden wäre, die Kategorien zur Auffassung des konkreten Absoluten gar nicht außer Kraft gesetzt werden. In welcher Zeit, wo, unter welchen Bedingungen er erschienen ist, durch welche Wirkungen er an mich herantritt, das sind alles Fragen, die nicht ohne Beantwortung bleiben können, wenn es sich um ein bestimmtes Konkretes handelt; denn nur durch Antworten darauf wird es zu einem bestimmten Konkreten. Konsequenterweise müßte etwas gesucht werden, in dem nun wirklich alle jene Bestimmtheiten verschwunden wären, ein allen Kategorien schlechthin transcendentes Punktuelles, aber nicht ein in voller Breite vorliegendes innerkategoriales Konkretum. Oder, falls Heim gerade auf diesem Konkretum besteht, so dürfte es nicht in Distanz gedacht werden zu dem in Not befindlichen Individuum, damit kein Akt der Wahl möglich wäre. Es müßte unmittelbar, substantiell mit dem Zweifler identisch sein, da es ja schon die Voraussetzungen des Zweifels konstituiert. Daraus würde folgen, daß schon das Erlebnis der tiefsten Not nur möglich wäre durch Christus, der seine unbewußte

47

Hs.: so ist nicht nur

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Voraussetzung wäre, und die Befreiung aus dieser Not wäre das Bewußtwerden des Christus in uns. Es würde also der Zweifler darauf verwiesen werden, daß alle Voraussetzungen seines Zweifels zusammenbrechen müßten, wenn er nicht unbewußt durch Christus das Recht dieser Voraussetzungen begründet hätte. Die Heimsche Deduktion hätte dann nur Sinn für jemand, der substantiell nicht aus der Einheit mit Christus herausgetreten wäre, für den die Begriffe absolutes Konkretum und Christus ohne weiteres Wechselbegriffe sind. Wenn aber der Zweifel gerade diese substantielle Einheit angefressen hat, so müssen Übergänge von dem einen zum andern Begriff geschaffen werden, die eine „begründete" Bedeutung in dem genannten Sinne hätten. Ein entscheidender Punkt ist auch für Heim die historische Problematik seines konkret-Absoluten, das ja voraussetzungsgemäß in der Vergangenheit liegen muß. Er will diese Debatte nicht verneinen durch Rückgang auf ein 4 8 Faktum, das jenseits der Diskussion stünde, vielmehr will er den Kampf durchfechten und zwar als ein[en] Teil des Kampfes um die Erlösung mit Furcht und Zittern. Aber nicht eine Diskussion innerhalb einer rein theoretischen Geschichtswissenschaft ist gemeint - eine solche gilt als unmöglich - , sondern es kommt darauf an, den Punkt aufzuweisen, wo der historischen Diskussion Voraussetzungen innewohnen, die nicht mehr historisch zu erweisen sind. Es käme nun auf die Probe an, zu zeigen, daß derartige Voraussetzungen von Bedeutung für die Lösung einzelner Fragen werden können. Nun ist zweifellos denkbar, daß in einer Geschichtsauffassung, in der Wunder möglich sind, viele Dinge anders aussehen werden als in einer solchen, in der sie a priori unmöglich sind, daß eine geschichtsmaterialistische und eine geschichtsidealistische Auffassung vielerlei Unterschiede in der konkreten Darstellung zeigen werden. Aber das gilt keineswegs für die Gesamtheit der Probleme, nicht einmal für die Mehrheit. So weit auch die Beurteilung auseinandergehen mag, so nahe werden doch die Feststellungen faktischer Art einander stehen. Heim übersieht, daß es methodische Ideale gibt, die allgemein anerkannt sind und von denen abzuweichen nicht als berechtigte Entscheidung, sondern als Mangel an wissenschaftlicher Qualität gilt. Mag die letzte zusammenfassende Geschichtsdarstel-

4

"

Folgt gestr.: überempirisches

161

lung von einem festen Punkt aus gegeben sein, der jenseits der Methodik liegt, die Einzelprobleme müssen weithin frei bleiben von der Einmischung dieser Auffassung, und sie können es auch. Die Aufspürung neuer Urkunden, ihre Deutung nach Analogie anderer derselben Gattung, die Glaubwürdigkeitsmerkmale etc. lassen zwar alle einen subjektiven Spielraum, aber es gibt hier doch anerkannte Regeln, gegen die zu arbeiten als unwissenschaftlich zu gelten hat. Ist das aber zugegeben, so ist damit jedenfalls schon ein Teil der Entscheidung in die rein theoretische Geschichtswissenschaft gestellt und der praktischen Urentscheidung entnommen. Es gibt einen wirklichen realen Geistesakt, für den die Voraussetzung von Heim zutraf, daß in ihm der Unterschied von theoretisch und praktisch aufgehoben wäre. In jedem wirklichen Akt ist dieser Unterschied wirksam und läßt dem Theoretischen notwendig eine autonome Sphäre, die den Zweifel "unüberwindlich macht. Noch deutlicher ist das in den Naturwissenschaften, wo jener Punkt, der der Kausalität enthoben sein soll, für die reale Forschung gar keine Bedeutung besitzt und dem Zweifel, der sich von der Naturwissenschaft her gegen die Religion wendet, in keiner Weise abhelfen kann. Das gleiche gilt von den Kategorien. Ihre 50 Erfassung ergibt sich aus der praktischen und wissenschaftlichen Gesamterfahrung der Menschheit, und in ihr haben sie ihre Anwendung nach den immanenten Geistesgesetzen, die die Wirklichkeit überhaupt konstituieren. Auch sie wird durch Beziehung auf ein „konkretes Absolutum" nicht wirklich geändert. Es bleibt eine abstrakte Erwägung, die gerade nicht konkret wird. Wenn die Bedeutung des konkret-Absoluten für die Weltanschauung wirksam gemacht werden soll, so ist auch das nur möglich durch kritische Bearbeitung der in ihm liegenden Weltanschauungselemente. Diese Kritik kann aber nicht wieder geleitet sein von dem konkret-Absoluten selbst, das ja dann einfach ein autoritativer locus circumscriptus wäre, sondern die Kritik kann nur aus dem kategorialen Gesamtbewußtsein der Menschheit, wie es in dem einzelnen sich individualisiert, ausgehen. Dann ist aber dieses und nicht das konkrete Absolute der Maßstab. Es ist ein großartiger Gedanke und wohl im Stande, Begeisterung auszulösen, daß das gesamte theoretische und praktische Bewußtsein

4

'

,0

Folgt gestr.: aber unaufhebbar Über gestr.: Anwendung

162

auf einen konkreten Punkt einzustellen ist51. Er ist aber undurchführbar; denn das Konkrete ist gar nicht anders erfaßbar als durch Begriffe, Urteile, Kategorien, die schon vorausgesetzt werden müssen, wenn eine Erfassung stattfinden soll. Jedes Konkrete hat eine existentielle Breite und gibt in dieser Breite der Problematik Angriffsflächen. Heims Gedanke ist ein unrealisierbares Postulat. Wäre es realisierbar, so müßte es schon immer realisiert sein. Denn die gesamte Geistesentwicklung der Menschheit wäre ja nur durch es möglich gewesen. Wann kann das aber gesagt werden von einem Konkreten, das einmal war und nicht mehr ist und einmal noch nicht war! Oder erhebt sich nun das ctvaOrma gegen die, die da sagen: fjv TTOTE, 6T£ OUK FJV? Entweicht der Dialektiker, indem er nun das Konkrete als das Übergeschichtliche zugleich dem Absoluten gleichsetzt? Er kann es, aber er kann dann dem Konkreten keinen angebbaren Inhalt mehr zuerteilen. Ist das Übergeschichtliche der Aoyos als das konstitutive Princip des gesamten geistigen Kosmos und so des Kosmos überhaupt, so gibt es keinen Weg zu einer a priori gewissen Identificierung des Aoyos mit einer geschichtlichen Erscheinung. Eine Berufung auf die praktische Bedeutung dieser Erscheinung als Retter aus der absoluten Not würde gerade die entscheidende Voraussetzung aufgeben, daß er auch aus der theoretischen Not befreit. Dafür gibt es aber keinerlei Beweis. Es bleibt schlechterdings bei der Behauptung und muß der Natur der Dinge nach dabei bleiben. Wenn Heim zugeben muß, daß es auch außerhalb der bewußten Orientierung an Christus gelingendes Denken gibt, so ist damit die Absolutheit seines Konkreten aufgegeben, es sei denn, daß dieses zu einer unbewußten Voraussetzung alles Denkens wird. Aber dann hört es auf, konkret zu sein, und wird zu der allem Denken innewohnenden und alle radikale Skepsis überwindenden Voraussetzung, an der Wahrheit teilzuhaben. Der letzte Widerspruch gegen Heim hat vom Rechtfertigungsgedanken auszugehen. Heim bejaht nicht die Rechtfertigung, sondern die Erlösung. Die tiefste Not und ihre reale Überwindung ist sein Grundthema; er braucht darum das Konkrete, das den Zweifel wie die Sünde überwindet. Seine ganze Denkarbeit ist daraufgerichtet, das Denken zu „heiligen", es von den Irrwegen zu befreien, aber er wagt es nicht, diesen Gedanken wirklich durchzuführen, er läßt

Folgt gestr.: , um ihm seine Negation und Position zu geben

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das „Konkrete" nicht wirklich zum Fundament des Denkens werden. Wollte er das bewirken, so bliebe nichts übrig, als die gesamte existentielle Breite des Christus zu dogmatisieren und ein System der Orthodoxie, des intellektuellen Perfektionismus auf allen Gebieten einzurichten. Es müßte eine wirkliche „Herrschaft Christi" im gesamten Geistesleben durchgeführt werden. Wird nun unter „Christus" ein irgendwie bestimmtes „Bild Christi" verstanden, so wirkt all das, was unter diesem Bild zusammengefaßt ist, heteronom auf die Kultur ein. Es entsteht ein dogmatisches Erkennen, das dem autonomen Erkenntnisproceß fremd gegenübertritt und zu einer Wiederholung der großen weltgeschichtlichen Konflikte zwischen Glauben und Wissen führt. Heim sucht dem Konflikt dadurch zu entgehen 52 , daß er den „ungläubigen" Wissensproceß zur Selbstauflösung und damit zur Hinwendung zum Glauben treibt. Aber der Glaube ist bei ihm die Bejahung eines Konkreten und damit eines Stückes Wissen unter anderen, das sich nun über alle anderen erhebt. In diesem konkreten Wissensstück ist die „Vollendung", die „Seligkeit" 5 3 faktisch gegeben, nicht als eine ruhende, aber als eine gesicherte, die in jedem Kampf durch Rückweisung auf das Erlösungserlebnis zum Siege kommen muß. Heim ist aus den Kreisen der Gemeinschaftsbewegung hervorgegangen. Er gilt mit Recht als der Dogmatiker des modernen Pietismus. Er lehnt mit Recht auf apologetischem Gebiet den kirchlichen Kompromiß ab. Er hat darin seine große Bedeutung, daß er es wagt, den Zweifel radikal durchzuführen, daß er die ganze Unhaltbarkeit der üblichen Apologetik aufdeckt, daß er die ganze Wucht der gegenwärtigen theologischen Fragestellung sieht. Er führt bewußt vor ein ungeheuer bedeutungsvolles Entweder-Oder. Er wagt es, dem gesamten dogmatischen Denken der Vermittlungstheologie den Boden unter den Füßen wegzuziehen, weil er meinte, einen besseren wiedergeben zu können. Seine kritischen Ausführungen sind meines Erachtens unwiderleglich. Seine positive Lösung 54 kann nur so kritisiert werden, daß man zeigt: Er ist gezwungen, Voraussetzungen, die als solche abgelehnt waren, doch wieder in seine Lösungen aufzunehmen. Dadurch gerät aber diese in eben die Unsicherheit, aus der sie befreien wollte. 52

Folgt gestr.: daß er das Wissen auf das G l a u b e n gründet

"

Folgt gestr.: principiell

54

Folgt gestr.: steht jenseits der Alternative richtig - falsch

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Es ist damit die genaue Analogie zu der ethisch-religiösen Einstellung des Pietismus gegeben: Das Grunderlebnis ist die Bekehrung; sie ist Hinkehrung zu einem Konkreten, das als solches absolut ist, zu „ J e s u s " , wie es in der religiösen Sprache des Pietismus bezeichnenderweise höchst konkret heißt. Die sittliche Not ist grundsätzlich überwunden, und der sittliche Kampf wird durch Bezugnahme auf dieses Grunderlebnis siegreich. Es entsteht eine Sphäre der Herrschaft Jesu im einzelnen Menschen und im Kreise der Gemeinschaft, die sich einerseits abschließt gegen gewisse, der Konkretheit Jesu entgegenstehende Tatbestände, andererseits diese Tatbestände durch Verbreitung der Herrschaft Jesu zu negieren sucht. Es entsteht dadurch ein relativ abgeschlossener Kreis, der in sich einerseits konkret unterworfen ist dem im konkreten Jesusbilde sich offenbarenden "sittlichen Gehalt, andererseits in dieser konkreten Unterwerfung zugleich den absoluten Zustand, die Vollkommenheit und Seligkeit, wenn auch noch kämpfend, so doch mit Sicherheit siegreich, erlebt. Begründet ist dieser Vollkommenheitszustand in der Gewißheit, in Gemeinschaft mit dem konkret-Absoluten, mit Christus, zu stehen und von ihm die Kräfte zur Aufrichtung seiner Herrschaft, auch auf dem Gebiete des Denkens, zu erringen. Der Rechtfertigungsgedanke spielt innerhalb dieses Systems lediglich die Rolle, die außerpersönlich-dinglichen Kategorien des Katholicismus abzuwehren, er ist in keinerweise Centraigedanke. Das ist die Erlösung durch das konkrete Paradox. W o aber die Rechtfertigung nicht im Centrum steht, da wird sie verletzt, so auch hier. Der Blick ist gerichtet auf das Erlebnis der tiefsten Not, das die negative Begründung für das konkret-Absolute gibt. Sei es, daß dieses Erlebnis für die Gegenwart geschaffen werden soll, sei es, daß die Erinnerung daran für die Gegenwart analoge Wirkungen ausüben soll, immer handelt es sich um eine Blickrichtung auf sich selbst. Eine unmittelbare Blickrichtung auf Christus ist ja nicht möglich, da zwischen ihm und uns der Zweifel steht, der nur durch Rückgang auf das Erlebnis der tiefsten N o t überwunden werden kann. Der Weg aber dazu führt auf ethischem Gebiet über die Auflösung jedes autonomen Wertbewußtseins, auf logischem Gebiet über die Auflösung der autonomen Struktur des kategorialen Bewußtseins. Es ist ein negatives Werk, was zu leisten ist, aber es kommt alles darauf an, daß es geleistet und

Über gestr.: Willen Gottes

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jeder Anfechtung von Seiten der autonomen Kultur gegenüber immer wieder geleistet wird. Das Bekehrungserlebnis muß auf logischem wie auf ethischem Gebiet produciert und im Kampfe gegen die Welt immer wieder reproduciert werden. Dieses negative Werk der Niederreißung des gesamten Wertbewußtseins um des einen konkret-Absoluten willen ist aber genau so Werk wie das positive Werk eines Wertaufbaus, um dadurch die Gerechtigkeit zu erlangen. Es wäre kein „Werk", wenn es schon die Wirkung des Ergriffenseins durch Christus wäre, wie etwa Paulus alle sonstigen Werte für Dreck erachten kann um Christi willen. Aber so liegt es ja hier nicht, sondern der Sinn dieses ganzen Niederreißens ist ja der, den Zweifel zu überwinden, der das Ergriffenwerden von Christus hindert. Die Kritik an Heim führt zu der Forderung: Einen Gegenstand des Glaubens zu zeigen, der durch keinerlei Werk, sondern lediglich durch Glauben ergriffen wird: Weder durch das intellektuelle Werk der Götzenbrut des „Absoluten", noch durch das Werk der Herbeiführung von Gegenstandserfahrungen, noch durch das negative Werk der Herbeiführung eines Zustandes der tiefsten Not. Alle diese Werke leisten nicht, was sie sollen: das intellektuelle Werk wie die selbstgeschaffene Gegenstandserfahrung sind dem Zweifel immer offen, und das asketische Werk Heims kann nie ganz gelingen, da sowohl in der ethischen wie in der logischen Erfassung des konkret Absoluten die Werte und Kategorien, die eben in abstracto negiert war[en], in concreto wieder die Entscheidung geben. Will die Welt-Verneinung nicht Verneinung bleiben, so muß sie Welt-Material in ihre Position mit hinübernehmen. Der ethische wie der logische Asket befinden sich, sobald sie positiv werden, mitten in der Welt, die sich von der modernen nur dadurch unterscheidet, daß ihr autoritativ und heteronom gewisse der eignen konkreten Position entgegenstehende "Tatsachen abgeschnitten sind. Es liegt neben dem Großen auch etwas Gewaltsames, Unnatürliches in der Heimschen Denkarbeit, es ist der letzte, genialste, einzig mögliche und letztlich doch nicht mögliche Versuch, den Zweifel zu überwinden: Das System einer Theologie des konkreten Paradox. Ihm muß gegenübergestellt werden der Versuch, den Zweifel aufzunehmen: das System einer Theologie des absoluten Paradox. Gegen die Theologie der „Gemeinschaft" eine Theologie der Kultur.

"

Über gestr.: Elemente

166

M i t dem Heimschen Versuch ist also die Apologetik zu ihrer Vollendung - und ihrem Ende gekommen, der Zweifel hat sich als unüberwindlich herausgestellt. Wir hatten es unterlassen, die Unmöglichkeit, den Zweifel am Konkreten dennoch zu überwinden (den historischen und dogmatischen Zweifel), noch weiter zu begründen. Hier ist der Verweis auf Heim völlig ausreichend. Wir hatten dagegen besprochen den Versuch, auf dem Wege der Evidenz oder der Erfahrung zur Überwindung des Zweifels zu gelangen, und endlich den Versuch Heims, gerade von dem am meisten bedrohten Punkte aus, dem Konkreten, das ganze Gewißheitsproblem neu zu lösen. W i r stehen nun vor dem Zweifler, der mit gutem Gewissen seinen Zweifel aufrechterhält. Das ist ihm nicht leicht gemacht; denn es war zu beobachten, daß überall in der Apologetik die Neigung bestand, ihm das gute Gewissen zu nehmen, ihn an eine Stelle zu führen, wo es nicht aufrechtzuerhalten war. Die Kritik der Apologetik hat gezeigt, daß der Zweifel sich mit gutem Gewissen behaupten kann. Die Autonomie des Theoretischen hat sich jeder Heteronomie von Seiten des Praktischen erwehrt. Der letzte Versuch, der unter Voraussetzung der Richtigkeit aller antiapologetischen Kritik noch einmal den Versuch machte, Praktisches und Theoretisches in einem Jenseits beider aufzuheben, konnte nicht gelingen, weil ein solcher Punkt in der Aktualität nicht auffindbar ist und es tatsächlich auf eine Entselbstung des Theoretischen hinausläuft. Die Lage, in der der Zweifler auf diese Weise gebracht ist, bedeutet eine ungeheuer tiefe Not. Denn wenn er auch mit gutem Gewissen an der religiösen Gegenständlichkeit zweifelt, so ist doch der zugleich drohende Verlust der Religion für ihn eine 5 7 Ursache schwersten " D r u c k e s . In dem Bewußtsein, mit der Religion den Sinn überhaupt zu verlieren und in einer sinnlosen Wüste zu stehen, lebt der Zweifler am Abgrund der Verzweiflung, und doch muß er alle Verlockungen von Seiten der Verkündiger des Werkes, der kirchlichen und der mönchischen, von sich weisen. Zu aufrecht steht sein Wahrheitsbewußtsein, es läßt sich nicht beugen und brechen. Er lehnt jede Erlösung ab, weil er weiß, daß diese Erlösung nur mit der Preisgabe seines höchsten Gutes, der absoluten Wahrhaftigkeit, er-

"

Über gestr.: Quelle

"

Über gestr.: Ringens

s

167

kauft werden kann. Er will nicht erlöst sein vom Zweifel, weil er in ihm seine Qual zwar, aber auch seinen letzten Stolz 5 , h a t , weil er durch ihn sich erhebt über jede Heteronomie, woher sie auch immer kommen mag, in die reine kalte Klarheit der radikalen Autonomie. Jeder Priester des Gedankens, der ihm die Last erleichtern will, wird abgewiesen mit seiner Vermittlung, jede Erleichterung durch Gefühle und moralische Postulate, durch Scheinevidenzen und Scheinparadoxien wird hinweggetan. Sein intellektuelles sanctissimum ist so scharf und unbedingt, wie es das ethische des Wittenberger M ö n c h s war. W o alle nur Puppen-Möglichkeiten des Irrtums [sehen] 6 0 , da sieht er den Mangel der Unbedingtheit, vor der auch die höchste Wahrscheinlichkeit so nichtig ist wie die leichtfertigste Meinung. Er macht das Erlebnis des Unbedingten, das die Reformatoren in der Sphäre der Bußpraxis gemacht hatten, in der Sphäre des Erkennens. Es gibt für ihn nur zwei Wege: entweder Verzweiflung am Unbedingten, innerlich gebrochene Hinwendung zum Relativen, oder den Glauben, daß eben der Zustand, in dem er sich befindet, dem Wesen des Unbedingten angemessen ist, daß er in diesem Zustande des Zweifels die allein mögliche Stellung dem Unbedingten gegenüber einnimmt, daß gerade, indem der Zweifel groß geworden ist, die Wahrheit, in der er steht, noch viel größer geworden ist. Der rettende Ausweg aus der Not des Zweifels ist der Glaube und allein der Glaube, ein Glaube freilich, der nun keinen von den Inhalten mehr haben kann, auf die sich der Zweifel richtet, sondern der über die gesamte Sphäre des Zweifels hinaus sich zu dem erhebt, in dem der Gegensatz von Zweifelndem und Bezweifeltem aufgehoben ist und das in jedem Zweifel, je unbedingter er ist, desto deutlicher vorausgesetzt ist: Das Unbedingte selbst. Der Gedankengang kann auch folgende Form annehmen: Der Zweifler sucht nach einem Ausweg aus der als sinnwidrig gefühlten Negativität des Zweifels. Ein realer Ausweg, eine Aufhebung des Zweifels ist unauffindbar. Es bleibt nur der paradoxe Ausweg, im Glauben zu bejahen, daß der Zweifel das Stehen in der Wahrheit nicht aufhebt, 6 1 oder die Wahrheit als paradoxe durch den Zweifel hindurch zu bejahen. "

Über gestr.: sieht

60

Hs.: sieht

"

Folgt gestr.: Dieses Urteil kann aber nicht eignes Urteil sein, denn

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Wer gibt das Recht zu einem solchen Urteil? Die Frage ist die gleiche, als sollte gefragt werden: wer gibt das Recht zum Rechtfertigungsglauben auf ethischem Gebiet? Gerade die Kategorie „Recht" ist im Rechtfertigungsgedanken aufgehoben. Wir hatten gesehen, wie alle Versuche, dieses Recht christologisch u.s.w. zu begründen, die Paradoxie aufheben, Gott in Bedingungen einbeziehen. Aber gerade die Unbedingtheit seiner Gnade ist der Inhalt des Glaubens. So auch hier: Jede Begründung würde ja wieder unter den Zweifel fallen und der intellektuellen Rechtfertigung die Kraft der Paradoxie nehmen. Der Glaube an die Unbedingtheit des göttlichen Urteils ist gerade der Sinn des Glaubens auch auf dem Gebiet des Erkennens. Auf dem Gebiet der ethischen Rechtfertigung bezieht sich der Glaube auf Gott als den Träger des Rechtfertigungsurteils. In der Erkenntnissphäre ist das nicht möglich, da Gott unter dem Zweifel steht. Andererseits kann nicht das zweifelnde Ich selbst Träger des Urteils sein, d a " das Urteil unbedingten Charakter haben soll. Die Dialektik des Zweifels treibt hier zu einem Gott über Gott, zu einem Gott des Zweiflers, ja des Atheisten. [In diesem]63 Begriff „Gott dessen, der an Gott zweifelt", „Gott, der den Zweifler an Gott rechtfertigen kann", konzentriert sich die gesamte Problematik. Welches ist der Inhalt dieses Begriffs? Es kann nach allem Vorausgegangenen keinen anderen Inhalt für diesen Begriff geben als den Begriff des Unbedingten selbst. Es liegt im Sinne dieses Begriffs, daß er einerseits hinausführt über das Ich, das sich ihm gegenüber als bedingt erfährt, andererseits nicht hinführen kann zu einem Nicht-Ich, zu einem irgendwie, auch nicht metaphysisch Gegenständlichen, da auch jedes Nicht-Ich unter dem gleichen Nein steht. Es ist also das Unbedingte, das rechtfertigt, auch in Bezug auf den Zweifel an Gott. „Das Unbedingte" aber ist kein Seiendes. Wäre es ein Seiendes, so stände es unter dem Zweifel und könnte den Zweifler nicht rechtfertigen. „Das Unbedingte" ist ein Sinn, aber nicht ein einzelner Sinn, denn jeder einzelne Sinn steht unter dem Zweifel und könnte den Zweifler nicht rechtfertigen. Das Unbedingte ist der Sinn schlechthin, der Ausdruck dafür, daß überhaupt ein Sinn ist, die Setzung der Sinnsphäre. Indem das Ich das

62

Folgt gestr.: es sein Gegenstand ist

63

Hs.: Dieser

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Unbedingte bejaht, bejaht es zugleich sich selbst als sinnvoll, erhält es erst einen Sinn. Ein Zweifel am Sinn schlechthin aber ist nicht möglich, da der Zweifel die Bejahung der Sinnsphäre bereits voraussetzt und zwar umso deutlicher, je tiefer er erlebt wird. Aber nicht dieser logisch-analytisch aus dem Zweifel zu entwickelnde abstrakte Begriff ist es, der die Rechtfertigung trägt, sondern der Sinn, der sich in Bezug auf das erlebende Ich paradox offenbart, der Sinn, der ein unbedingtes Ja und ein unbedingtes Nein gleichzeitig über den Zweifler bedeutet. Also nicht die abstrakte Erwägung, daß im Zweifel überhaupt ein Sinn vorausgesetzt ist, hilft weiter, sondern nur die glaubensvolle Erfassung dieses Sinnes als mich verneinend und bejahend zugleich. Das Unbedingte kann nie anders als in dieser Doppelrichtung erfaßt werden. Das wußte die Religion zu allen Zeiten: Mystiker und Propheten sind darin eins. Denn diese Doppelrichtung bedeutet ja, daß es das Unbedingte ist, das ich erlebe, ich, der Bedingte, Relative, und daß ich es erlebe, wodurch ich irgendwie zur Teilnahme an ihm herangezogen werde trotz meiner Bedingtheit und Relativität. Das Unbedingtheitserlebnis hat notwendig64 paradoxen Charakter und was das gleiche ist - hat notwendig Glaubenscharakter; denn Glaube ist Bejahung des absoluten Paradox. Es war gesagt worden, daß das Unbedingtheitserlebnis ein Sinn-, nicht ein Seinserlebnis ist. Es entsteht nun die Frage, welche Beziehung es zum Sein hat. Wenn wir das reale Sein einteilen in das ontologische Sein, das Wertsein und das 65Ich-Sein, so ergibt sich zunächst, daß das absolute Paradox nicht bedeutet ein Seiendes über dem andern Seienden, auch nicht das absolut Seiende, und nicht ein Wert über andern Werten, auch nicht den absoluten Wert, und nicht ein Ich über andern Ichs, auch nicht das absolute Ich; denn dieses alles steht unter, nicht über dem Zweifel; sondern es bedeutet, daß alles Seiende in paradoxer Weise den Sinn: unbedingte Realität in sich trägt, daß alle Werte in paradoxer Weise den Sinn: absoluter Wert in sich tragen, daß alle Ichs in paradoxer Weise den Sinn: absolutes Ich in sich tragen, also durch das Seiende als das, "wovon das Seiende unbedingt vernichtet und zur unbedingten Realität erho-

M

Folgt gestr.: unbedingten

"

Über gestr.: Person-

66

Über gestr.: wodurch

170

ben wird, und durch die Werte hindurch als das, 67 wovon die Werte unbedingt entwertet und zugleich zu absoluter Wertung erhoben werden, und durch das Ich hindurch, als das, wovon das Ich unbedingt zerdrückt und zugleich zu absoluter Bedeutung erhoben wird so offenbart sich der Sinn schlechthin, das Unbedingte, das absolute Paradox. Dem absoluten Paradox gegenüber kann es kein anderes Verhalten als den Glauben geben. Weder Evidenz noch Erfahrung reichen aus. Evidenz nicht, denn die absolute Spannung, die das Paradox in das Bewußtsein bringt, liegt68 in weit tieferer Schicht als die logische Sphäre. Sie packt die Gesamtpersönlichkeit an, direkt und indirekt, und prüft ihren metaphysischen Wert nach dem M a ß der Spannung, den sie zu ertragen im Stande ist. Und Erfahrung nicht, denn der Blick ist in keiner Weise auf die eigne Persönlichkeit und ihre Erlebnisse gerichtet", sondern allein auf das Unbedingte selbst, das 70 die Persönlichkeit 71 mit all ihrer Erfahrung und Zweifeln vernichtet und doch unter ein unbedingtes Ja stellt. Weil die Anerkennung dieses im Sinne des Unbedingten enthaltenen Ja nur möglich ist unter Anerkennung des Nein, darum ist es aller Erfahrungstheologie entzogen und fordert eine reine Theologie des Glaubens. Im Glaubensbegriff der Reformatoren ist als entscheidendes Moment die fiducia erga Deum enthalten. Was wird aus der fiducia, wenn Gott unter dem Zweifel steht? Es ist diese Frage gleichbedeutend mit der andern: Wie kann von einem persönlichen Glauben die Rede sein, wenn er nicht gerichtet sein kann auf eine Persönlichkeit? Die Antwort hat von einer Analyse der im absoluten Sinnerlebnis enthaltenen Erlebnisqualitäten auszugehen. Dem Sinn war gegenübergestellt das Sein, der Wert, das Ich. Zugleich aber war gezeigt, wie alle drei unter dem Exponenten des Unbedingten im Sinn enthalten sind. Daraus erwächst nun dem absoluten Sinnerlebnis seine Färbung. Es nimmt für das Bewußtsein die Züge des absoluten Seins, des absoluten Wertes, des absoluten Ichs an. Es wird nicht zu diesen dreien oder ihre Einheit; denn damit wäre ja an Stelle des Glaubens die Metaphysik getreten. Aber das Bewußtsein kann nicht umhin, 67

" " 70 71

Über Folgt Folgt Folgt Folgt

gestr.: gestr.: gestr.: gestr.: gestr.:

wodurch weit über der logischen ; das würde das Unbedingtheitserlebnis aufheben sich dem Bewußtsein darstellt als absolutes Paradox zu sich heranzieht

171

das Unbedingte mit diesen ontologischen Zügen auszustatten. Es liegt hier also ein Schweben des anschaulichen Bewußtseins vor, ein ^Vergegenständlichen des Sinnes zu einem Seienden und ein Entgegenständlichen des Seienden zu einem Sinn. Selbst in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wie der gegenwärtigen ist dies Oszillieren nicht zu vermeiden; denn ohne dasselbe bekommt alles eine unwahre Abstraktheit, die gerade von den Voraussetzungen des Gedankengangs selbst unmöglich gemacht wird. Erst recht in dem unmittelbaren religiösen Vorgang der Erfassung des absoluten Paradox ist die Notwendigkeit dieser anschaulichen Erfüllung des abstrakten Sinnbegriffs gegeben. Der Absolutheitscharakter, der durch das Paradox hindurch allem Seienden zukommt, wird zur Teilnahme an einem absoluten Seienden. Die Unbedingtheitsqualität, die vermittelst des Paradox alle Werte haben, wird zu ihrem Enthaltensein in einem absoluten Wert. Das absolute J a über das Ich, das in paradoxer Einheit steht mit dem absoluten Nein, wird zu einer Gemeinschaft des Ich mit einem absoluten Ich; 7 3 und darum bekommt die Hingabe an das absolute Paradox, an den Sinn selbst, eine Qualität des Vertrauens, die irgendeine Art Personalisierung des Sinnes voraussetzt. Sich hingeben an den „Weltensinn" in seiner ganzen paradoxen Tiefe, sich von ihm vernichten und erheben, verneinen und bejahen lassen und mit sich die ganze Welt des Seins und der Werte, das ist die fiducia in der Rechtfertigung des Zweiflers, deren Gegenstand Seinsgestalt annimmt, ohne je ein Seiendes werden zu dürfen, und Persongestalt annimmt, ohne je Person werden zu dürfen. Denn alles, was Sein und Wert und Ich heißt, wird erst eingesetzt von dem absoluten Paradox, dem tragenden Sinn der Welt. W o immer rein gegenständlich von einem absoluten Sein, Wert oder Ich gesprochen wird, da kann es in seiner Bewußtseinsstufe voll berechtigt sein, insofern noch ein substantielles Gottesbewußtsein da ist. Sobald sich das Bewußtsein aber auf die Stufe des radikalen Zweifels erhoben hat, können jene Vergegenständlichungen in ihrer 74 unreflektierten Anschaulichkeit nur als Symbole gelten für die Lebendigkeit und Konkretheit des absoluten Paradox. Auf dieser Stufe kann das Bewußtsein jene Symbole nur gebrauchen unter ständiger Erinnerung an ihren symbolischen Charakter und den

72

Über gestr.: Hypostasieren

73

Folgt gestr.: aber dieses Werden ist doch nur ein Werden

74

Über gestr.: groben

172

Sinn, den sie zwar anschaulich und lebendig, aber doch inadäquat ausdrücken. In der reformatorischen Debatte spielt das Verhältnis von Glauben und Werken eine entscheidende Rolle. Wie gestaltet sich das Verhältnis in der Rechtfertigung des Zweiflers? Ehe an die Beantwortung dieser Frage gegangen werden kann, muß noch ein möglicher Einwand berücksichtigt werden: O b denn die Analogie von sittlichem und intellektuellem Gebiet bezüglich der Rechtfertigung begründet ist. Es ist nun im Voraus zu bemerken, daß es sich bei der Analogisierung von ethischer und intellektueller Sphäre nicht um eine äußerliche Reflexion handelt, sondern, wie ja auch schon Heim in seiner Weise zeigt, um die Erfahrung einer Not, die der N o t des Ungerechtfertigten gleichartig ist und darum zu einer gleichartigen Lösung treibt. In beiden Fällen liegt ein Zustand vor, der dem als normal erkannten Zustand widerspricht. Die Forderung, die als unbedingt gültig erfahren wird, vollkommen zu sein und in der Wahrheit zu stehen, ist unerfüllt geblieben und bleibt unerfüllbar. Dem Widerstreit zwischen sittlichen und unsittlichen Antrieben entspricht der Widerstreit zwischen 7 5 Identität und Differenz, zwischen Subjekt und O b j e k t . Der Widerstreit ist auf beiden Gebieten unaufhebbar, denn er ist gegeben mit der „Selbstheit" im Doppelsinn der ethischen Selbstbejahung und logischen Selbsterfassung. Die mit der biologischen Basis unmittelbar 76 gegebene Selbstbehauptung ist parallel der mit der psychologischen Basis unmittelbar gesetzten Selbstbezogenheit. Es könnte eingewendet werden, daß mit dieser Analogie die sittliche Freiheit gefährdet sei. Denn die logische Selbstheit käme dem Menschen auch „vor dem Sündenfall" zu, die ethische aber sei erst durch Mißbrauch der Freiheit in die Welt gekommen. Es läßt sich dagegen zunächst sagen, daß in diesem Falle der Mensch „vor dem Sündenfall" zur Ungewißheit verurteilt gewesen wäre, ein Zustand, der als Übel doch erst nach dem Sündenfall hätte eintreten können. Ein Zustand aber, in dem das individuelle Selbstbewußtsein, mit dem die Ungewißheit notwendig verbunden ist, nicht vorlag, hat für uns keinerlei Denkbarkeit. Er kann lediglich die Bedeutung einer Idee im platonischen Sinne haben. V o r allem könnte nicht begreiflich gemacht werden, welchen Sinn die sittliche Freiheit

75

Folgt gestr.: wahren und falschen Gedankenmotiven

76

Folgt gestr.: hervorbrechende

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in einem solchen Zustand hätte. Wenn die Freiheit im Sinne differenter Entscheidungsfähigkeit gedacht werden soll, so gehört dazu die Fähigkeit der Reflexion, die ihrerseits wieder an die Selbständigkeit des individuellen Selbstbewußtseins gebunden ist. Die neuere Theologie seit Ritsehl hat ja auch den Mythos der mit dem Sündenfall verbundenen naturverändernden Katastrophe als Mythos durchschaut. Stellt man sich auf diese Grundlage, so nimmt der besprochene Einwand folgende Form an: Während die Überwindung der Sünde im sittlichen Proceß auf Grund der Rechtfertigung durch Freiheit möglich ist, kann die Überwindung der Ungewißheit nur durch eine irrationale naturverändernde Katastrophe gedacht werden, d.h. sie kann überhaupt nicht gedacht werden. Im ersten Falle hätte die Rechtfertigung also den Sinn, Verzeihung für ein schlechthin Nicht-Sein-Sollendes zu sein, im zweiten Falle, die paradoxe Überwindung von etwas unvermeidlich Sinnwidrigem. Es kommt nun in diesem Zusammenhange nicht darauf an, über die Vermeidlichkeit und Unvermeidlichkeit der Sünde eine Untersuchung anzustellen; denn jede derartige Untersuchung bleibt in der objektiven Sphäre und führt darum notwendig zu einer irgendwie objektivierenden Auffassung der Freiheit und ihre Einreihung in einen Sinnzusammenhang, von dem aus gesehen sie als Notwendigkeit erscheint. Sondern es handelt sich um das Schuldbewußtsein, das jedenfalls eine Entschärfung durch Abschiebung der Schuld auf innere oder äußere Notwendigkeiten nicht zuläßt, während der Gedanke an die Notwendigkeit des Zweifels ihm jedenfalls den Schuldcharakter restlos nimmt. Diese Differenz muß anerkannt werden. Aber unterhalb ihrer liegt eine Identität, nämlich das Bewußtsein der Sinnwidrigkeit des Zustandes, der unumgänglichen Notwendigkeit, ihn aufzuheben. Nur die Art der Sinnwidrigkeit ist in beiden Fällen verschieden. Bei dem Schuldbewußtsein ist ein ganz bestimmter Sinnzusammenhang: Gott, das eigne Ich mit seiner sittlichen Bestimmung u.s.w. vorausgesetzt. Innerhalb dieser Positionen erscheint nun das Negative der Sünde als das Störende und Zerstörende mit absoluter Schärfe. Beim Zweifel ist es gerade die Negation eines Sinnzusammenhanges überhaupt, die seine Kraft ausmacht; denn diese Negation wird zugleich als unmöglich, als sinnwidrig aufgefaßt. Die Sinnwidrigkeit einer Sinnwidrigkeit, dieser Widerspruch wird erfahren, ohne daß die Möglichkeit besteht, darüber hinwegzukommen. Damit aber ist auch die ganze Sphäre des Schuldbewußtseins problematisch geworden. Die Realität, die im Schuld-

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bewußtsein so intensiv ^gefühlt wird, ist unterwühlt. Damit hat dieser Zustand der Sinnwidrigkeit eine viel größere Universalität. Ist das Schuldbewußtsein wesentlich bezogen auf das eigne Ich, so werden hier alle Wirklichkeit und alle Werte hineingezogen in die Negation. 78 In beiden Fällen handelt es sich um Sein oder Nicht-Sein, im Falle des Schuldbewußtseins um Sein als sittliche Persönlichkeit, im Falle des Zweifels um das Sein eines Sinnes überhaupt. NichtLösung des Widerstreits führt in beiden Fällen zur Verzweiflung; im ersten Falle zur Verzweiflung am eignen Lebenswert, im zweiten Fall zur Verzweiflung am Lebenssinn überhaupt. Der Unterschied zwischen Rechtfertigung des Sünders und Rechtfertigung des Zweiflers liegt also nicht in den entscheidenden Punkten. Dieses sind: 1. die Erfahrung eines unentrinnbaren und unlösbaren Widerspruchs, 2. die Unmöglichkeit, ihn realiter zu überwinden, 3. die Überwindung durch die gläubige Erfassung des absoluten Paradox. - Der Unterschied liegt7® in dem Bewußtsein sittlicher Freiheit und Verantwortlichkeit dort und dem Bewußtsein schicksalsmäßiger Gebundenheit hier und daraus folgend in der radikalen Negation der Sünde 80 und relativen Bejahung des Zweifels für Vergangenheit und Zukunft. Der Zweifel wird aufgenommen, die Sünde soll vernichtet werden 81 . Das Unheilsbewußtsein kann nur aufgehoben werden zur Heilsgewißheit, wenn die Wurzel des Unheils gleichzeitig als zu vernichtende gedacht und gewollt wird. Die Wahrheitsungewißheit kann in Wahrheitsgewißheit gewandelt werden, d.h. wenn die Wurzel der Ungewißheit weiter fortwirkt. Daraus ergibt sich nun auch der doppelte Sinn der Heiligung auf sittlichem und intellektuellem Gebiet: In der Rechtfertigung des Sünders ist die Heiligung principiell als Forderung gesetzt und als Tat begründet. In der Rechtfertigung des Zweiflers ist die „Heiligung", also die reale Überwindung des Zweifels, weder als Forderung noch als Befähigung mitgesetzt. Und doch besteht auch hier die Analogie in tieferem Sinne. Durch die Erfassung des absoluten Para77 7

"

79

80

"

Über gestr.: erfahren Folgt gestr.: Denn der Zweifel besagt ja nicht, daß man selbst keinen Sinn findet, sondern er stellt in Frage, ob überhaupt ein Sinn da ist. Folgt gestr.: in der Sphäre, innerhalb der der Widerspruch und seine Überwindung stattfindet: das einemal die Wertsphäre, das anderemal die Sinnsphäre; Folgt gestr.: und ihrer Folgen für die Vergangenheit und der Sünde selbst für die Z u k u n f t Folgt gestr.: Der Zweifel ist in seiner Wirkung überw[unden).

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dox ist die grundlegende Sinnerfassung gegeben, die sich nun auswirkt in der Fülle weiterer Sinnerfassungen. Freilich ist das kein notwendiger Proceß. Es gibt keine deduktive Methode, die von dem absoluten Paradox ein System der Gewißheit ableiten könnte. In diesem Sinne kann der Zweifel aber gerade nicht überwunden werden 8 2 ; denn seine Basis, das individuelle Selbstbewußtsein, kann ja nicht aufgehoben werden. Aber' 3 das absolute Paradox ist für das Bewußtsein nicht [anders] da als durch Willens-, Gefühls- und Verstandesaktualität, es ist also in der primärsten Erfassung des absoluten Paradox schon ein Kulturmoment, schon eine Relativität enthalten. Es gibt kein Reden über das absolute Paradox, das nicht schon selbst unter ihm stände, selbst ein Nein über sich hätte, selbst relativ wäre. Es gibt keinen Glaubensakt mit seinem ganzen Komplex von aktuellen Geistestätigkeiten, der nicht bedingt wäre und nur in, mit und unter dieser Bedingtheit das Unbedingte erfaßte. Klärend für dieses Verhältnis ist der von der phänomenologischen Schule gebrauchte Begriff des „Meinens". Ein Begriff „meint" etwas, zielt auf etwas hin, und dieses Gemeinte ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, durch die hindurch gemeint wird. So wird das Unbedingte gemeint in bedingten Vorstellungen. Diese Relativität der primären Erfassung des absoluten Paradox gibt nun andererseits einen Ansatzpunkt für die weitere Herankrystallisierung der kulturellen Inhalte. Nicht auf das absolute Paradox selbst, aber auf seine primäre Erfassung kann ein System der Überzeugung aufgebaut werden, nicht im Sinne einer strengen Deduktion, sondern im Sinne eines "Kriteriums für die großen kulturellen Synthesen. In dem Maße, in dem in einem System das absolute Paradox hindurchschwingt und als Gehalt das Ganze beseelt und trägt, die Form in überragender Kraft zerbricht und neuschafft, in dem Maße wird die Überzeugung sich der Gewißheit des Glaubens annähern, aber sie kann und darf sie nie erreichen. In dem Moment, wo ein System religiöse Gewißheit, Glaubensgewißheit beansprucht, wird die „Heiligung" zur Bedingung der „Rechtfertigung" gemacht, wird das Logische über das Paradox gestellt und damit der Glaube aufgehoben. Wer da sagt: Es gibt keinen Zweifel mehr, ich stehe ganz in

82

Folgt gestr.: Dann würde er in jedem Moment

"

Folgt gestr.: es gibt eine schöpferische Produktivität

M

Über gestr.: Leitbegriffs

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der Wahrheit, der lügt wie der, der da sagt: Ich habe keine Sünde mehr; und doch ist der Zweifel und die Sünde principiell aufgehoben, so daß der Gläubige mit Recht sagen kann: Insofern ich gläubig bin, habe ich keinen Zweifel und keine Sünde mehr. Es muß nun noch eine abschließende Betrachtung über das Verhältnis von Sünde und Zweifel vorgenommen werden. Die bisherige Parallelisierung war von der Voraussetzung aus unternommen worden, daß die Sünde schlechthin der Sphäre des Willens zugesprochen wird. Voraussetzung dieser Anschauung ist, daß das Sittlich-Gute feststeht, entweder als göttlicher Wille, durch Kirche, Schrift und Propheten, oder als das 85 eigne Gewissen, dessen Stimme untrüglich ist. Sobald der Zweifel in Bewegung kommt, macht er auch vor dem Gebiet des Sittlichen nicht Halt und unterwühlt die gesamte Sphäre der göttlichen Gesetze und das eigne Gewissen dazu. Versuche, durch Vernunftkritik zu inhaltlichen Evidenzen zu gelangen, bleiben, wie auf theoretischem Gebiet, erfolglos. Dadurch wird nun die Bahn frei für die Übertragung des Begriffs des Verhängnisses von der intellektuellen auf die sittliche Sphäre. Die Sünde wird zu einem Verhängnis wie der Zweifel. 86 Damit verliert sie aber den Charakter des schlechthin nicht-sein-Sollenden. Der „sittliche Irrtum" wird zum Element des sittlichen Processes wie der logische Irrtum Element des logischen Processes. Freilich ist in beiden Fällen eine Abgrenzung zu machen. Nicht jeder Irrtum und nicht jede Sünde fallen unter diese Kategorien. Das, was unter dem gemeinsamen Titel als „Fehler und Schwächen" zusammengefaßt werden kann, liegt unterhalb des Geistesprocesses, in dem das Problem der Schuld und des Zweifels aktuell [wird]. 87 Es sind gewissermaßen die Abfallsprodukte des Geistesprocesses, die lediglich psychologische, keine geistige Bedeutung haben. Nicht irrtümliche Schlüsse, Beobachtungen, Begriffsbildungen etc. sind der „Irrtum" im religiös-metaphysischen Sinne, von dem hier die Rede ist, sondern die 88 jeder großen geistigen Schöpfung verbundene Relativität, die keineswegs an dem Nachweis formal-logischer Irrtümer hängt, sondern lediglich an dem Gericht, das der Geistesproceß

81

Über gestr.: autonome Folgt gestr.: sie wird als Wirkung von Schwäche und Irrtum aufgefaßt. " Hs.: werden "" Folgt gestr.: mit

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selbst an ihr ausübt. - Ebenso im Sittlichen. Nicht Schwächen und Fehler machen das Verhängnis aus, die unentrinnbare Schuld, unter der wir alle stehen, sondern die unserm höchsten sittlichen Lebensproceß anhaftende Unzulänglichkeit, die durch die Beziehung zu andersartigen Lebensprocessen offenbar wird. Nicht unsere Sünden, sondern unsere Tugenden sind das, was die große, metaphysische Schuld über uns bringt, nämlich die Unzulänglichkeit auch der vollendetsten Gestaltung unserer sittlichen Persönlichkeit. - Fehler und Schwächen fallen, weil sie psychologisch begründet sind, unter pädagogische Gesichtspunkte. Sie sind einfach zu überwinden durch Zucht. Denk- und Beobachtungsfehler, Mängel und Schwächen der sittlichen Bildung fallen nicht direkt unter die Problematik, die wir besprochen haben, stehen nicht unter den absoluten Kategorien des Geistigen. Sie sind darum auch nicht durch Paradox aufzuheben, sondern einfach durch Werk zu überwinden, durch Konzentration und Übung, durch exercitia spiritualia und allseitige Zucht, sie gehören der biologisch-psychologischen, nicht der geistigen Sphäre an. Für sie ist die ganze Pädagogik des Beichtstuhls u.s.f. durchaus angebracht; nur daß unter allen Umständen ihre direkte Beziehung auf das Religiöse abgelehnt werden muß. Es gibt nun freilich eine indirekte Beziehung, insofern die Schwächen und Fehler als Ganzes eine Bedeutung für den Lebensproceß gewinnen oder als einzelne charakteristisch für gewisse negative Seiten des geistigen Processes sind. Aber immer erst durch diese indirekte Wirkung können sie von Bedeutung für den Glauben werden und zur Erhebung zum absoluten Paradox zwingen. Es gibt darum auch keine Scheidung zwischen beiden Sphären außer durch den Lebensproceß selbst, in dem festgestellt wird, ob ein Vorgang wesentliche oder zufällige Bedeutung hat. Die letzten Gedankengänge haben einen strafferen Zusammenschluß der ethischen und intellektuellen Seite ergeben, der sich nun auch umgekehrt für die intellektuelle Seite bemerkbar macht. Durch die Ausscheidung der rein psychologisch begründeten Irrtümer ist die intellektuelle Seite aufnahmefähig geworden für das Moment der Freiheit und damit für die ethische Seite. Die Stellung zur Wahrheit tritt damit in neuer Weise unter die Begriffe Schuld und Gnade. Das Maß der Überwindung des89 Irrtums, das Maß der intellektuellen

89

Folgt gestr.: Zweifels

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Heiligung, die Tiefe, in der das Wesen des absoluten Paradox erfaßt wird, die Kraft, in der das Realitätserlebnis zum Ausdruck gebracht ist, das alles gewinnt Bedeutung für den sittlichen Charakter selbst. Die intellektuelle Heiligung wird nicht als ein logischer Proceß aufgefaßt, sondern als ein Gesamtproceß des geistigen Lebens, in dem das Logische zwar schlechterdings autonom bleibt, aber der Gehalt, den es zu fassen hat, aus unerschöpflichen Tiefen strömt. Dadurch bekommt die intellektuelle Aufgabe ihren absoluten Ernst und zugleich die Nötigung, sich in jedem M o m e n t ihres Processes unter das absolute Paradox zu stellen, durch das sie zugleich verneint und bejaht wird. Dieser Gesamtprozeß des geistigen Lebens, der begründet ist im Glauben als der Bejahung des absoluten Paradox, gilt nun nicht nur für den einzelnen, sondern 9 0 auch für die Kirche. Die Kirche hat durch die Erhebung des Zweifels zum Element des geistigen Lebens das Recht eingebüßt, sich selbst in irgend einer konkreten Form absolut zu setzen. Die Kirche kann den intellektuellen Perfektionismus ebensowenig aufrecht erhalten wie der einzelne. Ein „Formalprincip" autoritativer Art ist unmöglich geworden. Damit aber zeigen auch Begriffe wie die „Absolutheit des Christentums" ihre Unhaltbarkeit. Die „Absolutheit des Christentums" ist der spekulative Korrelatbegriff für die Wahrheit der Offenbarung. Er muß vor dem M o m e n t der Subjektivität und des Zweifels, auf den er aufgebaut ist, weichen. Diese Subjektivität aber ist ja nichts anderes als der Ausdruck des absoluten Paradox. Auch die Kirche ist auf Glauben angewiesen, auch sie muß in jedem M o m e n t ihres intellektuellen Processes das Nein tragen, das vom Unbedingten her über sie ergeht. O b es darum Luthertum oder Katholicismus, Bibel oder historischer Jesus, Papst oder Konzilien oder absolutes System, Christentum oder Monotheismus heißt, das absolute Paradox, die Unendlichkeit des Zweifels, die ein Ausdruck ist für die intellektuelle Unerreichbarkeit Gottes, verbieten die Anwendung des Begriffes „ a b s o l u t " . Jede Absolutheitserklärung einer konkreten religiösen Erscheinung ist intellektueller Perfektionismus. Die Kirche steht unter der Rechtfertigung, nicht über ihr, und mit ihr Bibel und Offenbarungsträger. Und doch ist die Kirche gezwungen, sich konkret zu bestimmen, weil der Geist nur als konkreter ist und weil schon die primäre

y0

Folgt gestr.: der Idee nach für die ganze Gesellschaft, der Wirklichkeit n a c h

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Erfassung des absoluten Paradox konkret, relativ, Produkt einer Geschichte des Geistes ist. Wir hatten gesehen, daß es unmöglich ist, deduktiv die Heiligung des Denkens durchzuführen, wie es unmöglich ist, die sittliche Heiligung als mechanisch-psychischen Proceß zu denken. Wie die Rechtfertigung für den sittlichen Proceß dauernd Grundlage und Motiv, aber nie Ursache sein kann, so für den intellektuellen Proceß Fundament und Leitmotiv, nie Deduktionsprincip. Nun aber braucht das sittliche Leben einen substantiellen Geist, der nach Analogie der Ursache gedacht werden muß, und ebenso das intellektuelle Leben eine Wahrheitsphäre, die nach Analogie der Deduktion zu denken ist. Nach Analogie: denn in Wahrheit sind diese Reflexionskategorien überhaupt nicht gültig für die in Rede stehende Sphäre. D a aber auch der Gedanke des Motives nur analogische Bedeutung hat, so muß, um den Tatbestand zu erreichen, die entgegengesetzte Analogie herangezogen werden. Geist ist weder Willkür noch Zwang, aber er kann von dem reflektierenden Bewußtsein her nur als das Höhere der beiden erfaßt werden. Der substantielle Geist resp. das Deduktionsprincip ist aber eben das geforderte Konkrete, in dem die aktuelle Religion lebt. Dieses Konkrete muß nun einerseits die Negativität über sich tragen, vom absoluten Paradox her verworfen zu werden, andererseits die Positivität, sich ganz dem absoluten Paradox hinzugeben und insofern ganz von ihm bejaht zu werden. Die Christenheit schaut diese Doppelheit an in Christus und zwar dem Gekreuzigten. In ihm ist die konkrete Erfüllung des absoluten Paradox gegeben. Zugleich steht er als ein Konkretes, Relatives, Gegenständliches unter dem Zweifel. Die historische Kritik ist eine der Formen des Zweifels. Z u ihr gesellt sich die Problematik aus der Überzeugungssphäre, der Zweifel an den geistigen Schöpfungen. Beide Arten des Zweifels sind unendlich. Daraus folgt, daß der Glaube sich nie auf dieses Konkrete richten kann, insofern es Konkretes ist, sondern nur insofern es Offenbarung des absoluten Paradox ist. Besser: der Glaube richtet sich durch dieses Konkrete hindurch auf das absolute Paradox. „Hindurch", das bedeutet einerseits die Blickrichtung auf Christus hin, andererseits das Hinaus über ihn auf das Absolute selbst. Insofern nun in dem gekreuzigten Christus, in dem Christus, den wir nicht kennen nach dem Fleisch [2. Kor. 5 , 1 6 ] , diese Doppelrichtung realisiert ist, ist er absolut; aber nur insofern d a s wirklich der Fall ist. Darum ist der Kampf um die Absolutheit Christi der

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Kampf um die Möglichkeit, in Christus das absolute Paradox mit seinem vollen Nein auch über Christus rein anzuschauen. Dieser Kampf ist identisch mit der Geschichte des Christentums in seiner Auseinandersetzung mit Geist und Religion außer ihm. Eine Gewißheit a priori über den Ausgang dieses Kampfes gibt es nicht, wie auch nicht über die persönlich-sittliche Entwicklung. Aber das kann auch nie Gegenstand der Gewißheit, sondern höchstens der Überzeugung sein; denn es kann nie Gegenstand des Glaubens sein. Andererseits kommt dadurch in den Glauben selbst keinerlei Ungewißheit; denn er ist in sich ruhend in jedem Moment, wo durch dieses Konkrete hindurch das absolute Paradox gläubig bejaht wird. Eine Reflexion auf die Relativität des Konkreten, auf seine Bedeutung als Durchgangspunkt hat im Glaubensakt keinen Platz, weil es gar nicht auf das Relative dabei a n k o m m t , weil es wohl in der Vorstellung, aber nicht im vor|pa der Vorstellung, nicht in der „ M e i n u n g " , auf die sie gerichtet ist, enthalten ist. Auf die Erfassung des absoluten Paradox durch das Konkrete hindurch gründet sich nun die systematisch-praktische Theologie, die aus so viel verschiedenen Zweigen besteht, wie es Kulturfunktionen gibt, in denen das Religiöse sich auswirkt. Es entsteht auf diese Weise eine Gestaltung des Denkens im Anschluß an das konkrete Moment des theologischen Princips und unter Leitung des absoluten Paradox. Es entsteht eine Gestaltung des Anschauens und ebenso der Personwerdung, des Gemeinschaftslebens, der Rechtsbildung im Anschluß an das konkrete M o m e n t und unter Leitung des absoluten Paradox: Kultus, Heiligung, Gemeinschaft, Kirche und die entsprechenden systematisch-praktischen Wissenschaften: "Glaubenslehre, Kultuslehre, 9 2 Heiligungslehre, Gemeinschaftslehre, Kirchenlehre. Der Gegenstand dieser theologischen Arbeit ist Christus als das konkret gewordene Paradox, aber nur als das, unter strengster Fernhaltung jeder historischen, autoritativen und gegenständlichen Bindung. Das Material dieser Arbeit ergibt die Kontinuität des mit Christus zusammenhängenden Geistes, dessen erste, aber keineswegs maßgebliche Form das biblische, insonderheit synoptische Christusbild ist, dessen weitere Formen die ganze Kirchengeschichte bis zur

"

Über gestr.: D o g m a t i k

'2

Über gestr.: Ethik

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unmittelbaren Gegenwart ausmachen. Die Norm, der tragende Grund und das leitende Princip dieser Arbeit ist das absolute Paradox, wie es in gläubiger Gewißheit bejaht und in schöpferischer Überzeugung aufgefaßt wird. Alles aber, was unter das absolute Paradox gestellt wird, steht unter ihm, steht unter dem in ihm "enthaltenen Nein, das im lebendigen Proceß der Überzeugung nur abstrakte Bedeutung hat, aber im Augenblick des Zweifels sofort höchste Aktualität gewinnt. Damit ist der im Anfang erhobenen Forderung Genüge getan, ein theologisches Princip zu finden, das einerseits objektive Bedeutung hat, andererseits das Moment der Subjektivität in sich trägt, das den Zweifel nicht überwindet, sondern in sich aufnimmt. Wir hatten aber gleichzeitig gesehen, daß das Spannungsverhältnis von absolutem Paradox und konkretem Moment zu einem dritten, idealen Moment des theologischen Princips führt, in dem die Spannung als überwunden gesetzt ist. Der Sinn dieser Forderung wird deutlich durch eine Betrachtung des Verhältnisses von absolutem Paradox und Kulturfunktionen. Durch die Aufnahme des Zweifels in das theologische Princip ist die Möglichkeit vergangen, ein autoritatives System der specifisch religiösen Kultur im Unterschied von der autonomen profanen Kultur zu schaffen. Es gibt vor dem unendlichen Zweifel weder eine solche Autorität noch eine besondere Gegenständlichkeit religiöser Art, die neben oder gegen die übrigen Gegenständlichkeiten treten könnte. Das absolute Paradox trägt sein Ja und Nein über die ganze Welt des Seins und der Werte, über das ganze Ich. Es gibt keinen Winkel, der sich ihm entziehen könnte, d.h. es gibt nichts, was vor dem absoluten Paradox als nur profan gelten könnte. Andernfalls müßte ja ein bestimmtes Konkretes als heilig, neben andern als profan aufgefaßt werden, was einen der Rechtfertigung widerstrebenden Perfektionismus der heiligen Sphäre ergeben würde. Es gibt vor dem absoluten Paradox keine spezifisch heilige Sphäre mehr. Damit ist die Grundlage einer Theologie der Kultur gelegt, die die Verwirklichung des absoluten Paradox in der Teleologie der Kulturschöpfungen sieht 94 . In jeder Kulturschöpfung ist die Spannung des Ja und Nein enthalten, jede hat damit religiöse Qualität, freilich

"

Über gestr.: lebendigen

94

Folgt gestr.: und fordert

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nicht jede in gleicher Kraft. J e tiefer die Paradoxie, der Widerspruch von J a und Nein in einer Kulturschöpfung enthalten ist, desto stärker ist sie religiös. Es ist nötig, dafür eine ganz bestimmte Gesetzmäßigkeit aufzustellen, nach der die Kulturtheologie zu forschen hat. Jedenfalls gibt es vom absoluten Paradox aus an sich religiöses Denken, abgesehen vom Glaubensbegriff, an sich religiöses Anschauen in Kunst und Natur, abgesehen von den Kultusformen u.s.f. Theologisches Princip und Kultur Das konkrete M o m e n t des theologischen Princips ist dem absoluten unterstellt. Es wird von ihm im religiösen Lebensproceß verneint und bejaht zugleich und dadurch fortgetrieben zu immer neuen schöpferischen Synthesen. Eine autoritative Bindung ist ausgeschlossen. Es gibt kein absolutes Offenbarungsmedium im supranaturalistischen Sinne und darum keine Begrenzung des religiösen Processes in irgend eine Richtung. Damit ist aber auch der Zwiespalt zwischen Religion und Kultur aufgehoben. Die unendliche Subjektivität des modernen Geisteslebens ist ein M o m e n t des religiösen Princips selbst geworden. Die Religion ist dadurch weit geöffnet für das Einströmen jeder Art schöpferischen Geistes. Es steht nicht mehr religiöser Glaube gegen profanes Denken, Gewißheit gegen Problematik, sondern auf dem gemeinsamen Boden der gläubigen Bejahung des absoluten Paradox wächst hier wie dort bedingte und doch inhaltsvolle Überzeugung. Sie können einander entgegengesetzt sein und miteinander ringen, aber als gleichberechtigte. Weder kann die in religiösen Zusammenhängen erwachsene Überzeugung sich mit der Absolutheit des Glaubens decken, noch kann die in profanen Zusammenhängen geborene Überzeugung die Autonomie des Denkens für sich in Anspruch nehmen. Beide müssen sich unter das absolute Paradox stellen, um überhaupt einen Boden unter die Füße zu bekommen, und beide müssen sich in autonomen Formen darstellen, um als Überzeugung gelten zu dürfen. Dadurch aber ist der Gegensatz von profaner und heiliger Sphäre überhaupt principiell aufgehoben. Es ist alles profan, nämlich autonom begründet, und es ist alles religiös, nämlich unter dem absoluten Paradox stehend. An Stelle des Zwiespalts tritt eine vollkommene Einheit, der Forderung entsprechend, die das dritte M o m e n t des theologischen Princips idealiter erhebt. Ihre unendliche Erfüllung gibt die Theologie der Kultur, die Darstellung des in jeder Kultur-

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Schöpfung enthaltenen religiösen Gehaltes, der Offenbarung des absoluten Paradox in dem Geistesproceß überhaupt. (Über die Kulturtheologie s. meinen demnächst erscheinenden Aufsatz in den Vorträgen der Kant-Gesellschaft: „Über die Idee einer Theologie der Kultur".) Somit erfüllt die Theologie des Paradox auch die Aufgabe, unterhalb des sichtbaren Gegensatzes der Kulturelemente ein Princip der Einheit zu finden, in dem der Zwiespalt überwunden ist. Schluß: Der richtige und falsche Gebrauch des Begriffes Paradox Der Begriff des Paradox ist zahlreichen Mißdeutungen ausgesetzt. Er ist immer in Gefahr, ein Ruhebett der „faulen Vernunft" zu werden, die alle Probleme mit der Statuierung eines Paradox 95 zu erledigen sucht. Es kann nicht übersehen werden, daß gerade die Theologie des konkreten Paradox derartige Neigungen befördert hat. Das liegt in der Natur der Sache. Das Moment, das wir in dieser Theologie nachgewiesen haben, macht sich eben auch darin bemerkbar, daß der Konstatierung konkreter Paradoxien gar keine Grenzen gesetzt werden können. Dem kann man nur entgehen, wenn man das Verhältnis der Paradoxie zum Logischen klar formuliert. Es liegt nun im Wesen des Logischen, daß es in seiner Sphäre keinerlei Ausnahme gestatten, daß es aber auch keine Sphäre zulassen kann, in der es nicht regiert, sobald überhaupt gedacht werden soll. Hier ist nirgends Platz für ein Paradox. Das credo quia absurdum ist innerhalb der Sphäre des Gedanklichen ein asketischer Akt der geistigen Selbstzerstörung. Es gibt nur einen Ort, wo das Paradox gesucht werden kann, im logischen Princip selbst. Nur wenn dem Logischen selbst ein antilogisches Moment immanent ist, kann mit Recht von einem Paradox gesprochen werden. Das ist nun aber der Fall. Sobald der Satz a=a verlassen und zu dem Satz a=b übergegangen wird, ist etwas schlechthin Antilogisches in den logischen Proceß aufgenommen. Das „Andere", das doch dasselbe sein soll, diese letzte Paradoxie der Einheit von Wesen und Widerspruch, von Identität und Differenz, von Rationalem und Irrationalem, die jedem logischen Akt immanent ist, ist nun die Grundlage jeder logisch möglichen Erfassung des Paradox. Es

95

Folgt gestr.: abbricht

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gibt im Grunde nur eine, nämlich diese dem Logischen wesentliche Paradoxie; alles andere sind nur konkrete Anwendungen dieser einen und müssen von ihr ableitbar sein. Das trifft nun auch auf die Paradoxie in unserem Sinne zu. Die Einheit und der Gegensatz von Absolutem und Relativem ist nur eine andere Formulierung für die Einheit von Wesen und Widerspruch, Identität und Differenz (vgl. mein Buch über „Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung"). - Aber nicht auf diese Formel kommt es an. Sie trifft nur die äußere Schale des absoluten Paradox und ist brauchbar als Abwehr gegen denkträgen oder denkasketischen Mißbrauch dieses Begriffes. Als Formel ist sie Denkwerk, Gesetz, und steht unter dem Zweifel. Auch über sie wie über alle „Vernunft" aber erhebt sich der Glaube, der das Unbedingte selbst erfaßt, das absolute Paradox.

2. Version (Typoskript) Rechtfertigung und Zweifel Entwurf zur Begründung eines theologischen Prinzips Einleitung: Das doppelte Problem A. Der Zwiespalt des Geisteslebens und die Möglichkeit eines Princips der Einheit Die Historiker führen die problematische Lage des gegenwärtigen Protestantismus auf den Widerspruch zweier Grundelemente zurück: die mittelalterlich-supranatural-autoritative und die modernimmanent-autonome Weltanschauung. Über die Art des Gegensatzes ist man je nach der persönlichen Stellungnahme sehr verschiedener Meinung. Viele fassen den Gegensatz als ausschließlich auf. Die moderne Kultur stehe dem mittelalterlichen und altprotestantischen System schlechthin feindlich gegenüber, sie bedeute etwas durchaus Neues, mit dem Alten Unvereinbares. Wichtiger als diese Auffassung reiner Gegensätzlichkeit der Grundelemente unserer Kultur sind die Versuche, eine Einheit zu finden. Sie unterscheiden das protestantische vom mittelalterlichen System und schreiben dem Protestantismus eine Art Übergangs- und Vermittlungsstelle zu. Der Protestantismus wird gewissermaßen a priori Vermittlungstheologie. Hier gibt es nun zahlreiche Abstufungen. Man kann den Protestantismus mit der Renaissance zusammenstellen und ihn zum Anfang des Neuen

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machen; man kann ihn aber auch mehr dem Mittelalter annähern und ihn lediglich zum Möglichkeitsgrund [des Neuen] machen, das erst mit der Aufklärung zum Durchbruch kam. Troeltsch in seiner Abhandlung über den Protestantismus in der „Kultur der Gegenw a r t " * 6 unterscheidet die wesentlich mittelalterlichen M o m e n t e im Protestantismus von denjenigen, die der modernen Kultur einen Ansatzpunkt gaben. Aber daß sich tatsächlich etwas daran ansetzte, führt auch er auf die Aufklärung zurück, deren Wurzeln anderswo liegen. Immerhin besagt das Bild des Ansatzpunktes, daß zwischen Protestantismus und modern-autonomer Kultur eine innere dialektische Beziehung besteht. Für den Systematiker ist es nun gerade dieses dialektische Verhältnis, das ihn zur Beachtung zwingt, auch abgesehen davon, o b und inwieweit es historisch wirksam geworden ist. Er wird dabei einen Schritt weiter gehen müssen als der Historiker. Er wird nicht nur die Punkte aufzuweisen haben, über die sich der Übergang von einem zum andern vollzogen hat, sondern er wird diese Punkte selbst wieder zu verstehen suchen aus einem letzten Prinzip, das unterhalb der sichtbaren Übergangsstellen liegt; er wird mit der Möglichkeit rechnen, daß unterhalb der Schicht des sichtbaren Gegensatzes der gegenwärtigen Kulturelemente eine Schicht der Einheit liegt, die unmittelbar nicht zur historischen Wirksamkeit gekommen ist. Es wird also die systematische Frage gestellt, o b unterhalb des sichtbaren Gegensatzes der modern-protestantischen Kultur eine Einheit vorhanden ist, die, einmal zum Bewußtsein gebracht, die Zwiespältigkeit des religiös-kulturellen Lebens zu überwinden im Stande wäre. M a n könnte dabei so vorgehen, daß man den Gegensatz scharf formulierte, seine beiden Seiten auf ein letztes Prinzip zurückführte und durch logische Analyse eine letzte Einheit zu entdecken suchte. Aber dieser Weg ist nicht gangbar. Der Charakter beider Seiten des Gegensatzes reagiert dagegen: Das Absolutheitsbewußtsein des Religiösen kann nicht die formale Gleichsetzung der Religion mit einem außerreligiösen Prinzip zulassen; es würde dabei a priori verlieren und seinem Wesen zuwider behandelt sein. Umgekehrt ist es das Eigentümliche der aus der Aufklärung stammenden

"

Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die Kultur der Gegenwart. Hrsg. v. Paul Hinneberg. Teil I, Abt. IV, 1. II. Hälfte, Berlin und Leipzig 1 9 0 6 , 2 . stark veränderte und erweiterte Aufl. 1 9 0 6 ; neuer selbständiger Abdruck mit „ N a c h t r a g " zur Literatur, Berlin und Leipzig 1 9 2 2 .

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Kulturbewegung, ein inhaltliches Prinzip nicht zu haben, sondern lediglich das Formale, Bewegung, Subjektivität, Autonomie zu sein. Ein inhaltliches Prinzip würde nur wieder ein M o m e n t in der Bewegung, eine autonome Produktion sein und würde, falls sie sich absolut setzte, das Wesen dessen gerade verfehlen, was sie erfassen [wollte] 9 7 . Jener schematische Weg ist also ungangbar. Es bleibt nur noch der andere Weg, von dem Prinzip des Protestantismus auszugehen, es in immanenter Dialektik zu entfalten und auf einen Punkt zu führen, durch den es zum religiösen Prinzip des modernen Kulturbewußtseins werden kann. Wir können demnach unsere Aufgabe so bestimmen: Es soll gezeigt werden, daß das Prinzip des Protestantismus in sich ein M o m e n t enthält, durch dessen Entfaltung es in Einheit kommt mit einem auf Autonomie aufgebauten Geistesleben. Z u besprechen ist noch ein anderer Lösungsversuch, der in der Schule der spekulativen Theologie üblich war. M a n sah das Moment der Subjektivität, das im Protestantismus liegt, als denjenigen Punkt an, durch den er in Einheit kommen konnte mit der auf Subjektivität gegründeten Kultur. Aber die Subjektivität kann nie Einheitsprinzip werden, sie ist zunächst Negativität, und nur, insofern sie in ein Positives aufgenommen werden kann, ist sie selbst zur Position fähig. So ist es allerdings richtig, daß nur durch die im Subjektiven liegende Negation der Protestantismus sich als etwas Selbständiges erfassen und die moderne Kultur das Moment der unendlichen Kritik in sich aufnehmen konnte. Andererseits aber war es eine notwendige Konsequenz, daß die spekulative Theologie in ihrer Wirkung wesentlich auflösend war und bewirkte, daß man sich kirchlicherseits dem objektiven M o m e n t des Protestantismus, der Bibelautorität, wieder zuwendete, womit dann freilich die erstrebte Einheit schlechterdings aufgegeben und der peinvolle Konflikt zwischen Autonomie und Autorität über das M a ß verlängert wurde. Die spekulative Philosophie und Theologie hatte versucht, über die Subjektivität hinauszukommen und ein neues inhaltsvolles Kultursystem zu begründen. Der Versuch aber mußte mißlingen. Die in der dialektischen Methode enthaltene Negativität und Subjektivität richtete sich gegen das System selbst und brachte es zu Fall. Die spekulative Theologie hatte das Problem tiefer empfunden und war in ihrem Lösungsversuch großartiger als die nachfolgende autoritär-verkirch-

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Typoskript: wollen

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lichte Theologie. Aber sie hatte den Fehler gemacht, den Unterschied des protestantischen Formal- und Materialprinzips ohne weiteres mit dem Gegensatz von subjektiv und objektiv gleichzusetzen. Fiel nun mit dem Formalprinzip in Folge der Bibelkritik das objektive Moment hin, so blieb nur die reine Subjektivität übrig. Die neue kirchliche Theologie hatte wieder ein lebendiges Verständnis für das Materialprinzip, systematisch am bedeutendsten Ritsehl in seinem nach Sache und Titel ganz auf das Materialprinzip gegründeten Hauptwerk. 9 * M a n sah wieder den lebendigen religiösen Gehalt, die Fülle der Objektivität im Materialprinzip; die subjektivistische Deutung sank in die Niederungen des kirchenpolitischen Kampfes. Aber das Problem der Subjektivität blieb ungelöst. Die halbe Rückkehr zum Formalprinzip (Heraushebung des synoptischen Jesus oder des Gottesbewußtseins Jesu) konnte nicht befriedigen; sie bildete keinen Damm gegen die Wogen der religionsgeschichtlichen Betrachtung. Der Gegensatz steht von neuem in voller Schärfe vor uns, und die theologische Bewegung seit dem Zusammenbruch der spekulativen Theologie kann nur als ein eindrucksvoller Fingerzeig auf die im Materialprinzip enthaltenen religiösen Objektivitäten gewertet werden, als ein Wegweiser zum Ort der Lösung, nicht als die Lösung selbst. B. Das Problem der religiösen Subjektivität und die Antinomie" von Material- und Formprinzip Die Unterscheidung von Material- und Formalprinzip stammt zwar erst aus dem 19. Jahrhundert, drückt aber den Tatbestand, die innere Antinomie des Protestantismus vortrefflich aus. Einer logischen Kritik kann die Lehre freilich nicht standhalten: Eine Zweiheit der Prinzipien widerspricht dem Wesen des Prinzips. Prinzip bedeutet einen Anfang, der nicht nur das zeitlich und logisch Erste, sondern auch das sachlich Grundlegende enthält, das Erste nicht nur im Sinne des Zählens, sondern auch des Wägens, das Beherrschende, das den Fortgang ständig leitet. Spricht man von zwei Prinzipien, so hebt man entweder diesen Begriff von Prinzip auf oder man ordnet stillschweigend das eine dem andern unter, falls man nicht beide unbewußt unter eine Art drittes, höheres Prinzip stellt. Von zwei " "

Albrecht Ritsehl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 1-3, Bonn 1870-74. Typoskript: Autonomie

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angeblichen Prinzipien kann in Wahrheit nur eins oder gar keins Prinzip sein. Enthält das Materialprinzip den maßgebenden religiösen Inhalt einer Religion, das Formalprinzip den Ort, in dem der religiöse Gehalt maßgeblich zum Ausdruck kommt, so entsteht die Frage, welcher Übergang von einem zum andern besteht. Vom Materialprinzip aus ist zu fragen: Welches ist der Grund, den Inhalt gerade an diesem Ort zu suchen? Und vom Formalprinzip aus ist zu fragen: Welches ist der Grund, gerade diesen Inhalt herauszuheben? Beide Fragen können nur eine tautologische oder gar keine Antwort finden. Der einzige Grund, warum ein Ort genannt werden dürfte, in dem der Inhalt maßgeblich gefaßt ist, wäre der, daß an diesem Ort der gemeinte Inhalt vollkommen und ausschließlich zu finden [ist]. Dann aber ist das Formalprinzip eine Tautologie des Materialprinzips. Andernfalls müßte das Formalprinzip eine selbständige religiöse Begründung erfahren, und dann wäre diese Begründung ein zweites Materialprinzip. Konkret gesprochen: Entweder die Rechtfertigung in vollkommener Darstellung, aber nur sie und ihre Konsequenzen, ist in der Schrift enthalten; oder aber es gibt eine besondere Begründung der Schriftautorität, abgesehen von der Rechtfertigung. Der erste, irreale Fall würde ein besonderes Formalprinzip nicht begründen. Der zweite Fall würde eine Verdoppelung des Materialprinzips bedeuten. Das Umgekehrte ließe sich vom Formalprinzip aus in gleicher Weise zeigen. Die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip ist also im Grunde der Ausdruck für den Mangel eines Prinzips im Protestantismus. Im Katholizismus ist ein einheitliches Prinzip vorhanden: Die Kirche ist gleichzeitig der primäre Gegenstand der Religion und der Ort, an dem sie maßgeblich und in den jeweiligen Lehrentscheidungen eindeutig und vollkommen zum Ausdruck kommt. Der Katholizismus konnte diese Geschlossenheit durch Preisgabe des Moments der Subjektivität erreichen. Sein Prinzip ist a priori Negation der Subjektivität. Im Protestantismus ist die Subjektivität bejaht, sie ist im Materialprinzip enthalten, und sofort sucht das Objektive eine andere prinzipielle Verankerung, Formal-und Materialprinzip treten in Antinomie. Aus diesem Vorgang ist zu ersehen, daß mit der Aufnahme der Subjektivität in das theologische Prinzip eine Zwiespältigkeit eintritt, die berücksichtigt werden muß, wenn auch in anderer Form als der Lehre von den zwei Prinzipien: Das Prinzip muß das Moment der

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Subjektivität in sich tragen, muß die Zweiheit in sich aufnehmen. Der logisch unumgängliche Monismus der Prinzipienlehre wird durch Aufnahme der Subjektivität in das Prinzip dualistisch aktualisiert. Unter welchen Bedingungen ist das möglich? Nur so, d a ß das Prinzip jede mögliche Form der Subjektivität unter sich enthält, ohne selbst von der Subjektivität angetastet zu werden. Dieser Forderung wird aber nur das Unbedingte selbst 100 gerecht. Das theologische Prinzip m u ß also als erstes übergeordnetes Moment etwas Absolutes, seinem Wesen nach jeder subjektiven Kritik Enthobenes enthalten. Dadurch aber wird es unbrauchbar, als Prinzip einer bestimmten konkreten Religion zu dienen. In Bezug auf jedes Konkrete verhält es sich als übergeordnete Abstraktion, denn alles Konkrete ist relativ auf anderes Konkretes und damit der subjektiven Kritik zugänglich. Das erste Moment des theologischen Prinzips ist also an sich absolut und für das Bewußtsein abstrakt. Um wirklich aktuelles Prinzip werden zu können, braucht es ein zweites relatives, konkretes Moment. In diesem zweiten Moment ist die Wahrheit des sogenannten Formalprinzips enthalten: Es wird eine objektive Bindung gegenüber der ins Unendliche kritischen Subjektivität gewonnen. Aber diese Bindung steht dem absoluten Moment nicht gleichwertig gegenüber, sie steht unter ihm; denn alle Absolutheit liegt im ersten Moment des theologischen Prinzips; es steht als kritische Norm unbedingt über dem Konkreten und wird als Prinzip doch nur wirksam durch das Konkrete. In der Spannung dieser beiden Momente spiegelt sich die Spannung wieder, die die Subjektivität in das theologische Prinzip bringt. Nur in dieser Spannung kann es sich darstellen. Im Katholizismus ist die Subjektivität ferngehalten, das Relative absolut gesetzt, im Protestantismus waren zwei selbständige Prinzipien, die sich gegenseitig beschränkten; in der spekulativen Theologie sollte gewissermaßen ein drittes Moment zur Herrschaft gebracht werden, eine Synthese von absolut und relativ. Die Spannung sollte überwunden sein in einem subjektiv begründeten und doch als absolut gesetzten System. Nun kann man zwar von einem dritten Moment des theologischen Prinzips reden, aber nicht als realer Synthese, sondern als idealer Forderung. Die Aufhebung der Spannung kann als unendliches Ziel, nicht als empirische Lösung gesetzt werden. Der Katholizismus hat die Einheit des Prinzips durch Ausschluß der Subjektivität, die spekulative Theologie durch Aufbau auf die 100

Typoskript: unbedingte Selbst

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Subjektivität. Beide bringt die Subjektivität zu Fall. Der Protestantismus kennt weder die unmittelbare Einheit des Mittelalters, noch die synthetische Einheit der Romantik, er trägt in sich die Spannung. Diese Spannung ist zur Zerstörung geworden, weil sie zu einer Zweiheit von Prinzipien zerriß. Sie ist aber nicht Auflösung, sondern höchste Lebensspannung, wenn sie in sich ein übergeordnetes Moment trägt, das in jedem Augenblick mit dem Machtspruch des Absoluten die Einheit herstellt. Dieses Moment ist zu suchen. Unsere Frage hat somit die Doppelgestalt: Ist in dem Materialprinzip der protestantischen Theologie ein Element enthalten, durch das es befähigt ist, einerseits theologisches Prinzip eines Systems zu werden, das die Subjektivität in sich trägt, andererseits religiöses Prinzip eines Geisteslebens zu werden, das die unendliche Kritik in sich enthält ? Es ist die gleiche Frage in beiden Formen, und sie fordert gleiche Antwort.

Erster Teil: Beurteilung der Rechtfertigungslehre unter dem Gesichtspunkt der Paradoxie A. Synthetischer und paradoxer Charakter der Rechtfertigung Um den Sinn des protestantischen Materialprinzips, der Rechtfertigung allein durch den Glauben, für unsere Fragestellung fruchtbar zu machen, ist in erster Linie darauf zu achten, daß die ursprüngliche Konzeption dieses Begriffes in der paulinischen Lehre die paradoxe Bedeutung hat, mit Hilfe von Rechtskategorien in der Anwendung auf das Verhältnis von Gott und Mensch die Rechtskategorien in ihrer Geltung für dieses Verhältnis aufzuheben. Das richterliche Urteil Gottes über den Sünder ist nicht begründet in der realen Qualität des Beurteilten, sondern steht zu dieser in Widerspruch. Es kommt nun alles darauf an, sowohl in der weiteren Ausgestaltung der Lehre als auch in der Beurteilung der in der Kirchengeschichte vorgetragenen Lehrformen, den Maßstab anzuwenden, daß die Paradoxie des Rechtfertigungsurteils nicht abgeschwächt werden darf. Ritsehl hat in ähnlichem Interesse mit Recht den synthetischen Charakter betont: Das göttliche Urteil fügt dem Begriff des Sünders ein M e r k m a l hinzu, das nicht aus dem empirischen Bestand des sündigen Menschen analytisch gewonnen werden kann. Aber diese Formel ist noch nicht ausreichend. Sie kann nach Ritsehl auch von Katholiken und Sozinianern anerkannt werden und bedeutet nur,

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daß es sich in der Rechtfertigung um einen freischöpferischen Akt Gottes handelt. Das Wesentliche aber ist, daß dieser Akt den Charakter der Paradoxie hat. Diese 56£a, gegen die er verstößt, ist das Denken in den ethisch-juristischen Kategorien gerecht und ungerecht. Es ist darum deutlicher von dem paradoxen Charakter der Rechtfertigung zu sprechen. B. Die Abschwächungen der Paradoxie durch die Erlösungslehre Die Abschwächungen und resp. Aufhebungen der Paradoxie können ausgehen von der mit der Rechtfertigungslehre verknüpften Erlösungslehre oder von der Formulierung der Rechtfertigung selber. Im ersten Fall handelt es sich um einen Versuch, die juristischen Kategorien als erfüllt hinzustellen, ohne doch den synthetischen Charakter der Rechtfertigung anzutasten 101 . Dies geschieht durch irgendeine Variation des Stellvertretungsgedankens. Für den Stellvertretungsgedanken gilt die Regel: Je mehr seine Anwendung dazu führt, die Rechtfertigung zu einer Leistung des Stellvertreters zu machen, durch die sie für Gott möglich wird, desto mehr ist die Paradoxie geschwächt, und umgekehrt: Je mehr es das Werk Gottes selbst ist, der in dem Stellvertreter die Stellvertretung übernimmt, desto mehr ist das Paradox gewahrt. Wo Christus gewissermaßen zu einem Mittel wird, das für Gott unumgänglich ist, um den Weltzweck seiner Ehre zu verwirklichen, da wird die Rechtfertigung mechanisiert, Christus zu dem zentralen Teil eines Heilsmechanismus, der es Gott ermöglicht, an der Paradoxie vorbeizukommen. In diesem Falle pflegt sich die Meditation auf die Weisheit Gottes zu richten, der in der unrettbar scheinenden Lage einen Ausweg gefunden hat. Auch darin liegt noch das Gefühl des Staunens, der Überraschung, das Bewußtsein, daß etwas geschehen ist, was alle Erwartung übersteigt, was aber, einmal eingetreten, doch in seiner Vernünftigkeit eingesehen werden kann. Die Paradoxie ist subjektiv, in den anschauenden Menschen verlegt; sie ist aufgehoben, sobald sich das Denken auf den Standpunkt [Gottes] erhebt. Jeder derartigen Deduktion liegt die Voraussetzung zu Grunde, daß die Rechtfertigung für Gott an eine Bedingung gebunden sei. Das opus supererogationis Christi ist die Bedingung, die gewisserma-

101

T y p o s k r i p t : anzufassen (Hörfehler?)

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ßen die Unbedingtheit Gottes in der Rechtfertigung einschränkt. Andrerseits ist es freilich Gott selbst, der Christus sendet und die Bedingung erfüllt, die er sich selbst stellen muß. Richtet sich das Denken auf diese Seite der Sache, so gewinnt der Gedanke die Form, daß Gott in Christus selbst die Stellvertretung übernimmt. M a n könnte hier die theopaschitischen Paradoxien heranziehen, die, ursprünglich christologisch gemeint, einer Wendung auf den Rechtfertigungsgedanken fähig sind. Wo in mystischer und erbaulicher Rede die Hingabe des Sohnes als Leiden Gottes aufgefaßt wird, wo eine innertrinitarische Spannung angedeutet wird, da ist der Stellvertretungsgedanke nur noch die mythologische Ausdrucksform, durch welche die Paradoxie in einen innergöttlichen realen Proceß verlegt wird. Der mythologische Charakter dieser Gedanken verhinderte ihre theologische Durchführung. Für Mystik und Erbauung sind sie zweifellos immer von Bedeutung gewesen. Ziehen wir den abälardschen Lehrtypus heran, so ergibt sich vom Gesichtspunkt des Paradox folgende Sachlage: Insofern Abälard das Werk Christi als Liebesoffenbarung Gottes auffaßt, wird Christus nicht Real-, sondern Mitteilungsbedingung für Gottes Willensentschluß; dieser ist unbedingt, auch in Bezug auf Christus. Der bedingende Mechanismus des Heils ist vermieden. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Paradoxie in ihrer Reinheit zu erfassen. Aber es ist zugleich die andere Seite vernachlässigt: D a s mystisch-mythologische M o m e n t , die theopaschitischen Anklänge, verschwinden zu Gunsten der ethischen Kategorien. Aber gerade in der paradoxen Aufhebung der ethischen Kategorien liegt die Kraft des Rechtfertigungsgedankens. Es hat deshalb dieser Lehrtypus das Gefühl gegen sich, weniger tief zu sein als der andere. D a s Mythologische hat unter allen Umständen den Vorzug, vor einer moralisierenden Verflachung zu schützen, wenn es auch selbst in Gefahr steht, mechanistisch verkehrt zu werden. C. Die Abschwächungen der Paradoxie durch die Formulierungen des Rechtfertigungsgedankens selbst 1. Das dingliche Paradox des Katholizismus Im Katholizismus liegt das religiöse Paradox nicht im Rechtfertigungsgedanken, sondern in der Christologie. D a s Paradox des Katholizismus ist dinglich, das des Protestantismus persönlich. Darum können beide in der Formulierung nicht zusammenkommen. Die

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oft so ähnlichen Formeln decken etwas völlig Verschiedenes. Für den Katholizismus ist die Rechtfertigung nur die Fortsetzung der in der Menschwerdung realisierten Vereinigung 102 von göttlicher und menschlicher Natur durch die sakramentale Tätigkeit. Für den einzelnen ergibt sich daraus die Forderung, daß er sich bewußt in diesen dinglich-paradoxen Prozeß hineinstellt. Er muß ihn intellektuell anerkennen und sich ihm praktisch unterordnen, und von dem Maße, in dem er dieses tut, ist seine Gerechtmachung abhängig. Das Verhältnis zwischen Gott und ihm ist vermittelt durch eine Sphäre der Dinglichkeit und wird eben dadurch zu einem bedingten. Die Paradoxie wird als das objektive mysterium tremendum erlebt, der Glaube wird zur Unterwerfung. - Für den Protestanten ist das Paradox unmittelbar auf ihn selbst bezogen. Die dingliche Vermittlung spielt lediglich die Rolle der frohen Botschaft, daß Gott dem Sünder gnädig ist. Die Anerkennung dieser Botschaft in der subjektiv-persönlichen Wendung des „Für uns" ist die Form, in der das Paradox hier erlebt wird. Die mystische Betrachtung des dinglichen Paradox, wie sie sich bei Luther z.B. gegenüber der Geburtsgeschichte findet, darf nur als anschauliche Vergewisserung des persönlichen Paradox gelten. Damit ist die Grundlage für die absolute Erfassung des Paradox gegeben. Die relative, abschwächende Vermittlung des dinglichen Paradox ist aufgehoben. Es bedarf keiner Zwischenglieder, um an Gott heranzukommen. Der Glaube richtet sich unmittelbar auf ihn selbst. 2. Die Verdoppelung des Glaubens durch den Pietismus. Eine katholisierende Abschwächung der Paradoxie des Rechtfertigungsgedankens ist es auch, wenn pietistische Richtungen den Glauben zum Realgrund für die Rechtfertigung machen. Auch damit ist eine bedingende Vermittlung eingeschoben. Der Glaube würde sich nicht unmittelbar auf Gott, sondern zunächst einmal auf den eigenen Glauben richten und die rechtfertigende Kraft des eigenen Glaubens anerkennen. Die direkte persönliche Richtung wäre gestört durch ein bedingtes, unzuverlässiges, Schwankungen ausgesetztes Zwischenglied. Die Glaubensgewißheit wäre bedingt durch die wechselnde Glaubenskraft, d.h. sie wäre Ungewißheit. Glaube ist persönliche, unmittelbare auf Gott gerichtete Bejahung des Paradox

,02

Typoskript: Vereinigungen

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der Rechtfertigung, er ist ein Absehen von jeder Qualität des Glaubenden, auch derjenigen, daß er glaubt, und ein Hinsehen allein auf Gott. Nur dieser Glaubensbegriff entspricht der Unbedingtheit Gottes und der Absolutheit des religiösen Paradox. 3. Die krypto-analytischen Auffassungen des Rationalismus Abzulehnen sind vom Gesichtspunkt des absoluten Paradox aus ferner diejenigen Fassungen der Rechtfertigung, die sie gründen auf die in der Wiedergeburt gesetzte prinzipielle Änderung des Sünders oder auf] 1 0 3 den als zukünftig von Gott vorausgesehenen Heiligungsprozeß, so daß die Rechtfertigung vom Standpunkt des Sünders aus synthetisch, von Gott aus analytisch wäre. Eine derartige Unterscheidung nach göttlicher und menschlicher Betrachtungsweise ist aber unmöglich, da ja die Einsicht in den Standpunkt Gottes den Menschen veranlassen würde, sich zu ihm als dem wahren zu erheben. Dadurch würde die Rechtfertigung auch vom Standpunkt des Sünders aus analytisch werden. Der Blick würde sich unwillkürlich auf den Heiligungsprozeß richten, durch den Gott gerechtfertigt würde für sein paradoxes Urteil. 4 . Rechtfertigung und Verzeihung. Es ist in der neueren, namentlich von Ritsehl beeinflußten Theologie üblich geworden, die Rechtfertigung durch den ethischen Akt der Verzeihung zu deuten. Die Verzeihung hat unmittelbar einen M o ment der Paradoxie in sich, insofern der Tatbestand der Verfehlung als nicht vorhanden beurteilt wird. Aber diese Paradoxie hat keinen Bestand, sie löst sich rational auf, entweder psychologisch-kausal oder ethisch-teleologisch. Entweder wird die Verfehlung übersehen, weil sie nicht so eingeschätzt wird, daß eine Reaktion unter allen Umständen [notwendig] ist; oder sie wird vergeben zum Zweck der Wiederherstellung einer ethischen Gemeinschaft. Insofern nun eine solche unbedingt sittliches Ideal ist, ist die Verzeihung ethisch rationalisiert. - Die erste psychologische Rationalisierung kommt für Gott nicht in Betracht, obgleich sie in der Praxis der Frömmigkeit eine große Rolle spielt. W o die zweite ethische Rationalisierung vorgenommen wird, ergibt sich eine Verschiebung der Paradoxie. D a ß G o t t dem Sünder verzeiht, ist rational begründet in seinem

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Willen, mit ihm in Gemeinschaft zu kommen. Daß aber Gott in Gemeinschaft kommen will, ist paradox. Nicht darin liegt jetzt die Paradoxie, daß der heilige Gott den Sünder bejaht, sondern darin, daß der ewige Gott den vergänglichen Menschen zur Gemeinschaft mit sich zuläßt. Die Vergebung ist ein notwendiges und darum rationales Mittel für diesen Zweck. Damit aber ist die Gefahr einer neuen Rationalisierung gegeben, nicht mehr einer psychologisch-ethischen, sondern einer logischmetaphysischen. Das Verhältnis von unendlich zu endlich ist der Logik zwar nur durch ein Paradox zugänglich, aber da dieses Paradox als logisch notwendig eingesehen werden kann, so bekommt es eine rationale Selbstverständlichkeit. Es wird abhängig von dem bedingenden Zwischenglied einer logischen Reflektion und verliert seine unmittelbaren Beziehungen auf das persönliche Leben. Es wird zu einem selbstverständlichen Hintergrund der gesamten geistigen Existenz, auf den keine besondere Aufmerksamkeit mehr fällt. Die absolute Lebensspannung, die das religiöse Paradox gibt, geht verloren, das Geistesleben wird profan. D. Der Glaube als Akt und als Gegenstand Die Paradoxie der Rechtfertigung kann nur dann rein erfaßt werden, wenn die Rechtfertigung allein durch den Glauben kommt. Nur dadurch erhält sie ihren schlechthin unbedingten Charakter. Dazu gehört: 1. daß im Glauben das Paradox schlechthin als Paradox erfaßt wird ohne Rationalisierung mythologischer (Anselm), ethischer (Abälard, Ritsehl) oder logischer Art (Identitätsphilosophie); 2. daß das Paradox in persönlicher, unmittelbarer Weise erfaßt wird, nicht in dinglicher, vermittelter Weise (Katholizismus); 3. daß die Erfassung des Paradox nicht selbst wieder Gegenstand des Glaubens wird, weder vom Standpunkt des Menschen (Pietismus) noch vom Standpunkt Gottes. Die spekulative Frage nach der Entstehung des Glaubens (Freiheit - Prädestination) folgt aus einer rein objektiven Betrachtung des Erwählungsproblems. Es ist aber durchaus falsch, die psychologischmetaphysische Frage nach der Entstehung des Glaubens mit der phänomenologischen Frage nach dem Wesensgehalt des Glaubensaktes zu vermengen. Dieser Wesensgehalt ist völlig unabhängig von der genetischen Frage zu behandeln; ja die Unabhängigkeit gehört zu seinem Wesen. Wo in den Glaubensakten die Reflektion auf den Akt

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als Werk eindringt, da ist er verdorben, auch wenn er prädestinatianisch als Gottes Werk gedeutet wird. Denn in diesem Falle nimmt Gott gewissermaßen einen umschaffenden Akt vor, nämlich die Bewirkung des Glaubens, ehe er rechtfertigen kann. Sein Urteil gründet sich auf einen von ihm bewirkten Tatbestand, womit die katholische und pietistische Erweichung der Paradoxie gegeben ist. Der Glaube als Akt der Bejahung [des]104 Paradox kann niemals objektives Heilskriterium werden; er würde die Paradoxie aufheben. Da aber jeder andere Maßstab eben durch die Rechtfertigung unmöglich gemacht ist, so kann es das Problem der Erwählung überhaupt nur als geschichtsphilosophisches und psychologisches geben, nicht aber als unmittelbar religiöses. Wenn wir eine Formulierung des Paradoxen suchen, so müßte ein Satz gefunden werden, in dem der logische Charakter der Paradoxie einerseits, der persönliche unbedingte Charakter des Glaubens andrerseits zu deutlichem Ausdruck kommt. Dazu eignet sich am besten das Ja und Nein der Urteilsform, das im Sprachgefühl sowohl einen logischen als auch einen stark emotionalen Klang hat. Das absolute Nein und das absolute Ja über den Menschen als ein einheitlicher Akt Gottes, der gerichtet ist auf denselben Menschen in seinem gesamten empirischen Bestände. Das ist die Paradoxie der Rechtfertigung und die unmittelbare persönliche Bejahung dieses Urteils, die Anerkennung sowohl des Ja als auch des Nein oder vielmehr der Einheit beider als göttliches Urteil über mich, das ist der Akt des Glaubens. E. Die begrenzte Bedeutung der Rechtfertigung für das theologische System bei den Dogmatikern Es ist bekannt und in der Schule Ritschis mit Recht gegen die Orthodoxie geltend gemacht, daß die Rechtfertigung in der orthodoxen Dogmatik durchaus nicht die Stellung eines maßgeblichen Prinzips bekommen hat, sondern immer mehr zu einer dogmatischen Lehre neben andern geworden ist. Nachdem sie in der pietistischorthodoxen Antithese noch eine entscheidende Rolle gespielt hatte, wurde sie von der Mitte des 18. Jahrhunderts an in ihrer Bedeutung durch das Formalprinzip zurückgedrängt. In den Kämpfen um die

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T y p o s k r i p t : als

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Offenbarungslehre, die Christologie und die Gotteslehre konnte sie keine entscheidende Bedeutung gewinnen. Zwar versuchte es die Ritschl'sche Schule: Ritsehl, indem er von den Voraussetzungen der Rechtfertigung und Versöhnung sprach, Herrmann, indem er eine moralische Gottesgewißheit zu begründen versuchte. Es liegt nun aber im Wesen des Prinzips, daß es seine Voraussetzungen von einem höheren Prinzip bekommen muß. Sobald aber die Rechtfertigung von einem höheren Prinzip, etwa dem moralischen, abhängig gemacht wird, ist sie im Innersten getroffen. Die Folge dieser Sachlage war die, daß mit der Auflösung des Formalprinzips das religiöse Bewußtsein sein Fundament verlor. Der articulus stantis et cadentis ecclesiae, da er nicht selbst zum Fundament gemacht wurde, geriet in die allgemeine Unsicherheit hinein, und den Kirchen ist das cadere näher gerückt als das stare. Unter diesen Umständen ist die Frage naheliegend, ob denn die Rechtfertigung überhaupt fähig ist, im eigentlichen Sinne Prinzip zu werden. Darauf ist zu antworten, daß die Rechtfertigung in ihrer unmittelbaren Form zweifellos nicht dazu geeignet ist. Es ist richtig, daß der Kampf Luthers gegen die katholische Lehre der Kampf um ein neues Verständnis der Religion überhaupt und des Christentums insbesondere war. Diese beiden Größen aber waren vorausgesetzt. Das Gottesbewußtsein war bei Freund und Feind unerschüttert; ebenso das Offenbarungsbewußtsein den Heiden gegenüber. Diese beiden Sphären umschließen als größere Kreise das Problem der Heilsgewißheit; sie wurden nicht von ihm berührt und von ihm gestaltet. Von der Not des mit Gott ringenden Gewissens gibt es keinen direkten Weg zur Begründung der Gottes- oder Offenbarungsgewißheit, nicht einmal den höchst unsicheren des Postulates; denn die Sphäre der Heilsgewißheit setzt die beiden anderen voraus, nicht umgekehrt. Wenn Holl aus gewissen [Erscheinungen] der modernen Litteratur usw. den Schluß zieht, daß mit einem Erwachen des Schuldbewußtseins auch die Rechtfertigungslehre für den modernen Menschen Bedeutung gewinnen werde 1 0 5 , so hat er dabei die zweite ebenso notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer neuen Rechtfertigungslehre nicht in Betracht gezogen: Damit das zweifellos vorhandene Negativitätsgefühl, auch auf sittlichem Gebiet, zum Schuldbewußtsein werde, muß es bezogen sein auf ein Gottesbewußtsein. Hier allein aber liegt das religiöse Problem der Gegenwart. 105

T i l l i c h b e z i e h t sich hier w o h l a u f m ü n d l i c h e Ä u ß e r u n g e n v o n K a r l H o l l .

