Gesammelte Werke 3/I - Erzählungen 1 : Universalgeschichte der Niedertracht - Fiktionen
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Jorge Luis Borges Ge sammelteWerke Erzählungen i Unirersah^'hif'hte (IfaNieftertaaht Fiktionen Nach wort Lars Giistafsson Hanser

Jorge Luis Borges Gesammelte Werke Band 3/I

Jorge Luis Borges Erzählungen 1935‫־‬1944

Nach der Übersetzung von Karl August Horst bearbeitet von Gisbert Haefs Nachwort von Lars Gustafsson

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe »Obras Completas« Emece Editores, Buenos Aires, 1974

ISBN 3-446-12994-4 Alle Rechte vorbehalten ©1981 Carl Hanser Verlag München Wien Ausstattung: Klaus Detjen Satz: LibroSatz, Kriftel/Taunus Druck: Kösel, Kempten Printed in Germany

U niversalgeschichte der Niedertracht

Vorwort zur ersten Auflage Die Übungsstücke in erzählender Prosa, aus denen sich dieses Buch zusammensetzt, wurden in den Jahren 1933 und 1934 ausgeführt. Sie verdanken, glaube ich, ihre Entstehung meiner erneuerten Lesebekanntschaft mit Stevenson und Chesterton, wohl auch den ersten Filmen von Sternberg und vielleicht einer gewissen Biographie von Evaristo Carriego.1 Sie machen überreichen Gebrauch von einigen Stilfiguren: den ungleichartigen Aufzählungen, dem jähen Handlungsschnitt, der Zurückfuhrang eines ganzen Menschenlebens auf zwei oder drei Szenen (diese veranschaulichende Absicht liegt auch der Erzählung Marrn von Esquina Rosada zugrunde). Sie enthalten keine Psychologie und wollen auch keine enthalten. Was die Beispiele von Magie angeht, die den Band abschließen, so beschränkt sich mein Anteil an ihnen auf den des Übersetzers und Lesers. Manchmal neige ich zu der Überzeugung, daß die guten Leser noch geheimnisvollere und seltenere Vögel sind als die guten Autoren. Niemand wird mir bestreiten wollen, daß die Partien, die Valery seinem Plusquamperfekt Edmond Teste zugeschrieben hat, ersichdich weniger wert sind als die seiner Gattin und seiner Freunde. Lesen ist jedenfalls eine Tätigkeit, die dem Schreiben den Vortritt läßt: sie ist entsagender, höflicher, intellektueller. Buenos Aires, 27. Mai 1935

J. L. B.

Vorwort zur Auflage von 1954 »Barock« möchte ich jenen Stil nennen, der seine Möglichkeiten ausschöpft (oder ausschöpfen will), und der hart an die Karikatur seiner selbst grenzt. Vergebens trachtete Andrew Lang gegen 1880 die Odyssee von Pope aufzubessem; das Werk war schon die Parodie seiner selbst, und seine Überspanntheit

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vermochte der parodierende Autor nicht zu überbieten. »Barroco« (Barock) ist die Bezeichnung für einen der Modi des Syllogismus; das achtzehnte Jahrhundert wandte den Namen auf ganz bestimmte Verirrungen in der Architektur und Malerei des siebzehnten Jahrhunderts an; ich möchte behaupten, daß das Endstadium jeder Kunst barock ist, wenn diese ihre Mittel und Möglichkeiten zur Schau stellt und verschleudert. Der Barockismus ist intellektuell, und Bemard Shaw hat erklärt, daß jede intellektuelle Arbeit humoristisch ist. Elieser humoristische Einschlag ist unbeabsichtigt im Werk von Baltasar Graciän, beabsichtigt oder bewußt in Kauf genommen im Werk von John Donne. Schon der übertrieben weit gefaßte Titel der vorliegenden Sammlung macht deren barocken Charakter kund. Sie im einzelnen abzuschwächen hätte soviel geheißen wie sie zu zerstören; deshalb berufe ich mich in diesem Falle lieber auf das Wort: »Quod scripsi scripsi« (Johannes, 19, 22) und lasse sie nach zwanzig Jahren in unveränderter Gestalt wiedererscheinen. Sie sind das unverantwortliche Spiel eines Zaghaften, der sich nicht dazu aufrafTen konnte, Erzählungen zu schreiben, und der sich einen Zeitvertreib daraus machte, die Geschichten anderer zurechtzustutzen und zu verdrehen (in einigen Fällen ohne jegliche ästhetische Rechtfertigung). Von diesen Übungen zweideutigen Charakters ging er dann zu der mühsamen Komposition einer direkten Erzählung - Mann von Esquina Rosada - über, die er mit dem Namen eines Urahns, Francisco Bustos, unterzeichnete, und der ein einzigartiger und ein wenig mysteriöser Erfolg beschieden war. Im Text dieser Erzählung, die im Tonfall an die Stadtrandspräche2 anklingt, wird man den Einschub einiger Wörter der Hochsprache bemerken: »visceras« (Eingeweide), »conversiones« (Tanzfiguren) usw. Ich habe das getan, weil der erzählende Compadre3 sich um eine gewählte Redeweise bemüht, oder (dieser Grund schließt den ersten aus, trifft aber vielleicht das Richtige) weil die Compadres Einzelmenschen sind und 8

nicht immer so sprechen wie Der Compadre, der eine platonisehe Figur ist. Die Weisen des Großen Fahrzeugs * lehren, daß der wesentliche Inhalt des Universums die Leere ist. Sie sind vollauf im Recht, soweit jener minimale Teil des Universums, den dieses Buch umfaßt, in Frage steht. Es wimmelt darin von Richtstätten und Piraten, und das Wort Niedertracht schlägt Lärm im Titel, aber hinter dem ganzen Aufruhr steht nichts. Das Ganze ist nichts weiter als Schein, als eine Oberfläche aus Bildern; vielleicht macht es gerade deshalb Vergnügen. Der Mensch, der es schuf, war recht vom Unglück geplagt; aber er unterhielt sich damit beim Schreiben; möge ein Widerschein dieser Freude bis zum Leser dringen. In den Schlußabschnitt Etcetera wurden drei neue Stücke aufgenommen. J. L. B.

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/ inscribe this book 10 S. D.: English, innumerable and an Angel. Also: I offer her that kemel of myself that I haoe saoed, somehow - the central heart that deals not in words, traffics not with dreams and is untouched by time, by joy, by adversities.

Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell Die entlegene Ursache Im Jahre 1517 bewies der Padre Bartolome de las Casas großes Erbarmen mit den Indios, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälten; er schlug dem Kaiser Karl V. vor, Neger einzufuhren, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälen sollten. Dieser wunderlichen Nuance eines Menschenfreundes verdanken wir eine Unmenge von Tatsachen: die Blues von Handy, den Erfolg, den in Paris der uruguayische Maler und Doktor Don Pedro Figari errang, die schöne wildwüchsige Prosa des gleichfalls uruguayischen Don Vicente Rossi, die mythologische Größe Abraham Lincolns, die fiinfhunderttausend Toten im Sezessionskrieg, die dreitausenddreihundert Millionen, die an Militärpensionen ausgezahlt wurden, das Denkmal des Phantasiehelden Falucho, die Aufnahme des Verbs »lynchen« in die dreizehnte Ausgabe des Wörterbuches der Akademie, den stürmischen Film Halleluja, den von Söller vorgetragenen Bajonettangriff an der Spitze seiner »Pardos y Morenos« im Cerrito, die Anmut eines gewissen Fräulein Soundso, den Neger, den Martin Fierro ermordete, die klägliche Rumba El Manisero, den verhafteten und eingelochten Napoleonismus des Toussaint Louverture, Kreuz und Schlange auf Haid, das Blut der von der Machete des »papaloi« geschlachteten Ziegen, die Habanera, Mutter des Tango, den Candombe.1 Außerdem: die schuldhafte und großartige Existenz des gräßlichen Erlösers Lazarus Morell.

Der Ort Der Vater der Wasser, der Mississippi, der längste Fluß der Welt, bot diesem unvergleichlichen Schurken den würdigen Schauplatz. (Älvarez de Pineda entdeckte ihn; sein erster Erfor­ 13

scher war der Capitan Hemando de Soto, ehemals Conquistador von Peru, der in die monatelange Haft des Inka Atahualpa Abwechslung brachte, indem er ihn das Schachspiel lehrte. Er starb, und sie gaben ihm als Grab seine Fluten.) Der Mississippi ist ein breitbrüstiger Fluß; er ist ein grenzenloser und dunkler Bruder des Parana, des Uruguay, des Amazonas und des Orinoko. Er ist ein Fluß mit mulattenfarbenen Wassern; mehr als vierhundert Millionen Tonnen Schlamm, die von ihm abgeladen werden, beleidigen jährlich den Golf von Mexiko. So viel ehrwürdiger und uralter Unrat hat mit der Zeit ein Delta geschaffen, wo auf den Schwemmresten eines ständig in Auflösung begriffenen Kontinents die gigantischen Sumpfzypressen wachsen, und wo Labyrinthe von Lehm, toten Fischen und Schilfdickichten die Grenzen und den Frieden seines stinkenden Reichs immer weiter ausdehnen. An seinem Oberlauf, in der Höhe von Arkansas und Ohio, breiten sich ebenfalls flache Ländereien aus. Sie sind von einem gelbfarbenen Stamm schmächtiger Menschen bewohnt, die zum Fieber neigen, und die ihre gierigen Blicke auf Steine und Eisen heften, weil es bei ihnen nichts anderes gibt als Sand, Holz und Wasser.

Die Menschen

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (die Zeit, mit der wir es zu tun haben) wurden die ausgedehnten Baumwollpflanzungen, die sich an seinen Ufern erstreckten, von Negern bebaut, die von Sonnenaufgang bis -Untergang schufteten. Sie schliefen in Hütten aus Holz auf der nackten Erde. Mit Ausnahme des Verhältnisses zwischen Mutter und Sohn waren die verwandtschaftlichen Beziehungen rein äußerlich und verworren. Namen hatten sie zwar, aber auf Zunamen konnten sie verzichten. Sie konnten nicht lesen. Mit ihrer weichen Falsettstimme sangen sie ein Englisch mit schleppenden Vokalen. Sie arbeiteten in Reihen, gebückt unter der Peitsche des Aufsehers. Sie flüchteten,

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und vollbärtige Männer sprangen auf schöne Pferde und hetzten sie mit starken Bluthunden. Einem Bodensatz animalischer Hoffnungen und afrikanischer Ängste hatten sie die Worte der Schrift hinzugefiigt: folglich war ihr Glaube der an Christus. Sie sangen tief aus der Kehle und zu Haufen geschart »Go down, Moses«. Der Mississippi wurde ihnen zum großartigen Abbild des schmutzigen Jordan. Die Eigentümer dieser werktätigen Erde und dieser Negerhäufen waren untätige und gierige Herren mit stattlicher Mähne; sie wohnten in geräumigen Häusern, die auf den Fluß hinaussahen; jedes Haus hatte einen pseudogriechischen Portikus aus hellem Fichtenholz. Ein guter Sklave kostete sie an die tausend Dollar und hielt nicht lange durch. Einige begingen die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben. Aus diesen unsicheren Kantonisten galt es in kürzester Zeit möglichst viel herauszuholen. Deshalb hielt man sie auf den Feldern vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl; deshalb zog man aus den Gütern eine jährliche Ernte von Baumwolle oder Tabak oder Zuckerrohr. Die Erde, müde und zerrüttet von dieser ungeduldigen Art der Bestellung, war binnen weniger Jahre vollkommen erschöpft; die verwilderte und verschlammte Wüste drang in die Pflanzungen ein. In den verlassenen Hütten, in den Vorstädten, im dichten Röhricht und in den elenden Schlammlöchern hausten die poor whites, das weiße Pack. Sie waren Fischer, umherziehende Jäger oder Viehdiebe. Von den Negern pflegten sie Brocken gestohlener Nahrung zu erbetteln; in der Erniedrigung bewahrten sie jedoch einen letzten Stolz, den Stolz auf ihr reines Blut, das ohne einen Makel, ohne eine Beimischung war. Lazarus Morell war einer von ihnen.