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Die Rechtfertigung in ihrer historischen Beschränkung auf das Problem der Heilsgewißheit ist also nicht imstande, theologisches Prinzip zu werden. Ein selbständiges theologisches Formalprinzip ist durch die Rezeption der Subjektivität unmöglich geworden. Die Subjektivität selbst kann kein Prinzip abgeben. Wohl aber kann sie aus der Rechtfertigung gewissermaßen ein Prinzip hervortreiben, das im Stande ist, theologisches Prinzip zu werden. Das ist nun zu zeigen.

Zweiter Teil: Die Rechtfertigung des Zweiflers A. Die Rechtfertigung und der Zweifel an den gegenständlichenVoraussetzungen der Rechtfertigung 1 0 6 [Aus dem Rechtfertigungsgedanken soll ein Moment herausgelöst werden, das ihm wesentlich ist und von ihm in begrenzter Form getragen und durchgesetzt ist. Diese Loslösung kann aber nicht auf dem Wege der Reflexion geschehen. Denn es soll ein religiöses Princip sein, das zu erarbeiten ist. Es kann nur ein religiöser Proceß sein, der hier zu beschreiben und in seiner dialektischen Notwendigkeit als Konsequenz der Rechtfertigungslehre zu verstehen ist. Es handelt sich um die Frage: Welche Bedeutung gewinnt der Rechtfertigungsgedanke für den Fall des Zweifels an den Voraussetzungen dieses Gedankens? Oder: Welche Formung gewinnt der Glaube durch den Zweifel an den ihm immanenten gegenständlichen Voraussetzungen? Wenn es das Wesen des Glaubens ist, das absolute Paradox zu bejahen, so kann die Frage nur so heißen: Welche Formung nimmt die absolute Paradoxie an, wenn diejenigen Voraussetzungen, die seine Formung innerhalb des Rechtfertigungsgedankens bedingen, in ungelöstem Zweifel stehen? Nach den Ausführungen des ersten Teils dürfte es deutlich sein, warum der Zweifel die Tatsache ist, die religiös zu verarbeiten ist. Er ist der religiös-konkrete Ausdruck für die Subjektivität, die in das religiöse Princip aufzunehmen ist. Der Akt, in dem das Subjekt sich von der substantiellen Einheit mit dem Objekt löst, in dem es sich selbst als unterschieden von dem Objekt und in seiner Freiheit ihm gegenüber erlebt, stellt es zugleich vor die Möglichkeit des Andersseins, der Zwei- und Mehrheit des Zweifels. Im Zweifel ist die

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Die folgende Seite des Typoskripts fehlt. Der entsprechende T e x t der 1. Version ist in eckigen Klammern eingefügt.

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Subjektivität rein aktualisiert, sie hat das Objekt verloren und noch kein neues gefunden; sie ist ganz in sich selbst. Darum ist Cartesius in seiner Formulierung so klassisch; in ihm erfaßt sich die Subjektivität als Grundelement der kommenden Kultur. Der Zweifel ist ein uneliminierbares Ferment des Geisteslebens geworden. Die Religion hat demgegenüber die höchsten Anstrengungen gemacht, Wege zur Überwindung des Zweifels zu zeigen. Sie hat damit im Grunde ein Repristinationsziel verfolgt; denn der einmal erwachte Zweifel ist überhaupt nicht zu überwinden, es ist sein Wesen, unendlich zu sein, wie die Freiheit des Subjekts unendlich ist. Es kommt aber darauf [an], den Zweifel] aufzunehmen in das religiöse Prinzip, nicht den ins Unendliche mißlingenden Versuch zu machen, ihn zu überwinden. Die Wahrheitsgewißheit, die auf reale Überwindung des Zweifels gegründet ist, bleibt ins Unendliche, d.h. sie bleibt Ungewißheit, wie die Heilsgewißheit, die auf reale Überwindung des Schuldbewußtseins gegründet ist, ins Unendliche, relativ, d.h. Heilsungewißheit bleiben muß. Ein gewissermaßen öffentlicher Ausdruck dieses Verhältnisses ist die Apologetik, durch welche die Kirche sich gleichwie durch ein intellektuelles Werk selbst rechtfertigt. Der peinliche, feineres Wahrheitsempfinden verletzende Eindruck dieses Werkes gleicht auf ein Haar dem peinlichen Eindruck der moralischen Werkgerechtigkeit. Vor dem Absoluten gilt nur das Absolute 1 0 7 . Das Absolute aber kann nur zum Relativen, nie das Relative zum Absoluten kommen. Der Zweifel an den gegenständlichen Voraussetzungen zwingt also dazu, den Rechtfertigungsgedanken auch auf das intellektuelle Gebiet zu übertragen. B. Heilsungewißheit und Wahrheitsungewißheit Die Parallele zwischen Heilsgewißheit und Wahrheitsgewißheit, die wir aufgestellt haben, ist für alles Folgende von größter Bedeutung. Sie setzt voraus, daß der Zweifel nicht dem Schuldbewußtsein untergeordnet, also zu Schuld wird, sondern sich zu einer selbständigen Sphäre erhebt, die nun stark genug ist, das Schuldbewußtsein von sich aus zum Gegenstand zu machen. Sobald die Sphäre des Wahrheitsbewußtseins selbständig geworden ist, wird sie zur übergeordneten, die die Sphäre des Heilsbewußtseins bejahen oder verneinen kann. 107

Typoskript: das Absolute auf intellektuellem Gebiet

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Der Zweifel als Heilsungewißheit bezieht sich auf die Gesinnung Gottes, der Zweifel als Wahrheitsungewißheit auf die Existenz Gottes. Das Erste setzt das Zweite voraus. Mit der Existenz Gottes wird die Objektivität gesetzt, über die eine Aussage gemacht werden soll. Heilsgewißheit im Sinne der Rechtfertigung setzt Wahrheitsgewißheit im Sinne der Existenz Gottes voraus. Heim faßt Heilsungewißheit und Wahrheitsungewißheit unter dem Begriff der „tiefsten N o t " zusammen. 1 0 8 Die Erlösung aus dieser N o t besteht im Eintritt in einen Zustand der Heilsgewißheit und Wahrheitsgewißheit. Die Erlösung wird vermittelt durch ein bestimmtes Konkretes, das zugleich Träger des Heils und der Wahrheit ist. Die nähere Analyse der Heimschen Gedanken, die weiter unten vorzunehmen ist, wird zeigen, daß auch bei ihm eine wirkliche Gleichsetzung beider Momente nicht vorliegt. Vielmehr ist im Begriff der „tiefsten N o t " die intellektuelle Seite de facto ihrer Selbständigkeit beraubt und demgemäß eine wirkliche Lösung des Problems nicht gegeben. Wenn wir in unserer Analogie bleiben wollen, so müssen wir sagen, daß Heim nicht den Rechtfertigungs-, sondern den Erlösungsgedanken auf das intellektuelle Gebiet anwendet. Nun aber widerspricht es der Autonomie des Denkens, von irgendetwas außer ihm Stehenden erlöst zu werden. Denn insofern es außer ihm steht, ist es Objekt des unendlichen Zweifels. Die Wahrheitsungewißheit kann wie die Heilsungewißheit nie auf realem Wege, sondern nur auf dem Wege des Paradox überwunden werden. C. Die Beurteilung des theoretischen Zweifels als Schuld 1. Die Voraussetzung dieser Beurteilung Die Beurteilung des Zweifels als sündiges Widerstreben wider Gott geht von der Voraussetzung aus, daß das Gottesbewußtsein in demselben Sinne zur menschlichen Wesenheit gehört wie etwa das sittliche Bewußtsein und daß darum der Zweifel an dem Inhalt dieses Bewußtseins eine Anlagewidrigkeit, eine Sünde ist. Der Zweifel wird dann als ein Mittel aufgefaßt, Gott fernzubleiben, mit Hilfe des theoretischen Wahrheitsbewußtseins sich Gott zu entziehen trotz der Instanzen, die im Innern dagegen sprechen. M a n gesteht also in

Karl H e i m , G l a u b e n s g e w i ß h e i t . Eine U n t e r s u c h u n g über die L e b e n s f r a g e der Religion. Leipzig 1 9 1 6 , S. 1 0 9 f .

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diesem Fall dem Theoretischen nicht zu, daß es ernsthaft ist, sondern erklärt es für bewußten oder unbewußten Selbstbetrug. Es entsteht nun die Frage, wie in diesem Fall die Überwindung des Zweifels zu denken ist. 2. Die gesetzlichen Konsequenzen dieser Beurteilung Wenn es gelingt, die besprochene Beurteilung des Zweifels als Sünde dem Zweifler einleuchtend zu machen, so wird der das Urteil über sich anerkennen und seinen Zweifel als bösen Willen von sich tun. Dorners Gewißheitslehre in seiner Pisteologie 109 ist ganz auf diesen Gedanken eingestellt. Er ist solange unbedenklich, als der Zweifel nur die Oberfläche berührt hatte, nur ein intellektuelles Spiel war, das abgebrochen wurde, als es drohte, ernst zu werden. Die Substantialität des Gottesbewußtseins, die Meerestiefe selbst war durch das leichte Kräuseln dieses Zweifels noch nicht bewegt; das Gleichgewicht stellte sich schnell wieder her. Es kann aber dieser Konflikt auch mit einem inneren Bruch endigen. Wenn die Substanz des Gottesbewußtseins erfaßt ist durch den Zweifel, aber die Bewegung nicht stark genug ist, die Dämme der traditionellen Auffassung zu durchbrechen, dann entsteht eine innere Kreisbewegung, die entweder nie zu Ende kommt, sondern an langsamer [Ermattung] stirbt oder der man sich durch einen Willkürsprung entzieht. Man ist nicht stark genug zum Zweifel an Gott mit gutem Gewissen; man ist zu tief in den Zweifel gekommen, um ihn mit gutem Gewissen aufzugeben. So entspringt man ihm, man unterdrückt ihn mit Hilfe des intellektuellen Bewußtseins, und das unterdrückte Wahrheitsbewußtsein setzt sich um in Fanatismus. Damit aber ist das religiöse Verhältnis von Anfang an verdorben. Auf der Schwelle zum Eintritt des Heiligen steht das asketische Werk des unterdrückten Wahrheitsbewußtseins. Alles Folgende, mag es noch so sehr im Sinne der Rechtfertigung [sich] vollziehen, leidet unter diesem Werk, das nicht Glaube ist, wenn es sich auch mit Pathos als solchen gibt. Darum ist es so verderblich für die Religion, den Zweifel zur Sünde zu stempeln. Er kann es sein, er kann der geschickte Schachzug sein, durch den man der absoluten Tiefe des Religiösen sich mit gutem Gewissen entziehen will. Aber wenn auch nur der Verdacht " " I.A. Dorner, System der Christlichen Glaubenslehre. Erster Band: Grundlegung der Apologetik. Berlin 1879, §§ 2-14.

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in dieser Richtung vorliegt, ist es falsch, ihn zur Behauptung zu erheben. Ist einmal der theoretische [Zweifel] da, so hat er, auch wenn er bloß Mittel zum Zweck des praktischen Libertinismus ist, das Recht, zu verlangen, eigengesetzlich [behandelt] zu werden. Es ist ja auch ein reiner Fall der beschriebenen Art kaum denkbar. Es wird immer ein M o m e n t Ernsthaftigkeit im Zweifel sein, sonst könnte er nicht einmal den Schein eines guten Gewissens geben. Dieses M o m e n t Ernsthaftigkeit genügt aber, um den ganzen Zweifel ernst nehmen zu lassen. Es widerspricht dem Rechtfertigungsglauben, mit Hülfe des moralisch-religiösen Gewissens das Wahrheitsgewissen zu erschlagen; denn jede derartige Abtötung schiebt zwischen den Glaubenden und den Gegenstand des Glaubens ein Bedingendes ein. Die Bejahung des Unbedingten wird abhängig von einer geistes-asketischen Selbstverstümmelung, die den Schein eines natürlich-psychischen Vorgangs erhält 1 1 0 . 3. Die antireligiösen Konsequenzen dieser Beurteilung Es kann noch eine andere Bewegung aus dem Zweifel mit bösem Gewissen folgen: J e n e Kreisbewegung, jenes Hin und Her zwischen dem Wahrheitszwang und Gewissenszwang, kann, wenn es keine der besprochenen Auswege findet, zur Verzweiflung führen; es kann sich aus dem ungelösten Zweifel das Gefühl des Verworfenseins entwickeln. Der unüberwindliche Zweifel an Gott offenbart das Verworfensein vor Gott, eine tiefe Paradoxie, die das Kehrbild der wahren Paradoxie ist, auf die wir führen wollen. Es entsteht hier gewissermaßen eine Verdoppelung Gottes: Der Gott, an dem gezweifelt wird, der gegenständliche, persönliche Gott der Lehre, des Gebets usf. auf der einen Seite und der Gott, der verwirft, die dunkle Objektivierung des erregten, unbefriedigten, verzweifelnden Bewußtseins auf der anderen Seite. Schuldig vor diesem Gott wegen des Zweifels an jenem und doch kein Bewußtsein um diese Unterscheidung, ein Ertragen der Qual dieser selbstvernichtenden Paradoxie. Welche „frohe Botschaft" kann hier befreien? Allein die, daß der Zweifel an dem G o t t im ersten, gegenständlichen Sinne keine Schuld ist an dem Gott im zweiten, urständlichen Sinne, daß Gott vor jeder Bestimmtheit und Gegenständlichkeit, bis hin zum logischen Existentialurteil die Wahrheit ist, zu der wir uns wahrhaftig und insofern

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Typoskript: enthält

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„gerecht" nur verhalten können durch den unendlichen Zweifel hindurch. Es gibt freilich noch eine andere unreligiöse Selbsterlösung, die notwendig eintritt, wenn jener andere Weg nicht beschritten wird: das ist der Gedanke: Ich bin nicht zur Religion bestimmt; ich bin von Natur unreligiös. Es gibt Leute, die können glauben, und andere, die können es nicht. Zu denen gehöre ich - und entziehe mich der ganzen Problematik des Religiösen.- Diese unreligiöse Lösung ist wohl in der Gegenwart die häufigste, weil überall die Unmittelbarkeit des Gottesbewußtseins erschüttert ist und weil die religiöse Lösung durch die Forderung des intellektuellen Perfektionismus, den Zweifel zu überwinden, um zum Glauben zu kommen, versperrt ist. 4. Die innere Unmöglichkeit dieser Beurteilung Der Zustand, in dem der Zweifel als Schuld empfunden wird und doch nicht überwunden werden kann, ist der typische Übergangszustand: Das Alte schafft dem Neuen ein böses Gewissen, um sich zu erhalten. Es ist ein Übergangszustand, der in sich unerträglich ist, der mit religiöser Notwendigkeit rückwärts oder vorwärts treibt. Denn die Erscheinungen des asketischen Sprunges oder der Verzweiflung können nie zu Normalerscheinungen des religiösen Glaubens werden. Um sich vor allgemeiner Religionsentfremdung zu retten, muß die Religion aus sich selbst den Weg finden; zurück geht es nicht. Ist die Subjektivität einmal als solche entbunden, so kann sie mit der ihr immanenten Unendlichkeit nicht mehr vernichtet werden, es sei denn durch das physische Sterben eines Kulturkreises. Die Religion muß also nach vorwärts, sie muß dem radikalen Zweifler das gute Gewissen lassen und ihm doch die Möglichkeit des Glaubens geben. Die Religion versucht es zunächst durch Überwindung des Zweifels in Form der Apologetik. Wir hatten die Apologetik als intellektuelles Werk charakterisiert, das als Werk mißlingen mußte. Die Notwendigkeit dieses Mißlingens soll nun durch eine allgemeine Gewißheitslehre, die zugleich eine Kritik aller Apologetik ist, aufgedeckt werden. D. Kritik aller Apologetik (allgemeine Gewißheitslehre) 1. Die Gewißheit der Evidenz Als Erst- und Grundform der Gewißheit betrachten wir die Gewißheit der Evidenz. Die Evidenz hat zwei Möglichkeiten: Evident ist die

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reine Form und der reine Inhalt. Die reine Form: denn sie ist die Art des Geistes, auf jeden Inhalt zu reagieren, sie ist für ihn konstitutiv und darum für den durch sie konstituierten Geist evident. Es handelt sich um die rein formalen Kategorien der Auffassung jeder möglichen Wirklichkeit. Von hier aus ist die Gewißheit irgendeiner religiösen Gegenständlichkeit nicht zu begründen, wohl aber die unmittelbare Gewißheit der Religion als einer Kategorie der Wirklichkeitserfassung. - Evident ist ferner der reine Inhalt, das schlechthin Unmittelbare, insofern es nichts ist als vorbegriffliches Bewußtseinsdatum. Jedes Urteil führt schon über diese Unmittelbarkeit hinaus und ist problematisch. Auch von hier aus ist eine religiöse Gegenständlichkeit nicht zu begründen, wohl aber besteht die Möglichkeit, religiös gefärbte Data unmittelbar evident zu erfassen. Daraus folgt nun die Beurteilung aller Versuche, die religiöse Gewißheit auf dem Wege der Evidenz apologetisch zu begründen. Es kommt in erster Linie in Betracht der ontologische Versuch, das Gottesbewußtsein aus der Evidenz der reinen Form abzuleiten. Dieser Versuch hat Gültigkeit nur unter Voraussetzung der realistischen Logik. Es ist also der Kritik des Nominalismus ausgesetzt und entbehrt der Evidenz. Darum sind die zahlreichen Versuche der spekulativen und älteren Vermittlungstheologie, auf dem Wege über das Absolute den Gottesbegriff zu erfassen, zwar durchaus berechtigt. Aber sie schaffen keine Evidenz, sie sind für den Zweifler, den sie heilen sollen, „ W e r k " . „Das Absolute ist ein G ö t z e " , wie Kähler zu sagen pflegte - mit Unrecht, wenn er dem philosophischen Denken einen Vorwurf machen wollte, mit Recht, wenn er ablehnte, die religiöse Gewißheit auf dieses Produkt nicht evidenten Denkens zu gründen. Ebensowenig wie die formale kann die materiale Evidenz zur Gewißheit des religiösen Gegenstandes führen. Sie brauchte dazu den Schluß von der Wirkung auf die Ursache und verließe damit die Sphäre der reinen Zuständlichkeit, die allein Evidenz hat. 2 . Die praktische Gewißheit a. Praktische und pragmatische Gewißheit W o unter Verzicht auf Evidenz die religiöse Gewißheit in die Sphäre der unmittelbare[n] praktischen Gewißheit gestellt wird, tritt sie in Analogie zu der Gewißheit, die Gegenstände, eigenes und fremdes Innenleben aus der unmittelbaren Anschauung heraus haben können. In diesen Fällen, zu denen die weitaus häufigen Tatsachen des praktischen Lebens gehören, wird der Zweifel nie aktualisiert, es sei

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denn in den seltenen Fällen, wo der Traum oder traumähnliche Geisteszustände vor die Realitätsfrage stellen. Diese praktische Gewißheit ist nicht zu verwechseln mit [pragmatischer] 1 ". Die [pragmatische] 112 Gewißheit würde sofort aufhören, wenn der Begriff der pragmatischen Wahrheit Überzeugungskraft bekommen hätte. Wären wir gewiß, daß unsere Gewißheiten] nur Lebenszweckmäßigkeiten sind, so würden sie aufhören, gewiß zu sein. Ist der Pragmatismus also wahr, so ist er seiner Konsequenz nach unwahr, nämlich unzweckmäßig, lebenswidrig. Er hebt sich also selbst auf. b. Das psychologische Ich und die Gegenstände Praktische Gewißheit bedeutet, daß unser Realitätsgefühl keineswegs auf das psychologische Ich [beschränkt ist]113 und von da aus fortschreitend die Wirklichkeit mehr oder weniger sicher erobert, daß vielmehr unser Realitätsgefühl a priori unterhalb des Gegensatzes von Ich und Gegenstand liegt. Die Bemühungen Heims, die Exklusivität der Raum-, Zeit und Ich-Punkte zu überwinden" 4 , der Nachweis Schelers 115 , daß das Problem des fremden Innenlebens a priori falsch gestellt ist, gehen auf diese praktische Gewißheit. Unser Realitätsgefühl nimmt a priori Inneres und Äußeres, fremdes und eigenes Innenleben mit der gleichen Unmittelbarkeit auf, ist aber auch imstande, an allem, auch dem eigenen psychologischen Ich, zu zweifeln und es mit allen Dingen in das Jenseits des Traumhaften, Unwirklichen, Verschleierten zu heben. Nicht das psychologische, sondern das erkenntnistheoretische Ich ist der ruhende Punkt der Evidenz. Das psychologische Ich steht ihm näher als jeder andere Gegenstand, und das Innere wieder näher als der Leib, und dieser als die übrigen Gegenstände. Aber dieser Gradabstufung steht die prinzipielle Distanz gegenüber, die das erkenntnistheoretische Ich von jeder Realität scheidet. Das Realitätsgefühl richtet sich auf einen Lebensstrom, der durch das physische Ich wie

112 113

1,5

Typoskript: praktischer Typoskript: praktische Typoskript: begründet Glaubensgewißheit, S. 98-105. Max Scheler, Die Idole der Selbsterkenntnis, in: Abhandlungen und Aufsätze, 1. Aufl., Bd. II. Leipzig 1915; 2. Aufl. erschienen unter dem Titel: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze 2. durchgesehene Aufl. Leipzig 1919.

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durch die fernsten Gegenstände der Vergangenheit und der Raumferne und der personalen Scheidung hindurchgeht und sie in die Einheit der praktischen Gewißheit zusammenschließt. Dieser Strom der praktischen Gewißheit, diese Sphäre des Realitätserlebens ist prinzipiell unbegrenzt. Sie kann alles umfassen, was den Bedingungen dieses Stromes angepaßt ist, d.h. was in unmittelbare Beziehung treten kann zu dem das erkenntnistheoretische Ich tragenden psycho-physischen Ich. Diese Gewißheit ist freilich niemals Evidenz, jeder ihrer M o m e n t e ist von der Evidenz her problematisch. Der Strom selbst aber als solcher hat die Evidenz der absoluten Unmittelbarkeit, selbst dann, wenn unser Realitätsgefühl überhaupt keinen Gegenstand mehr findet. Dann hat eben das Erlebnis der ins Schattenhafte transponierten Wirklichkeit als solche Evidenz. c. Anschauungs- und Erlebnisgewißheit Wenn die Apologetik die religiöse Gewißheit in die Sphäre der praktischen Gewißheit einreiht, so m u ß sie zwei Voraussetzungen machen. Sie muß den religiösen Gegenstand in den Prozeß der praktischen Realitätserfassung hineinstellen und seinen Bedingungen unterstellen, und sie muß zweitens eine psychische Beziehung zwischen dem psychischen Subjekt und dem religiösen Gegenstand behaupten. Für die ursprüngliche Religion liegt da kein Bedenken vor. Die Theophanien, auf die das Erlebnis der ursprünglichen Religion zurückgeht, haben durchaus die Kraft praktischer Gewißheit. J a , es liegt nicht einmal ein erkenntnistheoretischer Grund vor, den Umkreis der Wirklichkeitserfahrung auf das den bekannten Sinnen Zugängliche zu beschränken. Die Behauptung des Okkultismus und der Theosophie, Schauungen anderer Art als die gewöhnlichen zu haben, aber mit mindestens der gleichen praktischen Realitätsgewißheit, ist a priori weder abzulehnen noch anzunehmen, sie würde darum apologetische Kraft nur für die Träger derartiger Schauungen haben. Für die übrigen würde eine rein psychische Einwirkung des religiösen Gegenstandes anstelle dieser höheren physischen treten. Das entsprechende Realitätsgefühl wäre mit der Vorstellung eines psychischen Wesens unanschaulicher Art verbunden. Dieses ist die weitaus häufigste Form der praktisch-religiösen Gewißheit, die rein psychische Erlebnisgewißheit, die die Grundlage der Erfahrungstheologie 1 1 6 abgibt. Wir hatten gesehen, daß die praktische Gewißheit an die Selbstgewißheit, an das psycho-physische Ich geknüpft ist. Das einzelne 116

Typoskript: Erfahrungstheorie

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Element dieses Erlebnisstromes hat nun um so mehr praktische G e w i ß h e i t , je inniger es mit der Selbstgewißheit des psycho-physischen Ich verbunden ist, so nämlich, d a ß seine Verneinung eben dieses auch verneinen w ü r d e . Dasjenige, dessen Bezweiflung unmittelbar die Bezweiflung meiner eigenen psycho-physischen Existenz mit sich f ü h r e n w ü r d e , hat die höchste praktische Gewißheit, aber Evidenz w i r d auch dadurch nicht erreicht. Denn daß Ich, d.h. mein psycho-physisches Ich, ist o d e r so ist, ist keineswegs evident. Evident ist nur, d a ß es sich bewußt ist, zu sein o d e r so zu sein. Das Bewußtsein aber k a n n seine Beziehung auf Realität nicht n u r theoretisch abstrakt, sondern in gewissen psychischen Vorgängen auch k o n k r e t und praktisch aufheben und sich rein in [sich] selbst o h n e Beziehung auf ein reales Subjekt erfassen. Anschauungs- und Erlebnisgewißheit k ö n n e n es somit niemals zur Evidenz bringen. Das a b e r ist f ü r das religiöse Bewußtsein zu wenig, die Gottesgewißheit m u ß auch in Zuständen der Ungewißheit um irgendeine Realität, einschließlich der eigenen psycho-physischen, fest bleiben. Zahlreiche mystische Aussagen über das Versinken des eigenen Ich gerade bei der höchsten Gottesgewißheit können darüber belehren. d. Kritik der Erfahrungstheologie Es fragt sich nun aber, ob die religiösen Erfahrungen überhaupt bis zu der höchsten praktischen Gewißheit f ü h r e n . W i r hatten gesagt, d a ß sie ihrer Intention nach sogar d a r ü b e r hinausgehen. W i r müssen jetzt sagen, d a ß sie ihrem Tatbestande nach nicht einmal bis dahin reichen. Der Zweifel an der Realität des religiösen Gegenstandes k a n n zu den schwersten religiösen Erschütterungen treiben. Er kann einen Z u s a m m e n b r u c h der gesamten geistigen Existenz zur Folge haben, aber er kann die Selbstgewißheit des Ich nicht aufheben. Im Gegenteil: in der Qual des Zweifels w i r d sich das psycho-physische Ich so f ü h l b a r w i e nur irgend möglich. Die Erschütterung, die der religiöse Zweifel bringt, ist nicht eine Erschütterung des Realitätsbewußtseins, sondern des Sinnerlebens der Wirklichkeit. Darin zeigt sich deutlich, d a ß die K r a f t des religiösen Realitätsgefühls sich nicht auf die Form der Realität, sondern auf die Bedeutung des als real erfahrenen Inhaltes gründet, im Unterschied v o n den Realitäten der täglichen Umgebung, die ohne wesentliche geistige Erschütterung fehlen könnten, deren Z w e i f e l h a f t w e r d e n aber das Realitätsbewußtsein überhaupt zersetzen w ü r d e n . Z u r Kritik der Apologetik aus praktischer Gewißheit ist auch auf die religiösen Konsequenzen hinzuweisen, die sie für die innere Be-

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wegung des theoretischen Zweiflers haben muß. Es liegt hier die genaue Analogie vor zu dem Versuch, die religiöse Gewißheit der Evidenz zu begründen. Dort wurde durch das intellektuelle Werk der Götze des Absoluten gebildet, hier wird durch das emotionale Werk die Theophanie der Erfahrung herbeigezwungen. Aber das Werk gelingt nicht immer. Und wenn es gelingt, steht es umso mehr dem Verdacht der Illusion offen, als es mit Anstrengung geschaffen wurde. Glaube ist diese seelische Selbstvergewaltigung nicht. Die apologetische Erfahrungstheologie ist ihrem Wesen nach ungläubig, sie richtet den Blick des Zweiflers auf die Tatsache statt auf den Inhalt der Erfahrung. Die Apologetik von Seiten der Erfahrung ist in noch viel höherem Maße als die von Seiten der Evidenz eine unerträgliche Last, die den Menschen auferlegt wird. Sie enthält eine argumentatio ad hominem, die in schwerste Gewissenskonflikte, künstliche Selbstübersteigerungen und leicht zu einer Haßreaktion gegen die Sphäre des Religiösen führt. Eins kann die praktische Gewißheit bei alledem von sich aus nie erreichen, die Absolutheit des religiösen Objektes. Radikale Empiristen wie James 117 enthüllen die Konsequenz der ganzen Richtung, wenn sie dem Polytheismus prinzipiell Raum geben. In der Tat kann die Gegenstandserfahrung immer nur zu überragenden Wesen, nie aber zu dem Absoluten führen. Denn was in die Gegenstandserfahrung eintreten soll, muß unter ihren Bedingungen stehen, muß in psycho-physische Beziehungen kommen können. Die Götter und selbst der eine Gott sind, von hier aus betrachtet, Weltwesen. Ihre Transcendenz ist bloß relativ auf die Sinnenwelt im gewöhnlichen Sinne oder auf die Sinnenwelt überhaupt, es sind psychische Wesen höherer Ordnung. Aber das Psychische ist etwas Innerweltliches. Die Qualität der Absolutheit führt auch über das Psychische hinaus und damit über die gesamte Sphäre der praktischen Gewißheit. 3. Die Gewißheit der Überzeugung a. Sprachliches über „Gewißheit" und „Überzeugung" Gegen die Bestimmung der religiösen Gewißheit als Überzeugung erhebt sich von vornherein ein Verdacht, der sich auf das Sprachge-

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William J a m e s , T h e Varieties of Religious Experience. N e w York 1 9 0 2 ; deutsch: Die religiöse E r f a h r u n g in ihrer Mannigfaltigkeit. Leipzig 1 9 1 7 , 2. Aufl. 1914.

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fühl gründet. „Religiöse Überzeugung" ist häufig die Formel des Relativismus, der jedem seine Überzeugung lassen will, weil [er] eine religiöse Gewißheit nicht kennt. Das Sprachempfinden läßt keinen Zweifel darüber, daß mit der Änderung der Gewißheit in Überzeugung eine Gewißheitsminderung verbunden ist, das Eindringen eines subjektiven Momentes, dem die durchaus objektiv empfundene Gewißheit wuchtig gegenübersteht. Es fragt sich, was diesem Sprachgefühl zu Grunde liegt. Auszuscheiden ist zunächst der Sprachgebrauch, nach dem Überzeugung nichts ist als eine Meinung mit praktisch unerheblichen ünsicherheitskoeffizienten. Vielmehr handelt es sich hier um die Überzeugung, hinter der die Persönlichkeit als Ganzes steht, um Überzeugung, wie sie Fichte als Merkmal der Ichhaftigkeit gemeint hat. b. Fichtes Überzeugungsbegriff und das Dasein Gottes Fichtes Begriff der Überzeugung bezieht sich nicht auf einen Gegenstand. Auch da, wo es sich um theoretische Wertungen handelt, sind es nicht Seinsurteile, sondern Sinndeutungen, die den Inhalt der Überzeugung bilden. Wenn Fichte den Wert eines Menschen davon abhängig macht, daß er eine Überzeugung hat, so meint er damit die freie Tat der Selbsterfassung des Ich, die Erhebung der freien sittlichen Persönlichkeit über die Sphäre des unmittelbaren, dumpfen und unbestimmten Bewußtseins. Insofern gibt es im Grunde nur eine Überzeugung, nämlich die Freiheit selbst, die Selbsterfassung und Selbstunterscheidung des Ich gegenüber allem Nicht-Ich, allem Dinghaften, Triebmäßigen, Unfreien. Da nun aber dieser einheitliche Akt sich entsprechend der zeitlich-räumlichen Mannigfaltigkeit in viele einzelne Akte zerlegt, so gibt es viele Akte der Überzeugung, in denen sich das Wesen der Überzeugung darstellt. Es ist deutlich, daß Überzeugung in diesem Sinne kein Akt gegenständlichen Erkennens ist. Eine Apologetik, die von hier aus arbeitet, kann es, wie Fichte selbst gezeigt und in schwerem Kampfe verteidigt hat, nie zu der Überzeugung bringen, daß Gott ist. Denn das Prädikat des Seins ordnet in die Sphäre des Gegenständlichen ein. Die Überzeugung im Sinne Fichtes führt zur ethischen und, was bei ihm dasselbe ist, zur metaphysischen Erfassung des Ich, niemals und nirgends zu einer Erkenntnis des Nicht-Ich. Wenn vom absoluten Ich die Rede ist, so ist damit nicht etwas gemeint, auf das das Ich sich als Gegenstand beziehen könnte, sondern es ist der im Ich miterfaßte absolute Geltungscharakter der Ichhaftigkeit. Jede metaphysische

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Hypostasierung des absoluten Ich macht es zu einem Nicht-Ich, hebt seinen Begriff auf. c. Die Überzeugung als schöpferische Selbsterfassung Fichte setzt voraus, daß es nur ein wahrhaft überzeugtes Verhalten zur Wirklichkeit gibt. Seit Schleiermacher, Hegel und der Romantik ist die Voraussetzung aufgegeben, und gerade das individuell bestimmte Ich hat metaphysische Bedeutung erhalten. Überzeugung wird jetzt Selbsterfassung in individueller und doch gültiger Form. Es entsteht der Begriff des schöpferischen Geistes, der in einer bestimmten konkreten Begrenzung doch das Allgemeine, Bedeutungsvolle gibt. Das künstlerische Genie wird zum maßgebenden Vorbild der Begriffsbildung. Von hier aus gesehen ist Überzeugung schöpferische Werterfassung. In der Sphäre des Gegenständlichen herrscht die Alternative „richtig-falsch", der individuelle Standpunkt ist zu über winden. [Er ist]11" mit dem Allgemeinen zu vereinigen zu dem Schöpferischen, das konkret und allgemeingültig ist. d. Kritik der Moraltheologie Es ist klar, daß auch diese Auffassung von Überzeugung zu irgendwelchen Gegenstandsurteilen nicht führen kann. Ihr Gewißheitscharakter liegt darin, daß hier ebenso wie in der Sphäre der Evidenz Subjekt und Objekt in einem sind. Das Objekt ist nichts, was dem Subjekt in irgendeiner Selbständigkeit gegenüberstände, es ist das gleiche, o b man von einer Erhebung des Subjekts in die Sphäre des Gültigen, Geistigen oder ob man von einer Realisierung der Wertordnung in einem konkreten Subjekt spricht. Es sind deswegen alle Versuche hoffnungslos, von der Wertsphäre aus zur Seinssphäre zu gelangen. Die nach Analogie des moralischen Gottesbeweises gebildeten Deduktionen können nie über ein Werterlebnis hinauskommen. Es ist auch nicht berechtigt, den Glaubensbegriff zu diesem Zwecke heranzuholen. Es liegt zwar eine Analogie vor zwischen der freien schöpferischen Tat der Werterfassung und dem Glauben als unbedingter Bejahung des absoluten Paradox. Es ist eben nicht das Unbedingte, das die Überzeugung erfaßt, sondern es sind Schöpfungen, die auch unter dem Nein stehen. Es ist keine völlige Loslösung vom Ich erreicht, sondern das Wertbewußtsein ist zugleich immer ein

" " Typoskript: Ist er

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gesteigertes Ichbewußtsein, und darin hat es seine Relativität: es ist mit hineingezogen in die Schwankungen und Gegensätze der individuellen Ichs, und es ist vor allem wehrlos gegenüber dem fundamentalen Erlebnis der Wertnichtigkeit. Die Apologetik hat zweifellos recht, wenn sie aus der Seins- in die Wertsphäre, aus der Evidenz und praktischen Gewißheit zu der Überzeugung hinführt; aber sie irrt, wenn sie meint, damit den religiösen Zweifel überwunden zu haben, sie hat das Wertgebiet eröffnet. Will sie mehr, so begeht sie eine urräßaais eis äXXo ytvos, das Charakteristikum aller moralischen Gottesbeweise. Vielfach wird der Glaubensbegriff dieser Apologetik so gewendet, daß man an den Zweifler die Forderung stellt, er solle es mit Gott versuchen, er würde es dann selbst merken, daß es das Rechte war. Das Wagnis des Glaubens wird zum Glaubensexperiment. Die Gewißheit wird nicht im Glaubensakt selbst gesucht, sondern in einer zukünftigen Erfahrung. D a s bedeutet aber, daß die Apologetik, die auf dem Überzeugungswege nicht über das moralische Bewußtsein hinausgekommen ist, zurückkehrt zum Erfahrungsweg, den sie eben verlassen hatte, aber in vergröberter Weise; denn das Glaubensexperiment ist ein Werk im bedenklichsten Sinne, und es zwingt, den Blick ununterbrochen auf das Ich zu richten, in dem ja das Experiment zur Durchführung kommen soll. Es ist ein typisch ungläubiges Verhalten, das hier gefordert wird. 4. Die Gewißheit des konkreten Paradox (Kritik Heims) a. Die Unmöglichkeit, das konkrete Paradox ohne Anwendung der Kategorien zu erfassen Die Kritik der Apologetik ist auch von Heim bis zur äußersten Konsequenz durchgeführt, und auch er sucht einen Punkt zu finden, der jenseits jeder Möglichkeit des Zweifels liegt. Dieser Punkt ist für ihn Christus, das absolute Konkretum. Damit jede Zweifelsmöglichkeit aufgehoben ist, darf es keinerlei Begründung für seine Bejahung geben. Keine Kategorie darf auf ihn angewandt werden. Seine Bejahung ist weder notwendig noch willkürlich, weder in Objektivitäten des Denkens, noch in Subjektivitäten der Persönlichkeit begründet. Diese Kategorien sind in ihm aufgehoben und finden erst in ihm ihre Begründung, und mit ihm alle apriorischen Formen des Denkens und Lebens: Zeit, Raum, Ruhe - Bewegung, Wirklichkeit Vorstellung, Ich, Kausalität, konkret-abstrakt u.s.w. Diese Formen sind nur Ausdrücke der tiefsten Not, in der sie alle unterzugehen

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drohen und aus der sie nur gerettet werden dadurch, daß der eine feste Punkt gefunden wird, der nicht in das dialektische Widerspiel hineingezogen werden kann. Mit welchem Recht und in welchem Sinne wird nun Christus zu diesem festen Punkt? Die Frage müßte von Heim abgelehnt werden; denn ein Recht aufweisen hieße ja auf etwas anderes Bezug nehmen, das die Rechtsbegründung abgeben müßte, und nach einem Sinn fragen hieße ja Sinnkategorien in Anwendung bringen, die ihren Sinn erst erhalten müßten. Aber Heim würde natürlich auch nicht zugeben wollen, daß seine Entscheidung ohne Recht und ohne Sinn vor sich geht. Kann er diese Konsequenz von sich abwehren? Ich glaube kaum. Nehmen wir an, daß im Moment der tiefsten Not, wo die Auflösung aller Kategorien bis zur letzten Tiefe erlebt ist, sich dem Bewußtsein verschiedene Konkreta als absolut anbieten, so ist eine Entscheidung nötig, die nicht nur die Kategorien „willkürlich", „notwendig", sondern auch alle übrigen Sinnkategorien in Bewegung setzt: In welcher Zeit, wo, unter welchen Bedingungen das absolute Konkretum erschienen ist, durch welche Vermittlungen es an mich herantritt, das sind alles Fragen, die nicht ohne Beantwortung bleiben können, wenn es sich um ein bestimmtes Konkretes handelt; denn nur durch Antwort auf diese Fragen wird es zu einem bestimmten Konkreten. Konsequenterweise müßte etwas gesucht werden, in dem nun wirklich alle jene Bestimmtheiten verschwunden wären, ein allen Kategorien schlechthin Transcendentes, Punktuelles, aber nicht ein in voller Breite vorliegendes innerkategoriales Konkretum. Oder, da Heim gerade auf diesem Konkretum [be]steht, so dürfte es nicht in Distanz gedacht werden mit dem in Not befindlichen Individuum, damit kein Akt der Wahl möglich wäre. Es müßte unmittelbar mit dem Zweifler identisch sein, da es ja schon die Möglichkeit des Zweifels konstituiert. Die Heimsche Deduktion hätte dann nur Sinn für jemand, der substantiell nicht aus der Einheit mit Christus herausgetreten wäre, für den die Begriffe „absolutes Konkretum" und „Christus" ohne weiteres Wechselbegriffe sind. Aber gerade dagegen richtet sich der Zweifel. - Ein entscheidender Punkt ist auch für Heim die historische Problematik seines konkret-Absoluten, das voraussetzungsgemäß in der Vergangenheit liegen muß. Er will sich dieser Debatte nicht entziehen durch Rückgang auf ein Faktum, das jenseits der Diskussion stände, vielmehr will er den Kampf durchfechten und zwar als ein[en] Teil des Kampfes um die Erlösung mit Furcht und Zittern.

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Aber nicht eine Diskussion innerhalb einer reinen theoretischen Geschichtswissenschaft ist gemeint; eine solche gilt als unmöglich. Sondern es kommt darauf an, den Punkt aufzuweisen, w o der historischen Diskussion Voraussetzungen innewohnen, die nicht mehr historisch zu erweisen sind. Es käme nun darauf an, zu zeigen, daß derartige Voraussetzungen von Bedeutung für die Lösung einzelner Fragen werden können. N u n ist zweifellos denkbar, daß in einer Geschichtsauffassung, in der Wunder möglich sind, viele Dinge anders aussehen werden als in einer solchen, in der sie a priori unmöglich sind, daß eine geschichtsmaterialistische und eine geschichtsidealistische Auffassung vielerlei Unterschiede in der konkreten Darstellung zeigen werden. Aber das gilt keineswegs für die Gesamtheit der Probleme, nicht einmal für die Mehrheit. So weit auch die Beurteilung auseinandergehen mag, so nahe werden doch die Feststellungen faktischer Art einander stehen. Heim übersieht, daß es methodische Ideale gibt, die allgemein anerkannt sind. M a g die zusammenfassende Geschichtsdarstellung von einem festen Punkt aus gegeben sein, der jenseits der Methodik liegt, die Einzelprobleme müssen weithin frei bleiben von der Einmischung dieser Auffassung, und sie können es auch. Die Aufspürung neuer Urkunden, ihre Deutung nach Analogie anderer derselben Gattung, die Glaubwürdigkeitsmerkmale u.s.w. lassen zwar alle einen subjektiven Spielraum, aber es gibt hier doch anerkannte Regeln, gegen die zu arbeiten als unwissenschaftlich zu gelten hat. Ist das aber zugegeben, so ist damit jedenfalls schon ein Teil der Entscheidung in die rein theoretische Geschichtswissenschaft gestellt und der praktischen Urentscheidung enthoben. Damit [ist] aber der Zweifel unüberwindlich geworden. b. Die Bedeutungslosigkeit des konkreten Paradox für die Begründung der Kategorien Deutlicher noch als in der Geschichtswissenschaft ist in den Naturwissenschaften die Unabhängigkeit der Kategorien von dem konkreten Paradox. Jener Punkt, der der Kausalität enthoben sein soll, ist für die reale Forschung bedeutungslos und kann dem Zweifel, der sich von der Naturwissenschaft her gegen die Religion erhebt, in keiner Weise abhelfen. Das gleiche gilt von den gesamten Kategorien. Ihre Erfassung ergibt sich aus der praktischen und wissenschaftlichen Gesamterfahrung der Menschheit. In ihr haben sie ihre Geltung nach den immanenten Geistesgesetzen, die die Wirklichkeit

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überhaupt konstituieren. Die Beziehung auf ein absolutes Konkretum bleibt eine abstrakte Erwägung, es sei denn, daß die Weltanschauungselemente, die etwa bei Christus historisch vorliegen, autoritative Bedeutung gewinnen sollen. Damit aber wäre ein unendlicher Konflikt geschaffen, der gerade dem, was Heim will, aufs Schärfste zuwider wäre. Es ist ein großartiger Gedanke, das gesamte theoretische und praktische Bewußtsein auf einen konkreten Punkt einstellen zu wollen. Er ist aber undurchführbar, denn jedes Konkrete hat eine existentielle Breite und gibt mit dieser Breite dem Zweifel unendliche Angriffsflächen. Heims Gedanke ist ein unrealisierbares Postulat. Wäre es realisierbar, so müßte es in jedem Moment der Geistesentwicklung schon realisiert sein. Wenn zugegeben wird, daß es auch außerhalb der bewußten Orientierung an Christus gelingendes Denken gibt, so ist damit die Absolutheit seines Konkreten [aufgehoben], es sei denn, daß dieses zu einer unbewußten Voraussetzung alles Denkens wird. Aber dann hört es auf, konkret zu sein, und wird zu der allen Zweifel in sich aufnehmenden absoluten Paradoxie der Wahrheitsgewißheit. c. Die heteronome Wirkung des konkreten Paradox Vom Rechtfertigungsgedanken aus ist über die Heimsche Apologetik zu sagen, daß sie nicht auf Rechtfertigung, sondern auf Erlösung zielt. Die tiefste Not und ihre reale Überwindung ist sein Grundschema, er braucht darum das Konkrete, das den Zweifel wie die Unseligkeit überwindet. Seine ganze Denkarbeit ist darauf gerichtet, die Wiedergeburt des Denkens zu bewirken. Aber er wagt es nicht, diesen Gedanken wirklich durchzuführen. Sonst müßte er die gesamte existentielle Breite des Christus dogmatisieren und ein System des intellektuellen Perfektionismus auf allen Gebieten einrichten. Es müßte eine wirkliche Herrschaft Christi im gesamten Geistesleben durchgeführt werden. Wird nun unter Christus ein irgendwie bestimmtes Christusbild verstanden, so wirkt all das, was unter diesem Bild zusammengefaßt ist, heteronom auf die Kultur ein. Es entsteht ein dogmatisches Erkennen, das dem autonomen Erkenntnisprozeß fremd gegenübertritt und zu einer Wiederholung der großen weltgeschichtlichen Konflikte zwischen Glauben und Wissen führt. Heim sucht dem Konflikt dadurch zu entgehen, daß er den ungläubigen Wissensprozeß zur Selbstauflösung und damit zur Hinwendung zum Glauben treibt. Aber der Glaube ist bei ihm die Bejahung eines

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Konkreten und damit eines Stückes Wissen unter anderem, das sich nun über alle anderen erhebt. In diesem konkreten Wissensstück ist die Vollendung faktisch gegeben, die sich nun in siegreichem Kampfe gegenüber allen Gegenwirkungen des weltlichen Denkens behauptet. d. Perfektionismus und Asketik der Apologetik des konkreten Paradox Heim gilt als Dogmatiker des modernen Pietismus. Er lehnt mit Recht auf intellektuellem Gebiet den kirchlichen Kompromiß a b , er hat darin seine große Bedeutung, daß er es wagt, den Zweifel radikal durchzuführen, daß er die ganze Unhaltbarkeit der üblichen Apologetik aufdeckt, daß er die ganze Wucht der gegenwärtigen theologischen Fragestellung sieht. Er führt bewußt vor ein ungeheuer bedeutungsvolles Entweder-Oder. Er wagt es, dem gesamten dogmatischen Denken der Vermittlungstheologie den Boden unter den Füßen wegzuziehen, weil er meinte, einen besseren wieder geben zu können. Seine kritischen Ausführungen sind meines Erachtens unwiderleglich. Seine positive Lösung kann nur so kritisiert werden, daß man zeigt: Er ist gezwungen, Voraussetzungen, die als solche abgelehnt waren, doch wieder in seine Lösung aufzunehmen. Dadurch gerät aber diese in eben die Unsicherheit, aus der sie befreien wollte. Es ist damit die genaue Analogie zu der ethisch-religiösen Einstellung des Pietismus gegeben: Das Grunderlebnis ist die Bekehrung. Durch sie ist die sittliche Not grundsätzlich überwunden. Es entsteht eine Sphäre der Herrschaft Jesu im einzelnen Menschen und im Kreise der Gemeinschaft, die sich gegen gewisse, der Konkretheit Jesu entgegenstehende Tatbestände einerseits abschließt, andererseits dieselben zu überwinden sucht. Der Rechtfertigungsgedanke spielt innerhalb dieses Systems [lediglich die Rolle], die außerpersönlich-dinglichen Kategorien des Katholizismus abzuwehren, er ist in keiner Weise Zentralgedanke. Das ist die Erlösung durch das konkrete Paradox. W o aber die Rechtfertigung nicht im Zentrum steht, da wird sie verletzt, so auch hier. Der Blick ist gerichtet auf das Erlebnis der tiefsten Not, das die negative Begründung für die Bejahung des konkret-Absoluten gibt. Sei es, daß dieses Erlebnis für die Gegenwart hervorgerufen [werden] soll, sei es, daß die Erinnerung daran immer wieder ähnliche Wirkungen ausüben soll, es handelt sich um eine Blickrichtung auf das eigene Ich. Eine unmittelbare Hinwendung auf Christus ist ja nicht möglich, da zwischen ihm und uns der Zweifel steht, der nur durch Rückgang auf das Erlebnis der

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tiefsten N o t überwunden werden kann. Der Weg dazu aber führt auf ethischem Gebiet über die Auflösung jedes autonomen Wertbewußtseins, auf logischem Gebiet über die Auflösung der autonomen Struktur des kategorialen Bewußtseins. Es ist ein negatives Werk, was zu leisten ist, aber es kommt alles darauf an, daß es geleistet wird. Dieses negative Werk der Niederreißung des gesamten Wertbewußtseins um des einen konkret-Absoluten willen ist aber genauso Werk wie das positive Werk eines Wertaufbaus, um dadurch die Gerechtigkeit zu erlangen. Es wäre kein Werk, wenn es schon die Wirkung des Ergriffenseins durch Christus wäre, wie etwa bei Paulus. Aber so liegt es hier ja nicht, sondern der Sinn dieses ganzen Niederreißens ist ja der, den Zweifel zu überwinden, der das Ergriffenwerden von Christus hindert. Es liegt neben dem Großen auch etwas Gewaltsames, Unnatürliches in der Heimschen Denkarbeit, es ist der letzte und genialste Versuch, den Zweifel zu überwinden: D a s System einer Theologie des konkreten Paradox. Sie ist unmöglich. Ihr muß gegenübergestellt werden der Versuch, den Zweifel aufzunehmen in diese Wahrheitsgewißheit: D a s System einer Theologie des absoluten Paradox. 5. Die Unüberwindlichkeit des Zweifels Mit dem Heimschen Versuch ist die Apologetik zu ihrer Vollendung und - ihrem Ende gekommen. Die Lage, in die der Zweifler dadurch gebracht ist, bedeutet eine ungeheure, tiefe Not. Denn wenn er auch mit gutem Gewissen zweifelt, so ist doch der drohende Verlust der Religion für ihn eine Ursache schwersten Druckes. In dem Gefühl, mit der Religion den Sinn des Lebens überhaupt zu verlieren, in einer Wüste der Sinnlosigkeit zu stehen, lebt der Zweifler am Abgrund der Verzweiflung, und doch muß er alle Verlockungen von Seiten der Verkündiger des Werkes, der kirchlichen und der pietistischen Apologetik, von sich weisen. Zu stark ist sein Wahrheitsbewußtsein, es läßt sich nicht auf Bedingtes und Kompromisse ein. Er will nicht erlöst sein vom Zweifel, weil er durch ihn sich erhebt über jede Heteronomie, jede Halbheit und Gebrochenheit, woher sie auch immer kommen mag. Jeder Priester, der ihm die intellektuelle Last erleichtern will, wird abgewiesen mit seiner Vermittlung, jede Erleichterung durch Gefühle und moralische Postulate, durch Scheinevidenzen und Scheinparadoxien wird hinweggetan. Sein intellektuelles Gewissen ist so scharf und unbedingt wie das ethische Luthers. Wo alle nur „Puppenmöglichkeiten" des Irrtums sehen, da sieht er den

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M a n g e l a n U n b e d i n g t h e i t , v o r der a u c h die h ö c h s t e W a h r s c h e i n lichkeit s o nichtig ist wie die leichtfertigste M e i n u n g . E s gibt f ü r ihn n u r z w e i W e g e : e n t w e d e r V e r z w e i f l u n g a m U n b e d i n g t e n , innerlich g e b r o c h e n e H i n w e n d u n g zu einem R e l a t i v e n o d e r d e n G l a u b e n , d a ß e b e n d e r Z u s t a n d , in d e m er sich b e f i n d e t , d e m W e s e n d e s U n b e d i n g ten a n g e m e s s e n ist, d a ß er in d i e s e m Z u s t a n d e d e s Z w e i f e l s die allein m ö g l i c h e Stellung d e m U n b e d i n g t e n g e g e n ü b e r e i n n i m m t . E . D e r G l a u b e als B e j a h u n g d e s a b s o l u t e n P a r a d o x 1. D e r p a r a d o x e C h a r a k t e r der G l a u b e n s g e w i ß h e i t D e r rettende A u s w e g a u s der N o t d e s Z w e i f e l s ist der G l a u b e und allein d e r G l a u b e , ein G l a u b e freilich, d e r nun keinen v o n den Inhalten m e h r h a b e n k a n n , a u f den sich d e r Z w e i f e l richtet, s o n d e r n der ü b e r die g e s a m t e S p h ä r e des Z w e i f e l s h i n a u s sich zu d e m erhebt, in d e m der G e g e n s a t z v o n Z w e i f e l n d e m u n d B e z w e i f e l t e m a u f g e h o ben ist u n d d a s in j e d e m Z w e i f e l , je u n b e d i n g t e r er ist, d e s t o deutlicher v o r a u s g e s e t z t ist. Die Notwendigkeit des Glaubens kann auch

folgendermaßen

gezeigt w e r d e n : D e r Z w e i f l e r sucht n a c h e i n e m A u s w e g a u s der als s i n n w i d r i g g e f ü h l t e n N e g a t i v i t ä t d e s Z w e i f e l s . Ein realer A u s w e g , eine A u f h e b u n g des Z w e i f e l s ist u n [ a u f ] f i n d b a r . E s bleibt nur der p a r a d o x e A u s w e g , im G l a u b e n zu b e j a h e n , d a ß der Z w e i f e l d a s Stehen in der W a h r h e i t nicht a u f h e b t . W e r gibt d a s R e c h t zu einem solchen Urteil? D i e F r a g e ist die gleiche, a l s sollte g e f r a g t w e r d e n , w e r g i b t d a s R e c h t z u m R e c h t f e r t i g u n g s g l a u b e n a u f e t h i s c h e m Gebiet? Wir hatten gesehen, wie alle V e r s u c h e , ein solches Recht zu b e g r ü n d e n , die P a r a d o x i e a u f h e b e n und G o t t unter B e d i n g u n g e n stellen. A b e r g r a d e die Unbedingtheit seiner G n a d e ist der Inhalt des G l a u b e n s . S o a u c h in der W a h r h e i t s g e w i ß h e i t : J e d e

Begründung

w ü r d e ja w i e d e r unter den Z w e i f e l fallen u n d der intellektuellen R e c h t f e r t i g u n g die K r a f t der P a r a d o x i e n e h m e n . D e r G l a u b e an die U n b e d i n g t h e i t des a b s o l u t e n P a r a d o x ist g e r a d e der Sinn des G l a u b e n s a u c h a u f d e m G e b i e t des E r k e n n e n s . 2. D e r G o t t des Z w e i f l e r s a n G o t t A u f d e m G e b i e t der ethischen R e c h t f e r t i g u n g bezieht sich der G l a u be auf G o t t als den T r ä g e r des R e c h t f e r t i g u n g s u r t e i l s . In der Erk e n n t n i s s p h ä r e ist d a s nicht m ö g l i c h , d a G o t t unter d e m Zweifel

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steht. Andrerseits kann nicht das zweifelnde Ich selbst Träger des Urteils sein, da das Urteil unbedingten Charakter haben muß. Die Dialektik des Zweifels treibt also zu einem Gott über Gott, zu einem Gott des Zweiflers, ja des Atheisten. In diesem Begriff konzentriert sich unsere gesamte Problematik. Welches ist der Inhalt des Begriffs? Es kann nach allem Vorausgegangenen keinen anderen Inhalt für diesen Begriff geben als den des Unbedingten selbst. Es liegt im Sinne dieses Begriffs, daß er einerseits hinausführt über das Ich, das sich ihm gegenüber als bedingt erfährt, andrerseits nicht hinführen kann zu einem Nicht-Ich, zu einem irgendwie Gegenständlichen, das ja auch jedes Gegenständliche bedingt. Es ist also das Unbedingte, das rechtfertigt, auch in Bezug auf den Zweifel an Gott. Das Unbedingte aber ist kein Seiendes. Wäre es ein Seiendes, so stände es unter dem Zweifel und könnte den Zweifler nicht rechtfertigen. Das Unbedingte ist ein Sinn, aber nicht ein einzelner Sinn; denn jeder einzelne Sinn steht unter dem Zweifel und könnte den Zweifler nicht rechtfertigen. Das Unbedingte ist der Sinn schlechthin, der Ausdruck dafür, daß überhaupt ein Sinn ist, die Setzung der Sinnsphäre. Indem das Ich das Unbedingte bejaht, bejaht es zugleich sich selbst als sinnvoll, erhält es erst einen Sinn. Ein Zweifel am Sinn schlechthin aber ist nicht möglich, da der Zweifel die Bejahung der Sinnsphäre bereits voraussetzt und zwar umso deutlicher, je tiefer er erlebt wird. Aber nicht dieser analytisch aus dem Zweifel zu entwickelnde abstrakte Begriff ist es, der die Rechtfertigung trägt, sondern der Sinn, der sich dem erlebenden Ich paradox offenbart, der Sinn, der ein unbedingtes J a und ein unbedingtes Nein gleichzeitig über den Zweifler bedeutet. Also nicht die abstrakte Erwägung, daß im Zweifel überhaupt ein Sinn vorausgesetzt ist, hilft weiter - sie ist noch Gesetz und kann erzwungen werden - , sondern nur die glaubensvolle, lebendige und persönliche Erfassung dieses Sinnes. Das Unbedingte kann nie anders als in der Doppelrichtung des J a und Nein über d e m ' " Glaubenden erfaßt werden. Das wußte die Religion zu allen Zeiten: Mystiker und Propheten sind darin eins. Denn diese Doppelrichtung bedeutet ja, daß es das Unbedingte ist, das ich erlebe, ich, der Bedingte, Relative, und daß ich es erlebe, wodurch ich teilnehme an seiner Unbedingtheit trotz meiner eigenen Relativität. Das Unbedingtheitserlebnis hat notwendig paradoxen

" * Typoskript: den

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Charakter und, was das gleiche ist, hat notwendig Glaubenscharakter; denn Glaube ist Bejahung des absoluten Paradox. 3. Das Unbedingte und die Wirklichkeit Das Unbedingte ist ein Sinn, nicht ein Seiendes. Welche Beziehungen hat es zum Sein? Wenn wir das reale Sein einteilen in das ontologische Sein, das Wertsein und das Ichsein, so ergibt sich zunächst, daß das absolute Paradox nicht bedeutet ein Seiendes über dem anderen Seienden, auch nicht das absolut Seiende, auch nicht einen Wert über andren Werten, auch nicht den absoluten Wert und nicht ein Ich über andren Ichs, auch nicht das absolute Ich. Denn dieses alles steht unter, nicht über dem Zweifel. Sondern das Unbedingte bedeutet, daß alles Seiende in paradoxer Weise den Sinn „absolute Realität" in sich trägt, daß alle Werte in paradoxer Weise den Sinn „absoluter Wert" in sich tragen, daß alle Ichs in paradoxer Weise den Sinn „absolutes Ich" in sich tragen, also durch das Seiende hindurch als dasjenige, wovon das Seiende unbedingt vernichtet und zugleich zu unbedingter Realität erhoben wird, und durch die Werte hindurch als das, wovon die Werte unbedingt entwertet und zugleich zu absoluter Wertung erhoben werden, und durch das Ich hindurch als das, wovon das Ich unbedingt zermalmt und zugleich zu absoluter Bedeutung erhoben wird - so offenbart sich der Sinn schlechthin, das Unbedingte, das absolute Paradox. 4. Die Anschauungsformen des Unbedingten Im Glaubensbegriff der Reformatoren ist als entscheidendes Moment die fiducia erga deum enthalten. Was wird aus der fiducia, wenn Gott unter dem Zweifel steht? Diese Frage ist gleichbedeutend mit der anderen: Wie kann von einem persönlichen Glauben die Rede sein, wenn er nicht gerichtet ist auf eine Persönlichkeit? Dem Sinn steht gegenüber das Seiende 120 , der Wert, das Ich. Zugleich aber sind alle drei unter dem Exponenten des Unbedingten im Sinn enthalten. Daraus erwächst nun dem absoluten Sinnerlebnis seine bestimmte inhaltliche Färbung: Es nimmt für das Bewußtsein die Züge des absoluten Seins, des absoluten Wertes, des absoluten Ichs an. Es wird nicht zu diesen dreien oder ihre Einheit; denn dann

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1. Version: Sein

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wäre ja an Stelle des Glaubens die Metaphysik getreten. Aber das Bewußtsein kann nicht umhin, das Unbedingte in diesen drei Formen zu hypostasieren. Es liegt hier gewissermaßen ein Schweben zwischen Anschauung und Begriff vor, ein Vergegenständlichen des Sinnes zu einem Seienden durch die Anschauung und ein Entgegenständlichen des Seienden zu einem Sinn durch den Begriff. Selbst in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wie der gegenwärtigen ist dieses Oszillieren nicht zu vermeiden; denn ohne dasselbe b e k o m m t alles eine unwahre Abstraktheit, die gerade von den Voraussetzungen des Gedankenganges selbst unmöglich gemacht wird. Erst recht in dem unmittelbaren religiösen Vorgang der gläubigen Bejahung des absoluten Paradox ist die Notwendigkeit einer anschaulichen Erfüllung des abstrakten Sinnbegriffs gegeben. Der Absolutheitscharakter, der durch das Paradox hindurch allem Seienden zukommt, wird für das Bewußtsein zur Teilnahme an einem l 2 1 absoluten Seienden. Die Unbedingtheitsqualität, die vermittels des Paradox alle Werte haben, wird zu ihrem Enthaltensein in einem absoluten Wert. Das absolute J a über das Ich, das in paradoxer Einheit steht [mit dem absoluten Nein], wird zu einer Gemeinschaft des Ich mit einem absoluten Ich. Darum bekommt die Hingabe an das absolute Paradox, an den Sinn selbst, eine Qualität des Vertrauens, die irgendeine Art Personifizierung des Sinnes voraussetzt. Sich hingeben an den Weltensinn in seiner ganzen paradoxen Tiefe, sich von ihm vernichten und erheben, verneinen und bejahen lassen und mit sich die ganze Welt des Seins und der Werte, das ist die fiducia in der Rechtfertigung des Zweiflers. Ihr Gegenstand nimmt Seinsgestalt an, ohne je als seiend gedacht werden zu dürfen, nimmt Persongestalt an, ohne je als Person gedacht werden zu dürfen. Denn alles, was Sein und Wert und Ich heißt, wird eingesetzt von dem absoluten Paradox, dem tragenden Sinn der Welt. Sobald sich das Bewußtsein auf die Stufe des radikalen Zweifels erhoben hatte, können jene Vergegenständlichungen nur als Offenbarungen gelten für die Lebendigkeit und Konkretheit des absoluten Paradox.

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T y p o s k r i p t : Absolutseienden

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3. Dritter Teil: D a s a b s o l u t e P a r a d o x als Prinzip der Theologie und Kultur ü b e r h a u p t A. D e r Parallelismus und die Einheit des Theoretischen und Praktischen Inwieweit die Ü b e r t r a g u n g des Rechtfertigungsgedankens a u s d e m ethischen in d a s intellektuelle Gebiet [berechtigt ist], bedarf noch einer B e g r ü n d u n g und Verdeutlichung. In beiden Fällen liegt ein Z u s t a n d vor, der d e m als normal erkannten Z u s t a n d widerspricht. Die F o r d e r u n g , die als unbedingt gültig erfahren w i r d , v o l l k o m m e n zu sein und in der Wahrheit zu stehen, ist unerfüllt geblieben und bleibt unerfüllbar. D e m Widerstreit zwischen sittlicher F o r d e r u n g und sittlichem T a t b e s t a n d entspricht der Widerstreit zwischen der F o r d e r u n g , in der Wahrheit zu stehen, und dem entgegengesetzten T a t b e s t a n d , der im Zweifel zum A u s d r u c k k o m m t . Der Widerstreit ist auf beiden Gebieten u n a u f h e b b a r , denn er ist gegeben mit der Selbstheit im Doppelsinne der ethischen Selbstbejahung und logischen Selbsterfassung. Die mit der biologischen Basis unmittelbar gesetzte Selbstbehauptung ist parallel der mit der psychologischen Basis unmittelbar gesetzten Selbstbeziehung. Ethisch und logisch ist d a s psychophysische Ich in sich selbst eingeschlossen. Darin besteht ein vollkommener Parallelismus. (Der Unterschied w ä r e nur der, d a ß die logische Selbstheit naturnotwendig und d a r u m a u f h e b b a r , die ethische Selbstheit durch Freiheit bedingt und d a r u m im sittlichen Prozeß überwindlich zu sein [scheint]). Es könnte eingewandt werden, d a ß insofern ein Unterschied besteht, als der sittliche T a t b e s t a n d durch Freiheit entstanden und in Freiheit geändert werden könne, der intellektuelle T a t b e s t a n d aber eine unabänderliche N a t u r g r u n d l a g e bedeutet. D e m ist zu entgegnen, d a ß die Entstehung des sündigen Z u s t a n d e s durch einen Akt der Freiheit für d a s begriffliche Denken die mythologische Ausdrucksf o r m des sittlichen Bewußtseins ü b e r h a u p t ist. Z u m Ausgleich für die Einseitigkeit dieses M y t h o s hat die Erbsündenlehre zu gelten, die d a s M o m e n t der N o t w e n d i g k e i t und Unüberwindlichkeit des sündigen T a t b e s t a n d e s zum A u s d r u c k bringt. Die Freiheit des Sündenfallsmythos und die Notwendigkeit der Erbsündenlehre bringen zusammen d a s widerspruchvolle Bewußtsein des sittlichen Soll und des widersittlichen M u ß zu gegenständlicher Anschaulichkeit. Umgekehrt enthält der radikale Zweifel neben dem Gefühl der unentrinnbaren Notwendigkeit zugleich d a s Gefühl des Sinnwidrigen, Nicht-

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seinsollenden. Es liegt also doch ein völliger Parallelismus vor. Verschieden ist nur die Beziehung beider Seiten. Beim Schuldbewußtsein ist ein ganz bestimmter Sinnzusammenhang vorausgesetzt: Gott, das eigene Ich mit seiner sittlichen Bestimmung u.s.w. Innerhalb dieser Realitäten erscheint nun die Sünde als die Gegenrealität, als das Störende und Zerstörende. Das Realitätsbewußtsein ist nirgends zweifelhaft. Beim Zweifel ist es gerade die Negation eines Sinnzusammenhanges überhaupt, die seine Kraft ausmacht 122 ; denn diese Negation wird zugleich als unmöglich, als sinnwidrig aufgefaßt. Die Sinnwidrigkeit der Sinnwidrigkeit, dieser Widerspruch wird erfahren, ohne daß die Möglichkeit [besteht], darüber hinwegzukommen. Nun wird auch die ganze Sphäre des Schuldbewußtseins problematisch, die Realität, die im Schuldbewußtsein so intensiv gefühlt wird, ist unterwühlt. Dadurch hat dieser Zustand eine viel größere Universalität als der des Schuldbewußtseins. Ist das Schuldbewußtsein wesentlich bezogen auf das eigene Ich, so wird hier alle Wirklichkeit und werden alle Werte hineingezogen in die Vernichtung. In beiden Fällen handelt es sich um Sein oder Nicht-Sein, im Falle des Schuldbewußtseins um Sein als sittliche Persönlichkeit, im Falle des Zweifels um Sein, das Sein eines Sinnes überhaupt. Nichtlösung des Widerstreits 123 führt in beiden Fällen zur Verzweiflung, im ersten Falle zur Verzweiflung am eigenen Lebenswert, im zweiten Falle zur Verzweiflung am Lebenssinn überhaupt.

B. Schuld und Verhängnis Die bisherige Vergleichung zwischen intellektuellem und ethischem Gebiet hat keine Rücksicht darauf genommen, daß auch in der Sphäre des Sittlichen selbst das Erkenntnisproblem eine entscheidende Rolle spielt. Damit sittlich gehandelt werden kann, muß zu erkennen sein, was gut und böse ist. Solange das Sittliche als göttlicher Wille durch Kirche, Schrift und Prophetie autoritativ übermittelt wird, besteht kein Problem. Sobald aber der Zweifel in Bewegung kommt, unterwühlt er die gesamte Sphäre der autoritativen Vermittlungen und macht auch vor der Stimme des eigenen, immer traditionell gebundenen Gewissens nicht Halt. Versuche, durch Vernunft-

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Typoskript: ausmachen Typoskript: Widerstreitung

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kritik zu inhaltlichen Evidenzen zu gelangen, bleiben erfolglos. Dadurch wird nun der sittliche Zweifel zu einem M o m e n t des sittlichen Prozesses, und die sittliche Schuld bekommt den Charakter des Tragischen. Sie wird wie der logische Irrtum zum Verhängnis. Freilich gilt das nicht von jedem Irrtum und jeder Schuld. Das, was als „Fehler und Schwächen" bezeichnet werden kann, liegt noch unterhalb des Geistesprozesses, in dem das Problem der Sünde und des Zweifels aktuell wird. Sie haben psychologische, keine direkt geistige Bedeutung. Nicht irrtümliche Schlüsse, Beobachtungen, Begriffsbildungen u.s.w. sind Ursache des Zweifels im religiös-metaphysischen Sinne, von dem hier die Rede ist, sondern die jeder großen geistigen Schöpfung anhängende Relativität, das Gericht, das der Geistesprozeß selbst an ihr ausübt. Ebenso im Sittlichen. Nicht Schwächen und Fehler machen unmittelbar das Verhängnis aus, nicht sie begründen die unentrinnbare Schuld, unter der wir alle stehen, sondern die unserem höchsten sittlichen Lebensprozeß anhaftende Unzulänglichkeit, die durch das Verhältnis zu andersartigen Lebensprozessen offenbar wird. Nicht unsere Sünden, sondern unsere Tugenden sind das, was die große metaphysische Schuld über uns bringt, die Relativität auch der vollendetsten Persönlichkeitsgestaltung. Die Sphäre der Fehler und Schwächen fallen, da sie psychologisch begründet sind, unter pädagogische Gesichtspunkte, sie sind zu überwinden durch Zucht, durch Konzentration und Übung, auch durch Askese und exercitia spiritualia. Sie gehören dem biologischpsychologischen Gebiet an und haben keine direkte Beziehung zum Lebensprozeß, wohl aber eine indirekte. Sie können als Ganzes Bedeutung gewinnen für den Lebensprozeß und als einzelne charakteristisch sein für gewisse Begrenztheiten dieses Prozesses. Aber immer nur durch diese indirekte Wirkung können sie von Bedeutung für den Glauben werden und zur Erhebung zum absoluten Paradox zwingen. Durch die Ausscheidung der rein psychologisch begründeten Irrtümer ist nun umgekehrt auch die intellektuelle Seite aufnahmefähig geworden für das M o m e n t der Freiheit und die ethische Seite. Die Stellung zur Wahrheit tritt dadurch in neuer Weise unter die Begriffe Schuld und Gnade. Das M a ß der Überwindung des Zweifels, die Tiefe, in der das Wesen des absoluten Paradox erfaßt wird, die Kraft, mit der das Realitätserlebnis zum Ausdruck gebracht ist, das alles gewinnt Bedeutung für den sittlichen Charakter selbst. Das intellek-

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tuelle Werden ist nicht ein rein logischer Prozeß, sondern ein Gesamtprozeß des geistigen Lebens, in dem das Logische zwar schlechterdings autonom bleibt, aber der Gehalt, den es zu fassen sucht, aus den letzten Tiefen der Persönlichkeit selbst strömt. Dadurch bekommt die intellektuelle Aufgabe ihren absoluten Ernst und zugleich die Nötigung, sich in jedem Moment unter das absolute Paradox zu stellen, durch das sie zugleich verneint und bejaht wird. C. Das absolute Paradox als Erkenntnisprinzip Durch die Erfassung des absoluten Paradox ist die grundlegende Sinnerfassung gegeben, die sich nun auswirkt in der Fülle weiterer Sinnerfassungen. Freilich ist das kein notwendiger Prozeß. Es gibt keine deduktive Methode, die von dem absoluten Paradox ein System der Gewißheit ableiten könnte. Die Heiligung des Denkens ist kein mechanisch-logischer Prozeß, der Zweifel kann nie absolut überwunden werden; denn seine Basis, die Selbstbeziehung des Ich, ist unaufhebbar. Andererseits kann das absolute Paradox nicht anders in das Bewußtsein treten als durch bestimmte Vorstellungen, Willens- und Gefühlsbewegungen. Es ist also in der primären Erfassung des Paradox, in dem absoluten Glaubensakt, schon ein M o ment der Relativität enthalten. Es gibt keinen Glaubensakt, der als empirischer Vorgang nicht bedingt wäre, und [er ist] nur in, mit und unter dieser Bedingtheit. Klärend für dieses Verhalten des Glaubens ist der von der phänomenologischen Schule gebrauchte Begriff des Meinens. Jeder Begriff meint etwas, zielt auf etwas hin, und dieses Gemeinte ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, durch die hindurch gemeint wird. So wird das Unbedingte gemeint durch bedingte Vorstellungen hindurch. Die primäre Erfassung des absoluten Paradox ist nun gleichsam der Ansatzpunkt für die weitere Ankrystallisierung der kulturellen Inhalte. Auch hier handelt es sich nicht um eine logische Deduktion, sondern um einen Leitbegriff für die letzte umfassende Synthese. In dem M a ß e , in dem in einem System das absolute Paradox lebendig hindurchschwingt und das Ganze beseelt und trägt, in dem Maße wird die Überzeugung sich der Gewißheit des Glaubens annähern, aber sie kann sie nie erreichen. In dem M o m e n t , wo ein geistiges System Glaubensgewißheit beansprucht, wird die Heiligung zur Bedingung der Rechtfertigung gemacht, wird das Logische über das Paradox gestellt und dadurch der Glaube aufgehoben. Wer sagt, es gebe für ihn keinen Zweifel, er

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habe die ganze Wahrheit, der lügt wie der, der sich keiner Sünde mehr bewußt ist, und doch sind Zweifel und Schuld prinzipiell aufgehoben, so daß der Gläubige mit Recht sagen kann: Insofern ich glaube, habe ich keinen Zweifel und keine Schuld. D. Die Absolutheit des Christentums Der Gesamtprozeß des geistigen Lebens, der begründet ist im Glauben als der Bejahung des absoluten Paradox, gilt nun nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft. Auch die religiöse Gemeinde hat durch die Erhebung des Zweifels zum Element des geistigen Lebens das Recht eingebüßt, sich selbst in einer konkreten Form absolutzusetzen. Die Kirche kann den intellektuellen Perfektionismus ebensowenig aufrechterhalten wie der einzelne. Ein Formalprinzip autoritativer Art ist unmöglich geworden. Damit fallen auch Begriffe wie Absolutheit des Christentums hin. Auch die Kirche ist auf Glauben angewiesen, auch sie muß in jedem Moment ihres intellektuellen Prozesses das Nein tragen, das vom Unbedingten her über sie ergeht. O b es darum Luthertum oder Katholizismus, Papst oder Konzilien, Bibel oder historischer Jesus, religiöses Bewußtsein oder spekulatives System, Christentum oder Monotheismus heißt, das absolute Paradox, die Unendlichkeit des Zweifels, die der notwendige Ausdruck ist für die Unbedingtheit des Unbedingten, verbieten die Anwendungen des Begriffes „absolut". Jede Absolutheitserklärung einer konkreten religiösen Erscheinung ist intellektueller Perfektionismus und tastet an die Majestät des Unbedingten. Die Kirche steht unter der Rechtfertigung, nicht über ihr, und mit ihr Bibel und Offenbarungsträger. Die Kirche wird hingegen in dem Maße sich der Absolutheit nähern, als sie das absolute Paradox für ihren gesamten Lebens- und Erkenntnisprozeß wirksam werden läßt. Dazu aber gehört als erste und grundlegende Bedingung, daß sie nicht von sich selbst urteilt, sie wäre in irgendeinem ihrer Lebensmomente, sei es Lehre, sei es Verfassung, sei es Besitz von Offenbarungsquellen, absolut. E. Das absolute und das relative Moment des theologischen Prinzips Wie der einzelne so ist auch die Gemeinschaft gezwungen, das absolute Paradox konkret zu erfassen und zu einem System oder Überzeugung in dem lebendigen Prozeß des Geisteslebens auszubilden.

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Zu diesem Zweck braucht die Kirche ein Konkretes, durch das hindurch sie das Unbedingte erfaßt. Dieses Konkrete muß nun einerseits das negative, andererseits das positive Urteil des Absoluten über sich tragen. Es muß von ihm zugleich verneint und bejaht werden. Die Christenheit schaut diese Doppelheit an im Christus, in ihm ist der Kirche die konkrete Erfüllung des absoluten Paradox gegeben, und doch steht auch er als ein Relatives, Gegenständliches unter dem Zweifel. Die historische Kritik ist eine seiner Formen, zu ihr gesellt sich der Zweifel an den geistigen Inhalten des Christusbildes. Beide Arten des Zweifels sind unendlich. Daraus folgt, daß der Glaube sich nie auf dieses Konkrete richten kann, insofern es konkret ist, sondern nur insofern es Offenbarung des Absoluten ist. Der Glaube richtet sich durch das Konkrete hindurch auf das Absolute. Hindurch, das bedeutet einerseits die Blickrichtung auf Christus hin, andererseits das Hinaus über ihn auf das Absolute selbst. Darum ist der Kampf um die Absolutheit Christi der K a m p f um die Möglichkeit, in Christus das absolute Paradox mit seinem vollen J a und Nein auch über ihn selbst rein anzuschauen. Dieser K a m p f ist identisch mit der Geschichte des Christentums und seiner Auseinandersetzung mit Geist und Religion außer ihm. Eine Gewißheit a priori über den Ausgang dieses Kampfes gibt es nicht, das kann höchstens Gegenstand der Überzeugung sein. Und doch kommt in dem Glauben selbst dadurch keine Ungewißheit, denn er ist in sich ruhend, in jedem M o m e n t , w o durch ein Konkretes hindurch das Absolute gläubig bejaht wird. Eine Reflektion auf die Relativität des Konkreten, auf seine Bedeutung als Durchgangspunkt hat im Glaubensakt keinen Platz, weil es dabei gar nicht auf das Relative ankommt. Eine nachträgliche Reflektion aber berührt gar nicht mehr den Glauben als solchen, sondern nur die Überzeugungsform, in der er sich ausdrücken muß. Auf das konkrete M o m e n t des theologischen Prinzips gründet sich nun die systematische Theologie, die aus so vielen verschiedenen Zweigen besteht, als es Kulturfunktionen gibt, in denen das Religiöse sich auswirkt. Es entstehen auf diese Weise Glaubenslehre, Kultuslehre, Heiligungslehre, Gemeinschaftslehre, Kirchenlehre entsprechend der religiösen Auswirkung im Erkennen, Anschauen, persönlichen Leben, Gemeinschaftsleben, Rechtsleben. Das Material dieser Arbeit ergibt sich aus der Kontinuität des von Christus ausgehenden Geistes, dessen Gestaltungen die gesamte Kirchengeschichte von der synoptischen Erfassung des Christusbildes bis zur unmittel-

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baren Gegenwart enthält. Die Norm, der tragende Grund und das leitende Prinzip dieser Arbeit ist das absolute Paradox, wie es in gläubiger Gewißheit bejaht und in schöpferischer Überzeugung aufgefaßt wird. Alles aber hat in dem Bewußtsein zu geschehen, nicht nur unter dem J a , sondern auch unter dem Nein des Unbedingten zu stehen. Das Nein, das im lebendigen Prozeß der Überzeugung nur abstrakte Bedeutung hat, aber im Augenblick des Zweifels höchste Realität gewinnt. Damit ist der erhobenen Forderung Genüge getan, ein theologisches Prinzip zu finden, das einerseits objektive Bedeutung hat, andererseits die Subjektivität in sich trägt, das den Zweifel nicht überwindet, sondern in sich aufnimmt. F. Theologisches Prinzip und Kultur Das konkrete Moment des theologischen Prinzips ist dem Absoluten unterstellt. Es wird von ihm im religiösen Lebensprozeß verneint und bejaht zugleich und dadurch fortgetrieben zu immer neuen schöpferischen Synthesen. Eine autoritative Bindung ist ausgeschlossen. Es gibt kein absolutes Offenbarungsmedium im supranaturalistischen Sinne und darum keine Begrenzung des religiösen Prozesses in irgendeiner Richtung. Damit ist nun auch der Zwiespalt zwischen Religion und Kultur aufgehoben. Die unendliche Subjektivität des modernen Geisteslebens ist ein Moment des religiösen Prinzips selbst geworden. Die Religion ist dadurch weit geöffnet für das Einströmen jeder Art schöpferischen Geistes. Es steht nicht mehr religiöser Glaube gegen profanes Denken, Gewißheit gegen Problematik, sondern auf dem gemeinsamen Boden der gläubigen Bejahung des absoluten Paradox wächst hier wie dort bedingte und doch inhaltsvolle Überzeugung. Die Überzeugungen können einander entgegengesetzt sein und miteinander ringen, aber als gleichberechtigte. Weder kann die in religiösen Zusammenhängen erwachsene Überzeugung sich mit der Absolutheit des Glaubens decken, noch kann die in profanen Zusammenhängen geborene Überzeugung die Autonomie des Denkens ausschließlich für sich in Anspruch nehmen. Beide müssen sich unter das absolute Paradox stellen, um überhaupt einen Boden unter die Füße zu bekommen, und beide müssen sich in autonomen Formen darstellen, um als Überzeugung gelten zu dürfen. Dadurch aber ist der Gegensatz von profaner und heiliger Sphäre überhaupt prinzipiell aufgehoben. Es ist alles profan, nämlich auto-

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nom begründet, und es ist alles religiös, nämlich unter dem absoluten Paradox stehend. An Stelle des Zwiespalts tritt eine vollkommene Einheit, der Forderung entsprechend, die das dritte Moment des theologischen Prinzips idealiter erhebt. Ihre unendliche Erfüllung stellt die Theologie der Kultur dar, die Entfaltung nämlich des in jeder Kulturschöpfung vorhandenen religiösen Gehaltes, der Offenbarung des absoluten Paradox in dem Geistesprozeß überhaupt. (Über die Kulturtheologie s. meinen demnächst erscheinenden Aufsatz in den Vorträgen der Kant-Gesellschaft: „Über die Idee einer Theologie der Kultur".) Somit erfüllt die Theologie des Paradox auch die Aufgabe, unterhalb des sichtbaren Gegensatzes der Kulturelemente ein Prinzip der Einheit zu finden, in dem der Zwiespalt überwunden ist. Schluß: Der richtige und falsche Gebrauch des Begriffes Paradox Der Begriff des Paradox ist zahlreichen Mißdeutungen ausgesetzt. Er ist immer in Gefahr, ein Ruhebett der „faulen Vernunft" zu werden, die 1 2 3 alle Probleme mit der Statuierung eines Paradox zu erledigen sucht 1 2 4 . Es kann nicht übersehen werden, daß gerade die Theologie des konkreten Paradox derartige Neigungen befördert hat. Das liegt in der Natur der Sache. Das M o m e n t der Willkür, das wir in dieser Theologie nachgewiesen haben, macht sich auch darin bemerkbar, daß der Statuierung von Paradoxien grundsätzlich keine Grenze gesetzt werden kann. Dieser Gefahr kann man nur entgehen, wenn man das Verhältnis der Paradoxie zum Logischen klar formuliert. Es liegt im Wesen des Logischen, daß es in seiner Sphäre keinerlei Ausnahme gestattet, daß es aber auch keine Sphäre zulassen kann, in der es nicht regiert, sobald überhaupt gedacht wird. Hier ist nirgends Platz für ein Paradox. Das „credo quia absurdum" ist innerhalb der Sphäre des Gedanklichen ein asketischer Akt der geistigen Selbstzerstörung. Es gibt nur einen Ort, w o das Paradox gesucht werden darf, im logischen Prinzip selbst. N u r wenn dem Logischen ein antilogisches Moment immanent ist, kann mit Recht von einem Paradox gesprochen werden. Das ist nun aber der Fall. Sobald der Satz A=A verlassen und zu dem Satz A = B übergegangen wird, ist etwas schlechthin Anti121

Typoskript: wie

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logisches in den logischen Prozeß aufgenommen: Das Andere, das doch das Eine sein soll. Diese letzte Paradoxie der Einheit von Identität und Differenz, von Rationalem und Irrationalem, von Wesen und Widerspruch, die jedem logischen Akt innewohnt 125 , ist nun die Rechtsgrundlage für die Erfassung des Paradox im logischen Sinne. Es gibt im Grunde nur eine, nämlich diese dem Logischen selbst wesentliche Paradoxie. Alle andren sind nur konkrete Anwendungen dieser einen, und müssen ihr logisches Recht von ihr empfangen. Das trifft nun auch auf die Paradoxie in unserem Sinne zu. Die Einheit und der Gegensatz von Absolutem und Relativem ist nur eine andere Formulierung für die Einheit von Wesen und Widerspruch, Identität und Differenz (vergl. mein Buch über „Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung" 1912). Aber nicht auf diese Formel kommt es an. Sie trifft nur die äußere Schale des absoluten Paradox und ist notwendig gegen den denkträgen oder asketischen Mißbrauch dieses Begriffes. Als Formel ist sie Denkwerk, Gesetz und steht unter dem Zweifel. Auch über sie, wie über alle Vernunft, erhebt sich der Glaube, der das Unbedingte selbst erfaßt, das absolute Paradox.

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10. Sozialismus und Christentum Zum Text: Hs. im PTAH, 114: 003, dort ohne Überschrift, als erster Text eingetragen. Die hier gegebene Überschrift stammt vom Herausgeber. Abfassungszeit: 1919. Einleitung. Der Gegenstand sehr inhaltsreich; nicht das erste M a l , daß ich das Thema behandle; aber es gewinnt immer neue Inhalte, je nach dem Hörerkreis und der besonderen Aufgabe; o b vor Kirchenfernsten oder U[nabhängigen]-Sozialdemokraten, o b vor bürgerlichen Ästheten oder Pastoren, o b im Kolleg oder in öffentlicher Versammlung oder im kleinen Kreis. Denn das Thema ist unerschöpflich, wenn es das bedeuten soll, was es bedeutet: Das Kulturproblem der Gegenwart schlechthin und in dem weiteren Sinne, der Religions- und Kulturproblem zusammenfaßt.- Es ist heut das erste M a l , daß ich es in diesem weitesten Sinne anfasse, und darum ist es der Ausdruck eines Suchens um das Centralproblem selbst, und ein Appell an Ihre Hülfe. Die Parallelität des Themas hängt mit der Variabilität der Begriffe zusammen; es sind beides Entwicklungsbegriffe; die Benutzung solcher Begriffe ist aber zugleich Stellungnahme, und die positive Stellungnahme ist schöpferische Weiterbildung, und die Weiterbildung ist zugleich Forderung. Dieses ist dann berechtigt, wenn die Kontinuität aufrecht erhalten bleibt; wenn der Geist der Sache selbst weitertreibt über jede ihrer empirischen Formen. I. Der Sozialismus Er stellt sich mir dar in Form vier konzentrischer Kreise: 1. Der erste ganz offensichtliche, weiteste Kreis ist der Sozialismus als Wirtschaftsforderung.- Statt Privat- Gemeinwirtschaft, statt Profit- Bedürfniswirtschaft etc. Dieses an sich Nationalökonomie; dahinter die Unterdrückung durch den Kapitalismus, die nun Stollen schlägt auch in die patriarchalischen Zustände.- Dieses Dynamit hat seine Kraft bekommen durch den Glauben an etwas Festes, ein starkes Dogma, ein Anhängen des eignen Willens in ein

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Jenseits der eignen Kraft. Dieses Dogma ist die massenpsychologische Kraft des Sozialismus. Daher die Unmöglichkeit der Sozialisten, davon zu lassen - es sei denn, daß ein anderes Dogma kommt. 2. Der politische Kreis. Wirtschaftsausbeutung nur möglich durch politische Beherrschung: Andere für sich arbeiten lassen, Princip der Macht. Gleichheit gegen Macht. Nicht Ungleichheit im Sinne von Führerschaft wird bekämpft, sondern Ungleichheit im Sinne von wirtschaftlicher Ohnmacht. Hier der Sinn des wahrhaft demokratischen Prinzips (Räte etc.).- Idee des Klassenkampfes zum Zweck der Aufhebung der Klasse. Der geistige Klassenkampf: Zersetzung der Bourgeoisie gehindert durch das marxistische Dogma. Das Proletariat als Widderkopf der echten Demokratie. Haß gegen diejenigen Klassen, die die Idee der Klasse bejahen - Ebenso nach außen: Kampf gegen den Macht-Nationalismus. An sich Solidarität zwischen Kapitalisten und Proletariat im internationalen Sinne. Das Elend der Verbindung von Kapitalismus und Nationalismus; jetzt der internationale Kampf gegen den nationalistischen Kapitalismus. 3. Kreis: die sozialistische Idee: a. Voraussetzungen. Immanenz: diese Welt ist zu gestalten, und diese Welt ist zu gestalten; der Vernunft zu unterwerfen. Mittel: Politisch-wirtschaftliche Rationalisierung. Ziel: Die physische und geistige Entwicklung des einzelnen. Eudaimonie infolge der Entstehung. 4. Das sozialistische Erlebnis: Die neue Gemeinschaft, a. Kämpferische Solidarität der Unterdrückten; diese ein Erlebnis von außen; aber dahinter Erlebnis des Menschseins der Menschen. Humanitas als Erlebnis. II. Christentum 1. Katholicismus - Patriarchalismus. Macht. Autorität. 2. Protestantismus - Liberalismus. Auflösung der Autorität mit der Auflösung des Supranaturalismus. 3. Neue, dritte Periode einer neuen Gemeinschaft. Möglichkeit, daß dieses der Anfang einer ganz anderen Entwicklung ist. III. Die neuen Ideen 1. Der Begriff des Unbedingten. Das absolute Paradox. Die doppelte Richtung, Ja und Nein. Unterschied von Identität. 2. Die Immanenz als Anschauung und als Gestaltung. 3. Die Gemeinschaftsidee. 232

11. Kirche und Kultur

Zum Text: Hs. im Heft Vo 1 (PTAH, 110: 001), dort ohne Überschrift. Die hier gegebene Überschrift stammt vom Herausgeber. Im Heft unmittelbar voranstehend befindet sich die Hs. des in der Zeitschrift „Das neue Deutschland" (8. Jg., Oktober 1919 - September 1920) publizierten Aufsatzes „Christentum und Sozialismus". Es folgen erste Gliederungen und Stichworte zu den beiden im WS 1919/20 gehaltenen Vorlesungen „Religion und Kultur" und „Encyklopädie". So ergibt sich als Abfassungszeit das Jahr 1919. I. Principielles über das Wesen der Kirche a) Kultur und Religion 1. Stadium der unmittelbaren Einheit. Der Mythos als Einheit von Kunst und Wissenschaft, der Kultus als ursprüngliche dramatische und bildende Kunst. Die Gemeinschaftsformen, Ehe, Sippe, Stamm, Volk als religiöse Bindungen; die Persönlichkeitsentfaltung und das ethische Bewußtsein als göttliche Forderung. Die öffentliche Gewalt getragen oder in Identität mit der religiösen Sphäre. 2. Stadium der Verselbständigung der Kulturfunktionen. Die Entstehung der Philosophie und der Poesie aus dem Mythos (Thaies H o m e r ; Astralreligion - Astronomie; Alchemie - Chemie; Scholastik - Naturphilosophie der Renaissance; Augustin - Geschichtsphilosophie; Mystik - Psychologie). Der Hervorgang von Drama und Komödie aus Dionysos und Passionsspielen. Der Hervorgang der profanen Eheethik und des Nationalgefühls im Gegensatz zu der mittelalterlichen Bildung. Die autonome philosophische Ethik. Der profane Staatsabsolutismus und die Demokratie. Der Kampf der autonomen gegen die heteronomen Formen. 3. Stadium der religiösen Erfassung der Kultur. Voraussetzung d a f ü r a) die Metaphysicierung des Gottesbegriffs und die damit gegebene Identificierung mit dem Weltbegriff, b) die Auflösung des metaphysisch-dogmatischen Gottesbegriffs zu Symbolen eines immanenten Weltgefühls. In diesem Weltgefühl erfaßt sich die Seele

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metaphysisch und die Kultur als Ausdruck ihrer Innerlichkeit, als Weltbild, Kultus u.s.f. b) Kulturtheologie und Kirchentheologie 1. Die Polarität des Profanen und Heiligen als Polarität von Form und Gehalt. 2. Der auf die Form und der auf den Gehalt eingestellte Geist, ihre Gefahren und ihre Vermittlung im klassischen Geist. 3. Die ideale Synthesis nie realisiert, immer nur (annäherungsweise) möglich durch die These und Antithese von Profan und Heilig. 4. Die Einstellung auf das Heilige nur möglich durch Anwendung einer Reihe paradoxer Formen: Eine Vergegenständlichung zu einem besonderen Wesen: der Heilige, eine Veranschaulichung durch eine besonders darauf bezogene Kunst: Kultus; eine persönliche Beziehung durch besonders gerichtete Persönlichkeitsentwicklung; eine Gemeinschaft und eine Organisation der Gemeinschaft derer, in denen diese Beziehung bewußt Kraft angenommen hat. 5. Die Entnahme dieser paradoxen Formen teils aus der Kontinuität der bisherigen Religionsgeschichte, teils aus der Kultur. Die Spannungsmöglichkeiten, die nun aber nicht mehr principiell sind, sondern den Sinn verschiedenartiger Kulturerlebnisse haben. II. Tatsächliches über das Wesen der Kirche a) Historische Betrachtungen Der Protestantismus als zweites, der Catholicismus als erstes Stadium. Aus Mystik, Idealismus und Rechtfertigungsgedanken die Möglichkeit des Neuen. Der Protestantismus steht in diesem Widerspruch. b) Der widerspruchsvolle Charakter des Protestantismus 1. Die Aufhebung der Bindungen auf ethischem und rechtlichem Gebiet; ihre Beibehaltung auf dogmatischem; daher Mitschleppen ungeheuren Traditionsstoffes, der unserm Lebensgefühl nicht mehr entspricht; Kampf zwischen Dogma und Wissenschaft. 2. Die Erhebung des Religiösen in die rein persönliche Kategorie. Die dadurch notwendige Entleerung des Kultus; die geringe neuschöpferische Kraft des Protestantismus in der Liturgie; nur der Choral bedeutsam.

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3. Der Prediger: Möglich als Priester und in der Orthodoxie. Jetzt entscheidet die Subjektivität des Predigers; dieses aber nur erträglich, wenn ein Schöpfer, d.h. als Stand unmöglich. 4 . Die Personalentwicklung kann nicht gelenkt werden nach abstrakten Geboten, auch nicht in der Form der Seelsorge; sondern jeder trägt das Problem seines Schicksals in sich selbst und mit seinen nächsten Vertrauten. 5. Unser Gemeinschaftserlebnis ist nicht begrenzt durch das Konfessionelle. Hier hat die Aufklärung und Sozialismus bahnbrechend gewirkt. 6. Die Liebestätigkeit etc. läßt sich nicht trennen von einem universalen Sozialprogramm. 7. Die Kirche kann kein eignes Recht haben, sondern nur eine freie Gemeinschaft sein. Aus alledem die Unmöglichkeit für den, der in dieser Bewegung steht, ein J a zur Kirche zu haben. c) Die positiven Werte der Kirche 1. Die Einstellung darf trotzdem nicht einfach negativ sein, sondern sie muß so frei zu ihr sein, wie es sich einer ehrwürdigen Größe der Vergangenheit gegenüber geziemt, die fremd und doch bedeutungsvoll in unsere Gegenwart hereinragt. 2. Die pädagogische Seite: Die gesamten religiösen Werte getragen von der Kirche; auch wir; kein kulturreligiöses Erlebnis möglich ohne vorhergegangene Kirche. Die künftige Generation und das Problem der religiösen Erziehung. 3. Die volkstümliche Seite: die Gemütswerte der kirchlichen Feste und Feiern; die Anschaulichkeit der religiösen Objekte, die der Kulturlosigkeit entsprechen, aber dieselbe Bedeutung haben, wie die kulturtheologischen Objekte. 4. Die prophetische Seite: in den Konfessionen ist die Fülle des prophetischen Geistes enthalten: z.B. die Mystik, von der alle Kulturmystiker leben; aber auch in den dogmatischen Formen: das Schulderlebnis und seine Umgestaltung in Verhängnis; das Vorsehungserlebnis und seine Umgestaltung im Schicksal, das Rechtfertigungserlebnis und seine Umgestaltung in die Doppelheit der Lebensvernichtung oder Bejahung u.s.f. Hier ist alles klassisch, groß, klar vorgebildet und in einer unglaublich reichen Geschichte durchgeführt.

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III. Praktisches und Ideales a) Praktisches I. 1. Es kann keine gleichartige Verhaltungsmaßregel geboten werden, sondern es hängt alles an den persönlichen Beziehungen zur Kirche. 2. Für alle, die am Geistesleben Interesse haben, gilt es, ein indirektes Interesse dem kirchlichen Leben zuzuwenden, nämlich als vorhandener Geistesmacht, zu der man innerlich Stellung nehmen muß. 3. Die äußere Teilnahme ist sehr schwierig; aber notwendig, damit das Geistesleben nicht ganz auseinanderbricht. Beeinflussung der Politik im Sinne der Trennung; Beeinflussung des Kultus im Sinne der Assimilation der Kunst. Beeinflussung des Dogma[s] im Sinn des dritten Stadiums der Entwicklung. Beeinflussung der Erziehung im Sinne einer Vermeidung der schwersten Konflikte im Kinde durch Stufenpädagogik. Beeinflussung des Gemeinschaftslebens im Sinne der Bekämpfung des bürgerlichen Geistes und der Propagierung des sozialistischen. — 4. Stärkung einer Reformbewegung innerhalb der Kirche zur Überwindung ihres kleinbürgerlichen Geistes; eventuell Bruch; dann eine Kerntruppe für Neubildungen da. II. 1. Durchführung des rationalen Geistes bis zum Äußersten; Hineinführung allen kulturellen Geistes in das dritte Stadium. 2. Sammlung der in neuem Geiste Lebenden und Gemeinschaft mit den Innerkirchlichen. 3. Warten und energische Durcharbeitung der Kultur im religiösen Sinne. b) Ideales Neue Synthesis von Kultur- und Kirchentheologie.

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12.

Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (I) Zum Text: Hs. im PTAH, 114: 003, dort ohne Überschrift und als zweiter Text eingetragen (nach „Sozialismus und Christentum" = Nr. 10). Dieser Text steht ebenso wie Text Nr. 13 - dies zeigen schon jeweils die ersten Worte - im Zusammenhang mit der Tambacher Tagung vom 22. bis 25. September 1919. Die hessischen Pfarrer Otto Herpel und Heinrich Schultheis hatten alle in Deutschland an einer religiös-sozialen Bewegung Interessierten nach Tambach (Thüringen) eingeladen und wollten sie mit den Vertretern der Schweizer Richtung, vor allem mit Leonhard Ragaz, zusammenbringen. Ragaz hatte allerdings abgesagt. Ihn vertrat Karl Barth mit seinem Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft". Der Vortrag erschien 1920, mit einem Geleitwort von Hans Ehrenberg versehen, im Patmos-Verlag Würzburg und wurde dann in Barths Aufsatzband „Das Wort Gottes und die Theologie", München 1924, S. 33-69, aufgenommen. Karl Barths Vortrag bedeutete zweifellos einen Einschnitt in den Gang der Diskussionen im Berliner Kreis der Religiös-Sozialen, der sich nach den Ereignissen vom November 1918 regelmäßig im Hause von Pfarrer Friedrich Rittelmeyer in Berlin traf und zu denen auch Paul Tillich gehörte. Der mit Tillich befreundete Neutestamentier Karl Ludwig Schmidt, der auch an einigen Sitzungen teilnahm, nannte ihn den „Rittelmeyerschen Sozialistischen Kreis" (so in einem Schreiben an Tillich vom 12.3.1919, Kopie im PTAM). In der ersten Nummer der von ihm herausgegebenen „Blätter für Religiösen Sozialismus" (mit dem Datum Ostern 1920) berichtet Carl Mennicke unter der Überschrift „Unser Weg" über die nach der Tambacher Tagung in diesem Kreis geführten Diskussionen. Zunächst hatten Günther Dehn und Carl Mennicke über die Tagung berichtet, insbesondere über die Überlegenheit und Geschlossenheit der Position der Schweizer. Man sei sich aber in diesem Kreis darin einig gewesen, daß „die Einstellung der Schweizer nicht die unsere sei und sein könne" (S. 3). Er selbst sowie Tillich und Rittelmeyer hätten den Gottesbegriff als den eigentlichen Differenzpunkt herausgehoben. Tillich werde dazu ein Referat halten. Dieses Referat habe er dann in der Zusammenkunft am 10. November 1919 unter dem Thema „Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung" gehalten. Mennicke berichtet ausführlich, aber in freier Gedankenbewegung über Tillichs Vortrag, die anschließenden Diskussionen und seine eigene Auffassung. In einer weiteren Sitzung, so berichtet er weiter, habe

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Tillich das Referat fortgesetzt und sich darin „mehr mit dem äußeren Bild unserer Bewegung befaßt" (S. 4). Da Text Nr. 12 mit der Überschrift „Entwurf" beginnt, kann er wohl als Vorstufe zum Text Nr. 13 angesehen werden. Das Manuskript des Referats und der Fortsetzung ist demnach Text Nr. 13.- Abfassungszeit: 1919, nach der Tambacher Tagung (22.-25.9. 1919). Entwurf Erster Teil: Das Principielle a. Die Notwendigkeit einer principiellen Klärung der Bewegung ist evident geworden durch Tambach. b. Die einzig mögliche Grundlage ist eine centrale religiös-metaphysische Einstellung, aus der die Überlegenheit der Schweizer stammt; ohne dieselbe wird die Bewegung immer den Charakter einer zufälligen Zusammenstellung von Christentum und Sozialismus tragen. Es wird nicht zur Klärung gelangen, w a r u m gerade diese beiden Bewegungen zusammengehören. Die inneren Notwendigkeiten werden nicht verstanden werden. c. 'Die autoritäre Begründung genügt nicht, weder in der Form, d a ß Jesus Sozialist war, noch in der Form, d a ß der Sozialismus die Konsequenz seiner Ethik ist. Die erste Behauptung ist historisch falsch, die zweite historisch zweifelhaft. W a r Jesus Eschatologe, so hat seine Ethik überhaupt keine wirklichkeitsgestaltende Bedeutung; w a r er es nicht, so ist noch nicht einzusehen, w a r u m er autoritär für uns gültig sein soll, wenigstens nicht f ü r Evangelische, die das Gesetz Jesu ablehnen, erst recht nicht für Autonome, die nichts auf Autorität hin übernehmen dürfen. - Liegt aber ein eignes Erlebnis vor, so ist damit die Grundlage einer selbständigen, principiellen Begründ u n g gegeben. Ebensowenig ist ausreichend eine geschichtsphilosophische Begründung, wie sie in unserm Heft sich findet. 2 Sie ist nur das allgemeine formale Schema. Es kommt aber gerade darauf an zu zeigen, was der Inhalt des neuen synthetischen Zeitalters sein soll.

1

2

Folgt gestr.: Auch die geschichtsphilosophische Begründung, wie sie in unserm Heft enthalten ist, genügt nicht. Der Sozialismus als Kirchenfrage. Leitsätze von Lic. theol. Dr. phil. Paul Tillich, Privatdozent der Theologie an der Universität Berlin, und Dr. phil. Carl Richard Wegener, Jugendpastor des Stadtsynodalbezirks Berlin. Berlin 1919 [krit. Edition in: MW/HW Bd. 3, 31-42],

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Zweiter Teil: Das Empirische a. Der den Schweizern zu Grunde liegende Gottesgedanke: Gott als absolutes, weltvernichtendes Willenswesen. Daraus als Konsequenz der englische Aktivismus; die Katastrophe dieses Aktivismus und aller Sekten mit politischer Tendenz in der englischen Revolution. Zweiter Einschlag: der eschatologische Realismus des süddeutschen Luthertums. Daher nicht Aktivität, sondern Warten, bis Gott sein Reich aufrichtet. Daraus folgend: die Vergleichgültigung der specifisch religiösen Kultur und einer Beziehung auf die Kultur überhaupt, andererseits der Gegensatz von Dämonischem und Göttlichem. Die Antinomie kommt zum Ausdruck in der Unmöglichkeit des reinen Wartens. Infolgedessen wird die Sozialdemokratie gewürdigt als eine Bewegung, in der gleiche Ideen wie in der Bergpredigt stecken. Aber nicht auf die Durchführung durch eigne Kraft wird Gewicht gelegt. Also nur das Ideologische als Sozialismus wird bejaht. W a r u m ? Hier Rückgang auf Bergpredigt und damit Gesetzlichkeit. Zugleich ist die Bejahung der Sozialdemokratie schon eine Stellungnahme. Resultat: der Gegensatz zwischen dem lutherischen und dem kalvinistischen Einschlag ist nicht wirklich ausgeglichen. Aktivismus und Quietismus stören sich gegenseitig.- Außerdem fehlt die gesamte Kultursphäre außer der sozialistischen. b. In dem schweizerisch-kalvinistischen Gedanken steckt die entscheidende Grundlage jeder möglichen stark-religiösen Stellungnahme: Das Erlebnis der Unbedingtheit Gottes. Aber dieses Grunderlebnis kann doppelt ausgedeutet werden: Entweder vom Prädestinationsgedanken her oder vom Rechfertigungsgedanken her. Im ersten Falle ist das Unbedingte der Ausdruck für die Nichtigkeit alles Wirklichen; dieses Grunderlebnis, wie es sich auch bei Spinoza findet. Im zweiten Falle ist das Unbedingte der Ausdruck für die Paradoxie einer Doppelstellung des Unbedingten zu dem Relativen, ein J a und Nein zugleich. Wir treten damit zugleich in die Tradition der Eckehardischen Mystik und der deutschen idealistischen Philosophie, bei denen allen die Einheit von Unendlichem und Endlichen nicht in einer Vernichtung des Endlichen, sondern in einer paradoxen Bejahung besteht. W i r stellen also der prädestinatianischen Grundlage der Schweizer die Rechfertigungsgrundlage der Mystik und Böhmes entgegen. Wir beschränken uns aber nicht auf diese Lehre als specielle, sondern

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wir erheben sie über das besondere Schema: Sünde-Gnade zu einem allgemeinen Ausdruck des religiösen Bewußtseins überhaupt. Unser Absolutheitserlebnis als solches oder, gegenständlich ausgedrückt, das Verhältnis von Endlich und Unendlich, Gott und Welt u.s.w. nimmt die Form des absoluten Paradox an.c. Wo das Unbedingsheitserlebnis zur religiösen Grundlage gemacht wird, entsteht der Protest gegen alle Bedingtheiten, die sich zwischen Gott und uns schieben, entsteht der Protest gegen die Kirche; nicht im Sinne einer Kritik an irgendwelchen Einrichtungen, sondern im Sinne einer Ablehnung einer spezifisch-religiösen Sphäre überhaupt. Der Kampf Ragaz' gegen die Religion als eine Kulturschöpfung hat eine große Tiefe; denn er geht von dem Bewußtsein aus, daß dem Unbedingten gegenüber alle Vermittlungen Verletzungen der Unbedingtheit sind.- Wir müssen den Gedanken aber ganz radikal fassen, sonst wird er halb und nimmt irgendetwas, etwa eine bestimmte gedankliche Auffassung des Unbedingten oder eine bestimmte Art der Verehrung oder eine bestimmte Ethik, wie die der Bergpredigt, oder eine bestimmte Person, wie die Jesu, von diesem absoluten Negationsurteil aus. Dann erhalten diese Dinge, z.B. der Begriff des seienden, persönlichen Gottes oder der absoluten Substanz oder die Ethik des Nicht-Widerstrebens oder der historische Jesus eine Bedeutung als Vermittlungsbedingung, als conditio sine qua non. Damit aber wird das Verhältnis zum Unbedingten abhängig gemacht von einem Werk, nicht mehr des sittlichen Handelns in erster Linie - das ist seit Luther theoretisch nicht mehr möglich aber von einem Werk des intellektuellen Handelns. Man muß sich von diesen Relativitäten überzeugt haben, man muß sie bejaht haben, nur dann ist der Weg zu Gott möglich. Der Zweifel muß überwunden sein, ehe die Gewißheit des Absoluten möglich ist. Das ist aber genau so falsch, als würde gesagt: die Sünde muß überwunden sein, ehe die Heilsgewißheit da ist. Der intellektuelle Perfektionismus ist genau so schlimm wie der ethische, und er findet sich bei Liberalen wie bei Positiven. Ob der dogmatische Christus und die Schrift oder der historische Jesus und ein rationaler Gottesgedanke zur conditio sine qua non gemacht werden, immer handelt es sich um eine unerträgliche Last, die den Menschen auferlegt wird, den sittlich wie den intellektuell wahrhaftigen 3 . Die einen können nie sagen: „Ich habe keinen Zweifel"; denn alles Relative, Konkrete wie 3

Hs.: Wahrhaftigkeiten

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Begriffliche steht unter der unendlichen Problematik. Und die andern können nie sagen: „Ich habe keine Sünde"; denn alles Relative steht unter dem Verhängnis der Schuldverflochtenheit. Das Absolute ist nur erreichbar unter Voraussetzung der Paradoxie, d.h. als Gegenstand des Glaubens, der nichts ist als Bejahung des Unbedingten überhaupt als des J a und Nein über alles Relative. Jede Vergegenständlichung begrifflicher und konkreter Art steht schon unter dem Paradox und muß das Nein desselben über sich ergehen lassen; auch jeder Gottesbegriff, auch jede Kirche, auch das Christentum und der Protestantismus, auch sehr die hier gegebenen Formeln, auch Christus, er steht unter der Rechtfertigung, nicht über ihr. Das ist der Sinn des Kreuzes, nämlich des Sterbens Jesu nach dem Fleisch. Unser Nein ist noch radikaler als das der Schweizer. Es macht weder vor dem persönlichen Leben, noch vor den kirchlichen Formen, noch vor der Ethik der Bergpredigt Halt. D a s alles ist Kultur, nämlich schaffende Aktivität des Geistes. Alle Kultur aber ist relativ und bringt es höchstens zur Überzeugung. Für sie kann man wohl sterben, aber nicht seine Seele geben, - die ist allein bezogen auf d a s Absolute selbst. Diesem absoluten Nein entspricht nun das absolute J a , das Paradox. Vor nichts hatte das Nein Halt gemacht, vor Nichts macht das J a Halt. Es gibt nichts, was außerhalb des absoluten Sinnzusammenhanges stände. Während jede gesetzliche Auffassung ein Relatives absolut setzt, dafür alles andere verwirft, sieht die Rechtfertigung nichts Wirkliches, in dem nicht göttliche Realität wäre. Es kann also vom Rechtfertigungsgedanken her keinen Gegensatz von Dämonischem und Göttlichem als realer Mächte geben (übrigens auch nicht vom Prädestinationsdogma; dieser Realismus der Schweizer ist weder lutherisch noch reformiert, sondern durch den Biblicismus vermittelter persisch-spätjüdischer Dualismus). Sobald eine bestimmte Sphäre nur unter ein negatives Vorzeichen gebracht wird, ist die Konsequenz die, daß die entgegengesetzte unter ein nur-positives Vorzeichen gesetzt wird; also etwa Reich Gottes und Welt als reale empirische Gegensätze, die dann als Kirche gegen Staat oder als evangelische Kirche gegen die antichristliche katholische auftreten. Der Gegensatz geht aber mitten durch jedes Wesen hindurch; er ist nirgends empirisch nachzuweisen. Das Nein steht über dem Heiligen und d a s J a über dem Verbrecher, das Nein über der Bibel und das J a über den Zauberbüchern, das Nein über Luther und das J a über den rasenden Astharte-Priestern.

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d. Daraus ergibt sich nun als unmittelbare Folgerung die principielle Aufhebung des Gegensatzes von profan und heilig, von allgemeiner und specifisch religiöser Kultur. Wir nehmen also den Gedanken der Schweizer, daß es gottlos ist, Gott auf das Leben der Kirche zu beschränken; wir beziehen ihn auf das Profane oder vielmehr wir bestreiten, daß es überhaupt etwas nur Profanes gibt. Das gibt nun die Lösungsmöglichkeit für den centralen Kulturkonflikt, in dem wir stehen, der der bürgerlichen Entwicklung der letzten Jahrhunderte entstammt und den die Sozialdemokratie ungelöst übernommen hat. Die moderne Kultur ist auf dem Boden der autonomen Vernunft erwachsen, die sich von den autoritären Traditionen losgerissen hat. Die revolutionäre Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihre Erben, die revolutionäre Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts, stehen restlos auf diesem Boden; das autonome, rationale Moment in ihnen ist das wahrhaft demokratische, was nichts mit der Pseudodemokratie des Parlamentarismus und dem kapitalistischen Mehrheitsprincip zu tun hat. Diese Autonomie verträgt aber auf keinem Gebiet einen heteronomen Eingriff. Ein religiöses Denken, das als Dogma oder Glaubenslehre neben der Philosophie ein besonderes Gebiet wäre, zerstört die Autonomie des Denkens und wird rücksichtslos und ohne Möglichkeit eines Kompromisses von ihm ausgestoßen. Ebenso ist es in dem Verhältnis von Kunst und Kultform 4 , religiöser Ethik und allgemeiner Ethik, Gemeinschaft und Gesellschaft, Staat und Kirche. 1. Die Wissenschaft. Der Wissenschaftsglaube der Sozialdemokratie ist unwissenschaftlich, aber im Princip ein Ausdruck der restlosen Autonomie; ein Dogma daneben ist unerträglich. 2. Die Ethik. Die ethischen Grundideale: Menschlichkeit, Solidarität sind bewußt überkonfessionell; sie schieben sich unter die Ethiken aller Religionen und Konfessionen und nehmen diesen ihre trennende Gewalt. Die sozialistische Gesellschaft ist die Gemeinschaft schlechthin, der gegenüber alle anderen Gemeinschaften relativ sekundär werden. 3. Der Staat. Irgendwelche selbständige Rechtsorganisationen neben der auf sozialistischem Boden stehenden staatlichen kann es nicht geben. Die autonome Rechtsbildung kann in keiner Weise gestört werden.

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Über gestr.: Kultus

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4. Die allgemeine Stimmung: Der Wille, den Gesellschaftsproceß zu leiten, nicht absolut. Den unhistorischen Rationalismus hat der Marxismus überwunden, aber im Marxismus ist gewissermaßen die Vernunft objektiviert, zu einem gegenständlichen Proceß geworden, hat subjektsfreie Bedeutung bekommen, man kann nicht mehr alles machen, aber man kann das Rationale sehen und es befördern. Auch hier Ausschluß jeder Heteronomie. 5. Autorität und Macht. Der sozialdemokratische Kampf gegen die Macht ist der korrespondierende Kampf des Liberalismus gegen die Autorität. Denn der Machtgedanke ist nur haltbar durch ein System transcendenter Autorität; ohne irgend eine Art von Gottesgnadentum kann sich keine Autorität halten. Die rein naturalistischen Machttheorien versagen. Auch hier gilt es, rücksichtslos allem Patriarchalismus zu entsagen und den Gesellschaftsaufbau auf [den] autonomen Willen des einzelnen zu gründen. Dieses Princip der Autonomie muß verstanden werden. Es besteht die Gefahr, daß Geistliche und Kirchenleute in die Bewegung eintreten, die an diesem Punkte nicht principiell klar sind. Es gibt aber nur eine Alternative: Das ist die katholische Soziologie, die die sozialistischen Wirtschaftstheorien in ihr heteronomes, kirchlich-patriarchalisches System aufnehmen will. Das ist christlich-sozial; und alle, die sich nicht restlos auf den Boden der Autonomie stellen können, die irgendwie vom Religiösen her heteronom sein wollen, sind ihrem Wesen nach christlich-sozial, wenn sie auch in die sozialistischen Parteien eintreten. Zerstört so der Rechtfertigungsgedanke alle kirchliche Heteronomie, alle spezifisch religiöse Autorität und bejaht die reine Autonomie des modernen Bewußtseins, so gibt er nun andererseits dieser Autonomie einen Gehalt, an dem sie sich auswirken kann. Die Rechtfertigung bedeutet, daß es keine profane Kultur mehr gibt, sondern alle Kultur das Heilige in sich trägt. Damit ist nun ein Princip von ungeheurer Bedeutung gewonnen. Die Wissenschaft, die Kunst, die Sittlichkeit, die Gesellschaft, der Staat gewinnen unmittelbar religiöses Interesse. Die darauf gerichteten Tätigkeiten sind innerlich getragen von dem Bewußtsein, Gott in der Welt zu gestalten, im Denken wie im Darstellen 5 , im Bilden der eignen Persönlichkeit wie im Bilden der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Staates, und das Leben in diesen Dingen ist getragen von dem Gefühl, in ihnen Gott 1

Über gestr.: Anschauen

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anzuschauen, nämlich die Einheit des Absoluten und Relativen, das absolute Paradox, den tragenden Sinn der Wirklichkeit oder wie wir es nennen wollen. Dritter Teil: Das Ideale Von hier aus ergibt sich nun eine grundlegend andersartige Einstellung, nämlich die immanente. Es liegt das ja schon im Wesen des Rechtfertigungsgedankens. Er hebt gerade die Unterscheidung zweier Welten, der jenseitigen und diesseitigen, auf und verteilt nicht, wie der Katholicismus, die Dinge auf das Natürliche und das Übernatürliche. Vielmehr geht der Schnitt mitten durch die Dinge hindurch. Das Absolute und Relative sind nicht zwei Welten, sondern das Urschema, in dessen paradoxe Einheit die eine Welt eingespannt ist. Die Verteilung auf zwei Welten führt notwendig zu Gesetzlichkeit, Heteronomie, Askese u.s.w. Um die Gestaltung dieser einen Welt handelt es sich nun (das bedeutet aber nicht das Verbot, diese eine Welt mit der tellurischen, die uns bekannt ist, gleichzusetzen; der Gedanke der Reiche, wie ihn der Mythos hat und auch die Theosophie, ist durchaus Überzeugungssache, hat aber gar keine Bedeutung für das eigentlich religiöse Problem; denn all diese Reiche stehen unter dem Paradox, sind relativ, sind Welt vor dem Absoluten, gehören im relativen Sinne zur Immanenz). Die Gestaltung dieser Welt bedeutet auch durchaus nicht eine einseitige Beschränkung auf die Gestaltung des Gesellschaftslebens. Das ist durchaus ein Pol, dem als Gegenpol die Gestaltung der Persönlichkeit gegenübersteht. Beide aber bekommen ihre Inhalte aus dem Werk, der Welteroberung durch Erkennen, Gestalten und Anschauen der Dinge. Gegensätze also von Personen- und Gemeinschafts-, von Person- und Werkkultur sind hier aufgehoben; in allen ist der gestaltende Wille wirklich. Wir verstehen von hier, wie dem Künstler, dem Philosophen, dem Politiker, dem Wirtschaftsleiter sein Werk religiöses Werk ist, Gott = Schaffen ist. Nur wer mit dieser Leidenschaft an die Dinge herangeht, nur wer die Bewegung religiös nimmt, kann sie verstehen. Damit ist die religiöse Qualität des Sozialismus nicht heteronom neutestamentlich begründet - eine immer problematische Sache - , sondern aus einer gesamten religiösen Kulturauffassung heraus, sie ist ein Glied in ihr, aber nicht das einzige. Wo bleibt in diesem Zusammenhang der immanenten Kulturreligion die Kirche, die specifisch religiöse Kultur? Sie hat ihr princi244

pielles Recht verloren, aber nicht ihr psychologisches. Nicht alles in der Kultur ist gleich religiös. Nicht jedes Moment unseres Daseins hat religiöse Qualität. Im Gegenteil: wir leiden unter einem ungeheuren Übergewicht des Profanen; der Zustand der Identität von Kultur und Religion hat immer eine Idealität, wie auch bei Rothe 6 , der von dieser Idealität zum ersten Male gesprochen hat. Wir brauchen den Feiertag, die religiöse Koncentration, die Sammlung der in der Kultur lebendigen Elemente. Wir brauchen die Propheten, die mit Einseitigkeit die absoluten Kategorien sehen und zur Anschauung bringen, damit die Kultur nicht profan wird und aus der Spannung der Rechtfertigung nicht ein vergnügter Kompromiß wird. Aber es darf keine selbständige Inhaltlichkeit haben neben dem Kulturellen; darum keine Staatskirche, sondern freie Gemeinschaften im Staatlichen, kein öffentliches Dogma, sondern eine Gesamtweltanschauung unter dem Aspekt des absoluten Paradox, nicht von der Form her, wie die Philosophie, sondern vom Gehalt her, der das Religiöse ist, keine Gemeinschaft, die sich abschließt gegen die Gesellschaft, sondern eine solche, in der sich die Gehalte des Gemeinschaftslebens konzentrieren, die alle Formen überragt u.s.f. Also ecclesiolae in der großen ecclesia der Kulturgemeinschaft, die sich als Kraftcentren in ihr und für sie wissen, ohne jede principielle Scheidung, mit durchaus fließenden Grenzen; dafür aber jede in sich konkret, eindeutig bestimmt. Hier ist dann der Platz für faktische Autoritäten, für Propheten, Führer, Lehrer, u.s.f. Kein Interkonfessionalismus, aber die Konfession nur möglich auf einem Boden, der über jede Konfession hinausgeht, und die Kulturgemeinschaft überhaupt trägt. Vierter Teil: Das Praktische Hier setzt nun eine neue Betrachtung ein, die auf den eigentlichen Kern der Sache führt. Dieser Boden, auf dem jede Konfession zu stehen hat, ist nicht eine abstrakte Formel, sondern er ist eine Realität, nämlich ein neues Gemeinschaftserlebnis. Hier erreicht nun die Synthese von Sozialismus und Christentum ihre tiefste Form, das absolute Paradox ist der 7 Möglichkeitsgrund für ein unbeschränktes Menschheitserleben, der Sozialismus ist die moderne Form, in der ' 7

Richard Rothe, Theologische Ethik, 3 Bde, 1845-48, 2. Aufl., 5 Bde 1869-71. Hs.: die der

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dieses Erleben Ausdruck findet. Ohne einen realen Proceß des Gemeinschaftsbewußtseins ist die Unbedingtheit des religiösen Princips abstrakt und unwirksam. Die erste Form, in die es sich gegossen hatte, war die christliche Gemeinde, in der aber sofort zwei Hemmnisse sich entgegenstellten: die eschatologische Indifferenz gegen die innerweltlichen Verhältnisse und die Abschwächung des Glaubens als unbedingte Bejahung der Paradoxie zu einem Werk des metaphysischen oder historischen Glaubens. Durch die erste Sache wurde die Wirksamkeit der Bergpredigt unmöglich gemacht. Mit Hülfe des Begriffes einer relativen Vernunft haben die Kirchen sich in der ständischen Welt eingerichtet, ohne den ernsthaften Willen der Realisierung der Gemeinschaft. Es kam ja nur auf die Seele an, die für das Jenseits zu retten war. Das zweite bewirkte die Machteinstellung und Sonderung der Kirche nach außen: der Kampf gegen das Heidentum, die Verfolgung der Ketzer, der Kampf der Konfessionen. Das Immanenzideal und die Wiederherstellung des absoluten Paradox ermöglicht die Entfernung dieser beiden Schranken und damit ein universales Menschheitsbewußtsein. Andererseits ist der Sozialismus an und für sich noch keine Gemeinschaft, sondern ein Zusammenschluß solidarischer Abwehr gegen die bedrückenden Klassen, zunächst rein zweck mäßig, aber durch den Druck zum Gemeinschaftsbewußtsein erstarkt. Freilich, wenn der Druck nachläßt, hört auch die Einheit auf. Hinzukommt, daß es sich um eine politische Partei handelt und Gegensätze in Politicis stark genug waren, das tiefer liegende Gemeinschaftsbewußtsein zu stören. Es kommt alles darauf an, dem Gemeinschaftsbewußtsein, das der Sozialismus hat, die letzte metaphysische Grundlage zu geben. Es muß ein begeistertes Heer sein, das das Menschheitserlebnis gemacht hat und es als religiöses Erlebnis in sich bewegt und die Welt damit erfüllen und die Welt von da aus gestalten will. Es ist dieses etwas anderes als der empirische Sozialismus. Aber nur weil wir dieses als Tiefstes in ihm finden, müssen wir ihn bejahen, wie wir das Christentum nur bejahen, weil in ihm das absolute Paradox zum Durchbruch gekommen ist. Das Gemeinschaftserlebnis des Sozialismus und das Unbedingtheitserlebnis des Christentums sind die Momente der großen Synthese, die Christentum und Sozialismus eingehen müssen; denn beide fordern sich gegenseitig. Der Boden aber, auf dem sie sich vereinigen, ist die autonome und doch religiös erfüllte Immanenz, in der Gott anzuschauen und zu gestalten ist.

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Es bieten sich noch andere Religionen und noch andere Bewegungen an, die ähnliches wollen. Warum lehnen wir sie ab? Zunächst ist zu bemerken: Wir lehnen keine Konfession und keine Bewegung ab, die uns nicht ablehnt, die sich nicht sträubt gegen den absoluten Universalismus des religiösen Paradox und die Menschheitsgemeinschaft des Sozialismus. Jede Konfession und jede Bewegung, die auf diesem Boden in eigentümlicher Weise das gleiche Ziel verfolgt, ist a priori in Gemeinschaft mit uns. Hier heißt es durchaus: Wer nicht wider uns ist, der ist für uns. Nur wer sich selbst ausschließt, ist ausgeschlossen. Das bedeutet für die politischen Bewegungen folgendes: Wir dürfen uns nicht festlegen auf den Sozialismus als Arbeiterbewegung, als Wirtschaftstheorie, als politische Partei, sondern nur insofern wir in ihm den Ausdruck sehen für den Willen zu einer neuen Menschheitsgemeinschaft. Dadurch gewinnen wir die Möglichkeit, auch anderen Theorien und Parteien gerecht zu werden, zunächst der demokratischen, insofern sie der Form nach das gleiche will wie wir, nur durch das Eindringen des kapitalistischen Geistes unfähig geworden ist. Das gilt für die Rechtsparteien, insofern für sie die Volksgemeinschaft Vorbedingung der Menschheitsgemeinschaft ist und Führertum das Mittel, sie zu erreichen. Aber wir müssen ablehnen den nationalen Machtgedanken und die aristokratische Versteifung des Führertums zu Herrengeschlechtern, Herrenmenschen u.s.w., mit Unterdrückung der anderen. Wir können gemeinsam arbeiten mit dem Centrum", insofern es die sozialistischen Ideale in sich aufnimmt, aber wir müssen es ablehnen, uns in die Sphäre der autoritativ-kirchlichen Kultur zu begeben, weil sie eine Behinderung der Gemeinschaft im entscheidenden Moment bedeutet. Ebenso müssen wir kritisch stehen zu den sozialistischen Parteien und all das in ihnen bekämpfen, was dem religiösen Schwung und der Absolutheit des Gemeinschaftsideals widersteht. Dennoch finden wir in ihnen das Ideal am deutlichsten ausgesprochen und verlangen darum eine Synthese von Christentum und Sozialismus. Und umgekehrt, und hier heißt es nun noch mehr als zuvor Ernst machen mit dem absoluten Paradox, unsere Gemeinschaft kennt keine konfessionellen Schranken. Ich stelle bewußt vor folgende Alternative: Entweder wir schließen Juden und Buddhisten, die9 sich *

G e m e i n t : die Zentrumspartei

9

Hs.: der

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auf den Boden unserer Bewegung stellen, aus - dann haben wir noch nicht einmal das sozialistische Menschheitsideal erreicht - oder wir nehmen ihn auf, wie es allein unserm Princip entspricht, dann ist „Christentum" nicht mehr der Ausdruck für eine konfessionell beschränkte, sondern für die universale Menschheitsreligion, auf deren Boden sich erst die bestimmten Konfessionen, u.a. die christlichen, erheben. Diese Doppelbedeutung von christlich ist nicht zu vermeiden, wenigstens nicht in der Theorie. In der Praxis würde es besser sein, von „religiös" zu sprechen und das Christliche als konfessionell aufzufassen. Ferner wird es in der Praxis nötig sein, engere Zusammenschlüsse konfessioneller Art ihrerseits zusammenzuschließen zu den universalen. Grundsätzlich aber könnte ich mich nie einen Christen nennen, wenn ich nicht in Christus nicht nur den Juden sehen könnte, der das Judentum, sondern sozusagen auch den Christus, der das Christentum überwindet. Christus ist nicht nur vom Judentum, sondern auch vom Christentum gekreuzigt, und überhaupt von jeder Konfession, die sich als besondere abschließt; denn er ist die Offenbarung des absoluten Paradox. Und doch hat sein Geist bewirkt, daß auf dem Boden des Christentums der Durchbruch kam, der das Christentum überwand; und nur in diesem sich selbst aufhebenden Sinne kann von Christentum die Rede sein. Wenn es sich darum um Namengebung handelt, würde religiössozialistische Bewegung das deutlicher sein. Sie würde sich dann konfessionell gliedern, würde aber zugleich diejenigen umfassen, die sich im Sinne einer reinen Kulturreligion dem Konfessionellen überhaupt entziehen wollen. V o n hier aus würde nun eine Einzelkritik der Konfession einzusetzen haben, nicht in ihrem An-Sich-Sein, sondern in ihrer Beziehung zur religiös-sozialistischen Bewegung. Als allgemeines Kriterium wäre zu setzen: Es ist jede konfessionelle Selbstbehauptung zu verneinen, die verbunden ist mit einer principiellen Trennung des Menschengeschlechtes nach dieser Konfession. Es darf nur noch eine wesentliche und absolute Trennung geben: zwischen denjenigen, welche die Gemeinschaft als Idee anerkennen, und denjenigen, die sie von Bedingungen abhängig machen, der Rasse, der Konfession, Nation, Wertqualität. So ist beim Judentum die Verbindung von Nationalismus und Religion abzulehnen, beim Katholicismus die Verbindung von Heteronomie und Universalismus, bei dem Pietismus der Zwang zu einem bestimmten Erlebnis, bei dem Liberalismus die historische Zurück-

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Wendung zu Jesus, bei der Orthodoxie der intellektuelle Perfektionismus u.s.f., bei den orientalischen Religionen der Quietismus und die Kaste. Dieses wäre utopisch, wenn wir nicht zwei Erscheinungen hätten: den Weltkapitalismus, der die Schranken durchbricht, und den Weltsozialismus, der das Aufgelöste zu neuer Einheit zusammenschließt. Dieses beides sind die großen realen Widderköpfe gegen die Mauern der nationalen und konfessionellen Abgeschlossenheit, die Vorkämpfer für Autonomie und Immanenz. Ihnen hat die religiöse Fundamentierung zu geben die religiös-sozialistische Bewegung. Die konfessionellen Missionen müssen versagen, da sie die konfessionelle Schranke fortführen; sie haben Erfolg und Notwendigkeit gegen untergeordnete Kulturen.

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13. Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (II)

Zum Text: Hs. in Vo I (PTAH, 110: 001). Die beiden nacheinander ohne Überschrift eingetragenen Texte werden hier vom Herausgeber gemeinsam unter die Überschrift „Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (II)" gestellt. Es handelt sich wohl um die Entwürfe zweier aufeinander folgender Vorträge (dies zeigt der Anfang des 2. Vortrags). Tillich hatte den ersten Vortrag am 10. November 1919, den zweiten Vortrag kurz danach vor dem im Hause des Pfarrers Friedrich Rittelmeyer in Berlin versammelten Kreis der religiösen Sozialisten gehalten (nach dem Bericht von Carl Mennicke, in: Blätter für Religiösen Sozialismus, Nr. 1, 1. Jahr, 1920), vgl. auch"Zum Text" von Nr. 12. Da Text Nr. 12 mit der Überschrift „Entwurf" beginnt, kann er als Vorstufe zum Text Nr. 13, der überdies beide Vorträge enthält, angesehen werden. Abfassungszeit: 1919, nach der Tambacher Tagung (22-25.9.1919). [1. Vortrag] Einleitung 1. Die Notwendigkeit einer principiellen Klärung seit Tambach. 1 Beides zu klären: die Kirchengeschichte und die Kulturgeschichte. 2. Die Schwierigkeit für mich, sie zu geben. Die Notwendigkeit, auf letzte Voraussetzungen zu führen; Unterschied zwischen innerem Sinn und nächsten Aufgaben einer Bewegung. 3. Der Eindruck der Zufälligkeit, den die Verbindung beider Bewegungen macht. Dieser Eindruck wird nicht [ausgehoben: a) Durch die Behauptung: Jesus war Sozialist. Diese ist falsch, b) Durch die Behauptung: Der Sozialismus ist eine Konsequenz seiner Lehre. Denn 1. ist seine Lehre historisch problematisch (z.B. Eschatologie), 2. haben wir als Evangelische keine autoritäre, sondern nur eine gläubige Stellung zu ihm, 3. gibt es keinen direkten Weg von einer

Zur Tagung von Tambach vgl. „Zum T e x t " Nr. 12.

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reinen Gesinnungsforderung zu einer Wirtschaftsordnung, c) Durch die geschichtsphilosophische Vermittlung, die zwar den richtigen Weg zeigt, aber an sich noch ein inhaltsloses Postulat ist. Erster Teil: Der grundlegende Gottesbegriff I. Das Unbedingtheitserlebnis 1. Das Gotteserlebnis der Schweizer. a) Gott als reines Willenswesen: Konsequenz: Aktivismus. Die Katastrophe des Aktivismus in der englischen Revolution. Ähnliche Erfahrungen der Schweizer mit allem Organisieren. b) Gott als Träger der Prädestination; infolgedessen Vergleichgültigung der Kirche und spezifisch religiösen Kultursphäre. Gott direkt bezogen auf die Kultur. c) Gott und das Gegengöttliche: Einfluß des lutherischen Biblicismus und Dualismus. d) Resultat: 1. Einseitige Betonung der vom Willen abhängigen Dinge. Nichtberücksichtigung der ganzen übrigen Kultur. 2. Faktische Stellungnahme für den Sozialismus und insofern de facto Aktivismus. 3. Bergpredigt. Gesetzlichkeit. 2 . Prädestination und Rechtfertigung. a) Das Unbedingtheitserlebnis der Prädestination: Einerseits ein reines Nein gegen die Wirklichkeit, andererseits eine halb gesetzliche Wiederherstellung gewisser Ordnungen. b) Das Unbedingtheitserlebnis der Rechtfertigung: J a und Nein zugleich. Grundlage: Sünde - Gnade. Erweiterung auf das Gebiet des Denkens, Zweifel und Gewißheit und Vergegenständlichung für die ganze Kultur. Hier Einheit mit Mystik und Idealismus. Absolutes Paradox. II. Das Nein a) Das Nein gegen die gesamte außerreligiöse Natur und Kultur. b) Das Nein auch gegen die Kirche; nicht im Sinne einer Kritik an der Kirche, wie es Arnold 2 tut, das ist meistens irgendwie pharisäisch und stellt sich nicht selbst unter das Nein. c) Sondern das Nein gegen die Kirche im Sinne einer specifisch religiösen Funktion, die Bedingung wird. 2

Eberhard Arnold ( 1 8 8 3 - 1 9 3 5 ) , religiöser Sozialist und Pazifist. Durch Gustav Landauers „Aufruf zum Sozialismus" angeregt, wurde er der Initiator eines

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Bei den Voluntaristen Gesetze, bei den Intellektualisten Gedanken. Teilung des Erbes der katholischen Kirche. Nicht primär Werk des Handelns, aber des Denkens bei beiden. Intellektueller Perfektionismus. d) Jesu Offenbarung, jede Konfession, jedes heilige Buch, jede Kirche steht unter dem Nein; denn es ist Kultur. Das muß auch die supranaturalistische Deutung zugeben; denn das auffassende Organ ist kulturell bedingt, und eine Scheidung nicht möglich. Kultur ist Überzeugung, aber nicht Gewißheit. III. Das Ja a) Dem Radikalismus des Nein entspricht der des Ja. b) Die Trennung von göttlichen und dämonischen Mächten ist unchristlich-dualistisch, führt zum Gegensatz von heiligen und gottlosen Sphären. c) Der Gegensatz geht mitten durch jedes Wesen hindurch. Das Beste steht unter dem Nein; das Schlechteste unter dem Ja. Zweiter Teil: Religion und Kultur 1. Die Autonomie als Grundlage der modernen Kultur a) Die Grundlagen der Autonomie in Renaissance und Reformation; die revolutionäre Aufklärung des 18., die revolutionäre Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts; ebenso autonom die klassische deutsche Kultur. b) Ablehnung jeder Heteronomie des Religiösen. 1. Die Unmöglichkeit eines religiösen [Erkennens] neben dem profanen Erkennen. Der Wissenschaftsglaube der Sozialdemokratie. 2. Die Unmöglichkeit einer specifisch-religiösen Personal- oder Sozialethik. Die ethische Selbstgewißheit des Sozialismus. 3. Die Unmöglichkeit einer selbständigen Rechtsorganisation neben dem Staat; der Kampf gegen die Staatskirche. urchristlich motivierten Siedlungsprojekts in Sannerz, Kreis Schlüchtern (im Sommer 1920). Vgl. Antje Vollmer, Die Neuwerkbewegung 1919-1935. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung. Berlin (Diss. Phil.) 1973, bes. S. 54ff., sowie Stephan Wehowsky, Religiöse Interpretation politischer Erfahrung. Eberhard Arnold und die Neuwerkbewegung als Exponenten des religiösen Sozialismus zur Zeit der Weimarer Republik. Göttingen 1980.

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c) Der autonome weltgestaltende Vernunftglaube, objektiviert durch die idealistische Betrachtung der Geschichte. 1. Die Autonomie zerstört die gesellschaftlichen Autoritäten und damit die Möglichkeit eines Machtaufbaus; Macht ist letztlich nur supranatural zu begründen. 2. Die Objektivierung dieses Gedankens in der Geschichtsphilosophie von Marx. d) Die Notwendigkeit, sich auf diese Kulturbasis zu stellen, wer sich mit dem Sozialismus einlassen will. e) Die religiöse Qualität der autonomen Kultur. 1. Die Vernichtung alles specifisch- Religiösen durch Autonomie und Rechtfertigung. 2. Der Sinn und Gehalt der Kultur selbst religiös. Das religiöse Bewußtsein beim Herangehen an die kulturellen Dinge. 3. Die Doppelrichtung des Paradox: Die anschauende und die gestaltende: Er ist da, als ob er nie zu kommen brauchte, und er kommt, als ob er noch nie dagewesen wäre. Damit Scheidung von aller Identitätsphilosophie und allem Kantianismus.

Dritter Teil: Die Immanenz I. Rechtfertigung und Immanenz (a) Die Rechtfertigung macht eine Zerteilung der Welt in eine absolute und eine relative Sphäre unmöglich. (b) Der Schnitt geht mitten durch alles hindurch. (c) Der Gedanke verschiedener Reiche ist durchaus immanent. (d) Ob äußere oder innere Weltgestaltung, ist gleich. Nur reiner Seelenrettungsstandpunkt ist ausgeschlossen und wird von der Sozialdemokratie bekämpft. (e) Kulturarbeit als Reichsgottesarbeit, und Welterlebnis als Gotteserlebnis. (f) Die mythologische Transzendenz nur dann unmöglich, wenn sie dem immanenten Gotteserleben und Gottesgestalten hinderlich wird. Nur ideale, nicht reale Bedeutung. II. Kirche und Immanenz (a) Die Notwendigkeit des Feiertages und der Konzentration auf die religiösen Elemente der Kultur.

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(b) Eccesiola in ecclesia mit relativ festen Traditionen. (c) Kulturtheologie und Kirchentheologie. Rational und irrational.

Vierter Teil: Die Menschheitsgemeinschaft I. Das Gemeinschaftserlebnis in Christentum und Sozialismus (a) Das absolute Paradox als Möglichkeitsgrund eines universalen Menschheitserlebens. (b) Die Begrenzungen im Urchristentum. 1. Die eschatologische Indifferenz; infolgedessen Eindringen von Vermittlungsformen: Relatives Naturrecht. 2. Die Verdrängung des Geistgedankens durch die Autorität und die damit verbundene Verkehrung des Glaubens zu Metaphysik der Historie mit Werkcharakter. Infolgedessen innerkirchlicher Feudalismus, außerkirchlicher Konfessionalismus. (c) Die Voraussetzung des Sozialismus das humanitäre Menschheitserlebnis. (d) Die Begrenzungen im Sozialismus durch den kämpferischen Solidaritätsgedanken. (e) Synthese der Unbedingtheit des Christentums und der Gemeinschaft des Sozialismus auf dem Boden der Immanenz. II. Die übrigen Parteien und Religionen (a) Wer nicht wider uns ist, ist für uns. (b) Die Parteien. 1. Die sozialistischen Parteien, nur, insofern sie das Gemeinschaftsbewußtsein in sich tragen; hier am deutlichsten trotz aller Grenzen. 2. Die Demokratie, insofern sie gleiche Wurzeln hat; aber nicht ihr Kapitalismus. 3. Die Konservativen, insofern sie durch die Volksgemeinschaft Menschheitsgemeinschaft wollen; nicht insofern sie die Machtscheidung nach außen und den ständischen Aristokratismus nach innen bejahen. (c) Die Religionen 1. Die christlichen Konfessionen. „Christlich" hier nur im Sinn

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von Aufhebung des Christentums als Konfession; und doch im Christentum der Durchbruch. Besser: Religiös-sozialistische Bewegung.

[2. Vortrag] Einleitung Neulich: Nachweis, daß es sich nicht um eine enge Frage handelt, sondern um die Kultursynthese überhaupt. Darum Notwendigkeit, von jeder konfessionellen Bestimmtheit, auch der christlichen überhaupt, zu abstrahieren, um den übergreifenden Menschheitsstandpunkt, den der Sozialismus enthält, auch religiös zu erreichen. Dieses bedeutet nicht Aufhebung des Konfessionellen. Es zeigt nur, daß im Christentum selbst ein Princip der Selbstaufhebung gegeben ist; denn nur, wenn das der Fall ist, kann eine Synthese von Christentum und Sozialismus erreicht werden. Ist aber diese Grundlage zugestanden, so tritt das Konfessionelle sofort wieder in sein Recht, also innerhalb des Christentums die Bindung an den von Christus ausgehenden Geist. Insofern ist die Debatte mit Arnold gegenstandslos. Es kommt nur darauf an, daß diese Bindung nicht zur Grenze des Gemeinschaftserlebnisses gemacht wird, weder in der groben Form, daß die Gemeinschaft einfach abgelehnt wird, noch in der feinen Form, daß die anderen hypothetisch als Wissensobjekte bejaht werden; kategorisch aber erst nach der Bekehrung. Eine solche Auffassung würde eine mögliche religiös-sozialistische Gemeinschaft von vornherein unmöglich machen, damit aber die Synthese von Christentum und Sozialismus zerbrechen. I. Das Ziel a. Es ist bei geistigen Dingen wichtig zu fragen, was man machen und was man nicht machen kann. 1. Nicht machen kann man zweierlei: einen Geist, der ist Offenbarung, Gnade, Intuition; und nicht machen kann man Gemeinschaft, die ist ein sinnlich-körperliches Erlebnis, das da ist oder nicht da ist. Und was man nicht machen kann, ist eine Bewegung-, eine Bewegung ist Geburt, Wachstum und Sterben. - Alles dreies aber ist Schicksal und steht jenseits des gestaltenden Willens und der Kausalitätskategorien. Ein Geist kann ohne eine Bewegung und eine Gemeinschaft bleiben. Er kann aber auch eine Bewegung auslösen, ohne zu einer Gemeinschaft zu

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kommen, und er kann eine Gemeinschaft bilden und einer Bewegung widerstreben. Er kann aber auch über eine Gemeinschaft zu einer Bewegung und über eine Bewegung zu einer Gemeinschaft kommen. Nur der Geist darf nicht fehlen, wenn er auch nicht individuell zu sein braucht. - 2. Machen kann man dreierlei: Formulieren, Propagieren, Organisieren. Ein Geist wird formuliert, eine Bewegung propagiert, eine Gemeinschaft organisiert. Dieses ist Wille und Reflexion; aber es ist nur möglich, wo ein Schicksal da ist, ein Geist, aus dem eine Bewegung oder eine Gemeinschaft werden kann. b. Es besteht nun die Überzeugung, daß ein solcher Geist da ist. Wo die sozialistische Idee mit religiösem Schwung erfaßt wird und beides zusammengeht zu einer Einheit, da ist dieser Geist vorhanden. Er ist seinem Wesen nach nicht Individualgeist, wenn auch von einzelnen getragen, und er ist auch nicht Gemeinschaft; denn er findet sich in den verschiedensten Gemeinschaften, sondern er ist Bewegung, die durch einzelne und Gemeinschaften hindurchgeht. Inwieweit sich durch Auflösung der alten Gemeinschaften eine neue aus ihr bildet, ist durchaus nicht zu sagen; jedenfalls ist sie noch nicht vorhanden. Und darum kann in dieser Richtung nichts gemacht werden. Von den drei Möglichkeiten fällt die dritte fort, das Organisieren; es bleibt das Formulieren und das Propagieren. Dieses beides können und müssen wir machen, wir müssen, wenn wir den Ausdruck einmal vage gebrauchen wollen, Formulierung und Propaganda organisieren; aber besser ist es, hier nicht von Organisieren, sondern von Machen, Gestalten, als umfassendem Ausdruck zu reden und das Organisieren da an[zu]wenden, wo wirklich ein Organismus geschaffen werden soll. Daraus ergibt sich, daß ein Doppeltes gemacht werden muß: eine Formulierungsstelle und eine Propagandastelle. Die Aufgabe der ersten ist es, die religiös-sozialistische Bewegung zu ihrem Selbstbewußtsein zu bringen; die Aufgabe der zweiten ist es, der religiös-sozialistischen Bewegung den Boden zu bereiten. II. Die Tatsachen a. Die Konfessionen A. Die christlichen 1. Das evangelische Kirchenregiment Die notwendig antisozialistische Stellung des Kirchenregiments auch abgesehen von inhaltlichen Gründen aus der formell zuwartenden

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Lage und dem Konservativismus der Volkskirchen. Die Möglichkeit, das Kirchenregiment zu überzeugen, daß eine Pionierarbeit im Sozialismus für alle Fälle erwünscht ist. Indirekte Billigung. 2 . Die Positiven Die Schwierigkeit für die Positiven, die konfessionellen Schranken zu durchbrechen infolge ihres Supranaturalismus. Verstärkung dieser Schwierigkeit bei den Lutheranern und ihrer principiell weitindifferenten Stellung. - Die Möglichkeit, vom Reich-Gottes-Gedanken und der Bergpredigt aus an sie heranzukommen. 3. Die Liberalen Der starke Zusammenhang zwischen Kirchen- und Kulturliberalismus. Demzufolge der Übergang vieler Liberalen zum Nationalismus. - Andererseits hier die Bejahung der modernen Kulturentwicklung und damit der Voraussetzungen des Sozialismus. 4 . Die Gemeinschaftsleute 3 Die Einstellung auf die Seelenrettung hinderlich. Der einseitige Jesuerotismus für alle anderen ausschließend. - Aber schon eine Bewegung vorhanden und infolge ihrer Stoßkraft höchst wichtig. 5. Der Katholicismus Die Unmöglichkeit bei allen autoritativ gebundenen Katholiken. Dagegen zahlreiche Freigewordene, die mit Recht ihre Kultformen für wertvoller halten, gerade im volkstümlichen Sinn. 6. Das Russentum Vorläufig praktisch bedeutungslos. B. Das Judentum Problem: Wird das körper-seelische Gemeinschaftserlebnis stärker als die Rasse? Für den Christen notwendigerweise. Das orthodoxe und das zionistische Judentum nur bedingt, wohl aber das freie Judentum, das in sich den schärfsten Gegensatz trägt zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Atheismus und Glaube. Daher die religiös-sozialistischen Juden besonders wertvoll. C. Die übrigen Religionen Vorläufig praktisch bedeutungslos.

Gemeint: die Gemeinschaftsbewegung. Vgl. dazu: J ö r g Ohlemacher (Hrsg.), Die Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Quellen zu ihrer Geschichte 1 8 8 7 - 1 9 1 4 . Gütersloh 1 9 7 7 .

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b. Die Sozialisten A. Die bürgerlichen Bewegungen 1. Die Freideutsche Jugendbewegung 4 Auch hier z.T. Nationalismus und (selten) Religionsindifferenz. Sonst hier die Bedingungen wie nirgends sonst gegeben; z.T. ich selbst angeregt durch sie. Auf die Verbindung mit ihnen kommt sehr viel an. 2. Die Absplitterungen der Bourgeoisie Sehr viele einzelne Intellektuelle, aber auch sonst; z.T. die rechten und Mittelparteien, deren Sammlung und Gewinnung leicht möglich wäre. Schwierigkeiten hier der ästhetische Individualismus. 3. Der bürgerliche Pacifismus Die Herrschaft der Rechtsidee als Voraussetzung einer universalen Gestaltung. Von hier Anknüpfungsmöglichkeit, soweit nicht rein kaufmännischer Interessenpacifismus. 4. Einzelne Bewegungen: Theosophie etc. B. Die proletarischen Bewegungen 1. Die christlich-sozialen Arbeiter Dies bisher die einzige Form der Synthese. Starke Organisation und große Schwierigkeiten; aber die Möglichkeit, durch Werbung zu gewinnen, weil principiell vorbereiteter Boden. 2. Die Arbeitsgemeinschaft 3 Bericht von Mennicke. 4

4

Die „Freideutsche J u g e n d " ist ein Z u s a m m e n s c h l u ß mehrerer Jugendbünde und Gemeinschaften (Pfingsten 1 9 1 3 ) . Als das „offizielle" Deutschland sich zur Jahrhundertfeier der Leipziger Völkerschlacht rüstete, veranstaltete sie den „Freideutschen J u g e n d t a g " auf dem H o h e n Meißner am 11./12. O k t o b e r 1 9 1 3 , um der „satten Bürgerlichkeit" „aus den Erlebnis- und Gestaltungskräften der neuen Jugend heraus das neu aufkommende Deutschland mit seinem in die Zukunft gewandten Antlitz, seiner Einsatz-, Schaffens- und Opferbereitschaft wuchtig entgegenzusetzen" (so Knud Ahlborn, einer der Initiatoren der Jahrhundertfeier auf dem H o h e n Meißner). Tillich hat 1 9 1 9 und 1 9 2 0 Aufsätze in den Zeitschriften der freideutschen Jugend ( „ D a s neue D e u t s c h l a n d " und „Freideutsche J u g e n d " ) veröffentlicht.

5

Die 1 9 1 1 von Friedrich Siegmund-Schultze gegründete Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost. Vgl. Franz J a k o b Geerth, Bahnbrechendes Modell einer neuen Gesellschaft. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost 1 9 1 1 - 1 9 4 0 . H a m burg 1 9 7 5 .

6

Carl M e n n i c k e ( 1 8 8 7 - 1 9 5 9 ) gehörte zu den Mitarbeitern der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin O s t und gleichzeitig zum Berliner Kairos-Kreis um Paul Tillich. Er war Herausgeber der „Blätter für religiösen Sozialismus"

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3. Die religiös-sozialistische Jugendbewegung Bericht von Wegener. 7 4. Die Parteien Die Furcht der Führer vor Verkirchlichung; andrerseits der Wunsch nach religiös-sozialistischer Beeinflussung. Hier große Möglichkeiten, aber Gefahr parteitaktischen Mißbrauchs. In den Massen alle Möglichkeiten auf dem Wege über die Philosophie. Bericht von Wegener. 5. Die religiösen Kommunisten Schwierigkeit: Die Ablehnung aller Mitarbeit mit Bürgerlichen. Bericht: Mennicke. 6. Die proletarische Jugendbewegung Die gleiche Schwierigkeit. (4. a) Der evangelisch-soziale Kongreß. Bericht: Lydia Stöcker 8 . (4. b) Der Bund Neue Kirche.' Bericht: Pfarrer Aner 10 . (4. c) Der Bund sozialistischer Kirchenfreunde." Bericht: Pfarrer Dehn 12 . (4. d) Der kirchliche Pacifismus. ( 1 9 2 0 f f . ) . Vgl. T h o m a s Ulrich, Ontologie, Theologie und gesellschaftliche Praxis. Studien zum religiösen Sozialismus Paul Tillichs und Carl M e n n i c k e s . Zürich 1 9 7 1 . 7

Carl Richard Wegener ( 1 8 8 3 - 1 9 6 7 ) , 1 9 1 9 Jugendpastor des Stadtsynodalbezirks Berlin, Tillichs enger Freund und Mitverfasser der 1 9 1 9 publizierten Leitsätze „ D e r Sozialismus als Kirchenfrage".

"

Lydia Stöcker ( 1 8 7 7 - 1 9 4 2 ) , seit 1 9 0 4 in der evangelischen Frauenbewegung tätig, 1 9 1 9 Gründungsmitglied des „Bundes entschiedener S c h u l r e f o r m e r " . Sie stieß während ihres Studiums bei Adolf von Harnack zum „Evangelischsozialen K o n g r e ß " . Am 2 6 . 5 . 1 9 1 9 referierte sie beim „Bund sozialistischer Kirchenfreunde" über „Unsere Forderungen an die K i r c h e " und im Kirchenwahlkampf 1 9 2 0 am 4 . 1 1 . beim „Bund der religiösen Sozialisten" in Neukölln über „ D i e sozialistische Frau in der K i r c h e " .

9

Der „Bund N e u e K i r c h e " ist aus der „Losen Vereinigung evangelischer Friedensfreunde" hervorgegangen, die sich im Anschluß an die Friedenserklärung deutscher Protestanten im O k t o b e r 1 9 1 7 gebildet hatte. Z u r „vorbereitenden K o m m i s s i o n " gehörte auch Paul Tillich. Der Aufruf vom Dezember 1 9 1 8 , auch von Tillich unterzeichnet, nennt als Ziele des Bundes. „ 1 . die engere Fühlung des religiösen mit dem gesamten Geistesleben, 2 . die Übereinstimmung mit den volksstaatlich-sozialistischen Idealen, 3 . das Bekenntnis zu Völkerbund und Weltfrieden, 4 . die eigene demokratische V e r f a s s u n g " .

10

Karl August Aner ( 1 8 7 9 - 1 9 3 3 ) , von 1 9 1 1 bis 1 9 3 0 Pfarrer an der Trinitatisgemeinde in Berlin-Charlottenburg. Seit dem Zusammenschluß von „Bund Neuer K i r c h e " und den „Sozialistischen Kirchenfreunden" im Dezember 1 9 1 9 wird Aner Vorstandsmitglied des „Bundes religiöser Sozialisten".

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(C) Die Freireligiösen Hindernis: der Wissenschaftsglaube, die rein polemische Einstellung gegen die Konfessionen. - Sonst Möglichkeiten. III. Die Aufgaben Wir haben die verschiedenen Kreise betrachtet, die unsere Bewegung tragen könnten, resp. nicht tragen könnten. Sie gruppieren sich für die nächsten praktischen Aufgaben in zwei Centren: das innerkirchliche und das außerkirchliche. Das innerkirchliche, als das unser Kreis sich konstituieren könnte, das außerkirchliche, das am besten auf den Schultern der freideutschen Kreise ruhen könnte. Beide Kreise hätten sich selbständig zu konstituieren und selbständig zu arbeiten. Die Einheit wäre zunächst herzustellen durch Personalunion einiger Mitglieder, später durch eine gemeinsame Stelle, (a) Der innerkirchliche Ausschuß. Zunächst ein einheitlicher provisorischer Ausschuß, der dann ganz besondere Ausschüsse bildet: Einen theoretischen und einen praktischen Arbeitsausschuß, die jeder eine größere Anzahl Mitglieder hat, z.T. in Personalunion verbunden ist und auch gemeinsame Tagungen hat, eventuell sachliche und lokale Untergruppen bildet. Die gegenwärtigen Versammlungen ins Unbegrenzte vergrößern, aber nicht öffentlich, sondern nur für solche, die auf dem Boden stehen resp. interessiert und eingeladen sind. Alles Nähere regelt der praktische Arbeitsausschuß. Jeder, der in die Bewegung eintritt, hat principiell bereit zu sein, eine der praktischen Aufgaben zu tun, die

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Von Pfarrer Günther Dehn a m 2 7 . 2 . 1 9 1 9 gegründet, wendet sich der „ B u n d sozialistischer Kirchenfreunde" an sozialdemokratische Männer und Frauen. Seine Ziele sind: „ 1 . Er will innerhalb der sozialdemokratischen Kreise unseres Volkes Verständnis für religiöse und kirchliche Fragen erwecken. 2. Er tritt ein für eine freie, selbständige Volkskirche, die weder ein Machtmittel in der Hand des Staates, noch einer bestimmten Partei oder Gesellschaftsklasse sein soll. 3. Er verlangt aber Stärkung des sozialistischen Einflusses in dieser Kirche. Insbesondere tritt er ein für die Bildung sozialistischer Gemeindckörperschaften sowie für die Wahl sozialistischer Pfarrer in Arbeitergemeind e n " (Ev. Berliner Kirchenzeitung vom 2 1 . M ä r z 1919, zit. nach: Ulrich Peter, Der .Bund der religiösen Sozialisten' in Berlin 1919 bis 1933. Frankfurt a m Main 1995, S. 52f.).

12

Günther Dehn (1882-1970), von 1911 bis 1931 Pfarrer an der Reformationskirchengemeinde in Moabit. Vgl. J . F . G . Goeters, Artikel „ D e h n " , in: T R E , Bd. 7, S. 390-392.

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der Arbeitsausschuß vorschlägt und die in der allgemeinen Versammlung zu beraten sind. 1. Der theoretische Ausschuß Die Orientierung sowohl des Theoretischen wie des Praktischen ist nicht die Kirche. Hier liegt der Unterschied vom „Bund Neue Kirche", der ein direkt innerkirchliches Reformprogramm hat; ebenso die meisten übrigen Gruppen, die sich durchaus als bezogen auf das Leben der Kirche fühlen. Die Beziehung ist die religiös-sozialistische Bewegung selbst, die natürlich auch ein Interesse hat, die Kirche zu gewinnen; aber nicht das ist ihr Sinn, ihr Weg kann auch von der Kirche weggehen. Von da aus ergibt sich seine Aufgabe. 1. Formulierung der Grundlagen der religiös-sozialistischen Bewegung selbst; Herausarbeitung eines Programms als allgemeiner Grundlage für die theoretische und praktische Arbeit. 2. Behandlung der allgemeinen Kulturprobleme vom religiös-sozialistischen Programm aus. Vor allem: allgemeine geschichtsphilosophische Beurteilung der Lage der gegenwärtigen Kultur (bürgerliche Anregungen: Hammacher 13 , Cohn' 4 , Spengler15, Lessing16). Die einzelnen Kulturprobleme zu behandeln vom Standpunkt des religiösen Gehalts, nicht der profanen Form. Im Sinne der religiösen Auffassung der Immanenz. Also: Politik der Gerechtigkeit im Sinne des absoluten Gemeinschaftserlebens. Innen vom Gesichtspunkt der Menschenwürde, außen vom Gesichtspunkt der Menschheitsgemeinschaft. Ethik: Austreibung der kapitalistischen Elemente im Gemeinschaftsleben (Ehe, Gesellschaft, Pädagogik). Personalethik: Das Problem der autonomen ethischen Persönlichkeit, der Sinn des Individualismus. Kunst: Die moderne Kunst als Ausdruck religiös-sozialistischer Einstellung zur Welt. Profane und religiöse Kunstbetrachtung. Wissenschaft. Die Überwindung der Skepsis durch das Unbedingt heitserlebnis. Die bürgerlich-profane und die religiös-sozialistische Philosophie. I!

Emil H a m m a c h e r : D a s philosophisch-ökonomische System des M a r x i s m u s . 1 9 0 9 ; Die Bedeutung der Philosophie Hegels für die Gegenwart. 1 9 1 1 ; Hauptthemen der modernen Kultur. 1 9 1 4 .

14

J o n a s C o h n , Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. 1 9 1 4 .

"

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1, 1 9 1 9 .

16

T h e o d o r Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. 1 9 1 9 .

261

Also eine universale Kulturkritik vom religiös-sozialistischen Standpunkt. 3. Die Probleme der specifisch religiösen Kultur: Kirchenkritik. Lehre: Die Gestaltung der religiösen Verkündigung in der evangelischen Kirche vom Standpunkt der religiös-sozialistischen Idee. Kultus: die Mystik als Grundlage einer Gestaltung des Kultus im religiös-sozialistischen Sinne. Persönlichkeit: Neuere Psychologie der Frömmigkeit, Bekehrung etc. Gemeinschaft: Einsicht in die Bedingtheit des Ethischen durch das Wirtschaftliche. Kirche: Der Sinn der Kirche auf autonom religiös-sozialistischem Boden. Alles das nicht im Sinn einer Kirchenreform, sondern ganz selbständig durchgebildeter Ideen, aber nicht abstrakt, sondern auf dem Boden der konkreten Kirche. Dieses der Vorteil, aber auch das Schwierige der innerkirchlich-religiösen Bewegung. 2. Der praktische Ausschuß Allgemeine Aufgaben: 1. Zusammenschluß der Bewegung, 2. Heranziehung von Menschen in die Bewegung, 3. Verbreitung des religiös-sozialistischen Geistes in der Kirche, 4. Betätigung der Mitglieder in konkreten religiös-sozialistischen Aufgaben. (ad 1) Erweiterung der Einladungslisten zu Teilnehmerlisten. Gewinnung von Teilnehmern in der Provinz. Gründung eines Korrespondenzblattes, das jeder beziehen muß nicht wegen des Geldes (das ist da), sondern wegen der Gemeinschaft. - Vorbereitung der Versammlungen und Zusammenkünfte. (ad 2) Keine wahllose Propaganda, sondern Heranziehen der persönlichen Bekannten. Dazu Bereitstellung von programmatischen Sachen ohne jede agitatorische Tendenz (Unterschied von Hartmann 17 etc.); nur reine Darstellung dessen, was wir sind. Keine öffentlichen Versammlungen. (ad 3) Verseuchung der Zeitschriften, Zeitungen, Konferenzen, Versammlungen, Gesellschaften mit religiös-sozialistischem Geist. Amtsführung der Pfarrer aus diesem Geist heraus. Erklärungen gegen unsozialistische. 17

Hans Hartmann, Pfarrer in Solingen-Foche, Mitglied der USPD. Durch seinen Aufruf vom Juni 1919, erschienen in der „Christlichen Welt" 1919, Nr. 18, entstand die „Religiös-Soziale Vereinigung in Deutschland", die die Tambacher Tagung (22.-24.9.1919) veranstaltet hatte.

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(ad 4) Realisierung von Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. b. Der außerkirchliche Ausschuß Mitteilungen über die Möglichkeiten c. Verhältnis beider zueinander Möglichst centralistisch der theoretische Ausschuß; möglichst decentralistisch der praktische Ausschuß. Einheitlichkeit des Korrespondenzblattes. Schluß: Nicht am Anfang, sondern am Ende. Das ganze ein ungeheurer Rationalisierungsproceß. Was übrigbleibt, sind gewisse große Grunderlebnisse, die überall wiederkehren. Im übrigen heißt es warten. W i r gleichen nicht dem ersten Jüngerkreise, sondern den eschatologischen Kreisen oder den Mysterienkreisen, die einen Boden bereiteten, auf dem dann der neue Geist wachsen konnte. Er wird auch bei uns wachsen, wie, weiß man nicht.

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14. Volkshochschule und Weltanschauung Zum Text: Beide Versionen sind nacheinander in Vo / (PTAH, 110:001) eingetragen (nach den Texten Nr. 12 und 13). So ergibt sich als Abfassungszeit der Zeitraum 1919 oder 1920. 1. Version I. Das principielle Verhältnis beider 1. Die Notwendigkeit, jedes gegenwärtige Unternehmen daraufhin zu prüfen, o b es Anfang oder Ende ist. Die M e r k m a l e eines Endzustandes auf dem Gebiet der Bildung: 1. Fachwissen und fachwissenschaftlicher Geist. 2 . Historicismus und R ü c k w e n d u n g des Blickes. 3 . Intellektuelle Z ü c h t u n g statt geistiger Kultur; Wissensvermittlung statt Erziehung. 4 . Übergang des Wissens auf die M a s s e n . Verbreitung = Verflachung. Die M e r k m a l e eines Anfanges auf dem Gebiet der Bildung: 1. Die Sehnsucht nach allgemeinen Überblicken; das Absterben der fachwissenschaftlichen Kraft. 2 . Die Hinwendung zur N a t u r oder Übernatur: dies eschatologische [Stimmung] statt der historischen Stimmung. 3 . D e r Schrei nach Seele und Persönlichkeit. Körper-seelische Erziehungsideale. 4 . Die Bildung esoterischer Kreise; V e r a c h t u n g der Bildungsmassen. A n f a n g und Ende berühren sich; der Anfang ist als R e a k t i o n und Sehnsucht da, noch nicht als Wirklichkeit. 2 . Die Notwendigkeit, die Volkshochschule zu einem Werkzeug des Anfangs zu machen; ihre ungeheure Bedeutung unter diesem Gesichtspunkt. Die Forderung eines rücksichtslosen geistigen K a m p fes gegen die Versuche, sie zu einer Beschleunigung des Endes und der Auflösung zu benutzen. 1 Folgt gestr.: Die Möglichkeit, auch die Philosophie als Fachwissenschaft zu lehren, als Bildungsmittel ... Die Möglichkeit, andererseits jedes Fach als Ausdruck eines Seelischen in Sehnsucht oder Haben zu geben.

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3. Entscheidend ist die Unterscheidung von Weltanschauung als Unterrichtsgegenstand und als Unterrichtsbasis. Das erste ist bewußt und kann intellektualistisch und gemacht sein; das zweite ist unbewußt und darum immer da und wirkt auf alles mit Notwendigkeit ein. (a) Es ist nicht sachgemäß, bloß von Weltanschauung zu sprechen: das ist noch zu intellektualistisch. Sondern es handelt sich um die substantielle seelische und geistige Verwurzelung; nur wer sie hat, kann Pädagoge sein. Die Vielwisserei hilft hier gar nichts. Es gibt kein Fach, das von den Wirkungen dieser Innerlichkeit unberührt wäre, nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern auch die Stellung zur Natur; es ist dabei nicht einmal eine bestimmte Stellungnahme gemeint, sondern ein Hindurchschwingen gewisser seelischer Qualitäten durch den ganzen Unterricht, (von kirchlichem Religionsoder politischem Parteiunterricht) (b) Direkter Weltanschauungsunterricht. Nicht möglich in Form der Religion, sondern in der mit dem allgemeinen Kulturbewußtsein verbundenen Form Philosophie. 1. in direkter Darbietung der Philosophie, 2. in philosophischer Methode in allen Fächern. 2 Verhältnis von Hochschule und Volkshochschule. Erstere der Wissenschaft und über sie den geistigen Führerberufen, die zweite dem Leben, unter dem Gesichtspunkt der Bewußtwerdung der Lebensfunktionen. Nicht Wissenschaft nach Methoden und Resultaten, nicht nur theoretische Wissenschaft, sondern Bewußtwerdung, Vertiefung, Leitung der Lebensführung. II. Der Gegensatz der Weltanschauungen 1. Die vier Hauptformen in Deutschland: 1) Katholische Weltanschauung, 2) Positiv-protestantische Weltanschauung, 3) Bürgerlichliberale Weltanschauung, 4) Sozialistische Weltanschauung. 2. In jeder dieser vier eine Seele, eine bestimmte geistige Erlebniswirklichkeit - und eine Reihe von Negationen der anderen. Positiv im Katholicismus: Die autoritär begründete einheitliche, Natur und Übernatur zusammenschließende religiöse Weltanschauung mit Durcharbeitung aller Fragen unter dem Stufensystem des

Folgt gestr.: Erziehung der Hörer durch Auswahlbevorzugung geeigneter Fächer für die Wahl derartiger Gegenstände.

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Religiösen. Negativ: Das mit der Autorität gegebene Mißtrauen gegen die autonome Geistigkeit, sowohl im religiösen wie im liberalsozialistischen Sinn. Protestantismus. Positiv: Die auf die innerseelischen Kategorien Schuld, Sünde, Gnade, Rechtfertigung, Prädestination gegründete Weltanschauung, in der der einzelne Gott allein gegenübersteht und seine Aktivität als innerweltliche Asketik und schaffende Kulturarbeit wirken läßt. Trotz aller Bindungen principielle Autonomie. Negativ: Mißverstehen der Mystik und der Bedeutung des Autoritätssystems im Katholicismus, der autonomen Kultur, [das] unbiblisch ist (antisozialistisch infolge Biblicismus). Liberalismus. [Positiv:] Die autonome Geistigkeit, die Kraft des einzelnen, die Freiheitsidee. Negativ: die Zerspaltenheit des Geistes. Die trübe Immanenzseligkeit. Die wirtschaftliche Rücksichtslosigkeit. Sozialismus. [Positiv:] Die Einheit einer allumfassenden Lebensanschauung. Gestaltung der Wirklichkeit, Gemeinschaft. Negativ: Antikirchlich, Gefahr des Antiindividualismus. Klassenkampf (Idee der sozialistischen Kultur) Geschlossenheit eines Kultursystems (Katholicismus und Sozialismus). Mehr individualistisch (Protestantismus und Liberalismus) III. Die Einheitspunkte3 1. Die Bejahung des Geistigen überhaupt Der gemeinsame Kampf gegen den Materialismus, a) Gegen den theoretischen durch Philosophie und Wirkenlassen des Geistigen überhaupt. Die materialistische Geschichtsauffassung nicht materialistisch, sondern ökonomisch, b) Durch wirkliches geistiges Leben, das in sich die Gewißheit und Überlegenheit hat im Gegensatz zum Mechanismus. Gewöhnung [?] an Stadien des Geistigen.

3

Folgt gestr.: (a) Die N o t w e n d i g k e i t infolge der nationalen Einheit, eine irgendwie bestimmte Einheit zu finden. Die nationale Idee nicht ausreichend, da o h n e Inhalte rein eudämonistisch-materialistisch, um der höheren Ideen willen abgelehnt. (b) Die unmittelbar gegebene Möglichkeit einer einheitlichen R i c h t u n g ganz allgemeiner Art.

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2. Das Gemeinschaftsgefühl Kampf gegen die Auflösung der Gemeinschaft, für Gemeinschaftsgefühl. Die Grundgedanken der neuen Solidarität, ihre Durchführung in den verschiedenen Sozietäten; national und übernational. Problem: Persönlichkeitswerdung. Liberalismus. Zusammenleben zum Zweck der Herstellung geistiger Gemeinschaft. 3. Das unbedingte Werterlebnis Das Bewußtsein, in der letzten Tiefe eines Seins zu stehen. Das Hindurchschwingen der Gefühle des Heiligen in allen Werten. Nicht das, was das Heilige ist, entscheidend, sondern das daß. Profane Gesinnungen in allen Kreisen (Leidenschaft des Geistes, Verantwortung). Kampf gegen den großen Profanisierungs-, Entleerungsproceß auf allen Gebieten. Die Bedeutung der inneren Spannung als höchste Kulturkraft, wenn es nicht zum Bruch kommt. Aber nicht abstrakt, sondern von den Gruppen aus. Drei Formen des Staatlichen 1. Die mittelalterliche: Staat und Gesellschaft fallen zusammen. Staat ist die Selbstverwaltungsform der Stände. Kulturträger die Kirche, die universal die gesamte Welt umspannt und in Papst und Kaiser gipfelt. 2. Die Niederkämpfung des Kaisers durch den Papst; infolgedessen Erhebung der Landesfürsten und - der Reformation. Das Landesfürstentum gestützt durch Heer und Beamtenschaft. Die Kultur einschließlich Religion eine Angelegenheit des Kabinetts. Cuius regio, eius religio, eius schola. 3. Die Durchbrechung dieser Stellung bei den Engländern; der einzelne und der freie Verein. Der Staat als reiner regulierender Nützlichkeitsstaat. Die gesamte Wertsphäre in dem einzelnen. Dafür in England wesentlich gleichartige konservativ-religiöse Gesinnung, andererseits statt geistiger Kultur politische Praxis. 4. Am schwersten die Lage bei uns. Einerseits tiefer Gegensatz, andererseits geistiges Staatsideal (Hegel). Alternative: Geistiges Auseinanderfallen oder Versuch einer Einheit. Kein Ersatz der Nationalismus. Denn dieser ohne die Inhalte ein formaler oder Machtbegriff.

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2. Version Einleitung: Darbietung der Disposition: (a) Bildung und Weltanschauung, (b) Staat, Gesellschaft und Bildung, (c) die vorhandenen Gruppen, (d) die idealen Forderungen an die Gruppen. I. Bildung und Weltanschauung a) Nicht die verschiedenen Bildungsideale der Weltanschauungen, sondern eine Auffassung, die allen insofern gemein ist, als sie Weltanschauung sind, nämlich, daß überhaupt beide in Zusammenhang stehen. Dieses nicht selbstverständlich; denn es gibt eine doppelte Möglichkeit, dem zu entgehen zu suchen, die beide typisch ungeistig sind, indem sie entweder den Geist zu einer Sache machen (Bildung gleich Wissen) oder den Menschen zu einer Sache machen (Bildung gleich Staatserziehung). Dieser Zerfall tritt immer dann ein, wenn eine bestimmte Kulturseele ihre gesamten Inhalte reflektiert und damit vergegenständlicht hat. Dieser Zustand macht sich bemerkbar a) 1. in der reinen Rückblicklichkeit des Historicismus, 2. in der reinen Fachlichkeit des Interesses, b) 1. in der Auffassung des Wissens als Machtquantität, 2. zur Vermittlung an möglichst viele: möglichst hohes Glück = möglichst hohes Wissen. Gegen dieses alle Parteien, die in einer Weltanschauung wurzeln, d.h. in denen die Seele noch im Unmittelbaren lebt. Sie werden sich dagegen wehren, daß die Negativitäten noch mehr um sich greifen. Sie werden nicht eine Bildung bejahen können, die diese Unmittelbarkeit allgemein auflöst; sie werden die Volkshochschule nicht zu einem Werkzeug der Entleerung, Verdinglichung, Technisierung des Geistes und der Persönlichkeit machen wollen. Nicht zu jeder Zeit pflegt derartiges möglich zu sein, und es kann bedauert, aber nicht geändert werden; wäre dem so, so wäre es zu befördern; nun aber ist die Peripetie schon da. Schon vor dem Kriege in prophetischen Geistern, die in sich selbst das Seelenerlebnis gemacht haben und 1. nach neuen Synthesen, 2. nach neuen Schöpfungen trachteten und die infolgedessen 1. möglichst tief, 2. für die, die der Tiefe fähig sind (also Esoterismus). Diese durch den Krieg äußerlich zusammengebrochen. b) Die „Weltanschauung" kann selbst intellektualisiert sein. Man kann sie auffassen entweder als richtiges Dogma oder, wenn das gebrochen ist, als spielerische Velleität philosophischer Art. Philoso-

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phie more philosophico = als Seele, als unmittelbare Berührung mit dem „Grund". Wenn dem so ist, dann wirkt die Weltanschauung de facto in allem ein, wenn Menschen da sind, die sie haben. Und nur solche können wir brauchen. Schwieriger der direkte Weltanschauungsunterricht; hier konfessionelle und parteipolitische Seite ausgeschlossen. Darüber die kommenden Vorträge; jedenfalls scheint hier folgende Alternative vorzuliegen: Entweder wir verzichten auf Weltanschauung, dann ist nur sachlich-unpersönliches Bildungsziel möglich, oder wir verzichten nicht darauf, dann entsteht die Frage, ob die charakteristischen Typen sich das gefallen lassen. Das führt zu der Frage nach dem Einheitsziel der Bildung. II. Staat, Gesellschaft und Bildung 1. Der Staat in unserem Sinne eine Bildung historischer Spätzeiten, ein Produkt der Abstraktion. Ursprünglich eine Gesellschaft, die sich selbst verwaltet und deren Selbstverwaltung auf kulturellem Gebiet von der ihr innewohnenden Religion der Kirche getragen wird. Das Bildungswesen ist Religionssache, d.h. Sache der im corpus christianum zusammengefaßten religiösen Gesellschaft. Diese geht auch über die nationalen Grenzen. Sie trägt aber den Dualismus in sich: das irdische Gottesreich, daher Kaiser und Papst. 2. Der Papst siegte; eben damit aber wurde die eigne Wurzel abgegraben; an Stelle des Kaisers tritt der Landesfürst. Das Zeitalter der Abstraktion beginnt: die einheitliche Gesellschaft löst sich auf; es entsteht der abstrakte Staat, dessen Dokument das Heer und die Beamtenschaft ist; dieser Staat reißt nun alle Macht an sich. Dokument das Landeskirchentum und die staatliche Bildungspflege von der Universität, deren Gründungszeiten in diese Periode fallen, bis zur Volksschule (Parallele mit dem Merkantilismus). Cuius regio, eius religio, eius schola. Dieses principiell auch nicht anders in einem demokratischen Staat, der genauso absolutistisch sein kann. 3. Der Durchbruch von der religiösen Seite her, wo die stärksten antistaatlichen Kräfte und Freiheitsnotwendigkeiten vorliegen und zwar in Deutschland, indem beide Konfessionen da gleich betrachtet wurden, wo sie stark vertreten waren; hier fortwährende Kämpfe, da gleichzeitig das Ideal aufrecht erhalten wurde. - Anders in England, wo sich aus dem Dissidententum das liberale Staatsideal entwickelte;

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möglichst wenig Eingriffe; freie Vereine etc., aber hier ein fester protestantischer Boden und Ausnahmegesetze gegen Katholiken. Dieses ergibt eine Lebensmöglichkeit mit höchster politischer Macht (überall in der Welt: Schutz von Leben und Eigentum), aber schwacher geistiger Produktivität. 4. In Deutschland könnte das liberale Ideal die einzige Lösung scheinen; dann kann jeder erziehen, wie er will, es gibt gerade starke Persönlichkeiten; die Kompromißwirtschaft hört auf, und was uns alle eint, ist das nationale Ideal. Dieses war im Grunde die Stimmung im Kriege. Jetzt propagiert von Steiner. Der Kampf um die konfessionelle Volksschule; die Idee der kirchlichen Schulen etc. Dieses aber verhängnisvoll; denn es besteht nicht die Möglichkeit, für uns einen Ersatz zu finden. 1. Diejenigen, die England nachahmen wollten und Imperialismus predigten, verkauften unsere Erstgeburt für ein Linsengericht; sie sind widerlegt worden (Machtnationalismus). 2. Kulturnationalismus. Wir wollen unsere deutsche Kultur darbieten; das ist die Lösung, aber das ist ja nur ein quid pro quo; denn in der deutschen Kultur sind ja gerade die Gegensätze. Es ist uns unerträglich, daß die geistigen Dinge aus unserer öffentlichen Debatte verschwinden; wir haben dann nichts mehr, was uns eint; es muß ein Weg gefunden werden, der weder die Eigenart tötet und zum Skepticismus führt noch zur Trennung zwingt. Dazu III. Die vorhandenen Gegensätze 1. Entsprechend dem mittelalterlichen Gesellschaftsideal der Katholicismus. 2. Entsprechend der Periode der Abstraktion und des Landesfürstentums der Protestantismus. 3. Entsprechend der Demokratie der Staatssozialismus. 4. Entsprechend dem Liberalismus der Individualismus. Die Typik der Weltanschauungen: 1. Katholicismus. Idee eines supranatural begründeten, kirchlich geleiteten Systems, in dem die Kirche alle Geistigkeit censuriert und das Ziel im Übernatürlichen liegt; daher Letzteres das Himmelreich; alle Pädagogik supranatural. - Darüber Reception vieler Dinge, soweit sie das System nicht berühren. Die Seele dieses Baus eine Mystik, die das ganze Leben umfaßt und immer unmittelbar und real mit dem Göttlichen in Beziehung bringt.

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2. Konservativ-protestantisch. Der Durchbruch der autonomen Frömmigkeit, die grundsätzlich ohne Vermittlung direkt in Beziehung mit dem Absoluten tritt und darin principiell autoritätsfrei ist, de facto aber sich an die kirchliche Lehrautorität der Schrift gebunden weiß, daher die Inkonsequenz. - Damit aber verbunden die Überlassung der irdisch-politischen Dinge an die Vorsehung Gottes. Irrationales Machtprincip; hier Ansatz des Machtnationalismus und der innenpolitischen Gewalt. Das Ziel: Rechtfertigung der inneren Seele und Gehorsam in der Welt, Pflicht etc.

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15. Pessimismus und Christentum Zum Text: Hs. im Heft Vo l (PTAH, 110: 001). Wie der zuvor eingetragene Text Nr. 14 stammt dieser Text aus dem jähr 1919 oder 1920. Einleitung. Die falsche Art, derartige Probleme zu behandeln. Die Begriffe fixiert zu nehmen, wie naturwissenschaftliche, sie nach äußerlichen Merkmalen zu begrenzen, um etwa die Unvereinbarkeit festzustellen und das eine von anderen her zu kritisieren und die überwindende Kraft zu zeigen, so daß man beruhigt nach Hause gehen kann. - Dieses ist eine unlebendige Auffassung von Geist, die Resultate und Absolutheiten. Geist aber ist Leben; und jede Definition ist ein Stück Mitleben und Weiterschaffen. Erster Teil: Die allgemein-menschlichen Voraussetzungen des Pessimismus I. Das Leiden und der Kampf; der Mythos des idealen Urzustandes. Die Reception dieser Gedanken in das naturrechtliche Denken der Stoiker. - Oder in einem Nirwana bei den Indiern. Mystik und Neuplatonismus. (Sensibilität) II. Die Decadence-Situation; die Ermüdung nach der Produktion hoher Kulturwerte; der Relativismus und die Skepsis. Der Verlust der Unbedingtheitseinstellung und damit des Lebenssinns überhaupt. Zweiter Teil: Die geschichtsphilosophische Konstruktion 1. Beide Formen des Pessimismus in der ausgehenden Antike. - a. Der eudämonistisch-religiöse [Pessimismus] als Sehnsucht der Menschen, Wiederkehr der Kulte, Okkultismus, Mystik etc. b. Der dekadent-metaphysische infolge Erschöpfung der gesamten antiken Werte; die Seelenmentalität des „Endes" etc. Gleichzeitig auf dem Boden des religiösen Pessimismus in unverbrauchter Kultur des Orients ein neues Werterlebnis, das in Christus konkrete Realisierung fand.

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V o n hier aus a) der Inhalt für die Sehnsucht des eudämonistischen Pessimismus war gefunden in einem neuen Jenseitserlebnis, b) Eine neue Werterfüllung war gegeben, die über die antike Kultur hinausführte und zu neuen Kulturschöpfungen auf allen Gebieten (Kunst, Wissenschaft, etc.) [führte]. 2 . Das Mittelalter als Träger höchster Kulturschöpfungen, aber im Zusammenhang mit einer transcendenten Überwindung des Pessimismus. Dieser sehr stark vorausgesetzt. Aber allmählich infolge der Herrschaft der Kirche übergehend in einer kulturfreudige Stimmung, die in der Renaissance zu einer neuen vollen Bejahung der Immanenz führte. 3. Der neue Optimismus. Das J a zur Natur, zur Vernunft. Die ideale Gestaltung dieser Welt; das eschatologische Schwingen im Sinne der Immanenz. Der Ausdruck dieser Stimmung a) in der Bejahung der natürlichen Vernunft. Naturwissenschaft. b) in der neuen Kunst, Natur, nicht Stilisierung. c) in der neuen Wirtschaft; Freiheit der natürlichen Dinge. d) in der Ethik biologischer Personalismus. e) in der Metaphysik: die Welt ist aus allen möglichen die beste. Die Lage innerhalb der Religion. 1. Rückkehr bei Luther zu der urchristlichen Stimmung; Kampf gegen die Vernunft u.s.w. Staat aus der Sünde. 2 . Überwindung der realen Transcendenz durch die Rechtfertigung a) in der Wissenschaft durch das Autonomie-Princip und die gleichzeitige Reception des Humanismus, b) in der Ethik durch die innere freie Persönlichkeitsentwicklung ohne magische Einwirkung, c) in der Wirtschaft durch Tendenz zum Merkantilismus. Die Durchsetzung dieser Stimmung bis zum 18. Jahrhundert. Ersetzung der revolutionären Energie durch den Fortschrittsgedanken. 4. Der neue Pessimismus der Immanenz. 1. Der wirtschaftliche Pessimismus: Malthus. Gesetz der Bevölkerung. - V o n dort Darwin: Der Kampf ums Dasein und die Ausrottung der Schwachen. - Von dort Nietzsche und die Bejahung der Unterdrückung und Gewalt. 2 . Der logische Pessimismus oder die Anerkennung des Irrationalen. Der Durchbruch Schellings durch die rationale Logik; die Einsicht in das Dunkle in Gott; das Erlebnis, daß Gott selbst am Leiden und Werden beteiligt ist.

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3. Die aus der Romantik stammende realistische Psychologie; die Einsicht in die unidealistischen Motive, das radikale Böse; die Dichtung. 4. Die realistische Kunst, ihre Natur- und Gesellschaftsschilderung: Ibsen, Strindberg, Tolstoi, Zola. 5. Die französische Dekadence und der ästhetische Selbstgenuß der Auflösung. 6. Der geschichtsphilosophische Pessimismus: Spengler gegen „Fortschritt". 7. Der metaphysische Pessimismus; Konsequenz des Irrationalismus: das Absolute selbst leidet und soll vom Leiden erlöst werden und mit ihm die Welt. Dritter Teil: Die Reaktion gegen den Pessimismus 1. Die Reaktion gegen die Gesamtentwicklung seit dem Mittelalter resp. Altprotestantismus: die Rückkehr zur Transcendenz und zu den christlichen Werten, dabei Ausschluß der Skepsis. Die Unmöglichkeit dieser Richtung: die Zwischenentwicklung läßt sich nicht einfach auswischen. 2. Die Eschatologie des Sozialismus: die Idee der vernunftgemäßen Weltgestaltung. - Die Notwendigkeit des Schwindens der eschatologischen Begeisterung mit dem Sieg. 3. Die Bejahung des Lebens unter Ausschluß der Dekadence. Nietzsche. Damit Aufhebung des Glücksgesichtspunktes in den Wertgesichtspunkt. - Falsch die naturalistisch-biologische Form, die nur für wenige möglich ist. 4. Kritik der Skepsis und des dekadenten Pessimismus durch Selbstaufhebung; ebenso des metaphysischen. Das Nichtigkeitserlebnis zu vertiefen bis zu einem höchsten Punkt; dann das Umschlagen in das Realitätsgefühl. 5. Forderungen an das Christentum, dieser Lage gewachsen zu sein. a. Die volle Bejahung der Immanenz. b. Die Aufhebung der konfessionellen Beschränktheit als Konsequenz des Endzustandes. c. Die klare Einsicht in die Lage und die deutliche Abgrenzung gegen die orientalische Mystik. d. Weltgestaltender Aktivismus, der alle Hindernisse eines neuen Menschheitserlebens bei Seite stellt und in dieser Aktivität einem neuen Anfang entgegengeht.

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16. Religion und Kultur Zum Text: Hs. im Heft Vo III (PTAH, 110:003). Da sich in den Heften Vo II und III Ausführungen zum Thema „Masse und Persönlichkeit" finden und Tillich über dieses Thema am 23.6.1920 vor dem Evangelisch-sozialen Kongreß einen Vortrag hielt, ist dieser Text wohl im Jahre 1920 verfaßt worden. Einleitung I. Ist das Religion oder Kultur? a. Messe im Dom, Glockengeläut, gothische Halle, Weihrauch, Bilder von Rubens, Musik von Palestrina, Bischof - Klerus - Volk, Dramatik. b. Presbyterianerfeier, Sonntagskleid, steif, gleichartig, ernst, würdig, Psalmengesang, Verlesung des Gesetzes des Glaubens, Predigt im schwarzen Rock, über das Werden der sittlichen Persönlichkeit aus Gott und sein Verhalten im sozialen und wirtschaftlichen Leben. c. Ein buddhistischer Mönch, der die Stufen der Erhebung durchläuft, alle gedanklichen und körperlichen Handlungen vorgenommen hat, die auf jeder Stufe nötig sind, und dicht an die Seligkeit des Nirwana herangerückt ist. II. Ist das Kultur oder Religion? a. Die Klänge einer Beethovenschen Symphonie. Alle Gewalten der Seele werden wach. Kämpfe, Siege, Niederlagen, alles getragen von Tönen überirdischer Schönheit. Ein lauschendes Volk, das Bewegtheit und Verbundenheit widerspiegelt. Kultur oder Religion? b. Eine Nachtsitzung der französischen Nationalversammlung im Anfang der Revolution. Abschaffung der Privilegien. Rausch der Gleichheitsidee, der Menschenrechte, der neuen Weltzeit; selbst die Widerstrebenden hingerissen zu freiwilligem Verzicht. c. 1 Naturanschauung nach Bildern van Goghs: Farbe, Dynamik, universales Leben. 1

Davor gestr.: Abendstimmung in Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh . . . "

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Die Schwierigkeit, die Begriffe zu unterscheiden, und die Notwendigkeit für beide. A I. In jedem religiösen Akt ist ein kultureller Akt immanent a. Wo es sich um Kultakte handelt. Jeder Kultakt setzt einen Kultmythos voraus, in dem die phantasievollen oder wissenschaftlichen Weltbildelemente verschmolzen sind. Er setzt eine Kultgemeinschaft voraus, die irgendwie gegliedert ist und unter allgemeinen soziologischen Gesetzen steht. Sie setzt eine Kultsitte und Ethik voraus, die Bedingung der Teilnahme oder beabsichtigte Wirkung derselben ist; sie bewegt sich in Kulturformen, die selbst in primitiver Ausführung alle Künste in sich vereinigen. b. W o es sich um prophetische oder regulierte Wortverkündigung handelt. Das prophetische Wort enthält in sich: ein allgemeines Weltbild, eine gegenwärtige Geschichtsauffassung, eine Psychologie, eine Ethik. Es bewegt sich in wissenschaftlicher oder dichterischer Form und stiftet eine soziologische Formung, zunächst der Anhänger. c. W o es sich um persönliches Verhältnis zu Gott handelt. Auch in jedem individuellen Gebet ist vorhanden: die objektive Weltanschauung und die objektiven Vorstellungen, die aus der Sozietät stammen und mit der Sozietät verbinden; zugleich bezieht sich das Gebet auf die kulturelle Wirklichkeit, z.B. in sittlicher Beziehung; Herstellung von Gemeinschaft. Aber auch die Mystik und Versenkung schafft einen Reichtum innerer Zustände, die mehr oder weniger gegenständlich gefaßt werden können, immer aber zum mindesten mit musikalischen Gefühlserregungen auf gleicher Stufe stehen. Vorausgesetzt aber sind bestimmte ethische Anschauungen und Folge ist eine bestimmte Persönlichkeitsbildung. II. Dieses ist begründet in dem System der Geistesfunktionen a. Diejenigen, in denen das Bewußtsein die Wirklichkeit aufnimmt, die theoretischen; die begriffliche Aufnahme und die anschaulichgefühlsmäßige Aufnahme. Das eine gegenständlich, das andere zustand lieh bezogen.

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b. Diejenigen, in denen das Bewußtsein die Wirklichkeit gestaltet, die praktische, die politisch-rechtliche, die sich auf die Gestaltung der Verhältnisse, und die ethische, die sich auf Gestaltung der Persönlichkeit bezieht. Kultur ist jede Tätigkeit, die aufnehmend oder gestaltend die Wirklichkeit formt nach den jenen Funktionen immanenten Gesetzen des Theoretischen oder Praktischen.

B I. Nach Analogieschluß wäre zu erweisen, daß in jedem Kulturakt ein religiöser Akt immanent wäre. Dazu aber eine vorherige Verständigung über das Wesen des Religiösen notwendig. a. Eine neue Provinz zu entdecken ist nicht möglich, auch nicht das Gefühl, da das Gefühl schlechthin unbestimmt ist, und jede Bestimmung theoretisch oder praktisch wäre. Es kann sich also nur um eine Qualität der übrigen Funktionen handeln, die entweder notwendig oder zufällig ihnen innewohnt. Diese Qualität ist die Richtung auf das Unbedingte. Religion ist Gerichtetsein der theoretischen und praktischen Geistesfunktionen auf das Unbedingte. b. Jeder kulturelle Akt erstrebt in seiner Sphäre Unbedingtheit der Form, sei es theoretische Wahrheit, sei es praktische Gültigkeit; er stellt sich unter das Gericht einer absoluten Idee, einer unbedingten Form, die er in der konkreten Begrenztheit realisieren will. In dieser Form aber will er mehr verwirklichen als nur eine Form; es ist das Unbedingt-Wirkliche selbst, das er erfassen oder zur Darstellung bringen will. Die Unbedingtheit der Form ist nur der Ausdruck dafür, daß die Unbedingtheit des Seienden selbst, der letzten Wirklichkeit, gemeint ist. Der Ernst, die Tiefe, die Erschütterung, das Abgründliche und das Erhebende, was in jedem Kulturakt liegen kann, ist in dieser Beziehung auf das Unbedingt-Wirkliche gegeben. c. Es fragt sich nun, o b diese Beziehung in jedem Kulturakt liegen muß. Darauf ist zu antworten: Insofern jede bedingte Form unter dem Geist und der Sehnsucht der unbedingten Form steht, ist dem Sinne nach in jedem Kulturakt Religion enthalten. Insofern aber der Kulturakt vorgenommen werden kann ohne Rücksicht auf diesen ihm inneren Sinn, ist die Möglichkeit einer unreligiösen Kulturtätigkeit gegeben, d.h. dem Sinne nach ist jede Kulturfunktion religiös, der Ausführung nach kann sie religiös und kann sie profan sein.

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Die Möglichkeit der profanen Kulturtätigkeit ist darin gegeben, daß die Form losgelöst werden kann von ihrem Sinn, das UnbedingtWirkliche zu fassen, daß sich die Tätigkeit auf die Form als Form richten kann; in diesem Falle wird die Kulturtätigkeit technisch. Die Möglichkeit der profanen Kultur liegt also in der technischen Auffassung. Die technische Auffassung fragt nach den Mitteln für einen begrenzten Zweck, ohne diesen Zweck selber als Lebenswirklichkeit zu begreifen. Das hat nichts mit Technik zu tun, die als Ganzes ebenso wie die Natur religiös und profan, lebendig und technisch aufgefaßt werden kann. Logicismus und Ästheticismus, Prakticismus und Activismus sind Urteilswerte über die technisch-profane Auffassung der Kultur als einziger. - Nötig aber als ist sie immer und erfüllt einen großen Teil des gesamten kulturellen Tuns. Unreligiös ist sie nur als Grundlage. II. Die beiden Möglichkeiten a. a. Der ästhetische Kritiker als Typus; auch der Musiker, auch der Hörer ist es irgendwie. b. Der ausführende Politiker, der die Wege, Widerstände und Mittel abwägt. In jeder Idee muß dieses als Material enthalten sein. Typus: der Taktiker. c. Die Farbanalyse der van Goghschen Bilder. Typus: der Analytiker, auch dieses im Unbewußten enthalten. Der technische Gesichtspunkt hindert Schwärmerei und dadurch Bejahung des Gehalts als Formlosigkeit. Das aber ist nie unbedingter, sondern immer subjektiver Gehalt. (3. Auch in der religiösen Kultur die Möglichkeit der profanen Einstellung. Hier aber nicht als notwendiges Gegengewicht, sondern als peinvoll widersprechend dem Sinne der Sache. Technisierung des Kultus, Kritisierung des Prophetischen, Mechanisierung des Gebets. In der religiösen Kultur ist eine profane Einstellung also nie möglich; der Kultur gegenüber aber ist profane Einstellung als untergeordneter Faktor nötig, als übergeordneter sinnwidrig. C Worin besteht der Unterschied von religiöser Kultur und Kulturreligion?

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I. Die möglichen falschen Auffassungen a. Vom Objekt her: Religiöse Kultur ist solche, die sich auf Gott, profane ist solche, die sich auf die Welt bezieht. - Dagegen: 1. Insofern Gott ein theoretisches Objekt ist, steht er im Zusammenhang und auf dem Boden der gesamten Kulturobjekte, ist er im pantheistischen Sinne absolutes Objekt, so verschlingt er die übrige Wirklichkeit und hebt den Unterschied auf. Ist er im theistischen Sinne ein Objekt neben oder über der Welt, so zerstört er die Einheit des Theoretischen und führt zu einem unendlichen Konflikt. - 2. Im übrigen ist die Definition eine petitio principii, da im Begriff „Gott" schon die religiöse Funktion enthalten ist, die nun plötzlich entschwinden soll zu Gunsten eines rein theoretischen Objektes. - Protest gegen Apologetik. b. Vom Subjekt her: Religion ist Kultur überwindendes Verhalten. Der religiös-asketische Protest gegen die Kultur. - Dagegen: 1. Askese ist an und für sich eine kulturelle Sache. Sie kann sich beziehen auf die technische Kulturgüter, auf das Gesellschaftsleben, auf die geistigen Güter; sie ist dann wie der Cynismus einfach eine bestimmte Art Persönlichkeitskultur, aber nicht Verneinung der Kultur überhaupt (vgl. Kynismus). 2. Auch diese Definition ist eine petitio principii, da sie die Heiligkeitsqualität der Askese voraussetzt, die sie ableiten will. - Im übrigen sind allen asketisch-mystischen Zuständen alle Kulturwerte immanent. Es ist also weder möglich, von einem Gegenstand über den Gegenständen oder von einem Tun über dem Tun auszugehen, da dieses „Über" entweder nur ein Teil des „In" ist oder mit ihm in unlösbarem Konflikt steht, in jedem Fall aber die Heiligkeit schon voraussetzt, die erst begründet werden soll. II. Die richtige Auffassung a. Es gibt einen unmittelbaren Erfassungswillen des Unbedingten ohne Berücksichtigung der einzelnen Formen. Die Religion; da aber dieser Wille nicht anders sich realisieren kann als in einzelnen Formen, so führt er zur religiösen Kultur. Ihr Wesen besteht darin, daß die Formen nur Ausdruck sein sollen für das Unbedingte selbst. Da aber keine dazu im Stande ist, so sind alle Formen der religiösen Kultur paradox: Sie meinen das Unbedingte an sich, sie erfassen es aber nur in einer Begrenzung.

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b. Es gibt einen mittelbaren Erfassungswillen des Unbedingten durch Verwirklichung der einzelnen Formen: die Kultur. Da aber jede Kulturform bezogen ist ihrem Sinne nach auf ihre unbedingte Form, so ist jede Kultur ihrem Sinne nach religiös. Wird dieser Sinn erlebt, so liegt Kulturreligion vor, wenn nicht, Kulturtechnik. c. Die grundlegende Einstellung ist die unmittelbar-religiöse, durch sie hat alle Kultur die Weihe empfangen; erst langsam hat sie sich herausentwickelt. Ein Konflikt ist nur dann möglich, wenn die paradoxen Formen der Religion nicht verstanden und als Kulturformen den autonomen Kulturformen entgegengesetzt werden und umgekehrt. d. Innerhalb beider zwei Grundtypen möglich: der Gehaltstypus und der Formtypus, die trotzdem sich analog sind, sich in der Richtung unterscheiden. Während bei dem Gehaltstyp die Übergänge nahe liegen, enthält der Formtyp die schärfsten Konfliktsmöglichkeiten. Philosophische und religiöse Mystik stehen sich nahe, wenn auch ihr Sinn verschieden ist. Philosophische und religiöse Kulturformung geraten in Konflikt. Daher in allen Konfliktszeiten die Flucht in die Mystik. Aber diese Flucht nicht zureichend, da immer nur relativ und die Wirklichkeit theoretisch und praktisch der Technik überlassen wird. D I. Forderungen a. An die Religion: Den paradoxen Charakter ihrer religiösen Kultur zu durchschauen. Anerkennung, daß der Gottesgedanke die paradoxe Erfassung des Unbedingten in einer bedingten Form ist und die Kultur die paradoxe Bejahung des Unbedingten in einer bedingten Handlung. Infolgedessen Selbsterfassung der Relativität in jeder Form, um der Majestät des Absoluten willen, zugleich aber Notwendigkeit des Ausdrucks auf Grund des jeweiligen inneren Erfassens. b. An die Kultur: Den religiösen Sinn der Kultur erfassen und profane Einstellung überwinden, ohne die Sachlichkeit des Technischen verlieren. II. Ideale a. Die Fundamentierung der Kultur in einem religiösen Grunderlebnis.

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b. Die Erfüllung der Religion mit einer der autonomen Kulturentwicklung entnommenen Form. Die Verwirklichung nur möglich als Schicksal, das geboren ist aus der inneren Entwicklung beider.

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17. Religion und Erneuerung Zum Text: Hs. im Heft Vo IV (PTAH 110:004). Abfassungszeit: um 1920. Einleitung. Wir stehen vor der Tatsache, daß Religion modern ist. M a n sagt das und hört das oft, aber man macht es sich nicht bewußt in seiner Tragweite. Die Apologetik der Religion ist längst Polemik, und die siegreichen Gegner sind in eine schwere Verteidigungsstellung gebracht. Sozialistische Parteisekretäre halten religiös-soziale Konferenzen ab. Expressionistische Maler deuten ihre Bilder nach der Bibel; Religionsphilosophen verkünden die Unabhängigkeit der Religion von dem Gegenstandsdenken, und die neu wachsende Metaphysik gibt Sprossen, wo der Sprung nicht gewagt wird. Es ist in geistigen Kreisen einfach nicht möglich, Atheist zu sein; man würde keiner Bekämpfung für wert erachtet werden. Es ist ein Moment unseres Schicksals, daß es so ist, genau so wie es das Schicksal unserer Eltern war, vor der Alternative: Religiös oder geistig zu stehen. Man versuche einmal, davon zu abstrahieren, sich hypothetisch in problematische Stellung einzufühlen. Es geht nicht, man müßte sich isolieren von den geistigen Schwingungen der Gegenwart; man müßte zu dem Einsiedler im Walde Zarathustras werden, der als einziger noch nicht weiß, daß Gott wieder lebendig ist. Die Feststellung einer solchen Tatsache gibt zunächst Erhöhung des Lebensgefühls, Gefühl der Eigenart unserer Epoche, des Wertschaffens, der Lebendigkeit. - Freilich besagt das noch nicht sehr viel; denn es ist sicher, daß unsere Väter, als sie an die Entwicklungslehre oder den Fortschritt oder das astronomische Weltbild der ewigen Gesetze oder das Reich der Vernunft oder die Herrlichkeit der Natur glaubten und den romantischen Idealismus hinter sich hatten, ähnlich fühlten, auch bei der Botschaft: Gott ist tot. - Oder wenn sie dies nicht glaubten, die Kampfstellung, in die sie gestellt waren, die Scheidung von Gott und Welt als ihr großes Erlebnis hatten. - Damit ist dieses Gefühl etwas entwertet; denn es ist formal in jeder irgendwie lebendigen Periode vorhanden. - Und es wird für

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den einzelnen noch mehr entwertet, wenn er die schicksalsmächtige Abhängigkeit fühlt. Dadurch ist jedes persönliche Sich-Über[be]werten ausgeschlossen. Am stärksten fühlen sich gehoben und getragen die eigentlich religiösen Naturen, die aus der Not der Verteidigungstellung erlöst sind; - und die offiziellen Vertreter des Religiösen, die die Morgenröte ihrer Lebenssphäre an dem neuen Kulturtage begrüßen, nicht ohne Genugtuung, Recht bekommen zu haben. - Sie haben aber Unrecht bekommen in dem, worin sie hätten Recht bekommen sollen, und umgekehrt. Ich spreche scharf, weil gegen mich selbst: Sie haben darin Recht bekommen, daß die Menschen wieder religiös werden würden; aber Unrecht darin, daß religiös sein Gott haben im Geringsten mehr heißt als unreligiös sein.Diese sind es auch, bei denen die Erneuerung von der Religion erwartet wird. Der Typus, den sie darstellen, die Geistesprovinz, in der sie zu Hause sind, die Funktion ihrer Virtuosität soll die Erneuerung tragen. Sie würden es nicht merken, weil sie ja den Inhalt zu meinen vorgeben und nicht merken, daß [sie] ihn ja nur in ihrer Form, als Religion, haben können, und nicht wissen, daß Gott größer ist als jede Form, daß die Erneuerung aus der Wirtschaft kommen kann, durch den Gott, der aus Brot Geist wachsen läßt. Damit ist die selbstverständliche Erwartung verneint, mit der viele gekommen sind, daß die Zusammenstellung: Religion und Erneuerung einfach acceptiert würde. 1 Sie hat zunächst keinen Vorrang vor den anderen Themen. Politik oder Erneuerung, Kunst und Erneuerung.- Aber es ist noch mehr zu tun. Während man die anderen gelten lassen kann, muß man diese zerstören. Denn sie ist selbst ein Produkt der Zerstörung, der Gottesferne. Das zu beweisen, ist eine erste Aufgabe. Die zweite heißt dann: Gott und die Erneuerung, während die dritte den bescheidenen Platz innerhalb der Kulturbewegung zu bestimmen hat, den auch die Religion einnehmen kann - , wenn sie verlernt hat, an sich und ihre erneuernde Kraft zu glauben.

Folgt gestr.: Sie ist vielmehr zunächst zu zerstören,

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I. Die Unfähigkeit der Religion zur Erneuerung a. Was ist Erneuerung? Dieser Begriff hat zunächst das Element der Veränderung in sich. Und da ist gleich eine kleine Reflexion zu machen: Sollte der Wille zur Erneuerung Wille zur Veränderung sein? Dieses bei dem Typus der novarum rerum cupidi. Das Neue ist das Andere. - Dann wäre [es] nicht nötig, sich darum zu bemühen; denn so sicher alle Natur sich stetig ändert, so auch die Menschenwelt, und wenn die Formen noch so starr sind, sie bedeuten etwas Anderes. Das Anderswerden ist Naturproceß. - Darum aber auch der Gegenpol unfähig, den Sinn zu verstehen. „Wieder" -Erneuerung im Sinne der Wiederkehr vergangener Formen, die Geschichte rückwärts orientieren. Es ist Selbsttäuschung; denn selbst, wenn es gelänge, wäre es etwas Anderes; denn es wäre durch Wille geschaffen, nicht geworden und hätte einen anderen Sinn. Das Neue kann den Nebensinn des Besseren haben, und da zeigt sich gleich ein Weiteres, das abzuweisen ist: Erneuerung als Verbesserung, als Fortschritt. Auch das ist eine Herabziehung des Begriffs auf ein niedrigeres Niveau. Denn Fortschritt ist immer ein niedriges Niveau, wo es weder die Höhe des radikalen Ja, noch den Abgrund des radikalen Nein gibt. Aber Erneuerung hat das Nein und das Ja in sich; es ist kein mechanisch-quantitativer Begriff, wie Fortschritt. Sind die mechanischen Begriffe: Verändern, Wiederherstellen, Verbessern abgelehnt, so ist die Sphäre des Lebendigen [zu erörtern]. Diese kann doppelt gedeutet werden: biologisch-wachstümlich und geistig-schöpferisch. Das erste trifft zu, wenn man die Spenglersche Auffassung hat. Dann kann man nur feststellen, an welchem Punkte dieses Processes man steht, ob am Ende oder am Anfang. Dann freilich wäre der Begriff Erneuerung sinnlos; dann muß man warten, bis etwas gestorben ist und irgendwo etwas Neues wird. Aber das ist nicht dasselbe, infolgedessen nicht Erneuerung. Wer von Erneuerung spricht, hat schon den zuschauenden Standpunkt des biologischen Absterbens verlassen. Oder er ist geistig, neuschöpferisch gemeint. Dann ist Erneuerung nicht die Tatsache einer Wandlung, wie von der Romantik zur Gothik, das ist Neuerung; sondern wenn irgendwelches Leben erstarrt ist, wenn der Geist in Formen gepreßt ist, die kein Leben mehr haben, dann ist von Erneuerung = Urneuerung die Rede. Oder wenn der Geist noch stark genug war, alte Formen zu zerbrechen, aber

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keine neuen zu schaffen, also im Begriff des Verfalls, ist die Voraussetzung eine Erneuerung zu neuer schöpferischer Kraft. Erneuerung wäre die Überwindung von Erstarrung und Verfall. - Die Schwierigkeit ist hier: 1. Daß man nicht weiß, was Verfall ist (vergl. den Expressionismus, die Demokratie, den theologischen Liberalismus und ihre doppelte Beurteilung). 2. Daß man von Erneuerung in diesem Sinne nicht von allen Seiten der Kultur sprechen kann, also nicht von einer allgemeinen Erneuerung. 3. Daß man sie nirgends wollen kann, da im Geist die Absicht den Schöpfungsakt zerstört. Immanente Kulturkritik ist deswegen wertlos, weil sie abstrakt bleibt und jede Neuschöpfung die höhere konkrete Form der Kritik ist (gegen die unproduktiven Kulturkritiken). Daraus wieder ein neuer Begriff, die sittliche Erneuerung. Sie kann an den Willen gerichtet werden. Aber an wessen Willen? Die Anreden an die „Zeit" und das „Volk" sind sinnlos; sie sind keine moralischen Persönlichkeiten und sind darum immer eine Form der Erhebung über das Volk und die anderen. Nicht einmal die prophetischen Forderungen haben etwas genützt. Wenn aber Anrede an einzelne, dann immer und überall und keine Erneuerung als universales Problem. Es handelt sich um die fundamentale Richtung einer Zeit, um ihre Grundeinstellung zur Welt, zum Unbedingten, zum Sinn und Wert, zum Unbedingt-Wirklichen. Hier aber gibt es nun zwei Stellungen, das Gerichtetsein auf das Unbedingte und das Gerichtetsein auf das Bedingte, auf sich selbst. Theonomie und Autonomie. Erneuerung in diesem Sinn kann nur eins sein: Die Abwendung vom Bedingten zum Unbedingten, von der Autonomie zur Theonomie. Dieses ist nicht Moral. Man kann es zwar in die Form der Forderung kleiden, aber jeder, der etwas davon versteht, zerbricht die Form der ethischen Forderung durch den Gnaden- oder Erwählungsgedanken. Und doch ist Aktivität möglich, die prophetische, die zum Bewußtsein bringt, was die Stunde geschlagen hat. Solange sie nicht geschlagen hat, wird alles Reden nur SehnsuchtSchaffen sein, denn es wird nie für den einzelnen möglich sein, sich aus der Verknüpfung loszulösen; er würde auch als Heiliger gottlos sein. Ist die Zeit da, so kann es nun allen verkündet werden, und der Kleinste ist dann heiliger als der Heiligste vorher. Also: Aktivität der Vorbereitung, des Zerbrechens, des Offenbarens, nicht des Machens.

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Das ist auch nicht Kulturschöpfung. Die Kultur schafft weder, und es gibt im Grunde keine klassische Kultur als Werturteil. Archaiker und Hellenisten sind nicht weniger als Klassiker, und sogar die Technik ist Kulturschöpfung; Ausdruck des weltbeherrschenden Willens, und sie zerbricht nicht mehr Menschen als die Errichtung der Pyramiden, die jeder für Kultur erklärt. Der antitechnische Pietismus sucht wie aller Pietismus das Neue im Bedingten; es liegt aber im Unbedingten. Auch mit Biologie hat das nichts zu tun, weder mit Kultur-, noch mit Rassen-, noch mit National-Biologie; es schneidet diese Linien; es schneidet mitten durch untergehende und auferstehende Völker; es schneidet durch Nationen und Rassen. Und daß es mit Fortschritt und Rückschritt, mit Reaktion und Revolution nichts zu tun hat, ist noch deutlicher; es kennt keine derartigen Maßstäbe und ist bei jedem Maßstab wirklich. Es steht also jenseits der der Sphäre des Endlichen entnommenen Maßstäbe; es steht im Unbedingten. Damit aber scheint es nun doch Religion zu sein, um das es sich hier handelt; denn was anders ist Religion als Richtung auf das Unbedingte? b. Die Religion Religion ist Richtung auf das Unbedingte; aber dann ist die Religion nichts Besonderes; denn diese Richtung kann auch in der übrigen Kultur dasein. Die leidenschaftliche Metaphysik, die Dichtungen Dantes und Dostojewskis, die Sibyllen Michelangelos und die Musik Bachs, die eschatologische Leidenschaft des Sozialismus und das Persönlichkeitsringen Georges, das alles geht ins Unbedingte und hat höchste Heiligkeit. In der Religion soll das Unbedingte als Unbedingtes erreicht werden, ohne das Medium der Kulturformen. Aber das geht nicht. Sie braucht die endlichen Formen, sie wird, sobald sie lebt, selbst Kultur, menschliche Aktivität in endlichen Formen. Das ist ihre Paradoxie, ihre ungeheure, fast unentrinnbare Gefahr. Sie verwechselt das Unbedingte, das sie will, mit den Formen, in denen sie es hat. Sie setzt diese Form unbedingt und setzt sich damit an die Stelle Gottes. Die Religion an Stelle Gottes, das ist das Verhängnis aller Religion. Darum gibt es nur eine Form des Antichrist: die Religion. Zweimal in weltgeschichtlicher Form: der römische Staat, der sich religiös machte durch den Cäsarenkult, und die katholische Kirche,

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die sich zum Staat machte dadurch, daß sie nur noch Kirche war und den Weg zu Gott hinderte. Und heut: Der Gott gewordene Nationalstaat (die Erschütterung über Hitlers Rede). Der Antichrist ist « « r a n heiliger Stätte zu finden; er ist nicht in den Atheisten-Clubs, wie die Frommen, und nicht in Kaschemmen, wie die Moralischen, nicht in Kriegskabinetten der Gegner oder den eigenen, wie Nationale und Pacifisten meinen; nicht erst in Kapitalisten-Trusts, wie die Arbeiter, und nicht bei bolschewistischen Volksbeauftragten, wie die Bürgerlichen meinen; er ist auch nicht in der Staatskirche, wie die Sekten, und in der Weltgeistlichkeit, wie die Pietisten meinen; sondern er ist überall, w o das Endliche, weil es Form des Göttlichen ist, selbst göttlich wird, also auf Kanzeln und Altären, aber ebenso in stillen Gebeten und in Gemeinschaftsstunden, in der Theologie jeder Richtung und in den Werken der christlichen Liebe. Er ist nicht im Antichrist von Nietzsche, der den gegenständlichen Gott, um dessen Sein oder Nichtsein man sich streiten konnte wie um das eines Kriegsverschollenen und den Nietzsche in des wahren Gottes Namen endgültig tot erklärt hat; sondern der Antichrist steht in jedem W o r t derer, die Religion zum Mittel machen wollen der Erneuerung, sei es der Kultur, sei es der Rasse, sei es der Nation, sei es der Menschen. Es ist die Dialektik der Religion, daß sie, sobald sie sich selbst will, losgelöst von Gott, den Mächten dienstbar wird, über die [sie] sich erhebt. Wenn sie G o t t werden will, so wird [sie] käuflich. Als sie sich über die Wissenschaft erhob, kam der Sturz, der sie zwingt seit Jahrhunderten, jedem Ergebnis der Wissenschaft nachzulaufen. Als sie den Staat niedergerungen hatte, mußte sie jedem Landesfürsten nachlaufen und sich als Mittel der Staatserhaltung und der nationalen Erhebung mißbrauchen lassen. Als sie die Kultur meistern wollte, wurde sie die Sklavin der Kultur ..., und heut preist sie sich an als Mittel zur Erneuerung. c. Religion und Erneuerung Damit aber ist es so: Solange die Religion das ist, was sie sein soll, Gottesdienst und nicht Eigendienst, d.h. solange sie überhaupt nichts Eigenes ist, sondern allenthalben die Richtung auf das Unbedingte, solange weiß man gar nicht, was sie für kulturelle Wirkungen hat. Vielleicht verbrennt sie die Kunst, wie Savonarola die Florentiner Bilder, vielleicht lockert sie die Moral wie Luther mit der Predigt der Rechtfertigung, vielleicht zerstört sie den nationalen Staat, wie die

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jüdischen Propheten; vielleicht sistiert sie die Wissenschaften, wie die alte Kirche die Naturwissenschaften. Vielleicht auch nicht. Ist sie aber, wie sie nicht sein soll, so ist sie unter allen Umständen kulturfeindlich. Denn dann ist sie selbst Kultur; und da diese Kultur heilig sein soll, erhebt sie sie über alle anderen; erhebt sie sich zur Richterin über alles andere und wird dann im besten Fall Dienerin alles anderen; aber eine Dienerin, die nachhinkt, von der Erneuerung nicht zu erwarten ist. Wer also die ethische oder kulturelle Erneuerung sucht, der erwarte nichts von der Religion. Entweder ist sie richtig, dann steht sie zu all dem in keiner direkten Beziehung, oder sie ist bloß Religion, dann ist sie Hinderung der Kultur und bedarf vielmehr, daß sie von der Kultur und Ethik erneuert werde, als daß sie die Kultur und Ethik erneuert. Ist aber die letzte Erneuerung, die Hinwendung zum Unbedingten, gemeint, so ist die Religion, wenn sie sich selbst unbedingt setzt, das wahre Hindernis der Erneuerung, und jeder Kampf gegen sie ist ein heiliger Krieg, ein Kampf gegen den Antichrist. Ist die Religion aber nichts vor Gott, ist sie richtig, so ist sie ja selbst die Hinwendung zu Gott, die Erneuerung. Dann aber ist sie nicht Religion; dann weiß sie, daß sie nichts ist und Gott alles, und weiß darum, daß diese Hinwendung sich allenthalben gleich wie in ihr vollzieht, in aller Kultur und Moral; daß aber nicht sie [es] ist, die das macht, sondern Gott, und daß darin die Erneuerung der Religion selbst besteht, daß sie sich - vor Gott aufhebt. Erneuerung aus Religion ist zuerst Erneuerung der Religion. Dieses aber ist das unendliche Nein über die Religion von dem Unbedingten her. Das aber bedeutet: 1. Die Verneinung jeder gegebenen und als absolut gesetzten Form vom Absoluten her. Ob der Kirchen-Absolutismus des Katholicismus oder der Lehr-Absolutismus des Protestantismus oder der Moral-Absolutismus der Sekte oder der Frömmigkeits-Absolutismus des Pietismus. Nicht Negation dieser Dinge, sondern Entwertung vor dem absoluten Wert. 2. Damit die Negation der Sonderstellung der Religion gegen die Kultur. Anerkennung, daß das Unbedingte durch die Kultur hindurchbricht und daß die Religion das Unbedingte auch nur in Kulturformen haben kann. Daß sie nichts ist als der Mahner der Richtung, die alle Kultur nehmen muß, insofern sie zur Theonomie bestimmt ist. Sie ist die Wurzelfunktion, aber wenn die Wurzel zu

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einem Ast werden will, dann verkümmert sie selbst und vielleicht der ganze Baum, sicher aber sie selbst. O b aber die Religion sich erneuert, das ist so wenig ihre Sache wie die Erneuerung der Kultur. Das ist Gottes Sache, d.h. religiös gesprochen Gnade, geschichtsphilosophisch gesprochen, Schicksal. II. Gott und die Erneuerung a. Das Negative Das erste Verhältnis des Unbedingten zum Bedingten ist die Kritik. Das hat darin seinen Grund: 1. Das Unbedingte steht vor dem Gegensatz von Subjekt und Objekt. Ist dieser Gegensatz eingetreten, und er ist immer da, wo Bewußtsein ist, dann ist es dem Subjekt nicht anders möglich, als [sich] durch Vergegenständlichung zu dem Unbedingten zu verhalten. Dadurch wird Gott zu einem Ding, mit dem man sich dinghaft verhält. Dieses aber ist die Sünde der Religion, gegen die das Unbedingte reagiert mit Zerstörung durch die immanente Konsequenz von Erstarrung und Zerfall. Ist der Gegensatz von Subjekt und Objekt da, so wird die Welt gegenständlich profan und das Bewußtsein verhält sich gegenständlich zu ihr. Es schafft die Welt der Gegenstandsformen, der Kategorien und der Logik. 2. Das Unbedingte ist das Princip der Form für alle Formen. Alle Formen bewegen sich zu der unbedingten, KIVET COS ipwuevov. Jede Form ist bezogen auf den Sinn des Unbedingten. Aber sie kann [die] Beziehung verlieren und sich selbst als unbedingt setzen. Dieses ist die Dialektik der Autonomie. Sie ist göttlich, insofern sie die Selbstbeziehung jeder endlichen Form auf die unbedingte (die nicht ist) in sich enthält. Sie ist widergöttlich, insofern sie diese Beziehung verliert und sich selbst absolut setzt. Heteronomie und profane Autonomie stehen dialektisch zueinander. Und auch die profane Autonomie macht heteronome Orthodoxie und Rationalismus. - Fortschrittsgedanke - Sozialismus - Liberalismus - abstrakter Sozialismus. 2 Die immanente Kritik auf diesem Gebiet ist Verzweiflung und Auflösung. Die Autonomie wird zur Subjektivität, zur Zerspaltenheit im Sinne Augustins. Folgt gestrichen: Ebenso in ethischer Beziehung. Die Dialektik von Gesetz u n d Libertinismus.

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Dieses noch deutlicher durch den Proceß der autonomen Form, die von sich aus Gehalt sucht und nicht finden kann. Endigung in Formalismus und Skepsis. Ebenso auf ethischem Gebiet in Nomismus und Verzweiflung resp. Bejahung des Impressionismus und Libertinismus. Die Abwendung vom Unbedingten in Form der autonomen Religion und Kultur hat also die Zerstörung des Bewußtseins zur Folge. Und doch ist sie das große Wagnis der Geschichte, das jeweils geschieht und alle Formen schafft und über diesen Formen zusammenbricht, weil es den Gehalt verloren hat. Die Autonomie ist die Voraussetzung der Theonomie; darin ist die Würde des Menschen gegründet; aber sie hat das Dämonische in sich, sich der Theonomie zu entwinden. Der Proceß beginnt im Allgemeinen in der Religion; sie ist der erste Barometer des Abfalls. Der Wille zum Abfall ist immer da, aber er hat nicht immer die überlegene Kraft, die Wurzel liegt im Irrationalen, sie ist Freiheit oder Schicksal, was auf das Unbedingte angewandt dasselbe ist. Die Geschichtsphilosophie hat also diese Doppelstellung mit ihren Konsequenzen und das Ringen beider zu untersuchen. Sie hat überall durchzuschneiden und die Gebundenheiten und Auflösungen zu verfolgen. Damit ist der Sinn der Erneuerung als Gnade und Schicksal erkannt. b. Die Erneuerung durch Gott Die positive Seite ist schwer zu erkennen; sie liegt eine Schicht tiefer. Sie entspricht der prophetischen Heilsverkündigung. 1. Der Vergegenständlichung in der Religion entspricht die Gnade als Durchbrechung der gegenständlichen Distanz. Dieses [ist] der Sinn aller mystischen und gnadenhaften Reaktionen gegen die Religion. Durchbrechung der nationalen, ständischen, rassehaften, kirchlichen, sektenhaften Schranken, Durchbrechungen des Kultus, der Hierarchie, des Dogmas etc., aber nicht im negativen Sinn, sondern als Erfassung des Unbedingten in diesen Dingen ohne Kritik vom Endlichen her. Hier die stärksten Wirkungen gegen Gott, aber auch die stärksten Reaktionen und darum das Hauptdurchbruchsgebiet. 2. Das Hindurchwirken der Gnade in der Kulturproduktion als Schöpfung. Der Schöpfungsproceß als partielle Entgegenständlichung der Welt. An Stelle der mystischen Gebundenheit an das Unbedingte

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die enthusiastische Formschöpfung: Jeder schöpferische Moment als Offenbarung Gottes, als Durchbruch der Urständlichkeit des Wirklichen. 3. Die absolute Offenbarung und oder die neue Wende. So im Neuplatonismus und im Christentum. Dort die Erfüllung der Form mit neuem Gehalt, hier die Erlösung der Religion von der Religion. Dieses in vollkommenen Maße Schicksal, Offenbarung, Gnade; denn sonst wäre es vergegenständlichte Form, d.h. Verachtung des Unbedingten. 4. Die Erfüllung des Bewußtseins mit eschatologischen Schwung. Insofern sind alle eschatologische Erscheinungen Offenbarungsform des drängenden Schicksals, das eine neue Gotteinheit schaffen will. Die Frage ist immer, inwieweit es ihr gelingt, ungegenständlich zu bleiben, inwieweit aus eschatologischem Enthusiasmus Offenbarung der G n a d e wird. D a s ist die Schicksalsfrage des Sozialismus, der als Kulturkritik und Bejahung der unbedingten Form die höchste Offenbarung eines neuen Stoßens zum Unbedingten ist. III. Religion und Erneuerung 1. Die Verantwortung der Religion als stärkstes Hindernis der Erneuerung und als Durchbruchsgebiet. Aber die Grenzen dieser Verantwortung gegenüber dem göttlichen Handeln, die Religion als pädagogische Kultursphäre, die außerpädagogische Sphäre in ihrer hohen Geeignetheit. (Der Zöllner und Sünder bei Christus und Dostojewski.) 2. Die Verantwortung der Religion für die autonome Kultur, nicht auf heteronomem Wege qua Religion, sondern auf theonomem Wege qua Gott, z.B.: Was tut Gott in der Sozialdemokratie? Nicht, wie kann ich die Sozialdemokratie für Religion oder gar Kirche gewinnen? Ebenso Wissenschaft (Phänomenologie), ebenso die neue „Religion", die auch kritische, Richtung gebende Elemente hat. 3. Die Verantwortung der Kultur für die Religion. Nicht im aufklärerischen Sinne, auch das ist nützlich als Ironie gegen fixe Formen, sondern verantwortlich für ihre eigene Erneuerung, ihre Richtung auf das Unbedingte und darum für die Religion, die diese Richtung repräsentiert. Das Problem der neuen Religion. Sie ist typisch „religiös" gedacht als Kulturschöpfung. Ebenso die Idee der alten Religion. Es ist auch Bejahung der Kulturformen der Vergangenheit (Scheler). Es

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gibt nur die eine wahre Religion, die Einheit mit dem Unbedingten. Dennoch ist die Richtung nach rückwärts richtiger, weil die Gegebenheit die richtige Symbolik ist gegenüber dem autonomen Schaffenwollen. Die Analyse der Traditionselemente, die religiös lebendig sind, d.h. die aus der exklusiven Richtung auf das Unbedingte offenbaren können. Solange das schöpferische Kraft ist, keine Gefahr eines Traditionalismus. Das Problem der Aktivität. Das Schicksal vollzieht sich nur durch die Freiheit. Darum ist die Tat Gottes nicht die Wurzel unseres Ruhens, sondern unserer Tat. Der eschatologische Schwung als die Voraussetzung jeder Bejahung des Unbedingten. Denn dieses die einzige absolut sichere Aufhebung der Vergegenständlichungen, in die auch die Mystik immer wieder zurückfällt. Sie will die Welt umgestalten. Sie sieht den absoluten Zustand und meint den Sieg des Unbedingten. Daraus dann das technische „Machen". Das Problem der Gegenwart. Die Abwägung des Dafür und Dagegen führt nicht weiter. Es geschieht unwillkürlich, es ist Zeichendeutung, aber zweifelhafte. Der «aipo? aber ist nicht [der Augenblick]3 der persönlichen oder moralischen Erneuerung, sondern das Schicksalsmoment. Denn dieser ist immer in Realisierung begriffen. Gott ist immer im Kommen begriffen. Er kommt oft in sein Eigentum, und die Seinen nehmen ihn nicht auf (die Religion). Vielleicht werden wir einen neuen Durchbruch nicht erleben, vielleicht sind wir Elemente der Auflösung, auch mit der neuen Religion, auch mit diesen Gedanken. Aber diese Auflösung, diese Negation ist Voraussetzung und genauso Schicksal wie die Profanität. Wir aber wollen glauben und nicht Zeichen deuten. In jedem Akt der Richtung auf das Unbedingte, der durch Kultur und Religion durchbricht, ist das Alte vergangen, und siehe: Es ist alles neu geworden schon mitten unter uns.

H s . : D e r Kaipos a b e r ist i m m e r ; nicht der p e r s ö n l i c h e n ...

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18.

Die Krisis von Kultur und Religion

Zum Text: Hs. im Heft Vo /V (PTAH 110:004). Abfassungszeit:

um 1920.

I. Philosophie der Krisis Es gibt keine Zeit, die nicht das Bewußtsein von sich hätte, kritisch zu sein; und es gibt keine Zeit, die nicht an sich kritisch wäre. Schon deswegen nicht, weil jede Krisis vorbereitet ist; vor allem aber, weil die Krisis ein Wesensbegriff des geschichtlichen Denkens ist. Ehe wir deswegen im zweiten Teil von unserer Krisis sprechen, ist es nötig, in einem ersten Teil von der Philosophie der Krisis zu handeln. a. In jeder Zeit ist Kritisches, Krisenhaftes; aber nicht jede Zeit hat das gleiche Bewußtsein um die Tiefe der Krisis; es gibt Zeiten, in denen die Krisis verhüllt ist in weniger tiefgehenden Begriffen. Es kann vier Arten von Zeitaltern geben, in denen der Sinn der Krisis nicht zur vollen Bewußtheit kommt. 1. Die absoluten Zeitalter, die zerfallen in konservative und revolutionäre. In den ersten ist die Gewißheit eines absoluten Wahrheitsbesitzes unerschüttert. Die Form z.B. des frühmittelalterlichen Katholicismus wird als selbstverständlicher Ausdruck empfunden. Infolgedessen ist Krisis hier = Entscheidungskampf um die Erhaltung der Wahrheit. Krisis geht weder auf die Substanz, noch auf die Form, sondern auf die Verwirklichung der Form. So ist der Kampf gegen die Dialektik und den Nominalismus ein Abwehrkampf, der Kampf zwischen Kaiser und Papst ein Ausgleichskampf, beides aber keine wurzelhafte Krisis gewesen. - Krisis ist Abwehr nach außen, Ausgleich im Innern. 2. Im revolutionären Zeitalter ist das Absolute das Ziel (und idealisierte Vergangenheit). Das Verhältnis zwischen Seiendem und Sein-Sollendem ist aber das von absolutem J a und absolutem Nein: Krisis ist hier Vernichtung und Neuschaffung. Geht der erste Begriff nicht an die Substanz, so dieser so weit, daß die gleiche Substanz überhaupt nicht ist. So kann man in der französischen Revolution

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und der russischen nicht eigentlich von Krisis sprechen. So ist die Reformation für den Katholicismus eine Krisis, für den Protestantismus eine Neuschaffung. 3. Die relativistischen Zeitalter. Dem absolutistisch-Konservativen entspricht das Klassische (griechischer, deutscher Idealismus, Hegel). Sie stehen unter dem Gedanken: Jedes Zeitalter ist absolut zu Gott; aber damit sind sie alle untereinander relativ, keins steht unbedingt über dem anderen. Krisis heißt hier Wechsel, Formwandlung. Je schärfer der Unterschied gefaßt wird, desto tiefer ist die Krisis; er bedeutet dann die dialektische Zersetzung einer Zeit, das Hervorbrechen der in ihr lebenden Gegensätze, aus denen dann das Neue hervorgetrieben wird. Krisis ist hier Dialektik; damit ist gesehen, daß Krisis eine Funktion aller Geschichte ist. - Dieses geistig (Hegel) oder biologisch (Spengler). 4. Den idealistischen Auffassungen fehlt der Wille zum Ideal; denn dieses ist immer gegenwärtig. Anders die vierte Gruppe, in der ein Ideal dasteht, aber nicht mit revolutionärer Gewalt, sondern als Fortschritt. Im Fortschritt ist die Unendlichkeit der Bewegung, die Zeit hat. Hier ist Krisis gleich Verbesserung, Ausscheidung des Unvollkommenen zu Gunsten von etwas relativ-Vollkommenen. Auch damit ist die Krise immer da; aber sie geht nicht tief; sie schafft nichts Neues; sie korrigiert bloß. b. Die absolutistischen Ideale stehen vor einer Geschichtsphilosophie, sie verteilen auf Ja und Nein. Krisis ist nicht Scheidung von Ja und Nein; denn beide sind nie ineinander, sondern beide schließen sich aus. Hier gibt es nur absoluten Kampf. Die relativistischen Ideale kennen eine Geschichtsphilosophie. Sie haben ein Ineinander von J a und Nein; aber keins von beiden erreicht eine absolute Tiefe; vor dem Absoluten ist es schließlich gleichgültig, ob dieses oder jenes Ideal, ob etwas näher oder ferner. Der Begriff von Krisis, den wir gegenwärtig erleben, ist gleich unterschieden vom Absoluten, das keine Krisis kennt, wie vom Relativen, das die Krisis zur Veränderung herabdrückt. Der richtige Begriff der Krisis ist der Gradmesser der richtigen Geschichtsphilosophie, denn er enthält das Princip des geschichtlichen Werdens und Vergehens. c. Der Grund des Unzureichenden der genannten Richtungen liegt darin, daß sie entweder supranatural oder natural sind, entweder ein

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Bedingtes unbedingt setzen und damit die Geschichte unmöglich machen, oder alles Bedingte gleichsetzen und damit die Geschichte zur Veränderung machen, in der nichts Entscheidendes, nichts Unbedingtes geschieht. Naturales wie supranaturales Denken heben die Geschichte auf. W i r brauchen eine Geschichtsphilosophie, in der das Absolute mit dem Relativen verbunden ist, aber nicht im supranaturalen, sondern im paradoxen Sinne. Nur von da aus ist eine Geschichtsphilosophie und ein Sinn der Krisis möglich: Jede Krisis ist das Gericht des Unbedingten über das Bedingte, insofern es sich gegen das Unbedingte behaupten will. Krisis ist Scheidung, nicht die von unbedingt und bedingt; die ist unmöglich, da das Unbedingte nie ein Teil sein, auf einer Seite stehen kann, sondern Scheidung im Bedingten zwischen dem, was dem Unbedingten Gefäß sein will, und dem, was sich ihm verschließt. Diese Scheidung geht aber so vonstatten, daß das Bedingte in sich selbst zerbricht ohne das Unbedingte; und dieses Zerbrechen ist die Krisis. Daraus folgt: 1. daß es nichts gibt, das von der Krisis ausgenommen wäre. Darin hat die relativistische Richtung Recht. Und daß es sich in jeder Krisis um eine absolute Entscheidung handelt, ein letztes J a und Nein zum Unbedingten, also um mehr als Wechsel, um mehr als Fortschritt, darin hat die absolutistische Richtung Recht. Geschichtsphilosophie ist entweder formal oder sie ist Geschichtstheologie, d.h. sie sieht nicht in supranaturaler, sondern in paradoxer Weise in jeder Krisis den Kampf zwischen dem autonomen und theonomen Bedingten. d. Es gibt demnach zwei Grundformen aller geschichtlichen Krisis, die Krisis des Supranaturalismus, d.h. der Kampf gegen die Unbedingtsetzung einer bestimmten bedingten Offenbarungsform oder die Krisis der Heteronomie. Und die andere Form, die Krisis des Naturalismus (ob materialistisch oder idealistisch, ist gleich), d.h. die innere Selbstauflösung der Autonomie. In beiden Fällen geht die Kritik vom Unbedingten aus gegen ein Bedingtes, das sich dem Unbedingten entziehen will, im ersten Falle, indem es sich selbst unbedingt setzt, im zweiten Falle, indem es alles bedingt werden läßt. Im ersten Fall handelt es sich um eine Krisis der Religion, die sekundär auch für die Kultur kritisch wird, insofern sich diese von den heteronomen Bindungen befreit, im zweiten Fall um eine Krisis

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der Kultur, die sekundär auch für die Religion verhängnisvoll wird, insoweit die Religion Kultur geworden ist. In der ersten Art von Krisis geht die Kritik von der Kultur aus, in der zweiten ist sie der Kultur immanent; in beiden Fällen steht hinter der Kritik das Unbedingte. e. Es gibt also eine1 Krisis der Religion und eine der Kultur; beide aber ziehen die andere nach sich; beide treten dann ein, wenn in den innerreligiösen und innerkulturellen Krisen die Richtung auf das Unbedingte erlegen ist, wenn in der Religion kein sieghaftes Prophetentum, in der Kultur kein gehaltreiches Schöpfertum da ist. Damit haben wir den Unterschied von positiven und negativen Krisen. Die positiven Krisen sind das entscheidende Hindernis der negativen; sie stoßen den Verderbnisstoff aus, ehe er fundamental zerstörend wirken kann. Eine positiv-religiöse Krisis war das Prophetentum, durch das die Auflösung des Judentums im Hellenismus verhindert wurde, der Protestantismus, durch den die Auflösung des Christentums verhindert, resp. hinausgeschoben wurde; eine positiv-kulturelle Krisis war der deutsche Idealismus, durch den die Zerstörung der Aufklärung verbessert wurde; eine negativ-religiöse Krisis war das Spätmittelalter und Übergang zur Aufklärung; eine negativ-kulturelle das Spätgriechentum und - ? die Gegenwart. - In beiden Arten von Krisen setzt sich das Unbedingte gegenüber dem Bedingten durch. Auch die positiven sind negativ und umgekehrt. Und doch der Unterschied: die negativen unterbrechen die Kontinuität. Sie schaffen die großen Epochen. 'Eiroxri. f. Kultur und Religion stehen also gleichermaßen unter dem Unbedingten. Denn auch die Religion ist Kultur, insofern sie bestimmte innere und äußere Formen ausprägt. Auch sie steht unter dem Gericht des Unbedingten, unter der Krisis. Es ist deswegen nicht angängig, die Krisis der Kultur mit Religion heilen zu wollen. Da die Religion an und für sich die gleichen Krisenelemente in sich enthält; ebenso ist es unmöglich, die Krisis der Religion durch Kulturelemente, die man ihr zuführt, heilen zu wollen (etwa eine wissenschaftlich bessere Theologie oder ein ästhetisch guter Kultus oder

Folgt gestr.: p r i m a r religiöse u n d eine p r i m ä r kulturelle

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eine sozialistische Neuorientierung). Denn diese Elemente stehen ja selbst unter der Krise, wenn es sich um eine substantiell-kulturelle Krise handelt, und handelt es sich um ein substantiell-religiöse Krise, so besteht sie gerade in der Abwendung der Kultur von der Religion. Aus der Sphäre des Krisenhaften kann die Krise nicht geheilt werden. Die Lösung der Krise kann nur von dem kommen, was die Krise schafft, und sie kann gleichmäßig kommen in Kultur und Religion; denn in beiden gibt es die Hinwendung und Abwendung zum Unbedingtem; nur daß sie in der Religion zugleich in der Form der Hinwendung zu Gott geschieht und darum Gott-widrig ist. Darum ist die Krisis der Religion das Grundlegende, die der Kultur die Konsequenz. 2 g. Damit ist der Fortschrittsgedanke überwunden. Epochales und fortschrittliches Denken schließen sich aus. Es ist aber auch der Idealismus überwunden; es gibt Zeitalter, die nur dadurch absolut zu Gott sind, daß Gott in ihnen seine negative Kritik, seinen „Zorn" offenbart. Es ist die absolut-revolutionäre Auffassung überwunden; denn auch das kommende Idealreich steht unter der Krise. Das Unbedingte realisiert sich als Krisis des Bedingten. Und endlich ist die absolut-konservative Auffassung überwunden; es gibt Zustände, die insofern absolut sind, als sie sich konstant aufheben; aber in der Aufhebung aus dem Bewußtsein um das Unbedingte, nicht in der Verfestigung, ist die Unbedingtheit begründet. So ist der richtige Begriff der Krisis zugleich die Krisis über selbstvergottenden Konservatismus wie über revolutionären Utopismus, über ästhetisch-klassischen Idealismus wie über mechanischoptimistischen Fortschritt. Und doch hat er in sich den Sinn des Unbedingten, der in positiven Krisen das Unbedingte erhalten will, der aber auch nie den revolutionären Willen zur absoluten negativen Krisis hat; er hat den

Folgt gestrichen: und darum ist es am wichtigsten, erst in der Religion die Selbstvergottung der Religion zu brechen. Die supranaturale Geschichtsphilosophie ist heteronom. Die naturale ist autonom. Die paradoxe ist theonom. Sie sieht in der Geschichte das Ringen der Theonomie gegen die Heteronomie und die daraus sich ergebende Autonomie der Kultur. Sie ringt dagegen in positiven oder negativen Krisen; die zweiten ergeben die Epochen, wo die ETToxii, das Innehalten, Abbrechen, Neuanfangen da ist. Die ersten gliedern die Epoche.

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dialektischen Sinn des Idealismus in sich, der die Krisis als Element aller Geschichte erkannt hat, und er hat den Fortschritt nicht als Weltgeschehen, sondern als jeweiligen Willen zur Durchsetzung des Unbedingten in Kritik und Kampf. Mit diesen Mitteln der Geschichtsphilosophie ist es leichter, an die Gegenwart heranzugehen. II. Analysis der Gegenwart Eine Analysis der Gegenwart ist immer zugleich Stellungnahme; sie ist aktivistisch und intuitiv. Sie ist es aber in ganz besonderem Maße in Bezug auf die Religion; hier handelt es sich um unbedingte Stellungnahme, die unbedingt verantwortlich ist. Sie gestattet nicht, daß man objektiv interessiert das Werden einer neuen Religion mit ansieht, für den einzelnen ist es überhaupt gleichgültig, was objektiv geschieht; er hat in den Dingen, die an ihn herantreten, sich zu entscheiden, er kann diese Entscheidung einreihen, aber er darf sie nicht motivieren damit, sonst kommt er in Gefahr, die religiöse Entscheidung auf kulturelle Notwendigkeiten zu gründen, womit sie dann in die Kulturkrise in katastrophaler Weise hineingerissen wird. Alles Reden über die Krisis ist verantwortliches Reden. - Alles Handeln aber in Bezug auf die werdende Religion ist verantwortliches Handeln und steht immer vor der Entscheidung, ob Religion gewollt wird als Kulturfunktion oder ob Gott gewollt wird als der, der die Krisis schafft. a. Es wird nun die Behauptung aufgestellt, daß wir in einer negativen Kulturkrisis uns befinden. Dieser Satz enthält zwei andere: Daß es sich nicht um eine primäre Religionskrisis und daß es sich nicht um eine positive Krisis handelt. 1. Die religiöse Krisis, die ja nach unseren Voraussetzungen der kulturellen vorangeht, ist geschehen einerseits im ausgehenden Mittelalter bis zur Renaissance, ist dann unterbrochen durch die religiös-prophetische Bewegung der Reformation und Gegenreformation und hat sich vollendet in der Aufklärung. Gegenwärtig ist weder die katholische noch die protestantische Kirche wesentlich in Krisis. Es scheint vielmehr eine Konsolidierung stattzufinden. Aber selbst eine Spaltung könnte durchaus den Sinn einer positiven Krisis haben. Aber dieses ist nicht notwendig ein Zeichen der inneren Kraft der Kirchen und ihrer Wendung auf das Unbedingte. Es kann auch

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Ausdruck der Nicht-Teilnahme sein; es kann die Offenbarung des Unbedingten in der negativen Kulturkrisis tiefer sein als in den Resten positiver Religionselemente, die die Konfessionen konservieren. Denn Gott ist in seiner Offenbarung nicht an die Kultur gebunden; wie er aus Steinen Abrahams Kinder erwecken kann, so kann er in der Kultur sich offenbaren, positiv und negativ, und die Religion zum Stein machen, der vielleicht später einmal Funken schlägt. 2. Die Krisis ist negative Kulturkrisis. Die Annahme, daß überhaupt keine Krisis vorliegt, ist indiskutabel und unwiderleglich. Sie ist nur durch Erschütterung des vorhandenen Bewußtseins zu überwinden. Die Annahme, daß es sich nur um eine partielle und positive, unepochale Krisis handelt, ist gleichfalls unwiderleglich; es ist nur möglich, denjenigen, die innerlich das sichere Gefühl haben zu zeigen, um was es sich handelt und daß es sich um die Substanz der Kultur überhaupt handelt. b. Das Fundament 3 der Kultur aber ist Autonomie; und es wäre der Nachweis der Kulturkrisis gebracht, wenn die Krisis der Autonomie erwiesen wäre. 1. Das Wesen der Autonomie als selbständige Erfassung der Formgesetze, abgesehen vom Gehalt; Autonomie nicht = Willkür, sondern vopio. Überwindung des Irrationalen von unten durch die geltende Form, aber Loslösung von dem Irrationalen von oben, das im primitiven Bewußtsein eins ist mit dem von unten; die Form erfaßt sich als Ausdruck des Gehaltes, aber sie erfaßt in der Autonomie nur sich, nicht den Gehalt mehr; und es entsteht das Ringen der autonomen Form nach dem Gehalt. 2. Der Erfolg dieses Ringens in der Antike: der dreifache Ausgang. Die Skepsis als Quittung auf das Ringen um Einheit mit den Dingen. Die Individualethik des Heroismus als Resignation auf die Gemeinschaft. Die Mystik als Rückkehr aus der reinen Form in die gehaltserfüllte Form. 3. Die Moderne hat den gleichen Kampf gekämpft, aber mit anderen Elementen: die Skepsis ist ergänzt durch das praktische Wissen, das evident ist und die Weltherrschaft bringt. Die Innerlichkeit ist die des Gemütes, die im Unterschied von der heroischen der Griechen immer neue Gemeinschaften erwachsen läßt. Typus: die

'

Über gestrichen: Die Substanz

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Mystik der englischen Familie, der romantischen Freundschaft. An Stelle der abstrakten Mystik der Gemeinschaft bildende sozial-ethische Wille. - Also die Aktivität in technischer und sozialer Beziehung und die Innerlichkeit des Gemüts. 4. Aber diese ist an sich inhaltsleer. Sie ist eine ständige Möglichkeit, aber die Wirklichkeit kann nur aus der Geschichte kommen. Auch die Natur ist kein Inhalt, denn sie ist vieldeutig. Dieses über die Jugendbewegung! - Die Aktivität aber ist Erlösung nur durch Preisgabe des Seelischen, Einspannung in die Maschine, Versachlichung. 5. Die Doppelheit von sachlichem Geschäft und natürlichem Gemüt für den einzelnen lange möglich, besonders wenn es mit reflexionsloser Annahme der konservativen Religion verbunden ist. Englischer Geschäftstypus. - Dieses ist aber nicht kulturschöpferisch; daher das Urteil Spenglers über Untergang und Technik als einzig Mögliches richtig - vom Standpunkt der Kultur. 6. Die Gehaltlosigkeit offenbar in der Formphilosophie, der Unfähigkeit zur Evidenz, neben dem unbegrenzten Fortschritt der technischen Erkenntnis. In der Kunst das Zerfallen in kritischen Ästhetizismus und romantische Mystik. In der Sozialethik Massenrationalisierung und Sehnsucht nach Persönlichkeit und Gehalt; Greifen nach den Formen der Kultur, die von der Krisis getroffen sind. Die Religion teils selbst unter der Krisis (liberale Theologie), teils insular, teils versuchend, die Krisis für sich zu benutzen, ohne ihre Tiefe erlebt zu haben, romantischer Katholicismus. 7. Es ist also klar, daß eine Krisis unbedingter Art da ist; denn jede neue Kulturschöpfung würde wieder unter die Dialektik der Gehaltsentleerung fallen. Darum steht auch jede der gegenwärtigen Bewegungen, die aus dem Krisenbewußtsein geboren sind, wieder unter der Krisis: Inwieweit sind sie aus autonomer Form geboren, inwieweit sind sie infolgedessen rational oder - was die Polarerscheinung ist - subjektiv sentimental oder - was die Reaktionserscheinung ist - romantisch? Das gilt von den religiös-Sozialen wie von den Siedlern, von den Neulandleuten 4 , wie von den [-]. 5 8. Alle diese Bewegungen sind die Krisis. Sie stehen aber nur soweit nicht unter ihr, als sie nicht sich selbst wollen, als sie nicht 4

Gemeint ist wohl die Neuwerkbewegung (vgl. T e x t Nr. 1 9 Anm. 1).

5

Eine Abkürzung unleserlich

300

eine neue Form schaffen wollen, sondern Durchbruchsstellen des Unbedingten sind. 9. Es ist die Krisis unserer Kultur, daß sie alles, was sie anrührt, in Krisenstoff, in Rationalität verwandelt. Darum ist es auch Gefahr aller Bewegungen, in denen das Krisenbewußtsein da ist, daß sie unter das Verhängnis der Krise fallen. So am stärksten der Sozialismus und die Romantik. 10. Es hieße dem gleichen Verhängnis verfallen, wollten wir dasselbe tun und etwas sagen. Wir können nur etwas Negatives oder Gebrochenes sagen. Das Krisen-Bewußtsein in sich tragen und weitertragen und anwenden gegen die Unbewußten und gegen sich selbst. Die Tiefe dieses Bewußtseins ist selbst die Überwindung; denn sie ist nicht möglich ohne das Positive, das Herannahen der Theonomie, und die Krise ist der Boden, auf dem sie realisierbar ist. D a s Bewußtsein der Krise ist die Form, in der die Offenbarung Gottes an uns sich vollzieht; und das M a ß das lebendigen Gottesbewußtseins ist identisch mit dem Maß, in dem das Bewußtsein der Krise sich wendet gegen sich selbst. 11. Das Ziel einer Krise der Autonomie ist Theonomie. Es hieße, sich über die Krise stellen, wollte man sagen, welche Form die Theonomie annehmen wird. Im Grunde können nur Urtendenzen gesagt werden. a. Der primäre, alles begründende Charakter des Gottesbewußtseins, der sekundäre Charakter der Welt als Inbegriff der Dingformen. b. Demgemäß die Dingformen und Begriffe nicht als autonome Gattungen (Formalismus), sondern als Ausdruck und Symbol für die Durchbrüche des Irrationalen. Damit principielle Aufhebung des Unterschiedes von Kultur und Religion. c. In der Wissenschaft das Durchbrechen der lebendigen Wahrheit durch die Form der Erkenntnis (Intuition), Schau der Realitätswurzel und des Abgrundes in den Dingen als Schau des Lebendigen. Unverletztheit der Formen, aber ihre ewige Problematik. So in Natur, Geschichte, Metaphysik. d. Durchbruch des metaphysischen Sinns in den ästhetischen Formen, die Idee des großen Stiles. e. Die Überwindung der Formalethik und der persönlichen Sinnlosigkeit, resp. Gesetzlosigkeit durch die Gnade. f. Die Erfüllung der Masse durch den Geist der Gemeinschaft, der im Unbedingten wurzelt.

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g. Insgesamt die Auflösung aller fixierten Formen durch den Eros, ctydrn-Ti ist und neuschöpferisch in allem lebt. 12. Dieses der Gehalt. Die reale Form aber kann nicht anders als heteronom und autonom zugleich zu sein und in Spannung zu stehen mit dem Gehalt, woraus dann die neue Krisis kommt.

der

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19. Religiöser Sozialismus

Zum Text: Hs. in Vo IV (PTAH 110:004). Abfassungszeit: um 1920. 1. Die Indifferenz und Feindschaft bis zum Kriege. Die Nötigung des Eingehens von Seiten der Kirche und von Seiten des Sozialismus. Die doppelte Art entsprechend dem eschatologisch-sektenhaften und dem kultisch-pädagogischen Typ. Der erste von den älteren Schweizer Religiös-Sozialen und gegenwärtig von den Schlüchternern 1 - aufgenommen von der sozialistischen revolutionären Jesus-Auffassung. - Dagegen die historischen Tatsachen und der antigesetzliche Geist des Christentums. Der 2 zweite von mir im „Sozialismus als Kirchenfrage" 3 . Die allgemeine Möglichkeit der Verbindung des Christentums mit den geschichtlichen Dingen; der Begriff der Affinität. - Dagegen die Indifferenz, die darin liegt, und die Unmöglichkeit, beide Begriffe als fixierte zu nehmen. Dieses gilt gegen jede innere Einstellung dieser Art, auch gegen die sozialistischen Kirchenfreunde 4 . In jedem Tun ist Schöpferkraft enthalten: Darum nicht Christentum und Sozialismus, sondern religiöser Sozialismus. 2. Es sind drei Problemkreise, die hier in Betracht kommen:

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Die „ N e u w e r k b e w e g u n g " um Eberhard Arnold hatte im J a h r e 1 9 2 0 in Sannerz bei Schlüchtern eine Siedlung aufgebaut. Ihr Vorbild waren die T ä u f e r gemeinschaften des 16. Jahrhunderts und die frühe Brüdergemeinde Zinzendorfs. Vgl. Antje Vollmer, Die Neuwerkbewegung 1 9 1 9 - 1 9 3 5 . Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung. Berlin (Diss. phil.) 1 9 7 3 .

2

Hs.: Das

3

Der Sozialismus als Kirchenfrage. Leitsätze von Lic. theol. Dr. phil. Paul Tillich und Dr. phil. Carl Richard Wegener. Berlin 1 9 1 9 (= G W II 1 3 - 2 0 ) .

4

Der „Bund sozialistischer Kirchenfreunde", am 2 7 . 2 . 1 9 1 9 von Pfarrer G ü n ther Dehn in Berlin gegründet, schloß sich am 3 . 1 2 . 1 9 1 9 mit dem „Bund Neue K i r c h e " zum „Bund religiöser Sozialisten" zusammen. Vgl. Ulrich Peter, Der .Bund der religiösen Sozialisten' in Berlin von 1 9 1 9 bis 1 9 3 3 . Frankfurt am M a i n 1 9 9 5 , S. 5 2 - 5 6 .

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a. ein religionsphilosophischer: Religion und Kultur, b. ein soziologischer: Einzelner und Gesellschaft, c. ein geschichtsphilosophischer: der Sinn des geschichtlichen Handelns. a. Die Religion kann nicht in irgendeiner Weise neben den Dingen stehen, denn sie ist der Sinn für das Unbedingte. Infolgedessen weder Gott neben Welt, noch Ichgewißheit neben Gottesgewißheit, noch Kultur neben Religion, noch Offenbarung neben Geschichte. - Sondern sie ist der Sinn des Unbedingten in aller Kultur, d.h. in allem geistigen Handeln. Dennoch eine Doppelrichtung möglich, die des unbedingten Seins und die der unbedingten Form. Doch sind beide immer zugleich da. Daraus ergibt sich die Doppelheit einer religiösen und einer profanen Kultur. In einer religiösen Kultur sind alle Formen bezogen auf den Gehalt. Sie sind Ausdruck. In einer profanen Kultur sind die Formen außergehaltlich. Sie folgen ihrem eigenen Gesetz. In solchen Zeiten ist die Religion eine Sonderfunktion, und da die vorhandenen Formen sich ihr nicht hingeben, so nimmt sie die alten Formen, dogmatisiert sie und sucht sie zu modernisieren; in dieser Doppelheit auch die Gegenwart (vgl. meine „Idee einer Theologie der Kultur" 5 ). b. Wer ist der Träger solcher Kulturen? Nicht die Masse, nicht der Einzelne, sondern das, wodurch die Masse dem einzelnen die Resonanz gibt, und das, was der einzelne unbewußt als Stoff jeder möglichen Verarbeitung in sich trägt. Dieses ist ein irrationaler Begriff bei Hegel (objektiver Geist), bei M a r x (Gesellschaft), bei Spengler (Kulturseele). Es ist eine eigentümliche unwiederholbare Wirklichkeit. Von ihr aus ist das Problem der doppelten Geisteslage zu betrachten. c. Die absolute eschatologische Spannung als Ausgangspunkt aller Geschichtsphilosophie. Die Verwirklichung dieser Form in profaner und religiöser Weise. Die relativen Abschwächungen. Das epochale Denken. 3. Das Zerfallen der autonomen Zeitalter in Liberalismus und Rationalismus. Willkür und Gesetz. Die Gnade als Sache der Gemeinschaft.

!

Über die Idee einer Theologie der Kultur. In: Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe von Gustav Radbruch und Paul Tillich. Berlin 1 9 1 9 , 2 . Aufl. 1921.

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20. Die gegenwärtige Krisis von Kultur und Religion

Zum Text: Hs. im Heft Vo V (PTAH, 110: OOS). Der Hs. folgt das Manuskript der im November 1922 an der Berliner Hochschule für Politik gehaltenen Vorlesung „Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte". Tillich hielt 1922 in der Kestner-Gesellschaft Hannover einen Vortrag über das Thema „Die gegenwärtige Krisis der Kultur und Religion" (vgl. Kant-Studien 29, 1924, 333). Der vorliegende Text ist u/ohl das Manuskript dieses Vortrags. Abfassungszeit: 1922.

1. Die Möglichkeiten, sich zur Gegenwart zu verhalten a. Die unmittelbare Stellung. Die Bejahung der konkreten Gegebenheiten und der von ihnen gestellten Aufgaben: Traditionalismus, Realpolitik - oder Stumpfsinn. In jedem Fall Abhängigkeit von den übergreifenden Mächten. Objekt-Sein. - Dieses je nach der Art der Mächte gut oder schlecht. Entweder tiefer seelischer Gehalt wie im Mittelalter oder geformte Tradition wie in Aristokratie und Bürgertum oder formlose Mächte wie Wirtschaft, Macht und dergleichen. - So die ungeheure Mehrheit der Menschen, die Masse, die die Statik der Gesellschaft bewirkt. - Erschütterung dieses Zustandes durch Konflikte, in die er führt und die zu Entscheidungen zwingen. In Europa: religiös - politisch - sozial. Sobald eine solche Entscheidung gefällt wird, ist auch der Traditionalist nicht mehr unmittelbar. Er wird besonders leicht Fanatiker, wenn er sich dann für das Traditionelle entscheidet, das sich nicht mehr halten läßt. b. Die denkende Stellungnahme. Sie geht von der Tagesmeinung bis zur formalsten Wissenschaft. Man macht sich Gedanken, man macht Erfahrungen, man stellt sich in eine Partei und Richtung, man sucht eine wissenschaftliche Formulierung. Aber dieses alles [ist] Subjektivität und wie wenn man im Strom seine Schnelligkeit und Richtung feststellen wollte. Versuch der Wissenschaft, Kriterien zu finden, aber insofern sie Material sammelt, ist sie unendlich und kommt nie zum Entschluß, insofern sie allgemein bleibt, ist sie

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formal und unfruchtbar. - Die wissenschaftliche Arbeit befreit vom Fanatismus und macht tat-unfähig oder doktrinär. c. Die schöpferische Stellungnahme. Sie hat beide Elemente in sich, das Positive und das Kritische. Aber sie enthält ein Element in sich, das beiden erst die Richtung gibt, sie unabhängig macht von Mächten und Subjekten. Sie darf nicht subjektiv sein, sie darf nicht von Zufälligem abhängen und sie muß doch ganz konkret sein. Diese nennen wir nach einem besonderen Fall prophetisch. - Prophetie ist ein religiöser Begriff, und das ist wichtig, denn das zugleich Konkrete, aller Zufälligkeit Enthobene ist das Religiöse. Denn Religion ist Bewußtsein der Gebundenheit an das Unbedingte. Alle schöpferische und darum wahre Gegenwartsdeutung ist Prophetie. 2. Die Merkmale des Prophetischen a. Die religiöse Prophetie; sie ist ekstatisch und in ihrer Ausdrucksweise mythologisch. Sie spricht von der neuen Weltform. b. Die religiös-politische Prophetie; sie ist leidenschaftlich-ethisch, in ihren Ausdrucksformen sozial. Sie spricht von Völkerkatastrophen und Ständekämpfen. c. Die religiös-kulturelle Prophetie; sie ist intuitiv, in ihren Ausdrucksformen mystisch-philosophisch. Sie spricht von der Kulturkrise. d. Für uns kommt die letztere in Betracht. Wir betrachten infolgedessen Religion und Politik als Teil der Kultur, wie man umgekehrt auch die beiden anderen zum Oberbegriff machen kann. Kulturkritik von Nietzsche bis jetzt. e. Die Irrtumsfähigkeit des Prophetischen. Prophetie nicht im Wesen Voraussage, sondern Aussage der inneren Bewegtheit, also Zeitkritik. - Infolgedessen: Wahrheit in Bezug auf das Unbedingte, Irrtum in Bezug auf den Zeitverlauf (keine Mantik, sondern Ethik). f. Prophetie und Masse. Der Gegensatz von Prophetie und Masse infolge der Zeit- und Traditionsgebundenheit der Masse. Anders die losgelöste Masse; sie einerseits brutaler, andererseits sehnsüchtiger. Sie kann in ihrer Brutalität den Propheten töten, aber sie ist der Boden, auf dem er wächst, während das Geformte, das Bürgertum, ihn einordnet und vergißt.

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3. Die Deutung des Prophetischen hat zugleich den Sinn der Krisis offenbart. Es ist Krisis vom Unbedingten her. a. Die Krisis ist nicht eine solche innerhalb einer gegebenen und im Fundament unerschütterten Kultur, sie ist keine Abwehr-, keine Ausgleichskrisis. Sie ist epochal. b. Die Krisis ist nicht eine innerreligiöse Krisis, weder so, daß religiöse Elemente neu durchbrechen wollen, noch so, daß ein Ausgleich zwischen Kultur und Religion stattfindet. c. Die Krisis bezieht sich auf das, was tiefer ist als beide, dessen Ausdruck beide sind, die Grundstellung des Bewußtseins zum Wirküchkeitsgehalt, zum Unbedingten. d. Ein Beweis nicht möglich, da Prophetie nicht Wissenschaft. Aber Zeichen: 1. Das Auftreten einer Prophetie und 2 . die innere Erschütterung des Bewußtseins auf allen Gebieten und die dementsprechende fortschreitende äußere Auflösung - und Pflicht, das Unbedingte zu bejahen. e. Beginn der Krisis in Ost- und Mitteleuropa. Verzweifeltes Ringen des Westens dagegen. Fraglich, inwieweit Hemmung. England-Amerika als der KOTEXGOV, der aber die innere Auflösung nicht hindern kann. 4 . Das Wesen der Krisis. V o m Unbedingten her Krisis dadurch, daß die Kultur dem Unbedingten widerspricht. Wie ist das möglich? a. Die Abwendung vom Unbedingten sehen die Vertreter der Religion in der Abwendung von der Kirche und der aktuellen Religion. Aber dieses ist nur möglich, wenn die Kirchen nicht mehr Ausdruck des Bewußtseins sind, wenn die Substanz unreligiös geworden ist und mit der Substanz auch die Kirchen, indem sie schwanken zwischen Heteronomie und liberal-rationaler Kulturannäherung. b. Die Abwendung vom Unbedingten sehen die Vertreter der Kultur in mangelnder Durchführung der kulturellen Formen und zwar von allen Seiten her: des Rechts: Staat - Völkerbund, des Sozialen: Autorität - Sozialismus, des Sittlichen: Auflockerung - Neubildung, der Kunst, der Erziehung. Aber diese Dinge sind vereinzelt und widerspruchsvoll. Das Wesentliche liegt tiefer, in der Substanz der Kultur. c. Das Wesen der Kultur selber sei schuld, die asketische Abwendung von der Kultur Rettung. Dieses kann als religiöse, als romantische und als sozialistische Idee auftreten: die endgerichteten Sekten, die

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Jugendbewegung, der Syndikalismus. Möglichkeit, daß dieses sehr stark wird. - Aber es ist Selbsttäuschung, der Kultur entgehen zu wollen. In jeder Primitivität ist Kultur enthalten. Dann pflegt aber die Alternative zu entstehen: Primitivität mit der unmittelbaren Brutalität und Gewaltherrschaft oder Durchformung mit relativem Schutz der Persönlichkeit. Die Alternative sowie die innere Notwendigkeit jeder Kultur, sich auszuwachsen, zeigt, daß dieses die Lösung nicht sein kann. 5. Aber sie sieht im Unterschied von den anderen etwas Richtiges. Es ist nicht ein Mangel der Kultur oder der Religion oder an Religion, sondern es ist etwas der Kultur und Religion Gemeinsames und Notwendiges. a. Die Kulturform und der Kulturgehalt: die Form als das Realisierungsmittel, das, was zur Eigenheit bringt. Aber davon unterschieden das, was geformt wird, der Gehalt. Die falschen Gehaltsbegriffe. Subjektiv: seelischer Gehalt, Gefühlsgehalt. Dieses vorhanden, aber es ist Stoff, der verarbeitet wird. Oder objektiv: Eigengehalt der Dinge, ihre Bedeutung, ihr Sinn, ihr Bedeutungsgehalt. Nach subjektivem und objektivem Gehalt unterscheiden sich die wichtigsten Kulturrichtungen. Aber schon diese Unterscheidung zeigt, daß noch ein Schritt tiefer nötig. Die Möglichkeit, einen Schleier vor die Wirklichkeit zu lassen, sie als unwirklich zu betrachen. Im Gegensatz dazu das Erlebnis des Wirklichen. Es hat etwas Verzehrendes, etwas vom „Feuer der Realität", das in den Dingen brennt und zugleich das Erschütterndste, weil Unableitbare, und Beglückendste, weil vor dem Nichts rettend, ist. Dieser Gehalt kommt aber in der Form zum Ausdruck; er trägt ihre innere Notwendigkeit. Man kann ihn nur ausdrücken, man kann sich ihm nur nähern durch höchste Form. Er ist also nicht nur der Abgrund, sondern er ist zugleich die unbedingte Forderung. Das unbedingte Sein, das uns gegenübertritt als das unbedingte Sollen, ist der Kulturgehalt. Eins hängt am andern. Ohne die Seinswurzel wird auch das Sollen nichtig; ohne das Sollen wird die Seinswurzel zu einem ästhetischen Spiel. Dieses kommt nun in der Form zum Ausdruck, dem Seienden und Gesollten. Aber immer nur bedingt, denn das Unbedingte kann nie sein. b. Es ist nun eine doppelte Stellung möglich, die auf das Unbedingte und die auf die bedingte Form gerichtete, die kulturelle und

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die religiöse. Beide Stellungen sind in Kultur und Religion vorhanden. Die religiöse Richtung der Gesamtkultur bedeutet, daß es in ihr keine gesonderte Kultur und darum auch nicht Religion gibt. Die Trennung von Kultur und Religion ist die Form, in der sich beide aus der religiösen Stellung in die kulturelle begeben. Auch dann leben sie noch von dem Unbedingten, das in ihnen ist. Aber der Strom wird immer schwächer, je weiter von der Quelle entfernt, und eines Tages hat man die Fülle der Formen ohne Gehalt in der Hand. Das ist der große Moment der Krisis. c. Die religiöse Krisis. Die paradoxe Lage in der Religion. Sie ist ihrem Wesen nach Hinwendung zum Unbedingten. Dieses zeigt sich in [der] religiösen Periode darin, daß das Erste die jeden tragende religiöse Substanz ist. Die Geisteslage ist „ontologisch", d.h. die religiöse Evidenz fundiert die übrige Evidenz. - Ebenso ist die Frömmigkeit die primäre Funktion. Sie ist nicht wie in unseren Kulturethiken das Letzte (Höchste!), sondern das Erste, ohne das die anderen Dinge nicht sind. Wie die Welt die Evidenz von Gott hat, so [hat] das Handeln den Wert vom Heiligen. Jetzt reflektiert das Bewußtsein darauf, daß die Evidenz doch in ihm ist, die Frömmigkeit seine Funktionen. Es tritt an Stelle der unmittelbaren die reflektierte Evidenz, der Frömmigkeit als Substanz die Frömmigkeit als Tat. Die Konsequenz ist Abweichen ins Subjektive. Damit entstehen hervorragende subjektive Formen der Frömmigkeit (Reformation, Gegenreformation), aber mit der Formung Widerspruch, Substanzentleerung; schließlich Auseinanderfallen in Ratio und subjektives Gefühl. Anders im Katholicismus, wo der Durchbruch ins Subjektive gehindert ist, aber nicht unmittelbar von innen her, sondern durch die äußere autoritative Macht, die freilich viele Elemente in ihrer Starre bewahrt hat. Eine Überwindung der Krisis nur möglich, indem der Katholicismus wie schon einmal in der Romantik seine Quellen sprudeln läßt und der Protestantismus sich nicht als ein Gebiet neben der Kultur mit eigenen kirchlichen Formen (Halbheiten), sondern als die Seele nicht dieser Kultur, aber einer neuen Gott zugewendeten fühlen lernt. d. Die kulturelle Krisis. Sie beruht auf der Hinwendung zur Kulturform. Als solche ist sie Rationalisierung und Individualisierung. Die Rationalisierung will das Allgemeine, die Individualisierung das Besondere. Darauf beruhen die großen Gegensätze zwischen Liberalismus und Demokratie (Sozialismus). Beide aber beruhen auf

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dem Gleichen: das Aufhören der unmittelbaren geistigen Substanz. Diese bricht noch durch in den formschöpferischen Einzelnen, aber durch die wachsende Tradition der Reflexion wird das Unmittelbare immer schwächer. Diese Sachlage ergibt nun: 1. Die soziale Krisis, die Entstehung der mechanischen Masse und der individuell geformten Einzelnen. 2. Die geistige Krisis, die Unmöglichkeit, eine übergreifende geistige Substanz rational zu schaffen. Die Katastrophe des Rationalen und der Pragmatismus als praktische Ungeistigkeit in der Theorie. Also: Verlust der Gemeinschaft und des Geistes. e. Die Erschwerung durch die kapitalistische Technik. Beide Tendenzen werden ungeheuer verstärkt durch die unendliche Maschine der Technik und Wirtschaft. Und hier handelt es sich um keine geistige, sondern eine materielle Macht, die ein neues Bild der Erdoberfläche schafft, dem niemand entgehen kann. Die verzweifelten Versuche der Asiaten, Bolschewisten, Kommunisten und Siedler dagegen. Die Unmöglichkeit zu entrinnen. Drei Wege: 1. Die Menschheit verliert Geist und Gemeinschaft und wird selbst Wirtschaftsmaschine mit politischer Centralisation. Oder 2. die Menschheit zerbricht die Maschine radikal, vernichtet Imperium, Technik, Wirtschaft und rettet die Gemeinschaft, den Geist, die Seele. Oder 3. die Menschheit macht die Technik der Seele dienstbar; sie schafft eine theonome Technik. Dieses das allein mögliche Ziel, aber keineswegs der allein mögliche Ausgang. 6. Die Krisis ist da. Sie kann nicht bewiesen werden; man braucht aber auch nicht auf das subjektive Gefühl zu flüchten. Sondern es ist Forderung des Unbedingten, sich ihm hinzuwenden, und dem kann sich niemand entziehen. Es ist Gehorsam, die Krisis zu sehen. - Der gleiche Blick, der sie sieht, überwindet sie auch. Er füllt die Form mit neuem Gehalt und hebt den Unterschied von Kultur und Religion auf und gibt Gemeinschaft und Geist zurück und damit Seele und Sinn.

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21.

Die religiöse Erneuerung des Sozialismus Zum Text: Hs. in Vo VI (PTAH, 110: 006). Gliederung und Gedankenführung dieses Textes kehren wieder in der programmatischen Schrift „Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entururf" von 1923 (in: Blätter für Religiösen Sozialismus, 4. jähr, Nr. 8/9/10, AugustOktober 1923; krit. Edition in MW/HW Band 3, 103-130). „Erneuerung des Sozialismus" - unter diesem Leitthema stellten die Mitarbeiter der „Blätter für religiösen Sozialismus" ihre Grundanschauung in einer Reihe von Vorträgen in der Zeit zwischen dem 31.12.1922 und dem 6.3.1923 vor und zwar als „Politische Arbeitsgemeinschaft" der deutschen Hochschule für Politik in Berlin. Da der Text früher als der Text „Die Umstellung der Debatte" (Nr. 22) niedergeschrieben wurde, zudem auch stärkeren Entwurfscharakter hat als die „Grundlinien des Religiösen Sozialismus" von 1923, kann als Zeit der Abfassung das Jahr 1922 angenommen werden. Einleitung: Zusammenfassung des Ganzen, aber weder Synthese noch Addition, sondern eigne Schöpfung. Infolgedessen Grenzen der Receptionsfähigkeit, aber ein Eingehen auf die Probleme von einem C e n t r u m aus. A. Die religiös-sozialistische Grundhaltung: die Prophetie 1 1. Die Stellung zur Gegenwart. Die geschichtsunbewußte Stellung. Das Bewußtsein um die Gegenwärtigkeit des Unbedingten. Seine Realisierung in den Lebensbeziehungen. Das gegebene Unbedingte. Der mystische Charakter der naturalen Zusammenhänge: der Bodenzusammenhang. Der mystische Sinn der Bodenherrschaft. Der Ahnenzusammenhang. Die einheitliche Lebenswirklichkeit. Der beruflich-gesellschaftliche, der nationale Zusammenhang. Die Geschichte als Epos, d.h. als einheitliche Realisierung wertbetonter Zusammenhänge. Die Wert-Alternativen innerhalb der gegebenen Ordnungen. Getragen vom Tabucharakter, nicht von rationalen Richtigkeiten. -

Über gestr.: der Kairos

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Die Unbedingtheit des Unbedingten als transcendente Geschichte, Schöpfungs- und Erlösungsmythos, entsprechend dem Naturproceß. Möglichkeit transcendenter Eschatologie, aber nicht historische Kritik. - Das gegenwärtige Bauerntum. 2. Die rationale Stellung. - Verlust der inneren Lebensrealitäten und Zusammenhänge durch Schicksal oder Wandertrieb als Vorstufe des Willens zur Unendlichkeit. Das Recht vom Unbedingten her durch die Unbedingtheit der Form. Der Wille, die Lebenszusammenhänge und Erkenntnisbeziehungen rational zu gestalten. Die Emancipation der Richtigkeit von der Heiligkeit. Infolgedessen an Stelle des gegebenen Unbedingten, das realisiert werden muß, das aufgegebene Unbedingte, das rational gesetzt werden soll. Das Prius der Setzung des Unbedingten ist also das Bedingte. Das reflektierende Bewußtsein schafft das Heilige als das Richtige, wobei das Heilige entleert wird und das Richtige mit fortschreitendem Verfall der Lebenseinheiten rein formal wird, dadurch aber an Stelle der Lebenseinheit eine rationale Subjektivität und eine technisch beherrschte Masse setzt. - Dieses ist der weltgestaltende rationale Wille bei uns (Weltverbesserung). Der Glaube, durch richtige Formen Lebenszusammenhänge schaffen zu können. - Dagegen: unbedingt erfaßbar nur die unbedingte reine Form. Darin der theokratische Rest in Kant, Neukantianismus, Nelsonianismus2 etc. gegen eine unwahre und willkürliche, ins Dämonische gehende Subjektivität; aber dagegen, daß sie nichts als Intention ist und keinen Lebensinhalt gibt. Die konkrete Realisierung ist einerseits abhängig von der Formkraft = Urteilskraft, andererseits von dem subjektiven Gehalt. Dieses führt zu dem Widerspruch der einzelnen, zum Ausschluß der Masse und zur Herrschaft des Formkräftigsten. Die Gefahren dieser Haltung. Das Gift der Reflexion als Prius des Realisierens. - Die Tragik des neugestaltenden Willens: Die Zerstörung der Gemeinschaft durch die rationale Forderung der Gemeinschaft. Die Forderung als ein Ausdruck des Nicht-Habens und als ein Hindernis der Realisie-

2

Der Göttinger Philosoph Leonhard Nelson (1882-1927) griff als erster in der Erkenntniskritik auf G e d a n k e n von J.F. Fries zurück u n d w u r d e so zum Begründer des Neufriesianismus. Er hielt die anthropologisch-psychologische Untersuchung des menschlichen Geisteslebens durch J.F. Fries für die w a h r e Fortbildung der Philosophie Kants und für die bleibende Grundlage der Philosophie. Z u L e o n h a r d Nelson und seinen Einfluß auf Rudolf O t t o vgl. Paul Tillich, Denker der Zeit: Der Religionsphilosoph Rudolf O t t o , in: Vossische Zeitung, 1925, N r . 308 (= G W XII 179-183).

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rung. - Die Zerstörung der Wahrheit durch das Machen der Wahrheit im rationalen Proceß. - Die Zerstörung der Religion durch die Forderung der neuen Religion. Hier die tiefste Unwahrheit, denn Religion ist Offenbarung, Durchbruch, sie hat Forderungen, aber sie ist keine Forderung. Wir sollen Gott realisieren, aber nicht Religion haben. Das Verhängnis aller Bewegungen, von der Reflexion und der Aktivität zerfressen zu werden (Sozialismus, Jugendbewegung, wir, jeder einzelne). 3. Die prophetische Haltung. Sie ist das theokratische Zerbrechen des Zustandes der reinen Gegebenheit. Sie hat beides in sich. Auf dem Boden einer Gegebenheit erhebt sich die Forderung einer Gesolltheit. Sie sind weder M antik er, die den Verlauf des Kommenden seinshaft feststellen, noch bloße Ethiker, die Forderungen stellen. Der glühende Ethiker ist Weltverbesserer oder Fanatiker, aber nicht Prophet. Der Prophet hat den Lebenszusammenhang mit dem Unbedingten und der Wirklichkeit; aber er hat ihn durch die geltende Form hindurch. Er hat ihn als sich realisierenden. Die Doppelheit von Gericht und Gnade steht unmittelbar bevor. Die rationalen Formen werden erkannt. Sie sind vom Gehalt getragen. Es werden keine abstrakten Forderungen aufgestellt, sondern die konkreten Dinge werden unter eine theokratische Dialektik gestellt. - Die prophetische Haltung eine konstante geistige Funktion, nur nicht gleichmäßig bei allen und nicht immer sichtbar. Sie ist der religiöse Gegenpol zur profanen Geschichtsmetaphysik und ist wie diese eine Haltung, keine rationale Technik. Sie ist bei einzelnen und bei Kirchen und selbst bei Massen. Sie [ist] in den konkreten Dingen, in dem Zeitmoment das Kommen des Reiches. Sie deutet die Zeichen der Zeit, aber nicht reflektiert, sondern unmittelbar eins. Sie wird subjektiv und kann sich irren, insofern sie in die Reflexion verfällt, wie alle Profetie; sie ist wahr, insofern sie das Unbedingte durch die Processe hindurch erfaßt. Beides aber ist nicht zu trennen. - Diese Haltung ist die einzig mögliche religiös-sozialistische. Sie ist im Sozialismus selbst da, weithin in der Reflexion verzerrt. Sie muß daraus erlöst und unmittelbar werden. Darum [ist] nur zu verstehen [fähig], wer das prophetische Element spürt; kein rationaler Beweis und keine rationale Gestaltungsmöglichkeit [spürt das prophetische Element]. - Die Notwendigkeit unendlichen Mißverstehens der prophetischen und der rationalen Haltung genau wie das Mißverstehen von rationaler und metaphysischer Haltung. So hat die bürgerliche Wissenschaft den Sozialismus widerlegt oder die rationalistische die

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Glaubenslehren; mit Recht und Unrecht in der rationalen Sphäre und doch ganz mit Unrecht im Wesen.- Die prophetische Haltung würde ihr theokratisches Wesen aufgeben, würde sie sich in die Sphäre irrationaler Mystik zurückziehen. Sie tritt mit der Forderung richtigen Denkens auf. Sie will weder eine Geheimlehre sein, wie [Rudolf] Steiner, noch aus der Sphäre der strengsten Rationalität heraustreten, wie die russische Tendenz. Sie sagt nur, daß das Unbedingte als Gegenwart Prius alles bedingten Handelns ist, daß der Gehait Prius der Form ist, daß das Werden der Gestalt Prius der Gestaltung ist u.s.f. 4. Der Kairos. Dieser Begriff nicht mantisch; keine Weissagung, daß etwas kommen wird, sondern ein In-Beziehung-Stehen mit den Dingen im Sinne ihrer Bedeutsamkeit für [die] Realisierung des Unbedingten durch prophetische Kritik hindurch. Eine Lebenseinheit nicht unmittelbarer Art, aber auch nicht Verlust durch Kritik, sondern eine Lebenseinheit vom Unbedingten her kritischer Art. M E T O VOETTE, TTETTAT}pcoToci 6 Kaipos Kai fiyyiKEV f) ßaaiXeia TOÖ 6EOÖ. Die Einheit von Gegenwärtigkeit und Forderung im Begriff der Zeitenfülle. - Die Erneuerung des Sozialismus aus dem Geist der Prophetie. B. Das religiös-sozialistische Ideal: die Theonomie 1. Der Sinn der ßaaiXda TOÜ 0EOO. Erfüllung der rationalen Formen mit einem vom Unbedingten getragenen Lebensgehalt subjektiv und objektiv und unter Aufhebung des Gegensatzes. Das Wachsen irrational verwurzelter, spannungsreicher, ekstatischer Formen und Haltungen, die doch rational-richtig sind. Das Unbedingte ist zugleich das Tragende, Fundierende, Sinn, Realität, Gültigkeit Gebende und das die Eigenbedeutung Negierende. Das Erfülltsein geistiger und sozialer Gestalten von dieser unbedingten Spannung in ihren Lebensformen ist Theonomie. 2. Daraus folgt, daß das Unbedingte kein Objekt neben anderen ist, sondern das in allem tragende, bejahende und verneinende Unbedingte. Der Kampf gegen die Nebenordnung Gottes oder der Religion neben der Welt oder [den] Geistesfunktionen [ist] eine communis opinio des religiösen Sozialismus von Barth bis Rüstow. Sie widerspricht der Unbedingtheit des Unbedingten, sie ist die Mutter aller Kulturkonflikte zwischen religiöser und profaner Kultur, sie zieht das Unbedingte in den Kampfplatz des Bedingten herab

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und vergötzt ein Bedingtes, die Kirche, die Frömmigkeit. Sie führt zu der Heteronomie, die das Zerrbild der Theonomie ist. 3. Daraus folgt die Abgrenzung der Theonomie gegen transcendente und immanente Utopie. Die transcendente Utopie ist tiefer als die immanente. Sie weiß, daß das Unbedingte im Zusammenhang des Bedingten keinen Platz hat; aber sie gibt ihm einen Platz überhaupt. Sie bejaht damit die Nebenordnung, die dem Unbedingten widerspricht. - Die immanente Utopie. Sie ist halb, insofern sie die Natur unangetastet läßt, in der Menschheit aber die irrationalen dämonischen Kräfte als nicht vorhanden betrachtet. Diese Kräfte: Macht, Eros, innere Unendlichkeit sind aber gerade die Träger jeder Form-Realisierung, wenn sie auch zugleich die Mittel jeder Formzerstörung sind. - Die Theonomie rechnet mit ihnen; nicht als ob sie sie bejaht im Sinn der Dämonie, sondern indem sie sie in die Irrationalität von oben überführt, die durch die Form hindurchgegangen ist. Die aktive Haltung ist davon unberührt. Sie geht aufs Allgemeine, aber Geschichtsdeutung ist mehr; sie gibt der Aktivität den Sinn. Alle Utopie ist Objektivierung der aufs Allgemeine gerichteten Intention in einem Zustand. Die Theonomie ist keine Utopie, weil sie den individuell-schöpferischen Charakter anerkennt und damit die Notwendigkeit, daß sie ins Dämonische verkehrt wird und neue, theokratisch-rationale Reaktionen folgen. Sie ist das konkret-historische Ideal, das sich realisiert aus der Synthese des absoluten Ideals mit den irrationalen Kräften. Die immanente Utopie als Produkt der reflektierten Haltung. Sie steht außerhalb des Lebenszusammenhanges mit dem Gegenwärtigen. Sie sieht nicht den theonomen Gehalt in ihnen und seine dialektische Realisierung. 4. Daraus folgt weiter die Stellung von Kultur und Religion in der Theonomie. Grundsätzlich ist jede aktuelle Religion Kultur und jede lebendige Kultur Religion. Aber die Religion hat ein Reservat gegen die Kultur; sie gibt sich ihr nicht hin, sie behält eine letzte Negativität gegen alle Form. Dieses [ist] symbolisiert in der transcendenten Utopie. Dieses besonders in Zeiten herrschender Dämonien und Zerstörungen. Daher die weltindifferente Haltung des Urchristentums, der spätantiken Mystik, des Luthertums im Dreißigjährigen Kriege. Das religiöse Bewußtsein flieht aus den Realisierungen in die Intention auf das Unbedingte und lebt in den Realisierungen, die im Gegensatz zu der Herrschaft der Dämonien noch möglich sind, in der Heiligung der eigenen Persönlichkeit und der Sammlung von Heiligungsgemeinden. Daraus dann das Interesse an dem Heil des

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einzelnen. Dieses Reservatum religiosum kann jederzeit in Kraft treten. - Aber es enthält eine Unwahrheit3, wenn es sich zu einer Definition macht. Es realisiert Formen und gebraucht dazu die „weltlichen" Formen, es kann nie anderes als das benutzen, das es negiert. Dieses die innere Unwahrheit der Opposition der Sekte gegen Staat, Recht, Wissenschaft, Sitte, die sie dauernd benutzt. Wahrhaft ist nur eine immanente Kritik, die aber zugleich Gestaltungswille ist, die mehr reserviert und mehr aggressiv sein kann, immer aber immanente Weltgestaltung ist. Die Verzerrung des religiösen Reservatum ist der Heilsegoismus. Die Verzerrung des religiösen Obligatum ist die Auflösung der Religion in Kulturarbeit. 5. Die Stellung der Theonomie zu den Kirchen. Dieses wichtig nicht wegen ihrer realen Macht, sondern wegen ihrer inneren Mächtigkeit als Symbolträger und der Unmöglichkeit, Symbole zu machen. - Ideale Überwindung des Gegensatzes von religiöser und profaner Sphäre. Erhebung der metaphysischen Symbole in die religiöse, der religiösen in die metaphysische Sphäre; Einheit4 der Heiligen und Geistträger, der Gemeinden und Gesellschaften u.s.f. Die Kultakte und Symbole als Ausdruck des eigentlichen Lebens der Gesamtheit. Infolgedessen Aufhebung des Absolutheitsanspruchs der konfessionellen Symbolik sowohl untereinander als gegen die autonomen Symbole. Nicht Aufhebung der Spannungen und Kämpfe, die mit dem individuell-schöpferischen Charakter gegeben sind, aber Aufhebung der Exklusivität vom Unbedingten her. Nicht rationaler, skeptischer Relativismus, sondern innerreligiöse Kritik vom Unbedingten her. Bereitschaft, sich dauernd unter diese Kritik zu stellen, und damit Herstellung einer Gemeinschaft aller, die nicht heteronom sich ausschließen. Das Göttliche ist die Krisis im Schaffen. Das ist die mit dem Menschheitsaspekt sich ergebende religiöse Haltung. Welche Konfession ohne Kraftverlust, ohne innere Rationalisierung dem folgt und alle dämonisch-heteronomen Elemente abstreift, die hat die Zukunft. Je mehr Selbst-Aufhebung, desto mehr berechtigter Absolutheitsanspruch. Also Einheit nicht unterhalb des konfessionellen Gegensatzes, sondern oberhalb, nicht durch Abschwächung, sondern durch Erfül-

1

Über gestr.: Begrenztheit

4

Über gestr.: Erhebung

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lung des in den Symbolen Gemeinten, nicht Heteronomie einer Form, nicht Autonomie der leeren Form, der die Skepsis entspricht, sondern Theonomie. Erneuerung des Sozialismus aus dem Geist der Theonomie. C. Der Kampf des religiösen Sozialismus: Dämonie und Theokratie 1. Der Gegensatz von Geschichtsunbewußtheit und Reflexion, in seiner Tiefe erfaßt, ist ein innerreligiöser Gegensatz, der zwischen Dämonie und Theokratie. Dämonie ist das religiöse Ergriffensein von Mächten, die in ihrer Ungeformtheit zerstörerisch sind. Theokratie ist der Wille, diese Mächte im Namen des Heiligen der Form zu unterwerfen. Verliert die Dämonie ihren religiösen Charakter, so wird sie zur Anomie, verliert die Theokratie ihren religiösen Charakter, so wird sie zur Autonomie. Anomie ist profanisierte Dämonie, Autonomie ist profanisierte Theokratie. - Die abendländische Geistesgeschichte als Kampf gegen Dämonie und Anomie, Sieg der Theonomie, Verfall der Theonomie, Heraustreten der Theokratie und Autonomie auf der einen, der Dämonie und Anomie auf der anderen Seite. - Daraus der Kampf der Theonomie mit ihren theokratisch-autonomen Elementen gegen die Dämonie und Anomie, aber nicht, um sie zu vernichten, sondern um sie als schöpferische Elemente in die Theonomie aufzunehmen. Wir haben auf ein Dreifaches zu achten: die theokratisch-autonome Form, die dämonisch-anomen Erhebungen gegen die Form, die Idee einer theonomen Synthese. - Dieses Schema aber nicht ausreichend. Denn wenn die dämonischen Elemente zugleich der schöpferische Sinn, so kann Theokratie und Autonomie keine beherrschende Gewalt haben, wenn sie nicht zugleich dämonische Elemente in sich tragen, und umgekehrt kann Dämonie und Anomie nicht zur Macht werden, wenn sie bloß negativ sind. Herrschaft erlangen sie dadurch, daß sie Elemente der Form in sich aufnehmen: der Teufel als Engel des Lichts. Dieses notwendig, da die Synthese ja immer zugleich die Voraussetzung des einzelnen ist. Die Theokratie und Dämonie leben von der Theonomie, von der sie zehren; wie die Gestalt das Prius der Gestalt-Glieder ist, so die Synthese das Prius der in ihr wirkenden Polaritäten und Spannungen. 2. Die allgemeinen Elemente der Dämonie: die Erhebung des Seinshaft-Irrationalen, das Trägerin des Individuell-Schöpferischen

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sein soll, zur Unbedingtheit. Dieses doppelt möglich, als Macht und als Eros, als Vernichtung des Anderen und als Selbstvernichtung im Anderen. Wille zur Macht von Augustin durch den Voluntarismus des Mittelalters, die Naturphilosophie der Renaissance, Böhme, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche. Der Eros bei Plato, der Mystik, dem 18. Jahrhundert, der Romantik, Blüher 5 , Psychoanalyse etc. Realistische Dichtung, Kunst u.s.f. Beide haben die Form des Rausches, d.h. der Zersprengung der Bewußtseinsformen. Nun aber sprengt auch das Unbedingte die Bewußtseinsformen, und daraus entsteht die Dialektik des Dämonischen und der göttlichen Ekstase und die Rektion der Theokratie gegen beide. 3. Die weltaufnehmende Haltung: Wissenschaft, Kunst und Metaphysik. (a) Die theokratisch-autonome Haltung. Die Loslösung des Erkennens vom Eros und kontemplativen und dynamischen GottEinswerden. Also Zerschneiden der im theonomen Erkennen enthaltenen Lebensbeziehung. Infolgedessen Loslösung der Wissenschaft von der Kunst und beider von der Metaphysik. Die Behandlung der Metaphysik einerseits als Wissenschaft im rationalen Sinn; das Zerbrechen dieses Widersinns in der Kritik der radikalen Autonomie. Oder ihre Zuerteilung an die Kunst. Aber die Kunst selbst war unmetaphysisch geworden, sie brachte nicht mehr den Gehalt der Dinge zum Ausdruck, den sie in der theonomen Lebenseinheit überhaupt haben, sondern die objektive Form oder den subjektiven Gefühlswert. Sie nahm zu Unrecht und verhängnisvoll metaphysischen Rang für sich in Anspruch. Es waren also Wissenschaft und Kunst isoliert und metaphysiklos vorhanden ohne Erotik und Dynamik. Dieses war nicht nur ein Akt des Losreißens von Gott, sondern seine Tiefe besteht darin, daß es ein Akt des Gehorsams war. Denn in der theonomen Erotik und Dynamik war eine Vergewaltigung der Eigenform der Dinge und der Persönlichkeiten enthalten. Die heilige Wissenschaft heiligte um seiner Heiligkeit willen das Falsche und erklärte es für das Richtige. Die

5

H a n s Blüher, Die W a n d e r v o g e l b e w e g u n g als erotisches P h ä n o m e n . Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion. Mit einem V o r w o r t von D r . med. M a g n u s Hirschfeld. Berlin-Tempelhof 1912; Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine T h e o r i e der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert. Band I, Jena 1917, Band II: Familie u n d M ä n n e r b u n d . Jena 1919.

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heilige Kunst heiligte das den Eigengehalt der Dinge Vergewaltigende. Die kultische Form der Unform setzt sich als die gültige Form. Das wird dämonisch offenbar, sobald Schicksal, Wanderung, Erfassung des Subjektiven und des Objektiven zur Richtung auf das Gültige treiben und das Heilige sich gegen das Gültige wendet. In diesem Kampf haben wir im Namen des Heiligen gegen das Heilige für das Gültige Partei zu nehmen. Der theokratische Kampf gegen alte und neue Dämonien, die sich theonom nennen, geht fort: gegen die Heteronomie der Konfessionen - hier die Scheidewand des religiösen Sozialismus gegen den Katholicismus und die Orthodoxie, auch gegen die russischen heiligen Dämonien und gegen die okkulte Bewegung, die die Theonomie verdächtig macht. Hier die Erhabenheit der theokratischen Haltung Kants und des Empirismus. (ß) Der Zustand unter der Herrschaft der Autonomie. Einerseits Eindringen des Dämonischen in die Autonomie selbst: die lebenszerstörende Kraft des formalen Gesetzes, des bloßen a=a. Der Pharisäismus der reinen rationalen Form, sei es bei den Trägern, deren extremster Fall Nelson ist, zu dem aber auch der Professorenhochmut und der hochmütig-unwissende Glaube der Massen an den Götzen der reinen Form gehört. - Sachlich bedeutet er rationale Zerschlagung des Lebendigen, der Gehalt-tragenden Form, und Zerstörung der Einheit mit den Dingen. Dagegen die Gestalt-Lehre, in der gegenüber dieser Tyrannis der reinen Form die Eros-Beziehung, die Gestaltschau tritt. Aber das Leben läßt sich nicht zerschlagen, und Eros und Macht dringen nicht nur in die Theokratie ein und machen sie zum zerstörenden Gesetz, sondern sie erheben sich selbständig und stellen die reine Form in ihren Dienst; und zwar ist es das Machtverhältnis, was in der Technik sich erhebt, jede Eros-Beziehung, aber auch jede innerlich-dynamische Beziehung ausschließt und in der technisierten Form der Dinge die Mauer zwischen ihnen und uns aufrichtet. Infolge der inneren Mächtigkeit der Dinge wird das Macht-Verhältnis wechselseitig und zwingt zum Hervorkehren der technisierten Seiten; auch hier immer Subjekt und Objekt gleichzeitig. - Der Machtrausch der Technik und seine Ernüchterung im ZerschlagenWollen der Technik. Auf der anderen Seite: Wissen ist Macht, während vorher Wissen Gotterfülltheit war. (y) Die Kunst. Die Erfassung der Dinge ihrem Gehalt nach geht nach Verschwinden des metaphysischen Gehaltes auf den dämonischen Gehalt. Die Macht-Elemente und die erotischen Elemente

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treten im ganzen Realismus in den Vordergrund. Dementsprechend die dämonische Metaphysik und die Decadence als negative Überwindung des Dämonischen. Von der subjektiven Seite her die Benutzung der ästhetischen Form zur sublimierten Erotik des Ästheticismus, der von der feinsten Mystik bis zur gröbsten Sexualität geht. Sein dämonischer Charakter beim „Bildnis des Dorian Gray" 6 . Die Ernüchterung und Reaktion in der Jugendbewegung. (6) Die Soziologie von Wissenschaft und Kunst. Die exklusive Aristokratie der rationalen Wissenschaft und Kunst im Unterschied von der repräsentativen Aristokratie der mythischen Metaphysik. Das Machtverhältnis des Wissens als Macht über die technisierte Masse, das Ästhetentum als Loslösung und subjektive Erhebung über die dem „Kitsch" verfallene Masse. Zerstörende Entgeistigung der Massen bis zur Unfähigkeit der seelischen Reaktion. Darin die Vollendung der dämonischen Gewalt der rationalen Form: die Heteronomie der verkitschten autonomen Form. (e) Lösung nur durch Werden einer neuen Metaphysik. In Wissenschaft und Kunst sind Richtungen da. Sie können nie aus der Beschäftigung mit der Form als solcher hervorgehen, sondern nur aus dem Ringen mit Gott und Teufel in der Form. Sie suchen Symbole zu schaffen, die nicht exklusiv sind. Aber sie erliegen immer wieder dem Dämon der Form und der Subjektivität. Sie zu erkennen ist nicht mehr Prophetie, sondern Mantik, die richtig sei kann, aber immer auch irrt. Hinweis als schlechte Mantiker auf das System der Wissenschaften (Technik und Gestaltschau, Technik und Menschheitsmythos). 4. Die weltgestaltende Haltung, Recht, Gemeinschaft, Sittlichkeit. (a) Die theokratisch-autonome Lage im Ganzen. - Die Loslösung der Gemeinschaften und Persönlichkeiten von dem sie tragenden Gehalt, von der theonomen Erfülltheit der Eros- und Machtbeziehungen, d.h. von Beziehungen, die in der Mächtigkeit und Erosqualität vom Unbedingten her begründet werden. Also Verlust der sozialen-theonomen Lebensbeziehungen. Infolgedessen der gleiche Vorgang wie in der theoretischen Sphäre: die Loslösung des Rechtes von der Gemeinschaft und beider von dem Ethos. Die Auflösung der

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R o m a n von O s c a r Wilde

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Ethik in Recht und Moral. Der Wille, das Unbedingte zu realisieren, soll sich in der Sphäre des Bedingten erfüllen. Es entsteht die Ethik der autonomen Gesellschaft und der autonomen Persönlichkeit. Dieses gleichfalls eine gerechte theokratische Reaktion gegen die Heiligung ungerechter Macht- und Eros-Beziehungen, die von der Heiligkeit geweiht waren. - Die Macht-Dämonie im Verhältnis von Volksgenossen und Fremden, von Aristokrat und Volk, von M a n n und Frau, von Herr und Sklave, von Eltern und Kind. Die erotische Dämonie in der Zerstörung der Einzelpersönlichkeit in den Gemeinschaften, Familien-, Volks-, Bluts-, besonderen Geschlechter-Zusammenhängen, später den Orden und Kirchen, in denen sich Macht und Eros verbindet. Dieses nicht nur durch Unterdrückung, sondern noch viel mehr durch Verzicht auf Forderung. Diese mystisch-erotische Dämonie kann auch in einer Menschheitsgemeinschaft da sein, wie etwa in dem Ideal Dostojewskis, wie auch die Macht-Dämonie in der Menschheitsgemeinschaft gerade so da ist. - Hier Fortsetzung des theokratischen Kampfes des religiösen Sozialismus: gegen den Sakramentalismus der Ehe, der Familie und des Geschlechtes, vor allem der Kirchen und ebenso gegen die mystisch-erotische Entpersonalisierung. Hier der Sinn des theokratischen Liberalismus und der theokratischen Demokratie, die gegen die dämonisch gewordenen sakramentalen Reste kämpft (gegen Keyserlings ästhetisch-eudämonistische Rechtfertigung des Kastenwesens 7 ). Der theokratische Kampf geht fort; er ist Gehorsam gegen die Theonomie. (ß) Das Recht unter Herrschaft der Autonomie. Das Recht entsprechend der Wissenschaft. Die rationale Gestaltung der Wesensbeziehungen. Dieses entspricht der rationalen Gestaltung der Beziehungen zum Objekt im Erkennen. Es ist der Ausdruck der Eigenformen der Dinge und Wesen und der Notwendigkeit, sie zu berücksichtigen. Beide aber sind als rationale Formen dem Zwang verhaftet. Die unmittelbaren Erkenntnisbeziehungen werden fortwährend reguliert durch den Zwang der Ratio, die den vergewaltigenden Eros in Schranken hält. Das Gleiche im Recht. Die konstante Funktion der Gewalt als Rechtsherstellung im Gegensatz zu der Unzureichendheit der Einzelnen, entsprechend der Reflexion, die zwingend und Wünsche vergewaltigend den Einzelnen unterdrückt. Der absolute Pacifis-

7

Graf Hermann Keyserling, Das Reisetagebuch eines Philosophen. 2 Bde. Darmstadt 1918, 6. Aufl., 1922, dort S. 2 1 8 - 2 2 3 .