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Der Mm Die Daguerreotypien von Morell, wie sie die amerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen pflegen, sind nicht authentisch. Daß es von einem so denkwürdigen und berüchtigten Mann keine echten Abbilder gibt, kann kein Zufall sein. Die Annahme ist wahrscheinlich, daß sich Morell der geschwärzten Platte verweigerte; hauptsächlich, um keine überflüssigen Spuren zu hinterlassen, nebenbei, um sein Geheimnis zu nähren . . . Dennoch wissen wir, daß er als junger Mann nicht gerade anmutig war, und daß seine übermäßig eng zusammenstehenden Augen und die strichschmalen Lippen nicht für ihn einnahmen. Die Jahre verliehen ihm dann jene eigene Herrscherwürde, wie sie die ergrauten Halunken und die vom Glück begünstigten und straffreien Verbrecher an sich haben. Er war ein alteingesessener Kavalier aus dem Süden, trotz seiner elenden Kindheit und seines schändlichen Lebens. Er war nicht unbewandert in der Heiligen Schrift und predigte mit seltener Überzeugungskraft. »Ich habe Lazarus Morell auf der Kanzel erlebt«, vermerkt der Eigentümer eines Spielsalons in Baton Rouge, Louisiana, »ich habe seine erbaulichen Worte gehört, und ich habe Tränen in seine Augen treten sehen. Ich wußte, daß er vor Gott ein Ehebrecher, ein Negerdieb und ein Mörder war, und dennoch haben meine Augen geweint.« Ein weiteres treffendes Zeugnis für diese heiligen Ergießungen liefert uns Morell selber: »Ich schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, stieß beim Apostel Paulus auf eine passende Stelle und predigte darüber eine Stunde und zwanzig Minuten. Crenshaw und die Kameraden ließen die Zeit auch nicht ungenutzt, denn sie stahlen sämtliche Pferde der Zuhörerschaft. Wir verkauften sie im Staat Arkansas, außer einem sehr feurigen Rotschimmel, den ich mir für meinen persönlichen Gebrauch vorbehielt. Crenshaw gefiel er auch, aber ich führte ihm vor Augen, daß er für ihn nicht tauge.« 16

Die Methode Die Pferde, die in einem Staat geraubt und in einem anderen verkauft wurden, stellten in der Verbrecherlaufbahn Morells kaum eine Abschweifung dar; doch bildete sich hier schon die Methode heraus, die ihm heute seinen wohlverdienten Platz in einer Universalgeschichte der Niedertracht sichert. Diese Methode steht einzig da, nicht nur wegen der Umstände sui generis, die sie bestimmten, sondern auch wegen der erforderlichen Verworfenheit, wegen des fatalen Ausnutzens von Hoffnungen, wegen der schrittweisen Durchführung, die der gräßlichen Entwicklung eines Albtraumes gleicht. Al Capone und Bugs Moran arbeiten mit ansehnlichen Kapitalien und mit dienstbaren Maschinengewehren in einer großen Stadt, aber ihr Geschäft ist gewöhnlich. Sie streiten sich um ein Monopol: das ist alles . . . An Zahl waren es schließlich tausend Männer, über die Morell gebot, Männer, die alle den Schwur geleistet hatten. Zweihundert bildeten den Hohen Rat: dieser gab die Befehle aus, die die übrigen achthundert auszufuhren hatten. Das Risiko fiel auf die unteren Grade. Wenn sie rebellierten, wurden sie dem Gericht übergeben oder in die reißende Strömung mächtiger Flüsse geschleudert, mit einem zuverlässigen Stein an den Füßen. Häufig waren es Mulatten. Ihre ruchlose Aufgabe war folgende: Sie durchkämmten - geziert mit der Eintagspracht von Ringen, die Respekt einflößen sollten — die ausgedehnten Pflanzungen des Südens. Sie wählten einen unglücklichen Neger und boten ihm die Freiheit. Sie sagten ihm, er solle seinem Patron weglaufen und sich von ihnen ein zweites Mal verkaufen lassen, auf einem entfernten Gut. Sie wollten ihm dann einen Anteil an seinem Verkaufspreis geben und ihm zu einem weiteren Ausbruch verhelfen. Daraufhin würden sie ihn in einen freien Staat bringen. Geld und Freiheit, klingende Silberdollars samt der Freiheit: welche größere Versuchung konnten sie ihm bereiten? Der Sklave unternahm das Wagnis der ersten Flucht.

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Der naturgegebene Weg war der Fluß. Ein Kanu, der Kielraum eines Dampfers, ein Nachen, ein großes Floß, wie ein ganzer Himmel, mit einem Hüttchen auf dem Vorderdeck oder mit hohen Segeltuchwänden; auf den Ort kam es nicht an, sondern allein darauf, daß man sich unterwegs wußte, sicher auf dem unermüdlichen Fluß . . . Sie verkauften ihn auf einer anderen Pflanzung. Er floh ein zweites Mal, ins Röhricht oder in die Steinschluchten. Dann redeten ihm seine schrecklichen Wohltäter (denen er schon zu mißtrauen begann) etwas von Unkosten vor und erklärten, sie müßten ihn ein zweites Mal verkaufen. Nach seiner Rückkehr würden sie ihm die Anteile aus beiden Verkäufen und die Freiheit geben. Der Mann ließ sich verkaufen, arbeitete eine Zeitlang und trotzte bei einer letzten Flucht der Gefahr der Bluthunde und der Peitschenhiebe. Er kam in Blut und Schweiß wieder, verzweifelt und schlafbedürftig.

Die Freiheit am Ende

Man muß die juristische Seite dieser Vorgänge bedenken. Der Neger wurde von den Häschern Morells nicht verkauft, bis sein ursprünglicher Herr seine Flucht angezeigt und dem Finder eine Belohnung ausgesetzt hatte. Jedermann konnte ihn jetzt festnehmen, so daß Weiterverkauf nur ein Vertrauensbruch, kein Diebstahl war. Bei den Zivilgerichten vorstellig zu werden hieß sich eine unnütze Ausgabe aufladen, da für Schäden nie Ersatz geleistet wurde. All das war so beruhigend wie möglich; jedoch nicht für alle Zeiten. Der Neger konnte den Mund auftun; der Neger, aus schierer Dankbarkeit oder Verzagtheit, war imstande, den Mund aufzutun. Ein paar Kruken Whisky in dem Bordell von Cairo, Illinois, wo dieser Sohn einer Hündin, der als Sklave zur Welt gekommen war, die schweren Silberstücke, die ihm zu geben sie keinen Anlaß hatten, vergeuden würde, und schon würde er das Geheimnis ausschwitzen. In diesen Jahren agi­ 8

tierte im Norden eine Partei ftir die Abschaffung der Sklaverei, ein Haufen gefährlicher Narren, die das Eigentum leugneten, die Befreiung der Neger predigten und sie zur Flucht anstachelten. Morell wollte sich nicht mit diesen Anarchisten verwechsein lassen. Er war kein Yankee, er war ein weißer Mann aus dem Süden, Sohn und Enkel von Weißen, und er wartete auf den Tag, da er sich von den Geschäften zurückziehen und ein Herr sein und seine meilenweiten Baumwollfelder und seine Reihen gebückter Sklaven besitzen würde. Bei seiner Erfahrung hatte er für überflüssige Risiken nichts übrig. Der Flüchtling hoffte auf die Freiheit. Daraufhin übermittelten Lazarus Morells schattenhafte Mulatten einander eine Losung, die über einen Wink nicht hinausgehen durfte, und erlösten ihn vom Sehen, Hören, Tasten, von Tag, Niedertracht, Zeit, seinen Wohltätern, dem Erbarmen, der Luft, den Hunden, dem Weltall, der HofTnung, dem Schweiß und seinem eigenen Ich. Eine Kugel, ein tief angesetzter Messerstich oder ein Schlag, und die Schildkröten und die Barben des Mississippi empfingen die letzte Nachricht.

Die Katastrophe Solange vertrauenswürdige Männer der Sache dienten, mußte der Handel blühen. Zu Beginn des Jahres 1834 hatte Morell bereits an die siebzig Neger »emanzipiert«, und weitere schickten sich an, diesen glücklichen Vorgängern zu folgen. Das Operationsgebiet war größer geworden, und neue Mitverbündete mußten zugelassen werden. Unter denen, die den Schwur leisteten, war ein junger Bursche, Virgil Stewart aus Arkansas, der bald durch seine Grausamkeit hervorstach. Elieser Bursche war der Neffe eines Grundherren, der viele Sklaven eingebüßt hatte. Im August 1834 brach er seinen Schwur und zeigte Morell und die anderen an. Morells Haus in New Orleans wurde von der Gerichtsbehörde umstellt. Durch Unachtsamkeit oder Bestechung konnte Morell entkommen. >9

Drei Tage vergingen. Morell hielt sich während dieser Zeit in einem alten Haus, mit Innenhöfen voller Schlingpflanzen und Statuen, in der Rue de Toulouse versteckt. Vermutlich nahm er wenig zu sich und schlich barfuß durch die großen dunklen Gemächer, nachdenklich Zigarren rauchend. Durch einen Sklaven des Hauses ließ er zwei Briefe bestellen, einen in die Stadt Natchez, den anderen nach Red River. Am vierten Tag betraten drei Männer das Haus und besprachen sich mit ihm bis zum Hellwerden. Am fünften Tag stand Morell bei Einbruch der Abenddämmerung auf, verlangte nach einem Rasiermesser und schabte sich sorgfältig den Bart. Er kleidete sich an und ging aus. Langsam und gelassen durchschlenderte er die Vorstädte im Norden. Erst als er auf freiem Feld war und die flachen Ufer des Mississippi abwanderte, schritt er rascher aus. Sein Plan war von trunkener Verwegenheit. Er wollte aus den letzten Menschen, die ihm jetzt noch Achtung schuldig waren, Nutzen ziehen: aus den versklavten Negern des Südens. Diese hatten ihre Brüder flüchten und nie zurückkommen sehen. Folglich mußten sie sie in Freiheit glauben. Morell plante einen Gesamtaufstand der Neger, die Einnahme und Plünderung von New Orleans und die Besetzung seines Territoriums. Morell, durch Verrat gestürzt und fast zerschmettert, sann auf eine kontinentale Entgegnung: eine Entgegnung, die das Verbrecherische bis zur Erlösung und zur geschichtlichen Tat emporsteigern sollte. In dieser Absicht begab er sich nach Natchez, wo sein Einfluß am größten war. Ich folge seinem Bericht von dieser Reise: »Ich ging vier Tage, ehe ich zu einem Pferd kam. Am fünften machte ich halt an einem dünnen Flußlauf, um mich voll Wasser zu trinken und Rast zu halten. Ich saß auf einem Stück Holz und schaute auf den Weg zurück, den ich in den letzten Stunden gegangen war. Da sah ich einen Reiter daherkommen auf einem dunklen Pferd von gutem Schlag. Sobald ich das Pferd sah, beschloß ich, es ihm fortzunehmen. Ich trat ihm entgegen, zielte auf ihn mit einer schönen Repetierpistole und 20

gab ihm den Befehl, abzusitzen. Er folgte dem Befehl, ich nahm die Zügel in die Linke, deutete auf den dünnen Flußlauf und befahl ihm, vorauszugehen. Er ging an die zweihundert Schritte und blieb dann stehen. Ich befahl ihm, sich auszuziehen. Er sagte zu mir: >Da Ihr entschlossen seid, mich zu töten, laßt mich beten, bevor ich sterbe.< Ich antwortete ihm, ich hätte keine Zeit, mir seine Gebete anzuhören. Er fiel auf die Knie, und ich jagte ihm eine Kugel ins Genick. Ich trennte ihm mit einem Schnitt den Bauch auf, riß die Eingeweide heraus und versenkte ihn in dem Flüßchen. Dann durchsuchte ich die Taschen seiner Kleider und fand vierhundert Dollar, außerdem siebenunddreißig Cents und eine Menge Papiere, mit denen ich mich nicht weiter aulhielt. Seine Stiefel waren neu und glänzend, sie saßen mir gut. Meine eigenen, die schon sehr abgenutzt waren, versenkte ich im Flußlauf. So kam ich zu einem Pferd, das ich nötig hatte, um in Natchez einzureiten.« Die Unterbrechung

Morell, Negerhaufen anfuhrend, die davon träumten, ihn an den Galgen zu bringen - Morell, von Negerheeren gehenkt, die er anzufuhren träumte - leider muß ich bekennen, daß sich die Geschichte des Mississippi diese prächtigen Gelegenheiten entgehen ließ. Im Widerspruch zu jeder poetischen Gerechtigkeit (oder dichterischen Symmetrie) wurde nicht einmal der Fluß, der seine Verbrechen sah, sein Grab. Am 2. Januar 1835 starb Lazarus Morell an einer Lungenentzündung im Krankenhaus von Natchez, wo er unter dem Namen Silas Buckley um Aufnähme gebeten hatte. Ein Kamerad im Gemeinschaftssaal erkannte ihn. Am Zweiten und am Vierten wollten sich die Sklaven auf gewissen Plantagen erheben, doch wurden sie niedergeworfen, ohne größeres Blutvergießen.

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Der unwahrscheinliche Hochstapler Tom Castro Diesen Namen gebe ich ihm, weil er unter diesem Namen in Straßen und Häusern von Talcahuano, von Santiago de Chile und von Valparaiso um dasjahr 1850 bekannt war, und es sich gehört, daß er ihn wiederum annimmt, heute, da er zurückkehrt - sei es auch nur in Gestalt eines reinen Phantasiegebildes und eines Lesezeitvertreibs am Samstagnachmittag. * Das Geburtsregister von Wapping nennt ihn Arthur Orton und verzeichnet ihn unter dem 7. Juni 1834. Wir wissen, daß er der Sohn eines Fleischers war, daß er in seiner Kindheit mit dem schäbigen Elend der Armeleuteviertel von London bekannt wurde, und daß er den Lockruf des Meeres vernahm. Der Fall ist nicht ungewöhnlich. Run auiay to sea, auf die See Reißaus nehmen, heißt nach englischer Überlieferung soviel wie die väterliche Autorität abschütteln und die heldische Laufbahn einschlagen. Die Geographie rät dazu, aber auch die Heilige Schrift (Psalmen, 107): »Die mit SchifTen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen Wassern; die des Herrn Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer.« Orton entfloh seiner kläglichen Vorstadt aus rußigem Backsteinrot und stach an Bord eines SchifTes in See; mit der üblichen Enttäuschung heftete er seinen Blick auf das Kreuz des Südens und desertierte im Hafen von Valparaiso. Er war ein Mensch von ruhiger Blödheit. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte ihn der Hungertod ereilt (ja ereilen müssen), aber seine verworrene Zutunlichkeit, sein ewiges Lächeln und seine unendliche Sanftmut gewannen ihm die Gunst einer gewissen Familie Castro, deren Namen er annahm. Von dieser südamerikanischen Episode hat sich keine Spur erhalten, aber seine Dankbarkeit wankte nicht, denn im Jahr 1861 sehen wir ihn in Australien wieder auftauchen, und zwar noch immer unter * Diese Metapher mag den Leser daran erinnern, daß diese ruchlosen Biogra*' phien zuerst in der Samstagsbeilage eines Abendblatts erschienen. ‫׳‬

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dem Namen Tom Castro. In Sydney lernte er einen gewissen Bogle kennen, einen Negerdiener. Bogle hatte, ohne gerade schön zu sein, jenes gewichtige und monumentale Auftreten, jene massive, an technische Geräte erinnernde Standfestigkeit, wie sie der männliche Neger annimmt, wenn er in die Jahre kommt und Fleisch und Autorität ansetzt. Er hatte eine weitere Veranlagung, die bestimmte ethnographische Handbücher seiner Rasse abgesprochen haben: den genialen Einfall. Den Beweis dafür werden wir später sehen. Er war ein zahmer und gesitteter Mann, dessen ursprünglich afrikanische Triebnatur eine reichliche, ja überreichliche Dosis calvinistischer Frömmigkeit arg herabgedämpft hatte. Abgesehen von den Heimsuchungen des Gottes (die wir später schildern werden), war er vollkommen normal, ohne daß bei ihm sonst etwas aus der Ordnung fiel als eine schamhafte, aber überwältigende Furcht, die ihn vor Straßenkreuzungen stocken ließ, von Osten, von Westen, von Süden und Norden das gewalttätige Fahrzeug fürchtend, das seinem Leben ein Ende setzen würde. Orton erblickte ihn eines Abends an einer windschiefen Straßenecke in Sydney, wie er sich Mut machte, den imaginären Tod zu umgehen. Nachdem er ihn lange Zeit betrachtet hatte, bot er ihm den Arm, und beide überquerten tief erstaunt die harmlose Straße. Von diesem Augenblick eines bereits verstrichenen Spätnachmittags an kam es zur Begründung einer Schirmherrschaft, die der lebensunsichere und kolossale Neger über den dicken Tolpatsch aus Wapping ausübte. Im September 1865 lasen beide in einer Tageszeitung einen verzweifelten Aufruf. Der über alles geliebte Tote In den späten Apriltagen des Jahres 1854 (während Orton die überschwengliche Gastfreundschaft Chiles, die weitherzig ist wie seine Patios, herausforderte) sank auf den Wassern des Adantik der Dampfer Mermaid, von Rio de Janeiro kommend,

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mit Kurs auf Liverpool. Unter denen, die umkamen, befand sich Roger Charles Tichbome, ein englischer, in Frankreich aufgewachsener Offizier, Majorennerbe einer der ersten kathofischen Familien Englands. So unglaublich die Tatsache erscheinen mag, aber der Tod dieses französisch angehauchten Jünglings, der sein Englisch mit dem elegantesten Pariser Akzent sprach und jenes unvergleichliche Neidgeiuhl erweckte, wie es nur französische Intelligenz, Anmut und Pedanterie hervorzurufen vermögen, wurde im Schicksal Ortons, der ihn nie mit Augen gesehen hatte, zu einem Ereignis von weittragender Bedeutung. Lady Tichbome, Rogers von Grauen versteinerte Mutter, weigerte sich, an den Tod ihres Sohnes zu glauben und erließ in den meistverbreiteten Blättern verzweifelte Aufrufe. Einer dieser Aufrufe fiel in die sammetweichen grabdunklen Hände des Negers Bogle, der einen genialen Plan ausheckte. Die Vorzüge der Ungleichheit

Tichbome war ein schiankerjunger Lord von sehniger Gestalt, mit scharfgeschnittenen Zügen, bräunlicher Gesichtsfarbe, schwarzem, glattem Haar, lebhaften Augen und einer geradezu belästigend gestochenen Ausdrucksweise; Orton war ein aufgeschwemmter Fettsack, schmerbäuchig, mit Gesichtszügen von grenzenloser Verschwommenheit, einer leicht speckigen Gesichtshaut, geringeltem kastanienbraunem Haar, schläfrigen Augen und einer abwesenden oder wirren Konversation. Bogle hatte den Einfall, es sei Ortons Pflicht, das erste nach Europa auslaufende SchifTzu besteigen und Lady Tichbomes HofTnung zu stillen, indem er sich als ihr Sohn ausgab. Der Plan war irrsinnig fein ausgedacht. Ich wähle ein naheliegendes Beispiel. Wenn im Jahr 1914 ein Hochstapler darauf verfallen wäre, sich als der deutsche Kaiser auszugeben, wäre das erste, was er sich zugelegt hätte, der aufgezwirbelte Schnurrbart, der gelähmte Arm, die Herrschermiene, der graue Umhang, die erlauchte,

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mit Orden gespickte Brust und der hohe Helm gewesen. Bogle war scharfsinniger: er hätte einen bardosen Kaiser ohne militärische Auszeichnungen und Ehrenadler und mit einem linken Arm von unzweifelhaft heiler Beschaffenheit zur Schau gestellt. Führen wir den Vergleich nicht weiter aus; wir wissen jedenfalls, daß er einen schwabbeligen Tichbome mit dem liebenswürdigen Lächeln eines Schwachkopfs, kastanienbraunem Haar und einer unverbesserlichen Unkenntnis der französisehen Sprache vorfuhrte. Bogle wußte, daß ein vollkommenes Faksimile des heißersehnten Roger Charles Tichbome unmöglieh zu beschaffen war. Er wußte auch, daß alle erreichbaren Ähnlichkeiten gewisse unvermeidliche Unterschiede nur um so stärker hervorheben würden. So verzichtete er denn auf jede Ähnlichkeit. Er ahnte voraus, daß die ungeheure Albernheit des Ansinnens ein überzeugender Beweis dafür sein würde, daß es sich nicht um einen Betrug handelte, bei dem man nie auf derart flagrante Art die einfachsten Überzeugungsmerkmale außer acht gelassen hätte. Auch darf nicht die allmächtige Kollaboration der Zeit übersehen werden; vierzehn Jahre, in der südlichen Hemisphäre und auf gut Glück verbracht, können einen Menschen verändern. Ein weiteres grundlegendes Motiv: die wiederkehrenden unsinnigen Aufrufe von Lady Tichbome bewiesen, daß sie voll überzeugt war, Roger Charles sei nicht gestorben, daß sie willens war, ihn wiederzuerkennen. Die Begegnung

Tom Castro, immer zuvorkommend, schrieb an Lady Tichbome. Um seine Identität zu erhärten, berief er sich auf das einschlägige Erkennungsmai - zwei Leberflecke in der Gegend der linken Brustwarze — sowie aufjenes zwar betrübliche, aber doch so denkwürdige Erlebnis aus seiner Kindheit, als ihn ein Bienenschwarm überfallen hatte. Die Mitteilung war knapp und sah Tom Castro und Bogle insofern ähnlich, als sie sich

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über Bedenklichkeiten der Rechtschreibung hinwegsetzte. In der stattlichen Öde eines Pariser Hotels las die Dame den Brief und las ihn immer wieder unter seligen Tränen; binnen weniger Tage fand sie auch die Erinnerungen, um die ihr Sohn sie bat. Am 16. Januar 1867 meldete sich Roger Charles Tichborne in ebendem Hotel an. Ihm voran schritt sein respektvoller Diener, Ebenezer Bogle. Es war ein sonnendurchlluteter Wintertag; die altersmüden Augen Lady Tichbomes waren tränenverschleiert. Der Neger öfTnete die Fenster weit. Das Licht diente als Maske: die Mutter erkannte den verlorenen Sohn wieder und schloß ihn in die Arme. Jetzt, da sie ihn in Fleisch und Blut wieder hatte, bedurfte sie nicht mehr des Tagebuchs und der Briefe, die er ihr aus Brasilien geschickt hatte: bloße vergötterte Reflexe, die ihre Einsamkeit in vierzehn düsteren Jahren genährt hatten. Sie gab sie ihm voll Stolz zurück: kein einziger Brief fehlte. Bogle lächelte mit feiner Zurückhaltung; hielt er doch jetzt in Händen, was dem friedfertigen Gespenst Roger Charles’ als verbriefter Nachweis dienen konnte. Ad majorem Dei gloriam Dieses glückselige Wiedererkennen - das einer Tradition der klassischen Tragödie gerecht zu werden scheint - sollte diese Geschichte krönen, indem es drei Glückseligkeiten verbürgte oder zumindest wahrscheinlich machte: die der leiblichen Mutter, die des apokryphen und duldsamen Sohnes, die des Anstifters, dessen Lohn die providentielle Verklärung seiner Kunstfertigkeit darstellte. Das Schicksal (so nennen wir das unendliehe, nie aufhörende Zusammenwirken von Tausenden und Abertausenden ineinander verhäkelter Ursachen) hatte es anders beschlossen. Lady Tichborne starb im Jahr 1870; ihre Verwandten erhoben Anklage gegen Arthur Orton wegen Erbschleicherei. Zwar arm an Tränen und Einsamkeit, aber nicht an Begehrlichkeit, glaubten sie keinen Augenblick an den fetten

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und fast analphabetischen Verlorenen Sohn, der aus Australien so ungelegen wieder aufgetaucht war. Orton rechnete auf die Unterstützung der zahllosen Gläubiger, die beschlossen hatten, er sei Tichborne, um durch ihn zu ihrem Geld zu kommen. Ebenso rechnete er auf die Freundschaft des Rechtsanwalts der Familie, Edward Hopkins, sowie auf die des Antiquars Francis J. Baigent. Doch war das immer noch nicht ausreichend. Bogle war der Meinung, daß, um die Partie zu gewinnen, die Gunst einer starken Strömung im Volk unumgänglich nötig sei. Er verlangte nach seinem Zylinder und dem zukömmliehen Regenschirm und begab sich, nach einer rettenden Idee fahndend, auf die ehrbaren Straßen von London. Es ging auf den Abend zu; Bogle wanderte umher, bis ein honiggelber Mond sich im rechteckigen Wasser der öffendichen Brunnen verdoppelte. Der Gott suchte ihn heim. Bogle winkte eine Droschke heran und ließ sich zur Wohnung des Antiquars Baigent fahren. Dieser schickte an die Times einen langen Brief, in dem er versicherte, der angebliche Tichborne sei ein unverschämter Betrüger. Den Brief unterzeichnete Pater Goudron von der Sodetas Jesu. Weitere gleichfalls papistische Denunzierungen folgten. Die Wirkung war durchschlagend. Die guten Leute verhehlten sich nicht länger, daß Sir Roger Charles die Zielscheibe eines abscheulichen Komplotts der Jesuiten war.