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mus muß um einer mystischen Erotik willen ebenso auf die Wahrheit wie aufs Recht verzichten. Nur in einer formlosen Einheit wäre die Idee realisierbar; sonst stößt die Unendlichkeit der Eigenform ununterbrochen in Irrtum und Rechtswidrigkeit. (y) Das Eindringen der Dämonien in die absolute Rechtsidee. Die Zerstörung der Mächtigkeits- und Eros-Beziehungen durch die radikale Demokratie. Das dämonische Symbol für diesen Staat der Leviathan, dessen legitimer Erbe der Staatssozialismus mit inkonsequenten liberalen Einschlägen ist. Der absolute rationale Staat auf rationaler Grundlage, die Reaktion gegen das Austoben der erotischdynamischen Dämonien des zerbrechenden Mittelalters. - Dagegen die liberale Reaktion als Flucht des Lebendigen in die außerrechtliche Sphäre der Gemeinschaft und Persönlichkeit. Entleerung des Staates zu einer Maschine, die jederzeit wieder ihre Vergewaltigung beginnen kann, sobald sie durch das Eindringen von Machtelementen stark wird. - Aber die politischen Gewalten lassen sich nicht durch die Form zertreten. Sie benutzen sie zur Macht. Der innen- und außenpolitische Kampf um die Macht. Außenpolitisch: der theokratische Imperialismus mit dämonischem Charakter bei den Engländern, ähnlich bei den Franzosen, nur als autonome Form-Kultur, bei den Russen als eine Theonomie, Bolschewismus = Leviathan, in Deutschland mit Resten der Theonomie, wie bei Hegel, im Ganzen naturalistisch undämonisch. Im Imperialismus liegt die Tendenz auf universale Theokratie, aber getragen von Dämonie, daher zugleich erfolgreich und zerstörerisch. Ein rein theokratischer Imperialismus würde von den Sozialisten bejaht werden (Rußland). Eine Gewaltanwendung gegen diejenigen Völker, die der universalen Rechtsidee widerstreben, wäre berechtigt von der Rechtsidee aus, wenn das dämonische Element in die Theonomie einer erotischen Gemeinschaftsidee aufgenommen wäre. Daraus würde eine innere Mächtigkeit der Machtträger da sein, die den Engländern z.T. fehlt. Von hier aus die Idee einer theonomen Erfüllung der westlichen Theokratie mit östlich theonomem Gehalt unter Niederwerfung des naturalistischen oder primitiven dämonischen Nationalismus der mitteleuropäischen und namentlich französischen Militaristen. Dieses aber nur möglich durch ein neues, Eros und Mächtigkeit schaffendes Ethos, das inhaltlich ist und sich über die formale Autonomie erhebt. Die übergreifende rechtstragende Gemeinschaft kann weder als dämonische Maschine noch als dämonischer Gewaltstaat geschaffen werden, sondern nur als heilige Gemeinschaft mit rationaler Form und

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theonomem Gehalt. Aber auch dann werden die Dämonien der M a c h t und des Eros immer zu neuen Kämpfen führen. - Die Idee des Führer-Volkes. (8) Die innenpolitische Lage in der Autonomie. J e mehr Demokratie im rationalen Sinn, desto mehr Indifferenz. Die rationalisierte Beamtenhierarchie als verdinglichte Trägerin der Macht-Beziehungen jederzeit bereit, das gegenständliche rationale Gewaltverhältnis innerhalb der rationalen Grenzen auszuüben. Der Gegensatz von Subjekt und O b j e k t als Analogon zum technischen Verhältnis. Aber auch diese leere Form bleibt nicht allein. Die irrationalen Mächte erheben sich von unten, und es entstehen Träger neuer Mächtigkeiten. Aber diese sind nicht von einem inneren Ethos getragen, sondern sie sind die Träger der höchsten rationalen Kraft: das Eros-lose wissensmächtige, theokratisch-rationale Bürgertum. Es sind die aus der Gesellschaft kommenden vom Staat freigelassenen Kräfte, namentlich der Kapitalherrschaft, die sich darin bemerkbar machen. Ihnen steht gegenüber die Dämonie des absoluten Staates und seiner Machthaber, wie in Rußland. Zwischen Leviathan = Staat und Kapitalherrschaft schwankt die Autonomie hin und her. Auch hier ein Dreifaches: 1. die Durchführung der Rechtsautonomie gegen die Kapitalherrschaft im rein dinglichen Sinne; 2 . die Erfüllung des rationalen Staates mit Eros- und Machtgewalten, die aus einem Ethos stammen und nicht aus einem Kapitalismus mit umgekehrtem Vorzeichen; 3 . die Überwindung der Reste heteronomer feudaler und kirchlicher Gewalten (theonome Führer-Idee). (e) Das Privateigentum und die Idee der Mächtigkeit, verbunden mit dem Eros der Geschlechterfolge. Symbol: das Lehen, d.h. das Verhältnis ist auf die Mächtigkeit im Sinne des universalen Ethos gegründet. Die Verabsolutierung und die theokratische Reaktion. Der freie Erwerb. Abhängig außer von früheren Resten von der rationalen Kraft. Dadurch der Vergewaltigungscharakter: Profit und Ware ohne innere, theonome, erotische Einheit mit dem Besitzobjekt. - Die Dämonie des Geldes, die den Besitz-Eros zerstört auch für die Besitzenden, der auf der anderen Seite die Herrschaft der Eros-losesten Rationalität und Theokratie über alles Eigentum bewirkt und die Masse der Menschen von der Eigentumsbeziehung ebenso loslöst, wie es die militärisch-rationale Gewalt mit Sklaven etc. tut. Hier das Centralproblem nicht in der ökonomischen Technik: das Zu-Lehen-Tragen um des centralen Ethos willen und die Teilnahme aller nach ihrer Mächtigkeit im Sinne des Ethos.

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Diese Art der Bedürfnis-Formulierung hebt über den Begriff des Bedürfnisses im Sinne der unendlichen Eros-losen rationalen Machtsteigerung hinaus; und es fragt sich, ob hierfür der freie Markt im radikal-liberalen Sinne das richtige Mittel ist. Vermutlich werden sich aus dem Ethos des Sach-Eros heraus ganz andere Formen bilden. Der circulus vitiosus von Heymann 8 trifft nicht zu. Denn es ist das Wesen des Dämonischen, daß es seine zerstörerischen Wirkungen offenbart und mit Hülfe der theonomen Reste, die in jeder Zeit da sind, zu neuen theonomen Formen drängt. Die Menschen sind nicht schlecht im Sinne des einfachen Wertgegensatzes, sondern sie sind heilig-schlecht, d.h. dämonisch besessen. Darum aber ist Erlösung möglich. Im übrigen gilt der circulus [vitiosus] sonst für alle Gebiete. (5) Die Gemeinschaft als Gehalts-Trägerin, die in den Rechtsformen ausgedrückt wird. Die Gemeinschaft geisttragender Einzelner oder der Persönlichkeiten. Beides begrifflich eins. Das Ganze [ist] Gemeinschaftssphäre. - Der theonom gebundene Charakter der Erosund Machtbeziehungen. Der substantielle Zusammenhang. Die Vergewaltigung der Persönlichkeit als Trägerin der autonom-richtigen Formungen. Die Durchsetzung der Theokratie als ethische Persönlichkeit und ethische Gemeinschaft gegen die sakramentalen Gemeinschaften, sei es ursprünglicher, sei es kirchlicher Art (in der schon Theokratie enthalten ist, daher die Möglichkeit der Gegenreformation, die Theokratie in sich aufzunehmen). An Stelle der sakramentalen = theonom erotischen Gemeinschaft tritt die richtige Gemeinschaft richtiger Persönlichkeiten. Die Gemeinschaft der individuellen ethischen Heiligkeiten. Mit dem Aufhören des religiösen Gehaltes die Bindung der Pflicht, die in Kants Formulierung ihren dämonischsten Ausdruck gefunden hat.' Der

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Nicht ermittelt.

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„Pflicht! Du erhabener grosser N a m e , der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloss ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im Geheim ihm entgegen wirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und w o findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung

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Verzicht auf Eros und Macht. Dieses als formale Konsequenz immer berechtigt sowohl gegen Reste alter 10 Dämonien wie gegen subjektive Willkür. - Mit Entschwinden des Sinnes wird die Pflicht zur Bindung im Sinne des Zwanges: die Einordnung in die Maschine der Produktion, die keinen tieferen Sinn hat als den der Produktion. Damit in der Gesellschaft das Analogon zu der metaphysischen Form des Materialismus erreicht. Dieses am tiefsten in der Wirtschaft, aber auch in aller geistigen Produktion. Die Flucht der Persönlichkeit in die Sphäre der Intimität. Ausbildung der Persönlichkeitsformung des Gehaltes. Dieses eine historische Form, nicht ewig gültig. Der Zerfall der Inhalte. Die entleerte, subjektive Persönlichkeit, die der maschinellen Gesellschaftseinordnung entspricht und in ihrer Subjektivität willkürlich ist. Die Gegendämonien: Erhebung theonomer Reste in naturalisierter Form: der Blühersche Aristokratie-Gedanke mit seiner dämonischen Scheidung der ersten und zweiten Gattung. Die Erhebung der Rasse-Theorie in gleichem Sinne. Die Erhebung des Nationalen im Sinne der naturalen Mächtigkeit. Die Erhebung der Führeridee, des Erotischen, alles im Sinne einer des Ethos entleerten rein naturalen Macht und Erotik. Hinter all dem die allgemeine Dämonie der unendlichen Bedürfnisbefriedigung, die mit dem unendlichen Charakter der Formen und der Distanz zusammenhängt. Darum gehen nationaler, rassemäßiger, führerschaftlicher Machtwille schließlich in den wirtschaftlichen über. Von hier aus über das Nationale [hinaus]: Die Eros-Qualität und die höchste Form der Macht führt einerseits zum Rückfall in primäre Dämonien der vortheokratischen Zeit: der nationale Gott, der auch in Form der Intention auf rationale Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit u.s.w. durchaus dämonisch ist, um so mehr, je mehr es sich mit naturalistischem Rassengedanken, um so weniger, je mehr es sich mit dem theokratischen Berufungsgedanken vereinigt, der die allgemeine Form in sich hat. Oder es entsteht der reine liberale Machtgedanke, der ein Teil der allgemeinen naturalen Dämonie ist. Demgegenüber eine theokratisch befreite universale Gemeinschafts- und Persönlichkeitsform, die sich mit theonomem Ethos

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desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein geben k ö n n e n ? " (Kritik der praktischen Vernunft, 3 . Hauptstück: V o n den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft). Folgt gestr.: Subjektivitäten

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füllt und aus dem Eros Liebe und aus der M a c h t Mächtigkeit, Geisterfülltheit macht. Resultat: 1. Kampf gegen die geheiligten Ungleichheiten, die dämonisch sind durch die Form der Gleichheit. 2 . Kampf gegen die zerdrückende Gewalt der rationalen Form der Gleichheit. 3. K a m p f gegen den dämonischen Mißbrauch der rationalen Form. 4 . Ringen um eine durch die Form hindurchgegangene geheiligte Ungleichheit der Liebe und Mächtigkeit. Also Durchbrechung der reinen Form nicht durch die rationale Gewalt des Eros und der M a c h t , sondern durch ihre irrationale Gotterfülltheit. Durchbrechung der Gerechtigkeit nicht durch geheiligte Ungerechtigkeit, sondern durch heilige Ungleichheit, d.h. durch Liebe. Ebenso in der Wissenschaft und Kunst: 1. Kampf gegen den geheiligten Irrtum. 2. Kampf gegen die zerstörende Gewalt der rationalen Form der Identität als Gesetz und Klassik. 3 . Kampf gegen den dämonischen Mißbrauch der rationalen Form. 4 . Ringen um eine durch die rationale Form hindurchgegangene heilige Gestalthaftigkeit. Also: Durchbrechung der rationalen Form nicht durch den geheiligten Irrtum, sondern durch heiligen Eros, d.h. : Wahrheit. Die Einheit der Sinngebiete. Die letze Dämonie die Autonomie der Sinngebiete, ihre Zerspaltenheit, ihr Gegensatz, ihre Entleerung. Auch Ethos und Metaphysik eins in der Idee des Eros und der heiligen Mächtigkeit. Die höchste Form der Einheit der dynamische Mythos, der zum allgemeinen Symbol wird, die theonome Geschichtsmetaphysik, die Heilsgeschichte. D. Der Weg des religiösen Sozialismus: die Ekklesia 1. Der Sinn des Wortes: Herausgerufen durch die prophetische Sinndeutung vom Unbedingten her. In der transcendenten Eschatologie bedeutet das eine eschatologische Sekte, in der immanenten eine Partei oder politische Bewegung, in der ungeschichtlichen Denkweise eine Kirche. Für uns kann es [sich] nur [um] eine Gemeinschaft der in Richtung auf die Theonomie stehenden Menschen in allen Gemeinschaftssphären und in allen Arbeitsgebieten handeln. Also nicht um ein Danebenstehen, so daß die konkreten Gemeinschaften und Handlungen entwertet werden und das Centrum in der Gemeinde liegt. Sondern um ein Verstehen, Treffen, Verständigen derjenigen, die -

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jeder in seiner Sphäre - der Theonomie dienen 11 . Es folgt das aus dem Element der Autonomie, das in der Theonomie enthalten ist. Der Zusammenschluß kann enger und weiter sein; aber keine Organisation, weil es sonst rational objektiviert und eingeordnet wird und seine prophetischen Qualitäten verliert. - Hier der relativ berechtigte Grund der Jugendbewegung gegen Verhärtungen. Dagegen aber ihre bleibende Formlosigkeit und Kraftlosigkeit; nur daß sie nicht selbst sich eine Form gibt als Jugendbewegung, sondern daß sie den gegebenen Formen den theonomen Gehalt zuführt, soweit er in ihr ist. Aber es war mehr subjektiv-erotische als theonom-erotische Reaktion gegen die Dämonie der reinen Form. Darum nur gering formschaffend. 2 . Ablehnung einer Identifikation mit religiösen oder politischen Parteien. Also nicht als religiöser Sozialismus kirchenpolitisch oder staatspolitisch tätig sein - damit würde das prophetische und das rationale M o m e n t verwechselt werden - , sondern als religiöser Sozialist kirchlich, politisch, pädagogisch, wissenschaftlich tätig sein und dabei getragen sein von der geistigen Gemeinschaft derer, die in der gleichen Intention stehen. 3. Sozialismus, weil dieses die stärkste unter dem Dämonischen leidende Schicht ist und ihre Bewegung trotz aller stärksten dämonischen Elemente der stärkste Stoß gegen die Dämonie ist. Damit zugleich die Abwehr gegen Romantik, die von der subjektiv geistigen Form oder dem subjektiven Gefühl eine Rettung erwartet. Es ist die eschatologische Bewegung, der sich das Urchristentum anschloß und die sie 12 umdeutete und aus der rational politischen Sphäre erlöste. Der Weg kann weiter führen zu strengen Bindungen. Aber hier jetzt klar. Es ist der Weg, der zwischen Romantik und Rationalismus geht, der Weg der Prophetie.

"

Hs.: dient

12

sie = die Bewegung des Sozialismus (?)

327

22. Die Umstellung der Debatte Zum Text: Hs. in Vo VI (PTAH 110:006). Der Text gibt Einblick in die Debatten des Kairos-Kreises im Jahre 1922, insbesondere zeigt er - aus Tillichs Sicht - die Differenz zwischen Tillich einerseits und Alexander Rüstow (und Adolf Löwe) andererseits. Abfassungszeit: 1922. Einleitung: Soziologisches zu unserem Kreis 1 1. Das Problem der Form-Verständigung. Die Subjektivität der rationalen Seite. Die Differenziertheit. Die Unwesentlichkeit dieser Subjektivität. Die Schwierigkeit, für gemeinsamen Gehalt gleiche Symbole zu finden: „Masse und Geist". 2 2 . Das Problem des Verhältnisses von Denken und Handeln. Nicht warten, bis zu Ende gedacht ist, sondern gleichzeitig denken und handeln. Das Begründungsverhältnis geht nicht von der Theorie zur Praxis, sondern wechselseitig aus einem Dritten, der gemeinsamen Grundhaltung. 3. Die Schwierigkeit der Debatte [ist] begründet in der Fraglichkeit der gemeinsamen Grundhaltung, nicht in den Ausdrucksformen; diese ließen jedesmal beide Schlüsse zu. Diese Unsicherheit wirkte verwirrend; denn man wußte nie, o b die eigne Haltung herauszustellen war im Gegensatz zu der anderen Haltung oder der anderen Formen. 4 . Die Haltung offenbart sich deutlicher in dem, was gewollt ist, wenn auch hier noch Deutungen möglich sind. Jedenfalls sind diese Dinge für eine aktiv eingestellte Gemeinschaft wie wir entscheidend. - Darum vorläufiger Abschluß der Debatte unbedingt erforderlich, da die Verständigung über eine Religionsphilosophie gegenwärtig unendlich ist. '

Kairos-Kreis (Tillich, Eduard H e i m a n n , Carl M e n n i c k e , Alexander R ü s t o w , Adolf L ö w e , Arnold Wolfers). R ü s t o w und Löwe schieden 1 9 2 2 aus (vgl. die Mitteilung von Karl Ludwig Schmidt: E G W V 1 5 2 ) .

2

Vgl. Tillichs gleichnamige Schrift (Frankfurt am M a i n 1 9 2 2 ) .

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1. Klärungen zur bisherigen Debatte 1. Die gegenseitige Erklärung aus historisch-psychologischen M o tiven: Meine Stellung zur Theologie. Der Vorwurf der Traditionsgebundenheit. Die Notwendigkeit der inneren Spannung, weil kein Kulturgebiet aus der Distanz behandelt werden kann. Der Vorwurf namentlich in Bezug auf Gott. Aber genau hier der stärkste Bruch mit der Tradition durch Ablehnung des gegenständlichen Gottesbegriffs. - Rüstows Abhängigkeit von der stark ressentimenthaft erfaßten rational-sozialistischen Tradition, namentlich in Bezug auf Geschichtsphilosophie und unendlichen Proceß und Aufhebung jeder Formtranscendenz. Aber hier ein neues Element, die GestaltLehre, die aus der intuitiv-klassischen Sphäre kommt und ein irrationales Element im Heiligen und im Geschichtlichen bejaht. Die Synthese mit dem anderen in Form der „unendlichen Gestalt" ist nicht gelungen. Die Gestalt ist das Gestaltete, die mathematischbiologischen Gegenbeispiele stimmen nicht. Nur auf das Weltganze als Antinomie verwendbar ... Dagegen im Gestaltbegriff die M ö g lichkeit, 1. nicht nur das Irrationale des Heiligen, sondern auch sein Verhältnis zu den übrigen rationalen Elementen zu beleuchten. Dieses unser Versuch mit „ G o t t " , „ T i e f e " , „Substanz" etc. ... Dieses jetzt nicht weiter zu verfolgen, da drüben nicht versucht. - 2 . Der Gestaltbegriff steht im Gegensatz zu dem „Zerschlagen" und rationalen Zusammensetzen. Dieses bedeutet auch für unsere Lage, dal? das Prius aller unserer Aktivität das Werden einer Gestalt des Zeitalters ist. Ohne dieses Gestalt-Wachsen würden wir wieder rational komponieren werden. Auch das Sagen: „Ihr sollt zur Gestalt komm e n " wäre gestaltwidrig. Eine solche Fassung der Gestalt würde mit dem Begriff des Schöpferischen oder der Gnade zusammengehen.

2 . Die Stellung zur Geschichte (a) Allgemein. Die handelnde und die intuitive Einstellung. Die erste ist durchaus tragend, da wir immer wertend an die Geschichte herantreten, und alles Werten kommt aus dem handelnden Willen. Die wertfreie, intuitiv-historicistische Einstellung ist gottlos, da sie vergißt, daß sie selbst durch die Geschichte geformt ist und in der ästhetisierenden Entleertheit über den Wassern schwebt und dadurch nichts wahrhaft sieht. Alle große Geschichtsschreibung stammt aus dem handelnden Willen, dem theoretischen und praktischen.

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Daneben aber die Selbstbeurteilung und die Beurteilung alles Schaffens: Es realisiert sich als individuelle Schöpfung. Hier entpuppt sich das Gestaltgeheimnis als das Geheimnis des unableitbar Individuellen, der schöpferischen Neusetzung. Damit ist die neukantische Fassung abgelehnt, nach der alles einzelne nur eine quantitative Annäherung an das absolute3,4 konkrete Ziel ist. Dieses ist die profanisierte und verbürgerlichte Form des absoluten Vernunftideals, und dieses wieder die profanisierte Form des transcendenten Reiches. Gewollt werden kann nur das Unbedingte mit unbedingtem oder heiligem Willen. Gewußt ist aber zugleich die Distanz, die aber nicht nur negativ, sondern auch positiv, nämlich Gnade, klassisch ausgedrückt, individuelle Gestalt ist. Nur so ist einerseits die stärkste aktive inhaltserfüllte Stellung da, andererseits die richtige Doppelstellung zum Unbedingten, das Ja und das Nein. Wenn von richtig oder unrichtig gesprochen wird, ist entweder ein Ja oder ein Nein [gemeint]. Das eine ist Hochmut, das andere Verzweiflung. - Auch hier kann die individuelle Gestaltidee eine Einheit schaffen. (b) Die Vergangenheit. Die Urzeit keine konkrete Zeit, sondern das Ideal als Anfang und Ende gedacht. Der Abfall kein historischer, sondern die konkrete Lage im Verhältnis zum Unbedingten. Die historischen Gestalten nicht Verunstaltungen, sondern individuelle begnadete und zugleich verurteilte Gestalten. Aber diese religiöse Wertung enthebt nicht den Wertmaßstäben5 innerhalb des Individuellen und vor Gott Relativen. Für meine Lage ist nichts individuell, sondern alles bezogen auf meine Aufgabe. (c) Die Gegenwart. Das rationale Verhalten: daß man das Richtige endlich erkannt hat und es nun realisieren will. - Dagegen: Nicht ich mache, sondern durch mich wirkt eine werdende Gestalt; oder: das Heilige gewinnt Realität durch uns, oder: ich bin berufen, die Gnade bricht sich durch. Die Frage, ob dieser Kairos einmal oder öfter oder immer ist, hängt ab von der mehr aktiven oder mehr religiösen Einstellung. Für die aktive Einstellung ist der gegenwärtige [Kairos] der entscheidende; denn alle Elemente der Geschichte werden auf ihn gerichtet. Für die religiöse ist immer Kairos, da er eine Hinwendung zum Unbedingten ist. Für eine geschichtsphilosophische 3

Am unteren Heftrand: Die Kunst kann richtiger Ausdruck des Unrichtigen sein.

*

Am oberen Heftrand: Die aktive Haltung kann dabei reich und innerlich sein.

!

Hs.: der Wertmaßstäbe

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ist da Kairos, wo eine gesamte Geisteslage sich zu Gott wendet. Denn nur da ist der einzelne ganz umfaßt von der Gnade, sonst steht er im prophetischen Widerspruch zu seiner Zeit; aber auch dieses nie absolut möglich. - Dieser Kairos ist aber labil nach beiden Seiten; er bereitet sich immer vor, und er tendiert zum aktiven Verhalten auf die Gegenwart oder eine bestimmte Vergangenheit (Christus), die dadurch Gegenwart wird. - Hier kein notwendiger Gegensatz, wenn überhaupt Bewußtsein der werdenden Gestalt, der Berufung[,] der Gnade, und nicht Annahme, mit Forderung auf Grund von Erkenntnis. 3. Das Heilige: 1. Das Heilige bei Rüstow wie ein Accidenz, bei uns wie Substanz, bei Rüstow wie willkürlich, bei uns wie notwendig. Beides irreführend. Bei jedem Ding besteht die Möglichkeit der Anschauung des Heiligen, bei keinem ist sie6 notwendig. Jedes Ding kann von seiner theoretischen, ästhetischen, technischen etc. Bedeutung aus betrachtet werden. Diese Sinngebiete haben eine relative Selbständigkeit, daher die Möglichkeit der Profanisierung. Aber aller Sinn kann nur bestehen unter Voraussetzung eines absoluten Sinnes, bei dem nicht mehr nach dem Sinn gefragt werden kann. Diese Sinnsphäre ist das Heilige. Sie steht nicht neben den anderen, sondern ist sinnfundierend. Das Sinnfundierende ist aber zugleich der Abgrund des Sinnes, insofern es die Frage nach dem Warum abschneidet. Diese Doppelheit des Fundierens durch Aufhebung und Aufhebens durch Fundierung ist das Grundmerkmal des Heiligen: des Ganz Anderen, das doch zugleich die letzte Wesenserfüllung ist. Dieses bemerkbar in den Sinnsphären. In der theoretischen durch die Kausalität und Substanz; beide zugleich Aufhebung und Setzung der Dinge. Beide falsch, wenn sie zu einer realen Kausalität oder Substanz führten, die ja selbst wieder fundiert werden müßte. Sie sind Symbole für den Sinn der Unbedingtheit in der theoretischen Sphäre. Ihr symbolischer Charakter klingt noch nach in der vorrationalen Sphäre, wo beide Begriffe noch das irrational Schöpferische haben. Damit [ist] jeder gegenständliche Gottesgedanke aufgehoben. Rüstows Konstruktion richtig, sobald Theoretisches in das Symbolische eindrang. - Ebenso Teleologie und Dysteleleogie. Beide an sich profan, auch die zweite (gegen Löwe), beide Symbole für den fun-

6

Hs.: die

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dierenden Sinn. Hinfallen der Theodicee, die als Wahlhandlung rational ist. Dasselbe als schön und erhaben in der Ästhetik. 7 In der Gemeinschafts- und Rechtssphäre ist das Unbedingte natürlich auch fundierend im theoretischen und ästhetischen Sinn, darüber hinaus im Eigen-Sinn der Sphäre. Die Heiligkeit der natürlichen Gemeinschaften und der sie formenden Rechtssatzungen. Auch hier die Möglichkeit einer naturalistischen Begründung der Gemeinschaft und einer rationalistischen des Rechts. Eben damit aber fehlt die Richtung auf den fundierenden Sinn. Dieser ist darin gegeben, daß die Gemeinschaften, Familie, Stamm, Staat und das Recht unbedingte Heiligkeit haben, daß sie den einzelnen einerseits zum Wesen bringen, mit dem Gott in eins bringen, andererseits ihn vernichten durch Bann und Strafe, die auch nur im Unbedingten fundiert sind. - Die Mythologisierung dieser Sache durch Gott als Gesetzgeber, Bundesgott, Richter, Begnadiger u.s.w. - Zugleich aber das zerstörerische Element gegen jede konkrete Gemeinschaft. Das Zorngericht über sie und die Idee der vollkommenen Gemeinschaft oder des transcendenten Gottesreiches. Der einzelne also einerseits der Gemeinschaft verpflichtet, andererseits frei von ihr durch Beziehung auf die absolute Gemeinschaft. - Dieses analog der Natur, wo das Einzelne der Gesamtgestalt verpflichtet ist und ohne sie zerfällt, andererseits jede Einzelgestalt negiert ist von der absoluten Gestalt und durch das Einzelne einen über die Einzelgestalt hinausragenden Ewigkeitssinn hat. 2. Damit die Heiligkeit des Seins und Sollens unwichtiger Unterschied. Auch der Natur gegenüber ist das Unbedingte Sollen; nur daß es sich in ihr nicht durch Sollensbewußtsein hindurch, sondern objektiv vollzieht. Darum ist das Sein im Doppelsinn heilig, aber es ist nicht „fromm". Wenn sich die Kreatur sehnt, so ist dieses objektiv, nicht subjektiv. - In der Gemeinschaft dagegen geht die Unbedingtheit der reinen Gestalt durch das Bewußtsein hindurch. Die Gemeinschaft vollzieht sich immer auch subjektiv. Die Heiligkeit des Gesollten ist also die Fundiertheit der Gemeinschaft und des Rechts durch das Heilige, insofern Gemeinschaft und Recht nur durch Bewußtheit des 7

Folgt gestr.: Ebenso in der intentionalen Sphäre: Die unbedingten Geltungen u n d das unbedingt Irrationale, die unbedingte Form und das Formzerbrechende; und in der psychischen Sphäre die Intuition u n d der stammelnde W a h n sinn, der schöpferische u n d zerstörerische Rausch. - In der sozialen und personalen Sphäre: Objektivierungen: Inspiration u n d Besessenheit als Gott. Kausale Kategorien.

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Sollens oder Freiheit [sich] vollziehen. Hier ist die Sehnsucht nach Erlösung immer zugleich Entschluß zur T a t , Realisierung der Liebe. Es gibt also keine Heiligkeit des Seins und des Sollens, sondern das Heilige ist allem Sein, auch dem Gemeinschaftssein gegenüber das Sinngebende, Fundierende; sie andererseits allem Sein gegenüber das Fordernde, das einmal sich durch Unbewußtheit, das andere Mal durch Bewußtheit oder Freiheit sich vollzieht. Das Freiheitsproblem als philosophisches ist Dokument der Objektivierung: die Alternative ging völlig an unserem Sinn vorbei, das Fundieren war kausal oder substanzhaft gefaßt, nicht sinnhaft, und es war die negativ gespannte Seite des Heiligen gegen alles Seiende vergessen. Der gleiche Fehler wie in der Theodicee. Gott fundiert das Nicht-sein-Sollende existentiell, da er sonst das Sollende nicht als Freiheit fundieren könnte. Dieses der Sinn des Rationalismus: „Zulassung". 3. Die Fundierung der Einzelpersönlichkeit. Diese, von der Gemeinschaft losgelöst, eine Abstraktion, wie ebenso die Gemeinschaft ohne Persönlichkeit ein Brei ist. Die Gemeinschaft ist es dadurch, daß sie etwas Besonderes, den individuellen Charakter in die Gemeinschaft hineingibt. - Die Fundierung des Persönlichen. Konkret symbolisiert als Gottesebenbildlichkeit, mystisch als Lehre vom Fünklein. Dieses der Sinn der Personalisierung Gottes. Auch diese Fundierung ist durch das Soll[en] hindurch: die Aufgabe, vollkommen zu werden wie Gott; zugleich aber die erschütternde Distanz, das GanzAndere des Heiligen und die individuelle Synthese, die eigne Gestalt, die Gnade ist. Verbindung des Individuellen mit Natur und Gemeinschaft, Begriff des Schicksals, der die Freiheit in sich hat. Der individuelle Kairos, in dem das Heilige in seiner fundierenden Kraft sich im Bewußtsein durchsetzt; dadurch die Umkehr des Lebenssinnes und die Möglichkeit der Freiheit. Das Leben im Heiligen als Leben in den absoluten, alles Empirische transcendierenden Spannungen, das „Überschwängliche", zugleich aber das Bewußtsein des Getragenseins im Sein wie im Sollen, des Stehens in der Gnade, die Paradox [ist], und dadurch die letzte Sinngebung empfangen zu haben. 4 . Der religiöse Sozialismus 1. Die Gemeinschaftssphäre eine, nicht die einzige, aber unumgänglich, da die Person durch sie konstituiert ist und von der Konstitu-

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ierung der Person auch die Erfassung der Heiligkeit des Seins abhängt. Die heilige Gemeinschaft als unbedingte Idee. - Ihre falsche Realisierung: Als Endzustand, sei es durch ein Wunder, sei es durch eine Tat, die einmalig oder unendlich ist. Dieses letzte auch eine Rationalisierung des Charakters des Ganz-Anderen, das das Heilige hat. Das Wunder ist religiös adäquater und konsequenter; denn es vermeidet die Sinnlosigkeit, in gleichbleibender Natur das Unbedingte der Gemeinschaft und damit der Persönlichkeiten als realisiert zu denken. 2. Infolgedessen einerseits die Intention auf das Absolute, andererseits das Bewußtsein, daß das Heilige als Gemeinschaft das Ganz Andere ist und daß dieses Ganz Andere in dem Eignen sich gnadenvoll in einer Schöpfung von kosmischer Bedeutung realisiert. Darum doppelter Sinn des Begriffs Sozialismus: Entweder gleich heilige Gemeinschaft als Reich Gottes, dann unveränderlich. Oder eine konkrete, unserm Kairos durch unser Schicksal aufgegebene Schöpfung, die ebenso unter der Gnade wie unter dem Gericht steht. 3. Das Bewußtsein, daß das Fundierende jeder Gemeinschaft das Heilige ist und daß nur in dem Bewußtsein der Gerichtetheit der Gemeinschaftsformen durch das Heilige ihre Festigkeit und die Überwindung des Nicht-Sein-Sollenden möglich ist. - Nicht also so, daß ein rationaler Wille zur Herstellung der Gemeinschaft nachträglich den Glanz des Heiligen bekommt. „Sozialismus ist Religion": darin ist der (richtige) Sozialismus das Prius und die Religion das zweite Accidentelle. Sondern gemeint ist: Ein Durchbruch des Unbedingten als das Gemeinschaft stiftende Element ist die Grundlage eines möglichen Sozialismus. Diese Gemeinschaft bedarf wie jede der Symbole und dadurch wird die Beziehung auf die historischen Symbole eine ernsthafte Angelegenheit. 4. Das Kairosbewußtsein als Schicksalsbewußtsein. Dieses noch in der marxistischen Dialektik. Dieses nicht nur psychologisch, sondern auch wesensmäßig die einzige schöpferische Kraft; denn sie besagt ja, a) daß das Unbedingte sich in besonderer Form realisieren will, b) daß es sich durch uns realisieren will, c) daß eine individuelle Gestalt, die Gnade im Werden ist.

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23. Das Unbedingte und die Geschichte

Zum Text: Hs. in Vo VII (PTAH, 110: 007). Da auch der Text „Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung" (Text Nr. 24) in das Heft Vo VII eingetragen wurde, wenn auch später als der Text „Das Unbedingte und die Geschichte", kann für beide Texte das Jahr 1923 als Abfassungszeit angenommen werden. I. Teil: Das Wesen der Geschichtsmetaphysik Der Begriff des Unbedingten als Gegenstand der Betrachtung führt in die Sphäre der Metaphysik. Die Frage nach dem Verhältnis des Unbedingten zur Geschichte oder besser: nach dem unbedingten Sinn der Geschichte führt in die Geschichtsmetaphysik. Demgemäß die erste Aufgabe, das Wesen der Geschichtsmetaphysik zu erfassen. Drei Fragekreise: 1. Metaphysik und Wissenschaft, 2. Metaphysik und Religion, 3. Metaphysik und Geschichte. a. Metaphysik und Wissenschaft Jeder geistige Akt ist ein Akt der Sinnerfüllung, d.h. ein Akt, in dem das nicht sinnlose, aber sinnunbestimmte und nach Sinnbestimmung drängende Wirkliche einen Sinn erhält. Das Wirkliche ist also weder sinnlos, so daß die Sinngebung vom Subjekt oder von transcendenten Normen hinzukäme, sonst wäre nicht zu erklären, wie diese Norm zum Objekt käme: Kritik des Idealismus, noch ist es sinnbestimmt, sonst würde der Geistproceß zu einer überflüssigen und unbegreiflichen Verdoppelung [führen]. Kritik des Realismus im Sinn der Abbildtheorie. Sondern der Geist ist Erfüllung des in sich unbestimmten, aber auf Bestimmung gerichteten Wirklichen. Der Geistproceß ist Erfüllung und Bestimmung des Seinsprocesses. Der Geistproceß ist selbst ein Seiendes; er kommt zur Verwirklichung in geisttragenden Gestalten, individuellen und soziologischen. Die Sinnerfüllung infolgedessen bestimmt durch die Akte der vorgeistigen Wirklichkeitsbeziehung. Dieser ein doppelter: Ein Akt des

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Aufnehmens und ein Akt des Sich-Hineingestaltens. Dieses in der geistigen Sphäre als Doppelakt der theoretischen und praktischen Sinngebung. Einen dritten selbständigen Akt gibt es nicht. Dieses ist wichtig für die falsche Stellung der Ästhetik mit ihren gefährlichen Konsequenzen und für die Real-Philosophie, deren Verhängnis es ist, wenn eine neue Funktion für sich gesucht wird. In beiden Reihen eine doppelte Möglichkeit: 1. Die Erfassung des Eigensinnes der Dinge, ihrer Formen, durch die sie eine eigene Wirklichkeit werden: die Wissenschaft und das Recht. Infolgedessen Loslösung von dem Lebensstrom. Darauf gegründet die Rationalität beider, die Unabhängigkeit von dem Lebenszusammenhang und der Formalismus, die Lebens- und Gehaltsentfremdung, aber auch ihre konstitutive Bedeutung, die Solidität, Festigkeit, zwingende Kraft der reinen Form. 2. Die Sinnerfüllung der Lebens- oder Gehaltsbeziehung (Gefühl!), wo die Formen bleiben, denn ohne sie gibt es keine sinnvolle Wirklichkeit, sie aber nicht um ihrer selbst willen intendiert werden, sondern um der Lebendigkeit willen: Kunst und Gemeinschaft, die ästhetische und soziale Sphäre. Auch hier die Formen bleibend, aber nur als Ausdrucksmittel. Sie sind Voraussetzung, aber nicht Ziel. Daraus die eigentümliche Freiheit der Kunst gegenüber den Naturformen, der Liebe gegenüber den Rechtsformen; Ausdruck, nicht Geltung ist entscheidend. Neben dieser oder in dieser Unterscheidung von Form- und Gehaltserfassung eine andere, die vom bedingten und unbedingten Sinn. Alle Sinnerfüllung lebt von der Voraussetzung eines unbedingten Sinnes; ohne ihn würde jeder Einzelsinn in den Abgrund des Sinnlosen fallen. Der absolute Sinn ist also fundierend für jede einzelne Sinngebung; und in jedem Sinnakt ist das absolute Sinnbewußtsein enthalten. Das Bewußtsein der Realität, des Ernstes, der Heiligkeit. - Daraus an sich keine besondere Funktion. Die Funktion der Unbedingtheit ist allen anderen immanent. Sie trägt sie alle, sie trägt den Geist, das Bewußtsein, die Welt. Es besteht nun aber die Möglichkeit des Auseinanderfallens der Intentionen. Es ist möglich, den unbedingten Sinn zu vergessen, obgleich es unmöglich ist, ihn zu verlieren; und es ist möglich, ihn zu intendieren. Es ist möglich, sich auf ihn selbst zu richten, theoretisch und praktisch. Wo das geschieht, haben wir es praktisch mit Ethos, theoretisch mit Metaphysik zu tun.

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Aber so unmöglich es ist, das Unbedingte zu verlieren, so unmöglich ist es auch, es zu verwirklichen. Denn der unbedingte Sinn ist ja nicht ein Sinn neben anderen. Er kann nicht vergegenständlicht, nicht gesagt werden; er kann nur gemeint sein. Sagt man ihn, so muß man Symbole verwenden. Diese Symbole aber bieten die eigentlichen Funktionen. Recht und Gemeinschaft bieten die Symbole des Ethos; Wissenschaft und Kunst [bieten] die Symbole der metaphysischen Anschauung. Das centrale Symbol ist in beiden Fällen die Allheit. Denn nur die Idee der Allheit ist im Stande, die Negativität des Unbedingten gegen jede Einzelform zum Ausdruck zu bringen und zugleich die Fundiertheit jeder Einzelform - schon dieser Satz zeigt, daß es gar nicht anders möglich ist, von dem Unbedingten zu reden, als durch die Allheit hindurch. Umgekehrt ist die Idee der Allheit nur zu erklären aus der Beziehung jedes Einzelsinns zum unbedingten Sinn. Der Weltbegriff ist ein Produkt der Gottesanschauung. Aber die Gottesanschauung ist nur möglich durch die Welt-Anschauung. Für die praktische Sphäre bedeutet das, daß die praktische Realisierung des Unbedingten, das Ethos, symbolisiert wird in einer universalen Zwecksetzung, der Kultur- oder Vernunftgemeinschaft als Einheit aller zu realisierenden Zwecke, in der theoretischen Sphäre als universale Seinsbeziehung, als Universum. Beides sind die Symbole, die zum Unbedingten hinführen, aber so, daß ihr symbolischer Charakter darin sich zeigt, daß der unbedingte Zweck sich ebenso negativ wie positiv zum Universum der Zwecke verhält, wie das unbedingte Sein sich negativ zum Universum des Seienden verhält. In der Bestimmung des Verhältnisses von Symbol und Gemeintem oder besser: in der Stellung des Symbols liegt das Ziel der metaphysischen Anschauung und des ethischen Formens. Jedes Symbol aber bleibt symbolisch, und es ist um so tiefer, je mehr es diesen Charakter dokumentiert. Damit der Unterschied von Metaphysik und Wissenschaft-Kunst, von Ethos und Sozial-Recht offenbar. Die Metaphysik ist nicht Wissenschaft, weder im rationalen, noch im empirischen Sinne. Die rationale Methode ist der Nachklang der unmittelbaren Erfassung des unbedingten Sinns in theoretischer Beziehung; aber so daß an Stelle der Unmittelbarkeit der Schluß und damit die Wissenschaft getreten ist. Die empirische Methode ist der Nachklang der unmittelbaren Weltanschauung; aber so, daß anstatt der einheitlichen Intuition die Hypothese getreten ist, die nicht weiß, daß die Totalität

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nur ein Symbol des Unbedingten ist. - Die Metaphysik ist aber auch keine Kunst; denn es gibt keinen formbestimmten Lebenszusammenhang mit dem Unbedingten, und es gibt keine objektive Formeinheit „ W e l t " , die künstlich darstellbar wäre. Metaphysik ist nicht Poesie. Sondern Metaphysik ist eine selbständige Funktion, in der das logische und ästhetische Element enthalten, in ihrem Unterschied aufgehoben ist und die logisch-ästhetischen Formen in der Idee der Welt zu Symbolen des Unbedingten werden, das zugleich negativ und positiv zu jeder Einzelform steht. - Darum hat Metaphysik ein Element der absoluten Gewißheit, nämlich die Richtung auf das Unbedingte, und ein Element der schöpferischen Überzeugung wie alles Geistige, nämlich die Verwendung der Symbole. Ebenso ist Ethos nicht Recht und Gemeinschaft. Die Sozial- und Rechtsformen der Kulturgemeinschaft erschöpfen den unbedingten Sinn in der praktischen Sphäre ebensowenig wie die Seinsformen in der theoretischen Sphäre, und die Idee der universalen Zweckeinheit, der Totalität der Zwecke, ist ebenso symbolisch und steht ebenso negativ wie positiv zum unbedingten Zweck. - Und ebenso ist es mit der Gemeinschaft. Es gibt keinen geformten und darstellbaren Lebenszusammenhang sozialer Art. Die Liebe ist, auf das Verhältnis zu Gott angewandt, Symbol, wie die ästhetischen Symbole für Gott. Sobald dieser symbolische Charakter nicht erkannt ist, geht der Begriff verloren. Das Ethos ist also von eigener Funktion gegenüber Recht und Gemeinschaft; es stellt sich dar in der Totalität der sozialen Zwecke, aber immer auch negativ gegen diese. Die letzten Jahrhunderte standen unter dem Druck einer zur Wissenschaft und Kunst gewordenen Metaphysik und eines zur Recht- und Sozial- und Personal-Moral gewordenen Ethos, d.h. sie hatte[n] die metaphysische und ethische Haltung verloren. Kants Kritik der aufklärerischen Metaphysik und Ethik hat wenigstens negativ die Unmöglichkeit gezeigt. Etwas Positives konnte er nicht zeigen, da er nicht das Verhältnis von Religion und Metaphysik-Ethos = Geisteshaltung durchschaute. b. Metaphysik und Religion Metaphysik und Ethos sind Richtung des sinngebenden Geistes auf den unbedingten Sinn, auf seine Verwirklichung im Theoretischen und im Praktischen. Damit sind sie aber als religiöse Funktionen

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definiert. Daß die Religion Richtung auf das Unbedingte ist, ist Resultat der Religionsphilosophie, soweit sie es mit den rein formalen unentfalteten Kategorien zu tun hat, und das hat ja die Philosophie immer, insofern sie Funktionen- und Kategorien-Lehre ist. Die Erfüllung gibt die Geistgeschichte, und die Darstellung der erfüllten Kategorien die Systematik, die wir Theologie nennen. Metaphysik ist also theoretische Hinwendung zum Unbedingten, theologisch Gottesanschauung, Ethos praktische Hinwendung zum Unbedingten, theologisch Gottesdienst. Dennoch ist die einfache Identificierung nicht richtig. Gottesanschauung ist nicht nur Metaphysik, und Gottesdienst nicht nur Ethos. - Sondern es besteht eine Spannung zwischen beiden, die nämlich zwischen bedingt und unbedingt, zwischen dem Ausdruck und dem, was gemeint ist. Da, wo der Ausdruck allein entscheidet, haben wir es mit M y t h o s und Kultus zu tun; da, w o die Formen mitbestimmend sind, mit Metaphysik und Ethos. Im ersten Falle liegt die Gefahr eines dämonischen Zerbrechens der autonomen Wissenschaftswerte durch den Mythos, der autonomen Rechtswerte durch die Kultgemeinschaft vor, im zweiten Falle eine Vernichtung des Unbedingten durch die bedingten Formen. Darum ist die ideale Form eine dritte, die theonome Metaphysik und das theonome Ethos. Die religiöse Haltung steht also weder neben der theoretischen, noch neben der praktischen, sondern sie ist [in] ihnen; sie ist das fundierende tragende Element in ihnen, das, was den absoluten Sinn zu erfassen und zu verwirklichen sucht. Die Spannungen zwischen Religion und Metaphysik, zwischen Religion und Ethik, sind also innerreligiöse Spannungen, deren polare Endpunkte das Dämonische und das Profane sind. Welchem Pol eine Zeit nähersteht, ist Sache des Schicksals. Das Hervorbrechen der unmittelbar mythischen und kultischen Kraft ist ebenso schicksalshaft wie die Loslösung der autonomen Form aus den heiligen Bindungen, wie die Möglichkeit einer schöpferischen Synthesis. Z u r dringenden Forderung aber wird die Synthesis in Zeiten, wo die Autonomie soweit gesiegt hat, daß auch Metaphysik und Ethos zerbrochen sind und ihnen gegenüber sich das religiöse Leben als ein kraftloses, abhängiges Sondergebiet konstituiert, wie zur Zeit. Wir machen also den Versuch einer theonomen Geschichtsmetaphysik, d.h. einer Metaphysik der Geschichte, in der Geschichtsmythos und Geschichtslogos in einer Einheit aufgehoben sind.

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c. Metaphysik und Geschichte Drei Fragen sind zu beantworten: die Geschichtsmetaphysik im Verhältnis zur Metaphysik, zur Geschichtsphilosophie, zur Geschichtsforschung. Die Metaphysik kann den unbedingten Sinn zu erfassen suchen als fundierend für die Realität, und sie wird dann zur Ontologie. Die Ontologie des M y t h o s sieht die schöpferische Potenz des Wirklichen, hypostasiert sie aber zu einer selbständigen Wesenheit. Die Ontologie der autonomen Metaphysik setzt das letzte Sein gleich mit dem Universum, seiner Substanz oder seiner Formeinheit. Die Ontologie der theonomen Metaphysik sieht die Negativität des Unbedingten auch gegen das Universum, ohne das Unbedingte zu einer eigenen Form zu machen. Sie ist Erschauung des Schöpferischen als Abgrund und Träger der Weltformen. Die Metaphysik kann den unbedingten Sinn zu erfassen suchen als Träger der Sinnerfüllungen, also des Geistes und seiner Geschichte. Dieses ist die Metaphysik der Geschichte. Sie ruht auf der Voraussetzung, daß die Ontologie die Intention des Seienden auf den Geist, d.h. die Unerfülltheit des Seins dem absoluten Sein gegenüber, feststellt. Nun ist aber auch der Geist seiend und insofern unerfüllt. Aber er ist der Träger der Erfüllung und daraus folgt seine Doppelstellung dem Unbedingten gegenüber, daß er, d.h. der Geschichtsproceß, zugleich Träger der Schuld und der Erlösung ist. Die Unerfülltheit des Seienden wird im Geist zugleich zur Sünde und zur Erfüllung; dieses ist die eigentliche Tiefe der Geschichte. - Die mythische Geschichtsauffassung macht beides zu einem transcendenten Titanenkampf, sie sieht eine Übergeschichte neben der Geschichte. Dadurch aber wird der Geist zur Natur. Die autonome metaphysische Geschichtsdeutung macht den Geschichtsproceß unmittelbar zur Erlösung, sie sieht nicht die Negativität. Sie verliert damit auch den Unterschied und wird - o b organisch oder fortschrittlich - zu einer Fortsetzung des Naturgeschehens. Die theonome Geschichtsmetaphysik sieht die Doppelheit in der Geschichte, den Widerspruch des Dämonischen und Göttlichen. Die Geschichtsmetaphysik führt zur Metaphysik der absoluten Idee, d.h. zur Symbolisierung des Unbedingten als des Jenseits von Sinnintention und Sinnerfüllung, von Sein und Geist, sie tritt im Mythos auf als Lehre vom jenseitigen absoluten Zustand, in der autonomen Metaphysik als unmittelbare Ewigkeit des Seins, in der

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theonomen Metaphysik als Lehre von dem Aufgehobensein des Zeitlichen im Ewigen. Die Geschichtsmetaphysik steht im Mittelpunkt der Metaphysik; wird sie zu Gunsten der Ontologie aufgehoben, so geht auch der dritte Teil verloren, und das Sein verläuft spannungslos unerfüllt und unerlöst. Umgekehrt bedarf sie der beiden anderen, der Seinsmetaphysik, von der sie ausgeht, und der Idealmetaphysik, in die sie mündet. Es sind die drei großen Themata von der Schöpfung, von der Erlösung und von der Vollendung. Geschichtsmetaphysik in diesem Sinne kann nicht Geschichtsphilosophie genannt werden. Geschieht es, so wird formale und materiale Geschichtsphilosophie unterschieden, aber materiale Geschichtsphilosophie ist Geschichtsmetaphysik. Philosophie ist Lehre von dem formalen Wesen der Sinnfunktion und ihren Kategorien, aber sie ist nicht Lehre von den Symbolen des absoluten Sinns. Sie ist Wissenschaft. Geschichtsdeutung aber ist Metaphysik. Darum ist die Haltung der Geschichtsmetaphysik nicht rational, und sie hat nicht die Problematik des Rationalen. Sie ist in ihrer centralen Haltung, in der Richtung auf das Unbedingte mit seinem Nein und J a über das Bedingte, absolut selbst das Ich-Bewußtsein fundierende Gewißheit, und nur in ihren Symbolen ist sie die schöpferische Überzeugung, die unter dem Gericht des Nein steht und daher nur durch neue Schöpfung überwunden werden kann. Daraus folgt ohne weiteres, daß Geschichtsmetaphysik nicht Geschichtsdarstellung ist, auch nicht im weitesten Sinne ist. Sie ist in jeder Einzelerkenntnis vollkommen bedingt durch die Geschichtsforschung. Da aber dies wie jede Seinswissenschaft unendlich und problematisch ist, es höchstens zu schöpferischen Überzeugungen, nie aber zu absoluten Gewißheiten bringt, so ist die Reception von Einzelerscheinungen der Geschichte immer symbolisch zu nehmen. Es gibt keine religiös-metaphysische Gewißheit über den Tatbestand irgendeiner historischen Erscheinung. Jede bleibt in der Schwebe des Symbolischen gegenüber dem, was sie symbolisieren soll, die fundierende Kraft des Unbedingten gegenüber der Geschichte. - Die Metaphysik erhebt also keine Resultate der historischen Problematik zu Evidenzen. Aber sie ermöglicht überhaupt erst historische Problematik; sie ist fundierend für jede mögliche Geschichtsdarstellung. Es ist das geschichtsphilosophisch von drei Seiten her deutlich zu machen: 1. Das historische Auswahlprincip, die historische Erheblichkeit, die nur dann dem Zweifel enthoben ist, wenn sie in einem unbeding-

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ten Punkt, in der absoluten Sinnsetzung, fundiert ist. Nur was in Beziehung steht mit dem großen Gang der Geistesschöpfung, ist historisch erheblich. Das wird unbewußt geübt von den Historikern, aber weil unbewußt, verkümmert und oft entstellt im Sinne relativer Auswahlprincipien. Dabei kann sehr viel Material gefunden werden, aber es fehlt die Auswahl für die Darstellung. 2 . Das historische Gestalt-Verstehen ist abhängig von der tatsächlichen Gerichtetheit des Geistes auf den unbedingten Sinn. Keine Gestalt kann verstanden werden ohne die unmittelbare Richtung auf das Unbedingte, in der sie steht. Hier liegen die tiefen Grenzen des historischen Verstehens der historischen Periode. 3 . Die historische Überzeugung muß, wenn sie nicht in Relativismus und Skepsis versinken will, auf einer metaphysischen Gewißheit ruhen, die der Geschichte gegenüber die prophetische Gewißheit hat, die den Relativismus überwindet. Durch alle Geschichte geht die metaphysische Geschichte, die Heilsgeschichte. Alle geschichtlichen Tatsachen haben ihre Auswahl, ihre Tiefe, ihre Gewißheit in dieser metaphysischen Geschichte, die trotzdem niemals und nirgends eine Geschichte neben der anderen werden kann, sondern für alle andere Geschichte das Symbol und die Ausdrucksform ist. Die Heilsgeschichte steht nicht neben der Profangeschichte. Sie kann an keinem Punkt gegenständlich erfaßt werden. Und doch kann sie nicht anders als durch historische Gegenstände erfaßt werden. Aber diese bleiben symbolisch. Sobald man Heilsgeschichte mit historischer Forschung betreiben will, zerrt man das Metaphysische ins Wissenschaftliche herab und steht damit nicht höher als die rationale Ontotogie, der sie entgehen wollte. Sie steht andererseits in berechtigtem Gegensatz gegen die transcendente Heilsgeschichte, die in einzelnen Heilstatsachen in die Geschichte eingreift und diese in einfachem Widerspruch, der fälschlich Paradoxie genannt wird, zugleich geschichtlich und außergeschichtlich nimmt. Der symbolische Charakter der Geschichtsdarstellung in der Geschichtsmetaphysik bedeutet weder Unrealität noch Willkür. Willkür gibt es in der Metaphysik ebensowenig wie im Ethos. Denn wir können nur diejenigen Symbole wählen, die unser Verhältnis zum Unbedingten geformt haben, die uns Offenbarungsträger geworden sind. Die Verantwortung für die richtige Wahl ist nirgends größer als hier, w o es sich um den Gegensatz des Göttlichen und Dämonischen handelt.

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Ebensowenig ist die Realität des Symbolischen gefährdet. Denn diese Realität ist genauso groß wie die Heilskraft, die den Geistproceß fundierende Mächtigkeit einer Erscheinung. Welchen Namen, welchen O r t , welche Zeit sie hat, ist dabei gleichgültig. Und bei den wichtigsten symbolischen Erscheinungen haben wir von vornherein diese symbolisch-metaphysische Auffassung, die z.B. bei Christus in sein Selbstbewußtsein zurückgeht, jedenfalls aber auf die erste Gemeinde. Er war von einer so eminenten Symbolkraft, daß er nie anders als symbolisch gesehen wurde, und wir ihn nicht anders sehen können, es sei denn, daß wir ihn aus der metaphysischen Geschichte ausscheiden. Die Symbolik entspricht der Rechtfertigung. Sie läßt keine Gesetzlichkeit zu, wie sie ebenso eintritt in der transcendenten wie in der immanenten Geschichtsphilosophie. Sie entspricht im Ethos der Gewißheit, daß es keine objektive Heilshandlung, noch ebenso eine objektive Unheilshandlung gibt, sondern daß Sünde und Gerechtigkeit religiöse Begriffe sind, für die die sozialen Anwendungen Symbole sind. In der moralischen Sphäre gibt es kein Heil und kein Unheil, keine Sünde und keine Begnadetheit, sondern nur Unvollkommenheit und Vervollkommnung. Die Krisis der Barthschen Schule, o b sie in ihrer Heilsgeschichte aufrichtig symbolisch und darum in ihrer historischen Erfassung aufrichtig objektiv oder o b sie an irgendeinem Punkte, um aus den transcendenten Paradoxien, die infolge ihrer Negativität unerträglich sind, herauszukommen, doch eine transcendente Heilsgeschichte in die empirische hereinragen läßt, d.h. supranatural wird. Sie kann aus beiden Gefahren nur herauskommen, wenn sie eine symbolische Heilsgeschichte, d.h. eine theonome Geschichtsmetaphysik, kennt und aus der kritischen Negativität ihres Gottesgedankens herauskommt. II. Teil: Die Grundlinien der Geschichtsmetaphysik 1 a. Die Metaphysik ohne Heilsgeschichte Die beiden Möglichkeiten, die geschichtsmetaphysische Funktion im Bewußtsein zu verneinen (nicht an sich, denn das ist unmöglich), Folgt gestr.: a. Die Negation der Geschichtsmetaphysik An und für sich ist ein Bewußtsein ohne Geschichtsmetaphysik undenkbar; denn sie gehört zu den notwendigen Funktionen. Sie ist die Sinngebung des

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gehen aus von den beiden anderen Seiten: der Metaphysik der Ontologie und der Metaphysik der absoluten Idee. Die erste wird wirksam, wo die Unerfülltheit des Seienden nicht gesehen und darum der Geist zu einem nur Seienden gemacht wird. Wenn wir die Wirklichkeit, abgesehen von ihrer Unerfülltheit, Natur nennen, so ist es die Geschichtslosigkeit der naturalen Metaphysik (die in ihrer Ontologie auch spiritualistisch sein kann). Für diese gibt es nur ein geschlossenes, unmittelbar wirkliches Sein, das einfach ist und konstanten Gesetzen unterworfen ist, einer ewigen gesetzmäßigen Wiederholung der gleichen Formen und Typen, eine Entfaltung und Rückentfaltung der Formen, ein Rhythmus des Werdens und Vergehens. Die Vorsokratiker, Spinoza, Leibniz, aber auch die Typologie, die gefährlicher ist, weil sie den Geist anerkennt, aber naturalisiert durch Verlust der schöpferischen Sinnerfüllung. Aber dieser mißlingt selbst hier. In dem Augenblick, wo die naturale Metaphysik auf sich selbst reflektiert, sieht sie ihren Unterschied von allem übrigen und begreift sich als eine neue Setzung innerhalb der Geschichte und dringt durch zu einer Metaphysik der Geschichte vom Typus der rationalen Eschatologie (Aufklärung, Stoa). Die andere Verneinung geht aus von der Metaphysik der Idee. Sie sieht die Unerfüllbarkeit des Seienden und deutet sie als eine doppelte Katastrophe, als Herausfallen aus der erfüllten Einheit und Rückkehr in sie. Diese Auffassung ist supranatural; sie kennt nicht den Geschichtsprocesses, in dem jeder steht und ohne die er nicht Geist wäre. Dieses Bewußtsein der sinnerfüllenden Geistigkeit äußert sich auch da, w o eine über das eigne Bewußtsein hinausgehende Betrachtung nicht da ist; in jeder primitiv-kultischen Geisteslage, d.h. in der überwiegenden Lage der Menschheit überhaupt, ist im kultisch-mythologischen Bewußtsein die Verflochtenheit des Menschen in ein unbedingt-sinnvolles Geschehen enthalten. Es ist auch durch das Bewußtsein der unbedingten Forderung, der Schuld und der Entsühnung das fundierende Element des Geistprocesses vorhanden; denn eben durch diese Unbedingtheit unterscheidet sich der Geist v o m Sein. Die Negativität des Seins, seine Unerfülltheit äußert sich auch in der Objektivierung der absoluten Idee und ihres Verhältnisses zum Geschehen überhaupt; durch die Rhythmik von Katastrophe und Heil dieses aber noch indifferent gegen den Unterschied von Geist und Sein. Z u einer Geschichtsmetaphysik wird es durch die Lehre vom goldenen Zeitalter und kommenden Heil und Heiland. Die Geschichtsmetaphysik ist also verdeckt einerseits durch die Ontologie, andererseits durch die Metaphysik der absoluten Idee. Von diesen aus richtet sich im Augenblick der Bewußtheit auch der Gegenstoß gegen die Geschichtsmetaphysik überhaupt, von Seiten der Natur her aller rationale Naturalismus.

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Geist als Träger des Heilsprocesses, sondern geht über in mystischer Versenkung oder transcendenter Erwartung. So die große abstrakte Mystik und die rein transcendenten Mythen vom Anfang und Ende. Aber auch dieses bleibt nicht ohne Geschichtsmetaphysik. Durch die beiden Katastrophen erhält die dazwischen liegende Epoche entscheidende Bedeutung für die einzelne Seele oder für die ganze Natur. Und diese Zwischenperiode ist aber durch den Fall, d.h. durch die Freiheit, charakterisiert. Damit aber ist das rein naturale Schema überwunden. Zum mindesten ist die Geschichte der Ort der seelischen Umwendung. Damit ist aber Geschichtsmetaphysik im Princip da. W ä r e sie nicht da, so wäre das Ziel nicht die absolute Idee, sondern eine Natur anderer Art. M i t der Geschichtsmetaphysik fällt auch die Metaphysik der Idee. Die eigentliche Bedrohung geht also lediglich aus von der naturalen Metaphysik, solange diese naiv ist und nicht auf sich selbst als geschichtliche Wirklichkeit reflektiert. b. Die Metaphysik des die Geschichte fundierenden Heils Die Geschichtsmetaphysik muß wie alle Metaphysik und jede Geistesfunktion ausgehen von den Elementen, die den Sinn selbst konstituieren und die in aller Sinngebung enthalten sind und auf der[en] Spannung und Zusammengehörigkeit der Reichtum der Sinnwelt beruht. Dieser Unterschied ist der von Sinnform und Sinngehalt. Alle Sinnerfüllung ruht auf dem unbedingten Sinn und will ihn erfüllen. Aber der unbedingte Sinn hat keine Form; er kann nicht zur formalen, besonderen Erfüllung kommen. Die unbedingte Form ist das Sehnsuchtsziel aller Formen. Sie alle werden bewegt durch den Eros zur unbedingten Form. Aber diese ist nicht neben ihnen oder über ihnen. Andererseits ist der unbedingte Sinn das Fundierende jedes Sinnaktes. Er ist zugleich ihr Träger und geht doch über jede ihrer Formen hinaus und ist ihr Ziel. Das Unbedingte ist immer zugleich der aller Einzelform positiv und negativ gegenwärtige Gehalt und die jeder Einzelform absolut gegenüberstehende fordernde Form. Für die Geschichtsmetaphysik bedeutet dieses, daß zwei Grundmöglichkeiten bestehen: die Symbolisierung des Unbedingten als geschichtstragende Gegenwärtigkeit und als geschichtsrichtende Forderung. Für den Gegensatz kommen folgende Begriffe in Frage: konservativ - revolutionär; Gegebenheit - Aufgegebenheit; kultisch pädagogisch; eschatologisch - messianisch usw. Letztlich Form und

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Gehalt. - Daraus ergibt sich aber zugleich, daß die Geschichtsmetaphysik normativ als Synthesis beider zu denken ist, denn es gibt keine Form ohne Gehalt und umgekehrt. Die kultisch-pädagogische Auffassung ist überall vorhanden, wo auf Grund von Tradition und Institution das Unbedingte als gegenwärtig und jederzeit erlebbar aufgefaßt wird. Der Proceß der Sinnerfüllung vollzieht sich unter Führung des centralen Sinnsymbols in jedem Augenblick. Die russische Idee des Konziliarismus. Die soziologische Verbindung mit der aristokratisch-bäuerlichen Auffassung. Der Unterschied von der mystisch-ungeschichtlichen Auffassung liegt in der Bindung an das Sakramental-Institutionelle. Wo eine Erhebung darüber versucht wird, kann es zur mystisch-supranaturalen Ungeschichtlichkeit kommen. - Die Begrenztheit dieser Auffassung liegt darin, daß sie das fundierende Unbedingte mit einer bestimmten Form identisch setzt und dadurch Dinge heiligt, die dem veränderten Geltungsbewußtsein widersprechen, d.h. dämonisch wird. Denn dämonisch ist die Heiligung des dem Sinnform-Bewußtsein widersprechenden unmittelbaren Sinngehaltes. Die gegenwärtige Rückwendung ist Romantik, wenn sie das überwundene Dämonische der Vergangenheit nicht sieht und unter Überspringung des inzwischen gewachsenen Geltungsbewußtseins in eine vergangene Unmittelbarkeit hinein will. Dieses selbst die echte Dämonie. c. Die Geschichtsmetaphysik der unbedingten Forderung Sie geht aus von der Erfassung des Dämonischen als dämonisch und seiner Bekämpfung durch den Gott, der die unbedingte Form ist. Die größte Idee in dieser Beziehung ist der persische Dualismus. Zu einer Geschichtsmetaphysik, die aus der kosmischen Transcendenz heraustritt, wird er aber erst, wenn er die Geschichte epochal in die transcendente Geschichte hineinzieht und auf eine letzte innergeschichtliche Periode ausschaut, in der das Unbedingte innergeschichtlich verwirklicht ist. Die typischen mythologischen Formen sind die Lehre vom dritten Reich, von der Wiederkehr des goldenen Zeitalters oder Chiliasmus. Die Geschichte hat ein Ziel, die Aufrichtung des Himmelreichs in der Zeit, das unbedingte Zeitalter. Auf dieser Idee beruht der revolutionäre, prophetische Schwung, der gegen die dämonisch verzerrte Tradition kämpft, beruht die Idee der heiligen Gemeinde, die sich aussondert und den Kampf vorbereitet usw. Daß

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dieses in transcendente Eschatologie übergeht, ist selbstverständlich, denn diese ist ja idealiter das Ziel aller Geschichte, aber es ist nicht innergeschichtlich, sondern übergeschichtlich, nicht zeitlich, sondern ewig. N u r die Symbole sind geschichtlich. Im Gegensatz zur unmittelbaren Gegebenheit handelt es sich hier um Gefordertheit. Anstelle der sakramentalen Gnade tritt die erhoffte Gnade; anstelle der G a b e das Gesetz. Eben darin aber die Grenze dieser Auffassung. Denn die absolute Form existiert nicht; wird sie existent gedacht, so wird sie zur Utopie und zum Gesetz und führt zur Entleerung oder zum Zerbrechen unter der reinen Form. Hier die Größe und weitertreibende Kraft der reformiert-messianischen Idee, aber auch die daraus folgende Entleerung, das Herausfallen aus dem unmittelbaren Fundiertsein im Heiligen. Der Wille, das Unbedingte zu realisieren, und die unendlichen Enttäuschungen. d. Die Geschichtsmetaphysik ohne Metaphysik der Idee In beiden Formen führt die Geschichte ins Unbedingte der Erfülltheit, das selbst bald mehr mystisch, bald mehr dramatisch gedacht wird. Es besteht nun aber die Möglichkeit, dieses Ziel wegzulassen auf Grund des bloßen Nebeneinander von Natur und Geschichte. Die sakramentale Auffassung geht dann über in die klassisch-intuitive. Die Freude am gegenwärtigen Unbedingten in alten historischen Schöpfungen; der Glaube an die Menschheitsidee, die sich in dem Einzelnen verwirklicht. Die Geschichte als unmittelbare Sinnerfüllung: Jedes Zeitalter unmittelbar zu Gott. Ein universaler Sakramentalismus, aber wie jeder Sakramentalismus mit Heiligung des Widerheiligen verbunden. Die naturgegebenen Unmittelbarkeiten: Rasse, Nation, Machtwille, Eros, in ihrer Unmittelbarkeit aufgenommen und nicht unter der Kritik der sinnerfüllenden Form gestellt. Infolgedessen dagegen die sozial-revolutionäre Opposition, die das Unbedingte in die Geschichte einführen will und nur in die Geschichte und mit Erschöpfung des revolutionären Schwunges zum kritischen Fortschritt wird, die Unendlichkeit der Forderung durchschauend und ruhelos und leer von Position zu Position getrieben wird als Sklave des Gesetzes und in seiner Leere immer nichtiger wird. Auch hier die Größe der Aktivität, des Gehorsams und die Verzweiflung am Gesetz. Den mit transcendenter Idee erfüllten Auffassungen gegenüber universaler, wirklich geschichtlich, ohne Gefahr ins transcendente

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Vorgeschichtliche abzubiegen. Dafür aber in Gefahr, mit der metaphysischen Negation der Immanenz die Geschichte zu verlieren und zum Naturalen zurückzufallen. So die klassische Auffassung in der außergeistigen Spenglers, so die revolutionäre in der biologischen Entwicklungsidee. Ohne Beziehung auf die Metaphysik der absoluten Idee bleibt die Geschichte ein unerfülltes vergehendes Naturgeschehen. Die Geschichte ist gespannt zwischen unerfülltem Sein und ewiger Erfülltheit; Geschichtsmetaphysik ist Geistmetaphysik. Sie sieht die Doppelbeziehung des Geistes. Sie stellt darum auch die doppelte Forderung: 1. Synthese zwischen Supranaturalem und Naturalem, damit vermieden werde die transcendente und die immanente Ungeschicklichkeit; 2. die Synthese zwischen Gehalt und Form, damit vermieden werde die Dämonie und die Leere. e. Die Normidee einer theonomen Geschichtsmetaphysik Es handelt sich also um eine innere und eine äußere Synthese. - Die äußere Synthese ist im Grunde schon durch die formale Betrachtung erledigt, insofern diese das Wesen der Geschichtsmetaphysik und ihre Stellung begründet: 1. Wäre die transcendente Idee eine gegenständliche höhere Wirklichkeit, so wäre die Geschichte entwertet. Nun aber ist sie die Idee der Einheit von Form und Gehalt im Unbedingten oder die Idee der Ewigkeit, und die Geschichte als Geisterfüllung ist die Setzung und der Ausgleich der Spannung. Dadurch bekommt die immanente Geschichte ihren unbedingten Wert, aber gerade insofern sie ideell aufgehoben ist in der Ewigkeit. 2. Das Natürliche ist nicht das in sich vollendete Dasein, das Bestand hätte, sondern es ist das Unerfüllte, dem der Geist die schöpferische Erfüllung gibt, insofern er getragen ist vom unbedingten Sinn. Der Geist als bloß Seiendes, die Geschichte als Naturwirklichkeit ist auch unerfülltes Sein; aber im Geist ist zugleich die Negation des Seins, das Geltungsbewußtsein, das Unbedingte. Auch der Geist ist gespannt zwischen Natur und Unbedingtem, dadurch wird aller Geist einbezogen in die Metaphysik der Geschichte. Die Heilsgeschichte ist nicht eine vom Transcendentalen her hereinragende und dadurch supranaturale Geschichte, sondern sie ist das Fundierende alles Geistes und aller Geschichte.

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Eine theonome Heilsgeschichte kann darum nur eine solche sein, die in der gesamten Geistesgeschichte die Richtung auf das Unbedingte sieht, ohne doch alles einzuebnen, sondern den Gang der Sinnerfüllung an den Symbolen erläutert, die dadurch über die Geistesgeschichte sich erheben, aber sofort aus dem Sinn der Geschichte fallen, wenn sie zu einer nebengeordneten Geschichte werden. Sie sind aber der Ausdruck der verborgenen, der Heilsgeschichte, die im Ewigen ruht. Die innere Synthese ist das schwerste Problem. Es ist die Frage, wie eine bedingte Form mit der Leidenschaft und heiligen Unbedingtheit der absoluten Form bejaht werden kann. Die Antwort muß heißen: Weil die unbedingte Form sich nur dadurch verwirklicht, daß in jedem Augenblick die bedingte Form, getragen vom unbedingten Gehalt, zur Verwirklichung kommt. Also immer ein doppelter Kampf gegen die Dämonie des Sakramentalen und gegen die Leere des Gesetzlich-Messianischen. Welcher Kampf in einer Zeit entscheidend ist, das entscheidet auch über die Art der Symbolik. Das Unbedingte ist die Forderung der Zeit, in der die Forderung der Ewigkeit einen konkret schöpferischen Ausdruck findet. Das Himmelreich ist immer im Begriff zu kommen. Es ist immer Kairos, bald mehr gegen die Dämonie des Sakraments, bald mehr gegen die Entleerungen der reinen Form und der darin einströmenden Gewalten von unten, gleichsam profane Dämonien, bald ein ausgeglichener Kampf nach beiden Seiten ohne schwere Erschütterungen. Nicht jeder Zeit aber ist in gleicher Weise das Bewußtsein um den Kairos geschenkt. Sie treten ein 2 , wenn tiefste Krisen des Geistes die Selbstverständlichkeit sakramentaler Festigkeit erschüttern - oder die Selbstverständlichkeit naturaler Relativitäten. Sie treten ein unter dem Druck revolutionärer Richtungen auf das Unbedingte. Geschichtsmetaphysik ist immer, aber sie wird entscheidend in solchen Zeiten. Sie ist entscheidend in unserer Zeit. Es ist der Kampf gegen die profanen Dämonien, der uns gesetzt ist, ohne daß wir in die sakramentale verfallen dürften. Es ist der Kampf um die Überführung von Autonomie in Theonomie. Damit wird die Metaphysik der Geschichte zur unmittelbaren Gegenwartsdeutung. Sie schafft ihre Symbole aus ihrer Deutung der gegenwärtigen Dämonien und Gegendämonien und der überwinden-

Gemeint: Zeiten, denen das Bewußtsein um den Kairos geschenkt wird.

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den Kräfte. Dieses aber eine eigene Geltung, die prophetische. Hier Philosophie also Geisteswissenschaft; aber nur dann möglich, wenn ein Moment der Prophetie enthalten. Und dieses dann mehr wert als das ganze System.

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24. Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung

Zum Text: Hs. in Vo VII (PTAH, 110: 007). Zum Hintergrund des Textes gehört Tillichs Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten im Jahre 1923 (vgl. seinen Aufsatz: Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten. In: Theologische Blätter, Jg. 2, 1923, Sp. 263-269, auch in: GW VII 216-225). Die Hs. ist ohne Überschrift. Als Überschrift wurden vom Herausgeber die ersten Worte des Textes gewählt. - Abfassungszeit: 1923. Einleitung Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung, als Gestalt. Darum eine Durcharbeitung aller Probleme nötig. Die Unmöglichkeit, bei einer ökonomisch-technischen Frage stehen zu bleiben; aber auch nicht bei einer ethischen. Der unlösliche Zusammenhang von Praxis und Theorie. Aber auch darüber hinaus die Unmöglichkeit eines der beiden ohne religiöse Grundposition. Aber auch nicht umgekehrt: Nur die religiöse Position; sobald sie zum Ausdruck kommt, wird sie kulturell. Der Versuch, sie loszulösen und unmittelbar durch die Person wirken zu lassen, führt zu der Doppelheit von abstrakter Dialektik und Konservativismus, nimmt also doch für eine Position Partei. Erster Teil Hervorgang aus einer doppelten Negation: gegen die Russen und gegen die Kritiker (Nelson - Rüstow). Von den Russen innerlich verstanden im Sinne ihres immer gegenwärtigen Sakramentalismus. Andrerseits nicht verstanden, die Autonomie wird mit dem Dämonischen gleichgesetzt. - Tiefer mißverstanden von den Kritikern, die eine Debatte des ökonomischen Seminars daraus machen wollen. Diese Sphäre aber innerlich unendlich, offenbarungs- oder durchbruchslos und darum je ernster, desto überzeugungsloser. Dieses aber gerade die Kampffront. - Infolgedessen das Bewußtsein, dieser

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Leere entronnen zu sein, ohne sakramental festgelegt zu sein. Dieses mit dem Wort prophetisch. Der Name rein funktionell gemeint, nicht als etwas „Besonderes", nicht einmal als besondere Kraft oder Funktion, sondern bloß als Beschreibung. - Die nähere Ausführung des Inhalts möglicher Prophetie in der Kritik der Utopien. Die Richtung auf das futurum aeternum erhebt über das sakramentale und das kritische Element, ohne zur Utopie zu führen, und setzt eine neue konkrete Schöpfung, da sie schon im Gehalt steht. Zweiter Teil Sämtliche Begriffe: die Theonomie, die beiden Utopien. Das reservatum und obligatum, das individuell-Schöpferische, sind in tiefer Problematik. Auch hier die Gegensätze zur Verdeutlichung: Utopie als, das Unbedingte als realisiert zu denken. Die immanente Utopie als profani-sierter Chiliasmus. Der Gedanke an ein Ziel der Geschichte jedem Handeln immanent, und insofern alles ethische Handeln unter der unbedingten Forderung steht, der Gedanke an ein unbedingtes Reich als Realisierung des Sinnes der Erde. Aber dadurch alles Vorhergehende zur Sinnlosigkeit verurteilt, entleert. Zugleich die Inkonsequenz, daß das Wesen der Erde die Realität, d.h. der Machtund Eros-Wille ist und seine individuelle Realisierung. Demgegenüber die transcendente Utopie, das Wunder. Die supranaturalistische Deutung des Wunders macht das Himmelreich zu einem Gegenstand über den anderen und nimmt ihm damit die Unbedingtheit, es wird ein abgeblaßtes Diesseits, idealisierte Welt. Die Mystik hebt es darum ganz auf und stürzt sich in den Abgrund des bloßen Gehaltes. Aber das Unbedingte ist Forderung und Form. Darum ist die Ewigkeit als unbedingte Einheit von Form und Gehalt zu beschreiben. Aber dieses ist nicht gegenständlich. Denn die Form ist das Sinnelement, durch das „das Dieses" entsteht. Die unbedingte Form ist nicht, sondern sie ist unbedingte Forderung. Es genügt also auch nicht, sie als unmögliche Möglichkeit, das heißt als Wunder, zu bezeichnen. Dadurch wird die supranaturale Nebenordnung nicht aufgehoben, sondern es muß das Verhältnis von Jenseits und Diesseits als das Verhältnis von Wesen und Existenz, von Idealität und Realität bezeichnet werden. Ohne die Idealität der in Gott gesetzten Formeinheit hätte die Realität keinen Bestand. Sie lebt vom Ewigen, von der Setzung des Jetzt. Aber

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umgekehrt kommt die Idealität nicht zur Offenbarung ohne die Realität, Gott nicht ohne Schöpfung. Damit erhält die Realität die Bedeutung, die sie in der Theologie des kritischen Paradox verloren hat. Sie ist nicht bloß eine Art des Spiels und der Enthüllung verborgener menschlicher Gottähnlichkeit, sondern sie ist die Stätte der individuell-schöpferischen Offenbarung, die immer zugleich Krisis und Position ist. Aus der Ewigkeit und ihrer unbedingten idealen Sinnerfüllung bricht immer wieder die Negativität heraus und führt unter der Offenbarung negativ-dämonischer Art zu der einseitigen Setzung des Reservats - und umgekehrt. Dem futurum aeternum korrespondiert das imperfectum aeternum, die paradoxe Fundiertheit des Sinn- und Geistprocesses durch das Unbedingte und beides, Imperfectum und Futurum, sind paradox, Gegenstand des Glaubens. Das ist das positive Paradox gegen das kritische. Das Kreuz als Aufhebung der Religion. Dritter Teil A. Der Begriff des Dämonischen ist von entscheidender Bedeutung für jede prophetische Haltung. Der Begriff ist [gebildet], sobald erkannt ist: 1. daß das Profane als solches das Leere ist, das einmal Widerstand haben könnte; 2 . daß das Fundierende das Unbedingte ist; 3. daß nicht alles Fundierte gefordert ist, obwohl das Unbedingte Träger der unbedingten Forderung ist. Dieser Begriff des Dämonischen ist darum das Zeichen einer Religion, die weder bloß mystisch oder ästhetisch-pantheistisch ist, noch bloß theokratisch oder kritisch-rational, die zugleich den Gehalt kennt und die unbedingte Forderung. Das Dämonische hat sich durchgesetzt durch die reinen Dämonien Schopenhauers und Nietzsches u.a. Sie haben die centralen dämonischen Symbole Eros und M a c h t erfaßt, aber nur negativ. So auch Barth. Beide Begriffe sind aber dialektisch. Als göttliche fundieren sie jede Position, auch die des kritischen Paradox. Dämonisches und Göttliches sind unanschaulich, nicht als solche gegeben. Infolgedessen gibt es nur symbolkräftige Erscheinungen in der einen oder anderen Richtung. Das gilt nun auch für die ganze Geschichtsphilosophie und Prophetie. Sie sieht Dämonien, Autono-

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mien, Theonomien in der Geschichte, aber sie sieht sie nicht gegenständlich, sondern symbolisch. Also nicht das Mittelalter ist gewollt, sondern die in ihm symbolisierte Theonomie, nicht die Aufklärung oder der Naturalismus oder der Kannibalismus ist verneint, sondern die in ihnen symbolisierten Dämonien. Aber um dieser Dämonien [willen] muß der Kampf gegen die Träger dämonischer Symbole eröffnet werden. Wie das Urchristentum gegen den Staatskultus, die Reformation gegen das Papsttum u.s.w. Damit ist der Standpunkt Gottes niemals eingenommen, der Kämpfer stellt sich vom Unbedingten her unter das gleiche Gericht, und doch hat der Kampf absoluten Ernst. B. 1. Das dämonische Tabu in den Dingen. Der Erkenntniswille als Wille der Persönlichkeit, sich zu erheben. Das Grauen des Unbekannten. Der Erkenntniswille als Wille zur Überwindung der Furcht. Der antidämonische Charakter des Erkennens gegenüber Gefühl, Mysticismus und Heteronomie. Verlust der göttlichen Seite des Erkenntniswillens, der Anschauung des „Grundes". In allem Erkennen Wille zur Gotteserkenntnis. - Die Gestalt-Erkenntnis als Symbol der schöpferischen Kausalität in Natur und Gesellschaft, die Lehre von der schöpferischen Sinnerfüllung des Geistes, Metalogik. Die falsche antidämonische Antithese des Vulgärsozialismus. Das Ästhetische als Schmuck, als Konsequenz der reinen ästhetischen Form. Die ästhetische Anschauung als Erosträger, „das Geheimnis des Grundes", die Negation des Eigentlichen. 2. Die Wirtschaftsknechtschaft des Kapitalisten, seine reine Versachlichung und Mechanisierung. Das Fehlen der Zeit für Akte symbolischer Richtung auf das Unbedingte. Die Maschine als „Gestalt". Der Taylorismus und der universale Gestalt-Zusammenhang. Die Frage des notwendigen Existenzminimums der übervölkerten Völker als schwerer ökonomischer Einwand. Dieses durch Rationalisierung der Produktions- und der Herrschaftsverhältnisse zu überwinden. 3. Das asiatische Problem als Missionsproblem. Die Unmöglichkeit des Keyserlingschen Ästheticismus. Das Recht des Einwandes vom „Interesse" her. Die Aufhebung des subjektiven Interesses in ein metaphysisches. Die Idee der Solidarität unzulänglicher Versuch dazu. Der Feudalismus als Symbol.

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4. Der Staat, getragen von Macht und Eros (Männerbünde1 etc.). Die Unmöglichkeit der Rechtsverwirklichung ohne beide. Der Staat eine Gemeinschaftsform, keine automatische Rechtsform. Die Benutzung des demokratischen Staates durch subjektive Machtgruppen; Wirtschaft und Nation. Der Nationalismus hat als Imperialismus die Überwindung der bloßen Dämonie in sich. Die nationale Führeridee. Die Führeridee überhaupt. Der theonome Führer. Pazifismus im Theoretischen, das Ding will sein Recht haben gegen subjektive Willkür. Die Gewalt des Beweises. Die Gewalt als Beweis nach Art des Naturgesetzes. Macht und Gewalt. 5. Die Pflicht als abstraktes Regulativ unhaltbar. Entweder heiliger oder unheiliger Eros trägt sie. Im zweiten Fall Zerfallen in Klassen der Pflichtgebietenden und Unterworfenen. Zugleich aber die Pflicht als Kritik aller objektiven und subjektiven Dämonien. Erlösung von Zwang und eigener Willkür. Die Formkraft der Symbole. Die Pädagogik als Produkt der Symbollosigkeit. Der „Kitsch" immer auch symbolisch gemeint. Vierter Teil Die neue Religion; die beiden Gründe von der Form und vom Gehalt her für den Blick nach rückwärts. - Hier aber auch die tiefste Ratlosigkeit; aus dieser entscheidenden Ratlosigkeit die Möglichkeit des Werdens des Neuen. Der Name Sozialismus als Kreuz, als bewußte historische Verengung. „Das ist nicht mehr Sozialismus". „Nur das ist Sozialismus".

Vgl. Hans Blüher, Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine T h e o r i e der menschlichen Staatsbildung. Band I. Jena 1 9 1 7 . Band II: Familie und M ä n n e r b u n d . J e n a 1 9 1 9 .

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25. Mythos und Metaphysik

Zum Text: Hs. in Vo VIII (PTAH, 110:008). Über das Thema „Mythos und Metaphysik" hielt Tillich am 14. Januar 1924 vor der Ortsgruppe Magdeburg der Kant-Gesellschaft einen Vortrag (Kant-Studien 29, 1924, S. 335). Zum Kontext dieses Vortrags gehört der in den Kant-Studien Bd. 17, 1922, 399-445, veröffentlichte Vortrag „Mythos und Kultur" von Arthur Liebert. Der Berliner Philosoph und Vorsitzende der Kant-Gesellschaft, Arthur Liebert, hat vor mehreren Ortsgruppen der Kant-Gesellschaft Vorträge zu diesem Thema gehalten. Tillich selbst hat in der ThLZ (49. Jg., 1924, Sp. 115-117) unter der Überschrift „Probleme des Mythos" Ernst Cassirers in den „Studien der Bibliothek Warburg" (Leipzig 1922) erschienenen Aufsatz „Die Begriffsform im mythischen Denken" und Artur Lieberts genannten Aufsatz kritisch gewürdigt. Tillich stellt fest, daß „in den Kreisen der am stärksten antimythisch orientierten Philosophie ein neues lebendiges Interesse für Mythos und im Zusammenhang damit für Metaphysik erwächst" (Sp. 117). An Lieberts Mythos-Konzept kritisiert er, daß das Verhältnis von religiösem und kulturellem Mythos ungeklärt ist, vor allem aber die Auffassung, daß Wissenschaft und Kunst als solche Mythen werden. Dies sei nicht richtig, „sondern ihre Gegenstände, das Kunstwerk, das Weltbild usw. können symbolischen und das heißt eben religiösen Charakter annehmen" (Sp. 117).- Abfassungszeit: 1923. Beide Begriffe problematisch, an sich und durch die Zeitlage: Rückwendung zur Metaphysik und zur Deutung des Mythos als seihständiger Funktion. Charakteristisch die neukantische Schule. Beide Probleme aber ineinander verflochten und in ihrer Isolierung unlösbar. Darum gemeinsame Lösung, aber nicht bloß mit theoretischem Interesse, sondern als Lebens- und Schicksalsfrage: Wie kommen wir zu unserem Mythos, zu unserer Metaphysik?

Erster Teil: Begriffsbestimmungen A. Der Mythos 1. Das Wort [stammt] von uööos, Wort, Rede, Erzählung. Dann dichterische Erzählung, Fabel, Legende, z.B. Tierfabel. Endlich Götter-

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geschichte, insofern diese dichterisch aufgefaßt ist; und Mythologie, Inbegriff von Göttergeschichten eines Volkes oder einer Religion oder der Menschheit, teils im Sinn der Systematisierung, teils im Sinne der Wissenschaft vom Mythos. - Daher die zwei Elemente im Klang des Wortes: Mythos ist Göttergeschichte, und Mythos ist irgendwie unwirklich. Infolgedessen gilt der Satz, daß die Enthüllung einer religiösen Vorstellung als M y t h o s ihre Überzeugungskraft zerstört. 2. Die Frage nach der Entstehung des Mythos führt weiter. Der M y t h o s wird aus der primitiven Weltanschauung hergeleitet, die sich als Animismus = Seelenglaube oder Animatismus = Allbelebungsglaube darstellt. Von hier aus wird dann dieser ganze Weltanschauungskomplex einschließlich Manaismus, Totemismus und Astrologie als M y t h o s betrachtet. Damit kommt in den Begriff ein stark intellektuelles M o m e n t . Aber der Gegensatz zum Logos bleibt erhalten. Mythos ist primitive, vorwissenschaftliche Weltanschauung. Diese wird dann vielfach mit der religiösen Weltanschauung identificiert und die Überwindung des Mythos zugleich als Überwindung der religiösen zu Gunsten der wissenschaftlichen Weltanschauung gedeutet. 3. Die Einsicht, daß im Mythos primär weder intellektuelle noch ästhetische Motive maßgeblich sind, sondern tiefere, die zunächst als biologische gefaßt werden: Ichtrieb und Erotik. Die psychoanalytische Mythendeutung. Die Mythen als erotische und dynamische Wunschsymbole massenpsychologischer Art. Nachwirkungen in der Gegenwart: Aber durch Lösung der Hemmungen zu überwinden, resp. in rationale Produktion zu transponieren. Somit auch hier Überwindung des Mythos und der mit ihm zusammenfallenden Religion. 4. Aber die Religion kompliciert das Problem nun selbst, insofern sie an sich den M y t h o s als Inventar der falschen Religion ablehnt. Insofern der Mythos Göttergeschichte ist, führt er das Unbedingte in die bedingten Kategorien ein und ist ein Raub an der Majestät Gottes. So die ethische Gesetzesreligion und die Mystik, deren eine die Unbedingtheit des Sollens, die andere die des Seins erfaßt hat. Jetzt ist das Mythische zugleich das Antireligiöse und nicht nur das Unterwissenschaftliche; es tastet nicht nur die Richtigkeit, sondern auch die Göttlichkeit einer Religion an, wenn ihr Mythos vorgeworfen wird. Vereinigung dieses mit der wissenschaftlichen Opposition bei Cohen 1

Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Köln 1 9 1 3 , 2 . Aufl. 1 9 2 8 .

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und in der liberalen protestantischen Theologie. Dieses die Lage bis etwa 1910. Seitdem langsamer Umschwung zu Gunsten des Mythos, der auch zu begrifflichen Neuerfassungen führt. 5. Schon die psychoanalytische Auffassung muß konsequenterweise den Mythos zu einer konstanten Funktion werden lassen, selbst wenn die Ausdrucksform wechselt. In Wissenschaft und Kunst kommt transponierte Mythik zur Darstellung. Gleichzeitig Einsichten in den mythischen Charakter der Kunst. Im Expressionismus und seiner Hinneigung zu den primitiv-mythischen Formen, in der Litteratur Strindberg und seine Wirkungen. In der Religion: anthroposophischer Mythos. Katholicismus als Träger geglaubter und der Unbedingtheit Gottes untergeordneter Mythen. In der Wissenschaft selbst gerade durch die idealistische Auflockerung des Wahrheitsgedankens: Nicht Abbild, sondern Schöpfung des Geistes. In der Geschichte der Symbolbegriff. 6. Der Mythos zu begreifen als universale, notwendige Form und zwar als Grundfunktion gegenüber allen anderen. Er ist die Funktion der Unbedingtheit oder des Sinngrundes und gibt jeder Sinnerfassung den Grund, die Kraft, die Sinnhaftigkeit. Mythos ist Funktion des Unbedingten. Darum seine primär religiöse Bezogenheit: Göttergeschichten. Denn Religion ist Richtung auf das Unbedingte. Mythos ist die eine Seite der religiösen Grundfunktion. Zugleich hinausgehend über Göttergeschichten: Mythos [ist] in jeder Sinnfunktion da, auch in der autonomen Kunst und Wissenschaft. Er ist immer da zu finden, wo irgend etwas zum Symbol des Unbedingten wird, ganz gleich, ob es den Namen Gott trägt. 7. Von hier aus Geistesgeschichte des Mythos. Der Mythos, d.h. das grundlegende Weltverhältnis, trägt die Weltanschauung, wie die Unbedingtheit die Basis der Totalität ist. Darum ist es möglich, in jeder Weltanschauung die mythische Basis und die wissenschaftlichen und ästhetischen Weltrelationen zu unterscheiden. Hinter 2 jedem Weltbild steht ein Mythos, eine Uranschauung vom Sinngrund; aber es ist nicht identisch mit ihm. Das Verhältnis ist nun aber sehr verschieden: (a) Im Manaismus, Animismus etc. ist die religiöse und profane Sphäre grundsätzlich ungeschieden. Die Kräfte und Geister erwekken immer zugleich religiöse Scheu; sie haben immer zugleich gött-

2

Folgt gestr.: d e m primitiven

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liehe und dämonische Qualitäten. Infolgedessen ist hier auch der Kultus identisch mit der Praxis überhaupt. Das Tabu regelt das Leben, und die Manakraft trägt alle höheren Funktionen. Infolgedessen hat man gleichzeitig diese Anschauung als schlechthin mythisch und als schlechthin unmythisch erklärt. Sie ist weder das eine noch das andere. Aber sie hat freilich noch wenig Mythen im Sinne von Göttergeschichten ausgebildet, weil alles Göttergeschichten sind. Daß sie auch Wissenschaft und Kunst [ausbildet], zeigt sich in der Profanisierung, der sie verfallen kann, zu einer rationalen Systematik der Manabeziehungen, z.B. in der Astrologie, und zu einer rationalen Methode und Zauberei. Aber freilich klingt auch in der größten Profanisierung die religiöse Qualität noch nach.3 (b) Die in allen Dingen als einzelnen unmittelbar gegenwärtige Heiligkeit ist zugleich profan, insofern sie keine die Dinge überragende Einheit hat. Die Herausbildung der überragenden Einheiten geistiger und seinshafter Art: Persönlichkeit und Welt. Demgemäß Mythos der Kulturreligionen; eigentlicher Mythos. Er hat in sich die Dialektik, die Dinge zu profanisieren, andererseits beruht er auf 3

Folgt gest.: (b) Das Unbedingte wird im Mana isoliert aufgefaßt; es gibt noch keine Dingeinheit und keine Personeinheit. Sobald diese eintritt, entwickelt sich der Polytheismus und mit ihm der Mythos im Sinne der Göttergeschichten, der polytheistische Mythos, der den Begriff am stärksten repräsentiert, aber nicht mit ihm identisch ist. Die Heiligkeitssphäre konzentriert sich auf die geistigen und naturalen Synthesen. Die einzelnen Dinge verlieren ihre Unmittelbarkeit im Heiligen. Die Götter beherrschen die Seins- und Sinnsphären. Damit aber geht Mana und anima aus den Dingen. Sie werden Dinge, Gegenstände des Geistes, und die Götter verlieren ihre Basis. Sie gehen über in Poesie oder Logik oder werden identisch mit dem ethisch-geistigen Princip. Es entsteht am Logischen und Ethischen der Mythos der Unbedingtheit. Denn die Zerspaltenheit des mythischen Bewußtseins ist auch hier nicht überwunden. Daher die antimythische, d.h. antipolytheistische Reaktion, die aber aus einem neuen Mythos hervorgeht, der Erfassung der Unbedingtheit des Unbedingten. (c) Der Mythos von der Unbedingtheit des Unbedingten, der hinter der Mythen-Feindschaft steht. Sein Ausdruck in einer die Kulturform zusammenfassenden und übersteigenden negativen Theologie. Diese kann eschatologisch oder mystisch sein, je nachdem die logische oder die ethische Seite maßgeblich ist. Die Voraussetzung ist eine durchgeführte dingliche Weltauffassung. (d) Die Wiederkehr konkreter Motive der früheren Stufen unter Erhaltung der Unbedingtheit des Unbedingten. Die Elemente des polytheistischen Mythos im Monotheismus. Aufhebung der radikalen Verdinglichung. Rückkehr von Mana und Tabu in Form des Sakramentalen. Rückkehr von polytheistischen Elementen in Form von konkreten Gottheiten; alles aber unter dem einen Gott (universaler Mythos - konkreter Mythos - abstrakter Mythos paradoxer Mythos).

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Mana und anima. In dem Maße, in dem er seinen dämonischen Charakter verliert, wird er Dichtung, und die Wissenschaft drängt auf die unbedingte Einheit. Ebenso die Ethik und mit ihrer Kraft die Religion selbst. Es ist die fruchtbare, schöpferische, aber unhaltbare Stufe des konkreten, polytheistischen Mythos, der der Begriff entstammt. Er geht entweder über in die profane Form des Mythos, die Metaphysik, oder er führt zu dem Mythos der absoluten Transcendenz. (c) Der Transcendenz-Mythos hat die Paradoxie in sich, daß er die Welt restlos entmythisiert, daß er dadurch aber selbst unmöglich wird und lediglich in negativen Aussagen verläuft: Das Unbedingte [ist] die Negation alles Bedingten, und darum [ist] kein Mythos möglich. Aber auch diese Aussagen haben schon mythische Form. Die via negationis ist eine via und insoweit mythisch. Und umgekehrt kann das Bedingte nicht einfach neben dem Unbedingten stehen, da es sonst selbst unbedingt würde; es muß ein zugleich positives und negatives Verhältnis festgestellt werden. Es entsteht gegenüber dem universalen, am Einzelnen haftenden Mythos der primitiven Stufe der universale, zugleich negative und positive, d.h. der paradoxe oder dialektische Mythos: Mystik und Eschatologie. (d) Der paradoxe Mythos hebt grundsätzlich das Leben auf, das im Konkreten lebt. Darum ist es gleichfalls nur ein Übergang und Korrektiv. Das wirkliche Leben aber nimmt die beiden früheren Stufen in sich auf: den Mana-Mythos im sakramentalen Denken, den Götter-Mythos in den Lehren vom Mittlergott usw., im Mysterium. Der Ausgleich beider Tendenzen ist das centrale innerreligiöse Mythen-Problem in Indien und Europa. Der konkret paradoxe Mythos als inneres Ziel des Mythos überhaupt. B. Die Metaphysik 1. Bleibt das Bewußtsein bei der von Ethik und Logik geforderten Einheit der Weltformen und Geistesfunktionen stehen, so wird die specifisch religiöse Linie überhaupt verlassen, und an ihre Stelle tritt autonome Wissenschaft und Kunst. Die Symbolbildung auch im Sinne des transcendenten Mythos unterbleibt. Aber eben diese Haltung, die in der Einheit des Geistes und der Synthesis der Dinge das Unbedingte sieht, lebt von einer 4 mythischen Haltung, einer Symbo4

Über gestr.: ist selbst eine mythische ...

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lisierung des Unbedingten, und schafft sich einen autonom-rationalen Ausdruck in der Metaphysik. In der Metaphysik ist wie im Mythos ästhetische und logische Funktion enthalten: Sie ist Wurzelfunktion, aber ihr Mittel ist der logische Begriff, die Dingform und die autonome Erkenntnis. Das ästhetische Moment wirkt in der Ausgestaltung mit, aber das Resultat ist logisch. Das liegt daran, daß der symbolisch-mythische Charakter zu Gunsten des sachlich-wissenschaftlichen verlorengegangen ist und das Ästhetische nun lediglich die Kategorie des Scheines repräsentiert. Metaphysik ist also rationaler Mythos. 2. Dieser innere Widerspruch ist das Problem der Metaphysik. Insofern sie rational ist, ist sie auf das Bedingte und seine Einheit gerichtet. Insofern sie Metaphysik ist, ist sie auf das Unbedingte gerichtet. Aus dem ersten ergibt sich die Forderung der wissenschaftlichen Richtigkeit, aus dem zweiten die Forderung der Symbolkraft und Gewißheit. Darum drei Stadien der Metaphysik: Das mythischschöpferische Stadium, wo das Irrationale der Gehalt und das Rationale die Ausformung ist, das rational-beweisende Stadium, wo das Unbedingte aus dem Bedingten erschlossen werden soll, und das dritte Stadium, das auf der notwendigen Katastrophe des zweiten beruht (wie das zweite auf der notwendigen Erschöpfung des ersten): Das empiristisch oder kritisch verhüllende Stadium, das eine Metaphysik hat, aber gegen die zweite Metaphysik opponiert und die erste durch das Medium der zweiten sieht. Dieses die Korrektur des Drei-Stadien-Gesetzes von Comte. Auch das dritte Stadium ist Metaphysik, und alle drei sind sowohl Mythos wie Empirie. 3. Kants Kritik als Kampf gegen eine nichtige Metaphysik. Dieses der notwendige Weg der autonomen Metaphysik, weil sie Synthesis der Weltformen und unbedingten Sinngrund gleichsetzt, d.h. im Grunde unmythisch und insofern unmetaphysisch ist. Darum Tendenz zur transcendenten Metaphysik (Pantheismus - Mystik, Deismus - Eschatologie). Umgekehrt diese in Tendenz zu jener, da sie Weltformen braucht, die sie negiert. Die konsequent paradoxe Metaphysik, die der Monotheismus radikal durchgeführt hat, setzt autonome Formen der Welt und des Geistes voraus. So ergibt sich die Idee einer Synthesis von Mythos und Metaphysik, wie sie im Dogma realisiert war. Dogma nur griechisch-abendländisch und philosophisch. Seine heteronome Verwendung abusus, nicht usus. Das Dasein autonomer „Dogmen", Metaphysiken mit mythischer Symbolkraft: Nation, Wissenschaft, Persönlichkeit, Gerechtigkeit etc.