Der Wagen Hundertundneunzig Tage dauerte der Prozeß. An die hundert Zeugen versicherten an Eides Statt, daß der Angeklagte Tichbome sei - unter ihnen vier Waffenkameraden des sechsten Dragonerregiments. Seine Anhänger wiederholten unaufhörlieh, er sei kein Betrüger, denn wäre er einer, hätte er gewiß nicht versäumt, die Jugendbildnisse seines Modells zu retuschieren. Überdies hatte Lady Tichborne ihn wiedererkannt, und es ist sonnenklar, daß eine Mutter sich nicht täuscht. Alles ging soweit gut - oder mehr oder weniger gut -, bis eine frühere 27

Geliebte Ortons vor den Schranken erschien, um auszusagen. Bogle brachte dieses perfide Manöver des Familienanhangs nicht aus der Fassung. Er verlangte nach Zylinder und Regenschirm und begab sich, um eine dritte Erleuchtung flehend, auf die ehrbaren Straßen von London. Kurz bevor er Primrose Hill erreichte, holte ihn der schreckliche Wagen ein, der ihn aus der Tiefe der Jahre verfolgte. Bogle sah ihn kommen, stieß einen Schrei aus, fand jedoch keine Rettung. Er wurde mit Wucht gegen die Steine geschleudert. Die schlenkernden Hufe des Kleppers spalteten ihm den Schädel. Das Gespenst Tom Castro war das Gespenst Tichbomes, ein armes Gespenst jedoch, das von Bogles Genie behaust war. Als man ihm sagte, dieser sei tot, fiel er in sich zusammen. Er fuhr fort zu lügen, aber mit nur geringer Begeisterung und mit unsinnigen WiderSprüchen. Das Ende war leicht vorauszusehen. Am 27. Februar 1874 wurde Arthur Orton (alias Tom Castro) zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Gefängnis machte er sich beliebt; er konnte eben nicht anders. Seine musterhafte Aufluhrung trug ihm einen Straferlaß von vier Jahren ein. Als ihn diese letzte gastliche Stätte - das Gelangnis - im Stich ließ, durchzog er die Dörfer und Landstädte des Vereinigten Königreichs und hielt kleine Vorträge, in denen er entweder seine Unschuld beteuerte oder seine Schuld bekannte. Seine Bescheidenheit und sein Verlangen, es allen recht zu machen, waren so eingewurzelt, daß er an vielen Abenden mit der Verteidigung anfing und mit dem Geständnis aufhörte, wie es der Neigung des Publikums jeweils entsprach. Am 2. April 1898 starb er.

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Die Witwe Tsching, Seeräuberin Das Wort »Korsarin« läuft Gefahr, eine etwas unbehagliche Erinnerung zu wecken: die Erinnerung nämlich an eine schon verblaßte Operette, mit ihren Aufzügen unverkennbarer Dienstmädchen, die sich als choreographische Piratinnen auf ausgesprochen pappenen Meeren tummelten. Gleichwohl hat es Korsarinnen gegeben: Frauen, die sich im Matrosenhandwerk auskannten, die viehische Besatzungen zu regieren und hochbordige SchifTe zu jagen und zu plündern verstanden. Eine von ihnen war Mary Read, die einmal erklärte, daß der Piratenberuf nicht für jedermann tauge und daß man, um ihn würdig auszuüben, ein beherzter Mann sein müsse, wie sie. In den rauhen Anfängen ihrer Laufbahn, als sie noch nicht Kapitän war, wurde einer ihrer Liebhaber von einem Raufbold an Bord beschimpft. Mary forderte ihn zum Duell und schlug sich mit ihm zweihändig, wie es auf den Inseln des Karibischen Meeres seit alters her der Brauch ist: die eindringliche, unsichere Reiterpistole in der Linken, den treuen Säbel in der Rechten. Die Pistole versagte, aber der Degen hielt sich wacker ... Um das Jahr 1720 machte ein spanischer Galgen der riskanten Laufbahn Mary Reads ein Ende, und zwar in Santiago de la Vega (Jamaica). Eine andere Piratin dieser Meere war Anne Bonney, eine prachtvolle Irin mit hohen Brüsten und unbändigem Haar, die mehr als einmal beim Entern von Schißen ihre Haut zu Markte trug. Sie war eine Waflengefahrtin von Mary Read, und am Ende ihre Galgengefährtin. Ihr Liebhaber, der Kapitän John Rackam, hatte bei dieser Verrichtung ebenfalls seinen Hals in der Schlinge. Anne bedachte ihn verächtlich mit der bitterbösen Variante jener Anschuldigung, die Aixa gegen Boabdil’ erhob: »Wenn du dich geschlagen hättest wie ein Mann, würden sie dich nicht henken wie einen Hund.« Mehr Glück und längeres Leben hatte eine Piratin, die in den Gewässern Asiens operierte, vom Gelben Meer bis zu den Flüs­

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sen an der Grenze von Annam. Ich spreche von der kriegensehen Witwe Tsching. Die Lehrjahre

Um das Jahr 1797 gründeten die Aktionäre der zahlreichen Piratengeschwader dieses Meeres ein Konsortium und ernannten zum Admiral einen gewissen Tsching, einen redlichen und bewährten Mann. Dieser verfuhr bei der Plünderung der Küsten derart streng und mustergültig, daß die entsetzten Bewohner mit Geschenken und Tränen kaiserliche Hilfe erflehten. Ihr klägliches Bittgesuch blieb nicht ungehört: sie erhielten Befehl, ihre Dörfer in Brand zu stecken, ihr Fischerhandwerk zu vergessen, landeinwärts zu ziehen und eine unbekannte Wissenschaft mit Namen Ackerbau zu erlernen. So taten sie, und die geprellten Eindringlinge fanden nur noch verödete Küsten. Sie mußten sich infolgedessen auf Schiflsüberfälle umstellen: ein Raubgeschäft, das noch schädigender war als das vorhergehende, da es den Handel ernstlich beeinträchtigte. Die kaiserliche Regierung handelte unverzüglich: sie wies die ehemaligen Fischer an, Pflug und Joch aufzugeben und Ruder und Netze wieder instand zu setzen. Die Fischer empörten sich, worauf sich die Behörden zu einer anderen Verfahrensweise entschlossen: sie ernannten den Admiral Tsching zum Kaiserlichen Hofstallmeister. Dieser wollte die Bestechung annehmen. Die Aktionäre erfuhren es noch rechtzeitig, und ihre tugendhafte Entrüstung fand Ausdruck in einem Teller giftiger, in Reis gekochter Raupen. Der Leckerbissen wurde ihm zum Verhängnis; der ehemalige Admiral und jetzige Kaiserliche Hofstallmeister übergab seine Seele den Gottheiten des Meeres. Die Witwe, aus der dieser doppelte Verrat einen anderen Menschen gemacht hatte, versammelte die Piraten, erklärte ihnen den verwickelten Fall und beschwor sie, die trügerische Milde des Kaisers und den undankbaren Dienst an Aktionären, die zur Giftmischerei neigten, abzuschütteln. Sie schlug ihnen vor, auf eigene Rech­ 3°

nung zu kapern und einen neuen Admiral zu wählen. Die Wahl fiel auf sie. Sie war eine sehnige F rau mit schläfrigen Augen und schadhaftem Lächeln. Das schwarzgefärbte und geölte Haar hatte mehr Glanz als die Augen. Ihren ruhigen Befehlen folgend, schnellten die SchifTe der Gefahr und der hohen See entgegen. Das Kommando

Dreizehn Jahre methodischen Abenteurerlebens folgten. Aus sechs Geschwadern bestand die Flotte, und jedes hatte eine andersfarbige Flagge: es gab das rote, das gelbe, das grüne, das schwarze, das braune Geschwader und das mit dem SchlangenZeichen, das das SchifT der Kapitänin führte. Die Anführer nannten sich: Vogel und Stein, Zuchtrute des Morgenwassers, Mannschaftsjuwel, Welle mit vielen Fischen und Hohe Sonne. Das Reglement, das die Witwe Tsching eigenhändig verfaßte, ist von unbeugsamer Strenge, und sein gerader und lakonischer Stil ist bar jener hinfälligen rhetorischen Blüten, die dem chinesischen Amtsstil eine geradezu lächerliche Hoheit verleihen, wofür wir hier ein paar beunruhigende Beispiele anfiihren werden: Alle von Bord feindlicher Schiffe übernommenen Güter sollen in ein Lager geschafft und dort registriert werden. Derfünfte Teil dessen, was jeder einzelne Pirat beibringt, wird ihm daraufhin überlassen werden; der Rest soll im Lager verbleiben. Die Verletzung dieser Anordnung ist der Tod. Dem Piraten, der ohne ausdrückliche Erlaubnis seinen Posten verläßt, sollen zur Strafe die Ohren öffentlich durchbohrt werden. Der Rückfall in dieses Vergehen ist der Tod. Der Verkehr mit den in den Dörfern geraubten Frauen ist an Deck verboten; er soll sich auf den Kielraum beschränken, jedoch nie ohne Erlaubnis des Steuermanns. Die Verletzung dieser Anordnung ist der Tod. Berichten Gefangener zufolge bestand die Kost der Piraten in 3'

der Hauptsache aus Zwieback, dicken gemästeten Ratten und gekochtem Reis; an Kampftagen pflegten sie Pulver in ihren Alkohol zu mischen. Karten und falsche Würfel, das Glas und das rechteckige Spielbrett des Fan Tan, die Visionen verheißende Opiumpfeife und das Lämpchen waren ihr Zeitvertreib.2 Zwei Degen, die gleichzeitig geführt wurden, waren ihre bevorzugten Waflen. Bevor sie ein SchifT enterten, rieben sie sich die Backenknochen und den Körper mit einem Absud von Knoblauch ein: zuverlässiger Talisman gegen die Kränkungen der Feuermäuler. Die Mannschaft fuhr mit ihren Frauen; der Kapitän jedoch mit seinem Harem, der fünf oder sechs Häupter zählte und bei Siegen aufgefrischt zu werden pflegte.

Es spricht Kia-King, derjunge Kaiser

Um die Mitte des Jahres 1809 wurde ein kaiserliches Edikt erlassen, von dem ich den ersten und den letzten Teil wiedergebe. Viele übten Kritik an seinem Stil: Männer, unselig schadenstiflend, Männer, die das Brot mit Füßen treten, Männer, die nicht auf das Geschrei der Steuereinnehmer und der Waisen hören, Männer, in deren Unterkleidern der Phönix und der Drache abgebildet sind, Männer, die die Wahrheit der gedruckten Bücher leugnen, Männer, die infließenden Tränen den Nordstern spiegeln lassen, suchen das Glück unserer Flüsse heim und das alte Vertrauen in unsere Meere. Auf halbwracken und fährlichen Barken trotzen sie Tag und Nacht dem Sturm. Nicht in wohlwollender Absicht tun sie dies: auch sind sie nicht und waren nie die echten Freunde des Schiffers. Weit davon entfernt, ihm ihren Beistand zu leihen, greifen sie ihn vielmehr mit grimmigster Wucht an und überantworten ihn dem Ruin, der Verstümmelung oder dem Tod. Sie verletzen damit die natürlichen Gesetze des Weltalls, so daß die Flüsse über die Ufer treten, das Küstenland ertrinkt, die Kinder sich gegen ihre Eltern kehren und die Urgesetze von Feuchte und Dürre verstört sind . . . . . . Darum beauftrage ich dich mit der Züchtigung, Admiral Kwo32

lang. Sei eingedenk, daß die Milde ein kaiserliches Attribut ist und daß es Anmaßung seitens eines Untertanen wäre, nach ihr zu trachten. Sei grausam, sei gerecht, sei gehorsam, sei siegreich. Der beiläufige Hinweis auf die halbwracken Barken war natürlich falsch. Bezweckt war, den Mut der Expedition Kwolängs zu heben. Neunzig Tage später maßen sich die Streitkräfte der Witwe Tsching mit denen des Reiches der Mitte. Fast tausend Schiffe kämpften von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ein gemischter Chor von Glocken, Trommeln, KanonenSchüssen, Flüchen, Gongs und Prophezeiungen begleitete das Gefecht. Die Streitmacht des Reichs wurde zersprengt. Weder die untersagte Gnade noch die empfohlene Grausamkeit fanden Gelegenheit, zum Zuge zu kommen. Kwo-lang vollzog einen Ritus, den unsere geschlagenen Generäle zu unterlassen belieben: den Selbstmord.

Die angstverstörten Ufer

Dann segelten die sechshundert Kriegsdschunken und die vierzigtausend siegreichen Piraten der hochfahrenden Witwe die Mündung des Si-Kiang hinauf, wobei sie backbords und steuerbords eine Vielzahl von Bränden, schrecklichen Feiern und Waisen schufen. Es wurden ganze Dörfer dem Boden gleichgemacht. In einem einzigen überstieg die Zahl der Gefangenen tausend. Einhundertundzwanzig Frauen, die den wirren Schutz der nahen Schilfdickichte und Reisfelder aufgesucht hatten, verriet das nicht zu beschwichtigende Weinen eines Kindes; sie wurden später in Macao verkauft. Wenn auch aus der Ferne, kamen die jammervollen Tränen und die Trauer dieser Ausplünderung Kia-King, dem Sohn des Himmels, zu Ohren. Es gibt Geschichtsschreiber, die behaupten, daß sie ihn weniger schmerzten als die Niederlage seiner Strafexpedition. Fest steht, daß er eine zweite ausrüstete, starrend von Standarten, Matrosen, Soldaten, Kriegsgerät, Vorräten, Wahrsagern und Astrologen. Das Kommando fiel diesmal Ting-Kwei zu.

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Diese schwerfällige Masse von Schiffen wälzte sich das Delta des Si-Kiang hinauf und sperrte dem Piratengeschwader die Durchfahrt. Die Witwe rüstete sich zur Schlacht. Sie wußte, daß es ein schwerer, bitterschwerer, fast verzweifelter Kampf sein würde. Nächte und Monde des Plünderns und der Muße hatten ihre Männer erschlaffen lassen. Es kam nie zur Schlacht. Gelassen stieg die Sonne empor, gelassen senkte sie sich wieder über dem schauernden Röhricht. Die Männer und die Waffen hielten Wache. Die Mittage waren übermächtig, die Ruhestunden endlos. Der Drache und die Füchsin

Doch stiegen allabendlich träge Schwärme luftig schwebender Drachen von den Schiffen des kaiserlichen Geschwaders auf und sanken anmutig auf das Wasser und auf die feindlichen Decks herab. Es waren hauchdünne Gebilde aus Papier und Rohr, Kometen ähnlich, und ihre versilberte oder rote Oberiläehe wies immer die gleichen Schriftzeichen auf. Die Witwe untersuchte besorgt diese regelmäßig auftauchenden Meteore und las auf ihnen die langwierige und verworrene Fabel von einem Drachen, der allezeit eine Füchsin beschirmt hatte, trotz ihrer großen Undankbarkeit und ihrer beständigen Freveltaten. Der Mond am Himmel wurde schmal, und die Gebilde aus Papier und Rohr zogen jeden Abend mit der gleichen Geschichte auf, die sich kaum merklich abwandelte. Die Witwe wurde betrübt und nachdenklich. Als der Mond voll war, am Himmel und in dem rötlichen Wasser, schien die Geschichte ihrem Ende zuzugehen. Niemand vermochte vorauszusagen, ob eine schrankenlose Vergebung oder eine schrankenlose Strafe auf die Füchsin niedergehen würde; aber das unvermeidliehe Ende nahte. Die Witwe begriff. Sie warf ihre beiden Degen in den Fluß, kniete sich in ein Boot und gab Befehl, sie zu dem Schiff des kaiserlichen Kommandanten zu bringen. Es war die Dämmerstunde des Abends: der Himmel war 34

voller Drachen, diesmal von gelber Farbe. Die Witwe murmelte einen Satz: »Die Füchsin sucht die Schwinge des Drachen«, sagte sie, als sie an Bord stieg. Die Apotheose

Die Chronisten berichten, daß die Füchsin Verzeihung erlangte, und daß sie ihr zähes Alter dem Opiumschmuggel widmete. Sie hörte auf, Die Witwe zu sein; sie legte sich einen Namen bei, der übersetzt lautet: Leuchtglanz der wahrhaftigen Unterweisung. Von jenem Tag an (heißt es bei einem Geschichtsschreiber) kamen die Barken wieder zu ihrem Frieden. Die vier Meere und die zahllosen Flüsse waren wieder sichere und glückhafte Wege. Die Bauern konnten die Schwerter verkaufen und Ochsen dafür einhandein, um ihre Äcker zu bestellen. Sie brachten Opfer dar, sprachen huldigende Gebete auf den Gipfeln der Berge und hatten am Tag singend ihre Lust hinter Wandschirmen.

Der Schandtatenmakler Monk Eastman Die aus diesem Amerika Scharf umrissen von blaßblauen Wänden oder einem hohen Himmel tanzen zwei Compadritos, eingegossen in schwarzes Tuch, auf Weiberschuhen einen äußerst ernsten Tanz, den Tanz der gleichen Messer, bis von einem Ohr die Nelke abspringt, weil das Messer in einen Menschen gefahren ist, der mit seinem waagerechten Tod den Tanz ohne Musik beschließt. Entsagungsvoll stülpt sich der andere den Sombrero auf und verbringt seine alten Tage damit, von diesem so sauberen Zweikämpf zu erzählen. Dies ist die eingehende und umfassende Geschichte unserer Schurken. Die Geschichte der streitbaren Männer von New York ist schwindelerregender und gröber.

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Die aus dem anderen

Die Geschichte der Banden von New York (ans Licht gebracht von Herbert Ashbury im Jahre 1928 in einem prächtig ausgestatteten Band von 400 Seiten Oktav) ist verworren und grausam wie barbarische Kosmogonien und hat viel von deren gigantischer Geistlosigkeit; unterirdische Gewölbe ehemaliger Bierbrauereien, geeignet als Mietskasernen für Neger, ein rachitisches New York von drei Stockwerken Höhe, Räuberbanden wie die Swamp Angels (Sumpfengel), die zwischen Kloakenlabyrinthen marodierten; Räuberbanden wie die Daybreak Boys (Tagesanbruch-Jungs), die frühreife Mörder von zehn und elf Jahren aufnahmen; einzelgängerische und tolldreiste Riesenkerle wie die Plug Uglies (Fiese Rowdies), die das unwahrscheinliche Gelächter des Nächsten mit der steifen, mit Wolle ausgestopften Melone und dem vom Wind der Vorstadt geblähten, weitfaltigen Hemd hervorriefen, aber in der rechten Hand einen Knüppel und die gründliche Pistole hatten; Räuberbanden wie die Dead Rabbits (Tote Kaninchen), die unter einem gepfählten Kaninchen als Feldzeichen die Schlacht aufnahmen; Männer wie Johnny Dolan, der Dandy, der berühmt war durch die eingeölte Tolle auf seiner Stirn, durch die Spazierstöcke mit AfTenkopf und die sinnreiche Vorrichtung aus Kupfer, die er über den Daumen zu ziehen pflegte, um die Augen des Gegners auszuquetschen; Männer wie Kid Burns, der imstande war, mit einem einzigen Biß eine lebende Ratte zu köpfen; Männer wie Blind Danny Lyons, ein blonder Junge mit riesigen toten Augen, Zuhälter dreier Huren, die stolz für ihn auf den Strich gingen; Reihen von Häusern mit roter Laterne, so das Haus jener sieben Schwestern aus New England, die, was am Weihnachtsabend einkam, für mildtätige Zwecke spendeten; Kampfplätze für ausgehungerte Ratten und Hunde; chinesische Spielhöllen; Weiber wie die rühmlich bekannte Witwe Red Norah, Geliebte und Trophäe aller Männer, die der Bande der Gophers vorstand; Weiber wie Lizzie the Dove, die Trauer3θ

kleider anzog, als Danny Lyons hingerichtet wurde, und der Gentle Maggie, die ihr die alte Leidenschaft für den toten blinden Mann streitig machte, die Gurgel durchschnitt; Aufstände, wie der einer wildbewegten Woche des Jahres 1863, wobei sie hundert Gebäude in Brand steckten und sich um ein Haar der Stadt bemächtigt hätten; Straßenkämpfe, bei denen der einzelne wie in einem Meer unterging, weil sie ihn zu Tode trampelten; Diebe und Pferdevergifter wie Yoske Nigger - aus alldem webt sich diese chaotische Geschichte zusammen. Ihr berühmtester Held ist Edward Delaney, alias William Delaney, aliasjoseph Marvin, alias Joseph Morris, alias Monk Eastman, Anführer von zwölfhundert Männern.

Der Held Diese Stufenleiter fingierter Namen (verwirrend wie ein Spiel mit Masken, bei dem man nie weiß, welche welche ist) unterschlägt seinen eigentlichen Namen - wenn wir so weit gehen, so etwas für menschenmöglich zu halten. Fest steht, daß im standesamtlichen Register von Williamsburg, Brooklyn, der Name Edward Ostermann lautet, der später zu Eastman amerikanisiert wurde. Befremdlich ist die Tatsache, daß dieser unheilstiftende Bösewicht hebräischer Abkunft war. Er war der Sohn eines jener Gastwirte, die an ihrem Lokal das Zeichen fiir koscher anbringen, und wo Männer mit Rabbinerbärten das ausgeblutete, dreimal gereinigte Fleisch nach ritueller Vorschrift abgestochener Kälber ohne Gefährdung zu sich nehmen können. Im Alter von neunzehn Jahren, gegen 1892, eröffnete er mit Hilfe seines Vaters eine Vogelhandlung. Die Lebensweise der Tiere aufzuspüren, ihre kleinen Beschlüsse und ihre unerforschliche Unschuld zu beobachten, war eine Leidenschaft, die ihm bis ans Ende blieb. In späteren Glanzepochen, als er verächtlich die Sandblattzigarren der schmierigen Sachems vom Tammany zurückwies oder die besten Bordelle in einem Automobil, das wie der natürliche Sohn einer Gondel aussah, abgraste, machte er ein zweites, aber falsches Geschäft auf, das hundert edle

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Katzen und mehr als vierhundert Tauben beherbergte - die jedoch nicht käuflich waren. Er liebte jedes Tier und pflegte zu Fuß ihr Gehege zu durchwandern, auf dem Arm eine beglückte Katze, mit andern, die ihm eifersüchtig nachstrichen. Er war ein zerrütteter und riesenhafter Mann. Der Nacken war gedrungen wie bei einem Stier, die Brust unbezwinglich, die Arme streitbar und lang, das Nasenbein gebrochen, das Gesicht, obwohl von Narben gezeichnet, nicht so bedeutend wie der Körper, die Beine gekrümmt wie die eines Reiters oder Seemanns. Auf ein Hemd konnte er ebenso leicht verzichten wie auf einen Rock, nicht jedoch auf ein schmieriges Hütchen, das auf seinem zyklopischen Schädel thronte. Die Menschen pflegen sein Andenken. Im äußeren Auftreten ist der konventionelle Filmgangster eine Kopie von ihm, nicht von dem grobschlächtigen und aufgeschwemmten Capone. Von Wolheim wird gesagt, sie hätten ihn für Hollywood engagiert, weil seine körperliche Erscheinung unmittelbar auf die des unvergessenen Monk Eastman anspielte . . . Dieser pflegte seinen Räuberdistrikt mit einer blaugefiederten Taube auf der Schulter zu durchstreifen, genau so wie ein Stier, dem ein Fink auf dem Rücken sitzt. Um das Jahr 1894 gab es in der Stadt New York eine Überfülle öfTendicher Tanzsalons. Eastman war beauftragt, in einem von ihnen für Ordnung zu sorgen. Die Legende berichtet, daß der Impresario ihn nicht annehmen wollte, und daß Monk seine Tauglichkeit unter Beweis stellte, indem er mit Getöse das Riesenpaar, das den Posten bisher versehen hatte, zu Boden schmetterte. So hielt er die Stellung bis 1899, gefürchtet und allein. Für jeden Krakeeler, den er zum Schweigen brachte, schnitzte er mit dem Messer eine Kerbe in den derben Knüppel. Eines Abends fesselte eine spiegelnde Glatze, die sich über ein Glas Bier neigte, seine Aufmerksamkeit, und mit einem Hieb fällte er den Träger. »Mir fehlte eine Marke an Fünfzig!« rief er hinterher aus. 38