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4. Das Werden des Dogmas. Der Satz gilt, daß der Mythos nicht als Mythos durchschaut werden darf; denn dann hat er keine Realität mehr. Er muß also direkt geglaubt werden, d.h. er muß die Ausdrucksformen des jeweiligen Weltbewußtseins tragen. Darum kann er nicht gemacht werden, sondern er wächst unmerklich aus der Tiefe heraus. Er äußert sich in neuen Methoden, Entdeckungen, Theorien, Kunststilen. Er kann auch in einem großen Symbol direkten Ausdruck finden, aber immer im Zusammenhang mit den autonomen Formen, als deren letzter Grund und tiefster Sinn. Symbol nimmt dem Mythos nicht seine Realität; im Gegenteil: je realer, unmittelbarer, seinshaft etwas ist, desto mehr ist es dem direkten Begriff verschlossen, desto mehr Hinweis ist jeder Begriff. Das Unbedingt-Reale ist nur Gegenstand des Symbols, ist immer das, was „dahinter liegt". Aber eben darin ist es wirklich erfaßt, während direkte Begriffe nach Art der rationalen Metaphysik daran vorbeigehen. Alle große Metaphysik ist symbolisch, ekstatisch, und darum hat sie Realität und Gewißheit. 5. Die Aufgabe ist die: Den Mythos der Transcendenz in seiner konkreten Erfüllung darzustellen in Begriffen autonomen Weltbewußtseins. Dieses ist eine Aufgabe von Jahrhunderten und irgendwie eine Aufgabe jeder Zeit. Der Mythos wird getragen von den Völkern und Massen, ausgesprochen von den Propheten, geformt von den großen Philosophen und Theologen und Künstlern. Er gibt der Zeit ihren Sinn, ihren Gehalt, ihr Symbol, d.h. ihr Erkennungszeichen. Kein Einzelner kann den Mythos machen, weder den rationalen, noch den magischen. Man kann ein System der Philosophie oder Theosophie machen. Aber es hat keine Symbolkraft. Man kann aber auch nicht repristinieren und mit rationaler Apologetik retten, auch nicht mit dem Begriff Symbol. Denn was nicht dem Welt- und Geistbewußtsein entspricht, was nicht unser Eigenes ist, das ist auch nicht unser Erkennungszeichen, unser Mythos. Darum ist es auch nicht möglich, sich objektiv zur Zeit zu stellen und zu sagen: „Das ist unser Mythos, aber es ist ein Mythos" (Liebert). Darin noch Distanz. Sondern wir können nur aus der rationalsten Gewißheit heraus letzte Sinn-Symbole finden, die Symbolkraft haben. Wir können nur gläubig schaffen, aber nicht reflektiert aufweisen - dann ist der Mythos als Mythos im Sinne von Fabel erkannt, er ist symbolunkräftig geworden.

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Anhang: Mythos und Ethos Der M y t h o s wächst aus dem schöpferischen Grunde hervor. Er ist infolgedessen in engster Wechselwirkung mit dem Praktischen, das in gleicher Weise aufgebaut ist. Der Metaphysik entspricht das Ethos, dem M y t h o s der Kultus. Ethos und Kultus sind praktische, handelnde Hinwendung zum Unbedingten. Kultus resp. Ethos ist die Wurzelfunktion von Recht und Sozialethik, den Korrelaten von Wissenschaft und Kunst. In der ersten Geisteslage ist Kultus noch universale Praxis, in der zweiten trägt der Kultus die großen Wertsphären, in der dritten geht der Kultus über in handelnde Selbstaufhebung, Sozialethik oder Asketik. In der vierten Stufe einigen sich paradoxabstrakter und konkreter Kultus zu einem paradox-konkreten Kultus. Auch die Ethik macht die gleichen Stadien durch wie die Metaphysik. Sie wird zu rationaler M o r a l , nachdem sie ihr eigentliches Ethos verloren hat, und verliert schließlich ihren ethischen Charakter im Utilitarismus. Aber auch ihm entspricht ein verborgenes Ethos. Daher Intention auf ein Ethos, das mit dem Kultus geeint ist und wieder heiliges Handeln in autonomen Formen des Rechts und der Sittlichkeit kennt: Realisierung Gottes im Praktischen; Symbol des Reiches Gottes. Zweiter Teil: Richtlinien A. Die Metaphysik des Seins 1. Die Dreiheit der Symbolik: (1) Durch das Seiende, insofern es ist, in seiner reinen Gegebenheit (ohne Rücksicht auf Sein und Werden); mythisch: Schöpfung, metaphysisch: Ontologie; (2) durch das Geistige als Erfüllung des Seins: mythisch: Erlösung, metaphysisch: Metaphysik der Geschichte; (3) und endlich die Einheit von Sein und Sinnerfüllung im Ewigen; mythisch: Vollendung, und Metaphysik der Idee. Dieses entspricht den drei Zeiten. 2 . Die Ontologie ist also nicht Lehre vom Ding an sich. Dieses ist die rational-gegenständliche Mißdeutung der Metaphysik des Seinsgrundes. Eine solche Metaphysik enthält jeder Schöpfungsmythos. In der frühesten Zeit Bewußtsein um die Unfähigkeit des Dinges als Ding, sich selbst zu tragen. Daher M a n a und anima. Dann der

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Zeugungsmythos, der in biologischen Kategorien das Gleiche sagt. Weiter mit Erhebung der ethischen Persönlichkeit der Gestaltungsmythos: K"Q. Der letzte Schritt: Die Schöpfung aus Nichts, entsprechend der abstrakten Distanz. Dann Problematik des nihil, des pr) 6v als Potenz in Gott; der Gedanke der Identität von Schöpfung und Erhaltung bei Augustin. Dadurch Sakramentalismus des Seins. - In der autonomen Metaphysik: 1. Substanz, 2. rationale Kosmologie und ihr Zusammenbruch. Entweder deistische Kausalität oder pantheistische Substanz. Beides in der mythischen Problematik enthalten, aber hier als rationale Dingvorstellung und damit sinnlosunsymbolisch. 3. Positivismus = versteckte Substanz. 3. In allem Wirklichen, Subjekt wie Objekt, ein Element der Form, des Sinnzusammenhanges, der Gestaltetheit und Bekanntheit, das, was als das Notwendige erscheint, und zugleich ein Element der schlechthinnigen Tatsächlichkeit, die jedes Ding aushaucht und sagt: „Ich bin". Die Möglichkeit, durch die Formeinheit über das einzelne Ding hinauszukommen; aber dann die Wiederkehr dieses „Ich bin, weil ich bin" für das Ganze. Die Frage des „Alls der Realität": „Woher bin ich denn?" Der „wahre Abgrund" der menschlichen Vernunft. Von hier aus der Rückweg zu dem Einzelnen, in dem dieses „Ich bin" trotz der Formeinheit sich offenbart. Aber das, was für die rationale Vernunft Abgrund ist, ist für die übrigen Funktionen und auch für das Logische „Grund", Realität, Tiefe. Gefühl und Wille lassen sich nicht auflösen, sie sagen unbedingt: „Ich bin, weil ich bin." Daher in der Einheit der Funktionen die metalogische Schau des Realitätsgrundes. 4. Logisch betrachtet: Die absolute Kontingenz. Diese aber zu schauen [ist] der Sinn von Mythos und Metaphysik. Denn sie ist das, was „dahinter" liegt. Aber Metaphysik kann nur dadurch eine Breite haben, daß sie die Anschauung des Grundes, der absoluten Kontingenz, in verschiedener Weise symbolisiert findet. Denn in dem „Ich bin, weil ich bin" liegt ja immer das „Ich bin so, weil ich so sein muß", die Form, durch die überhaupt etwas wird. Für die Metaphysik kann es nun keine andere Aufgabe geben, als durch die Form hinzustoßen auf den Gehalt, in den Formen die Symbolik der Kontingenz aufzusuchen. Hier gilt nun die Regel: Je mehr Form, desto mehr Kontingenz, desto mehr Realitätsgrund und Hinweis auf ihn in der Form. Die mathematisch-physikalische Sphäre ist gebändigt von der Ratio: Das „Ich bin so, weil ich so sein muß" beherrscht das Ding. Nur an den beiden Rändern erscheint die Kontingenz: Das

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Ganze, das Unendlich-Große, und der Teil, das Unendlich-Kleine, die M a k r o - und die Mikrostruktur, die Gegebenheit, Schöpfung, Kontingenz ist. Offenbarer, in das Centrum gerückt, ist die Kontingenz in der anschaubaren Gestalt, dem Lebendigen selbst, das unauflöslich im Einzelnen ist und sagt: „Ich bin, weil ich so b i n " . Darum M y t h o s und Metaphysik immer zu dem Urschöpferischen der lebendigen Gestalt hindrängen. Die höchste Kontingenz aber erst da, wo die höchste, innerlich gewordene Notwendigkeit, in der geistigen Persönlichkeit, die einerseits dem Vernunftgesetz gehorcht, andererseits die individuelle Kontingenz der freien Persönlichkeit in sich trägt. Hier offenbart sich in der Unergründlichkeit des geistigen Willens die Kontingenz in ihrer ganzen erschreckenden und beseligenden Tiefe. Darum diese Wirklichkeit Ebenbild Gottes: d.h. Einheit von absoluter Form und absoluter Kontingenz. Daher aller Mythos personalistisch, aber sofort falsch, wenn Gott als Einzelwesen; dann einzuordnen und Verlust der absoluten Kontingenz. Ebensowenig idealistisch Gott absoluter Geist. Dann lediglich Synthesis ohne personale Kontingenz. Weder allgemein, noch einzeln. 5. Die Schaffung eines neuen Mythos der Schöpfung, der schon in dem jüdisch-spätantiken Vorsehungsgedanken stark verdunkelt ist und in der Aufklärung und auch noch bei Hegel die Kontingenz verschwunden ist: Das Kontingente, Irrationale, Dämonische der Tiere, der Persönlichkeiten u.s.f. Hier entscheidend Schopenhauer, Nietzsche. Aber hier nur Dämonie und Vergegenständlichung statt Symbolik. Das Buch Hiob als größter Schöpfungsmythos. - Die Unmöglichkeit, aus dem Kontingenten eine rationale Lehre zu machen. Der Schöpfungsmythos als lebendige, fortgeführte Schöpfung, wo immer der Grund im Bewußtsein und Sein aufbricht. B. Die Metaphysik der Geschichte 1. Die Kontingenz der geisttragenden Gestalt offenbart sich in ihrem schöpferischen Charakter. Geist ist Schöpfung. Aber damit [ist] sein Verhältnis noch nicht bestimmt. Geist ist Sinnerfüllung, er ist weder Abbild des Seins, noch völlig getrennt vom Sein. Wir wissen nichts vom Sein, abgesehen vom Geist, aber wir kennen auch keinen Geist, abgesehen vom Sein. W i r reden von einem Intentionalismus des Seins oder einer Sinnerfüllung des Seins durch den Geist als Überwindung von Realismus und Idealismus. Die Sinnerfüllung ist notwendig Proceß; er ist Schöpfung in der Zeit, Geschichte. Geschichte ist

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Proceß der Sinnerfüllung. - Dieses im Mythos von der „Pflanzung des Gartens Eden", der Namengebung der Tiere, der Herrschaft etc. Gott bedarf des Menschen zur Vollendung der Schöpfung, bei Hegel: um zu sich selbst zu kommen. Dieses aber ohne Einsicht in den Sinngrund, die Kontingenz in der Geschichte. 2. In der geistigen Persönlichkeit wird die Kontingenz als Freiheit angeschaut. Freiheit kann sowenig wie Individualität, wie Gestalt, in die Gegenstandsbegriffe eingeordnet werden. Sie ist der Ausdruck für die schlechthinnige Existentialität auf einer Stufe, der höchsten. Weil aber Sinnerfüllung nur als Freiheit möglich ist, so ist die Nichterfüllung des Sinnes möglich. Damit wird aus der Kontingenz Widerspruch. Es entsteht das sich selbst behauptende Unmittelbare, das nicht das Nein der Sinnerfüllung über sich ergehen lassen will. Es entsteht die kontingente Verkehrung der Maxime, das radikale Böse 5 , der Mythos vom Abfall. In ihm offenbart sich die dem Geist widersprechende Seite der Kontingenz, das Nicht-Geformte, das in der Freiheit zur Schuld wird. Insofern diese Seite aller Kontingenz innewohnt, ist sie die dem Göttlichen zu Grunde liegende und im Göttlichen gebändigte Dämonie, das zerstörerische Princip, das aber zugleich das existentielle, schöpferische Princip ist. Wäre es nicht aktuell, so wäre der Unterschied von Sein und Geist aufgehoben, so würde die absolute Idee realisiert sein. Der historische Proceß hat das Symbol des Kontingenten in der Doppelform des Göttlichen und des Dämonischen. Und von hier aus geht auch ein Zug des Dämonischen durch die ganze Natur. Sie symbolisiert die Sinnunerfülltheit in dem dämonischen Charakter der Tiere. 6 Daher der Mythos vom Seufzen der Kreatur und ihrer Unterworfenheit unter den Menschen. 7 3. Dem absoluten Widerspruch gegenüber ist jede rationale Deutung des Geschichtsprocesses im Sinne der Entwicklung oder dergleichen unmöglich. Hegel etc. kann immer nur als Geistesgeschichte verstanden werden. Echte Metaphysik der Geschichte ist gerichtet auf ein Symbol, in dem Sinnunerfülltheit des Kontingenten schlechthin überwunden ist. Es kann nur ein Symbol sein, in dem der Geist los ist von seiner Unmittelbarkeit und schlechthin erfüllt ist als Geist. Ein solches geschichtsmetaphysisches Symbol kann nur die geistige

5

Folgt gestr.: insofern dieses aber der Sphäre der Kontingenz angehört

'

Später eingefügt: und Psychologie

7

Vgl. R o m 8, 1 8 - 2 2 .

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Kontingenz, die Persönlichkeit, sein. Nicht notwendig eine einzelne, aber irgendwie immer personal. Und immer und überall [ist] Geschichtsmythos da; denn auf ihm beruht das Erlösungsbewußtsein. Immer [sind] Heilande da. 4. In der Mana-Periode Identität von Profangeschichte und metaphysischer Geschichte. Aber auch die Profangeschichte knüpft an symbolkräftige Persönlichkeiten an, die den Geist in irrationaler, antidämonischer Kraft realisieren. Im polytheistischen Mythos der Wechsel der Götterherrschaften, die Zeitalter bis zum radikalen Dualismus. Zugleich die Heroen als Mittelwesen. In der abstrakten Periode einerseits Mystik, die an sich keine Geschichte kennt und doch in der mystischen Tradition historisches Bewußtsein hat; andererseits die Eschatologie, die alle Geschichte auf die Zukunft hin spannt, aber von da aus eine Entwicklungsgeschichte dorthin entwirft. Konkretisierung beider durch Mysteriengott und Messias. Damit das centrale historische Symbol, das aber nur im Messias historisch wird. Dieses das Symbol der geschichtsmetaphysischen Kontingenz.' Nur so [ist] eine Centralisation der Geschichte und eine einheitliche Organisation möglich. Ein Ziel und Ausgangspunkt; sonst polytheistische Zerstreuung. Und dieses Eine das absolut Kontingente. Jede Möglichkeit der Zweiheit steht schon außerhalb der metaphysischen Haltung in der rationalen. 5. Die rationale Geschichtsmetaphysik. Sie entspricht entweder der eschatologischen oder der mystischen Abstraktheit. Im ersten Fall ist sie gerichtet auf eine künftige Vollendung und konstruiert die Geschichte als Fortschritt dorthin. Da sie aber die absolute Kontingenz nicht kennt, so ist ihr die Antithetik des Dämonischen und Göttlichen verborgen und sie endet in der Katastrophe des Fortschrittsoptimismus. Im zweiten Fall ist sie relativ und sieht die einzelnen Wirklichkeiten unmittelbar als Erfüllungen an. Sie ist Identitätsphilosophie, sie verliert aber dadurch das Allgemeine9 und setzt die eigne Subjektivität mit dem Heil identisch, falls sie nicht wie im Nationalismus etc. auf primitiven Manaismus zurücksinkt. - Die rationale Geschichtsmetaphysik zerbricht, weil ihr die Realitätswurzel, die Kontingenz, fehlt (Tröltsch).

8

'

Folgt gest.: Die Bejahung der gegenwärtigen Zeit als messianischer. Das Bewußtsein des xaipö? als Durchbruch der Tiefe und Kontingenz des Historischen. Der Sinn der Geschichte als das grundsätzlich realisierte Heil. Folgt gestr.: Konkrete, Kontingente

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6. Sie hat aber die regulative Bedeutung, zu verhindern, daß das Kontingente zum Einzelnen wird. Das absolut[e] Kontingente trägt ja den ganzen Geschichtsproceß. Es kann zwar nur in einer Persönlichkeit als realisiert angeschaut werden. Aber diese hat dann aufgehört, ein Einzelnes zu sein, sie steht jenseits der Alternative von Allgemeinem und Einzelnem. Darum kann die Existenz alles Einzelnen historisch fragwürdig sein. Es kommt nur darauf an, daß das Ganze in die Tiefe einer echten Persönlichkeit hinabreicht, selbst wenn der „ N a m e " nicht gelebt hat. Es bleibt darum doch centrales Symbol. Damit ist der Gegenpol des Rationalismus, die Heteronomie, überwunden. 7. Von hier aus auch Periodisierung. Das absolut Kontingente 1 0 nicht Teil, sondern Princip der Periodisierung. Die andere Betrachtung autonom oder heteronom. Eben diese Alternative aber das entscheidende Princip selbst; das treibende Princip der autonome Geist, der sich losreißt von der Unmittelbarkeit und der sinnerfüllenden Form zustrebt, dabei aber dem Dämonischen zum Opfer fällt. Demgegenüber die Heteronomie, in der die Kontingenz als Rettung festgehalten, aber im Sinne der Anbetung des Einzelnen, das aber damit selbst wieder dämonisch wird. Endlich als immanentes Ziel die Theonomie, in der das Allgemeine erfüllt ist mit der inneren Mächtigkeit und Symbolkraft des Einzelnen. Diese Dreiheit überall verschieden; radikal nur im Abendland. Darum hier die unbedingte Symbolkraft des Christus (der nichts mit Christentum zu tun hat, sondern Logos ist). Der Rhythmus dieses Geschehens ein Fortschritt nur in der Quantität. Der Unbedingtheit entspricht die Totalität. Dieses das immanente, chiliastische Ziel. Aber Totalität ist nicht Unbedingtheit. Dieses: identisch mit Reich Gottes, das jenseits der Geschichte liegt. Ethos der T h e o n o m i e . " C. Die Metaphysik der absoluten Idee 1. Der Widerspruch von Kontingenz und Form, zugleich aber ihre Einheit in Schöpfung und Erlösung, setzt die Idee einer Einheit voraus, die zugleich Ursprung, tragender Grund und Ziel ist, in der das Dämonische nicht als das Negative, Dialektische offenbar wird, 10

Hs.: Kontingenz

"

Dieser Satz später angefügt.

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sondern im Grunde bleibt: Die Idee der Vollendung. Es handelt sich dabei um Idee, insofern das, was wir Realität nennen, eben in der Spannung, dem Außereinander besteht. Idee heißt, daß es sich um eine schlechthin unrealisierbare Voraussetzung handelt. Sobald sie realisiert werden soll, wird sie zu einer sinnwidrigen Utopie, sei es einer rückwärts-, sei es einer vorwärtsgewandten, sei es einer gegenwärtigen, wie der Optimismus will. 2 . Der Mythos der Vollendung [ist] irgendwie überall da. Als die Wirklichkeit ohne das Dämonische, als Vergangenheit, als gegenwärtiger Götterhimmel, als Zukunft. Teilnahme daran mit dem Ende der Welt, also dem individuellen oder universalen Tode verknüpft. Der einzelne nicht selbstverständlich, sondern nur, insofern er als Träger der Sinnerfüllung angeschaut wird, der das M a n a hat, der Heros, der Myste, der Gerechte, der Gläubige. - In der Philosophie entweder mehr im Sinne des Mysten die ewigen Ideen, die wahren Wesenheiten oder die fortschreitende Vollendung. 3. Auch hier steht die Kontingenz jenseits von Allgemeinheit und Besonderheit. Im ersten Falle Piatonismus, der mit Verschwinden der orphischen Kontingenz in die Allgemeinheit des Aristoteles übergeht. Dieses die Position alles Idealismus: Die Ewigkeit der Werte, Normen, des Geisteslebens etc. Demgegenüber der Nominalismus und die Unmöglichkeit, einzusehen, wie die Geltungen, abgesehen von dem, wofür sie gelten, der Existenz und Kontingenz, Bestand haben. Die logische Ewigkeit, demgegenüber die Absolutsetzung des Einzelnen als ewig. Der utopische Himmel. Aber der Zugang nur durch Negation der Einzelheit möglich. Damit Verbindung mit der Anschauung des konkreten Absoluten, der das Heil realisierenden kontingenten Persönlichkeit, die wesentlich ewig ist; aber auch dieses wieder nicht gegenständlich, sondern kontingent und unanschaulich. 4. Die Probleme des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit. Unter der Vorherrschaft der Naturphilosophie logisch-gleichzeitig, unter der Vorherrschaft der Geschichtsmetaphysik zeitlich-nachzeitlich. Das erste dem Allgemeinen, das zweite dem Besonderen verwandt. Ewig ist überzeitlich. Es kann darum nur durch die Dreiheit der Tempora hindurch angeschaut werden. Darum die Lehre von der Vielheit der Geisterreiche oder dem unendlichen Proceß nur als Korrektiv zu der Utopie bedeutsam, selbst aber des Korrektivs bedürftig durch das adhaerere deo. 5. Die Metaphysik der Idee schlechthin notwendig. Ohne sie der Fall ins letztlich Sinnlose. Ersatz durch Idealismus und Utopie oder

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Pessimismus und Relativismus, die sich immer folgen. Ebenso nötig Metaphysik der Geschichte. Ohne sie Gefahr der Naturalisierung des Geistes und der Idee. Nur in der Dreiheit die Metaphysik möglich. Mystik und Utopismus. Schluß Die Unmöglichkeit, Metaphysik zu machen. Die Möglichkeit, Hindernisse wegzuräumen, die aus der Antithese von Autonomie und Heteronomie stammen. Dieses kann der einzelne, der auch die Form geschaffen hat. Die Metaphysik aber schaffen kann nur die Gemeinschaft, die im Symbol 12 anschaut, was ihre Kontingenz, ihr Abgrund und ihr Heil ist.

12

Folgt gestr.: sich selbst

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26.

Religiöser Sozialismus und Pazifismus

Zum Text: Hs. in Vo VIII (PTAH, 110:008). Der an erster Stelle in das Heft Vo VIII eingetragene Text („Mythos und Metaphysik", hier: Nr. 25) ist 1923 verfaßt worden. Abfassungszeit dieses, an 2. Stelle eingetragenen Textes: 1923 oder 1924. Einleitung Die Vermutung auf Zusammentreffen beider unzutreffend, da religiöser Sozialismus eine Gesamtauffassung, die systematisch aufzubauen ist und nirgends präjudiciert ist, weder von einer historischen Form des Religiösen, noch des Sozialismus. Also freie systematische Arbeit. I. Der gesetzlich-religiöse Standpunkt 1. Die Abhängigkeit von Worten Jesu. So in der christlichen Mönchsund Sektengeschichte und bei Tolstoi. Darin aber kommt grundsätzlich ein heteronom-gesetzlicher Standpunkt zum Ausdruck. Auch das Wort des Propheten und Religionsstifters ist nicht Gesetz, sondern Idee, die im Proceß unendlicher Erfüllung steht. Kein Gebot kann gesetzlich erfüllt werden; es ist eine Leitidee, die ihren Inhalt durch schöpferische Sinnerfüllung findet. Keine historische Wirklichkeit ist erfüllt. 2. Gegen die pazifistische Exegese der Worte Jesu ist immer einzuwenden wie gegen die sozialistische, daß es sich nicht um Willen zur Weltgestaltung handelt, sondern um die Predigt des unmittelbar hereinbrechenden Reiches Gottes und um die innere und äußere Haltung aller, die darauf gerichtet sind und auch aus allen Sozial- und Kulturbindungen gelöst sind. Ablehnung der Rechtssphäre (Erbschlichter), Staatssphäre (Zins), Kunstsphäre (Tempel), Wirtschaftssphäre (Lilien und Vögel), Wissenschaftssphäre (göttliche Torheit). Damit [ist] auch alles Gute dieser Sphären zu Gunsten des Unbedingten negiert. - Dieses paradoxe Nein [ist] symbolisiert in seiner und der Jünger Haltung.

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3. An Stelle aller menschlichen die göttliche Wirklichkeit. Diese aber ist ihrem Wesen nach Vollendung sowohl der Natur als auch der Gemeinschaft. Sie ist die universale Synthesis, die Durchbrechung der Einzelformen, die gegeneinander stehen, durch die Liebe. Jeder Akt der Liebe und jede Aufhebung der Selbstheit durch solche Akte realisiert das Ewige. Aber der Sinn dieses Durchbrechens ist immer zugleich Wahrung des Personalen. Es ist nicht unterpersönliches Aufgehen. Das ist der Unterschied von Liebe und Verschmelzungsmystik. In dieser religiösen Idee des Friedens und der Liebe liegt die principielle Begründung des religiösen Pazifismus. II. Der gesetzlich-rechtliche Standpunkt 1. Die Idee der Gerechtigkeit als Bejahung der Persönlichkeit im Verhältnis zu den Personen und Sachen. Die Bejahung der Persönlichkeit als überall gleiche Voraussetzung des Rechts. Daraus die Idee der Rechtsgleichheit als regulative Idee gegen alle Vergewaltigung rechtlich sanktionierter oder nicht sanktionierter Art. Dieses innerhalb des Rechts als Formsystem zutreffend. Und auch anzuwenden auf die Völker. Die Gerechtigkeit ist schlechthin universal und drängt auf Einbeziehung aller einzelnen. Jede Nichteinbeziehung, jede Vergewaltigung ist ein Unrecht oder Noch-Nicht-Recht. 2 . Aber auch diese Form ist nicht zureichend. Sie hat zwei Grenzen: die Rechtsverletzung und die Rechtssetzung. Die erste ist nur da zu besprechen, wo mit Tolstoi der Verzicht auf sich durchsetzendes Recht überhaupt in Frage steht. Es liegt darin eine Vermischung von Liebe und Auflösung; die eine durchbricht das Recht, das sie als gültig voraussetzt, die andere kommt gar nicht bis zum Recht und damit zur Anerkennung der Persönlichkeit. Die Rechtssetzung aber ist ein entscheidendes Problem; es ist die Grenze des Rechts, die in jedem Ausnahmezustand, bei jeder Revolution und auch beim Krieg akut wird. Sie ist aber nicht nur Not, sondern sie schafft individuelles, schöpferisches Recht und würde auch bei dem Universalstaat nötig sein, dann unter dem Namen Revolution. 3. Also auch die direkte Rechtsbeziehung nicht ausreichend. Nur die Rechtsidee, die Gerechtigkeit überhaupt als universal und jede Einzelpersönlichkeit betreffend.

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III. [Einwände] 1. Von hier aus der Gegenschlag gegen den Pazifismus. Die Idee gilt nur für das Jenseits. - Dieses insofern richtig, als es Idee ist; aber die Idee realisiert sich und nur hier. Darum dieser Einwand plump; er geht an dem Problem vorbei in allen Gebieten. Er müßte ebenso auf Wahrheit verzichten und bei der Willkür einzelner oder von Kreisen stehenbleiben. Und der Nationalismus tut das zum Teil auch. Er zerbricht den Geist, der Einheit ist. 2. Ebenso der Einwand gegen das Recht vom Standpunkt der individuellen souveränen Rechtsbildung der Einzelstaaten. Hier die tiefste Schwierigkeit. Aber zum Teil eine Verwechslung: Das individuelle Recht ist nicht das Recht des individuellen Staates. In jedem individuellen Recht liegen allgemeine Elemente, die für das Verhältnis der Staaten eine Gemeinsamkeit geben können. Daraus folgt aber keineswegs, daß die Staaten die letzten Instanzen der überstaatlichen Beziehungen sind, d.h. daß es sich lediglich um Willkür in den Relationen der Staaten handelt. 3. Unzulänglich auch der Einwand, daß der Pazifismus eudaimonistisch ist. Die Anerkennung der religiösen Idee und der Gerechtigkeit ist nicht weichlich. Der Verzicht auf Recht kann heroischer sein als die Durchsetzung. Eudaimonistisch wird er nur, wo er Verzicht auf Rechtssetzung, auf Durchsetzung unter 1 Höherwertung des Lebens als des Rechtes ist. Voraussetzung dann aber die richtige Auffassung der Rechtsdurchsetzung. IV. Die Idee der Macht und die Gewalt 1. Die abstrakte Auffassung des Geistes. Die neukantische Rationalität, die unindividuelle Annäherung. Die Sinnlosigkeit dieses Processes; die Wesenlosigkeit aller seiner Momente. Demgegenüber die Auffassung des individuell-Schöpferischen, die Richtung nicht nach vorn, sondern nach oben, die jeweils individuelle Realisierung. 2. Träger dieses [individuell-Schöpferischen] die irrational-schöpferischen Kräfte: Macht und Eros. In jedem Akt beides enthalten. Ausdruck der inneren Mächtigkeit des Einzelnen und der substantiellen Verknüpftheit aller. Dieses die immer zugleich schöpferischen

Folgt gestr.: H i n g a b e

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und zerstörerischen Kräfte. Sie ermöglichen das, was über die bloße Form der Gleichheit als Göttliches hinausgeht, und sie bedingen das, was als Dämonisches der reinen Form widerspricht. Dialektik von Schaffen und Zerstören. Es ist die Selbstheit, die in Macht und Eros sich als Individuelles darstellt. Sie aber ist das Göttliche des Grundes, die Kontingenz. 3. Die Wirklichkeit ein System von dynamisch sich ändernden Mächtigkeiten; in jedem Geistesakt Macht- und Erosbeziehung und nur dadurch blutvoll. - Der Träger der stärksten Mächtigkeit ist derjenige, der die von allen irgendwie gemeinte Idee in sich repräsentiert. Von hier aus die Rangordnung der Mächtigkeiten auch unter den Völkern. 4. Die Durchsetzung der Macht auf rationale Weise ist Gewalt. Hierin stehen Wissenschaft und Recht gemeinsam gegen Gemeinschaft und Kunst. Sie haben eine Seite der Rationalität der Gewalt, die Sphäre der Demonstration, das sich durchsetzende Logische, das logisch zwingt oder dem Irrsinn preisgibt. Das praktisch Zwingende, das sich in Unterdrückung und Ausschluß demonstriert. Auch bei der Rechtssetzung und der damit verbundenen Durchsetzung der nationalen oder ständischen etc. Mächtigkeit. Die Gewalt unentbehrlich, solange widerstrebende Subjektivität da ist. Von hier aus die Heiligkeit des Rechts trotz des Mißbrauchs der Gewalt für die herrschende Klasse und die Heiligkeit des Krieges, der für das Recht geschieht trotz u.s.w. 5. Dieses nach keiner Seite hin naturalistisch und gegen jede llngebrochenheit und Unmittelbarkeit. Dann dämonisch, wie im höchsten Maße im Weltkrieg. 6. Idee der Repräsentation der Idee im Heiligen und der heiligen Gemeinschaft, die den Bruch darstellen. Aber nicht Gesetz, sondern Gnade. Dieses der tiefere Sinn der Kirche.

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27. Schleiermacher und die Erfassung des Göttlichen im Gefühl Zum Text: Hs. in Vo VIII (PTAH, 110:008). Derart erster Stelle in das Heft Vo VIII eingetragene Text („Mythos und Metaphysik", hier: Nr. 25) ist 1923 verfaßt worden. Abfassungszeit dieses, an 3. Stelle eingetragenen Textes: 1923 oder 1924. Einleitung Über die Art und Bedeutung geschichtlicher Betrachtung der idealistischen Religionsphilosophie 1. Zwei Arten geschichtlicher Betrachtung: die historische und die geistesgeschichtliche. Die erste gerichtet auf die Tatsachen und ihre zeitlichen und ursächlichen Zusammenhänge; darüber hinaus auf die organischen Zusammenhänge der Einzel- und Zeitgestalten und ihre Tendenzen. Hier methodisch Wegwendung von sich selbst und der Gegenwart. Einfühlung. Selbstentleerung = Feststellung, wie es eigentlich gewesen ist. Entstehung dieser Art in der romantischen Feinfühligkeit, höchste Meisterschaft in der vergangenen Periode des Historismus. Die zweite Art gerichtet auf Bedeutsamkeit der einzelnen Erscheinung für die Darstellung eines Sinnes. Das historische Material vorausgesetzt, aber gedeutet von einer eignen Sinnerfassung. Nicht Ursache, sondern Zeitzusammenhang. Nicht einfühlendes, sondern produktives Verstehen. Darum enge Verknüpfung mit der eignen Gegenwart. Hinführung aller Linien auf die eigne Sinnerfassung. Beide durch einander bedingt. Das Material in der zweiten vorausgesetzt, wenn auch in freier Verwendung. Die Sinndeutung im zweiten vorausgesetzt, wenn auch als ungewollte Kraft des Verstehens. 2. Die geschichtsbewußten Zeiten als Träger der großen Sinndeutungen der Geschichte. Die Geschichtsbewußtheit in gewisser Weise der Gegensatz zum historischen Sinn und ein Kind der Krisis. Die gegenwärtige Geschichtsbewußtheit ein Kind des Krieges und

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der Revolution, die selbst Glieder in der Katastrophe eines ganzen Zeitalters sind. Von hier aus gewinnt der Rückblick auf die Zeit vor 1 3 0 - 1 0 0 Jahren eine echt geistesgeschichtliche Bedeutung, einerseits, weil unsere Lage weithin durch das mitbestimmt ist, was dort war, andererseits, weil wir in den entscheidenden Dingen in analoger Lage sind. Wir wollen darum einerseits auf die Analogie, andererseits auf die zu uns führenden Linien achten; in beiden Fällen aber fragen, welche Bedeutung diese Dinge für die unserer Zeit aufgegebene Neuschöpfung haben. 3 . Die Analogie liegt zunächst äußerlich darin, daß ein politisches Unglück, ein nationales Problem, im Vordergrund stand und alle geistigen Strömungen in dasselbe einmündeten. Das gab allem Denken die Einheit und den realen Schwung. - Gleichzeitig stand eine Revolution im Hintergrund, die französische, und ihre Wellen. Aber sie wurde nicht entscheidend, weil sie in Deutschland bei Kant und Goethe in die innere Freiheit umgebogen wurde, die dann direkt in die nationale überging und sich mit der Reaktion abfinden konnte. Demgegenüber jetzt das soziale Problem als unauflösliche Wirklichkeit infolge der ökonomischen Struktur. Hier vor allem das Versagen der Analogie und die Notwendigkeit eigner Neuschöpfung. - Endlich die tiefste Analogie: die religiöse Wendung; dort gegen die Aufklärung, hier gegen den Materialismus. Dort die Verbindung der religiösen Erweckung mit dem Freiheitskrieg, hier die Erfassung des nationalen und sozialen Problems von der Religion her. - Damit [sind wir] bei Schleiermacher, der als erster in der Bildungsschicht den Umschwung formulierte und ihn weiterhin trug. Vorbedingung aber Verständnis dessen, was er verneinte. Das Sehen der Dinge am historischen Ort; nur dann richtig. I. Die Aufklärung und ihre Gegner 1. Die reformatorische Haltung: die Erfassung des Göttlichen im Glauben, d.h. die Bejahung der Offenbarung als Korrelat der verdunkelten natürlichen Vernunft und der Gnade als Korrelat der zerstörten natürlichen Freiheit. Die Unfähigkeit der theoretischen und der praktischen Vernunft, die unbedingte Wahrheit und Güte und damit das Heil, das Unbedingte selbst zu erlangen. Die Paradoxie der göttlichen Rechtfertigung des Ungerechtfertigten, d.h. der von Gott ausgehenden Aktivität, die das erste ist und auf das unser Erkennen und Handeln folgt. Also die Unmöglichkeit, durch das

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Werk unserer Vernunft Gott zu erkennen, durch das Werk unseres Handelns Gott zu erreichen. Das Göttliche als Durchbruch, dem unser Erkennen und Handeln antwortet. Glaube die Aufnahme dieses Durchbruchs. Gläubiges Erkennen = göttliches, wahres Erkennen; gläubiges Handeln = göttliches, gutes Handeln. Infolgedessen Distanz von Gott und Mensch, die immer nur als Durchbruch, als Paradoxie aufgehoben wird. Demgemäß doppelte Ablehnung: (a) der natürlichen Vernunft des Humanismus, die intakt ist und Gott erkennen und die frei ist und Gott handelnd erreichen kann. Kampf Luthers mit Erasmus. Unfähigkeit des Erasmus, Luthers Begriff als Durchbruchsbegriff, als Paradoxie zu verstehen. Nicht-Verständnis Luthers für die Andersheit der Sphären: Zerbrechen der Autonomie in ihrer Sphäre. (b) Ablehnung der Mystik als religiöse Einigung, die nicht mehr paradox, nicht mehr Durchbruch, sondern konstant ist. Kampf gegen die Schwärmer. Verneinung der unmittelbaren Einigung, die nicht mehr paradox, d.h. nicht gebunden ist an die Tat Gottes in der historischen Offenbarung und Gnadenmitteilung. Der Verzicht der Mystik auf diesen dauernden Durchgangspunkt. Gefährdung der Realität und Gegenwärtigkeit des Göttlichen durch Luthers Ablehnung der Mystik. 2. In Luther selbst das mystische und das gläubige Element vereinigt. Gleichzeitig Aufnahme des Humanismus als natürliche Lebenssphäre. Allmähliches Auseinanderfallen der Elemente durch Nachlassen der schöpferischen Kraft. (a) Übergang des Glaubens in Orthodoxie, in Verkündigung und Bewahrung der reinen Lehre. (b) Protest dagegen im Pietismus und der Brüdergemeinde. Die mystische Reaktion im Protestantismus. Daneben einzelne originale Mystiker wie Sebastian Franck und Jakob Böhme, die etwas völlig Originales schufen. Dadurch Aufhebung der Distanz und unmittelbare Einheit. (c) Die Verselbständigung der humanistisch-rationalen Sphäre, vor allem unter dem Eindruck der mathematischen Naturwissenschaft und ihrer tatsächlichen Erfolge. Zum Teil Übergänge des Schwärmertums in die Aufklärung: das innere Licht. Der Zusammenhang in umgekehrter Reihenfolge im deutschen Idealismus. 3. Der von der mathematischen Naturforschung ausgehende Triumph der rationalen Vernunft auf allen Gebieten. Die vernünftige

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Welterklärung, die ein in sich ruhendes Weltbild erzeugt, das an den Rändern hinweist auf eine Ergänzung im Gottesbegriff. Gott die Ursache und der weise Ordner der Welt. Man kann von der Welt auf ihn schließen; die natürliche Vernunft ist fähig zur Gotteserkenntnis. Und diese ist die eigentlich wichtige: der Kern der geschichtlichen Religionen, der sich aus der Hülle des Aberglaubens herausschält: die natürliche Religion, die der endlich frei gewordenen Vernunft entspricht. Damit ist die Idee der Offenbarung als Durchbruch, als Paradox aufgehoben. Offenbarung ist die natürliche Welt, insofern man von ihr auf Gott schließen kann. Der gleiche Vorgang in der praktischen Sphäre, die autonome Moral stützt sich auf den göttlichen Gesetzgeber. Die Freiheit besteht darin, sich durch moralische Verbesserung dem unendlichen Gebot des Gesetzes anzunähern. Alles in der Religion, was nicht diese praktische Beziehung hat, ist abzustreifender Aberglaube oder höchstens Mittel zum Zweck. Damit fällt die Gnade als Paradox hinweg, und die sittliche Freiheit, die praktische Vernunft triumphiert. Damit ist ein Doppeltes erreicht: der tiefe Riß, der für die reformatorische Frömmigkeit durch die Welt geht, ist beseitigt. Die Kluft von Gott ist weniger tief, die Vernunft kann unmittelbar zu ihm gelangen. Andererseits ist die Nähe Gottes, der im Glauben erfahren wird, unmöglich. Der Mensch ist auf sich gestellt. Gott steht am Horizont der Welt und der Vernunft. Er ist Ergänzung, die man nicht bestreitet, die man aber eigentlich nicht nötig hat. Besonders verhängnisvoll die soziologische Wirkung dieser Dinge. Der Erziehung des Menschengeschlechtes durch die positive Religion zur Vernunftreligion entspricht die Pädagogik des Volkes, das sich noch nicht zur Vernunft erhoben hat und dem um der Moral willen die Religion erhalten bleiben muß. Somit war die Religion aufgelöst in Metaphysik und Ethik für die Gebildeten, in Pädagogik für die Ungebildeten, eine Lage, die wir aus den hinter uns liegenden Jahrzehnten kennen. 4. Das Element der Vernunft, die humanistisch-naturale Stimmung triumphierte. Aber das andere Element, die Orthodoxie, dankte nicht ab, es stellte sich dem Rationalismus gegenüber als Supranaturalismus. Er kämpfte für göttliches Handeln, für Offenbarung und Gnadenhilfe. Er suchte durch Wunderbeweise und historische Begründung die Wahrheit und Überlegenheit des Christentums zu erweisen. Er vertrat damit das Element der wirklichen Religion, aber er vertrat es auf dem Boden des Rationalismus. Er war inkonsequen-

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ter Rationalismus, insofern er sich auf die Vernunftbeweise für das Paradoxe einließ und Dinge historisch zu begründen suchte, die nur als Ausdruck des Religiösen sinnvoll sind, sonst aber zu törichten Mirakeln werden. Er war der religiös Stärkere, erlag aber dem Konsequenteren. Auch das Element der Mystik war nicht ganz verloren gegangen. Es hatte aber seine Freiheit von der Orthodoxie aufgegeben und war in die geistige Enge der Brüdergemeinde und einiger pietistischer Kreise geflüchtet; und doch gab es von da aus die stärksten Kräfte ab zur Überwindung der Aufklärung. Nicht nur Schleiermacher, auch Jakob Fries u.a. standen unter dem Einfluß der Herrnhuter. 5. Die entscheidenden Kräfte kamen nicht aus der Religion direkt, sondern aus den Tiefen der geistigen Kultur selbst. Erstens aus derjenigen, die vor dem 18. Jahrhundert stand, die noch den Geist der Renaissance atmete, in der die Vernunft noch nicht vernünftig, sondern ekstatisch war und die Einheit der Welt als göttlich geschaut wurde. (a) Spinoza. Entstammt der mystischen Linie des Judentums, die immer im Gegensatz stand zur ethisch-rationalen. Diese zweite repräsentiert durch Moses Mendelssohn, den Führer der deutschen Aufklärung. Er der schärfste Gegner des Spinoza, der für ihn wie für das ganze Jahrhundert der Atheist war. Er konnte nicht begreifen, daß Lessing in seinem Alter sich zu Spinoza bekannt hatte. Durch die Debatte darüber wurde man auf ihn aufmerksam, und sofort ergriffen ihn die Heroen des Idealismus: Goethe, Schelling, Schleiermacher. Durch die Formel natura sive deus war die mystische Identität von Gott und Welt gegeben, und alle mathematischen Formeln hinderten nicht die innere Glut dieses Weltbildes! Alles sind nur Kräuselungen an der Oberfläche der göttlichen Weltsubstanz. Die Dinge kommen aus ihm und gehen in ihn zurück nach ewigem Gesetz. Die Anschauung dieses Ewigen ist die Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, die intellektuelle Liebe, in der alle Affekte aufgehoben sind. Dieses ist Religion im Sinne der Einheit mit Gott unter Aufgabe von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit im Sinne der Aufklärung. (b) Während hier das Allgemeine, die Mathematik und das ewige Gesetz herrscht, löst sich bei dem Deutschen Leibniz das Allgemeine in das Individuelle auf. Jedes Wesen ist zusammengesetzt aus unendlich kleinen Teilen, den Monaden, deren Wesen die Vorstellung ist und die sich von der dunklen zur hellen Vorstellung entwickeln. Jede Monade ist getrennt von den anderen; sie ist absolut individuell. Es

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gibt nichts in der Welt, das nicht individuell wäre. Keine Monade kann an die anderen heran. Jede aber spiegelt in sich das ganze Universum wider. Eine vorausbestimmte Harmonie verbindet alles. Wer in sich schaut, schaut das Ganze. Aber nicht dieses Ganze wird Gott genannt, sondern er wird zu einer Monade gemacht, der centralen, aber einer, und damit ist der Weg in die Aufklärung beschritten, den wir aber zurückgegangen sind. 6. Stehen Spinoza und Leibniz vor, so Kant und Goethe am Ende der Aufklärung. (a) Goethes Hervorgang aus dem Sturm und Drang, ein Analogon zur Jugendbewegung, und mit ihr in Zusammenhang durch die Linie, die über die Romantik und das junge Deutschland führt. Protest gegen die Herrschaft der vernünftigen, nützlichen, bürgerlichen Vernunft der Gesellschaft. Der Rückgang auf die schöpferischen Quellen, auf das Irrationale, Liebe und Rausch, auf die Ekstatik des Lebendigen gegenüber der mathematischen Natur. Sinn für das Organische, den Weltgeist und sein Schaffen. Dieses alles bei Goethe in die Formen schöpferischer Gestaltung gefaßt: Wiederkehr der Natur in höherer Ordnung, als Dichtung. Der Sinn für das FormDurchbrechende, das sich doch wieder in die Form ergießt. Die klassische im Gegensatz zu der rationalen Form. Damit wieder Sinn für das Paradox, freilich in der Natur, nicht als paradoxer Durchbruch. Darin Renaissance. (b) Kant als Vollender der Aufklärung, zugleich der, der durch sie hindurchbricht. (1) Die Auflösung der rationalen Theologie. Die Einsicht in die Unmöglichkeit, mit dem Organ der autonomen Welterkenntnis und Weltbeherrschung das Göttliche zu erfassen. Die Einsicht in die Sinnwidrigkeit aller Gottesbeweise. (2) Unüberwundene Aufklärung in der moralischen Theologie, die er an Stelle der theoretischen setzt; aber dieses eine vorübergehende Halbheit. Dagegen entscheidend seine Freiheitslehre: Einsicht in den schöpferischen Charakter der Freiheit, die keine aufweisbare Sache, sondern der Grund alles Sachlichen, Dinglichen ist, deren wir uns im Sittlichen bewußt werden. Einsicht in die Verkehrung des Willens vor allem einzelnen Handeln. Darin Rückgriff zum Reformatorischen, auch bei Kant pietistisch vermittelt. (3) Erkenntnis des inneren Zwecks des Lebendigen und des Kunstwerkes. Damit die äußere Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit überwunden.

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(c) Damit die vier Grundelemente, die sich nun verschieden verbinden. Bei Fichte und Schiller vollendet sich Kants Freiheitslehre unter dem Einfluß der französischen Revolution zu einem absoluten Idealismus. Das freie Ich schafft die Welt vermöge der produktiven Einbildungskraft und gestaltet sie vermöge der sittlichen T a t . Dieses freie Ich aber ist nicht das einzelne Ich, sondern das absolute Ich, das durch den einzelnen wirkt. Der moralische Gott Kants und der Aufklärung ist verschwunden. Fichte wird des Atheismus verklagt wie vor ihm Spinoza. Was bei diesem die Natur war, ist bei jenem das Ich. Es ist umgekehrter Spinozismus und entwickelt sich unter dem indirekten Einfluß Spinozas schließlich nahe an den echten heran. Wieder ist der Atheist frommer als der Deist, der Gott beweist. - Bei Schiller verbindet sich damit Kants Lehre von der ästhetischen Vernunft. Aber das Allgemeine bleibt stärker als das Individuelle. Er steht - wie Fichte - Kant näher als Goethe. Demgegenüber nimmt nun Goethe den echten Spinoza auf, freilich lebendig umgedeutet, organisch, nicht mathematisch, und der Schüler Fichtes und Spinozas, Schelling, vereinigt beide in seiner Naturphilosophie, die ebenfalls das Princip des Organischen durchführt und in der Weltseele die Einheit von Natur und Geist anschauen lehrt. Auch er bekämpfte Gott, Freiheit und Unsterblichkeit und war ein Mystiker, der in seiner späteren Entwicklung der Mystik den entscheidendsten Einfluß gab. - Bei ihm wird nun auch Leibniz wirksam: Die Anschauung des Universums, der Einheit von Natur und Geist in jedem Individuellen, ist ein Princip seiner Naturphilosophie. Das geht zum Teil auf Herder zurück, der die Idee der Humanität individuell-geschichtlich umdeutete und die Fülle und den Reichtum der Völker bejahte im Gegensatz zur Vernunftreligion und Vernunftstaat der Aufklärung. Die Romantik entwickelte daraus den historischen Sinn, die Grundlage der modernen Geschichtswissenschaft. - In all diesen Richtungen aber war das ästhetische Element so entscheidend, daß die Anschauung des Universums ebenso gut ästhetisch wie religiös gedeutet werden konnte.

II. Schleiermachers Reden 1. Damit [ist] der Ort bestimmt, wo Schleiermacher steht. Er hat das erste religiös entscheidende Wort gesprochen; aber er hat es gesprochen aus der Lage heraus, die durch alles Vorhergehende eindeutig bestimmt war. Alle genannten Richtungen waren in ihm lebendig. Er

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kam aus der Brüdergemeinde. Dadurch brachte er zweierlei mit: ( 1 ) Das vor allem: die religiös-mystische Grundlage, die seine Jugend geprägt hatte und in der eine subjektiv-gefühlsmäßig gewandte Mystik entscheidend war. (2) Dieses aber in der Hülle der Orthodoxie, also des damaligen Supranaturalismus. Der Enge dieser Richtung entfloh er und lernte als Hallescher Student die Aufklärungsphilosophie und -moral kennen, von der er sich wegwandte zu Kant. Die Aufklärungselemente von Kant überwand das für ihn grundlegende Erlebnis Spinozas: (Citât S. 40'). Die mechanisch-mathematische Seite wurde überwunden durch den Verkehr mit den Romantikern, speziell Friedrich Schlegel, mit dem er in der Berliner Charité Wand an Wand wohnte. Gleichzeitig wirkte Schellings lebendige ästhetisch-mystische Naturanschauung. Damit war ein Zusammenfluß aller religiösen und geistigen Ströme der damaligen Zeit gegeben. Eine Synthesis, wie sie selten in der Geschichte der Religion ist, und die demgemäß zu einer völligen Umwälzung führte. Die Epoche liegt in dem Erscheinen der Reden „über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" 1799. 2. Inhalt 1. Rede. „Apologie": Die Religion soll in ihrer eignen Herrlichkeit erscheinen, nicht als Mittel für etwas anderes angepriesen werden. 2. [Rede]. „Über das Wesen der Religion". Sie ist nicht Metaphysik, kein Konstrukt des berechnenden Verstandes. Das Maß des Wissens ist nicht das Maß der Religion. Einzelne erhabene Gedanken brechen auf und zeigen durch ihre innere Kraft, daß die Gottheit gesprochen hat. Ebenso wenig ist sie Moral, sie treibt nicht zu besonderen Handlungen an und sie läßt Sittlichkeit neben sich offen. Wohl begleitet sie wie eine heilige Musik das Handeln, aber man handelt nicht aus Religion, sondern mit Religion. Eher stört sie die rationale Moral und ihre Vernünftigkeit. - Dieses alles ist nicht [Metaphysik oder Moral], sondern etwas Neues, Anschauung und Gefühl des Universums. „Sinn und Geschmack fürs Unendliche". 2 „Das unmittelbare Bewußtsein vom ... Sein alles Endlichen im Un-

1 2

Nicht ermittelt Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 4. Aufl., Berlin 1831, S. 46 (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1/12, Über die Religion (2.-) 4. Auflage, Monologen (2.-) 4. Auflage, ed. G. Meckenstock. Berlin/New York 1995 [= KGA 1/12), S. 56).

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endlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige." 3 Das Universum handelt fortwährend in jedem Augenblick in allen Dingen. Überall können wir es anschauen: in der N a t u r als dem V o r h o f , in der Menschheit und ihrer Fülle, in der Geschichte, wo die Erlösung sich vollzieht, in den inneren Gefühlen der D e m u t , der Reue, der Liebe, der Dankbarkeit, ist sie erschaubar. Diese Anschauung und das ihr entsprechende Gefühl ist der eigentlich schöpferische Augenblick der Religion; er ist überall und bei jedem Menschen verschieden; darum ist die Religion absolut frei. Alle Lehrbegriffe und Dogmen sind nur Ausdrucksform des frommen Gefühls; sie müssen in dasselbe zurückübersetzt werden, um verständlich zu werden. Jedenfalls haben sie keine gegenständlich wissenschaftliche Bedeutung. Darum sind auch die Begriffe Wunder, Offenbarung, Inspiration, Gnade keine gegenständlichen Begriffe, sondern Ausdrucksweisen dafür, daß die Art des religiösen Erlebens eine völlig originale ist. Das gilt auch von den drei Begriffen: G o t t , Freiheit und Unsterblichkeit. Gott ist eine mögliche, die mehr personalistische Fassung des Universums. Sie ist nicht nötig. Theismus und Atheismus sind nur zwei Formen des Erlebens, die gleichberechtigt sind. Die Freiheit bedeutet nichts anderes als die Eigenwirksamkeit jedes Wesens. Aber hinter ihr steht die Allwirksamkeit des Universums. Die Unsterblichkeit aber bedeutet: „Mitten in der Endlichkeit einswerden mit dem Unendlichen und ewig sein in jedem Augenblick."4 3. Rede. „Über die Bildung zur Religion" handelt von den Hindernissen, die der Entstehung des religiösen Gefühls in der nüchternen Sachlichkeit der Gegenwart entgegenstehen, zeigt aber, daß in allen Dingen, in Wissenschaft und Kunst vorzüglich, ein Umschwung sich vorbereitet. 4 . Rede. „Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum" zeigt, wie die Fülle der religiösen Anschauungen zum Austausch treibt, wie dieser freie Austausch das Wesen der Religion ist und das offizielle Priestertum und Kirchentum eine Verhärtung ist. Dazu führt besonders die Verbindung mit dem Staat, die aufzugeben ist. -

3

K G A 1/12, S. 5 3 .

4

K G A 1/12, S. 1 2 8 . Tillich ändert „in einem A u g e n b l i c k " in „in jedem Augenblick".

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5. Rede. „Über die Religionen" wird von der Notwendigkeit der religiösen Anschauung gesprochen, sich in einer Vielzahl zu entfalten. Natürliche Religion ist Unsinn und gerade nicht Religion. In jeder Religion ist eine besondere Anschauung des Universums die herrschende. Drei Stufen: a. Schicksal und Fetischismus; b. Polytheismus und Naturgesetz; c. die Religion der Totalität. Judentum (Idee der Vergeltung), Christentum, die Idee des Verderbens und der Erlösung. Auch sie muß nicht die letzte sein, obgleich nicht abzusehen ist, wie sie überwunden werden soll. Wenn nur das Universum angeschaut wird. 3. Auslegung (1) In der Subjektssphäre. Die Religion ist der Sphäre der Rationalität enthoben. Sie ist kein Erkennen und Handeln. Im Erkennen und Handeln richten wir uns auf das Endliche, Bedingte 5 . Sie sind getragen von der Reflexion; in der Reflexion sind Subjekt und Objekt auseinander; das Subjekt ist isoliert und steht der Einheit der Welt gegenüber. Diese Distanz ist überwunden in Anschauung und Gefühl. In der Anschauung geht das Bewußtsein in seinen Gegenstand über, im Gefühl nimmt es ihn in sich auf. Beide drücken darum wesentlich das Gleiche aus. Da aber der Begriff Anschauung auch für die ästhetische Sphäre verwendet wurde, so wurde er später ausschließlich durch Gefühl ersetzt. Aber dieses Gefühl hat immer das Element der Anschauung in sich, es ist nicht das chaotische Auf und A b des subjektiven Gefühls, sondern es ist ein bezogenes, in bestimmter Richtung. Daher Schleiermacher es später genauer als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt hat. Durch das „schlechthinnig" oder „unbedingt" hat das Gefühl eine Qualität bekommen, die es über alle endlichen Gefühle hinaushebt; es ist ein transzendentes Gefühl, ein über jede mögliche Subjektivität hinausgehendes Gefühl. Das heißt: die psychologische Bestimmung als Gefühl ist aufgehoben durch die inhaltliche Bestimmung. Diese aber ist ein Ausdruck echter Mystik. (2) In objektiver Beziehung. Der Gegenstand, auf den das Gefühl bezogen wird, ist das Universum. Auch diese Bestimmung zunächst mehrdeutig. Möglichkeit, das Universum als Allheit zu deuten. Damit aber die rein ästhetische Deutung unvermeidlich. Die Anschaus

Folgt gestr.: beide zerreißen uns, wenn sie nicht ein Centrum haben. Dieses ist das Gefühl.

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ung aller endlichen Dinge kann nicht darüber erheben; damit aber die Bestimmung des „schlechthin" nicht vereinbar. Infolgedessen Vorwürfe des ästhetischen Pantheismus, die in der Dialektik als Unterscheidung von Einheit und Allheit überwunden werden. Gott = Einheit; Welt = Allheit. Später noch unbestimmter: Gott = das W o h e r der schlechthinnigen Abhängigkeit. Auch darin die Mystik. Die Einheit nichts Logisches: der Weltgrund, dem der Seelengrund entspricht. In der Tiefe der Seele offenbart sich die Tiefe des Weltgrundes. Aber der N a m e der Seelentiefe ist Gefühl und der Name des Weltgrundes ist Einheit des Universums. Darin liegen entscheidende Dinge. (a) Die mystische Haltung hat über die reformatorische gesiegt. Der deutsche Idealismus und durch ihn die gesamte Bildungsreligion bis heut ist mystisch, nicht gläubig fundiert. Die Distanz verschwindet zu Gunsten der Einheit. (b) Aber diese Einheit ist nicht an der Oberfläche. Sie greift über das subjektive Gefühl ebenso hinaus wie über die endlichen Dinge; es ist schlechthinniges Gefühl und gerichtet auf die Einheit und Ewigkeit: die innere Transcendenz des Religiösen ist gewahrt. (c) Aber in dieser Mystik schwingt das Weltgefühl der Renaissance, es ist nicht gerichtet auf die höchste Einheit, die der Abgrund ist, sondern die der Grund ist. Es ist nicht negative, sondern positive Mystik, konkrete, nicht abstrakte, ästhetische, nicht asketische; es ist Mystik der Kultur. Darum Spinoza, Schelling, Goethe. Gott gewinnt seine Inhalte durch die Weltinhalte. Darum spricht Schleiermacher auch von Gefühl und Universum statt von Seelengrund und Weltgrund. Die Bejahung der Natur, das humanistische Erbe, kennt den Abgrund nicht, in dem Mystiker und Reformatoren eins waren. (d) M i t der mystischen Grundhaltung sind in gleicher Weise Rationalismus und Supranaturalismus überwunden. Der zweite: denn es gibt nun keine Eingriffe wunderbarer Art in das Weltgeschehen. Jedes Ding kann Wunder und Offenbarung werden; keines ist es im gegenständlichen Sinn, daß man darüber streiten kann. Der erste: jedes Ding trägt in sich die Beziehung auf das Göttliche. Gott ist kein Ding jenseits der Welt, das man erkennen und dessen Befehle man befolgen könnte. Die Religion ist etwas völlig Eignes gegenüber Erkennen und Moral. Sie ist enthoben den Streitigkeiten der Wissenschaft, dem Dienst der Moral und Politik. Sie wird unmittelbar erfaßt für den, der sich ihr öffnet, wie die ästhetische Anschauung.

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Damit sind alle historischen Bindungen bei Seite geschoben. Die Frage des Zweifels und der Autorität fällt miteinander hin. Die Frage nach Nützlichkeit und Sittlichkeit der Religion ist in die dritte Reihe gestellt. Es ist eine ungeheure Befreiung, ein Hervorbrechen des religiösen Urgrundes in seiner Unmittelbarkeit und Freiheit, seinem Charakter des Ganz-Anderen. 4. Konsequenzen Die christliche Glaubenslehre ist nicht Dogmatik. Sie ist Darstellung der frommen Gefühle in wissenschaftlicher Rede. Sie ist eine historische Disciplin; sie gibt keine Normen des Denkens, wie die Ethik keine Normen des Handelns. Beide sprechen nur von Konsequenzen des christlichen Bewußtseins. Sie haben es nicht mit der Wahrheit, sondern mit einem Tatbestand, einer Wirklichkeit zu tun. Aber insofern dieser wirklich ist, ist er ja wahr, er beruht auf einer wirklichen Offenbarung, einer Affektion des Gefühls durch das Universum. So ist in allen Aussagen der Glaubenslehre das erste die Aussage über das Gefühl, und dann erst wird gesagt, wie von da aus Gott und die Welt angeschaut werden müssen. Von da aus lösen sich all die Aussagen der Dogmatik, die als Wissenschaft unlöslich sind, auf. Man greift unter diese ganze Schicht und findet da einen tieferen Sinn, von dem aus die Reflexionsgegensätze bedeutungslos werden. Man fragt nach dem Sinn dieser Dinge für das religiöse Leben. Auch dieses eine ungeheure Befreiung. Die orthodoxe Streittheologie ist damit aus den Angeln gehoben, ohne daß man dem Rationalismus preisgegeben ist.

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28. Hegel und die Erfassung des Göttlichen im Denken

Zum Text: Hs. in Vo IX (PTAH, 110:009). Drei der sechs Texte, die das Heft Vo IX enthält, sind 1924 veröffentlicht worden („Jugend und Religion" unter dem Titel „Jugendbewegung und Religion" in: Werkland, 4. Jg., 1924, 61-64; „Die religiöse und philosophische Weiterbildung des Sozialismus" in: Blätter für Religiösen Sozialismus, 5. Jg., 1924,26-30; „Kirche und Kultur", Tübingen 1924). Außerdem finden sich im Heft Gliederungsentwürfe zur Marburger Dogmatik-Vorlesung von 1925. „Hegel und die Erfassung des Göttlichen im Denken" ist der zuerst eingetragene Text des Heftes Vo IX. Die Handschrift weist große äußerliche Ähnlichkeit mit der Handschrift „Schleiermacher und die Erfassung des Göttlichen im Gefühl" auf (Vo VIII, Text Nr. 27). Abfassungszeit: 1923 oder 1924. Erster Teil: Die Entwicklung der Dialektik 1.' Die Vorgeschichte des Idealismus bis zu Schleiermacher. Der reformatorische Glaubensbegriff als Durchbruch von Offenbarung und Gnade in eine verdunkelte Vernunft (und einen unfreien Willen). Die drei Elemente darin: der Glaube, die Vernunft, die Mystik. Die Beseitigung des Glaubens durch die Vernunft. Die Auflösung der Religion in Metaphysik und Moral. Die Uberwindung der rationalen Vernunft durch die mystische Vernunft (Goethe, Spinoza) unter dem Einfluß der religiösen Mystik der Brüdergemeinde. Schleiermachers Begründung der Religion im Gefühl. Ihre Isolierung gegen die übrigen Geistesfunktionen. 2 Ihre Privatisierung, Abhängigkeit von der religiösen Begabung, ihr Bleiben in der subjektiven Sphäre. Hier die Weiterführung durch Hegel, den Vollender der ganzen Bewegung.' Die Art der Vollendung hat zwei Momente, die entscheidend sind. Sie ist idealistisch, und sie ist dialektisch. Hegel steht in der '

Dieser Abschnitt (1.) ist von Tillich nachträglich gestrichen.

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Folgt gestr.: D e m g e m ä ß G o t t als die isolierte Einheit gegenüber der Vielheit.

3

Folgt gestr., nach Doppelpunkt: der schwerste und tiefsinnigste. Er würde sich gegen Popularisierung wehren.

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idealistischen Linie Kant, Fichte, Schelling und ist von allen dreien abhängig. Zugleich aber hat er von Schelling ein Denkmotiv übernommen und fortgebildet, das aus der lutherischen nicht-pietistischen Mystik stammt. Dieses gibt seiner Dialektik die Tiefe. Beide Entwicklungslinien sind zu verfolgen. - Aus ihrem Zusammenfluß und ihrer Erfüllung mit dem konkreten Stoff der Geschichte ist das größte deutsche System der Philosophie entstanden, das größte überhaupt seit Aristoteles. 2. Hegels Bedeutung als größter Systematiker seit Aristoteles: a) Seine gewaltige logisch-dialektische Kraft; die Durchdringung aller Seiten der Wirklichkeit mit dem Begriff, b) Seine historische Genialität, der Scharfblick für das Individuelle, der Reichtum seines Stoffes: Auf der Höhe des Wissens seiner Zeit, c) Die persönliche Geschichtsbewußtheit, das Leben im Geistigen, Politischen und Religiösen. Die aus der Zeit geborenen und die Zeit bestimmenden Formulierungen. - Alles dieses in vollendeter Einheit, in schwerer, oft leidenschaftlicher Sprache ohne romantisches Pathos. Demgegenüber die Nachteile: Vergewaltigung der Natur und scholastisierender Schematismus geringfügig. - Dieses alles kommt unserer Zeit wieder zum Bewußtsein, nachdem zeitweise jeder Gassenjunge den König lästern konnte. Es war die Reaktion gegen eine fast unbeschränkte Herrschaft in allen Gebieten und eine Reaktion, die gegen gewisse innere Grenzen des Systems wie des Idealismus überhaupt gerichtet war, namentlich auf religiösem und naturwissenschaftlichem Gebiet. Dennoch herrschte er unbekannt weiter. Die Entwicklungsidee, die Geschichtsforschung, die Dialektik stammen von ihm, und indirekt ebensosehr die Konservativen wie die Sozialisten. - Jetzt, nach Ablauf der Reaktion, geht er uns wieder auf und immer strahlender, je tiefer wir ihn verstehen. Vor allem eins: Der Ernst und [die] Kraft des Denkens in geistigen Dingen; die Vereinigung von Tiefsinn und absoluter Strenge. Er verlangt immer ein Doppeltes, die Fähigkeit, begriffliche Zusammenhänge zu verstehen in der abstrakten Begrifflichkeit und das wirkliche Leben im Geist und seiner Tiefe. Darum [ist es] auch eigentlich unmöglich, Einzelnes von ihm zu geben. Er selbst [ist] am schärfsten dagegen. Nicht die Resultate, sondern der Proceß ihrer Erzeugung ist das Lebendige des Denkens. Die Resultate sind abstrakte Reflexions-Dinge, denen das Leben des Geistes entflohen

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ist - Das Recht, davon zu sprechen, [ist] nur darin begründet, daß die Ehrfurcht geweckt werde vor der Tat des schöpferischen Gedankens und daß daraus bei einigen der Wille entsteht, sich tiefer mit dieser Schöpfung einzulassen, bei einigen die Strenge4 des eignen Denkens gestärkt und die Tiefe vertieft wird und bei allen die Sehnsucht entsteht, ein Leben im Geiste zu führen auch da, wo der abstrakte Gedanke nicht möglich ist, ein Leben im unmittelbaren5 Geist, wie Hegel sagt, an dem die Bauernfrau den gleichen Anteil hat wie der Philosoph, dessen Aufgabe es nur ist, diesen Geist, in dem er und jene gemeinsam leben, zu deuten. Denn Geist haben heißt nicht, über den Geist denken, sondern im Geist leben, d.h. aus der absoluten Tiefe, aus dem Unbedingten, aus Gott leben. 3. Hegel ist Idealist. Er steht in der Reihe Kant, Fichte, Schelling a) Kant geht von der Frage aus, wie eine Erkenntnis möglich sei, da doch Subjekt und Objekt getrennt seien. Hier der Geist, dort die Dinge. Wie können die Dinge so zum Geist kommen, daß Erkenntnis [entsteht? Antwort: sie können es nicht. Alle Versuche, zu zeigen, wie man zur Gewißheit kommt, wenn die Dinge, die doch getrennt von uns sind, Gewißheitsgrund sein sollen, sind mißlungen. Die Erfahrung kann nicht helfen. Denn sie ist unendlich. Nun aber gibt es Gewißheiten in der Mathematik und mathematischen Physik, Principien, die in aller Erfahrung vorausgesetzt sind. Woher kommen sie? Nicht aus den Dingen, sondern aus dem Geist. In der Erkenntnis der Principien ist der Geist bei sich selbst, und darum hat er Gewißheit. In jeder Erfahrung ist schon solch Handeln des Geistes. Die Erfahrung ist immer sowohl ein Produkt des Geistes wie des Stoffes, der sogenannten Dinge an sich. Aber von diesen wissen wir nichts. Wir wissen nur von dem durch uns geformten Stoff. Die Principien dieser Formung sind die Anschauungsformen Raum und Zeit und die Kategorien, deren wichtigste Ursache und Wirkung, Ding und Eigenschaften, Wechselwirkung sind. So kann man sagen: Der Geist gibt der Natur Gesetze; die Welt ist zwar nicht dem Stoff, aber der Form nach Schöpfung des Geistes. Sie ist Erscheinungswelt, nicht Schein, aber Erscheinung, und nur mit der Erscheinung haben

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Folgt gestr.: und Tiefe

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Über gestr.: objektiven

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wir es im Erkennen zu tun. Das An-Sich bleibt im Verborgenen. Nur in der Ethik können wir etwas über das An-Sich aussagen: Es ist Freiheit. Denn das sittliche Bewußtsein verbürgt uns eine Freiheit, für die wir in der Erscheinungswelt keinen Ort finden können. b) Hier führt Fichte weiter, der Vollender des Idealismus. Er stellt fest, daß auch das Ding an sich, der unbekannte Stoff, ein fragwürdiger Begriff ist. Wenn man nichts von ihm weiß, wie kann man sagen, daß er ist? Wohl aber erfassen wir in unserm sittlichen Handeln und in unserm Erkennen unsere Freiheit, unsere Ichhaftigkeit. M a n merkt, daß man nicht ein Stück Lava im Monde, sondern daß man ein Ich ist', das heißt freie schöpferische Produktion. Dieses ist das eigentliche An-Sich der Dinge. Das An-Sich ist die Freiheit. Damit ist das An-Sich verschwunden und die Welt eine Schöpfung der Freiheit, theoretisch der produktiven Einbildungskraft, praktisch der sittlichen Vernunft. Die ganze Natur ist Stoff des sittlichen Handelns, Materiale der Pflichterfüllung. Sie hat kein Wesen in sich. - Das ist radikalster Idealismus, tiefste Erfassung des Seins des Geistes gegen alles Unmittelbare. Es ist Heroismus im Denken und im Handeln und war eine der stärksten Kräfte der Freiheitskriege. c) Hegel hat diesen Idealismus subjektiven Idealismus genannt. Der Geist wird darin als Subjekt, als reines Ich aufgefaßt. Nicht als ob wir einzelnen Iche die Welt schaffen; durch und in uns schafft das absolute Ich. Aber dieses erhält doch dadurch die Eigenschaften des reinen Subjektes, des Ich, das dem Nicht-Ich gegenübersteht. Demgegenüber zeigte nun Schelling, daß in der Natur nicht nur Widerspruch gegen den Geist, sondern auch selbst Geist wäre, daß in den Stufen des Mechanischen, Dynamischen, Organischen sich der Geist aus dem Objektiven emporringt zum Subjektiven, daß Gott in der Natur gegenwärtig ist und Geist nicht bloß Widerspruch zur Natur. Er schafft so den objektiven Idealismus, d.h. die Anschauung des Geistes [ist] in der Natur objektiv gegeben, nicht bloß vom sittlichen Ich gefordert. Unter dem Einfluß Spinozas spricht Schelling dann von der Identität von Natur und Geist, die hinter allem steht und sich entfaltet nach der einen Seite unter der Herrschaft der Natur, nach der anderen unter der Herrschaft des Geistes, aber in beiden ist immer beides.

6

J.G. Fichte, Sämtliche Werke, hrg. von I.H. Fichte. Bd. I, 175, Anm. („Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.").

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d) In diesem objektiven Idealismus war die Natur hereingezogen in die Sphäre des Geistes. Die Einseitigkeit des subjektiven Idealismus war überwunden. Geist ist nicht nur Forderung, sondern auch Gegenwart, nicht nur Tat, sondern auch Resultat, nicht nur höchste Bewegung, sondern auch höchste Ruhe. Es war die Stimmung der Renaissance, Goethes, der „Reden" von Schleiermacher. Aber in der Identität von Natur und Geist wird in Wahrheit der Geist verschlungen. Das Nein des Geistes gegen die Natur geht verloren. Der Geist hört auf, Subjekt zu sein. Darum war auch dieses eine Einseitigkeit, und es mußte alles auf eine Vereinigung beider Richtungen dringen. Der Geist einerseits mit der Natur identisch, andererseits über die Natur hinausgehend. Das j a und Nein des Geistes zur Natur mußte gleichzeitig hörbar werden. Diese Forderung stellte Hegel auf, und er erfüllte sie in seinem absoluten oder dialektischen Idealismus. e) Die gedanklichen Mittel dazu aber empfing er wieder durch Schelling, der inzwischen [eine] entscheidende Wandlung durchgemacht hatte. Jakob Böhme, d.h. die protestantische Mystik, soweit sie nicht pietistisch war, hatte Einfluß auf ihn gewonnen. - Der Görlitzer Schuster des 17. Jahrhunderts, der philosophus teutonicus, war unter dem Eindruck von Luthers mystischen Elementen, von Meister Eckehart und von der Naturphilosophie der Renaissance zu den merkwürdigsten Spekulationen gekommen, die einen eigenartigen Typus europäischer Philosophie schufen, deren Einfluß längst nicht erschöpft ist. Er ist der eigentliche spekulative Philosoph des Protestantismus. Sein Hauptproblem ist das der Freiheit im Verhältnis zu Gott. Seine Lösung führt ihn zu dem tiefen Gedanken, daß jedes Wesen, um sich selbst offenbar zu werden, etwas anderes brauche, in dem es offenbar wird. So ist es für Gott in seiner ewigen Einsamkeit notwendig, ein anderes zu haben, an dem er durch den Gegensatz sich selbst erkennt, das er aber zugleich doch als sein eignes erkennt. Damit ist eingesehen, daß das Lebendige auf einer Spannung der Principien beruht und daß der Urgrund7 alles Lebens trotz seiner absoluten Einheit diese Spannung in sich tragen müsse. Es ist zum ersten Male der protestantische lebendige Gott philosophisch zum Ausdruck gebracht im Unterschied zu dem neuplatonischen Gott, der das Überseiende, der ewige Abgrund ist. Es ist dem Trinitäts-

Sic!

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gedanken eine adäquate lebendige Formulierung gegeben - Aus diesem Widerspruch ergibt sich nun, daß auch in dem Weltproceß dieser Gegensatz des Göttlichen und des anderen überall tragend ist. Auf J a und Nein beruhen alle Dinge. In jedem Wirklichen ist ein innerer Widerspruch, der über es hinaustreibt bis zur ewigen Versöhnung Gottes mit seinem anderen. Dieses andere nennt Böhme die Natur in Gott, den Ungrund' und dergleichen, und er stellt ihn sich als dunklen Willen vor, der zum Licht drängt, d.h. zur Einigung mit der Idee. Damit ist auch dem starken Willenselement, das im Protestantismus steckt und worin er das Erbe des ersten abendländischen Menschen, Augustins, angetreten hat, Gerechtigkeit geworden. Gott ist schaffender Wille, der aus dem Dunklen zum Licht dringt und durch J a und Nein alle Dinge zur ewigen Einheit führt. f) Damit ist ein Gedankenelement gegeben, das Schelling begierig aufgriff und mit seiner Natur- und Identitätsphilosophie verschmolz: die Identität von Natur und Geist ist nicht mehr bloß gegeben, sie entwickelt sich durch den Widerspruch hindurch. Der Anfang ist die Indifferenz, die Einheit, in der es keine Unterschiede gibt. Aus ihr bricht der Wille hervor, der irrational teils Sehnsucht nach dem Licht, teils Widerspruch gegen das Licht, gegen die Idee, das Gültige, ist. In dem Kampf und Schmerz des Weltprocesses wird die Einheit wiedergefunden, die nun aber nicht mehr Indifferenz, sondern Liebe ist. - In tiefer Phantasie und schöner Sprache führt Schelling das durch in seiner Freiheitslehre. Von diesen Gedanken hat Schopenhauer unter Verlassen der idealistischen Basis „Die Welt als Wille und Vorstellung" geschrieben. Von diesen Gedanken hat Nietzsche seine protestantisch-naturalistische Prophetie des Willens zur Macht genährt. Sie sind noch nicht im Entferntesten ausgeschöpft. Sie konnten aber erst wirksam werden, als die Macht einer anderen Entwicklung dieser Gedanken, nämlich ihre Verbindung mit dem Idealismus, gebrochen war. Diese Verbindung aber schuf Hegel. Er machte aus dem Willenswiderspruch einen logischen, die Dialektik, er machte aus dem irrationalen Willensgrund den Gott, der Geist ist. Dadurch entfernte er die Elemente der Phantasie, machte ein strenges System, zertrat aber zugleich fruchtbare Keime.

'

Sic!

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Zweiter Teil: Die Dialektik bei Hegel 1. Die Elemente dieses seines centralen Begriffes sind beisammen. Natur und Geist sind identisch, aber so, daß der Geist zugleich das Übergeordnete ist. Demgemäß darf das Absolute nicht als Identität, sondern es muß als absoluter Geist bestimmt werden. Aber in diesem absoluten Geist ist lebendige Bewegung. Diese Bewegung geht aus von der Idee, der ewigen logischen Form, die noch keinen Stoff in sich hat, sie geht weiter zur Natur, wo der Geist in sein Anderssein, in das ihm Fremde eintritt, und sie endigt in der Geschichte, wo der Geist sich als Geist erfaßt. Die Lehre von der ewigen Idee und ihrer Entfaltung ist die Logik. Die Lehre von der sich selbst entfremdeten Idee ist die Naturphilosophie. Die Lehre von der zu sich zurückgekehrten, Geist gewordenen Idee ist die Philosophie des Geistes. Diese Dreiheit von Ja, Nein und Ja, das das Nein in sich genommen hat, ist das methodische Princip, von dem aus Hegel in allen drei Teilen alles einzelne verstehen lehrt. Es ist Setzung, Gegensetzung und Ineinssetzung, Thesis, Antithesis, Synthesis. Das Niedere wird aufgehoben in dem zweideutigen Sinn von verneint und aufbewahrt; im Geist ist die Natur verneint und doch aufbewahrt. Darum ist der Geist mehr als die Idee (dieses gegen Kant und Fichte). Er hat den Reichtum der Natur in sich, aber er hat ihn in sich, hindurchgegangen durch ein Nein (dieses gegen Schelling). 2. Diese Methode, in jeder Sache den inneren Widerspruch zu finden und sie weiterzutreiben zu einer höheren Einheit, heißt dialektisch. Das Wort heißt Unterhaltung, Rede und Gegenrede, Ja und Nein; es stammt aus der Gesprächskunst des Sokrates, mit der er alle naiven Begriffe auflöst, um sie auf höherer Stufe wiederzufinden. Aber bei Hegel ist es nicht nur die Methode, sondern sind es die Dinge selbst, die diesen Weg gehen. So schon bei Heraklit mit seinem Wort: „Alles fließt", und „der Krieg ist der Vater aller Dinge". Aber diese Bewegtheit, Dynamik [ist] im Griechentum und Mittelalter als das Falsche, Nichtige empfunden. Bei Hegel dagegen als das Wesenhafte, Göttliche; und die Ruhe als das Starre.- Diese Methode kann schematisch werden, die Wirklichkeit vergewaltigen u.s.w.; sie [ist] ein Princip, die Dinge zu verknüpfen, aber nicht das einzige. Dennoch war es ein so tiefer Blick in das Wesen namentlich der Geistesgeschichte, daß unbewußt auch die meisten Gegner danach arbeiten. So z.B. die gegenwärtige Synthese von Orient (religiöse Unmittelbarkeit) und Occident (weltgestaltende Aktivität und Rationalität).

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Dieses typisch dialektisch empfunden. 3. Alle Philosophie ist Dialektik, d.h. Darstellung der Selbstentfaltung der Idee durch die Natur zum Geist. Diese Entfaltung aber ist die Lebendigkeit Gottes. In diesem Sinne sagt er: „Die begriffene Geschichte bildet die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre: nur - aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit."' Und vorher: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen."' 0 Alle Erkenntnis ist also Erkenntnis der göttlichen Selbstoffenbarung durch Natur und Geschichte. Dialektische Erkenntnis ist Gotteserkenntnis. Hegel ist nicht müde geworden zu versichern, daß Religion und Philosophie den gleichen Inhalt haben, nämlich den absoluten Geist und seine Offenbarung. Damit ist die Schleiermachersche Scheidung von Religion und Welterkennen aufgehoben. Das wahre Welterkennen ist Gotteserkenntnis. Hegel hat nicht aufgehört zu spotten, daß Gott unerkennbar sein solle. Er hat darin eine Beeinträchtigung der Würde Gottes gesehen. Wenn Gott Geist ist, so ist er offenbar für den Geist. Denn es ist das Wesen des Geistes, sich selbst zu erfassen. Sind wir Geist und ist Gott Geist, so nehmen wir Teil an der Selbsterkenntnis Gottes des Geistes. Das ist der Sinn der Gottesebenbildlichkeit, die durch den Satz von der Unerkennbarkeit Gottes verleugnet wird - Aber noch tiefer ist die Ablehnung vom Standpunkt des menschlichen Geistes selbst. Es ist die Eitelkeit des Geistes, die sich in ihrer Endlichkeit wohlfühlt und nicht durchbrechen will zum Unbedingten. Nicht: Gott erkennen wollen ist Hochmut, sondern ihn nicht erkennen wollen, seine Unerkennbarkeit behaupten. Es gehört der Mut und die Demut des Geistes dazu, der sich herauslöst aus der Sphäre seiner Endlichkeit. Es gibt nämlich drei Stufen der Erkenntnis: Die unmittelbare Auffassung der Dinge, in der das Einzelne unmittelbar aufgefaßt wird; die Reflexions- oder Verstandeserkenntnis, in der einzelne abstrakte Bestimmungen herausgestellt und in ausschließenden Gegensatz gebracht werden; und die Vernunfterkenntnis, die den Be-

' 10

Phänomenologie des Geistes, Theorie Werkausgabe, Band 3, S. 591. Ebd.

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griff erfaßt, d.h. nicht eine abstrakte Allgemeinheit, sondern den konkreten lebendigen Begriff, der die Einheit der einzelnen Bestimmungen im Proceß sieht. Dieser Begriff, dieses tiefere geistige Wesen der Dinge, ist nur durch einen Akt der Erhebung über die endlichen Bestimmungen zu erreichen; er ist irgendwie intuitiv, ohne darum logisch weniger streng zu sein. Das erste ist die natürliche naive Weltbetrachtung, das zweite die wissenschaflich-technische, das dritte die religiöse, die Anschauung der Dinge in Gott oder vom Standpunkte Gottes. Der innere Zug des Erkennens löst die Naivität auf und führt zur Reflexion. Diese treibt zu inneren Widersprüchen, sobald sie sich über die praktisch-technische Sphäre erheben will, und führt so zur Dialektik, in der die Widersprüche sich als Elemente des Processes darstellen. 4 . Damit ist der Widerspruch zum Princip der Logik erhoben. Nicht der einfache, naive, unlogische Widerspruch, sondern der dialektische, d.h. derjenige, der in der Sache selbst den inneren Widerspruch aufdeckt. Damit ist die Logik in ihrer religiösen Tiefe erfaßt. Keine endliche Bestimmung ist absolut; keine hat ein Recht, sich auf den T r o n Gottes zu setzen. Jede steht unter dem Gericht der Dialektik, d.h. dem Gericht des Ewigen am Endlichen. Dieses Gericht vollzieht in der logischen Sphäre die Dialektik. Sie zeigt die Endlichkeit alles Endlichen und zeigt darin zugleich die Göttlichkeit des Göttlichen, die ewige schöpferische Offenbarung, die durch den unendlichen Reichtum der Welt zu sich zurückführt. Damit haben wir die Idee einer religiösen Logik, die das eigentliche Ziel und der tragende Grund der profanen Logik ist. Die Dinge in ihrer Tiefe erkennen heißt, sie durch J a und Nein, heißt sie in Gott erkennen. Die tiefste Anwendung der Dialektik sind die sogenannten Beweise für das Dasein Gottes. Sie sind freilich keine Reflexionsbeweise. Als solche sind sie von Kant zerschlagen worden. Aber sie sind Erhebungen des Geistes zum Unbedingten. Sie beweisen nicht G o t t aus der Welt, sondern sie zeigen auf, wie der Geist aus der Verneinung der Welt und Endlichkeit sich erhebt zum Ewigen. Sie können nur von dem verstanden werden, der diesen Gang innerlich mitmacht, der von der Reflexionserkenntnis sich erhebt zur dialektischen Gotteserkenntnis, zur Erkenntnis der Dinge als Momente des göttlichen Lebens. Dieses der erste große Gedanke Hegels: Das Erkennen in seiner letzten Tiefe ist nicht profan, sondern religiös, es ist Gotteserkenntnis. Darum aber kann es nicht erzwungen werden, sondern setzt eine

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innere Erhebung über die endlichen Bestimmungen, setzt Verzicht auf die Eitelkeit voraus. 11 5. Analogien in der Gegenwart: Die intuitive Philosophie. Beidem a l Mystik gegen rationale Technik. Einswerden mit dem lebendigen Sinn der Wirklichkeit statt Beherrschung entleerter Formen. Dieses aber auf doppelte Weise möglich: griechisch-mittelalterlich oder abendländisch-protestantisch, statisch oder dynamisch. Hegel dynamisch. Gegenwärtig Phänomenologie gegen dynamisch-metalogische Methode. Die Hauptkraft dieser in der Geschichte; damit Übergang zur Dialektik der Geschichte. Bei Hegel erst die Darstellung der Logik. Am Ende die Idee, die sich frei aus sich als Natur entläßt, die Natur wird. Dann Entwicklung der Natur durch die Mechanik, Physik und Organik zum Menschen und in ihm Philosophie des Geistes, des subjektiven Geistes, des geistigen Subjektes als einzelnen genommen, des objektiven Geistes und des absoluten Geistes. Der erste zerfällt in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie, der zweite in Recht, Moralität und Sittlichkeit, die mit der Lehre vom Staat und der Weltgeschichte schließt, und der12 dritte in Kunst, Religion und Philosophie. Wir wollen den zweiten und dritten Teil der Philosophie des Geistes betrachten. Dritter Teil: Die Dialektik der Geschichte 1. „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig." 13 Der Sinn dieses Satzes im allgemeinen: (1) Das Vernünftige steht nicht über dem Wirklichen als ein bloß Gesolltes, Gefordertes wie bei Fichte, sondern es ist verwirklicht. Der Weltproceß selbst, Natur und Geschichte sind seine Verwirklichung. (2) Das Wirkliche ist nicht die Gesamtheit der Erscheinungen, nicht des Einzelnen, Zufälligen, sondern der dialektische Gehalt, den die Vernunft erkennt, den die Reflexion nicht sehen kann.- Dieser Satz gilt nun besonders für die praktische Sphäre. „Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und "

Folgt gestr.: Die Erkenntnis in ihrer Tiefe ist Offenba|rung],

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Hs.: die

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Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede (Theorie Werkausgabe, Band 7, S. 24).

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Organisation einer Welt entfaltender Geist."14 Der Staat ist für Hegel die Organisation des Sittlichen selbst, in der Macht und Moral, Familie und Gesellschaft zu ihrer vollkommenen Wirklichkeit kommen. „Der Staat ist objektiver Geist" heißt also: er ist das objektive Göttliche, er ist die Verwirklichung Gottes in der Sphäre des freien Handelns. Diese Auffassung ist der höchste Gegensatz zu der Trennung der Religion von der Moral, wie sie in den Formulierungen Schleiermachers und im Pietismus üblich ist. Das sittliche Gestalten ist Verwirklichung Gottes in der Welt. Aber freilich kommt es nicht dazu, wenn die Sittlichkeit identisch gesetzt wird mit der Moralität, wie die Aufklärung es tat und wie es bei Kant und Fichte nachklingt. Dieser Gegensatz von moralischem Gesetz auf der einen Seite und handelndem Ich auf der anderen gehört der Reflexion an und gehört in eine untergeordnete Sphäre. An ihr festhalten zu wollen, ist ebenso Eitelkeit des moralischen Ich, wie es Eitelkeit der Reflexion ist, nicht zur Dialektik fortschreiten zu wollen. Der Staat, dem die Familie und die bürgerliche Gesellschaft innewohnen als untergeordnete Elemente, ist Organismus der Sittlichkeit, er ist seiner wahren Wirklichkeit nach objektive Sittlichkeit, und nur durch das Hineinstellen in sie wird die Eitelkeit des moralischen Ich überwunden. Aber auch im Staat selbst kann die Reflexion und damit die bürgerliche Gesellschaft überwiegen. Der Staat kann wie in den westlichen Demokratien, die wesentlich bürgerlich-ökonomisch bestimmt sind, die Aufgabe haben, nur für Schutz und Eigentum zu sorgen, Polizeistaat zu sein ohne das Element des Geistigen. Er kann, wie Hegel sagt, als „der Laie an und für sich"15 aufgefaßt werden. Dann fällt alle Heiligkeit in die Kirche, und der Staat ist an sich geistund gottlos. - Aber eben dagegen opponiert Hegel im Einvernehmen mit lutherischer Tradition. Er wurde dadurch zum Vater des Staatskonservatismus, und sein Schüler [Friedrich Julius] Stahl zum Gründer der Partei: Die Idee des christlichen Staates. - Das andere Element in der Weltgeschichte (die Reaktionsbewegungen gegen den liberalen Staat). 2. Der absolute Geist offenbart sich in der Geschichte in den einzelnen Volksgeistern, in der Staatenbildung offenbart jeder Volksgeist seine Eigentümlichkeit. Zu jeder Zeit ist ein Volk das herr14 15

Grundlinien der Philosophie des Rechts, $ 270 (ebd., S. 417f.). Ebd., S. 424.

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sehende, weil es das W o r t der Zeit zu sagen hat. Die anderen folgen ihm und versinken in Bedeutungslosigkeit. Aber jede Bestimmung eines einzelnen Volkes ist endlich, weil es nur eine bedingte Form der Offenbarung zum Ausdruck bringt, und es wird abgelöst durch ein neues Volk. In diesem Sinne wiederholt Hegel immer wieder, daß die Weltgeschichte das Weltgericht ist, d.h. die innere Dialektik, die von einer Bestimmung zur anderen fortschreitet und jedem Volk seinen Platz anweist. Auch hier sind es im Grunde drei Stufen, deren innersten Kern die religiöse Entwicklung darstellt: 1. Das unmittelbare religiös naturgebundene, den Einzelnen in Unfreiheit haltende Bewußtsein: die orientalischen Staaten, in denen das Individuelle versinkt. 2 . Die zweite Stufe hat im Grunde drei Formen: die griechische, in der das Individuelle sich ausbildet, aber sich noch in Einheit glaubt mit der Natur; die römische, w o auf der einen Seite die abstrakte Rechtsgleichheit aller, die Ausbildung der Rechtspersönlichkeit, auf der anderen Seite die abstrakte Allgemeinheit, die Willkür ist, steht. Den Schmerz um den Untergang der Volksindividualität in dieser Einheit repräsentiert das Jüdische. 3. Endlich entstehen die germanischen Reiche, in denen die Subjektivität in sich selber die Versöhnung findet und damit das Princip der konkreten, erfüllten Freiheit erfaßt ist. Damit hat die Geschichte eine Heiligkeit erhalten wie nie zuvor. Der Vorsehungsgedanke hat eine reiche und tiefe Erfüllung bekommen. Der Kern der Geschichte ist Verwirklichung der Elemente des göttlichen Reichtums. Die Basis dafür sind die Naturanlagen der Völker, die trotz Willkür und Widerstreben ihr historisches Schicksal erfüllen müssen. Dieser Begriff des historischen Schicksals ist in der T a t der tiefste Ansporn des geschichtlichen Wirkens. Er ist der Träger des religiös begründeten Imperialismus, der sehr viel tiefer ist als händlerischer Machtwille, der ein wirklicher Glaube ist und darum siegt, während der bloße Machtwille, der nichts will als sich selbst, schicksalslos zerbricht. Der Abfall von diesem Glauben war das Verhängnis Deutschlands. In scheinbarem Gegensatz dazu das dialektische Princip, der Gedanke von M a r x , daß es nicht logische, sondern ökonomische Dinge sind, die den dialektischen Proceß der Geschichte bewirken. Der Klassenkampf mit dem Ziel der Aufhebung der ökonomischen

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Klasse. Dem Schicksalsbewußtsein des historischen Volkes entspricht dasjenige der historischen Klasse, des Proletariats. Auch hier wirkt die religiöse Kraft des Schicksalsbewußtseins und gibt der Bewegung den religiösen Schwung. So wird der andere Schüler von Hegel Begründer des politischen Sozialismus. Vierter Teil: Die Religion 1. In all dem Religion und zwar Mystik. Dieses liegt sowohl in der intuitiven Methode als auch in dem historischen Schicksalsgedanken. Es ist nicht die pietistische Mystik Schleiermachers, die sich auf das Religiöse als eine besondere Sphäre zurückzieht, sondern es ist die spekulative Mystik, die die Welt einbezieht. Es ist Mystik des Erkennens und Mystik des Handelns: Intuition und Schicksalsbewußtsein. Demgegenüber [ist] die Frage nach dem Wesen der Religion als einer besonderen Funktion im engeren Sinne sekundär. Sie ruht auf dem anderen und gibt ihm die letzte klare Antwort. Die Religion ist ein Teil der Philosophie des absoluten Geistes, deren erster Teil die Kunst, deren dritter die Philosophie ist. Während in der Kunst der Geist sich anschaut in unmittelbarer Einheit mit der Natur, wenn auch nicht als Natur, sondern als geistige Formung der Natur, schaut er sich in der Religion unmittelbar als Geist an, als Aufhebung der Einheit mit der Natur und Wiederversöhnung, aber in der Form der Vorstellung. In der Philosophie dagegen wird das, was in der Religion noch Vorstellung ist, zum Begriff, zur dialektischen Anschauung erhoben. Danach sind also auch Kunst und Philosophie religiös, sie sind Anschauungen des absoluten Geistes. Sie sind es aber einmal in sinnlicher, das andere M a l in begrifflicher Form. Die unmittelbare Form aber des Religiösen ist die Vorstellung, der auf subjektiver Seite das Gefühl entspricht. Religion ist Selbsterfassung des Geistes in Gefühl und Vorstellung. Sie ist die allgemeinste, jedem zugängliche Form des absoluten Geistes; sie ist schlechthin exoterisch, während Kunst und Philosophie esoterisch bleiben. Darum ist der Fortschritt von der Religion zur Philosophie auch nicht als eine Aufhebung zu denken. Aufgehoben wird nur die inadäquate Form der Vorstellung; aber die religiöse Haltung bleibt, und sie bleibt auch bei dem Philosophen, insofern er religiös ist, in der Form der Vorstellung, wie ja auch Kunst und Staat für ihn bleiben.

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2. (Citat I, S.l.) 16 - Diese Worte stärker und wuchtiger als Schleiermachers. Sie tragen den Universalismus des Religiösen in sich und sie zeigen auch, daß Hegel nicht daran denkt, die Religion in Erkennen aufzulösen. Dennoch ist seine Hauptbestimmung die der „Vorstellung", sie verbindet sich mit dem Gefühl. Aber das dialektischInteressante ist doch die Vorstellung. Diese ist die Auffassung des Göttlichen, des an sich Ewigen, in Worten, die der endlichen Sphäre entstammen und ein zeitliches Nacheinander ausdrücken, wie Schöpfung, Erhaltung, Menschwerdung, Unsterblichkeit oder Vater, Sohn, Zeugung. Diese Begriffe enthalten die konkrete Lebendigkeit des Religiösen, aber in unzulänglicher Form. Werden sie in der Dialektik betrachtet, so wird diese Unangemessenheit abgestreift, und es entsteht die vollkommene Anschauung im Begriff. 3. Das Centrum des Religiösen ist das Bewußtsein des endlichen Geistes um seine Einheit mit dem unendlichen Geist. Dieses Bewußtsein hat zwei Seiten, eine vom Standpunkt Gottes: Gott kommt im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst, und: der Mensch kommt zum Bewußtsein seines Seins in Gott. Religion ist Selbstbewußtsein Gottes. Aber der Weg dazu ist die Unterscheidung Gottes von sich selbst, sein Durchgang durch die Natur und seine Rückkehr zu sich in einem endlichen Bewußtsein. Der Mensch ist an sich das Bewußtsein Gottes; in der Religion aber weiß er auch, daß er es ist, und betätigt dieses sein Einssein mit Gott. Dieses ist vollkommene Mystik. Es klingen all die Gedanken wieder, in denen seit Eckehart die Einwohnung Gottes im Menschen und die paradoxe Abhängigkeit Gottes vom Menschen gesetzt ist. Hegels Religionsbegriff ist reine spekulative und intuitive Mystik. 4. Dieses ist der Begriff der Religion; aber dieser Begriff ist nicht unmittelbar erfüllt, sondern er erfüllt sich durch den Widerspruch hindurch. Darum wird die Mystik konkret, geschichtlich, sozial. Sie nimmt den Kampf, den Schmerz, die Entfremdung in sich auf. Die Stätte dieses Kampfes ist17 zunächst das einzelne Ich und die Gemeinschaft, wie sie im Kultus sich verwirklicht. Der Kultus ist die praktische Beziehung des Geistes auf Gott. Er ist von Seiten Gottes Gnade, von Seiten des Menschen Opfer. Dadurch wird die Entzweiung aufgehoben, die in dem Gegensatz von Subjekt und Objekt, in

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Nicht ermittelt.