Die Herrschaft

Von 1899 an war Eastman nicht nur berühmt. Er war der erkorene Häuptling einer wichtigen Zone und bezog stattliche Einkünfte von den Häusern mit roter Laterne, den Spielhöllen, den Straßendirnen und den Räubern dieses unsauberen Lehnsgebiets. Die Komitees holten seinen Rat ein, wenn größere Raubzüge zu organisieren waren, aber auch Einzelverbrecher wandten sich an ihn. Dies waren seine Honorare: 15 Dollar ein abgerissenes Ohr, 19 ein gebrochenes Bein, 25 ein Beinschuß, 25 ein Messerstich, 100 das komplette Geschäft. Manchmal führte Eastman, um nicht aus der Übung zu kommen, einen Auftrag persönlich durch. Eine Grenzfrage (heikel und mißliebig wie jene anderen, die das internationale Recht auf die lange Bank schiebt) brachte ihn in Gegensatz zu Paul Kelly, dem berühmten Hauptmann einer anderen Bande. Mit Kugelwechseln und Spähtruppgefechten hatte man eine Grenze festgelegt. Eastman überschritt sie eines Morgens und wurde von fünf Männern angegrifTen. Mit diesen Affenarmen und mit dem Knüppel brachte er drei zur Strecke, aber sie jagten ihm zwei Kugeln in den Unterleib und ließen ihn für tot liegen. Eastman drückte die Wunde mit Daumen und Zeigefinger zusammen und taumelte wie ein Betrunkener zum nächsten Hospital. Das Leben, das hohe Fieber und der Tod machten ihn sich mehrere Wochen lang streitig, aber seine Lippen erniedrigten sich nicht dazu, irgendeinen anzugeben. Als er wieder draußen war, herrschte offener Krieg und blühte in ständigen Gefechten bis zum 19. August 1903. Die Schlacht von Rivington

An die hundert Helden, die sich kaum von den Photographien, die in den Handbüchern verbleichen, unterschieden, an die hundert von Tabak- und Alkoholdunst durchdrungene Hel­ 39

den, an die hundert Helden in Strohhüten mit farbigem Band, an die hundert Helden, mehr oder weniger an Geschlechtskrankheiten, Zahnfäule, Erkrankungender Atemwege oder der Nieren leidend, an die hundert Helden, so unbedeutend oder strahlend wie die von Troja oder Junin1, lieferten diese geschwärzte Waffentat im Schatten der Pfeilerbogen des Elevated. Ursache war der Tribut, den Kellys Pistolenmänner dem Impresario einer Spielhölle, einem Kumpan Monk Eastmans, abverlangten. Einer der Pistolenmänner wurde getötet, und die anschließende Schießerei wuchs sich zu einer Schlacht ungezählter Revolver aus. Aus der Deckung der hohen Pfeiler schossen Männer mit rasiertem Kinn stillschweigend; sie bildeten das Zentrum eines aufgewühlten Horizonts von Mietdroschken, befrachtet mit kampfdurstigen Reserven und Colt-Artillerie in den Fäusten. Was empfanden die Hauptpersonen dieser Schlacht? Erstens (glaube ich) standen sie unter dem brutalen Eindruck, daß der irrsinnige Lärm von hundert Revolvern sie im nächsten Augenblick zunichte machen würde; zweitens (glaube ich) unter dem Eindruck der nicht minder irrigen Sicherheit, daß, wenn die erste Salve sie nicht niederstreckte, sie unverwundbar seien. Soviel ist sicher, daß sie mit Inbrunst kämpften, hinter dem Schanzwerk aus Eisen und Nacht. Zweimal mischte sich die Polizei ein, und zweimal schlugen sie sie zurück. Im ersten Morgengrauen erlosch der Kampf, als sei er anstößig oder gespenstisch. Unter den hohen Bogen aus Eisengerüsten blieben sieben Schwerverwundete liegen, vier Leichen und eine tote Taube. Knistern im Gebälk Die Gemeindepolitiker, denen Monk Eastman zu Diensten war, leugneten vor der Öffentlichkeit stets ab, daß derartige Banden existierten oder erklärten, es handle sich um bloße Freizeitvereine. Die indiskrete Schlacht von Rivington alarmierte sie. Sie



beorderten die beiden Häuptlinge zu sich, um ihnen die Notwendigkeit eines Waffenstillstandes nahezulegen. Kelly (der sehr wohl wußte, daß die Politiker mehr als alle Colts der Welt geeignet waren, die Polizeiaktion versanden zu lassen) sagte auf der Stelle Ja. Eastman (mit der Überheblichkeit seines gewaltigen rohen Körpers) dürstete nach mehr Detonationen und Gefechten. Er stellte sich bockig, weigerte sich, und man mußte ihm mit Gefängnis drohen. Schließlich hielten die beiden berühmten Verbrecher in einer Bar eine Konferenz ab, jeder mit einer Sandblattzigarre im Mund, die Rechte am Revolver und umringt vom Schwarm wachsamer Pistolenschützen. Sie kamen zu einer amerikanischen Entscheidung: den Ausgang des Streits einem Box-Match zu überlassen. Kelly war ein außerordentlich gewandter Boxer. Das Duell fand in einem Schuppen statt und war haarsträubend. Hundertundvierzig Zuschauer nahmen daran teil, darunter Kerle mit verknautschter Mütze und Weiber mit verwegen aufgetürmter Frisur. Es währte zwei Stunden, und beide waren am Schluß völlig ausgepumpt. In der Woche darauf knatterten wieder die Schießereien. Monk wurde verhaftet - zum x-ten Male -, seine Schirmherren sagten sich erleichtert von ihm los; der Richter prophezeite ihm in aller Ehrlichkeit zehn Jahre Gefängnis.

Eastman gegen Deutschland Als der noch immer verblüffte Monk aus Sing-Sing entlassen wurde, hatten sich die zwölfhundert Räuber seines Kommandos in alle Winde zerstreut. Er konnte sie nicht wieder zusammenkriegen und beschied sich damit, auf eigene Rechnung zu operieren. Am 8. September 1917 verursachte er auf offener Straße einen Tumult. Am 9. beschloß er, an einem anderen Tumult teilzunehmen, und schrieb sich bei einem Infanterieregiment ein. Wir kennen ein paar Einzelheiten seines Feldzugs. Wir wissen, daß er die Festnahme von Gefangenen leidenschaftlich 4«

mißbilligte, und daß er einmal (mit dem nackten Gewehrkolben) diese beklagenswerte Praktik unterband. Wir wissen, daß es ihm glückte, aus dem Lazarett auszubrechen und in den Schützengraben zurückzukehren. Wir wissen, daß er sich in den Kämpfen bei Montfaucon auszeichnete. Wir wissen, daß er später die Ansicht äußerte, gewisse Tänzchen in der Bowery seien wilder als der ganze europäische Krieg. Das mysteriöse logische Ende

Am 25. Dezember 1920 kam der Körper Monk Eastmans in einer der Straßen der New Yorker City zum Vorschein. Er hatte fünf Kugeln abbekommen. In glücklicher Unkenntnis des Todes umstrich ihn einigermaßen verdutzt eine Katze gewöhnlichster Sorte.

Der uneigennützige Mörder Bill Harrigan Das Bild der Landflächen Arizonas vor jedem anderen Bild: das Bild der Landflächen Arizonas und Neu-Mexikos, Landflächen mit einem berühmten Untergrund von Gold und Silber, schwindelerregende und luftige Landflächen, Landflächen der monumentalen Hochebene und der zarten Farben, Landflächen mit dem weißen Schimmer von Gebein, das die Vögel abgeschält haben. Auf diesen Landflächen ein anderes Bild, das Bild von Billy the Kid: der Reiter, verwachsen mit seinem Pferd, der junge Bursche mit den harten Pistolenschüssen, die die Wüste betäuben, der Entsender unsichtbarer Kugeln, die auf Distanz töten, wie ein Zauber. Die von Metallen geäderte Wüste, brach und gleißend. Der fast knabenhafte Jüngling, der, als er mit einundzwanzig Jahren starb, der irdischen Gerechtigkeit einundzwanzig Menschenleben schuldig war - »Mexikaner nicht eingerechnet«. 42

Der Larvenzustand

Um das Jahr 1859 wurde der Mann, der zu Schrecken und Ruhm Billy the Kid werden sollte, im Souterrain einer New Yorker Mietskaserne geboren. Es heißt, daß der erschöpfte Schoß einer Irin ihn gebar, doch wuchs er unter Negern auf. In diesem Durcheinander von Negerschweiß und Kraushaar genoß er das Vorrecht, das Sommersprossen und ein rötlicher Schopf verleihen. Er tat sich etwas darauf zugute, daß er weiß war; im übrigen war er ausgemergelt, ungebärdig und niederträchtig. Mit zwölf Jahren war er in der Bande der Swamp Angels (Sumpfengel) tätig, Gottheiten, die zwischen den Kloaken ihr Wesen trieben. In Nächten, wenn der Nebel brandig roch, tauchten sie aus diesem stinkenden Labyrinth auf, folgten dem Kurs irgendeines deutschen Matrosen, legten ihn mit einem Schlag auf den Kopf um, zogen ihn bis auf die Unterwäsehe aus und verfugten sich daraufhin wieder zu dem anderen Unrat. Ihr Anführer war ein ergrauter Neger, Gas Houser Jonas, der auch als Vergifter von Pferden einen Namen hatte. Zuweilen kippte aus der Dachluke eines buckligen Hauses dicht am Wasser eine Frau über dem Kopf eines Passanten einen Aschenkasten aus. Der Mann zappelte und rang nach Luft. Sogleich umschwärmten ihn die Sumpfengel, zerrten ihn in eine Keilermündung und raubten ihn aus. So stand es um die Lehrjahre Bill Harrigans, des künftigen Billy the Kid. Er verschmähte nicht die Darbietungen der Bühne; es machte ihm Spaß (wohl ohne die leiseste Vorahnung, daß es Symbole und Lettern seines Schicksals waren), den Melodramen von Cowboys beizuwohnen.

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Go West!

Wenn die überfüllten Theater der Bowery (deren Besucher bei der geringsten Unpünktlichkeit des Vorhangziehers »Hoch mit dem Lappen!« brüllten) von diesen Reiter- und Pistolenstücken wimmelten, so ist die Ursache dafür ganz einfach die, daß Amerika damals dem Zug nach dem Westen erlag. Jenseits der Sonnenuntergänge war das Gold von Nevada und Kalifornien, war die Axt, die die Zedern fällte, war das gewaltige babylonisehe Haupt des Bison, der Sombrero und das vielzahlige Lager von Brigham Young1, waren die Feierbräuche und der Zorn des Roten Mannes, die klare Luft der Wüsten, die spröde Grassteppe, die Erde in ihrer Urgestalt, deren Nähe unser Herz höher schlagen läßt, wie die Nähe des Meeres. Der Westen rief. Ein anhaltendes taktmäßiges Geräusch erfüllte jene Jahre: es waren die Schritte von Tausenden amerikanischer Männer, die den Westen in Besitz nahmen. In diesem voranrückenden Zug befand sich um das Jahr 1872 auch der immer geschmeidige Bill Harrigan, der aus einer rechteckigen Zelle Reißaus genommen hatte. Vernichtung eines Mexikaners Die Geschichte (die in ihrem Fortschreiten ähnlich wie gewisse Filmregisseure mit zusammenhanglosen Bildern arbeitet) versetzt uns jetzt in eine verrufene Schenke, die in der allgewaltigen Wüste verloren wie auf hoher See liegt. Die Zeit: eine unpäßliche Nacht des Jahres 1873; der genaue Ort: der Llano Estacado (Neu-Mexiko). Die Erde ist fast übernatürlich glatt, der Himmel jedoch, mit abgestuften Wolkenschichten, mit Sturm- und Mondfetzen, ist voll bröckelnder Brunnen und Gebirgsmassen. Am Boden liegt der Schädel einer Kuh; Gebell und Augenfunkeln von Kojoten im Finstern, edle Pferde und das verlängerte Licht der Schänke. Drinnen, mit den Ellenbogen auf die einzige Theke gestützt, trinken müde und stämmige 44

Männer einen aufrührerischen Alkohol und prahlen mit großen Silbermünzen, die mit einem Adler und einer Schlange geprägt sind. Ein Betrunkener singt unbekümmert. Einige sprechen ein Idiom mit vielen S-Lauten; es muß Spanisch sein, da man die Männer, die es sprechen, verachtet. Bill Harrigan, die rötliche Ratte aus der Mietskaserne, ist unter den Trinkenden. Er hat ein paar Glas Branntwein geschluckt und denkt daran, sich ein weiteres geben zu lassen, vielleicht, weil er keinen Cent mehr in der Tasche hat. Er ist ganz erschlagen vom Anblick der Männer dieser Wüste. Er sieht sie in ihrer Furchtbarkeit, ihrem Ungestüm, ihrem Glück, er sieht sie abscheulich geschickt im Umgang mit störrischem Viehzeug und hohen Pferden. Plötzlieh tritt lautlose Stille ein, von der nur das sinnlose Gegröhle des Betrunkenen nichts weiß. Ein mehr als stattlicher Mexikaner mit dem Gesicht einer alten Indiofrau ist hereingekommen. Er protzt mit einem ausladenden Sombrero und zwei Pistolen an seinen Seiten. In hartem Englisch wünscht er allen Gringos, Söhnen von Hündinnen, die da trinken, einen guten Abend. Keiner nimmt die Herausforderung an. Bill fragt, wer das sei, und man flüstert ihm ängstlich zu, der Dago - der Diego - sei Belisario Villagrän aus Chihuahua. Gleich darauf erfolgt eine Detonation. Aus der Deckung hinter der Sperrkette hochgewachsener Männer hat Bill auf den Eindringling gefeuert. Das Glas fallt aus Villagräns Faust; dann fällt der ganze Mann. Der braucht keine weitere Kugel. Ohne den prächtigen Toten eines Blickes zu würdigen, nimmt Bill den Schwatz von vorher wieder auf: »Is that so?« näselt er, »na, ich bin Bill Harrigan aus New York.« Der Betrunkene singt nach wie vor, sinnlos. Der abschließende Höhepunkt ist leicht zu erraten. Bill nimmt Händedrücken und Schmeichelworte entgegen, Hurrarufe und Whiskies. Einer bemerkt, daß sein Revolver noch kein Zeichen hat und schlägt ihm vor, er solle eines hineinritzen, um den Tod Villagräns zu vermerken. Billy the Kid nimmt zwar das Schnappmesser des Betreffenden entgegen, aber er sagt: »Es lohnt sich nicht, Mexikaner zu notieren.« Das genügt wohl

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noch nicht. In dieser Nacht breitet Bill seine Decke neben der Leiche aus und schläft bis zum Morgengrauen - aus Angabe.

Tote, jawohl!

Diese glückliche Detonation (im Alter von vierzehn Jahren) war die Geburtsstunde von Billy the Kid, dem Helden, und die Sterbestunde des verstohlenen Bill Harrigan. Das Bürschchen aus der Kloake und der Kopfschlägerei stieg zu einem Mann von der Grenze auf. Er wurde ein Reiter; er lernte gerade zu Pferde sitzen, nach der Art von Wyoming und Texas, nicht mit zurückgelehntem Oberkörper, nach der Art von Oregon und Kalifornien. Nie glich er voll und ganz seiner Legende, doch kam er ihr näher. Etwas von dem New Yorker Strolch lebte in dem Cowboy fort; er übertrug auf die Mexikaner den Haß, den ihm vordem die Neger eingeflößt hatten; aber die letzten Worte, die er sprach, waren Worte (Schimpfworte) auf Spanisch. Er erlernte die schweifende Kunst der Herdentreiber; er erlernte die andere, schwierigere Kunst, Männern zu befehlen. Beide Künste verhalfen ihm dazu, daß ein guter Viehräuber aus ihm wurde. Zuweilen rissen ihn die Gitarren und Bordelle Mexikos hin. Mit der gräßlichen Klarsicht der Schlaflosigkeit veranstaltete er volkreiche Orgien, die vier Tage und Nächte währten. Zum Schluß beglich er angeekelt die Rechnung mit Pistolenschissen. Solange ihm der Abzughahn treu blieb, war er der meistgefurchtete (und vielleicht der größte Niemand und einsamste) Mann dieser Grenze. Garrett, sein Freund, der SherifT, der ihn später tötete, sagte einmal zu ihm: »Ich habe sehr gut trefTen gelernt beim Abschießen von Büffeln.« - »Ich noch besser beim Abschießen von Menschen«, entgegnete er sanftmütig. Die Einzelumstände sind unwiederbringlich dahin, aber wir wissen, daß er einundzwanzig Tote auf dem Gewissen hatte - »Mexikaner nicht eingerechnet«. Sieben lebensgefährliche Jahre hindurch betrieb er diesen Luxus: den Mut. 46

Am Abend des 25. Juli 1880 ritt Billy im Galopp auf seinem Falben durch die Haupt- oder einzige Straße von Fort Sumner. Die Hitze drückte, und man hatte die Lampen noch nicht angezündet. Der Kommissar Garrett, in einem Schaukelstuhl in einem Hausflur sitzend, zog den Revolver und jagte ihm eine Kugel in den Bauch. Der Falbe lief weiter, der Reiterstürzte auf die ungepflasterte Straße. Garrett verpaßte ihm eine zweite Kugel. Das Volk (wohlwissend, daß der Verwundete Billy the Kid war) verbarrikadierte die Fenster. Der Todeskampf war lang und lästerlich. Als die Sonne schon hoch stand, wagten sie sich heran und entwaffneten ihn; der Mann war tot. Sie bemerkten an ihm jenes verfallene Aussehen, das die Verstorbenen haben. Sie rasierten ihn, steckten ihn in fertiges Zeug und stellten ihn zu Abscheu und Spott im Schaufenster des besten Ladens aus. Männer zu Pferde oder im Tilbury strömten meilenweit aus der Umgebung herbei. Am dritten Tag mußten sie ihn schminken. Am vierten Tag bestatteten sie ihn unter Jubel.

Der unhöfliche Zeremonienmeister Kotsuke no Suke Der Schändliche in dieser Geschichte ist der unhöfliche Zeremonienmeister Kotsuke no Suke, ein unseliger Hofbeamter, der Erniedrigung und Tod des Herren des Turms von Ako bewirkte und sich nicht wie ein Ritter das Leben nehmen wollte, als die‫־‬ gebührende Rache ihn bedrohte. Er ist ein Mann, dem alle Männer dankbar sein müssen, weil er kostbare Bekundungen der Treue hervorrief und die schwarze, notwendige Ursache eines unsterblichen Unterfangens wurde. An die hundert Romane, Monographien, Dissertationen und Opern gedenken des Vorfalls - zu schweigen von dem Überschwang an Porzellan, gemasertem Lapislazuli und Lack. Ja, selbst das willfährige 47

Zelluloid dient ihm, insofern als die Lehrhafte Geschichte von den Vierzig und Sieben Hauptleuten - so ist sie benannt - der am häufigsten behandelte StofT der japanischen Filmproduktion ist. Der eingehende Ruhm, den diese flammende Anteilnähme bezeugt, ist mehr als nur vertretbar: er ist für jeden unmittelbar als gerecht kenntlich. Ich folge dem Bericht von A. B. Mitford, der die ständigen Abschweifungen, die durch Lokalkolorierung bewirkt werden, außer acht läßt und sich lieber an den Fortgang der glorreichen Episode hält. Dieses löbliche Fehlen von »Orientalismus« läßt vermuten, daß es sich um eine direkte Übersetzung aus dem Japanischen handelt. Die aufgegangene Schleife

Im entschwundenen Frühling des Jahres 1702 mußte der erlauchte Herr des Turms von Ako einen kaiserlichen Gesandten bei sich aufnehmen und ehrenvoll bewirten. Zweitausenddreihundert Jahre höfischer Gepflogenheiten (einige davon mythisehen Datums) hatten das Empfangszeremoniell beängstigend kompliziert. Der Gesandte repräsentierte den Kaiser, jedoch nach Art einer Anspielung oder eines Symbols: eine Nuance, die weder zu überladen noch abzuschwächen schicklich war. Um Irrtümern vorzubeugen, die gar leicht verhängnisvoll werden konnten, reiste ihm ein Beamter des Hofs von Yedo in der Eigenschaft eines Zeremonienmeisters voraus. Weitab von der Bequemlichkeit des Hoflebens und zu einem hinterwäldlerisehen Landaufenthalt verurteilt, der ihm wie eine Verbannung erscheinen mußte, erteilte Kira Kotsuke no Suke mürrisch seine Anweisungen. Zuweilen ging sein belehrender Ton bis zur Unverschämtheit. Sein Schüler, der Herr des Turms, gab sich Mühe, diese Faxen nicht zu beachten. Er wußte nichts auf sie zu erwidern, und die Zucht verbot ihm jede Heftigkeit. Eines Morgens jedoch löste sich am Schuh des Meisters die Schleife, und dieser forderte ihn auf, sie wieder zu schlingen. Der Ritter

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tat es mit Demut, jedoch voll unterdrückter Empörung. Der unhöfliche Zeremonienmeister sagte ihm, er sei wahrscheinlich unverbesserlich; nur ein Bauerntölpel sei imstande, einen derart plumpen Knoten hinzupfuschen. Der Herr des Turms zog das Schwert und versetzte ihm einen Hieb. Der andere floh, die Stirn kaum gezeichnet von einem dünnen Blutfaden . . . Nach Tagen erließ das Kriegertribunal seinen Spruch gegen den Verletzer und verurteilte ihn zum Selbstmord. Im mittleren Burghof des Turms von Ako errichtete man ein Sitzgerüst aus rotem Filz, und darauf zeigte sich der Verurteilte öffentlich, und man reichte ihm ein goldenes, juwelengeschmücktes Messer, und er bekannte seine Schuld und entkleidete sich bis zum Gürtel und öffnete sich den Bauch mit den zwei rituellen Schnitten und starb wie ein Samurai, und die Zuschauer, die am weitesten entfernt standen, sahen kein Blut, weil der Filz rot war. Ein ergrauter Mann enthauptete ihn mit dem Schwert: der Rat Kuranosuke, sein Onkel.

Der Heuchler der Schande Der Turm des Takumi no Kami wurde konfisziert, seine Hauptleute zersprengt, seine Familie zugrunde gerichtet und mit Schimpf bedeckt, sein Name der Schande preisgegeben. Ein Gerücht will wissen, daß in derselben Nacht, als sich der Herr tötete, siebenundvierzig seiner Hauptleute sich auf dem Gipfel eines Berges berieten und bis in alle Einzelheiten planten, was ein Jahr später zur Ausführung kam. Soviel steht fest, daß sie sich gebührend Zeit lassen mußten, und daß eine ihrer Beratungen nicht auf dem unzugänglichen Gipfel eines Berges, sondern in einer Kapelle in einem Wald, einem schlichten Pavillon aus ungestrichenem Holz, stattfand, ohne anderen Schmuck als den rechteckigen Kasten, der einen Spiegel birgt. Sie begehrten Rache, aber die Rache mußte ihnen unerreichbar scheinen. Kira Kotsuke no Suke, der verhaßte Zeremonienmeister, hatte sein Haus befestigt, und ein Schwarm von Bogenschützen 49

und Schwertfechtern bewachte seine Sänfte. Er verließ sich auf unbestechliche Spione, gewissenhaft und verschwiegen. Keiner wurde von ihnen so überwacht wie der mutmaßliche Anführer der Rächer: Kuranosuke, der Rat. Dieser kam zufällig dahinter und gründete auf diese Wachsamkeit seinen Racheplan. Er verzog nach Kyoto, einer Stadt, die von keiner im ganzen Reich in der Farbe der Herbste übertroffen wird. Er trieb sich in den Freudenhäusern, den Spielhöllen und den Schänken herum. Trotz seiner weißen Haare rieb er sich vertraulich an Huren und an Dichtern und an noch schlimmerem Gelichter. Einmal stießen sie ihn aus einer Schänke, und als es Tag wurde, lag er auf der Schwelle, das Haupt in einer Lache von Erbrochenem. Ein Mann aus Satsuma erkannte ihn und sprach zu ihm mit Trauer und Zorn: Ist dieser etwa nicht jener Rat von Asano Takumi no Kami, der ihm sterben half und der, statt seinen Herrn zu rächen, sich der Lust und der Schande hingibt? O du, unwürdig des Namens Samurai! Er trat ihm mit dem Fuß in das schlafende Gesicht und spie darauf. Als die Spitzel ihm diese Tatenlosigkeit hinterbrachten, empfand Kotsuke no Suke große Erleichterung. Es blieb nicht dabei. Der Rat stieß seine Frau und den jüngsten seiner Söhne von sich und kaufte sich eine Geliebte im Freudenhaus, eine Tat, die so schändlich war, daß der Feind in seinem Herzen darüber frohlockte und in seiner ängstlichen Vorsicht nachließ. Und zwar entschloß er sich, die Hälfte seiner Wächter zu verabschieden. In einer der grimmig kalten Nächte des Jahres 1703 trafen sich die siebenundvierzig Hauptleute auf Verabredung in einem verwilderten Garten in der Nähe von Yedo, nahe bei einer Brücke und der Spielkartenfabrik. Sie erschienen mit den Fahnen ihres Herrn. Bevor sie zum Sturm antraten, ließen sie die Nachbarn wissen, daß es sich nicht um einen Überfall handle, sondern um ein militärisches Unternehmen von strikter Gerechtigkeit. 5°