17

Folgt gestr.: die Religionsgeschichte. Sie wird zweimal d u r c h g e f ü h r t

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der Vorstellung von Gott und Mensch als auseinanderseiend enthalten ist. Ziel: unio mystica, Versöhnung mit Gott. 5. Aber auch dieses gelingt nur in der Religionsgeschichte, die genial durchgeführt wird: I. Die Naturreligion. Gott ist in ihr identisch mit der Natur: Stufe der Unfreiheit des Geistes. In ihr findet sich die Religion der Zauberei: die Primitiven und Ostasiaten; die Religion der Phantasie: die Inder; die Religion des Lichtes: die Perser; die Religion des Rätsels: die Ägypter. II. Die Religion der geistigen Individualität. Erste Stufe Erhabenheit: Juden; zweite Stufe Schönheit: Griechen; dritte Stufe Zweck: Römer. Endlich die Stufe der absoluten Religion: Christentum. Im Christentum ist die Einheit erreicht. 6. Das Christentum wird nun trinitarisch gedeutet: Die Dreiheit der Elemente ist das Princip, nach dem die Dreieinigkeit gedeutet wird. (1) Gott an und für sich in Ewigkeit, die absolute Idee, das Reich des Vaters; (2) die Erschaffung der Welt, die Spaltung und Wiederversöhnung, das Reich des Sohnes; (3) die Gemeinde, in der das Bewußtsein der Versöhnung lebt, das Reich des Geistes. (1) Gott ist Geist. Daraus folgt die Dreiheit des Sich-von-sichUnterscheidens und Wieder-zu-sich-Zurückfindens. Dieses ist in der Logik vorgebildet, ist aber dort nur wie ein Spiel der Liebe mit sich selbst. Dieses ist Mysterium, weil es dem Reflexionsdenken nicht zugänglich ist, wohl ist es aber der mystisch-dialektischen Anschauung des Geistes offen. (2) D a s Spiel wird zum Ernst in der Setzung der Welt, dem Anderssein. Sie führt zur Trennung, die im selbstischen Einzelnen das Böse wird. Demgegenüber besteht die Versöhnung darin, daß Gott in die Form der Endlichkeit eintritt, daß die substantielle Einheit offenbar und anschaubar werde. Dieses muß in einem Einzelnen geschehen, der eben dadurch Gott-Mensch ist. Als Lehrer, als Prophet etc. ist Christus Mensch. Aber in seinem Tode ist er offenbar als Gott. D a s Endliche hebt sich auf, aber es wird eben damit mit Gott vereinigt: Auferstehung! Dieses nicht empirische, sondern Glaubensgeschichte. (3) Der Geist, die Wiederfindung der Gemeinde. Die Aufhebung der sinnlichen Seite der Erscheinung Christi, die zum Ausgangspunkt

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wird, und die Schaffung der Gemeinde, in der Gott unmittelbar ist und ohne die er nicht erkannt werden kann. Gott ist Geist für den Geist, und er wohnt ein als Heiliger Geist in der Gemeinde. Die Gemeinde aber hat drei Stufen: die des unmittelbaren Glaubens; die der Reflexion oder die Gebildeten; die der Philosophie, die sich wieder zusammenfindet mit dem Volk. Bedenken 1. Die Austreibung des irrationalen Willenselements und seine radikale Logisierung. Daraus folgend: (1) Die Aufhebung des Abgrundes in Gott. Die mystische Identität. Nicht Pantheismus und nicht Rationalismus. Denn die Identität geht durch den Widerspruch. Aber der Widerspruch ist dialektisch als aufgehoben gewußt, und darum kommt der Ton unwillkürlich auf das Ja. Dieses besonders, wenn die Dialektik statt als religiöser Akt als Methode gedeutet wird. (2) Offenbarung und Gnade da, im Einzelnen, wie in der Geschichte; aber auch er in Gefahr, aus der reformatorischen Paradoxie in das rationale Identitätsprincip zu rutschen. Dieses besonders in der Definition des Christus als Ausgang, nicht als Dauerbeziehung. (3) Die historische Dialektik, der Übergang von der Idee zur Natur, ist dialektisch nicht motiviert. Hier ist ein Sprung. Der aber ist nur möglich, wenn in der Idee a priori das Irrationale steckt! Ist das aber der Fall, so wird auch die Geschichte dynamisch. Das Irrationale bricht hervor in neuen Schöpfungen. Wir selbst werden Schöpfer, und alles geht durch unsere Freiheit. Damit aber nicht nur dialektische Fortschritte, sondern auch Rückschritte und eine Fülle von Zwischendingen. Nicht Dialektik, sondern Dynamik. (Schluß des Processes bei sich selbst) (4) Endlich starke Verwischung des Personalen und Individuellen trotz der Fähigkeit, Individuelles zu sehen. Entwertung der Persönlichkeit zum Durchgangspunkt des Processes. Verlust des ewigen Wertes der Persönlichkeit. 2. An diesen Punkten die Diskussion, in der die Schule sich auflöste. Sie war religiös, und sie mußte sich als solche im Religiösen auflösen. Die Hegeische orthodoxe und konservative Rechte, die Hegeische liberale und demokratische Linke mit Feuerbach und Strauß, dem Überleiten zum Materialismus.- Diese Entwicklung notwendige Konsequenz, sobald aus der Mystik die Schule wurde

402

und nun das Logisch-Rationale die lebendigen Produktivkräfte verschlang. Solche Systeme sind ein Ende, sie können nur errungen, nicht übernommen werden. Das aber ist der Triumph Hegels, daß der Dialektik gemäß der Gegenstoß von Natur und Materie, von Wille und Finsternis ausging und wir gegenwärtig um die neue Synthese ringen, die freilich eine eigne Schöpfung sein muß.

403

29. Die ökonomische Geschichtsauffassung, ihre geistigen Zusammenhänge und ihre gegenwärtige Umbildung Zum Text: Hs. in Vo Will (PTAH, 110:008). Der an erster Stelle eingetragene Text „Mythos und Metaphysik" (Nr. 2S) ist 1923 verfaßt worden. Die einzelnen Teile des Textes sind an verschiedenen Stellen des Heftes eingetragen und auf diese Weise auseinandergerissen. Die Zusammenstellung erfolgt durch den Herausgeber. Bedingt durch die vielen Streichungen, ist die Numerierung der Abschnitte uneinheitlich und wurde darum korrigiert. - Abfassungszeit dieses, an 4. Stelle eingetragenen Textes: 1923 oder 1924. Einleitung Keine ökonomische, keine politische Frage, sondern eine geschichtsphilosophische, d.h. eine Frage nach dem Wesen des historischen Processes. Diese Frage hat aber zwei Seiten. I. 'Die Ontologie des historischen Processes, das, was sich in der Geschichte entwickelt. II. Die Dialektik des historischen Processes die Art, wie es sich entwickelt. Querschnitt und Längsschnitt, Statik und Dynamik 2 . - Dieses alles aber nicht abstrakt, sondern gruppiert um eine konkrete Lösung, die als umbildungsbedürftig, aber im Wesen als richtig anerkannt wird, die ökonomische Geschichtsauffassung. I. Die Ontologie des historischen Processes A. Historisches 1. Der Name „ökonomische Geschichtsauffassung" ist mißverständliche Korrektur eines anderen Mißverständnisses: materialistische

1

Folgt gestr.: Das Subjekt

2

Folgt gestr.: III. Das Ethos des historischen Processes. Das Verhältnis von Freiheit und Entwicklung.

404

Geschichtsauffassung. Historischer Materialismus. Dieser Name Gegenbegriff gegen historischen Idealismus und nur aus ihm zu verstehen. Er selbst aber steht in Opposition zu dem metaphysischen Materialismus, so daß wir auf drei Fragen gedrängt werden: die idealistische, die metaphysisch-materialistische und die historischmaterialistische oder ökonomisch-soziologische Auffassung. Diese dritte unser Ziel. Sie selbst aber vieldeutig und bald metaphysischmaterialistischen, bald positivistischen, bald kriticistischen Einflüssen offen. Daß sie das ist und daß sie zugleich Symbol geworden ist, zeigt ihre Kraft und Bedeutsamkeit. (Die falsche Art, sie bürgerlich zu widerlegen. Die Ehrfurcht vor dem echten Metaphysischen.) Sie ist mehr als eine philosophische Theorie. Sie reicht in die Tiefen der Metaphysik und des Ethos herab, insofern diese Sinndeutung und Sinnerfüllung des Sinngrundes sind. 2. Die idealistische Geschichtsdeutung. Es kommt nur auf Hegel an, da er der Umschlagspunkt alles Vorhergehenden und Nachfolgenden ist. Ausgangspunkt für Hegel selbst Kant. Der Widerspruch zwischen den gültigen Formen und dem chaotisch ungeordneten Stoff. Der Geist als Träger der Form, der dem Stoff die Form aufprägt: in Naturanschauung, Gesellschaftsgestaltung und ästhetischer Anschauung. Hier der Gegensatz von Form und Stoff so, daß die Geschichte nur als unendlicher Proceß gedeutet werden kann, über dem die unendliche Forderung steht. Besonders klar bei Fichte und seiner Lehre von der unendlichen Einschränkung des Nicht-Ich durch das Ich. Hier ein unendlicher Proceß, ein mächtiges 3 Fortschrittspathos, aber keine Geschichte, die als solche Bedeutung hat. Das verborgene utopische Element darin. 3. Die Kritik der Urteilskraft und ihre Synthese im Organischen und Ästhetischen. Bei Kant paralysiert durch die Idee des Regulativen. Bei Goethe, Schiller und Schelling die Realisierung der Idee in der Wirklichkeit. Die individuelle Organismusidee. Die Einheit von Stoff und Form in ästhetisch-mystischer Harmonie. Hier die Wurzeln der romantisch-konservativen Staatsidee. Analog die romantisch-katholischen Gesellschaftslehren in Frankreich. Historischer Blick, aber ohne historische Dynamik. Auch hier noch keine eigentliche Geschichte. Immerhin die Einheit von Natur und Geist als mögliches Substrat. (Der verborgene, übergreifende Standpunkt. 4 ) 3

Folgt gestr.: revolutionäres

4

Folgt gestr.: und die Absolutheit der G e g e n w a r t .

405

4. Bei Hegel die Einheit von beiden. Darum hier der eigentliche Anfang der Geschichtsphilosophie. Die Dynamik des Fortschritts verbunden mit der Bejahung des Einzelnen.5 Träger des Processes ist das Allgemeine, das sich im Einzelnen, Endlichen verwirklicht. Das Allgemeine, die Einheit der geistigen Form, ist die Idee. Diese ist nicht so schwach, daß sie immer im Jenseits, in der Forderung verharren müßte. Sie ist da im Einzelnen. Aber nicht im empirischen, zufälligen Einzelnen, sondern in der wesentlichen Wirklichkeit (nur dieses, das Vernünftige, ist wirklich), die sich darstellt in den Volksgeistern, deren grundlegende Ausdrucksform der Staat ist. Die verschiedenen geistigen Ideen sind realisiert in verschiedenen Volksgeistern. Hier zum ersten Mal das Unterbau-Überbau-Problem. Der biologische Machtwille tritt in den Dienst der Idee, mit der er in einer positiven Affinität steht. Insofern er aber widerstrebt, führt das Licht der Vernunft zu ihrem Ziel. Oberbau und Unterbau werden zusammengeschlossen durch den profanisierten6 Vorsehungsgedanken (der auch im Hintergrund von Fichte steht). Jedes Volk hat sein historisches Schicksal. Volksgeist ist das mythische Symbol für die Einheit7 von Idee und Basis. Dahinter aber steht der Weltgeist (die Einheit von Idee und Gesamtbasis), der den ganzen Proceß im Verborgenen nach logischen Principien leitet. Darin liegt das idealistische Element dieser stark realistischen Auffassung und das letztlich Unhistorische, insofern es das Schöpferische ausschaltet. 5. Gleichzeitig die Historisierung der Gesellschaftslehre in Frankreich durch St. Simon und Comte. An Stelle des Staates die Gesellschaft und damit Hervortreten des Ökonomisch-Soziologischen. Soziologismus gegen Etatismus. An Stelle des logisch-metaphysischen Hintergrundes die Stadien des Fortschritts zur positiven Wissenschaft. Auch darin ein historisches Schicksal, das aber im Hintergrund bleibt und nicht logisiert wird (der Vorsehungsglaube des Positivismus). 6. Die Feuerbachsche Opposition gegen Hegels Lehre vom Weltgeist. Nicht er das Reale, sondern der menschliche Geist mit seinem Unendlichkeitsstreben. 'Die Idee als Projektion des menschlichen* 5

' 7

* 9

Folgt Folgt Folgt Folgt Folgt

gestr. Dieses vereinigt in Form der Dialektik (s.u.). gestr.: lutherischen gestr.: dieses Schicksals gestr.: Das Geistige gestr.: Triebes

406

unendlichen Strebens. Entstehung des Begriffs der Ideo-Logie. (IdeoLogie = Setzung von Realitäten, die keine andere Realität haben als Zustände des Subjekts.) Das Reale ist der Mensch als Gattung. 10Das Historische als Entfaltung des Gattungsmäßigen". Die Möglichkeit einer materialistischen12 Umdeutung: das menschliche Triebleben als Exponent des Naturprocesses ist das Reale. Dieses die Linie, die zum Vulgärmaterialismus führt, bei Feuerbach aber noch nicht da ist. Seine Auffassung eher Anthropismus oder Humanismus. 7. Dagegen Marx und Engels, die eigentlichen Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung. Gegen Hegel und Feuerbach. Auch die Gattung Mensch ist noch13 Ideo-Logie. Aber auch der Materialismus ist eine falsche Metaphysik. Real ist allein der konkrete, gesellschaftliche Mensch, dessen Grundfunktion das ökonomische Produzieren ist. Die frei producierende Gesellschaft ist auch dem Staat gegenüber das Reale. Also Einwirkung des Gomteschen Soziologismus. Materialistisch ist diese Geschichtsauffassung, insofern sie das Substrat der Geschichte nicht in der logischen Form, sondern in der Materie, der konkreten, wirtschaften [den] Gesellschaft sieht. Darum ist es richtiger, sie soziologisch zu nennen, da unter Materie gegenwärtig das Substrat der physikalischen Gesetze verstanden wird. Der ökonomisch-soziologische Unterbau wirkt sich nun zunächst aus in der Bildung der Staats- und Rechtsformen, sekundär in Wissenschaft, Kunst, Religion. 8. Das Verhältnis nicht zu deuten als Reflexverhältnis, also nicht materialistisch. „Der Mensch macht die Umstände, und der Erzieher muß selbst erzogen werden". Der eigene Sinn der übrigen Wirklichkeit, z.B. der Wissenschaft, die ja Voraussetzung der ökonomischen Geschichtsauffassung ist, wird nicht bestritten. Aber es wird seine eigene historische Kontinuität bestritten; eine solche hat allein das Ökonomische. Nur was auf dieser Basis möglich ist, kann realisiert werden. Das Denken geht nicht ins Blaue; es drückt Sein aus. Aber das Sein des historisch-soziologischen Menschen. Das ist seine Wahrheit. Nur insofern weiß die ökonomische Geschichtsauffassung sich

10

Folgt gestr.: D a m i t ist das Historische aufgehoben zu Gunsten des Gattungsmäßigen

"

Folgt gestr.: und es entstand

12

Folgt gestr.: Fortführung, in der das Geistige sich selbst zu Gunsten seines letzten rationalsten Produktes aufhob.

13

Folgt gestr.: abstrakt

407

als die Wahrheit ihrer Periode, der kapitalistischen. (Darin ist [sie] konsequent; denn darin läßt sie sich analytisch formulieren: Das Primat des Ökonomischen ist die Wahrheit der ökonomischen Epoche.) Soweit sie darüber hinausgeht, wird sie mit Recht unsicher. Für14 die übrigen Zeiten15 ist sie ein methodisches Princip, das immer" zur Frage treibt: Welche Funktion hat das Ökonomische in der Gesamtheit der Funktionen? Wird dieses dogmatisch gefaßt, so hebt sich die ökonomische Geschichtsauffassung selbst auf. Hier das erste Problem. 17

B. Principielles

1. Die letzten Bemerkungen nicht nur Darstellung, sondern auch Fortbildung. Dieses hier infolge der Ungeklärtheit der Begriffe notwendig. 14 15

" 17

Folgt gestr.: alle Folgt gestr.: aber Folgt gestr.: weiter angewendet wird, auch wo man sich nur ihre Ursachen Folgt gestr.: Principielles 1. Wir haben die ökonomische Geschichtsauffassung im Geist ihrer Urheber gegen die materialistische Mißdeutung verteidigt. Ebenso müssen sie gegen moderne positivistische und pragmatische Mißdeutung geschützt werden. Der Pragmatismus sieht die Wahrheit in der biologischen Zweckmäßigkeit, während Marx eine Wahrheit hat, die Identität von Denken und soziologischem Sein ist. Und nur weil sie das war und keine Philosophie des Als ob, konnte sie so ungeheuer pragmatisch sein. Sie ist aber auch nicht Positivismus. Der Mensch, den sie sieht, ist eine eigentümliche soziologische Gestalt, eine Struktur, die hinter den Erscheinungen liegt und den analysiert zu haben die größte Meisterschaft von M a r x ist. Es ist echte Gestaltschau, die Marx treibt. Und das ökonomische Princip selbst ist eine Gestaltschau. 2. Dagegen müssen wir hier die Abhängigkeit von einem heterogenen Begriff feststellen, dem der Kausalität. Im Uberbau-Bild steckt das noch nicht. Aber in der Ausführung, nach der die Verschiebung des Unterbaus solche des Uberbaus zur Folge hat. Hier ist noch eine undialektische Abstraktion; die Selbständigkeit der drei Schichten, die dann durch die Kausalität äußerlich aufgehoben wird. In dem konkreten Menschen aber ist alles in einer die Kausalität ausschließenden Einheit der Gestalt. Der konkrete Mansch ist die soziologische, alle Funktionen tragende Gestalt. Kausalität innerhalb der Funktionen sind richtige, aber abstrakte Betrachtungsweisen, wie die Kausalität im Physischen und Biologischen. Möglich ist die Kausalität nur durch Gestalteinheit. Sonst, wie Max Weber gezeigt hat, bei gleicher Außenlage (Übervölkerung, Bodenlage etc.) völlig andere ökonomische Verhältnisse. Woher diese? Aus der Gesamtstruktur! Also nicht Überbau-Unterbau, sondern Gestalteinheit, wobei das ökonomische das Breiteste, Eindringlichste, für alle gleich Mächtige, aber nicht das Einzige ist. 3. Die Gestalt aber hat in sich zwei Pole, in denen sie ruht und die ins

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Z u n ä c h s t s c h a r f z u f a s s e n der k o n k r e t e s o z i o l o g i s c h e W a h r h e i t s u n d G e i s t g e d a n k e : d i e G e i s t e s f u n k t i o n e n s i n d A u s d r u c k der W i r k l i c h k e i t . Sie ä n d e r n s i c h m i t der W i r k l i c h k e i t . Es g i b t k e i n e abstrakten G e l t u n g e n . D a s ist der v o n d e m L o g i s m u s befreite, irrational g e w o r d e n e , dynamisch-dialektische Wahrheitsgedanke und

Geist-

g e d a n k e : J e d e r G e i s t e s a k t h a t s o v i e l R e a l i t ä t , w i e er W i r k l i c h k e i t z u m A u s d r u c k bringt. D i e W i r k l i c h k e i t a b e r verändert sich u n d , w e n n a u c h n i c h t die N a t u r - w a s z w e i f e l h a f t bleibt - , s o d o c h die G e s e l l s c h a f t u n d ihr V e r h ä l t n i s z u r N a t u r u n d d a r u m a u c h d i e M e t h o d e n ihrer N a t u r e r f a s s u n g .

Metaphysische dringen. Auch die materialistische Geschichtsauffassung hat eine Metaphysik, die Setzung einer Wirklichkeit als unbedingte: die Natur und die Gesellschaft. Ebenso der Positivismus, der die Erscheinungen metaphysiciert. Wir wollen eine bewußte Metaphysik. Diese reicht einerseits ins Materialistische, andererseits ins Idealistische. Einerseits die biologischen Urkräfte Wille zur Macht und Eros, die erst von der von Schelling ausgehenden irrationalistischen Bewegung gesehen sind und an denen alle rationalen Anschauungen, Hegel und Comte, vorübergegangen sind. Diese Potenzen aber sind die in jedem Augenblick tragenden, schöpferischen Kräfte, die sich in alles ergießen und die Basis aller Formung ergeben. Mit ihnen trifft zusammen eine Formidee, die irgendwie sinnvoll ist und darum mit den übrigen sinnvollen Formen einem Sinngrund zugehört, der freilich nicht logisch, aber doch Grund eines sinnvollen Zusammenhanges ist. - Man spricht von Kunstwille, Wirtschaftswille etc. Darin liegt - schlecht rational ausgedrückt - die substantielle Gestalteinheit, die aus einer irrationalen Wurzel zur rationalen Form drängt. Auf der Einheit beider ruht das historische Schicksal einer soziologischen Gestalt. Alles Verstehen heißt die Symbole dieser konkreten Tiefe auf den verschiedenen Gebieten zu suchen, von denen ein [Gebiet] immer entscheidend ist und in der Geisteslage von Marx das ökonomische zweifellos entscheidend war. Dieses ist dann das im Tiefsten religiöse Symbol einer Zeit, wobei das eigentlich Religiöse sehr wenig Symbolkraft für diese Gestalt haben kann, vielmehr sie hindert. Daher dann die scharfe Opposition, die von einem schöpferischen Willen engerer Symbolik aus berechtigt ist, von der sinnhaften Einheit der Gestalten und Funktionen aber nur ein bedingtes Recht hat. 4. Ebenso in der Erkenntnis. Die Gestaltlehre [ist] wie die ökonomische Geschichtsauffassung nur möglich, wenn Gültigkeitsbewußtsein, d.h. Glaube an den Sinngrund, auf dem der übergreifende Zusammenhang beruht. Dann Ausdruck und doch Wahrheit, nämlich lebendige, dynamische schöpferische Wahrheit. - Aufhebung der Isolierung der Erkenntnisfunktionen und vor allem der Erkenntnis- und Lebensfunktion. Dieses die stärkste Kraft der Methode. Die Praxis in Einheit mit dem Erkennen. Die Wahrheit als ein Element der Realität, die aktive Einheit von Denken und Sein. Wir erkennen nur uns selbst. Unser Wissen reicht nicht weiter als unser schaffender Wille; nur in der Tiefenrichtung reicht er weiter, aber im Symbol. Die Trennung ein Symbol des gegenständlich ökonomischen Zeitalters und insofern eine Fortbildung über dieses hinaus. Damit der Proceß ...

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Dieses nicht materialistisch; denn der Geist bleibt Ausdruck der Wirklichkeit, wahrer Ausdruck (z.B. Recht, Kunst, Sitte, deren formaler Wertcharakter dadurch nicht angetastet wird, daß die Inhalte lebendig, bluthaft, real sind). - Aber auch nicht pragmatisch. Dieses nur, wenn den Ideen keine Realität entspricht, sondern sie nur Zweckfunktionen sind - aber für wen? Leben, Gattungen, Gesellschaft sind komplicierte Geistprodukte, also auch Fiktionen. So löst sich die Philosophie des Als-Ob in sich selbst auf. 2. Wahrheit ist Ausdruck der wechselnden Realität. Welches ist diese Realität? Der vergesellschaftete und in Gesellschaft producierende Mensch! Die Art der gesellschaftlichen Production ist der ökonomische Unterbau. Verändert er sich, so verändern sich nachfolgend die rechtlich-politischen, dann die geistig-religiösen Ausdrucksformen. Das ist wesensmäßig notwendig und ändert nicht ihren Wahrheitscharakter. Ideologie im schlechten Sinne sind sie nur, insofern sie der wahren Realität nicht mehr adäquat sind. Alles Interesse liegt also auf der ökonomisch-gesellschaftlichen Form. Hier ist aber zu unterscheiden zwischen den unmittelbaren Gegebenheiten und der geistigen Formung der gesellschaftlichen Produktion. a. Die unmittelbaren Gegebenheiten sind alle Naturvoraussetzungen von der Astronomie und Geographie der Erde bis zur biologischen, psychologischen und soziologischen Gestaltlehre und ihre in jedem Moment individuellen Veränderungen des gesamten biologischen Trieblebens und seine centralen Impulse. Macht und Eros, und dieses ganz individuell, liegen im Hintergrund der sozialen Ökonomie. In den Eros- und Mächtigkeitsbeziehungen konstituiert sich die Gesellschaft. Die allgemeine Form dieser Konstitution entwickelt die allgemeine Soziologie. b. Aber diese Betrachtung ist eine ungeheure und sehr schwierig durchführbare Abstraktion. Denn im wirklichen Aufbau der Gesellschaft wirken Eros und Machtwille nicht als blinde chaotische Naturkräfte, sondern als Träger eines Bewußtseins um die tiefste Sinnhaftigkeit des Lebens und um einzelne gültige, unbedingt sinnhafte Sphären, in denen sich diese Sinnhaftigkeit ausdrückt respektive realisiert. In jeder wirklichen Gesellschaft ist dieses Bewußtsein vorhanden und mit ihm18 die Intention auf Realisierung des Sinnes in

1,1

Hs.: ihr

410

verschiedener Richtung, unter anderem auch in ökonomischer. Damit aber bekommt die Produktion eine sinnhafte Gestaltung. c. Das ist nicht die technische Gestaltung. Diese ist rationale Fortbildung der Lebensorgane und ist in der Gesellschaft mithin abhängig von der inneren Zwecksetzung; um diese handelt es sich. Drei Fragen: 1. Was und wieviel soll produciert werden? 2. In welcher Art des Zusammenarbeitens soll produciert werden? 3. In welcher Art der Verteilung soll konsumiert werden? Diese Fragen sind aber nicht rational gestellt, sondern sie brechen wie alle Richtungen der Formgebung aus der Tiefe des Sinnbewußtseins hervor. d. Die ökonomische Gesellschaft ist also die ein Sinnbewußtsein realisierende Gesellschaft in ökonomischer Beziehung. Die Art der gesellschaftlichen Produktion ist keine frei schwebende metaphysische Realität, sondern eine Ausdrucksform für die konkrete Realität der von irrationalen Kräften getragenen und auf ihrem schöpferischen Boden einen bestimmten Lebenssinn verwirklichenden und darstellenden Gesellschaft. 3. Der ökonomische Trieb ist einerseits der Ausdruck einer Lebensnotwendigkeit wie das Atmen. Ist er befriedigt, so entsteht ein Überschuß, der sich sofort mit anderen Trieben verbindet, die sämtlich um Eros und Macht pendeln. Er kann aber auch mit diesen in Widerspruch geraten und ist dann keineswegs der stärkste. Sobald der geringste Überschuß da ist, sind Macht und Sexualität stärker. All dieses aber in seinen Verbindungen und Widersprüchen ist Material, das als solches überhaupt keine Kausalität hat. Die bekommt es erst in Verbindung mit der Sinnform, also der Sozialform, der Staats- und Rechtsform des Producierens. Erst das ist ein „Bau" und kann darum ein Unterbau sein. Vor dem Bau aber liegt der Baugrund, der zwar den Bau nicht wirkt, aber ihn ermöglicht oder hindert. Das sind die individuellen Unmittelbarkeiten biologischer, psychologischer und soziologischer Art, die nur eine Naturform, keine Geistform haben. Der Bau selbst aber ist getragen nicht vom Unterbau, auch nicht vom Baugrund, sondern von dem Bauwillen1', dem inneren Sinn des Baus, für den alle Teile zugleich Verwirklichung und Ausdruck sind. "

Folgt gestr.: Bauidee

411

4. In diesem Sinne ist dann freilich das ökonomische Unterbau. Es ist die breite massive Basis; denn das Ökonomische ist einerseits wie das Atmen notwendig, andererseits geistig bestimmbar in seiner sozialen Durchführung. Das gibt ihm seine Schwere und Unentrinnbarkeit. Aber auch hier besteht keine einfache Kausalität von Oberbau und Unterbau. Der gleiche Unterbau läßt manche Spielarten zu, wenn auch letztlich eine Bauidee allein ganz sachgemäß ist. Aber eben diese Idee ist es, die sich ändert und mit ihr alle Teile mehr oder weniger schnell —, womit das Bild ins Wanken gerät. Daraus folgt: a. Es gibt auch keine geschlossene Kausalität der gesellschaftlichen Ökonomie, sondern es gibt Sprünge wie in allen anderen Funktionen; die geschlossene Kausalität ist die Dialektik der Sinnerfassung des Lebendigen. b. Der Unterbau braucht keineswegs der stärkste Ausdruck der Sinnerfassung zu sein; er kann klein und ausdruckslos sein. Er kann aber auch alles andere in sich versenken und höchstens] dem Dachpavillon der Kunst die Oberbau-Würde gönnen, wie zur Zeit. 5. Letzte, also metaphysische Realität ist demnach die sich selbst in ihrer Sinnerfassung darstellende Gesellschaft, einschließlich des naturalen Lebensstromes, aus dem sie hervorgeht. Normalerweise kommt diese Sinnerfassung am unmittelbarsten da zum Ausdruck, wo sie intendiert ist, in der Religion. Aber das ist nicht notwendig, auch die übrigen Funktionen können die Stelle der Religion einnehmen und maßgebender Ausdruck des Lebenssinnes werden. Damit ist dann freilich das Sinnverhältnis verbogen, aber es ist durch Hypertrophie der Sonderfunktionen der Hypertrophie der aktuellen Religion entgegengewirkt. In einer solchen Zeit werden die religiösen Symbole innerlich unwahr, d.h. ideologisch. Ihre Ideologie beruht also nicht auf ihrem Symbolcharakter. Dieser ist wahr, insofern er die Lebensrealität einer Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Alle Gottesbegriffe sind Symbole des Sinngrundes, und sie sind transcendent, insofern der Sinngrund unerschöpflich und die Sinnforderung, die von ihm ausgeht, unbedingt ist. Der Sinn jeder konkreten Gesellschaftslage ist tiefer als die Summe der "empirischen Wirklichkeiten; das ist die Tiefe des Lebens, seine Sinnhaftigkeit, die auch in den Utopien des materialistischen Fortschritts noch nachklingt.

20

Folgt gestr.: konkret

412

6. Damit das letzte Problem, die Einordnung der Theorie des soziologisch-dynamischen Wahrheitsgedankens in den Proceß selbst. Dieses das Kriterium jeder Dynamik. Welche Gültigkeit hat der Gedanke für den ganzen Proceß, wenn er selbst der Ausdruck eines Momentes des Processes ist? Die Präponderanz des ökonomischen kann als zeitliches Phänomen gedeutet werden. Aber der dynamische Wahrheitsgedanke selbst steht in Frage. - Hier die gegenwartsutopische Lösung: Das endlich offenbar gewordene Geheimnis des ganzen Processes. So bei Hegel. So vielfach im Marxismus: der ökonomische Endzustand, um den das Proletariat weiß, das infolgedessen die ganze Geschichte und damit die Wahrheit undialektisch durchschaut. Dieses aber noch form-philosophisch: a. Nicht-Erkenntnis der Unendlichkeit des Sinngrundes. Seine Einssetzung mit einer Idee. Darin ideologischer Rest. b. Nicht-Erkenntnis des irrationalen Bodens, der individuellen Macht- und Eros-Kräfte, die schöpferisch-bluthaft die Sinn-Unerschöpflichkeit darstellen. Dagegen: a. Die Einwohnung des Sinngrundes in jeder schöpfenden Sinnerfassung, abgestuft nach seiner schöpferischen Symbolkraft. b. Die übergreifende Einheit des Sinnes und Lebens, die das Verstehen vergangener Schöpfungen ermöglicht, wobei aber alles Verstehen doch immer ein neues Sinnerfüllen ist; und so mag auch der dynamische Wahrheitsgedanke von kommenden Zeiten neu verstanden und neu sinnerfüllt werden. 7. Wir entnehmen also dem statischen Teil der ökonomischen Geschichtsauffassung den konkret-dynamischen Wahrheitsgedanken, dessen konkretestes Moment die Art der gesellschaftlichen Produktion ist, der Unterbau der sozialen Schöpfung. Wir erweitern ihn aber nach unten zu dem irrationalen Boden des unmittelbaren Lebens mit Eros und Mächtigkeit und wir verstehen ihn von innen als Ausdruck einer Sinnerfassung des Lebendigen in all seinen Teilen. Wir können deswegen auch dem Oberbau, der krönenden Kuppel, die Bedeutung wiederschenken, die ihr wesensmäßig zukommt: der symbolkräftigste Ausdruck des Ganzen zu sein. Die innere Kraft des konkret-dynamischen Geist-Gedankens ist diese, daß er in stärkster Einheit mit dem Handeln steht, daß wir die Wahrheit nicht nur suchen, sondern auch schaffen.

413

II. Die Dialektik [des historischen Processes] A. Historisches 1. Der Fehler der bisherigen Betrachtung: die Isolierung21 des Aufbaus. Die Korrektur: daß kein Zeitalter wirklich durch einen Aufbau exklusiv charakterisiert ist. Es gibt nurTendenzen im historischen Proceß. 22 Bau und Gestalt sind vorhistorische Kategorien; sie unkorrigiert auf die Geschichte anzuwenden, führt zu falschen Abgeschlossenheiten, 23 oder man spricht von ständig sich verändernden Gestalten, die dann nicht mehr Gestalten sind. Die eigentlich historische Kategorie ist die Dynamik. An ihr muß sich die ökonomische Auffassung bewähren. Die „Gestalten" der Perioden sind die symbolisch stärksten Tendenzen, als vollendete Gestalten gedacht. 24 2. Marx hat Hegels Dialektik übernommen, sie aber in eine Realdialektik der Geschichte verwandelt. Darin zeigt sich insonderheit der unmaterialistische, unpositivistische und unpragmatische Charakter von Marx. Er sieht d i e " Srnweinheit der Geschichte 26 , nicht nur den kausalen Ablauf. Und er sieht die innere Lebendigkeit der Antinomien, die nicht positivistisch sind. Darum hat auch hier der Vulgärsozialismus mit Hülfe des Vulgärmaterialismus Opposition gemacht. Es gibt Bücher für und gegen Marx, in denen dieser für ihn schlechthin grundlegende Begriff überhaupt nicht vorkommt. Damit aber ist der Lebensnerv abgeschnitten. 3. Hegels Dialektik beruht auf dem Widerspruch aller endlichen Dinge, der über sie hinausführt. Dieser Widerspruch ist wesentlich ein logischer, der aber in der Realität sich als auflösende und weitertreibende Kraft auswirkt. Damit bekommt das Geschehen eine logische Notwendigkeit transcendenter Art. Schon Schelling hatte den irrationalen Sprung gesehen, der hier vorliegt und der nicht aus dem Denken ableitbar ist. Er hatte deswegen einen Irrationalismus geschaffen, der mit dem Sprung und der Kontingenz arbeitet, darum aber den Konservativismus supranaturaler Art gestärkt hat und sich erst jetzt mit realdialektischen Motiven vereinigen kann. Bei Marx

21

Folgt gestr.: der Gestalten

22

Folgt gestr.: Gestalt ist eine

23

Folgt gestr.: wenn man nicht gar Typenlehre

24

Folgt gestr.: Hier jeder schlechte Empirismus unmöglich.

25

Folgt gestr.: reale

26

Folgt gestr.: genau wie Hegel

414

wird daraus die innergesellschaftliche Dialektik, und diese ist vom ökonomischen Standpunkt notwendig die Klasse. Die Klasse ist die ökonomisch bestimmte soziale Gruppe. - Sie unterscheidet sich von der ständischen und nationalen durch den rein ökonomischen Charakter. Insofern Marx das Ökonomische universal setzte, wandte er dieses Princip überall an, mit durchschlagendem Erfolg aber (seiner eigenen Methode entsprechend) nur bei seiner Epoche. Sonst ist es immer Tendenz, aber nicht immer die Gestalt bestimmende. Aber auch gegenwärtig zahlreiche Ausnahmen ständischer und nationaler Art. Auch hier nur maßgebende Tendenz. Aber dieses in einem solchen Maße, daß das Wesen unserer Realantinomie der Klassenkampf ist.27 4. Die Tiefe 28 der dialektischen Geschichtsauffassung liegt in der eigentümlichen Verbindung von Notwendigkeit und Freiheit29. Dialektische Notwendigkeit ist nicht kausale Notwendigkeit, sondern Sinnnotwendigkeit, die immer zugleich freie Sinnerfassung ist. Das historische Schicksal muß kommen, aber es kommt nur durch uns. Es steht dialektisch jenseits von M Zufall und Notwendigkeit. Historische Freiheit = Schicksal. Damit ist es ein nicht-historischer Begriff.31 Er ist eine Form des echten religiösen Prädestinationismus, der individuelle und der soziale. Denn auch dieser ist nur im gegenständlichen Denken in der Undialektik deterministisch. Sonst ist es ein typisch schöpferischer, die rationalen Antithesen durchbrechender Begriff. Nur so erklärt sich seine religiös-dynamische Kraft. 5. So erklärt sich aber auch die Kritik von Seiten des Materialismus und Kantianismus: der Vulgär- und Reformmarxismus. Hier wird die Dialektik gedeutet einerseits als Methode der Erforschung, nicht aber als Realdialektik. So die Kantianer, die damit vor Hegel zurückgehen und an Stelle des sich realisierenden Glaubens die Ethik und die Reform setzen. Oder aber man macht in mehr materialistischem Sinn die ökonomischen Gesetze zu an sich seienden Wesenheiten, die mit Naturnotwendigkeit zum Sozialismus führen, und begnügt sich mit provisorischer Taktik. Also Zerfall in

27

Folgt gestr.: und das Ziel die Aufhebung der Klassen überhaupt.

21

Folgt gestr.: dieser Auffassung

29

Folgt gestr.: in der Dialektik

10

Folgt gestr.: Freiheit

11

Folgt gestr.: und einer, der jenseits der ö k o n o m i s c h gegenstandlichen Epoche steht. Er hat genauso religiös gewirkt wie der

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Determinismus und 32Ethik oder Mechanismus und Taktik. Damit die kapitalistische Haltung eingedrungen, die einerseits undialektisch ist. 6. Die neueste Antikritik sucht den dialektischen Charakter im echten Sinne wiederherzustellen. Sie ist die Voraussetzung dieser Darstellung und die eigentliche Kritik am Marxismus, die antivulgärmarxistische. - Die Formel vom wissenschaftlichen Sozialismus, die wissenschaftlich gegenständlich beweisen soll, was kommt, eine physikalische Konstruktion, im besten Fall eine medizinische Diagnose ist. Dieses aber gerade die Wissenschaft, die in der dialektischen Methode überwunden ist.33 32 33

Folgt gestr.: Utopie Folgt gestr.: B. Principielles 1. Die Realdialektik muß anknüpfen an diejenigen Tendenzen, die am stärksten sind in einer Zeit. Das können die ökonomischen, es können auch andere sein, niemals aber ist es ohne Mitschwingen des ökonomischen. Der immer gegenwärtige Machtwille ist immer auch ökonomischer Wille, wo es sich um gesellschaftsgestaltende Bewegungen handelt. Es handelt sich um Dialektik der Gestalten als ganzer. Dabei erhebt sich das Problem des Überganges, das in der Antithetik Revolution oder Evolution theoretisch und praktisch verhandelt wird. Dieses z.T. in der Form diskutiert, ob und wann Quantität in Qualität übergeht. So z.B. in den Aggregatzuständen. So auch im Darwinismus. Aber bei diesem Übergang ist nicht die Quantität, sondern die Qualität das Bestimmende. Das Neue kann niemals aus dem Alten erklärt werden. Es bricht durch, wenn gewisse Spannungen eine Höhe erreicht haben; aber es ist nicht eine Entwicklung des Alten. Darum kann das Neue nur durch eine Strukturänderung, nicht durch quantitative Korrekturen werden. Der Gestaltbegriff macht die Dialektik unter allen Umständen revolutionär. Tier und Mensch als Revolution in der Natur. Die griechisch-philosophische Revolution. Die christlich-antistaatliche, die reformatorisch-antikirchliche, die kapitalistisch-ökonomische und ihre politischen Auswirkungen bis jetzt. Aber niemals möglich ohne daß die Quantität vorgearbeitet hat, daß die andere Struktur als verborgene Wirklichkeit da ist und nun manifest wird. Darum noch keine neue ökonomische Revolution, sondern lediglich Teilhaben der Arbeiter an der bürgerlich-politischen Macht, aber in der alten Struktur. Und in Rußland Rückkehr zur alten Struktur resp. Verbindung mit vorkapitalistischen Dingen. Dennoch dieses wichtig als Quantitierung. Die englische Entwicklung dieser Tage, die offenkundig keinerlei Strukturänderung bedeutet. 2. Die Dialektik keine mechanische Notwendigkeit. Es gibt nicht nur Umschlagen, sondern auch Zurückschlagen. Aber dieses ist auch nicht Zufall, sondern historisches Schicksal, d.h. es geht durch unsere Freiheit. Es gibt auch keine unendliche Dialektik. Wie die Natur im Menschen nicht weitergekommen ist, so kann auch der Mensch zur Erschöpfung kommen, und auch dieses ist historisches Schicksal, dasjenige, das die Geschichte beendet. - Hier geht die bisher isolierte soziologische Gestalt ein in die universalere biologische

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B. Principielles 1. Es handelt sich um die Frage der Realdialektik. Dieser Begriff schließt folgendes ein: Es handelt sich nicht um logische Dialektik. Es ist also nicht möglich, auf dem Wege einer dialektischen Idee den Geschichtsprocess zu deuten. Es handelt sich aber auch nicht um Kausalität. Es ist ebensowenig möglich, ein nach bestimmten Gesetzen ablaufendes oder auch einmalig-positives Kausalgeschiebe darzustellen. Sondern es handelt sich um einen realen sinnvollen Entwicklungsbegriff. Weiter ist gesagt, daß diese Entwicklung nicht ein einfacher, gradliniger Ablauf ist, sondern daß er durch innere Widersprüche weitergetrieben wird. Damit ist gesagt, daß die einfachen Unmittelbarkeiten der Erosund Macht-Tendenzen keinen dialektischen Proceß begründen können. Hier würden nur ununterbrochen reale Gegensätze in kontinuierlichem Fluß auftauchen und sich ausgleichen. Dieses alles würde in Form der ruhenden Kausalität des Gestalthaften vor sich gehen. Aber historische Dialektik käme so nicht zu Stande. Dazu gehört die geistige Form und das Sinnbewußtsein, das auf der Basis der unmittelbaren Gegensätze sich verwirklicht. Erst wo Tendenzen auf Sinnphysikalisch-astronomische und damit kosmische überhaupt. Alle diese Beziehungen gehören zu dem historischen Schicksal und machen es trotz der Dialektik, die die eigne Aufgabe bestimmt, unübersehbar für mechanische Konstruktionen. 3. Die Frage des historischen Zieles. Sowohl bei Hegel wie bei M a r x und im Westen ein universales Ziel. Dort romantisch-konservativ: die Logik ist fertig (im preußischen Staat); hier vorwärtsdrängend, aktiv-rational, realdialektisch-revolutionär. Aber in beiden Fällen ein konkretes Ziel, der Staat oder die klassenlose Gesellschaft. Beides nötig, wenn universale Konstruktion, aber bei beiden stimmt es nicht. Hier Einwirkung der irrationalistischen Linie nötig. Wir erkennen nur unseren konkreten Kairos, aber wir können ihn nicht universal thematisieren. Wir können keine Universalgeschichte machen, bei der wir selbst als Ziel herausspringen. D a s Schöpferische ist für die Zukunft wie für die Vergangenheit unberechenbar. Nur eins von der soziologischen Struktur her möglich: das immanente Ziel wäre die völlige Einheit der Struktur bei möglichster Ausformung der einzelnen Funktionen. D a s Getragensein von dem schöpferischen Grunde in aller Dynamik der einzelnen Funktionen. Die historische Dialektik der Franzosen spricht hier von kritischen und organischen Perioden. Aber dieses viel zu dünn und zu abendländisch gedacht. Gerade d a s Verhältnis der kritischen und organischen Elemente ist entscheidend und vor allem die Tiefe, in der das Organische im schöpferischen Grunde verankert [ist]. Hier aber geht die Geschichtsphilosophie über in Geschichtsmetaphysik, in Symbolbildung; und als solche Symbole metaphysischer Art sind auch die Idealgebilde von Hegel und M a r x zu werten. Und nur als solche haben sie ihre Kraft.

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Verwirklichung in Gegensatz geraten, kann Realdialektik entstehen. Machtkämpfe, Hordenkämpfe um Land und dergleichen sind an sich unhistorisch und undialektisch. Sie werden beides erst durch Sinntendenzen, die sich in ihnen durchsetzen, durch den Bedeutungsgehalt, der aus der bloßen Macht Mächtigkeit werden läßt. Die Realdialektik beruht also auf dem Widerspruch von Mächtigkeiten, d.h. von Bedeutungs- oder Sinngehalt tragenden Macht- und ErosGruppen. 2. Die Mächtigkeit ist die Einheit von Interesse und Idee. Diese Einheit sucht der Vulgärmaterialismus zu zerreißen, indem er das Interesse, das er schlechthin ideelos faßt, metaphysisch und seiner eignen Logik widersprechend absolut setzt. Selbst in dem durchaus grundlegenden ökonomischen Interesse ist immer schon Idee in der Art seiner noch so primitiven Realisierung enthalten, und keine Macht kann sich halten, die nicht Mächtigkeit ist, d.h. einen allgemein anerkannten Sinngehalt repräsentiert. Die materialistische Entwicklungsgeschichte ist eine Absurdität (Eildermann!!34). 3. Aber auch der Widerspruch der Mächtigkeiten ist noch kein dialektisches Princip, wenn er nicht innerhalb eines und desselben übergreifenden Princips erfolgt, d.h. wenn er nicht die innere Problematik einer Sinn-3STendenz offenbart. Zur Dialektik kommt es darum immer nur, wo eine solche Dualität in einer historischen Einheit aufgewiesen wird. Nicht alle historischen Zusammenhänge können so in Beziehung gebracht werden. Es gehört dazu die Zusammengeschlossenheit in einer großen, soziologisch erheblichen Gestalteinheit mit einem irgendwie bestimmbaren Bedeutungsgehalt. Wo aber derartige Einheit da ist, finden wir immer auch dialektische Antithesen. So z.B. Aristokratie und Demokratie in der antiken Polis (wobei die Sklaven nicht in die Einheit gehören und, der inneren Mächtigkeit entbehrend, undialektisch bleiben). So antik-liberal-humanitäres gegen orientalisch-mystisch-despotisches Princip und die Synthesen bei Alexander und Diokletian. So die Dualität von Kaiser und Papst, nationales Fürstentum gegen Kaiser und Papst, Demokratie gegen Fürstentum u.s.f. In all diesen Mächten Bedeutungsgehalte von der Art der gesellschaftlichen Ökonomie bis zu den religiösen Symbolen. 34

Heinrich Eildermann, Urkommunismus und Urreligion. Geschichtsmaterialistisch beleuchtet (Internationale Arbeiterbibliothek, Bd. 3) Berlin 1 9 2 1 .

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Folgt gestr.: Gestalt

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Hier überall zeigt sich, daß historische Dialektik der tiefere Sinn aller historischen36 Forschung überhaupt ist. 4. Es ist unmöglich, ein Gesetz dieser Abläufe festzustellen, weil die Variation unendlich und das historische Schicksal immer zugleich Freiheit ist. Es kann eine der beiden Tendenzen ganz siegen und das Ganze an mangelnder Integration zerfallen. Es kann eine Synthese mit neuen Widersprüchen zu Stande kommen (dieser bei Hegel und in der Logik einzige Weg ist nur ein Weg). Es kann ein Kompromiß und ein Zurücksinken auf vordialektische Bedeutungslosigkeit stattfinden. Es kann eine undialektische, wesentlich biologische Vernichtung eintreten. Es kann durch die Erweiterung der Gestalt eine neue Dialektik wachsen (Orient-Occident in der Gegenwart). Jede Berechnung versagt hier. Dagegen ist ein Verstehen möglich und darum eine Erfassung der letzten Polaritäten, die in allen verkleidet wirken und auf denen die Notwendigkeit unendlicher Dialektik beruht. Sie liegen im Wesen der Sinnerfassung selbst, in der Urpolarität von Sinngrund und Sinnform, einer unendlichen schöpferischen und zerstörerischen Tiefe und gestalteter, geformter Sinnverwirklichung bis hin zum Pol der äußersten Rationalität. In allen genannten Polaritäten können diese Urtendenzen gefunden werden, aber überall modifiziert in besondere Tendenzeinheiten auf dem Boden specieller soziologischer Gestalten. Voraussetzung und Ziel ist immer die Einheit der beiden Sinnelemente. Aber das Leben, die Dynamik der Geschichte beruht auf dem realen, d.h. in sozialen und ökonomischen Machtgruppen sich darstellenden Widerspruch beider. Diese Auffassung der historischen Dialektik von der inneren Mächtigkeit kann die dynamische genannt werden; sie schließt die ökonomische als realste Komponente in sich. 5. Das innere Ziel aller historischen Dynamik kann damit klar angegeben werden. Es ist der erschöpfende Ausdruck des Sinngrundes in den Sinnformen der Gesellschaft. Die wirklichen Ergebnisse der historischen Dynamik sind dagegen nicht erschöpfende Ausdrucksformen des Sinngrundes. Dieser bleibt unerschöpflich. Weder der preußische Staat, noch die klassenlose Gesellschaft sind die Erschöpfung des Sinngrundes. Dennoch setzen sich unter der Triebkraft der idealen Synthesis reale schöpferische Synthesen durch. Sie

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Folgt gestr.: Dialektik

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sind der echten Dialektik gemäß immer zugleich der Gegenstand der anschauenden Betrachtung und des gerichteten Handelns. Und beides ist eins; denn eine Anschauung ist falsch, die das eigne schöpferische Handeln des Anschauenden nicht mit in Rechnung zieht. Sie ist abstrakt. Und ein Handeln ist falsch, das nicht aus der erschauten Realität des Processes und seiner Triebkraft hervorgeht. Weder Mechanismus noch Willkür [können das Handeln leiten], sondern Richtung auf die absolute Synthesis in dem Bewußtsein der individuellen schöpferischen Synthesis. Ein specielles Element kann hervorgehoben werden, das wesensmäßig in jeder schöpferischen Synthesis enthalten und konkret realisierbar ist: die Ausdehnung des Dialektischen auf die Menschheit, die Überwindung außerdialektischer Katastrophen, die Schaffung der Einheitsbasis, nicht im Sinne von Nietzsches letztem Menschen, sondern in dem Sinne, daß die Dynamik und Realdialektik das Vorzeichen „Welt" im Sinne von Menschheit hat. Diese Vertiefung der Einheit würde zu einer Vertiefung der dialektischen Spannungen führen, die dadurch unausweichlicher 37 würden und unwiderstehlich zur Lösung drängten. Aber diese Lösung bliebe individuell schöpferisch bis zur Erschöpfung der Menschheit, in der sich als ihre Grenze zugleich der Zusammenhang alles Historischen mit dem kosmischen Schicksal offenbart. 6. Die Realdialektik ist notwendig revolutionäres Geschichtsbewußtsein. Revolution in dem weitesten Sinn einer Umwälzung bestehender Macht- und Gemeinschaftsgruppierung. Das kann außenpolitisch durch Krieg oder durch Diplomatie, innenpolitisch durch Umsturz oder durch Gesetzgebung geschehen. Es ist ein dialektischer Vorgang aber nur, wenn in ihm innere Mächtigkeit gegen andere Mächtigkeit vorgeht und das innere Recht der realen Macht einer Gruppe auf die Probe stellt. Damit ist zugleich die Vexierfrage Revolution und Evolution, die im Marxismus und Reformismus eine große Rolle spielt, grundsätzlich beantwortet: Nicht die Revolution ist das Prius der inneren Mächtigkeit, sondern diese ist das Prius der Revolution. Ist diese da, so gelingt die Revolution, auch wenn sie mißlingt; fehlt diese, so mißlingt sie, auch wenn sie gelingt. Die Form, in der das neue Princip manifest wird, ist sekundär. Es wird infolge des Zusammenhanges

J7

Hs.: unausweislicher

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mit einer realen Machtgruppe meistens nicht ohne ausdrückliche Revolution abgehen, weil keine Gruppe ihre innere Unmächtigkeit erlebt außer in der Niederlage. Wenn Evolution als Wachsen innerer Mächtigkeit der das neue Princip tragenden Gruppe ist, so ist sie berechtigt. Ist sie Verzicht auf Manifestation im Macht-Aufbau, so ist sie unberechtigt. Ist Revolution in jeder Form diese Manifestation, so ist sie berechtigt. Ist sie Gewaltergreifung ohne innere Mächtigkeit, so ist sie unberechtigt. Die Frage Demokratie oder Diktatur ist demgegenüber gleichgültig. Die Demokratie ihrer Idee nach ist die Form gewaltloser Durchsetzung realer Mächtigkeiten. Sie kann in Wirklichkeit die Herrschaftsform einer Gruppe wie des Kapitals sein oder Verdeckung der inneren Unmächtigkeit einer bedeutungslosen Mehrheit. Ob sie das eine oder das andere ist, kann nicht gesagt werden. Die Diktatur kann demokratisch und gewaltmäßig sein. Entscheidend ist, daß sie dialektisch begründet ist, d.h. der Dynamik des sozialen Processes entspricht. 7. Das Problem des gegenwärtigen Zeitalters. Die größte Leistung der ökonomischen Dialektik ist die Auflösung der ewigen Naturgesetze der klassischen Ökonomie, die Einsicht, daß es sich hier um eine specifische Struktur handelt, um diejenige nämlich, in der der homo oeconomicus als solcher rein heraustritt. Diese Gesetze gelten für die unendliche rationale Bedürfnisbefriedigung und für sonst nichts. Nur so wird aus dem Gegenstand die Ware, die nichts mehr ist als Ware. 3 " Es entsteht das rein sachlich-gegenständliche Verhalten des Austausches, es entsteht die Klasse derer, die ohne Erosbeziehung zu den Menschen und Dingen selbst Ware bezüglich der Arbeitskraft sind und nur insofern geschätzt werden. Es entsteht der Unternehmer, der in den Dienst der ökonomischen Bewegung tritt, aber doch noch die Täuschung des Schaffenden hat. Es entsteht die allgemeine rationale Verdinglichung aller Sachen und Beziehungen. Es entsteht die reine Klasse, die aller religiösen, heimatlichen, nationalen etc. Bindungen los ist. 3 ' Im Unternehmertum, im Kleinbürgertum leben Kreise, die von dieser Dialektik auch dann noch nichts wissen, wenn sie objektiv in sie hineingezogen sind.

M

Folgt gestr.: Es entsteht der Warenfetischismus.

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Folgt gestr.: Dieses ist eine völlig richtige Strukturanalyse trotz alles empirisch Unfertigen in der Zeit.

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8. Daraus wird geschlossen, daß nur die Arbeiterklasse das Bewußtsein um die innere Dialektik des historischen Augenblickes hat. Sie ist die revolutionäre, geschichtsbewußte Gruppe. Sie ist das lebendige kritische Moment, das ökonomisch sich in Krisen und kapitalistischen Weltkriegen darstellt, unter denen sie wesentlich leidet. Darum geht alle Aktivität40 des neuen Princips von ihr aus. 4 ' Sie ist die Gruppe, in der die innere Mächtigkeit steckt, das andere Princip, die klassenlose Gesellschaft zu realisieren. Denn alles Schaffen ruht auf Eros und Mächtigkeit.42 Träger aber kann eine Gruppe nur werden, insofern sie erfüllt ist mit den Kräften des neuen Princips43. Ist sie das aber, so zieht sie auch all die Kräfte an sich, die in den übrigen Schichten unter dem zerbrechenden44 Bau leiden. Und diese Durchbrüche werden besonders bedeutungsvoll sein. Sie pflegen die Führer zu stellen (Mirabeau, Marx - Paulus!). Die reine Antithetik ist von hier aus falsch und45 undialektisch gedacht. Nur daß die konstante Triebkraft in der eigentlich negierten Gruppe ist. 4 ' 9. Das tiefere und entscheidende Problem: Welches ist die eigentliche Realdialektik, in der wir stehen? Wenn die Analyse der Verge-

40 41

42 43 44 45 46

Folgt gestr.: zur neuen Struktur Folgt gestr.: Auch darin liegt das Richtige, daß die Idee eines bestimmten Zeitalters immer wesentlich von einer Gruppe getragen (Feudalität, Fürstentum, Bürgertum etc.) Folgt gestr.: Und alle Gesellschaft ist monarchisch gruppiert. Folgt gestr.: der neuen Struktur Folgt gestr.: der zerbrechenden Struktur Folgt gestr.: strukturlos Folgt gestr.: Damit gewinnt der Klassenkampf seinen Sinn: Er würde eine Verewigung der Antinomie des Ökonomischen bedeuten, wenn nicht die neue Struktur sich darin entwickelt, d.h. die reale Mächtigkeit der das Neue tragenden Klasse sich entwickelt. - Hier nun ein eigentümliches Abbiegen der Idee des Politischen in Loslösung von dem Ökonomischen und der Gesamtstruktur. Vorwand: daß die politische Lage hindert, aber woran? Daß die mit der kapitalistischen Struktur gegebenen Geistigkeiten eindringen. Sich dahin zu öffnen ist antirevolutionär. Die Alternative: Erst die Lage ändern, dann das andere, ist undialektisch, sie reißt das Politische los von der Einheitsstruktur. Sie verewigt die Präponderanz des Ökonomischen. Die Empörung des „Menschen" im Arbeiter, von dem Marx spricht, richtet sich aber gegen das Ganze und kann nur im Ganzen gelingen. Und das Menschliche ist es da, wenn es sich empören kann. Die Rede von der absoluten Leere ist unzutreffend. Die schöpferische Potenz liegt in der Tiefe. Sie kann aber nur im Zusammenhang mit dem ökonomischen als der präponderierenden Struktur sich durchsetzen. Während der Durchsetzung aber saugt es auch die Elemente des Menschlichen, d.h. der idealen Struktur in sich, die irgendwie aus der corökonomischen

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genständlichung zutrifft, inwiefern ist dann der Sozialismus ein schöpferisches Gegenprincip? Diese Frage ist die erschreckendste im Sozialismus. D e n n wenn die Entleerung völlig ist, so bleibt nur der Protest und Aufschrei, a b e r keine innere M ä c h t i g k e i t , und so ist die Sachlage tatsächlich. M a r x bestimmt als das Ziel die klassenlose Gesellschaft. Diese Bestimmung ist negativ und bedeutet lediglich Durchführung der gegenständlichen Ö k o n o m i s i e r u n g unter Aufhebung des Gegensatzes der M a c h t g r u p p e n , die den Proceß in ihrem Sinne führen. D a s ist aber gar keine echte Dialektik, es ist ein K a m p f in der Sphäre des gleichen Princips, der für dieses Princip zufällig ist. D e r wirkliche dialektische Gegensatz ist der Aufschrei des M e n schen im Arbeiter gegen die Technisierung und

Vergegenständ-

lichung. Dieser Aufschrei ist aber keine Positivität, die formschaffend wirkt. Hier liegen die Wurzeln zweier entscheidender T a t s a c h e n : 1. D a ß der M e n s c h im Arbeiter, da er kein eignes Princip darstellt, das Residuum der kleinbürgerlichen Menschlichkeit ist und d a ß ihn das W e r d e n in dieser Richtung, der Aufstieg zum Kleinbürger, saturiert. D a m i t ist eine gewisse Inhaltsfülle da, aber gerade die im kapitalistischen Princip dauernd der Zerstörung preisgegebene, unschöpferische. 2 . D a ß das nationale Princip in den jüngeren Bewegungen, auch dem Fascismus, gegenüber dem mechanistisch-kapitalistischen Princip eine stärkere Position hat als der Sozialismus; denn hier ist das sehr inhaltsvolle Princip der Volksgemeinschaft als dialektischer Gegenpol w i r k s a m . Das ist solange nicht der Fall, wie das N a t i o n a l e selbst in den Dienst des Kapitalismus tritt, wie z . T . im Weltkrieg, und es hat seine Grenze, wenn es die für unsere Zeit immer noch entscheidende Dialektik der ö k o n o m i s c h e n Klassen übersieht. Immerhin ist der Nationalismus getragen von Schichten, die a m wenigStruktur da sind. Erst in der Vollendung der neuen Struktur die echte Revolution möglich, bis dahin politische Mitwirkung; so nicht notwendig Rückschläge; denn in der Quantität kann nichts übersprungen werden. Schluß Die notwendige Einsicht in die soziologische Struktureinheit sowohl der theoretischen Probleme als auch der Zusammenhänge der Theorie und Praxis, daß die Wahrheit nicht nur gefunden, sondern auch gemacht wird. Dieses entscheidend für die soziologische Struktur der Universalität. Zweitens das Bewußtsein, in der Dialektik zu stehen, nicht in irgendeiner, sondern in dieser Lage, in dem eine „kritische" Geisteslage in eine „organische", eine ökonomische in eine gemeinschaftliche, eine autonome in eine theonome übergeht.

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sten ökonomisiert sind, und er hat in sich nichts Kleinbürgerliches. Da könnte es scheinen, als [ob] wir zu einer neuen Strukturanalyse gedrängt würden, nach der das entscheidende Dialektische unserer Zeit der Gegensatz von ökonomischem und nationalem Princip sei. Dieses nur verdeckt durch die pseudonationalistische Haltung des Kapitalismus. Der religiöse Sozialismus sucht dieser Alternative zu entgehen, indem er dem negativen Aufschrei des Menschen im Arbeiter den positiven Gehalt des Religiösen geben will. Er kann anknüpfen an den religiösen Messianismus, der da war und oft noch da ist. Aber es ist die Eigenart des Messianismus, daß er durchaus auf der Formseite steht, daß er Spannung ist, die notwendig erlahmt, wenn nicht ein schöpferisch-inhaltliches Princip 47 ihm die Lebenskraft gibt. Siehe den „heiligen Geist" der Christen. Daher die Erlahmung des eschatologischen Schwunges. - Aber auch die Kirchen kommen als kirchliche Gruppen nicht in Frage. Die katholische nicht, obgleich sie den Menschen im Arbeiter bejaht und den sozialistischen nahesteht, da sie das im Kapitalismus wirksame Formprincip nicht verneint. Die protestantische nicht, weil sie mit dem Kleinbürgertum und Nationalismus unlöslich verbunden ist, respektive im Kalvinismus mit dem humanitär gerichteten Kapitalismus. Es ist also keine soziale Gruppe da, die Träger der antikapitalistischen Bewegung sein kann. Dieses ist die schwierige Lage des religiösen Sozialismus. Er kann zur Ideologie verführen und an Stelle der sozialen Mächtigkeit die48 Idee stellen. Zwar: Er kann sich mit Recht darauf berufen, daß in der letzten Verzweiflung der Mensch ein inneres Reservat hat, das ihm das unbedingte Sinnerlebnis ermöglicht ohne jede Formmöglichkeit. Er kann hoffen, im Schrei des Menschen im Proletarier den tiefen Ton der Richtung auf den unbedingten Sinn zu hören und ebenso in den Kirchen und im nationalen Heiligen. Aber ein dialektisches, geschichtsdynamisches Princip wird das erst, wenn es getragen wird von einer Gruppe, einer religiösen Gemeinschaft nämlich, da ja durch das rationale Princip alle anderen Gruppen zersetzt sind. 10. Der Bildungssozialismus abwegig; er bedeutet eine Verbreitung des bürgerlichen Princips und ist nur insofern wertvoll, als er den schlimmsten Bourgeois-Kitsch, den das Proletariat eingesogen

47 41

Folgt gestr.: an seine Stelle tritt Folgt gestr.: Predigt

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hat, durch Verbesserungen korrigiert. Das kann aber ebenso verhärten wie auflockern. Darum hat auch eine politische Machtergreifung nur insoweit dialektischen, dynamischen Wert, als damit verborgene schöpferische Principien in Ökonomie und Geist wirksam werden. W o aber sind diese? Fast ausschließlich bei innerlich durchgebrochenen Gliedern der bürgerlichen Klassen. Aber auch diese - wie auch die Jugendbewegung, deren Sinn es ist, in eine Gemeinschaftsform einzumünden - sind keine soziale Mächtigkeit mit strukturändernder Kraft. Das wäre allein das Proletariat, somit nicht die Dialektik. Aber auch nicht das Proletariat in seinem innerökonomischen Klassenkampf. Insofern es das ist, ist es undialektisch und gehört der zu negierenden Welt an. Wohl aber, insofern es das Princip negiert, durch das es mit seinen Gegnern zusammengebunden ist: [das Princip] des rationalen Mechanismus. Weiter aber reicht die Dialektik nicht: Die klassenlose Gesellschaft kann statt der zweiklassigen die einklassige Gesellschaft [werden], aber diese ist kein anderes Princip. Die Negation der Klasse ist die Gemeinschaft, und diese springt nicht aus dem Aufheben des Klassengegensatzes hervor, sondern nur aus dem schöpferischen Grunde, der neuen Gestaltungskraft, mit eigentümlicher Mächtigkeit. Deren Formen können wir nicht mehr betrachten und beweisen, sondern nur anschauend berichten. Sie ist unser Schicksal, und das heißt: Sie wird durch unsere Freiheit.

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30. Einleitung in die Geschichtsphilosophie

Zum Text: Hs. in Vo IX (PTAH, 110:009). Zur Datierung vgl. die Ausführungen zum Text Nr. 29. Die Hs. ist als 3. Text eingetragen, nach dem 1924 veröffentlichten Vortrag „Jugend und Religion". Abfassungszeit: 1923 oder 1924. I. Allgemeine Einleitung 1. Wie jede Wissenschaft so ist auch die Geschichtsbetrachtung aus einer Lebenshaltung hervorgegangen, aus einer den Lebenssinn betreffenden Stellung zur Welt. So ist die griechische Natur- und Seinsphilosophie aus dem Trieb geboren, das Unbedingt-Seiende in allem Seienden zu finden und anschauend mit ihm eins zu werden. Es ist der ontologisch-mystische Grundtrieb, der von dem Seienden des Parmenides bis zum Überseienden des Plotin das Griechentum beherrscht. Im Unterschied davon ist es der technisch-weltgestaltende Wille der von Leonardos ballistischen Experimenten und Bakons Forderung, die Natur empirisch zu überlisten, um sie zu beherrschen, bis zu den Einsteinschen Berechnungsmethoden die Theorie regiert. Es ist das Bewußtsein der mikrokosmischen Stellung des Menschen mit seiner magischen Kraft und der Forderung, sie im Dienst der sozialen Weltgestaltung anzuwenden, die hinter der modernen empirischen Naturwissenschaft, einschließlich der Psychologie und Soziologie, steht. 2 . Die Voraussetzung der Naturphilosophie und -Wissenschaft in beiden Geistesrichtungen ist die Überwindung der Furcht vor der Natur, der dämonischen Furcht, die die Natur zu einem T a b u macht mit mehr oder weniger mythologischen Beziehungen, immer aber ihre Rationalisierung und Technisierung hindert. Reste davon noch jetzt bei den großen neuen Entdeckungen. - Umgekehrt in der Geschichte; hier ist nicht die Einheit, sondern die Zweiheit die Voraussetzung. Alles Geschichtsbewußtsein wurzelt in einer Dualität. Selbstverständlich [handelt es sich] um eine Dualität von metaphysischer Tiefe, d.h. um einen Widerspruch des göttlichen und gegengöttlichen

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Princips, des Göttlichen und Dämonischen. Auch in der griechischen Materie klingt noch etwas davon nach, wenn auch entleert durch den Begriff des ur| öv. Ebenso bei Schiller die Elemente, die das Gebild der Menschenhand hassen.' Aber auch sie sind kein positives Princip, sondern uifi öv. - Dagegen tritt die Dualität positiv in ihrer ganzen Kraft in Erscheinung im Parsismus mit seinem Kampf der beiden Principien, mit seiner Periodisierung dieses Kampfes und seiner Enderwartung auf den Sieg des Lichtes. Was bei den Griechen an Periodisierung durch Wechsel der Götterdynastien vorliegt, wird von dieser grandiosen Anschauung weit hinten gelassen. Wir finden hier sofort die drei Grundelemente des geschichtsbewußten Denkens: die Dualität der metaphysischen Principien, die epochale Geschichtsdeutung, die endgerichtete Spannung. 3. Dieses alles hatte aber eine enge Beziehung zur Natur behalten. Es handelt sich um kosmische Kämpfe. Darum stehen sie auch in Beziehung zu der Lehre vom astronomischen Weltenjahr, den Aionen, Olamim, Äonen ..., aber die lebendige Geschichte, das politische und soziale Geschehen war damit nur in zufälliger Form einbegriffen. Nun ist zweifellos, daß der Hintergrund jeder Geschichtsmetaphysik kosmisches Geschehen sein muß. W o das fehlt, wie bei Kant, Ritsehl etc., wird die Geschichte profanisiert. Natur und Ethos lassen sich nicht zerreißen. - Aber damit es zur eigentlichen Geschichte [wird], mußte erst eine metaphysische Qualität der politisch-sozialen Sphäre hervorgetreten sein. Dieses gegeben bei der Identificierung des Königs mit dem Gottessohn, dem Sohn des Himmels. Dadurch seine Kämpfe Gotteskämpfe. Von hier aus die dynastischen Annalen in China, Babylon, Ägypten; aber auch dieses noch stark verwoben mit dem astronomischen Mythos und dadurch zufällig und hinter der Geschlossenheit des Persischen zurückstehend. Erst die Verbindung von kosmischem Dualismus und politisch-sozialem Gott-Sohn-Gedanken, d.h. in der jüdisch-messianischen Prophetie ist der Punkt erreicht, wo die vollkommene Geschichtsbewußtheit erreicht ist. Vor allem ist dadurch eins erreicht: Die epochale Geschichtsschau ist befreit von der astronomischen Ungeschichtlichkeit und von der bloß politisch-moralistischen Zufälligkeit. Die Geschichte hat einen konkret innergeschichtlichen Mittelpunkt und von da aus einen konkreten Maßstab der Periodisierung.

Anspielung auf Theodor Fontanes Ballade „Die Brück am T a y " („Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand").

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Es gibt ein messianisches Zeitalter und einen Kairos, eine Zeitenfülle. Damit ist die konkrete Geschichtsbewußtheit da. 4. Zu den drei Elementen der persischen Geschichtsmetaphysik tritt also aus der politisch-sozialen Sphäre die konkret-historische Persönlichkeit und der konkret-historische Moment, aber auf dem Hintergrund des kosmischen Dramas. Das christliche Bekenntnis, daß Gott in einem geschichtlichen Moment konkret offenbar geworden ist, ist die Geburtsstunde der Geschichtsbewußtheit. Und sie ist nicht verlorengegangen, obgleich die Gnostiker sie wieder in einen rein jenseitigen Proceß auflösen wollten und bei Augustin und Mittelalter der Gegensatz von Gottesstaat und Weltstaat der Geschichte eine gewisse Starrheit gab. Sobald das dämonische Element der bestehenden Zustände empfunden wurde und demgemäß eine Enderwartung leidenschaftlich hervorbrach, erhob sich eine neue Geschichtsbewußtheit. So bei Joachim von Floris und der Lehre von den trinitarischen Epochen, so in der Reformation und bei vielen Sekten. Eine Bindung augustinischer Art haftete all diesem an durch die Gleichsetzung von Reich Gottes und Kirche. Dieser Dualismus wurde überwunden durch den naturwissenschaftlichen Monismus. Aber es ist das Eigentümliche der Moderne, daß damit der Geist der Geschichtsbewußtheit nicht verlorenging, sondern so stark war, daß die Aufklärung sich selbst geschichtlich fassen mußte und es tat, z.T. mit Hilfe der drei Stadien von Joachim. Das Zeitalter des Geistes ist das Zeitalter der Vernunft, das dritte Zeitalter, das Ziel der Geschichte. Und auch hier trat eine Befestigung ein: Das Bewußtsein, dem dritten Zeitalter anzugehören, den Geist zu haben, bewirkte eine Betrachtung der gesamten Geschichte nach Art eines sich entfaltenden Naturorganismus. Es ging die Spannung nach vorn verloren oder sie erhielt sich in der matten Form des Fortschrittgedankens. Gerade die Geschichtsforschung lebte in dieser Geschichtsunbewußtheit. Sie war ästhetisch-betrachtend, die dritte Form zu der logischmystischen und technisch-dynamischen Naturbetrachtung. Es fehlte das Moment der vorwärtsgerichteten Spannung und damit die Tiefe der innergeschichtlichen Dualität, das Bewußtsein um die Dämonie. 5. Dieses vorhanden in der großen proletarischen Eschatologie. Hier echte Geschichtsbewußtheit mit allen Merkmalen: Dualität, Dämonie, Kairos, freilich ohne kosmische Fragen entsprechend der Antimetaphysik. Im Bürgertum mehr negativ als Krisenbewußtsein. Im Weltkrieg evident. Im Zusammenhang der Revolutionen und

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ständigen Krisen zu starkem Bewußtsein gekommen. Das Gefühl, gegenwärtig nicht „überhaupt" reden und handeln zu können, handeln aus dem Bewußtsein des xaipó; heraus; wissen, daß die Wirklichkeit, die Gegenwart und mit ihr alle Vergangenheit, selbst in Bewegung ist und daß darum Erfassen der Wirklichkeit zugleich Gestalten ist. Von hier aus zugleich deutlich, warum wir jetzt Geschichtsphilosophie treiben müssen und warum als Theologen. Sie ist die geordnete Besinnung über unseren Ort in der Geschichte, nicht nur im Sinne der Kausalität, sondern im Sinne der Bedeutung, und sie ist ein Fundament der geordneten Besinnung über unser Handeln, über die Ethik in unserer konkreten Lage. Für den Theologen aber noch speciell, insofern alle Geschichtsphilosophie in ihrer Wurzel Geschichte des Heils ist, der Überwindung des Dämonischen. Eine Sinndeutung der Geschichte, die nicht auf den unbedingten Sinngrund gerichtet ist, bleibt sinnlos. Zugleich ist der Theologe der einzige, der die Aufgabe lösen kann, insofern für ihn das Heil immer schon gegeben und noch aufgegeben ist und so die konkrete Periodisierung durch den Moment des Durchbruchs sich verbindet mit der eschatologischen Spannung. Andererseits kann der Theologe die Geschichtsphilosophie nicht ablehnen, denn durch sie tritt er aus der Enge einer auf eine rein zufällige Erscheinung gerichteten Sekte in die Weite des weltgeschichtlichen Horizontes, wie es die Theologie durch die Lehre vom Logos und Geist allezeit getan hat. II. Specielle Einleitung 1. Troeltsch und seine erste geschichtsphilosophische Vorlesung. 2 Sein Werk als Grundwerk. 3 Die vorhandenen Grenzen durch den Verlust der konkreten Gegebenheit und damit der letzten metaphysischen Haltung. Dafür aber eine Durcharbeitung der logisch-philosophischen Probleme, ohne die alles eine vage unwissenschaftliche Sache wird. Auf sie ist zuerst die Aufmerksamkeit zu richten. 2. Troeltsch unterscheidet eine formale und ein materiale Geschichtsphilosophie. Die zweite ist für ihn das Ziel und sie füllt den 2

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„Philosophie der Geschichte", im Winter-Semester 1921/22 in Berlin (von Tillich besucht, vgl. GW XIII 177). Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie. Tübingen 1922.

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größten Teil des Buches. Es ist die inhaltliche Sinndeutung der Geschichte, die Auswahl des Individuellen und die Deutung der Entwicklung. Aber die Voraussetzung ist die formale, die Geschichtslogik oder besser Metalogik. Das erste ist Geschichtslogik, das zweite Geschichtsmetaphysik. 3. Der Centraibegriff der Geschichtslogik ist der Begriff des Individuellen. Die Bedeutung der Gesetzesmethode und ihre Abstraktion von allem Individuellen. Der abstrakte Charakter des Gesetzes, die Möglichkeit, mit ihm auch das Einzelne zu bestimmen, aber niemals das Individuelle. Dieses hat einen im Seinsgrund verwurzelten Widerstand gegen die Rationalität. Die Rationalität löst in Elemente auf; die historische Anschauung aber hat es mit originalen Gestalten zu tun, die unauflöslich sind. Die Teile einer Gestalt sind durch den Gestaltcharakter bestimmt. Sie verlieren ihn ohne die Einheit. Das Individuelle ist zugleich das Gegebene, Unableitbare, Einmalige und, insofern es sich zu neuen Synthesen zusammenschließt, das Schöpferische. Damit ist der extreme Gegenpol zu dem naturwissenschaftlichen Denken aufgestellt. Troeltsch nennt den Gegenstand der Geschichte individuelle Totalität. Die historischen Begriffe sind solche Totalitäten. Aber kein historischer Begriff faßt die Wirklichkeit ganz, sondern aus der unendlichen Fülle immer nur einiges. Dieses einige steht aber symbolisch für alles andere. Wie kommt es nun zu dieser Symbolkraft? Dadurch, daß es das Wesen erfaßt. Welches aber ist das Wesen? Eine konkrete Sinneinheit nach Troeltsch, ein sinnvoller Zusammenhang. Aber wer entscheidet über den Sinn des Sinnes, den Wert des Wertes? Hier entsteht die große Frage nach der Auswahl, nach dem, was stellvertretend das Wesen ausdrücken soll; es entsteht die Frage nach dem Sinn des historischen Verstehens, nach dem Anteil des Subjekts und Objekts. Daran die centrale Frage der Erkenntnistheorie der Geschichte, die über die formalen Fragen hinausführt. Der Gegensatz des ruhenden und des schöpferischen Verstehens. Die Entscheidung für das Letztere aus dem Begriff der Individualität notwendig. Weiter damit zusammenhängend die Frage der individuellen Repräsentation, das Verhältnis von Masse und Persönlichkeit; die Frage nach den Möglichkeiten des Verstehens, der Resonanz etc., den unbewußten Voraussetzungen, das Problem der Geist[es]lage, der individuellen Ausformungen und Durchbrüche. 4. Dieses alles nicht ausreichend. Denn entscheidend der historische Entwicklungsbegriff. Alle Totalitäten sind werdende Entwick-

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lungen. Dadurch tritt der Entwicklungsbegriff ins Centrum. Er ist nicht identisch mit Fortschritt und nicht mit biologischer Evolution. Er bedeutet Entfaltung von Sinnzusammenhängen und unterscheidet sich dadurch von der Evolution, die schließlich nur kausale Aggregate kennt. Darum auch einen eigenen qualitativen Zeitbegriff. Die Entwicklungen der Geschichte sind Sinnentwicklungen, und hier erhebt sich wieder die Frage nach der Richtung des Sinnes, die Frage nach der Art der historischen Dynamik und der Idee einer Universalgeschichte. Dieses ist das Hauptproblem der materialen Geschichtsphilosophie, die Frage nach der letzten Sinndeutung der Geschichte überhaupt. (Immanenter und transcendenter Sinn und die Relativität des Gegensatzes) 5. Damit sind die Typologien und Soziologien in der Geschichte erledigt. Es erhebt sich aber die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte und damit nach der Einordnung der Geschichte in das Seiende überhaupt. - Bedenken gegen den Gegensatz. Der Begriff der Totalität ist unklar. Denn 1. sind es keine Totalitäten, sondern offene Entwicklungen; 2. sind das, was Troeltsch meint, Gestalten. Dieser Begriff fehlt ihm. Er ist aber der centrale ontologische Begriff überhaupt. Er umfaßt die Biologie, Psychologie und Soziologie und ist die logische Voraussetzung des Physikalischen sowohl wie des Historischen. Die Gestalt, die Urgegebenheit, ist die Voraussetzung der Gültigkeit aller Gesetze und aller Entwicklungen. Und doch geht die Entwicklung nicht in der Gestalt auf. So kommt es schließlich zu der großen Antinomie der Gestalt, die Wurzel der Raum- und Zeitantinomie, die schließlich hinführt zu der Antinomie des göttlichen Handelns, in Ewigkeit heilig zu sein und sich in das Werden und die Neuschöpfung zu begeben. - So treibt das logische Problem auch hier zu einem Religiös-Metaphysischen, Theologischen.

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31. Rechtfertigung und Zweifel Zum Text: Hs. (1. und 2. Version) in Vo IX (PTAH 110:009). Beide Versionen sind Vorarbeiten zu der publizierten Fassung des Vortrags, den Tillich am 19. Juni 1924 auf der Theologischen Konferenz in Gießen (für die hessischen und hessen-nassauischen Theologen) hielt (in: Vorträge der Theologischen Konferenz zu Gießen, 39. Folge, Gießen 1924, 19-32). Karl Ludwig Schmidt referierte auf dieser Konferenz über das Thema „Die Stellung des Apostels Paulus im Urchristentum". Die 2. Version stellt eine Überarbeitung der Einleitung und des Abschnitts I a der 1. Version dar. Die Teile I b, I c und II der 1. Version entsprechen den Teilen II bis IV der Publikation. Tillich setzt sich in seinem Vortrag mit der zeitgenössischen evangelischen Theologie, insbesondere mit der durch A. Ritsehl geprägten und mit der Dialektischen Theologie, auseinander. Er will einen protestantischen Universalismus, in dem der lebendige innere Zusammenhang von Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung wiedergewonnen, die Grundoffenbarung also nicht durch die Heilsoffenbarung ersetzt wird. Die Grundoffenbarung ist Durchbruch, Gnade, Gegenwärtigkeit Gottes vor aller Erkenntnis, vor allem Werk der Religion, auch vor allem Zweifeln und Suchen. Darin zeigt sich für Tillich die Luther gegenüber veränderte geistige und religiöse Lage, in die er mit seinem Begriff der Grundoffenbarung vorstoßen will - anders als die Luther-Renaissance (Karl Holl), die er für wissenschaftlich, aber nicht religiös erheblich hält. Die hier publizierten Versionen sind deutlich als Entwürfe des Vortragstextes erkennbar. Wegen der Bedeutung der Thematik von „Rechtfertigung und Zweifel" und des Vortrags von 1924 für Tillichs Denken werden sie publiziert, um die Stationen der Gedankenbewegung Tillichs zu dokumentieren. Auffallend sind allerdings die Unterschiede zu den Versionen von 1919 (=Text Nr. 9). Die Themenkreise „Durchbruch und Realisierung", „Durchbruch gegenüber Werk", „Prinzip und Korrektiv", „Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung" werden 1919 noch nicht explizit verhandelt. Fünf Jahre später und im Kontext der damaligen Geisteslage und evangelischen Theologie drängen sie sich Tillich auf. - Abfassungszeit beider Versionen: 1. Hälfte des Jahres 1924.

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1. Version Einleitung. Die Frage, die in der knappen Formulierung des Themas nur unzulänglich zum Ausdruck kommt, lautet: Welche Bedeutung hat die Rechtfertigung, das Princip des lutherischen Protestantismus, in einer Geisteslage, die bestimmt ist durch den Zweifel an den Voraussetzungen der Rechtfertigung? Da nun die gegenwärtige Geisteslage religiös unter dieses Urteil fällt, so kann unsere Frage auch so gestellt werden: Wie verhält sich der gegenwärtige Protestantismus in seiner der Reformation gegenüber fundamental veränderten Lage zu dem articulus stantis et cadentis ecclesiae? - Die Frage ist nicht mit der anderen von Holl erhobenen zu verwechseln: Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?1 Nicht die Möglichkeit, daß bei Einzelnen eine Luther analoge Lage etwa aus einer Vertiefung das Sündenbewußtsein durch den modernen Realismus entsteht, ist entscheidend - eine Möglichkeit übrigens, die [ich] auf Grund langer Beobachtungen an typisch modernen und zugleich religiös bewegten Menschen außerordentlich gering einschätzen muß. Sondern die Gesamtlage ist ins Auge zu fassen. Und diese ist trotz allseitiger Bekämpfung des Idealismus so, daß eine auch nur analoge Wiederherstellung der reformatorischen Geisteslage als ausgeschlossen erscheinen muß. Und diese Beurteilung der Lage würde auch dann zutreffen, wenn - was ich auf die tragenden Kräfte gesehen, bezweifle - weite alt-kirchliche und pietistische Kreise davon ausgenommen werden müßten. Denn für eine Geisteslage sind bestimmend die vorwärtsdrängenden symbolschaffenden Mächte, und die sind überall anders eher zu finden als dort. Ist aber die Beurteilung der Lage zutreffend, so ist unsere Frage die Zeit- und Schicksalsfrage des Protestantismus. Denn ein articulus stantis et cadentis ecclesiae ist ja kein Lehrsatz, den man stillschweigend übergehen kann, sondern ein Lebensprincip. Sein Bedeutungsloswerden bedeutet darum die Erschöpfung der Lebenskraft des Protestantismus. Das ist der Ernst unserer Frage.

So der Titel der Schrift von Karl Holl (Tübingen 1 9 0 7 ) ; auch in: Karl Holl, G e s a m m e l t e Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. III: Der Westen. Tübingen 1928, 558-567.

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I. Der Kampf des Zweifels und der Durchbruch der Gottesgewißheit a. Der Hervorgang des Zweifels aus dem protestantischen Princip 1. Luther war „homo religiosus". Die Voraussetzung 2 seines Klosterkampfes ist das Kloster wie für Paulus die Voraussetzung seines Durchbruchs der Pharisäismus, der Kreis der Eiferer im Gesetz war. Dem Durchbruch der Gnade in ihrer Unbedingtheit entspricht die unbedingte Gerichtetheit auf Gott, die abgesehen von der Gnade zur Verzweiflung führt. Diejenige Haltung, die in der Erfahrung der Rechtfertigung durchbrochen wird, nennt Luther das Gesetz im Gegensatz zum Evangelium, nannte Paulus den Pädagogen, der zu Christus hinführt, nennt man jetzt Religion als menschliches Handeln. Die Religion, der Inbegriff des auf Gott gerichteten Handelns, ist also in ihrer äußersten Zuspitzung Voraussetzung des Durchbruchs der Gnade. Die Rechtfertigung, d.h. diejenige Tat Gottes, durch die er unter Nichtanrechnung des sündigen Widerspruchs gegen Gott mit dem Sünder in Gemeinschaft tritt und den Widerspruch gegen sich fortschreitend überwindet, ist korrekt gedacht zu dem Willen des homo religiosus, durch religiöses Handeln den Widerspruch gegen Gott zu überwinden und die Gemeinschaft mit ihm zu erreichen. Der homo religiosus ist die Voraussetzung der Rechtfertigung. Und das gilt nicht nur für den Pharisäer, sondern ebenso für den Zöllner und Sünder, und nicht nur für die neutestamentlichen, sondern auch für die Dostojewski'schen. Während jene religiös Gott suchen, fliehen diese Gott religiös, erkennen aber in dieser Flucht die Unbedingtheit der göttlichen Forderung an. Diese sind leichter zu packen von dem Wort der Gnade, während jene sich wehren als gegen das Gericht über ihr Bestes. Bei jenen aber erfolgen die großen Durchbrüche, von denen jene und diese leben. - Außerhalb stehen nur die non religiosi, die Gesunden, die des Arztes nicht bedürfen, denen das Unbedingte keine Wunden geschlagen hat und kein Stachel geworden ist, weil sie an Stelle der Gnade die Relativität, an Stelle des Durchbruchs das mittlere Seiende setzen. Und auch diese Tugendhaften gibt es unter Pharisäern und Sündern, damit auch kein Zöllnerpharisäismus möglich ist. - So ist das homoreligiosus-Sein von entscheidender Bedeutung; es ist Voraussetzung der Rechtfertigung. Damit aber muß die umgekehrte Betrachtung

2

Hs.: Voraussetzungen

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einsetzen. Die Rechtfertigung ist zugleich die Voraussetzung des Gesetzes. Der Gegensatz Gesetz und Evangelium ist eine ungeheure Zuspitzung, aus dem centralen Durchbruchserlebnis über die ganze Religionsgeschichte der Seele und der Menschheit geworfen. In Wirklichkeit aber lebt das Gesetz von der Gnade, von einem Durchbruch, einer Offenbarung. Die Krankheit im Endlichen, das Verwundetsein am Unbedingten und darum die Erscheinung des Göttlichen in der Seele und in der Geschichte liegt jeder menschlichen Aktivität auf das Unbedingte zu Grunde. Der Mensch würde Gott nicht suchen können, hätte Gott sich ihm nicht offenbart. Die contritio ist Gottes W e r k , und sie entsteht durch Gesetzespredigt, als welche auch Gottes Gnade erscheint 3 . Wir können darum mit schärferem Blick für Religionsgeschichte sagen: Die letzte entscheidende Auswirkung der jedem Gesetz vorhergehenden Gnade und Offenbarung ist die, daß sie zum Empfang der Gnade zubereitet, daß sie den h o m o religiosus schafft. In Christus ist der Gegensatz beider M ö g lichkeiten, die in der Religionsgeschichte immer verbunden sind, zu entscheidendem Ausbruch gekommen. In ihm ist das Gesetz als schlechthin überwundenes offenbar, die Gnade in ihrer reinen Objektivität anschaubar. V o n da aus wird die ganze Religionsgeschichte in zugespitztem Sinne Gesetz, obgleich sie zugleich Geschichte der Gnade ist. Die von Christus ausgehende Religionsgeschichte steht unter dem Vorzeichen der Gnade. Die Gemeinde hat den Geist. Aber es entsteht neue Geschichte, für die Gemeinde erst ein unverständliches Faktum, an dem sie fast irre wird. Denn nun erwächst das Problem der Religion von Neuem. Und es entsteht die Schicksalsfrage des Christentums: Wie kann das, was Durchbruch durch die Religion ist, was Richtung auf die unbedingte T a t Gottes ist, bedingtes Tun werden? Das Christentum wird neues Gesetz und schafft im Verein mit allen entgegenkommenden Kräften der Spätantike den neuen h o m o religiosus. Der Katholicismus ist da und mit ihm die neue religiöse Wirklichkeit, das neue Gesetz. Er ist schon bei den Aposteln da, in der paulinischen Christus-Mystik, bei Johannes, in den katholischen Briefen. Er wirkt die vom Protestantismus so oft bestaunte Zurückdrängung des Paulinismus im Sinne der Rechtfertigung; er wirkt 4 bis

1

Ursprünglich: Der G l a u b e ist Gottes W e r k , und der Glaube schließt die durch Gesetzespredigt entstandene contritio ein.

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Hs.: schafft

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hin zu Augustin, in dem die paulinischen Durchbruchskräfte eine neue große Synthese auf katholischem Boden schaffen. Als die augustinisch-katholische Religion die Durchbruchsimpulse, auf denen sie ruht, immer mehr eingebüßt hatte, schuf sie doch noch den homo religiosus, in dem der neue Durchbruch erfolgte. Da aber der entscheidende Durchbruch erfolgt war, so wurde dieser zur Reformation. Es wurde die unmittelbare, naiv entstandene katholische Religion zerbrochen zu Gunsten der ausschließlichen Richtung auf die Tat Gottes. Der Paulinismus der Rechtfertigungslehre wurde wiederhergestellt. Aber was nun? Durch den Protest gegen das katholische Christentum war der Protestantismus der Möglichkeit beraubt, selbst wieder in Unmittelbarkeit zur Religion zu werden. Damit aber verlor er die Möglichkeit, seine eignen Voraussetzungen zu reproducieren: Eine Religion, ein Gesetz, einen Pädagogen auf Christus. Da [er] aber eine Religion werden mußte, so blieb nichts übrig, als unter der Hand katholische Elemente aufzunehmen, die Schrift mit dem spätantiken Inspirationsgedanken, katholische Dogmen-Bildungen und reducierten Sakramentalismus. Das genügte, solange der reformatorische Impuls nachwirkte. Dieser aber war bewahrt im Rechtfertigungsgedanken. Mit der Objektivierung desjenigen Princips aber, das wesentlich der Objektivierung widerstrebt, entsteht die Schwierigkeit von objektiver und subjektiver Seite: von objektiver, insofern die reine Objektivität der Gnade zu einem Gegenstand des Wissens wird, d.h. losgelöst von dem religiösen Akt als bekanntes Objekt der Lehre und Pädagogik dargeboten; von der subjektiven Seite, insofern - um diese Objektivierung zu überwinden - der Versuch gemacht wird, die Durchbruchsvoraussetzungen, die contritio zu erzeugen. Aber dazu fehlen die Mittel. Der einmal geleistete Durchbruch gibt allen Mitteln von vornherein den Charakter des Hypothetischen. Die Bußpredigt des ersten Teils der Predigt verliert ihren Ernst, weil man den zweiten Teil schon kennt. Oder es wird, wie im Pietismus, die Empfindung der Reue zu einem Gesetz gemacht, auf das sich dann ein von dem Gnadengedanken weit entferntes methodisches Handeln richtet: der Gegensatz von Pietismus und Orthodoxie. Daraus entsteht folgende religiöse Gesamtlage: Das Wissen um die Gnade schiebt die Rechtfertigung als Lebenskraft bei Seite. Wo die pietistische Subjektivität nicht einzelne Erschütterungen bewirkt, die zu einer direkten Hinwendung auf Gott führen, bleibt Gott bei Seite im Sinne eines etwa qua Sündenbewußtsein auftretenden Regu-

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lativ[s] des Selbstbewußtseins, das aber dadurch notwendig autonom, d.h. in erster Linie furchtfrei wird. Nur zweierlei bleibt übrig: die in der Rechtfertigung gesetzte sittliche Neuschöpfung und die in ihr gegebene Überwindung der Naturfurcht. Aber beides wird verändert. Das erste wird zur moralischen Vervollkommnung, das zweite zu einem Gottvertrauen, das Gott zum Regulativ des Naturverhaltens macht. Durch die Objektivierung der Rechtfertigung war Gott regulative Idee geworden, noch ehe Kant es formulierte und die Ritschlsche Theologie es in die Kirche einführte. Damit war im Ganzen die humanistische Position erreicht. Nicht zufällig; denn diese beruht auf dem gleichen antikatholischen Kampf innerhalb der Antike. Der ursprüngliche Gegensatz kam nur in der Antithese von Rationalismus und Supranaturalismus zum Ausdruck. Der letzte bewahrte das katholische Grundelement des Protestantismus, die Inspiration. Die Wendung aber ging nicht von hier aus, sondern von einer Verbindung des Pietismus, speziell der Brüdergemeinde, mit der Naturphilosophie und Mystik der Renaissance. Hier wurde der Sinn für die katholischen Elemente des Christentums lebendig, und damit konnten auch die katholischen Elemente des Supranaturalismus eine neue Vertiefung erfahren bis hin zur orthodoxen Reaktion. Der moderne Geist hielt sich an die von der Hierarchie losgelösten mystisch-katholischen Elemente und trieb zu dem neuen Durchbruch der Rechtfertigung in der Kierkegaardschen Schule, der freilich etwas ganz anderes ist, weil er nicht die Objektivität des Katholicismus im Hintergrund hat, sondern zu einer Objektivität hintreibt, die er selbst jedes unmittelbaren Korrektivs berauben will. Dadurch aber erscheint [er] als Krampf subjektiver Überspitzung und Umschlagens, soweit er nicht eine katholisierende biblicistische Massivität annimmt. Der Augenblick, in dem Gott regulatives Princip geworden ist, ist der eigentlich kritische für das Gottesbewußtsein. Die unmittelbare Beziehung ist zerrissen; die mystisch-ontologische Verbindung ist durch die reine Objektivität der Gnade aufgehoben. Der Mensch ist auf sich selbst gestellt, noch ehe er sich dessen bewußt wird. Die Gottesbeweise sind zugleich Nachwirkungen vergangener Unmittelbarkeiten, teils Dokumente des Auf-Sich-Selbst-Gestellt-Seins von Welt und Mensch. Gottesbeweis und Gotteszweifel sind korrelat. Die Art, wie der Zweifel gelöst wird, ist unbestimmt. Jedenfalls immer so, daß er an dem Rechtfertigungsgedanken vorbeigeht. Dieser ist von der Frage Autonomie und Theonomie völlig bei Seite gedrängt. Die Gottesfrage ist entscheidend geworden. Die katholi-

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sehen Reste können nichts helfen. Die centrale religiöse Position des Protestantismus ist unaktuell geworden und zwar vermöge ihrer eignen Dialektik, daß sie sich aufhebt, sobald sie zum Princip wird. Die Rechtfertigungslehre von Paulus und Luther ist nicht geeignet, Princip einer Kirche zu sein; sie ist nur möglich als Korrektiv, wie Barth von seiner Theologie sagt, als Anmerkung zur zeitgenössischen Theologie. 5 Wird sie aus einem Korrektiv zu einem Princip, so zerstört sie die breite Basis, aus der sie hervorwächst, das Katholische im Sinne von Religion, Gesetz, Unmittelbarkeit. Bei Paulus und erst im übrigen Neuen Testament und Frühchristentum wurde sie in dieser Weise als Korrektiv gewertet. Ultrapaulinische Opposition wurde abgewehrt. Bei Luther war die Schwächung der katholischen Elemente infolge seines Kampfes so stark, daß die Breite für eine Kirche verloren ging. Der articulus stantis et cadentis ecclesiae erwies sich als ein articulus stantis veritatis et cadentis ecclesiae. Damit stehen wir vor der Frage: Geben wir ihn auf oder suchen wir ihn in der Richtung fortzubilden, daß er der Unmittelbarkeit gerecht wird und damit im Stande [sein] wird, sich selbst zu reproducieren? b. Der Zweifler und seine Rechtfertigung Der Zweifler soll der Inbegriff all derjenigen sein, die aus dem Zerreißen der religiösen Unmittelbarkeit und der Vergegenständlichung Gottes die Konsequenz ziehen, ihre Autonomie zu bejahen, und den theoretisch gewordenen Gegenstand Gott für nicht-existent erklären, die aber die Wunde vom Unbedingten her in sich tragen, die ihnen das Weilen in der leeren Autonomie unmöglich macht. Der Zweifler gehört also zu den homines religiosi, aber zu denjenigen, für die das Princip der Rechtfertigung bedeutungslos geworden ist. Der Versuch, es für sie unmittelbar wirksam werden zu lassen, indem man den Zweifel zur Sünde macht oder zu einem Versuch, dem Ernst der Gotteswirklichkeit zu entgehen, ist unmöglich, da der

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„Fassen Sie meinen Beitrag zur theologischen Diskussion und auch das, was ich heute sagen möchte, nicht als ein Konkurrenzunternehmen zur positiven, liberalen, Ritschl'schen oder religionsgeschichtlichen Theologie auf, sondern als eine Art Randbemerkung und Glosse, die sich mit jenen allen in ihrer Weise verträgt und auch nicht verträgt, die aber nach meiner eigenen Überzeugung ihren Sinn in dem Augenblick verliert, wo sie mehr als das sein kann, wo sie Raum ausfüllend als neue Theologie neben die andern treten wollte" (in: Not und Verheißung der christlichen Verkündigung, in: Zwischen den Zeiten 1922, S. 1).

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Zweifel aus dem gleichen Ernst im Theoretischen hervorgeht wie das Schuldgefühl im Praktischen. Der Zweifel ist der Kampf um die unbedingte Wahrheit, der entweder zu einem Kompromiß oder zur Verzweiflung führt. Der Kompromiß heißt: Unendlicher Fortschritt. Er will die Wahrheit schaffen, erreichen, begnügt sich aber mit einem Teil und weiß nicht, daß er damit die unbedingte Wahrheit verloren hat. Die Verzweiflung geht in andere Richtung als die Heilsverzweiflung. Sie geht auf die Verzweiflung am Sinn. Damit ist eine Verzweiflung erreicht, die über den Zweifel am Werk der Gotteserkenntnis hinausgeht, aber ihre eigentliche Konsequenz ist. Die Form des Zweifels ist dann der Kampf um den Lebenssinn - , die Analogie zu dem Kampf um den gnädigen Gott. Dieser Kampf hat noch zu keinem religiös entscheidenden Ergebnis geführt. Beide Kirchen haben ihm gegenüber in einer Weise versagt wie das späte Mittelalter gegenüber der Frage der Heilsgewißheit. Infolgedessen Flucht in die Mystik. Diese ist keine Ersatzreligion; aber sie ist auch nicht Wiederaufnahme der alten Mystik, die zugleich Askese war, sondern sie ist der Ausdruck des Ringens um einen ungegenständlichen Gott, um einen Sinngrund. Mystik ist die Wiederfindung des unmittelbar Religiösen, das die Basis jeden Durchbruchs ins Objektive sein muß. Daher die Unmöglichkeit der Renaissance des Reformatorischen, die Ablehnung Luthers bei dem homo religiosus dubitans. Aber diese Flucht in die Mystik bedeutet zugleich ein Festhalten in der Subjektivität und damit in der Werksphäre. Die Majestät des Göttlichen wird nicht erreicht, der Sinn nicht gefunden, weil man ihn wegtun kann. Die Wahrheit, die nicht verzehrendes Feuer, sondern bloß wärmende Glut ist, überzeugt nicht, ihr kann eine andere Wahrheit gegenübergestellt werden. Soll aber die Wahrheit die Unbedingtheit des Göttlichen erreichen, so muß sie die Form der Gnade annehmen, des Durchbruchs. Wie ist das möglich? Wie kann die Gnade Durchbruch sein in der Sphäre der Wahrheit und des Sinnes? Das Gesetz in der Sphäre des Erkennens ist die Forderung, unter den übrigen Gegenständen einen solchen zu erkennen, der die Qualität Gott hat. Dieser Forderung kann genügt werden: 1. durch einen Willensassensus, ein „ W a g n i s " , das den Charaktereines Experimentes hat und darum im Verhältnis zu Gott mißlingen muß; 2. durch Denken, das den Zweifel überwindet, ihn aber ins Unendliche nicht

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überwinden kann; 3. durch Gefühlserregungen, die als gewollte den Charakter der Künstlichkeit haben. Alle drei Formen sind Werk, sind darum unendlich und führen nicht zum Ziel. Das ist der Widersinn aller Apologetik, daß sie das Werk des Gotterkennens tun will. Es gibt nur eine Lösung: die Botschaft, daß die Wahrheit, die der Zweifler sucht, der Lebenssinn, um den der Verzweifelte ringt, nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung des Zweifeins und Suchens ist, daß das Gericht, das die Wahrheit an jeder Verzweiflung ausübt, das Wesen der Wahrheit ist - das Aufbrechen des Sinngrundes als unbedingter Gegebenheit und unbedingter Forderung, um ihn zu ringen. Die Gegenwart der Wahrheit als unsagbare und ins Unendliche auszusagende Tiefe. Für Luther ist der Unglaube die eigentliche Sünde. Der Unglaube ist auch die eigentliche Trennung von der Wahrheit und dem Lebenssinn; dieser Unglaube ist identisch mit dem Gesetz, die Wahrheit zu suchen, Gott zu denken, zu experimentieren und experiieren, d.h. den eignen, außerhalb des Sinnes stehenden Standpunkt absolut zu setzen und ihm dadurch die Weihe zu geben, daß man Gott dazu findet, d.h. erfindet. Die Sünde des Zweiflers ist der Unglaube, d.h. das Nicht-Zweifeln an seinem Zweifel, d.h. der Wille, das zu suchen, von dem man sich in diesem Suchen entfernt. Die Botschaft von der Offenbarung des Grundes hat die Befreiung, daß sie jedes Tun der Erkenntnis vernichtet und die Gegenwärtigkeit des Unbedingten vor [der] Gotteserkenntnis und Sinnerkenntnis offenbart. Es ist des Gott des Gottlosen, die Wahrheit des Wahrheitslosen, die Sinnfülle des Sinnentleerten, entsprechend der Gerechtigkeit des Sünders, die hier verkündet wird. Dieses ist kein leeres Paradox, kein Gedankenkunststück, sondern es ist der Durchbruch der Fülle, der Gnade, des Sinnes. Dieser Moment des Durchbruchs ist in Bezug auf Inhalte völlig indifferent. Der Mensch hat kein Werk des Erkennens vorzuweisen. Das Göttliche ist der Sinnabgrund und -grund. Nichts anderes ist darüber zu sagen. Er steht jenseits von Licht und Finsternis, von Gott und Dämon, von Natur und Persönlichkeit. All dieses liegt in ihm zur Scheidung bereit, wie der Kampf gegen das Böse und die Werke der Liebe im Akt der Rechtfertigung; aber es liegt verborgen in ihm. Es ist die Geburtsstunde der Religion im Menschen, der zur Tiefe der Verzweiflung aus Zweifel, aus Sinnentleerung gedrungen ist, der die dämonische Frage: Sollte Gott sein, sollte Wahrheit sein, sollte Sinn sein? in dem Gegenparadies der Autonomie gehört hat.

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Dieses ist nicht Mystik, denn die Mystik ist Ende. Dieses aber ist Anfang; es ist die Stunde der Wiedergeburt, in der die Geburt des Menschen, nämlich des religiösen Wesens, sich wiederholt. Es ist nicht die Flucht vor den Namen und dem Bewußtsein wie in der Mystik, sondern es ist die Geburt der Namen und des Erkennens und der Sinnfindung. Ist der Unglaube das Stehen in Unwahrheit, so ist der Glaube das Stehen [in] der Wahrheit schlechthin, die allen Wahrheiten vorangeht, der Grundoffenbarung. Es ist die Größe der Mystik, daß sie diese Geburtsstunde der Wahrheit, des Sinnes, des Menschen immer wieder in Erinnerung ruft. Darum ist sie unsterblich, und es ist wahrhaft göttliche Offenbarung in ihr. Aber es ist ihre Grenze, daß sie aus Furcht vor der Welt der Wahrheiten, Namen, Sinnformen im Schweigen versinken will. Wie sie als Askese aus Furcht vor dem Werk nichts tun will und dadurch doch wieder zu dem schwersten der Werke wird, so will sie aus Furcht vor den Namen nichts erkennen und zwingt sich dadurch zu dem Werk des absoluten Schweigens und Sich-Versenkens. Aber darin wirkt noch Gesetz6 nach, das vor dem Zweifel an jedem Werk steht. Erst wenn der Zweifel auch hier zerstört hat, ist mit dem Durchbruch des Sinngrundes auch die Mystik, die am deutlichsten von ihm zeugt, überwunden. c. Theologische Umschau Diese Gedanken besagen, daß jede Richtung entschlossen abgelehnt wird, in der die Offenbarung ausschließlich christologisch gefaßt wird. Die Offenbarung in Christus, der Durchbruch der göttlichen Unbedingtheit gegenüber allem Werk des Handelns, setzt eine breite Basis der menschheitlichen Religion und der in ihr sich vollziehenden Offenbarung des göttlichen Grundes voraus! Ohne diese gibt es keine Aufnahme der im personalen Centrum sich vollziehenden Offenbarung in Christus. Die Heilsoffenbarung ohne Grundoffenbarung 7 schwebt in der Luft. Ein Satz wie der: „Ohne Jesus würde ich Atheist sein" 8 , ist schon in sich unmöglich, weil die Qualifizierung Jesu 9 als religiös erheblich '

Über gestr.: Unmittelbarkeit

7

Über gestr.: Seinsoffenbarung

"

Der Satz „ O h n e Christus wäre ich Atheist" stammt von Johannes F. Gottschick. Vgl. seinen unter dieser Überschrift stehenden Beitrag in: Die christliche Welt, 2. Jg., 1888, 4 6 1 f . Folgt gestr.: Erwecker oder Versicherer des Gottesbewußtseins

9

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nur möglich ist auf Grund eines entgegenkommenden Vermögens, eine Wirklichkeit als religiös zu werten. Im übrigen ist der Theos, um den es sich hier handelt, das Regulativ der die irdischen Hemmungen überwindenden sittlichen Persönlichkeit, also ein Gott, der dazu bestimmt ist, in der sittlichen Idee aufzugehen. 10 Ähnliches ist von Holl und Hirsch und ihren Ansätzen zu einer rein personalistischen Religionsphilosophie zu sagen. Hirsch erkennt in seiner feinen Schrift über den deutschen Idealismus an 11 , daß die idealistische Philosophie sich um die ungegenständliche Fassung des Gottesgedankens bemüht; aber er wirft ihr vor, diese Ungegenständlichkeit - die der Uroffenbarung entspricht - statt in der Persönlichkeit in der intellektuellen Anschauung zu suchen. Nun steht aber im Idealismus die intellektuelle Anschauung - wenn auch in religiös und philosophisch bedenklicher Weise - für die ontologische Glaubenshaltung. Aber auch die Persönlichkeit reicht in eine ontologische Tiefe herab, und die unbedingte Persönlichkeit wird wieder nur zu einem Regulativ, wenn ihr die ontologische Unbedingtheit fehlt. 12 Mit eindringlicher und mit großer systematischer Kraft auf unser Problem eingegangen ist Heim, historisch und systematisch. 13 Hier ist die Kant-Ritschlsche Bindung überwunden. Die Art aber seines Vorgehens muß zu den größten Bedenken Anlaß geben. Heim sieht die Paradoxie der Gottesbeziehung. Er kennt die Unzulänglichkeit der Apologetik. Aber er sucht die Paradoxie nun nicht in der universal-religiösen, sondern ganz wie jene in der christologischen Sphäre. Freilich er kennt die Tiefe der Paradoxie. Er sieht, daß in der religiösen Haltung alle Namen und Kategorien versinken; er macht darum

10

Folgt gestr.: So rächt sich die Aufgabe der Seinsoffenbarung.

"

Emanuel Hirsch, Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie. T ü b i n gen 1 9 2 0 („Eine Philosophie, der G o t t nichts anderes ist als der Inbegriff alles geistigen Gehaltes, ohne die innere Sichentzweiung der lebendigen Persönlichkeit, muß schließlich auch in der Beurteilung des geschichtlichen Lebens der Menschheit das ethische M o m e n t der freien T a t zugunsten des intellektuellen M o m e n t s der Wahrheitsschau e n t w e r t e n " , S. 3 2 , dort gesperrt gedruckt).

12

Folgt gestr.: Diese Kritik ist auszuweiten zu einer Kritik der Hirsch-Hollschen Luther-Renaissance überhaupt, deren historische G r ö ß e nicht durch ihre systematische Unzulänglichkeit beeinträchtigt zu werden braucht.

13

Karl Heim, Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion. Leipzig 1 9 1 6 , 2 . Aufl. 1 9 2 0 , 3 . Aufl. 1 9 2 3 . Ders., Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher. Leipzig 1 9 1 1 .

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die Entscheidung für Christus zu einer freien Urentscheidung. Aber diese Urentscheidung richtet sich auf ein Objekt, das durch Namen und Kategorien bestimmt ist. Und eine solche Entscheidung kann sich nur in Kategorien und unter Namen vollziehen. Wenn Heim leugnet, daß die Kategorie des Möglichen hier noch eine Rolle spiele, so läßt er sich dadurch täuschen, daß für ihn, d.h. für den a priori mit Christus Verbundenen, keine Möglichkeit besteht, sich anders zu entscheiden. Aber er wollte ja von dem radikalen Zweifler reden, dem jede, auch die eigne Position entschwunden ist, und das gelingt ihm nicht. Christus ist der konkret bestimmte Name, der deus revelatus. Aber die Qualität, deus zu sein, hat er nur auf dem Grunde des deus absconditus, der nicht der unerkennbare, sondern der unbenennbare, aber als absconditus wohl erkennbare Gott zu bezeichnen ist. Steht Heim in engem Zusammenhang mit der subjektiv-pietistischen Seite von Luthers Rechtfertigungslehre, so Gogarten mit der objektiv-orthodoxen. 14 Ihm kommt alles auf die reine Objektivität und schlechthinnige übermenschliche Gegebenheit der Offenbarung an. Es ist nun schwer, über ihn in unserem Zusammenhange zu reden, weil zu wenig Entfaltung in unserer Richtung vorliegt, weil vielleicht Barths Wort, daß er nur eine Anmerkung zur Theologie sein wolle, auch hier gilt. Würde es gelten und würde es nicht wieder aufgehoben werden durch die dialektische Frage: Sollte vielleicht die Anmerkung das Ganze sein?, so wäre es möglich, darin die hier gegebene Auffassung von dem Durchbruchscharakter der rechtfertigenden Gnade wiederzufinden. Andernfalls aber - und fast scheint das andere gemeint zu sein - müßte auch hier die Unmöglichkeit betont werden, die Offenbarung in Christus loszulösen von der Seinsoffenbarung und Religion und Offenbarung in einen einfachen Gegensatz zu stellen. Denn auch die Richtung auf die Objektivität des göttlichen Handelns in Christus ist Sache des homo religiosus, soll er nicht eine rein intellektuelle und willentliche, religiös indifferente Haltung sein. Das Wort, das Brunner der Mystik entgegenstellt15, hört nur der homo mysticus, d.h. derjenige, der nicht Mysti-

14

Friedrich G o g a r t e n , Die religiöse Entscheidung. Jena 1921; V o n Glauben u n d O f f e n b a r u n g . Vier Vorträge. Jena 1923.

15

Emil Brunner, Die Mystik und das W o r t . Der Gegensatz zwischen m o d e r n e r Religionsauffassung u n d christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers. T ü b i n g e n 1 9 2 4 , 2. Aufl. 1928.

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ker im aktuell-werkhaften Sinn ist, sondern der die ontologische Grundoffenbarung vernommen hat. Besonders schwerwiegend wird unser Bedenken, wenn sich die Entgegenstellung von Göttlichem und Menschlichem zu einer systematischen Profanisierung der Kultur einschließlich der Religion und ihres Ausdrucks im Theoretischen, der Philosophie, verdichtet. Diese Haltung, die [in] den Augenblicken der großen eschatologischen Durchbrüche gegen eine unparadoxe Vergöttlichung von Religion und Kultur am Platze ist, wirkt verhängnisvoll, wenn sie zur Haltung gegenüber der Breite der Zeit, des Lebens und der Gesellschaft wird. Sie entheiligt die Wirklichkeit und das Leben, sie läßt vergessen, daß Kultur und Religion von dem Wort der Grundoffenbarung leben, daß die Philosophie ihm auch in den extremsten Polen formaler Arbeit wie bei Aristoteles und Kant noch machtvollen Ausdruck gibt und sich auf dem anderen Pol, bei Plato, Augustin, Spinoza, Hegel unverkennbar in den Dienst des Offenbarungswortes stellt. Das Gleiche gilt von allen Seiten der Kultur. Wird die Kultur der Profanisierung anheimgegeben, so wird das Sein der Offenbarung zum Verstummen gebracht und damit Kultus und Mythos und damit das Gnadenwort unvernehmbar gemacht, eine Lage, deren verhängnisvolle Konsequenzen wir erlebt haben und über die wir in allen Gebieten hinausdrängen. Damit stehen wir bei der Frage nach der anderen großen Linie der gegenwärtigen Theologie, die von der Grundoffenbarung zu reden weiß, bei der wir aber fragen müssen, ob sie so von ihr zu reden weiß, daß die Paradoxie des Rechtfertigungsprincips in ihr gewahrt ist. Zu den Dingen, in denen wir Brunners SchleiermacherKritik zustimmen können, gehört die Einreihung Schleiermachers in die Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus. Das Princip der Identität ist die logisch-außerreligiöse Formulierung der Paradoxie im gläubigen Erfassen der Grundoffenbarung. Es fehlt der Identität das Element des Abgrundes im Grunde, das Vernichtende, Zerstörende, alles Endliche Aufhebende des Grundwortes der Offenbarung. Es ist zu einem Ruhenden, Selbstverständlichen geworden. Und es [hat] darum auch die innere Vieldeutigkeit verloren, die zur Scheidung der Namen treibt und zur Überwindung des Dämonischen in der Offenbarung des Christus. Vor allem wird es so zu einem Subjektiven, Psychologischen - wie der neue Ketzername heißt. Aber nicht die Richtung auf die Grund-Offenbarung ist etwas Psychologisches, sondern die ruhende, identitätsphilosophische Fassung.

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Im übrigen ist seit Durchsetzung der phänomenologischen Intentionspsychologie Revision des Ketzernamens zu empfehlen. Sehr deutlich gemacht hat die Grund-Offenbarung Ottos Bestimmung des Heiligen als mysterium tremendum et fascinosum 16 , und die Art, wie Bruhn diese Gedanken zu einer antiidealistischen und antiempirischen Ontologie weitergetrieben hat 17 , scheint mir zu zeigen, daß auch die Philosophie wieder beginnt, in ihren centralen Anliegen auf das Moment der Offenbarung zu hören und sich von der Hybris der bloßen in sich selbst lebenden Kritik zu befreien. Aber auch hier ist der Glaubenscharakter nicht scharf genug herausgearbeitet. Hier zeigt sich der Mangel der phänomenologischen Beschreibung. Er bewirkt, daß das Heilige als nebengeordnet den übrigen Funktionen, darum aber als gegenständlich und unter dem Zweifel stehend, aufgefaßt werden kann; und umgekehrt, wenn es da ist, schwer in Beziehung zu den übrigen Sinngebieten gebracht werden kann. Als Durchbruch gerade durch die Sinngebiete, als ihr Abgrund und ihr Grund, ist es nur dem Glauben zugänglich und kann gerade darum nie bei Seite geschoben werden. Das ganz Andere ist immer zugleich das ganz Eigne, der Abgrund immer zugleich der Grund. Soviel zur Beurteilung der beiden Linien der zeitgenössischen Theologie. Die christozentrische Fassung der Offenbarung scheitert daran, daß sie die Grundoffenbarung nicht kennt und darum ohne Basis bleibt; die universale Fassung der Offenbarung ist unvollkommen, solange sie nicht die Paradoxie der Rechtfertigung auf die Grund-Offenbarung anzuwenden vermag. Es ist die Aufgabe der protestantischen Theologie, über diesen Gegensatz hinauszukommen und damit in sich selbst die katholische Basis zu schaffen, deren ständige Erneuerung den Durchbrüchen der Gnade in Christus die Voraussetzung schafft. II. Die Wirkungen des Glaubens an die Grundoffenbarung a) Die Rechtfertigung des Zweiflers, der Durchbruch des Unbedingten als des all seinem Zweifeln, Bejahen und Verneinen Vorhergehenden, des unbedingt Fernen und Nahen, des Verzehrenden und Tragenden, dieser Augenblick ist an nichts Äußeres und nichts Inne" 17

Rudolf O t t o , Das Heilige. M ü n c h e n 1917. Wilhelm Bruhn, D e r V e r n u n f t c h a r a k t e r der Religion. Leipzig 1921; Glauben und Wissen (Aus N a t u r u n d Geisteswelt, Bd. 730). Leipzig 1921.

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res gebunden. Er kann sich an jedem Außen und jedem Innen entzünden; denn zu seinem Wesen gehört die Universalität, die Namenlosigkeit. Es ist auch keine der psychischen Funktionen, die diesem Hören der Uroffenbarung zugeordnet wäre, genausowenig wie dem Akt des Heilsglaubens. Der Glaube ist durch die Intention bestimmt, nicht durch die psychischen Realisierungen. Und wenn jemand sagte, daß das Namenlose nicht Gegenstand eines Denkens und Wollens, sondern nur eines Fühlens [sei], so weiß er nichts von dem abgründlichen Gedanken, in dem das Denken zugleich endet und sich gründet, und von dem abgründlichen Willen, in dem alles Wollen sein Ende und seinen Sinn findet. Der Wahrheitsglaube ist so objektiv wie der Heilsglaube. Es besteht hier nun die gleiche Gefahr wie in der ethischen Rechtfertigung, daß die zusammengehörigen Seiten der Rechtfertigung, die imputative und die effektive, auseinandergerissen werden. Die einseitig betonte veritas imputata führt aber wie die justitia imputata zum Intellektualismus und zur Indifferenz im Leben der Wahrheit. Die Rechtfertigung des Zweiflers wird dann zu einer abstrakten Paradoxie, die auf die Wahrheitserkenntnis keinen Einfluß hat, sondern sie ihrer Autonomie überläßt. Dann ist aber die Spannung des Zweifels verschwunden, und das Paradox steht wirkungslos abstrakt neben selbstgenügsamem konkreten Erkennen (eine Gefahr, der verfallen zu sein z.T. infolge [einer] intellektualistischen Deutung der justitia imputata ich bekennen muß). - Die andere Gefahr ist die rein effektive Deutung, die zwar einen ersten Durchbruch der Wahrheit kennt, das Haben der Wahrheit aber nicht immer wieder auf den Glaubensakt des Durchbrechens zur GrundOffenbarung gründet, sondern auf die Vollendung der Wahrheitserkenntnisse, auf die Fortschritte der Namengebung in Kultur und Religion, auf Geistes- und Schöpferkraft, auf Entscheidung und Intuition. Das alles ist Frucht, aber nicht Grund des Habens der Wahrheit. Wird es zum Grund gemacht, so entsteht ein Werk des Erkennens, das sich an Stelle des Wahrheitsglaubens setzt und das zerbrechen muß, und wäre es das vollkommenste Werk und wäre es die Erkenntnis Christi als Name Gottes, über dem kein Name ist. b) Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Heilsglaube und Wahrheitsglaube scharf gestellt, objektiv gesprochen nach dem Verhältnis von Grund-Offenbarung und Heilsoffenbarung. Sie ist so zu beantworten: Die Grund-Offenbarung ist die Befreiung aus der Verzweiflung des Zweifels und der Sinnleere. Insofern ist sie der Anfang

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der Heilsoffenbarung. Und die Heilsoffenbarung ist Befreiung aus der Verzweiflung des Widerspruchs und der Gottferne. Insofern ist sie Vollendung der Grundoffenbarung. Es ist der eine Lebensproceß, in dem beide stehen, das eine als Anfang, das andere als Ziel, aber nicht zeitlich, sondern innerlich zu denken und darum räumlich anzuschauen als Basis und als Spitze, als Peripherie und als Centrum, denn das Wort der Wahrheitsoffenbarung ist zweideutig; es ist Grund und Abgrund zugleich." Noch Luther wußte, daß der Deus absconditus dem Menschen als Dämon erscheinen würde. Darum sind die Götter der Völker immer zugleich göttlich und dämonisch. Dämonen bleiben auch die lichtesten unter ihnen; dämonische Elemente hat selbst noch in sich die den Abgrund suchende Mystik und der mit irrationalem Willen in den Abgrund verdammende Gott der doppelten Prädestination. Darum ist die Heilsgeschichte Überwindung des Dämonischen der Menschheitsreligion. Darum ist die Überwindung da erfolgt, w o Gott Geist wurde und Liebe, unbeschadet seiner Majestät und Verborgenheit. Darum ist aber dieses auch die Vollendung der Grund-Offenbarung: Denn es ist nicht die Wahrheit, daß Gott zweideutig, daß er dämonisch ist. Es ist dieses Sinnwidrigkeit und Lüge. Und die Menschen zeigen das in ihrem Handeln: Der Kult der Dämonen ist nie eine Anerkennung der Unbedingtheit des Unbedingten, der Göttlichkeit Gottes, er ist immer auch ein Wirken auf den Dämon, ein Ihn-Bestimmen immer Kult. Dem Gott, der Geist ist und unbedingter Sinngrund, der unbedingte Gerechtigkeit und unbedingte Wahrheit ist, ihm gegenüber ist das unmöglich; ihm gegenüber wird offenbar, daß das Dämonische nicht in Gott, sondern im Menschen liegt, und daß darum der Mensch nur nehmen und nicht geben kann, und daß die Gnade zugleich Gericht ist und der Zorn zugleich Gnade ist. Dieser Gott aber ist genannt der „Vater Jesu Christi". c) Dieser innere Zusammenhang von Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung ist nun entscheidend für die Lage des Protestantismus: Er muß es wieder lernen, den deus revelatus auf dem Hintergrund des deus absconditus zu sehen. Und das ist mehr als der moralische Gott, der die Sünde straft und verzeiht und zu dem man Vertrauen hat. Und er muß von Christus so reden, daß dahinter der ungeheure Ton der Grundoffenbarung in aller Menschheitsreligion und Kultur 18

Folgt gestr.: tremendum et fascinosum

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hörbar wird. Das macht ihn nicht geringer, aber es befreit ihn aus der Isolierung, in der er im Neuen Testament und der alten Kirche noch nicht stand. Durch das Wort, Logos, war er verbunden mit der gesamten Natur und Geschichte; und wenn die moderne Theologie den Alten vorwirft, daß sie die Christologie kosmologisch, aber nicht soteriologisch hätten gestalten können, so ist das nur ein Zeichen dafür, daß man nicht mehr weiß, daß der Kosmos voll der Dämonen war und daß auch der Heroismus des stoischen Logos zerbrochen war durch die Furcht der bösen Gewalten. Daß der Logos Christus hieß, war Soteria im höchsten Maße damals und, ich glaube, auch jetzt (von da aus Sünde). Damit aber bricht der Protestantismus aus seinem Centraiismus durch zum Universalismus, griechisch: Katholicismus. Die Frage nach der Rechtfertigung des Zweiflers ist dieser Durchbruch. Denn die Antwort kann nur gegeben werden auf der Breite der Grundoffenbarung, die dem Zweifler jede Position nimmt, von der aus er zweifeln kann. Er wird ihm keine Position in Natur und Geschichte, in Politik und Ethik lassen, die er nicht deuten würde als Name oder Gestaltung der Grundoffenbarung, als dämonischen oder göttlichen Namen. So wird Predigt und Handeln der Gemeinde die Gesamtheit des Wirklichen umfassen und keinen Winkel frei lassen, auf dem man die Grundoffenbarung nicht zu vernehmen brauchte, auf dem man mit guten Wahrheits-Gewissen profan sein dürfte. Und das wäre zugleich die centrale Überwindung des Individualismus und die Herstellung einer religiös-soziologischen Basis, einer geistigen Substanz, in der das göttliche Wort das erste Wort ist. Das wäre protestantischer Katholicismus, universaler als der römische, weil ungebunden durch Hierarchie und rechtliche Verhärtung. 19 Die christliche Gemeinde aber wäre einerseits die Krisis der religiösen Kultur, andererseits die Rückkehr zu der Grundoffenbarung auch gegen sich selbst. (Schrift und Grundoffenbarung.) Religionsgeschichte. Der Durchbruch der Uroffenbarung geschieht in vielen Einzelnen, aber er ist die Aufhebung des Einzelnen als solchen, insofern alles Einzelne als schöpferische Überzeugung unter der Rechtfertigung des

Folgt gestr.: U n d d o c h ihm v e r w a n d t ; und d a r u m tiefer verstehend. D a s K a t h o l i s c h - U n i v e r s a l e s c h o n im N e u e n T e s t a m e n t und in der a l t e n Kirche u n d vor a l l e m bei A u g u s t i n , in d e m die Einheit von G r u n d o f f e n b a r u n g und Heilso f f e n b a r u n g den für J a h r h u n d e r t e v o l l k o m m e n s t e n A u s d r u c k g e f u n d e n hat.

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Zweiflers steht, nicht so, daß sie willkürlich unangetastet bleibt, sondern so, daß sie unter dem doppelten effektiven Gericht steht: In wie weit sie den Sinn der Ur-Offenbarung zum Ausdruck zu bringen vermag und in [wie weit] sie es vermag nicht dämonisch, sondern göttlich, also gemessen an dem Christus. Aber weil universaler und ungebunden in der Weite, so ist der Protestantismus schlechthin gebunden im Centrum, im Christus, und es ist ihm nicht möglich, so mancherlei dämonische Elemente der Völker aufzunehmen. Er ist enger und weiter zugleich; er beansprucht nicht den zweifelhaften Ruhm, eine coincidentia oppositorum zu sein, zusammengehalten von einer geschichtlich-organisatorischen Einheit. Der Protestantismus hat ein Princip, und dieses Princip ist lebendig, die innere Dynamik von Wahrheit und Heil, von Grundoffenbarung und Gnadenoffenbarung, die Rechtfertigung allein durch den Glauben.

2. Version Einleitung. Der Sinn des Themas: Welche Bedeutung hat die Rechtfertigung, das Durchbruchsprincip des Protestantismus, gegenüber dem Zweifel an den Voraussetzungen dieses Princips? - Unsere Lage ist bestimmt durch diesen Zweifel, durch den Verlust der Voraussetzungen des Rechtfertigungsglaubens. Demgemäß die Frage: Was hat der articulus stantis et cadentis ecclesiae dem gegenwärtigen Protestantismus in seiner der Reformation gegenüber fundamental veränderten Lage zu sagen? Die Frage nicht identisch mit der Hollschen.20 Diese kann nur individuelle Antworten finden, die für die Geisteslage bedeutungslos sind. Und sie wird nur selten positive Beantwortung finden. Darin sind Gebildete, Proletariat und Jugend einig. Die kirchlich-pietistischen Kreise aber sind einerseits nicht für unsere Geisteslage - auch nicht nach der religiösen Seite hin - charakteristisch, andererseits ist gerade bei ihnen das Princip der Rechtfertigung nicht maßgeblich. Und das führt zu dem eigentümlichen Tatbestand, daß unsere Frage nicht eigentlich als Lebensfrage empfunden wurde. Längst war ja neben das Durchbruchs- und Lebensprincip des Protestantismus 20

Vgl. Karl H o l l : W a s hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen? Tübingen 1 9 0 7 .

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das Formalprincip, die Schrift, getreten und darüber die Rechtfertigung mit dem späten Ehrennamen Materialprincip bei Seite geschoben. Denn es kann nicht zwei Principien geben. Principium ist Herrschaft. Herrscher aber ist unter uns die Schrift mit mannichfaltigen stoßweisen Wirkungen oder die aus dem Widerspruch gegen die Schrift- und Lehr-Autorität hervorgegangene religiöse Autonomie, der entleerte Schatten der Rechtfertigung. Hier liegen die Wurzeln der gegenwärtigen communis opinio von der wesensmäßigen Unzulänglichkeit des Protestantismus. Es ist das Verdienst der wissenschaftlichen Lutherrenaissance, das protestantische Durchbruchsprincip rein erfaßt zu haben. Aber das ist zunächst Wissenschaft. Religiös erheblich kann nur eine Verkündigung der Rechtfertigung sein, die das reformatorische Durchbruchsprincip auch als Durchbruchsprincip unserer Geisteslage kundtut. Diese aber ist bestimmt durch den Verlust der Voraussetzungen, die Mittelalter und Reformation gemeinsam hatten, der Gottesgewißheit und damit der Wahrheit und des Sinns. Damit aber treten wir zugleich in das Centrum der gegenwärtigen theologischen Debatte. 1. Der Hervorgang des Zweifels an den Voraussetzungen der Rechtfertigung aus der Aufstellung der Rechtfertigung als Princip. 1. Die Unmöglichkeit einer Renaissance Luthers im religiösen Sinne ist darin begründet, daß der Weg von der Rechtfertigung zu dem Zweifel an ihren 21 Voraussetzungen ein notwendiger war. Es handelt sich nicht einfach um einen Sündenfall des Protestantismus, wie es sich - das ist die Konsequenz, der wir endlich klar ins Auge sehen müssen - nicht einfach um einen Sündenfall des Christentums handelt, wenn es sich vom Paulinismus der Rechtfertigungslehre fortentwickelt. Zum mindesten müßte dann dieser Sündenfall schon bei Paulus selbst und erst recht im übrigen Neuen Testament erfolgt sein. 2. In Wahrheit handelt es sich um die innere Spannung der Religion selbst, die Paulus und Luther als Polarität von Gesetz und Evangelium bezeichneten und für die gegenwärtig der Gegensatz Religion und Offenbarung in der dialektischen Theologie verwendet wird. Überall wird der Gegensatz beider verkündet. Aber dieser

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Hs.: seinen

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Gegensatz ist kein einfacher. Das Verhältnis wird dadurch zugleich positiv, daß das Entgegengesetzte das Vorausgesetzte ist. Rechtfertigung und Gnade und Offenbarung sind Durchbruchsbegriffe, solche, in denen ein Dennoch enthalten ist, in denen aber das, was durchbrochen wird, zugleich vorausgesetzt ist. Das Gesetz, d.h. die Religion als göttliche Forderung, deren Nicht-Erfüllung zur Verzweiflung treibt, ist die ständige immanente Voraussetzung für die Offenbarung des Evangeliums. N u r derjenige kann die Botschaft von der Tat Gottes gläubig aufnehmen, in der Gott dem Sünder zu neuer Gemeinschaft begegnet und ihm die Sünde nicht anrechnet - d.h. die Botschaft der Rechtfertigung, der die unbedingte Verpflichtetheit vor Gott kennt. Es bedurfte aber Jahrhunderte jüdischer Gesetzesverkündigung, um in Paulus die Gewalt dieser Unbedingtheit zu schaffen, und es bedurfte Jahrhunderte des Mönchstums und des Bußsakraments, um das Gleiche in Luther zu wirken. Das Gesetz, die Predigt der Gerechtigkeit vor Gott, ist die Voraussetzung der Rechtfertigung, die Religion die Voraussetzung der Offenbarung, das Katholische als Princip ist die Voraussetzung des Evangelischen als Princip, und zwar konstante immanente Voraussetzung. 3. Das führt nun aber sofort zu einer Umkehrung des Satzes: Die Gnade ist die ständige Ursache von Gesetz, das Evangelische vom Katholischen, die Offenbarung von Religion. Das ist nicht Sündenfall, sondern Realisierung und hat nicht mehr, freilich auch nicht weniger Sünde in sich als eben jede Realisierung. Was Gnade an der Realisierung ist, das ermöglicht alles Leben und jede Schöpfung in Kultur und Religion; was Sünde an der Realisierung ist, das, wodurch sie bloß Gesetz, bloß Religion, bloß katholisch wird, das treibt zu neuen Durchbrüchen der Gnade, die Sünde aber aller Realisierung ist die, daß das Aufnehmen der Gnade zu einem Bewirken der Gnade wird. In der gesamten Religionsgeschichte ist diese Mischung von Gnade und Gesetz, die uns berechtigt, vom Standpunkt des Durchbruchs in Christus aus die gesamte Religionsgeschichte als Gesetz dem Evangelium entgegenzustellen. Denn hier allein ist keine Mischung, sondern die reine, das Gesetz aufhebende Tat Gottes anschaubar. 4. Aber was für die Religionsgeschichte gilt, das gilt auch für die Kirchengeschichte. Sie ist Realisierung, und darum muß sie katholisch und Gesetz und Religion werden. Eine Betrachtung der Dogmengeschichte vom Neuen Testament bis zur Gegenwart unter diesem doppelten Gesichtspunkt des Durchbruchs und der Realisierung

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würde die kleinliche und letztlich überhebliche Art der protestantischen Dogmengeschichte überwinden, die anstatt die Realisierung zu verstehen, nur den Sündenfall sucht und ihn schon überall da findet, w o es sich um die Realisierung handelt. Das gilt für das griechische Dogma so gut wie für die Scholastik, für Augustin, die machtvollste Einheit von Durchbruch und Realisierung, wie für Melanchthon und Kalvin. Die bisherige protestantische Dogmengeschichte ist eine solche vom Standpunkt des Durchbruchs. Wir brauchen aber eine solche vom Standpunkt der Spannung von Durchbruch und Realisierung. 5. Dieses allgemein und innerhalb der Wahrheitssphäre überhaupt. Darin nun ein Unterschied von Urchristentum und Protestantismus. Jenes hat den entscheidenden Durchbruch der Gnade unmittelbar recipiert. Auch die paulinische Antithese gegen das Gesetz hinderte ihn 2 2 nicht, die Gnade sofort religiös zu realisieren in Christusmystik, Sakrament und Ethik. Das antigesetzliche Korrektiv war nicht das Ganze und vollends nicht in der Heidenchristenheit. Bei Luther ging der Widerspruch gegen die katholische Realisierung und zwar in der hierarchischen Form, durch die jede Wirksamkeit des Korrektivs unmöglich gemacht wurde. Infolgedessen liegt hier ein reflektiertes Verhältnis zur Realisierung überhaupt, zum katholischen Princip vor. Darum wird die Überwindung des Gesetzes hier Protestantismus, d.h. aber principielle Verneinung seiner eignen Voraussetzung. Die Unmöglichkeit, so zur Realisierung zu kommen, aufzuweisen an Melanchthon mit Lehrgesetz, autoritativem Lehramt und kirchlich geleiteter humanistischer Kultur, an Luthers Sakramentslehre und an Kalvins offenbartem Kirchengesetz, der Schrift. Dieses die katholischen und damit die Realisierung ermöglichenden Elemente. 6. Aber der eigentliche Inhalt der Verkündigung bleibt trotz aller Nebenwirkungen die Rechtfertigung, im Kalvinismus die Erwählung. Und nun ist sie, die Durchbruch war, Lehre geworden, also ein Ding, ein Gegenstand, von dem man weil?, also das, was ihrem Charakter am meisten zuwider ist. Man weiß um das, was absolute Überraschung, Paradoxie, Durchbruch ist. In der Alten Kirche hört man auf, darum zu wissen. M a n hat etwas, in Unmittelbarkeit des Gnadenbesitzes ruht man und läßt dadurch trotz gesetzlichen Sün-

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G e m e i n t : Paulus

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denfalls das Princip des Durchbruchs unangetastet, unintellektualisiert. Im Protestantismus aber wird das Durchbruchsprincip und da es der Inhalt des Religiösen schlechthin ist - die Religion selbst an die Seite gedrängt. Gott und sein Handeln wird zum Regulativ des Selbstbewußtseins, das jederzeit bereit liegt, die im Sündengefühl liegenden Hemmungen zu beseitigen. Mit der dadurch erreichten Schwächung der Furcht tritt der Vorsehungsgedanke hervor, der gleichfalls zu einem Regulativ des Weltverhältnisses wird. Gott war Regulativ und Grenzbegriff geworden, noch ehe Kant die Formulierung gab und die theologischen Kantianer bis heute diesen Bann aufrecht erhalten. 7. Das autonome Bewußtsein, die Loslösung von der religiösen Unmittelbarkeit, von der gesamten Sphäre der Realisierung war da. Der Humanismus erbte, aber er konnte nur erben, weil Gott an die Seite gedrängt, zu einem Gegenstand, einer Grenze, einem Regulativ gemacht war. Reaktionen dagegen gingen nur von katholischen Elementen aus: dem Pietismus, der die Sphäre der Furcht schaffen will und doch nicht universal kann, weil er das Princip, zu dem er hinführen will, zeitweise außer Kraft setzen muß, oder von der Mystik, die eine neue Unmittelbarkeit zu schaffen sucht und in der idealistisch-romantischen Reaktion weithin geschaffen hat, wenn auch ohne dauernden Erfolg. W o Gott zum Regulativ geworden ist, kommt der Zweifel zu religionsgeschichtlicher Bedeutung. Er läuft nicht mehr nebenher, sondern er tritt ins Centrum. Er ist der Ausdruck der zerrissenen Unmittelbarkeit des Religiösen, des Aufhörens des Gesetzes, der völligen Unterdrückung des katholischen Princips. - Der Weg der Autonomie aber ist dieser: Im ersten Stadium ist das Erbgut religiöser Unmittelbarkeit noch wahrheitsschöpferisch wirksam, im zweiten Stadium sucht eine formale Autonomie die Wahrheit zu setzen, im dritten Stadium ist durch Zerspaltenheit die Wahrheit preisgegeben: der Zweifel an Gott wird zum Zweifel an der Wahrheit und damit in letzter Vertiefung zum Zweifel am Sinn überhaupt. Das heißt aber: Wird der Durchbruch zum Princip unter Verneinung der Realisierung, so geht mit der Realisierung zuletzt auch das Princip verloren. Der articulus stantis et cadentis ecclesiae wird zum articulus stantis salutis et cadentis ecclesiae. Wie aber, wenn extra ecclesiam nulla salus?

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32. Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus"

Zum Text: Hs. in Vo X (PTAH, 110: 010). Der Text ist als erster in das Heft eingetragen. Es folgen eine Gliederung zum Thema „Schelling und die Philosophie der Romantik", die Hs. „Die gegenwärtige Lage des Protestantismus'' (= Text Nr. 33) sowie die Hs. des 1926 publizierten Aufsatzes „Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart" (in: Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung. Hrsg. von Paul Tillich. Darmstadt 1926. Das Vorwort trägt das Datum: 17. Februar 1926). Abfassungszeit: 1924 oder 192S. Einleitung]. Der Name „Religiöser Sozialismus" verbindet zwei Begriffe miteinander, die äußerlich betrachtet zwei grundverschiedenen Sinngebieten angehören. Mit der Religion wird zusammengeschlossen eine politisch-soziale Richtung, auf alle Fälle also etwas, das der Kultur angehört. Insofern nun aber der religiöse Sozialismus mehr sein will als bloße politisch-soziale Bewegung, insofern er eine allumfassende geistige Bewegung zu sein beansprucht, die sich nur nach dem drängendsten, praktisch wichtigsten und zugleich gemeinschaftsbildenden Element benennt, insofern wird aus der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Sozialpolitik die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur überhaupt. Dieses aber ist das Grundproblem der Religionsphilosophie. Wie es nicht möglich ist, Gott ohne Korrelation zur Welt zu benennen, so ist [es] nicht möglich, Religion ohne Korrelation zur Kultur zu definieren. Die Frage nach der Möglichkeit und nach dem Sinn des religiösen Sozialismus ist also durchaus abhängig von der Frage, der religionsphilosophischen Grundfrage nach dem Verhältnis von Kultur und Religion. Mit der Lösung dieser Frage, die den ersten und größten Teil unserer Ausführungen in Anspruch nehmen soll, ist freilich nur ein Teilproblem erledigt, die allgemeine Wesenslehre von Kultur und Religion, die immer und für jede Erscheinung gelten muß, wenn sie zutreffend sein soll. Aber eben darum trifft sie nicht das Einmalige, Unableitbare, den Glaubenscharakter einer Erscheinung. Wohl liefert sie begriffliche Mittel zu seiner Darstellung. Aber das Entschei-

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dende, der Glaube selbst, sein Mythos und sein Ethos stammen aus einer anderen Schicht und können wohl dargelegt, aber nicht abgeleitet werden. Wir wollen darum in einem zweiten Teil die im ersten gewonnenen Begriffe benutzen, um den Glaubensgehalt, der dem religiösen Sozialismus innewohnt, nach 'seinem Mythos und Ethos in kurzen Zügen darlegen. Es versteht sich von selbst, daß diese zweite Aufgabe nicht Sache einer uninteressierten Wissenschaft ist, sondern wie alle Darlegung von Glaubensinhalten Bekenntnis, wenn auch in wissenschaftlicher Form. I. Religion und Kultur Ein Urteil über das Verhältnis von Kultur und Religion ist nur durch Rückgang auf den Punkt zu gewinnen, in dem sie beide entspringen. Da nun aber durch diese beiden Begriffe der Umfang des Geistigen überhaupt erschöpft ist, so bedeutet der Rückgang hinter beide 2den Rückgang [auf den Punkt,] in dem der Geist sich als Geist konstituiert. Diesen Punkt nennen wir das Leben im Sinn. Alles vorgeistige Leben, auch das psychische, auch das soziologische, ist Leben unter dem Sinn; es ist unmittelbares Leben, einfaches Dasein, das vom Geist als sinnvoll verstanden oder auch nicht verstanden werden kann. Aber es ist nicht für sich selbst sinnvoll. Es ist nicht Leben im Sinn. Geist aber ist Nein zur Unmittelbarkeit, d.h. Geist ist Leben im Sinn. - Selbstverständlich ist in dieser allgemeinsten Bedeutung von Sinn jeder intellektualistische Beiklang fernzuhalten. Das Wort bezeichnet3 den Inhalt des Geistigen überhaupt. Es bezieht sich also ebenso auf die ideale Sinnverwirklichung im Erkennen und [in] der ästhetischen Anschauung wie auf die reale Sinnverwirklichung im Recht und in der Gemeinschaft; es betrifft ebenso die Aufnahme des Wirklichen und seines Bedeutungsgehaltes4 wie die Gestaltung der Persönlichkeit und Gemeinschaft in sinnvoller Form. Leben im Sinn betrifft ebenso die theoretische wie die praktische Seite des Geistigen. Nur wo beides beachtet wird, kommt der Sinnbegriff zur Erfüllung.

1

Folgt gestr.: seiner mythischen u n d ethischen Seite hin zur Entfaltung bringen.

2

Folgt gestr.: das Aufsuchen des Punktes ü b e r h a u p t

3

Folgt gestr.: das Geistige ü b e r h [ a u p t ]

4

Folgt gestr.: in sinnvol!e[r] F o r m

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Was liegt nun in diesem Begriff? Welche Elemente enthält er, aus deren Spannung der Gegensatz von Religion und Kultur hervorgehen kann? - Ehe wir diese Frage zu beantworten versuchen, müssen wir einen Augenblick Halt machen und uns fragen, was zu einer solchen Antwort gehört, welche Geisteshaltung nötig ist, damit die wirkliche Tiefe eines solchen letzten Begriffes ausgeschöpft werden kann. Wenn in dem Sinnbegriff der Punkt gefunden werden soll, von dem aus der Geist in allen seinen Ausstrahlungen, theoretischen wie praktischen, verstanden werden kann, so ist es offenbar nur möglich, sich seiner Tiefe zu nähern, wenn man gleichsam von allen Seiten her auf ihn zugeht, wenn man sich nicht mit einer rein logisch-rationalen Reflexion begnügt, sondern wenn man bei diesem Schauen des Geistes in sich selbst und seine[r] Tiefe neben dem Logischen das Ästhetische und neben beiden das Persönliche und das Soziale mitschwingen läßt. Tut man das nicht, so kann man vielleicht die rationale Form des Geistes, nicht aber den Geist selbst erfassen. Dennoch bleiben wir in der Sphäre des Erkennens, des Logischen, aber wir begnügen uns nicht 5 mit der Erkenntnisform des Geistes, d.h. unsere Schau ist metalogisch. Eine solche Schau aber kann man nicht erzwingen, zu ihr kann man nur auffordern. In jedem Sinnakt ist enthalten das Bewußtsein um eine unbedingte Forderung, die in den verschiedenen Gebieten als Forderung der Wahrheit, des Ausdrucks, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Liebe auftritt. Man kann sich dieser Forderung nicht entziehen, will man nicht aufhören, Geist zu sein, im Sinn zu leben. Sie gerade ist die Verneinung der Unmittelbarkeit, des bloßen Daseins. Sie ist der Schmerz des Lebens, das selber ins Leben schneidet, wie Nietzsche sagt; sie ist zugleich die Würde des Geistes und seine Unruhe. Denn sie treibt ihn über jeden einzelnen Sinnakt hinaus über jedes Erkennen und jede Bedeutungsschau, über jede Persönlichkeitsform und jede Gemeinschaftsgruppe. Sie treibt weiter zur Einheit aller Sinnvollzüge, zur Synthesis der Synthesen, zur vollendeten Sinnwelt im Theoretischen wie im Praktischen. Vor nichts Unmittelbarem, Gegebenem, und wäre es noch so tatsächlich und wäre es noch so heilig, macht diese Sinnforderung Halt. Um der Wahrheit willen fordet sie Überwindung jeder heiligen und unheiligen Unwahrheit in uns und um uns; um der Gerechtigkeit willen fordert sie Überwindung jeder

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Hs.: nicht nicht

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heiligen und unheiligen Ungerechtigkeit in uns und um uns. Und wäre es ein Gott, der sich ihr entgegenstellte, er würde zum Dämon und müßte zerbrochen werden, und wäre es eine Kirche oder ein Staat, sie würden dämonisch und müßten zerbrechen. - Es ist der Ruhm des griechischen und des deutschen Geistes, daß sie diese Würde des Geistes wie kein anderes Volk erfaßt haben. In Kants Worten von der Autonomie und der Erhabenheit des Vernunftgesetzes hat die Unbedingtheit der Sinnforderung ihren 6 klassischen Ausdruck gefunden. Was freilich die Verwirklichung betrifft, so werden wir wie die Griechen manch anderem Volk den Vorrang zugestehen müssen. Schon der Hinweis auf Kant konnte zeigen, daß bisher nur das eine Sinnelement, die unbedingte Forderung, genannt ist. Wir wenden uns nun dem anderen zu: Trotz der Unruhe, die von der unbedingten Forderung ausgeht, ist in jedem Sinnakt das Bewußtsein enthalten, sinnhaft zu sein, d.h. nicht leer, nichtig, bedeutungslos zu sein, sondern in eine Fülle, eine Wirklichkeit, eine Tiefe zu reichen, von der er lebt, aus der er seine Sinnhaftigkeit hat und die er doch nicht erschöpfen kann, weder er noch ein anderer Sinn, noch die Totalität alles Sinnes. Denn wäre der Sinngrund ausschöpfbar, in einem einzelnen Sinn oder auch in der Synthesis der Synthesis, so würden wir in einen Abgrund der Sinnleere stürzen. Könnten wir nicht mehr sagen: „Licht vom unerschöpften Lichte" 7 , das Licht würde verschlungen werden vom Dunkel. Darum ist der Sinngrund zugleich der Sinnabgrund, und er ist das eine nur, weil der das andere ist. Auf der Gegenwart des Sinngrundes und Abgrundes beruht die Heiligkeit alles Heiligen, die Weihe alles Geweihten, diejenige Tiefe des Wirklichen, des Lebens und des Geistes, die uns" erlaubt, von Schöpfung und Gegenwart des schaffenden und erhaltenden Gottes zu sprechen. Es ist der Blick der sich in sich versenkenden Mystik, die uns in klassischer Weise die Tiefen des Grundes und Abgrundes zeigt. Aber das, wovon sie spricht, ist da in aller wirklichen Religion, in jedem heiligen Gegenstand, in jedem heiligen Akt, in jedem Sakrament und heiligen Wort. Es ist da in den Tiefen primitiven Dämonenzaubers wie auf der Höhe prophetischen Re-

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Hs.: seinen

7

Zitat aus dem Lied „Morgenglanz der Ewigkeit".

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Folgt gestr.: zwingt

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dens und Betens, ja es schwingt noch nach in den Worten der Erhabenheit und Würde, in denen der autonome Geist die Unbedingtheit der Sinnforderung verkündet; auch sie noch entnimmt ihre Kraft der Unbedingtheit, dem Sinngrund und -abgrund. Zwei Sinnelemente sind es, die wir erschaut und in der konkreten Wirklichkeit des Geistes wiedererkannt haben. Beide aber gehören zusammen. Die Sinnforderung und jede ihrer Verwirklichungen wird sinnlos, wenn sie nicht auf dem Sinngrund und Abgrund ruht. Es ist die Sinnlosigkeit des unendlichen Processes, des leeren endlosen Fortschrittes, wie er im Neukantianismus und in der bürgerlichen Geisteshaltung weithin vorliegt, der die Sinnleere der bloßen Forderung ohne 9 Gegenwart des Sinngrundes offenbart. - Ebenso ist aber auch das J a zur Gegenwart des Sinngrundes ohne Rücksicht auf die Sinnforderung wesenswidrig: Alle Heiligkeiten, bei denen die Heiligkeit in den Dienst des menschlichen Eros- oder Machtwillens tritt, zeugen davon, die Religion des ästhetischen Genießens wie die des byzantinischen Dienens, die geheiligte Kasten- oder Klassenordnung wie die Wahrheitsbekämpfung der Hierarchie oder Orthodoxie. In alledem wird die Unbedingtheit des Unbedingten angetastet zu Gunsten eines Bedingten, das man nicht unter das Gericht der unbedingten Forderung stellen will. Sinnforderung und Sinngrund gehören zusammen. Nennt man nun die Richtung des Geistes auf die einzelnen Sinnformen und ihre vollendete Einheit, zu der die Sinnforderung treibt, Kultur, und umgekehrt die Richtung des Geistes auf den Sinngrund und -abgrund Religion, so ergibt sich die Einheit von Kultur und Religion. Wir können diese Einheit auch so aussprechen: Die Religion ist der Gehalt der Kultur, die Kultur die Form der Religion. Das läßt sich leicht negativ zeigen: Wenn Religion zur Form kommt, woher sollte sie Formen nehmen, als aus der formschaffenden Kraft des Geistes überhaupt, also der Kultur? Hätte sie eigne Formen, so wäre sie ein Kulturgebiet neben den anderen, und es müßte für sie wie für die übrigen ein Sinngrund und -abgrund gefunden werden, eine Religion über der Religion. Ebenso umgekehrt. Welcher Gehalt sollte der Kultur Sinnhaftigkeit und Tiefe geben, außer der Religion? M a n hört gegenwärtig häufig, alles Edle, Große und Tiefe der Kultur dem Göttlichen gegenüberstellen. Aber was haben diese Begriffe für einen

9

Folgt gestr.: Gehalt des Abgrundes

458

Sinn, wenn sie so entleert werden? Eine Tiefe, die nicht in die Tiefe des Sinnabgrundes herabreicht, ist Flachheit, eine Größe, die nicht auf dem Sinngrunde ruht, ist Hohlheit. Man sei dann konsequent und stelle dieses Vernichtungsurteil über die ganze Kultur, einschließlich der eignen Behauptung, die doch auch Kultur ist. Freilich ein einziges Bild von Giotto, ein einziges wirkliches Gemeinschaftserlebnis zwischen Mann und Frau ist ausreichend, um die Sinnwidrigkeit eines [solchen] Urteils zu erweisen. Es bleibt also dabei: Dem Wesen nach sind Religion und Kultur eins. Der Wirklichkeit [nach] aber sind sie es nicht; und daß sie es nicht sind, ist die Offenbarung der Wesenswidrigkeit der Welt. Daß gewisse kulturelle Formen von der Religion mit dem Charakter der Exklusivität versehen [werden] und von da aus alles andere als profan ausgeschlossen wird, ist ebenso wesenswidrig wie dieses, daß die kulturellen Formen sich emancipieren von dem religiösen Sinngrund, der sie trägt, und in sich selbst ruhen wollen. Und auch das ist keine Lösung, wenn sich die Religion etwa die Kultur äußerlich unterwirft, wie es die Hierarchie im Praktischen und Theoretischen, die Orthodoxie nur im Theoretischen versucht; und ebenso wenig dieses, daß die Kultur die religiösen Formen und Symbole ihres Gehaltes beraubt und sie auf das Niveau der autonomen Kultur herabdrückt, wie es der Liberalismus versuchte. Beides sind Kennzeichen für die Spannung von Wesen und Wirklichkeit, aber keine Lösungen der Spannung. Die wirkliche Lösung gehört nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit. Allein in der Tiefe des Ewigen sind Grund und Abgrund 10 , Form und Gehalt in Einheit. Die Wirklichkeit widersteht dem Wesen, bei dieser Tatsache müssen wir noch einen Augenblick verweilen, um sie in ihrer vollen Bedeutung für die Religionsphilosophie zu würdigen. In der gesamten Religionsgeschichte mit Ausnahme kleiner Epochen der griechischen und abendländischen Aufklärung finden wir das religiöse Bewußtsein gespalten in das Bewußtsein des Göttlichen und des Dämonischen. Weder eine rein rationale Religionsphilosophie, noch eine solche, die den absoluten Gegensatz von Gott und Welt behauptet, kann für diese Erscheinung Verständnis haben. Sie gehen beide daran vorüber. Und doch genügt ein Blick auf die urchristliche Apologetik bis hin zu Augustins De civitate Dei, um zu sehen, welche

10

Folgt gestr.: eins

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ungeheure Bedeutung das Bewußtsein des Dämonischen für jene Zeit hatte. Eben weil man etwas von dem göttlichen Abgrund in allem Wirklichen wußte, darum wußte man auch, daß in der Sphäre der freien Geister, der Engel oder Menschen, der Abgrund dämonische Gestalt annehmen konnte. Und zwar empfand man nicht etwa wie die Aufklärungszeiten das Unmoralische an sich als dämonisch womit dann der Begriff überhaupt wichtig wird - , sondern dasjenige Unmoralische oder Unwahre, das im Namen des Heiligen sein Haupt erhebt. Der blutige Machtwille und brutale Imperialismus des römischen Staates nach außen hin, die kultische Heiligung aller Art von Unzucht im Innern, das sind die Dinge, die vor allem für Augustin die dämonische Welt charakterisieren. Das mit den Urkräften von Machtwille und Eros der unbedingten Sinnforderung widerstrebende Heilige, das ist das Dämonische. Dämonisch ist das Heilige, das sich der unbedingten Forderung nicht beugt. Nun ist freilich vom Standpunkt der göttlichen Seite aus das Dämonische nicht das wahre Heilige, denn es widerspricht der ewigen Einheit von Form und Gehalt, von Grund und Abgrund. Aber es ist doch auch nicht nichts, sondern es ist eine eigentümliche Zwischenform", für die es keinen Oberbegriff gibt, die wir nur anschauen und analysieren können. Wie verhält sich nun der Gegensatz von Göttlich und Dämonisch zu der Polarität von 12 Kultur und Religion? Offenbar ist, daß dieser Gegensatz in die Sphäre des Religiösen gehört. Es gibt einen Dienst Gottes, der in Wahrheit ein Dienst der Dämonen ist, nämlich eine Religion, in der Eros und Machtwille sich ungebrochen von der unbedingten Forderung Heiligkeit zulegen. Wir sprachen von diesen Erscheinungen, deren tiefster Wille Zerstörung und deren ausdrucksvollstes Symbol der Moloch ist, der die ganze dämonische Reihe vom primitivsten" Menschenopfer bis zur selbstzerstörenden Askese oder der die anderen in die Hölle verdammenden M doppelten Prädestination ist. Alle prophetischen Bewegungen im Judentum, im Urchristentum, im Protestantismus hatten hier ihren 15 Gegner. Sie bekämpften und überwanden die dämonischen Kulte und schufen

"

Folgt gestr.: wir könnten vielleicht sagen: ein Princip

12

Folgt gestr.: profan und heilig

13

Folgt gestr.: Kannibalismus

M

Folgt gestr.: mechanisierten

15

Folgt gestr.: Ursprung

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R a u m für einen Dienst Gottes, der zugleich Gehorsam gegen die unbedingte Sinnforderung ist, also Wahrheit und Liebe. So steht es in der Religion. Wie aber in der Kultur? Würde es eine Kultur geben, die wirklich das wäre, was die Konsequenz der Profanisierung der Form ist, die absolute Entleerung, Verflachung, Vernichtigung" aller Sinnakte, so könnte es in ihr den Gegensatz von göttlich und dämonisch nicht geben. So aber ist es in Wahrheit nicht. Trotz der Spaltung von Kultur und Religion macht sich die wesensmäßige Einheit immer auf beiden Seiten geltend. Wie es keine ganz formlose Religion gibt, so keine ganz gehaltlose Kultur. Würde das Band der Einheit ganz zerreißen, so würden beide Seiten und damit das Leben im Sinn überhaupt verschwinden. Weil aber das Wesensband nicht ganz zerreißen kann, so gibt es auch in der Kultur den Gegensatz von göttlich und dämonisch. M a g er auch nicht die Formen annehmen, die in der specifisch religiösen Sphäre üblich sind, mag der Gottesname und der Kult fehlen, so fehlt doch die Sache nicht, weder objektiv noch subjektiv. Es ist die Tragik der autonomen Kultur, daß sie sich im Protest gegen alle Dämonien der Religion der reinen Form und ihrer Verwirklichung zuwendet und daß in dem Maße, als ihr das der Religion gegenüber gelingt, sie auch den Gehalt und die Tiefe des Religiösen verliert, dann aber, weil es auch im Geistigen keinen leeren R a u m gibt, den alten Dämonien in profanem Kleide zum Opfer fällt. So war es in Griechenland, so ist es bei uns. Aus dem Gesagten ergibt sich nun das, was wesensmäßig Ziel menschlichen Strebens sowohl für den einzelnen wie für eine Geisteslage und Periode sein muß: Gott zu dienen in der Wahrheit und in der Liebe. Gott zu dienen, d.h. gerichtet sein auf das Ewige, auf den Sinngrund und Abgrund der Dinge und des Geistes. In Liebe und Wahrheit, d.h. im Gehorsam gegen die unbedingte Forderung und gleicherweise in Gegensatz gegen religiöse wie gegen kulturelle Dämonien. Und die Einheit beider, die Richtung auf den Sinnabgrund und auf die Sinnforderung, die Aufhebung des Gegensatzes von Religion und Kultur, von Gehalt und Form. Dienst Gottes, Gotterfülltheit, Theonomie nennen wir dieses Ziel im persönlichen wie im menschheitlichen Leben.

"

Sic!

461

Und nun sagen wir gleich: Dieses Zieles Erfüllung liegt oben, in der ewigen Einheit in Gott. Und das heißt: Jede Auffassung, die es unten sieht, muß Utopie genannt werden. Die Utopie kann religiös sein. Sie kann als Lehre vom tausendjährigen Reich auftreten und der Überwindung des Dämonischen und der Herstellung der Einheit von profan und heilig, von Kultur und Religion in ihm 1 7 . Die Utopie kann mehr kulturell sein und von dem kommenden Reich der Gerechtigkeit reden, in dem Eros und Machtwille überwunden ist und die heiligen Dämonien ausgerottet und vielleicht Kirche und Staat eins geworden. - Beide Arten der Utopie übersehen, daß die Wirklichkeit getragen ist von den Urkräften Eros und M a c h t , die in der Sphäre des Geistes entweder göttliche oder dämonische Form annehmen, entweder schöpferisch oder zerstörerisch sind, niemals aber in der Zeit ein Ende der Zeit zulassen. Die Utopie verkennt in jeder Beziehung die Unerschöpflichkeit des Sinngrundes. Sie weiß nichts vom Abgrund im Leben des Sinnes. Die Erfüllung 1 8 liegt oben in der ewigen Einheit in Gott. Das bedeutet aber, daß das konkrete Ziel vor uns liegt in der nächsten und fernsten Zukunft. Die Wesensrichtung nach oben, sie verwirklicht sich als Daseinsrichtung nach vorn. Die Sehnsucht nach der ewigen Einheit in Gott, sie 19 ist da als Ringen um die Einheit in uns, im einzelnen und in der Gesellschaft, um die Einheit, die wir Dienst Gottes, Gotterfülltheit, Theonomie genannt haben. Und darum: Wie wir soeben die Utopie abgelehnt haben, so jetzt den Verzicht auf Zielsetzung. Verzicht auf Wirklichkeitsformung im Dienst der unbedingten Forderung ist Dienst der Dämonen. Das Beugen unter heilige oder profane Dämonen ist im Gesamtleben nicht minder widergöttlich wie im inneren Leben des Einzelnen. Und es ist nur Schein, wenn man meint, durch Wegwendung von der Welt und Hinwendung zur Ewigkeit dem Sinne Gottes gerecht zu sein. In Wahrheit stützt und stärkt man dadurch die Dämonen der Gegenwart und bezeugt dadurch, daß man sich gerade nicht zu Gott gewandt hat. Nicht immer freilich ist direkte Aktivität möglich. Es gibt zeitgemäße Verzichte auf Weltgestaltung, aber es darf keine grundsätzlichen geben. Jahrhundertelang verzichtete die Kirche auf direkte Gestal-

17

Gemeint: im tausendjährigen Reich Folgt gestr.: des Zieles

"

Folgt gestr.: v e r w i r k l i c h t sich]

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tung des römischen Staates. Aber sie unterhöhlte ihn und schuf in sich eine neue allseitige Weltgestaltung. Zwischen weltverwandelnder Utopie und weltunangetastet lassendem Dämonendienst geht der Weg des Geistes mitten hindurch der Theonomie entgegen. Sein Wesensziel ist oben, eben darum aber ist sein Wirklichkeitsziel vorn. „ V o r n " aber heißt nicht in unendlicher Ferne, der man sich langsam annähert, wie der Fortschritt meint. Sondern „vorn" heißt vor uns in der unmittelbaren konkreten Lage, aus ihren Voraussetzungen und mit ihren Mitteln. Jede konkrete Lage ist besonders; in jeder liegen Göttliches und Dämonisches, Profanes und Heiliges verschieden zueinander. Für jede ist Theonomie etwas anderes. Für jede aber ist es Gotterfülltheit, Einheit von Forderung und Gabe, von Form und Gehalt. Die eine - individuelle und soziale - kommt ihm näher, die andere bleibt ihm ferner. Es gibt Ansätze und Zurücksinken; es gibt schöpferische und zerstörerische Durchbrüche. Was [es] aber nicht gibt, das ist ein für alle gleiches, im Unendlichen liegendes Ziel. Das allen gleiche Ziel liegt nicht im Unendlichen, sondern im Ewigen, das zeitliche Ziel ist dann ein 2 0 und für jeden und jede Zeit von besonderer Gestalt. V o n einem konkreten Namen, dem religiösen Sozialismus, sollte ich reden, habe es auch getan, doch ohne Namennennung. Sie soll nun kommen, in wenigen Zügen, da alle Mittel des Verstehens bereitgelegt sind. D o c h ehe ich es tue, noch ein paar Worte über die Namen. Namen für das Unbedingte, den Sinnabgrund, für das Göttliche und für das Dämonische sind Symbole und dürfen nur als Symbole gewertet werden. Sie sind darum nicht unreal. Im Gegenteil. Das echte Symbol trifft die Sache selbst. Aber es ist doch nicht eigentlich gemeint. Wenn Augustin seinen mystischen Gotteststaat der Kirche und seinen mystischen Weltstaat dem Römerreich naherückt, so identificiert er sie darum doch nicht im eigentlichen mathematisch-empirischen Sinn. Vielmehr ist es ein Verhältnis der Transparenz, des Hindurchscheinens und Hindurchwirkens, das er meint. In diesem Sinne ist der römische Staat, von dem empirisch und auch staatsphilosophisch manches Gute gesagt wird, das reale Symbol des dämonisch-irdischen Reiches.

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Der Satz ist unvollständig; sinngemäß ist zu ergänzen: konkretes

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II. Religiöser Sozialismus Der religiöse Sozialismus im Sinne der konkreten Bewegung, von der wir reden wollen, entstand, als einzelne Männer zu der Überzeugung kamen, daß der Kampf gegen die große kulturelle Dämonie unserer Zeit gegenwärtig mit wirklicher Kraft nur von der sozialistischen Bewegung geführt wird. Diese Überzeugung aber ist bis heute der Kern des religiösen Sozialismus. Ist sie verstanden, so ist alles verstanden. Wir wollen darum die einzelnen Elemente dieses Satzes mit dem erarbeiteten Begriffsmaterial zu deuten suchen. Zunächst ist vor allem dieses 21 festzustellen, daß hier einer durch und durch profanen Bewegung religiöse Symbolkraft zugesprochen wird, ja einer Bewegung, die in Führern und Geführten der religiösen Sphäre ausgesprochen feindlich oder gleichgültig gegenübersteht. Es ist wirklich paradox und muß fast lästerlich für die Ohren all derer klingen, die die spezifisch religiöse Sphäre als die heilige der kulturellen gegenüberstellen, wenn man sagt, daß zu irgend einer Zeit das Antidämonische, das Göttliche gerade nicht in der religiösen, sondern in der kulturellen Sphäre zu finden ist, und zwar gerade da, wo diese sich zur ausgesprochenen Opposition verdichtet. Der religiöse Sozialismus wagt diese Paradoxie. J a mehr noch: Sie wird für ihn zur fundamentalen religiösen Wahrheit, zur Einsicht in das Wesensverhältnis von profan und heilig überhaupt und in die Überlegenheit Gottes und seiner Offenbarung über beide Sphären und ihren wesenswidrigen Gegensatz. Diese Bejahung des Sozialismus als göttlich ist nun aber durchaus symbolisch-transparent zu fassen. D a ß der empirische Sozialismus erfüllt ist von dämonischen Elementen, daß er unter dem gleichen Gericht steht, das er über seine Gegner ergehen läßt, wie sollte das dem religiösen Sozialismus entgehen? Daß ihm die Kirchen in vielen Beziehungen überlegen sind, wer könnte es bestreiten? Jede proletarische oder sozialistische Hybris ist nur ein Zeichen dafür, wie wenig er sich der ihm entgegenstehenden Dämonie hat entziehen können. Das alles ist nicht entscheidend für das religiöse Urteil über den Sozialismus. Sondern dieses ist entscheidend, daß hier eine Gegenbewegung vorliegt gegen die herrschende Dämonie unserer Zeit, den Kapitalismus.

21

Folgt gestr.: Mißverständnis abzuwehren, als

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In diesem Urteil ist das andere enthalten, daß die Kirchen an dem K a m p f gegen den Kapitalismus als dämonisches Centraisymbol nicht wesentlich beteiligt sind. Dieses Urteil gilt in erster Linie dem Protestantismus, dessen enge Verbindung mit Staat und nationaler Idee ihn in völlige innere Abhängigkeit von dem im Staat schlechthin ausschlaggebenden kapitalistischen Denken gebracht hat. Im Kalvinismus ist die Verbindung von Kirche und Geist der bürgerlichen Gesellschaft schon früh sehr eng geworden, so daß die Kirchen, ganz gleich welche Gesinnungselemente sie in sich bargen, jedenfalls als Symbole für den antidämonischen Kampf gegen den Geist des Kapitalismus nicht in Frage [kamen] und von den wirklichen Trägern dieses Kampfes viel eher als Stützen jenes Geistes empfunden werden mußten. Das ist eine beklagenswerte Tatsache, aber es ist eine Tatsache. Die katholische Kirche steht hierin ganz anders. Sie weiß um die Dämonie der Gegenwart und kämpft gegen sie. Aber sie tut es mit den Mitteln der alten heiligen hierarchischen und orthodoxen Dämonien. Sie verneint auch das, was Gehorsam gegen die unbedingte Forderung im Protestantismus und in der modernen autonomen Bewegung ist. So steht der religiöse Sozialismus zwischen der religiösen und der kulturellen Dämonie. In dem Kampf gegen die erste steht er der bürgerlichen Gesellschaft nahe. Im Kampf gegen die zweite kann er ein gut Stück mit der katholischen Sozialethik zusammengehen. Dieses ist die Stellung des religiösen Sozialismus zu den Kirchen. Symbolkräftig für das, was er sucht, ist keine von ihnen. Darin aber glaubt er einem Urmotiv des Protestantismus gerecht zu werden, daß er nicht glaubt, Gottes T a t wäre gebunden an die religiöse Sphäre. Und nun der Gegner selbst, das Symbol des Dämonischen, der Kapitalismus. Auch hier ist der Symbolcharakter, die Transparenz zu betonen. Nicht eine genau zu definierende Wirtschaftsform ist gemeint, sondern der Geist des unbegrenzten Machtwillens, der sich der liberalen Marktfreiheit bemächtigt hat und ihr eine alles zerstörende, wahrhaft dämonische Gestaltung gegeben hat. Die religiössozialistische Literatur, wie auch meine eigenen Schriften, haben diese Dinge auf allen Gebieten bis ins Einzelne verfolgt. Sie haben gezeigt, wie alle unmittelbare Gemeinschaft, Familien-, Werk-, Volksgemeinschaft, der kapitalistischen Gegenschaltung der Interessen verfallen und in sich zerspalten sind. Sie hat gezeigt, wie durch die Verbindung von Bildungs- und Wirtschaftsgegensatz die Kluft der Klassen eine fast unheilbare Tiefe angenommen hat. Sie hat vor

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allem gezeigt, wie auch die Spannung der nationalen Mächtigkeiten ihren lebendigen Sinn und Gehalt verloren hat und zu einem dämonischen M a c h t k a m p f nationaler Wirtschaftsgruppen um den Weltmarkt geworden ist. Es ist erstaunlich, in welchem M a ß e diese Schilderungen, die ganz aus der N o t der Lage entstanden sind, dem gleichen, was Augustin in seinem Gottesstaat an antidämonischer Polemik ausdrückt. Der religiöse Sozialismus weiß sich darin dem urchristlichen Geist viel verwandter, als es der Staats-heiligende deutsche Idealismus ist, der als Idealismus den Abgrund in G o t t nicht kennt, und darum das Geheimnis des Dämonischen im M a c h t staat vergessen hat. Es braucht nach dem über Utopie Gesagten nicht mehr hervorgehoben zu werden, daß der religiöse Sozialismus in Opposition steht zu jeder Form der Utopie, der religiösen wie der profanen, der frühsozialistischen wie der marxistischen, auch pazifistischen. Im Ringen um den Geist der Utopie und gegen ihn sind entscheidende Begriffe des religiösen Sozialismus ausgebildet worden. D a ß der religiöse Sozialismus vom Sinn des Abgrundes 2 2 , von Eros und M a c h t , etwas weiß, schützt ihn auch vor diesen Abwegen. Sein Ziel ist Theonomie. Und das ist nun der geschichtliche O r t , den er sich gibt, daß er glaubt. Es ist eine entscheidende Stunde des Weltgeschehens, in der wir leben, weil in ihr aus der Katastrophe einer vielhundertjährigen autonomen Entwicklung die Sehnsucht geboren ist nach neuer Erfüllung der Formen mit göttlichem Gehalt - nicht im Sinne einer absoluten Geschichtsperiode, also einer Utopie, sondern im Sinne einer neuen Symbolik für die Aufhebung des Gegensatzes von profan und heilig, für das innere Zerbrechen der großen Dämonie unserer Zeit. Und nicht nur eine Sehnsucht glauben wir zu sehen, sondern auch eine Kraft, die sich auswirkt in den stärksten und am tiefsten der Zeit verbundenen Kräften unserer Zeit. Für diesen Glauben hat der religiöse Sozialismus den Begriff Kairos, Zeitenfülle, über sich gestellt. Nicht im Sinne einer Utopie, sondern im Sinne einer machtvollen Wendung zu einer neuen Theonomie, und nicht um der Theonomie willen, sondern um dessentwillen, wovon sie ein Symbol und Abbild ist, der ewigen Einheit von Grund und Abgrund in G o t t , die in ihr durchscheint.

22

Sic!

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Register

Personenregister Abälard 138, 140, 193, 196 Ahlborn, Knud 2 5 8 Alexander d. Gr. 4 1 8 Aner, Karl August 2 5 9 Anselm von Canterbury 140, 196 Apollos 3, 5 Aristoteles 5 0 , 85, 86, 3 6 9 , 3 8 8 , 4 4 4 Arnold, Eberhard 2 5 1 , 2 5 2 , 2 5 5 , 303 Augustin 86, 95, 97, 2 3 3 , 290, 364, 392, 428, 436, 444, 448, 452, 459, 460, 463, 466 Bach, Johann Sebastian 2 8 6 Bacon, Francis 4 2 6 Barth, Karl 2 3 7 , 3 1 4 , 3 4 3 , 3 5 1 , 353, 438, 443 Baur, Ferdinand Christian 134 Beethoven, Ludwig van 2 7 5 Blüher, Hans 3 1 8 , 3 2 5 , 3 5 5 Böhme, J a k o b 10, 14, 103, 106, 109, 112, 2 3 9 , 3 1 8 , 377, 391, 392 Bruhn, Wilhelm 4 4 5 Brunner, Emil 4 4 3 , 4 4 4 Bruno, Giordano 14 Calvin, Johannes 4 5 2 Cartesius: siehe unter Descartes Cassirer, Ernst 3 5 6 Cohen, Hermann 3 5 7 Cohn, Jonas 261 Comte, Auguste 3 6 1 , 4 0 6 , 407, 4 0 9 Dante 2 8 6 Darwin, Charles 2 7 3 Dehn, Günther 2 3 7 , 2 5 9 , 260, 303 Descartes 79, 80, 95, 144, 200 Diokletian 4 1 8 Dorner, Isaak August 2 0 2 Dostojewski, Fjodor 2 8 6 , 291, 321, 434

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Eckhart, Meister 2 3 9 , 391, 4 0 0 Ehrenberg, Hans 2 3 7 Eildermann, Heinrich 4 1 8 Einstein, Albert 4 2 6 Engels, Friedrich 4 0 7 Epikur 112 Erasmus v. Rotterdam 3 3 7 Feuerbach, Ludwig 4 0 2 , 4 0 6 , 4 0 7 Fichte, Johann Gottlieb 12, 13, 15, 25, 2 6 , 4 0 , 4 3 , 4 8 , 5 5 - 6 2 , 82, 88, 9 2 , 1 5 5 , 1 5 6 , 2 1 0 , 2 1 1 , 3 8 1 , 3 8 8 , 3 8 9 , 390, 393, 3 9 6 , 3 9 7 , 405, 406 Flacius 3 7 Fontane, Theodor 4 2 7 Franck, Sebastian 3 7 7 Friedrich der Große 81 Fries, J a k o b J . 3 1 2 , 3 7 9 Galilei 7 9 Geerth, Franz Jakob 258 George, Stefan 2 8 6 Goeters, Johann Friedrich Gerhard 260 Goethe, Johann Wolfgang von 80, 82, 3 7 6 , 3 7 9 , 380, 3 8 5 , 3 8 7 , 391, 405 Gogarten, Friedrich 351, 4 4 3 Gottschick, Johannes F. 441 Hammacher, Emil 261 Hartmann, Eduard von 9, 2 7 Hartmann, Hans 2 6 1 Hartmann, Nicolai Hegel, Georg Wilhelm 83, 88, 89, 91, 92, 95, 97, 105, 106, 111, 113, 141, 156, 211, 2 6 7 , 2 9 4 , 3 0 4 , 3 2 2 , 3 6 5 , 366, 3 8 7 - 4 0 3 , 405-419, 444 Heim, Karl 1 4 5 , 1 5 1 , 1 5 9 - 1 6 7 , 1 7 3 , 201, 206, 212-217, 442

Lessing, Gotthold Ephraim 97 Lessing, Theodor 261 Liebert, Arthur 356, 362 Löwe, Adolf 328, 331 Luther, Martin 3, 5, 75, 76, 77, 95, 96, 139, 143, 168, 294, 198, 217, 240, 288, 377, 391, 433453

Heimann, Eduard 328 Heraklit 393 Herder, Johann Gottfried 381 Herpel, O t t o 2 3 7 Herrmann, Wilhelm 142, 198 Heymann 324 Hiob 365 Hirsch, Emanuel 442 Hitler, Adolf 2 8 7 Holl, Karl 143, 198, 432, 433, 442, 449 Homer 76, 233 Hume, David 82

Maimon, Salomon 60 Malthus, Robert 273 Marx, Karl 3 9 8 , 4 0 7 , 4 0 8 , 4 0 9 , 4 1 4 , 417, 422, 423 Melanchthon, Philipp 38, 39, 452 Mendelssohn, Moses 379 Mennicke, Carl 237, 250, 258, 259, 328 Michelangelo 286 Mirabeau 422 Moses 95

Ibsen, Henrik 274 Jacobi, Friedrich Heinrich 11, 12, 33 James, William 155, 209 Jesus Christus 23, 44-47, 52, 53, 77, 137, 138, 159, 160, 164, 180, 193, 213, 215, 238, 240, 248, 250, 272, 291, 331, 343, 368, 371, 436 Joachim v. Floris 428 Johannes, Evangelist 435

Nelson, Leonhard 312, 319, 351 Newton, Isaak 79 Nietzsche, Friedrich 273, 274, 287, 306, 318, 353, 365, 392, 420, 456 Ohlemacher, Jörg 257 Otto, Rudolf 312

Kahler, Martin 150, 205, 206 Kaftan, Julius 142 Kant, Immanuel 11, 12, 13, 14, 25, 40, 43, 48, 49, 55, 61, 62, 87, 312, 319, 324, 338, 361, 376, 380-382, 388, 389, 393, 395397, 405, 427, 437, 442, 444, 453, 457 Kepler, Johannes 79 Keyserling, Graf Hermann 321, 354 Kierkegaard, Sören 437

Parmenides 426 Paulus 2, 5, 44, 95, 96, 100, 136, 166, 217, 422, 432, 434, 436, 438, 450, 451 Peter, Ulrich 260, 303 Platen, August 9 Plato 95, 318, 444 Plotin 105, 106, 113, 240

Landauer, Gustav 251 Laubmann, Georg von 9 Leibniz, Gottfried Wilhelm 11, 40, 80, 104, 110f., 112, 344, 379, 380 Leonardo da Vinci 426

Ragaz, Leonhard 237, 240 Ritsehl, Albrecht 1 3 2 , 1 3 6 , 1 4 0 , 1 4 2 , 174, 188, 191, 195, 196, 197, 198, 427, 432, 437, 438, 442 Rittelmeyer, Friedrich 237, 250 Rothe, Richard 245

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Rubens, Peter Paul 2 7 5 Rüstow, Alexander 3 1 4 , 3 2 8 , 3 2 9 , 3 3 1 , 351 Saint-Simon, Claude-Henri de Rouvroy 4 0 6 Savonarola 2 8 8 Scheffler, Ludwig von 9 Scheler, M a x 151, 2 9 2 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 9-54, 58, 6 2 , 8 0 , 82, 88, 89, 90, 9 2 , 103, 104, 106, 109, 2 3 0 , 2 7 3 , 3 1 8 , 3 8 1 , 3 8 2 , 3 8 5 , 388405, 409 Schiller, Friedrich 5 8 , 3 8 1 , 4 0 5 , 4 2 7 Schlatter, Adolf 104 Schlegel, Friedrich 83, 3 8 2 Schlegel, Karoline 103 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 10, 80, 156, 2 1 1 , 3 7 5 - 3 8 7 , 391, 3 9 4 , 3 9 7 , 3 9 9 , 4 0 0 , 4 4 4 Schmidt, Karl Ludwig 2 3 7 , 4 3 2 Schopenhauer, Arthur 2 7 , 1 0 4 , 1 1 0 , 318, 353, 365, 392 Schultheis, Heinrich 2 3 7 Schulze, Gottlob Ernst 6 0 Siegmund-Schultze, Friedrich 258 Sokrates 3 9 3 Spengler, Oswald 2 6 1 , 2 7 4 , 184, 294, 3 0 0 , 3 0 4

471

Spinoza 11, 15, 3 3 , 4 0 , 4 1 , 4 9 , 61, 80, 8 2 , 104, 105, 1 0 6 , 110f., 344, 379-387, 390, 444 Stahl, Friedrich Julius 3 9 7 Steiner, Rudolf 2 7 0 , 3 1 4 Stöcker, Lydia 2 5 9 Strauß, David Friedrich 4 4 , 4 0 2 Strindberg, Johan August 2 7 4 , 358 Thaies 95 Tolstoi, Leo 2 7 4 , 3 7 1 , 3 7 2 Tröltsch, Ernst 130, 186, 3 6 7 , 429431 Ulrich, Thomas 2 5 9 Vollmer, Antje 2 5 2 , 303 Voltaire 81 Weber, M a x 4 0 8 Wegener, Carl Richard 2 3 8 , 259, 303 Wehowsky, Stephan 2 5 2 Wilde, Oscar 3 2 0 Windelband, Wilhelm 5 5 , 5 8 , 59 Wolfers, Arnold 3 2 8 Wolff, Christian 11 Zarathustra 2 8 2 Zola, Emile 2 7 4

Sachregister

absolut 134, 135, 141, 156, 157, 159, 165, 172, 279, 336 Absolute, das 9-54, 89, 92, 134, 144, 145, 146, 150, 154, 155, 161, 162, 166, 180, 200, 227, 240, 241, 244, 274, 280, 293, 294, 295, 334, 393 Absolutheit 129, 135, 154, 155, 163, 172, 180, 183, 209, 215, 221, 226, 227, 247, 256 Absolutheit des Christentums 10, 11, 44-47, 53, 179, 226 Absolutheitsbewußtsein 131 Absolutheitserlebnis 240 Allheit 337, 384, 385 analytisch 128, 139, 195 Anschauung, intellektuelle 16, 18, 19, 379 Anthropomorphismus 21 Apokatastasis 42 Apologetik 1 4 4 , 1 4 5 , 1 4 9 , 1 5 2 , 1 5 3 , 154, 156, 157, 158, 164, 167, 204-218, 279, 282, 362, 440, 442, 459 Apriorismus 20, 59 Aseität (Gottes) 10, 33, Auferstehung 42 Aufklärung 42, 296, 344, 376-381, 397 Autonomie 131, 132, 167, 187, 242, 252, 273, 285, 289, 295, 299, 301, 317, 319, 322, 323, 326, 327, 339, 349, 351, 353, 377, 437, 440, 446, 450, 453 Autorität 7 7 - 8 4 , 1 3 2 , 1 8 7 , 2 4 3 , 386 Bekehrung 165, 216 Bergpredigt 239, 240, 241, 245, 251, 257 Bibelautorität 131, 133, 187 Biblizismus 25, 251

473

„Bild Christi" 164, 181, 227 Bildung 264, 268-271 Böse, das 39, 43 Chiliasmus 94 Christologie 180-181, 192-193, 214-215, 217, 227, 241, 248 Dämonie 312, 317-326, 348, 349, 354, 366, 462, 464, 465 Dämonische, das 239, 241, 315, 318, 319, 324, 339, 340, 342, 346, 351, 353, 366, 367, 368, 369, 374, 427, 429, 444, 447, 458, 460, 463 Deismus 10, 34 Demokratie 2 5 4 , 2 8 5 , 3 9 7 , 4 1 8 , 4 2 1 Dialektik 94, 130, 169, 186, 287, 293, 313, 318, 334, 351, 359, 374, 385, 388, 392, 394, 395, 396, 397, 398, 400, 402, 403, 404, 412, 414-425, 438 dialektische Methode 59, 88, 89 Differenz 173, 174, 185 Dogma, Dogmen 22, 25, 234, 236, 242, 362 Dogmatik 22, 23, 386 Durchbruch 255, 291, 292, 309, 334, 377, 380, 387, 429, 434, 435, 436, 437, 439, 440, 441, 443, 444, 445, 446, 448, 451, 452, 453 Ekklesia 326-327 Entfremdung 91, 4 0 0 Entwicklungsgedanke 89 Entzweiung 400 Erfahrung, Erfahrungstheologie 150, 154, 207, 208-209 Erlebnis 134 Erlösung 47, 136, 161, 192-193,

213, 312, 324, 333, 340, 341, 363, 367, 368, 383, 384 Erlösungsbedürfnis 50 Erneuerung 282-292, 311-327 Eros/Erotik 302, 315, 317, 318, 320, 322, 323, 324, 325, 326, 345, 347, 352, 353, 355, 357, 373-374, 409, 410, 411, 413, 417, 418, 421, 422, 460, 462, 466 Erschütterung 208, 277, 305, 307, 349 Erwählung 141, 196 Erziehung 264 Erziehung, religiöse 235 Eschatologie 274, 326, 344, 347, 360, 361, 367, 428 Ethik 92, 238, 240, 242, 261, 273, 276, 321, 429 Ethos 363, 455 Evidenz 79, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 157, 158, 159, 167, 171, 204-205, 309 Ewigkeit 36-37, 348, 349 Existentialurteil 157, 203 Faschismus 423 Forderung 285, 332, 352, 353, 461 Form/Gehalt 176, 179, 234, 277, 278, 280, 283, 289, 291, 299, 300, 302, 304, 309, 312, 315, 317, 318, 322, 323, 324, 325, 327, 345, 346, 347, 348, 349, 355, 361, 362, 364, 405, 459, 460, 461, 463 Formal- und Materialprinzip 129, 132, 133, 134, 142, 188-191, 450 Freiheit 9-54, 55-62, 89, 92

406, 245, 290, 308, 319, 336, 352, 458, 128, 143,

Gebet 148, 276, 278, 287 Gefühl 277, 375-386 Gegenständlich(keit) 156, 205, 219

474

Geist 28-33, 66, 90, 91, 92, 180, 256, 335, 340, 358, 365, 366, 389, 390, 391, 428, 455 Geist/Natur 68, 348, 393, 405, 409 Gemeinde, christliche 435 Gemeinschaft 91-97, 3 1 2 , 3 2 0 , 332, 333, 334, 338, 455 Gericht 112, 177, 224, 277, 296, 313, 341, 354, 395, 440, 447, 449 Geschichte 44-47, 85-100, 335-350, 404-425 Geschichtsmetaphysik 313, 326, 335-350, 428, 4 2 9 Geschichtsphilosophie 53, 86, 91, 95, 97, 98, 99, 100, 233, 238, 253, 294, 295, 298, 304, 329, 340, 341, 343, 353, 404-425, 426-431 Gestalt 314, 317, 319, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 342, 351, 354, 366, 408, 410, 414, 415, 416, 430, 431 Gewalt 373-374 Gewißheit 1 5 0 , 1 5 1 , 1 5 2 , 1 5 3 , 1 5 5 , 167, 204-218, 225, 338 Gewißheitslehre 204-218 Glaube 168-185, 196f„ 215, 218221, 225, 226, 233 Glaubenslehre 23 Gnade 178, 224, 240, 251, 290, 291, 301, 304, 329, 330, 331, 333, 334, 347, 374, 376, 378, 383, 400, 433-453 Gnadenoffenbarung 449 Gnosis 51-54 „Gott des Gottlosen" 440 „Gott des Zweiflers" 218, 219 „Gott über Gott" 169, 219 Gottesbegriff 251-252 Gottesbeweise 48, 142, 380, 395, 437 Gottesbewußtsein 129, 198, 204, 301 Gottesebenbildlichkeit 65, 333, 394

Gotteserkenntnis 13-25 Gottesgedanke 2 3 9 Gottesgewißheit 3 0 4 , 4 3 4 , 4 5 0 Grund/Abgrund 10, 111, 167, 2 1 7 , 2 8 4 , 3 0 1 , 3 0 8 , 331, 3 3 6 , 3 4 0 , 3 5 2 , 3 6 4 , 3 7 0 , 385, 3 9 1 , 4 0 2 , 440, 444, 445, 447, 457-466 Grundoffenbarung 441, 444, 445449 Harmonie 7 9 - 8 0 , 3 8 0 , 4 0 5 Heilige, d a s 3 1 2 , 3 1 9 , 3 2 9 , 3 3 0 , 3 3 1 , 3 3 2 , 3 3 3 , 334, 3 4 7 , 4 4 5 , 457, 460 Heiligung 139, 175, 176, 179, 180, 195, 2 2 5 , 3 1 5 Heilsgeschichte 3 2 6 , 3 4 2 , 3 4 3 - 3 4 5 , 348, 349, 4 4 7 Heilsgewißheit 128, 143, 144, 145, 146, 198, 199, 2 0 0 , 2 0 1 , 4 3 9 Heilsglaube 4 4 6 Heilsoffenbarung 4 4 1 , 4 4 6 , 4 4 7 , 448 Heteronomie 167, 168, 2 1 7 , 2 4 3 , 244, 252, 289, 295, 307, 315, 3 1 6 , 3 1 7 , 3 1 9 , 3 2 0 , 3 5 4 , 368 Ich, absolutes 5 9 , 172 Ichheit 16 Idealismus 2 5 , 2 6 , 75-84, 4 3 3 , 4 4 2 , 444 Idee 17 Identität 15, 16, 87, 88, 173, 174, 184, 3 7 9 , 3 9 2 , 3 9 3 , 4 0 2 , 4 0 8 , 409, 444 Identitätsphilosophie 2 6 , 2 7 , 3 3 , 4 7 , 253, 367, 392, 444 Identitätsprinzip 15, 17, 4 0 2 Identitätssystem 18 Ideologie 4 0 7 , 4 1 0 , 4 1 2 , 4 2 4 Immanenz 2 3 2 , 2 4 4 , 2 4 5 , 2 5 3 - 2 5 4 , 273, 274 Indifferenz 15, 16, 19, 29, 3 0 Individualität 40-42 Inkarnation 5 2 Innerlichkeit 2 3 4 , 2 6 5 , 299, 3 0 0

475

Judentum 6 9 , 9 8 , 2 5 7 , 3 7 9 , 3 8 4 Jugendbewegung 2 5 8 , 2 5 9 , 3 0 0 , 308, 313, 320, 327, 380, 4 2 5 Kairos 2 9 2 , 3 1 1 , 3 1 4 , 3 3 0 , 3 3 1 , 333, 334, 349, 367, 417, 428, 429, 466 Kapitalismus 2 3 1 , 2 3 2 , 3 2 3 , 4 2 3 , 464, 465 Katholizismus 2 5 , 134, 135, 1 3 8 , 189, 2 1 6 , 2 3 2 , 2 3 4 , 2 6 5 , 2 7 0 , 288, 293, 300, 309, 435 Kirche(n) 2 3 3 - 2 3 6 , 3 1 6 , 4 2 4 , 4 2 8 , 465 Kirchentheologie 2 3 4 , 2 3 6 , 2 5 4 Klassenkampf 2 3 2 , 3 9 8 , 4 2 2 Konkrete, das 180, 181, 2 1 2 , 2 1 3 , 215, 227 konkret 134, 135, 159, 161, 164, 179, 180 konkret-Absolute, das 165, 1 6 6 , 213, 217 Kontemplation 5 0 Korrelation 4 5 4 Kosmogonie 35-39 Kreuz (Christi) 2 5 , 4 7 , 5 4 , 2 4 1 Krisis 3 0 5 - 3 1 0 , 3 1 6 , 3 5 3 Kultur 1 8 2 - 1 8 4 , 2 2 8 - 2 2 9 , 2 3 3 - 2 3 6 , 252, 275-281, 293-302, 305310, 315, 454, 455-463 Kulturoptimismus 111 Kulturphilosophie 5 8 , 62 Kulturtheologie, siehe: Theologie der Kultur Kunst 2 4 2 , 2 8 3 , 3 1 8 , 3 1 9 , 3 2 0 , 3 2 6 , 336, 337, 338, 358, 374, 380, 383, 399, 4 0 7 Leib-Seele 4 2 Liberalismus 2 4 3 , 2 6 6 Logos, Logosbegriff 5 3 , 4 4 8 Macht 2 3 2 , 2 4 3 , 321, 325, 326, 373-374, 409, 417, 418, 422,

253, 352, 410, 462,

315, 317, 353, 355, 411, 413, 466

Marxismus 243, 413, 415 Masse 305, 306, 312, 313, 320, 328, 4 3 0 Materialismus, historischer 405 „Meinen" 153, 155, 176, 181, 225 Menschwerdung 45-46, 138, 4 0 0 Metalogik 429 Metaphysik 25, 335-350, 356-370, 405 Monismus 14, 104f., 110-113, 428 Monotheismus 10, 12, 102, 105106, 108 Mystik 49, 50, 75, 86, 93, 94, 137, 193, 230, 233, 234, 239, 251, 262, 266, 272, 274, 276, 292, 299, 300, 311, 315, 320, 345, 352, 357, 360, 361, 367, 370, 372, 377, 379, 381, 382, 384, 385, 387, 388, 391, 396, 399, 401, 400, 402, 435, 437, 439, 441, 443, 447, 453, 4 5 7 Mythos 233, 244, 280, 339, 356370, 4 5 5 Natur 14-15, 20 Naturphilosophie 1 4 - 1 5 , 2 0 , 2 6 , 34, 40, 49, 86, 103, 233, 318 Neukantianismus 141, 330, 458 Neuplatonismus 1 0 5 , 1 0 8 , 272, 291 Nichtigkeit 90, 239, 274 Nominalismus 293, 369 obligatum religiosum 316, 352 Offenbarung 9-54, 376, 378, 387, 435, 440, 441, 444, 451, 464 Offenbarungsautorität 25 Ontologie 340, 341, 342, 344, 363, 404-413, 445 Optimismus 104-105 Oszillieren 172, 221 Pantheismus 10, 11, 12, 14, 34, 3539 Paradox, das 138, 139, 140, 141, 145, 176, 178, 184, 196, 229f.,

476

253, 333, 376, 377, 378, 379, 380, 440, 446 Paradox, absolutes 129, 144, 158, 166, 170, 171, 172, 175, 176, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 195, 199, 217, 218-228, 230, 232, 240, 241, 244, 245, 247, 251, 254 Paradox, dingliches 139, 193f. Paradox, konkretes 166, 181, 212217 Paradox, kritisches 353 Paradox, positives 353 paradox 136, 138, 142, 158, 168, 170, 174, 191f., 221, 279, 280, 295, 371, 464 Paradoxie 1 3 6 , 1 3 7 , 139, 140, 141, 158, 169, 182, 191-199, 239, 241, 286, 342, 343, 360, 377, 402, 442, 444, 446, 452, 464 Paradoxie, absolute 128, 139, 199 Pazifismus 258, 259, 321, 355, 371374 Persönlichkeit 20, 21, 28, 277, 279, 286, 315, 325, 333, 359, 365, 367, 368, 369, 372, 430, 440, 442, 455 Pessimismus 102-104,272-274, 370 Phänomenologie 176, 225, 291, 396, 445 Pietismus 1 4 1 , 1 6 4 , 1 6 5 , 1 9 4 f . , 196, 216, 249, 286, 287, 288, 377, 397, 436, 437, 453 Potenzen 17, 27, 35-39, 103, 109, 364, 409 Prädestination 239, 241, 251, 415, 447, 460 Prinzip, theologisches 181-184, 185230 profan/heilig 234, 242, 267, 278, 339, 353, 463, 466 Profanisierung 331, 359, 444 Prophetie 296, 306-307, 311-314, 320, 327, 342, 350, 352, 353 Protestantismus 78, 86, 128, 129,

185-230, 232, 234, 266,

288,

294, 296, 309, 392, 432-453

Sinnforderung 4 1 2 , 4 5 6 , 4 5 7 , 4 5 8 Sinnform 3 4 5 , 4 1 1 , 4 1 9 , 4 4 1 , 4 5 8

Psychoanalyse 3 1 8 , 3 5 7 , 3 5 8

Sinngehalt 3 4 5 Sinngrund/Sinnabgrund

Realisierung 4 5 1 - 4 5 3 Rechtfertigung,

358,

361,

366, 412, 413, 419, 429, 439,

Rechtfertigungs-

glaube 5 1 , 1 2 7 - 1 8 5 , 2 3 4 ,

239,

440, 441, 447, 457, 458, 459, 461, 462, 463

244, 251, 253, 273, 288, 376,

Sinnkategorien 1 6 0 , 2 1 3

432-453

Sinnwidrigkeit 1 7 4 , 1 7 5 , 2 2 2 , 2 2 3 ,

Rechtfertigungserlebnis 2 3 5 Reich Gottes 2 4 1 , 3 6 3 , 3 6 8 ,

352 371,

428

Sozialdemokratie

Religionsgeschichte 2 1 - 2 5 , 7 5 , 4 3 5 Religionsphilosophie 3 4 , 3 5 ,

304,

328, 339, 375, 442, 454-466 318, 437, 439 religiosum

239,

242,

Sozialismus 2 3 1 - 2 3 2 , 2 3 8 - 2 4 9 , 2 5 0 307, 311-327, 355 Sozialismus,

315,

111,

252, 253, 291 263, 266, 274, 286, 289, 291,

Renaissance 14, 7 5 , 2 3 3 , 2 5 2 , 2 9 8 , reservatum

Sittlichkeit 4 8 - 5 4

316,

352, 353

304,

religiöser

311-327,

255,

303-

333-334,

351-

355, 371-374, 454-466

Richtigkeit 3 1 2

Staat 2 4 2 , 2 6 7 , 2 6 9 - 2 7 0 , 3 1 6 , 3 2 2 ,

Schöpfung 6 4 - 6 6 , 3 1 2 , 3 6 3 , 3 6 5

Staat, christlicher 1 2 1 - 1 2 6 , 3 9 7

355, 397, 406 Schuld 2 2 3 - 2 2 5

Staatskirche 2 5 2

Schuldbewußtsein 1 9 8

Stellvertretung 1 3 6 , 1 3 7 , 1 9 2 f . ,

Schulderlebnis 2 3 5

Subjektivität 1 3 , 9 0 , 1 3 1 , 1 3 2 , 1 3 4 ,

Schwermut 2 9

135, 143, 149, 159, 179,

183,

Seele 4 2

187, 188-191,

212,

Seinsoffenbarung 4 4 1 , 4 4 3

228, 290, 305, 312, 325, 328,

Selbstaffirmation 2 6

199, 200,

398, 436, 439

Selbstanschauung 2 6

Subjektivismus 3 3

Selbstbestimmung 5 7

Substanz 2 5 - 2 8

Selbstheit 2 8 , 4 3 , 173

Sünde 16, 3 2 - 3 3 , 3 8 , 6 7 - 6 9 ,

Sinn 1 3 6 , 1 6 9 , 1 7 0 , 1 7 1 , 1 7 2 , 1 7 4 , 175, 213, 219, 220, 221, 2 2 3 , 225, 241, 272, 285, 289, 314, 331, 332, 333, 335, 336, 337, 338, 339, 342, 345, 346, 348,

90,

128, 146, 177, 2 2 2 Supranaturalismus

15,

232,

257,

295, 348, 352, 378, 382, 385, 437 Symbol 1 7 2 , 2 3 3 , 3 1 6 , 3 1 7 ,

320,

366, 375, 405, 409, 411, 412,

328, 331, 334, 337, 338, 341,

413, 417, 419, 424, 430, 431,

342, 347, 349, 354, 355, 358,

439, 455, 456, 457

360, 362, 366, 367, 370, 405,

Sinnakt 4 5 7

406, 409, 412, 417, 418, 465

Sinneinheit 4 1 4

Synthesis/Synthese 13, 5 9 , 8 7 , 8 8 ,

Sinnerfassung 1 7 6 , 4 1 3 , 4 1 5 Sinnerleben/Sinnerlebnis 1 7 0 ,

96, 234, 236, 238, 245, 171,

208

247,

254, 255, 315, 317, 329, 333, 339, 348, 349, 360, 361, 365,

477

372, 393, 403, 419, 420, 456, 457 synthetisch 139, 191-192 Tatsächliche, das 112 Theismus 10, 12, 34, 35-39 Theodizee 42-44,101-113,332, 333 Theogonie 35-39 Theokratie 317-326 Theologie der Kultur 1 6 6 , 1 8 2 , 1 8 3 , 234, 236, 254 Theonomie 2 8 5 , 2 9 0 , 3 0 1 , 3 1 4 - 3 1 7 , 319, 321, 326, 327, 339, 349, 352, 354, 368, 437, 461, 462, 463, 466 Theosophie 1 4 , 1 5 2 , 207, 2 4 4 , 2 5 8 , 362 Transzendentalphilosophie 15 Trinitätslehre 27, 37-39, 52 Übergeschichte 46, 51-54 Überseiende, das 47, 391, 426 Überzeugung 149, 155, 156, 157, 176, 180, 209-211, 225, 228, 341 Unbedingte, das 13, 147, 157, 158, 168, 169, 170, 171, 172, 176, 185, 190, 211, 218, 220-221, 225, 226, 230, 232, 239, 240, 241, 245, 277, 279, 280, 285, 286, 288, 289, 290, 291, 292, 295, 296, 297, 298, 299, 301, 304, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 318, 326, 330, 332, 334, 335350, 352, 353, 354, 358, 359, 360, 361, 371, 376, 389, 394, 395, 435, 440, 447, 458, 463 Unbedingtheit 137, 168, 169, 218, 221, 226, 240, 254, 274, 277, 312, 314, 318, 331, 332, 336,

349, 352, 357, 358, 359, 434, 439, 447, 458 Unbedingtheitserlebnis 170, 240, 245, 251, 261 Unendliche, das 28, 45 Unsterblichkeit 40-42, 61 Urgrund 391 Uroffenbarung 442, 446, 448, urständlich 203, 291 Utopie 297, 315, 347, 352, 412, 462, 463, 466

368, 219,

449 369,

Verdinglichung 140 Vergegenständlichung 172, 221, 234, 251, 292, 422, 423 Vermittlungstheologie 164,185, 205 Versöhnung 43 Verzeihung 195f. Verzweiflung 149, 167, 175, 204, 217, 223, 330, 424, 439, 440 Volk 114-116 Volksgeist 91, 397, 406 Volkshochschule 264-271 Volkskirche 116, 123-126 Volkstümliche, das 91 Voluntarismus 103, 105, 252, 318 Vorsehung 45, 235, 398, 406 Wahrheitsgewißheit 128, 145, 146, 200, 201, 217, 218 Wahrheitsglaube 446 Wahrheitsoffenbarung 4 4 7 Weltanschauung 264-271 Wiedergeburt 139, 441 Wille 25-33 Wissenschaft 242, 243, 313, 318, 320, 326, 336, 337, 341, 360, 407 Zweifel 7 9 , 1 2 7 - 1 8 5 , 2 4 0 , 251,386, 432-453

478