Die Narbe

Zwei Trupps stürmten den Palast von Kira Kotsuke no Suke. Der Rat befehligte den ersten, der gegen das Eingangsportal vorging; den zweiten führte sein ältester Sohn, der vor der Vollendung seines siebzehnten Lebensjahres stand, und der in dieser Nacht starb. Die Geschichte kennt die einzelnen Augenblicke dieses so genau durchdachten Albtraums: das riskant pendelnde Absteigen an Strickleitern, den Trommelwirbel des Angriffs, die überstürzte Hast der Verteidiger, die auf dem Dach postierten Bogenschützen, die schnurgerade Bahn der Pfeile in die lebenswichtigen Organe des Menschen, das vom Blut geschändete Porzellan, den glühenden Tod, der hernach eiskalt ist, die Schamlosigkeiten und Wirren des Sterbens. Neun Hauptleute fielen; die Verteidiger standen an Tapferkeit nicht zurück und wollten sich nicht ergeben. Kurz nach Mitternacht hörte jeder Widerstand auf. Kira Kotsuke no Suke, die schimpfliche Ursache dieser Treuetat, kam nicht zum Vorschein. Sie suchten nach ihm in allen Winkeln des aufgestörten Palastes und verzweifelten schon daran ihn aufzufinden, als der Rat bemerkte, daß die Decken seines Lagers noch warm waren. Sie begaben sich aufs neue ans Suchen und entdeckten ein schmales Fenster, das hinter einem Bronzespiegel verborgen war. Von unten, aus einem finsteren kleinen Hof, sah ein weißgekleideter Mann zu ihnen auf. Ein schwankender Degen war in seiner Rechten. Als sie hinunterstiegen, ergab sich der Mann kampflos. Über seine Stirn lief eine Narbe: die alte Zeichnung des Stahls von Takumi no Kami. Da warfen die blutbedeckten Hauptleute sich dem Abscheuliehen zu Füßen und sagten ihm, sie seien die Dienstmannen des Herren des Turms, an dessen Verderben und dessen Ende er die Schuld trage, und baten ihn, er solle sich umbringen, wie es einem Samurai gezieme.

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Vergebens schlugen sie diese ehrenvolle Lösung seiner knechtischen Seele vor. Er war ein Mann, bei dem die Ehre keinen Zutritt hatte; am frühen Morgen mußten sie ihm die Kehle durchschneiden.

Das Zeugnis Nach der Befriedigung ihrer Rache (jedoch ohne Zorn und ohne Erregung und ohne Mitleid) begeben sich die Hauptleute zu dem Tempel, der die sterblichen Überreste ihres Herren birgt. In einer Schüssel fuhren sie das unwahrscheinliche Haupt des Kira Kotsuke no Suke mit sich und nehmen sich seiner abwechselnd an. Sie durchqueren die Felder und die Provinzen im ehrlichen Licht des Tages. Die Menschen segnen sie und vergießen Tränen. Der Fürst von Sendai will sie gastlich aufnehmen, doch geben sie ihm zur Antwort, daß schon seit nahezu zwei Jahren ihr Herr ihrer harre. Sie erreichen die dunkle Grabstätte und bringen als Gabe das Haupt des Feindes. Der Oberste Gerichtshof fällt sein Urteil. Es enthält das, was sie erwarten: man gesteht ihnen das Vorrecht zu, Selbstmord zu begehen. Alle verüben die Tat, einige mit inbrünstiger Seelenruhe, und finden ihre Ruhestätte an der Seite ihres Herrn. Männer und Knaben kommen, um am Grab dieser so treuen Männer Gebete zu verrichten.

Der Mann aus Satsuma

Unter den Pilgern, die herbeiströmen, ist ein staubbedeckter und erschöpfter Bursche, der von weither gekommen sein muß. Er wirft sich vor dem Grabmal Oishi Kuranosukes, des Rats, nieder und sagt mit lauter Stimme: Ich sah dich auf der Türschwelle eines Freudenhauses in Kyoto hingestreckt liegen und dachte nicht, daß du die Rache für deinen Herrn bei dir erwogest, und hielt dich für einen ehrlosen Söldner und spie dir 52

ins Gesicht. Ich bin gekommen, um dir Genugtuung anzubieten. Nachdem er so gesprochen hatte, vollzog er Harakiri. Den Prior bewegte seine Tapferkeit schmerzlich, und er ließ ihn an der Stelle bestatten, wo die Hauptleute ruhen. So endet die Geschichte von den siebenundvierzig treuen Mannen - abgesehen davon, daß sie kein Ende hat, weil die anderen Menschen, wir, die wir vielleicht nicht treu sind, aber nie ganz die HofTnung aufgeben, es zu sein, ihnen fernerhin mit Worten Ehre erweisen werden.

Der maskierte Färber Hakim von Merv Für Angelica Ocampo

Wenn ich nicht irre, sind es vier originale Quellen, die uns über Al Moqanna, den Verhüllten Propheten (oder genauer, den Maskierten) von Khwaresm unterrichten: a) die Exzerpte aus der Geschichte der Kalifen, aufbewahrt von Baladhuri, b) das Handbuch des Riesen oder Buch der Deutung und Überprüfung des amtlichen Geschichtsschreibers der Abbasiden Ibn abi Tair Tarfur, c) der arabische Codex, betitelt Die Austilgung der Rose, in welchem die abscheulichen Ketzereien der Dunklen Rose oder Verborgenen Rose widerlegt werden, d) einige Münzen ohne Bildprägung, die von dem Ingenieur Andrusow bei Dammarbeiten für die Transkaspische Eisenbahn ausgegraben wurden. Diese Münzen wurden im Münzkabinett von Teheran deponiert und weisen persische Distichen auf, die gewisse Stellen der Austilgung zusammenfassen oder richtigstellen. Die ursprüngliche Rose ist verlorengegangen, insofern die im Jahr 1899 gefundene und im Morgenländischen Archiv einigermaßen leichtfertig veröffentlichte Handschrift von Horn und dann von Sir Percy Sykes als apokryph erklärt wurde. Der Ruf des Propheten im Abendland gründet sich auf ein 53

geschwätziges Gedicht von Moore1, das mit den unklaren SehnSuchtsgefühlen und Seufzern eines irischen Verschwörers beTrachtet ist.

Der Scharlachpurpur Im hundertundzwanzigsten Jahr der Hedschra und im Jahr 736 des Kreuzes wurde der Mann Hakim, dem die Menschen jener Zeit und jenes Raums in der Folge den Beinamen »Der Verhüllte« geben sollten, in Turkestan geboren. Seine Heimat war die uralte Stadt Merv, deren Gärten, Weinberge und Grasfluren traurig auf die Wüste hinsehen. Der Mittag ist weiß und blendend, wenn ihn nicht Staubwolken verfinstern, die den Menschen den Atem nehmen und die schwarzen Weinstöcke mit einer weißlichen Kruste überziehen. Hakim wuchs in dieser erschöpften Stadt auf. Wir wissen, daß ein Bruder seines Vaters ihn im Färberhandwerk unterwies: Kunst von Gottlosen, Fälschern und Wankelmütigen, die später die ersten Bannflüche seiner erstaunlichen Laufbahn inspirierte. »Mein Antlitz ist von Gold«, erklärt er an einer berühmten Stelle der Austilgung, »aber ich habe den Purpur gemahlen und habe in der zweiten Nacht die ungekämmte Wolle eingetaucht und habe in der dritten Nacht die zubereitete Wolle getränkt, und die Kaiser der Inseln begehren noch heute dieses blutfarbene Tuch. So sündigte ich in meinen jungen Jahren und verkehrte die echten Farben der Geschöpfe. Der Engel sagte mir, daß die Widder nicht die Farbe der Tiger haben. Der Satan aber sprach zu mir, es sei der Wille des Allmächtigen, daß sie sie hätten, und bediente sich meiner Geschicklichkeit und meines Purpurs. Heute weiß ich, daß der Engel sowohl wie der Satan an der Wahrheit vorbeigingen, und daß jegliche Farbe verabscheuenswert ist.« Im Jahr 146 der Hedschra verschwand Hakim aus seiner Heimat. Die Färbekessel und die Laugenbecken fand man zerstört, ebenso einen Säbel aus Schiras und einen bronzenen Spiegel. 54

Der Stier

Gegen Ende des Shaban-Mondes im Jahr 158 war die Luft über der Wüste sehr klar, und die Menschen hielten gen Westen Ausschau nach dem Mond des Ramadan, der Kasteiung und Fasten heraufluhrt. Es waren Sklaven, Bettler, Roßtäuscher, Kameldiebe und Metzger. Mit feierlicher Würde am Boden sitzend, warteten sie am Tor einer Karawanserei an der Straße von Merv auf das Zeichen. Sie sahen gegen Sonnenuntergang, und die Farbe des Sonnenuntergangs war die des Sandes. Aus der Tiefe der schwindelerregenden Wüste (deren Sonne Fieber und deren Mond Krämpfe bewirken) sahen sie drei Gestalten herannahen, die ihnen riesengroß vorkamen. Es waren drei menschliche Gestalten, aber die in der Mitte hatte einen Stierkopf. Als sie näher kamen, sahen sie, daß der mittlere eine Maske trug, und daß die beiden anderen blind waren. Einer (wie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht) forschte nach dem Grund dieser wundersamen Erscheinung. »Diese da sind blind«, erklärte der Mann in der Maske, »weil sie mein Antlitz geschaut haben.« Der Leopard Der Chronist der Abbasiden berichtet, daß der Mann aus der Wüste (dessen Stimme einzigartig sanft war oder ihnen im Gegensatz zur Roheit seiner Maske so erschien) ihnen sagte, sie erwarteten das Zeichen für einen Monat der Buße, er jedoch predige ihnen ein besseres Zeichen: das eines ganzen büßenden Lebens und eines schmählichen Todes. Er sagte ihnen, er sei Hakim, Sohn des Osman, und es sei im Jahr 146 nach der Flucht nach Medina ein Mann in sein Haus gedrungen und habe ihm nach Reinigung und Gebet mit einem Reitersäbel das Haupt vom Rumpf getrennt und es bis zum Himmel emporgetragen. Ruhend auf der rechten Hand des Mannes (der der Engel Gabriel gewesen sei) habe sein Haupt vor des Herrn

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Angesicht geweilt, der ihm aufgetragen habe, zu weissagen, und der Worte von so hohem Alter in ihn eingesenkt habe, daß ihre Wiedergabe die Münder versengen würde, und er habe einen Glorienschein über ihn ausgegossen, den sterbliche Augen nicht zu ertragen vermöchten. So rechtfertigte sich die Maske. Wenn alle Menschen der Erde sich erst zu dem neuen Gesetz bekennten, dann würde ihnen das Antlitz enthüllt, und sie könnten es ohne Gefährdung anbeten - wie es schon jetzt die Engel anbeteten. Nachdem er seinen Auftrag verkündet hatte, rief Hakim zu einem heiligen Krieg - einem Dschihad - auf und zum Martyrium, das ihn gebührend kröne. Die Sklaven, Bettler, Roßtäuscher, Kameldiebe und Metzger verweigerten ihm ihren Glauben. Eine Stimme schrie »Hexer«, und eine andere »Schwindler«. Einer führte einen Leoparden mit sich - vielleicht ein Exemplar jener geschmeidigen und blutlüstemen Art, wie die persisehen Jäger sie abrichten. Sicher ist, daß er aus seinem Käfig ausbrach. Mit Ausnahme des maskierten Propheten und seiner beiden Akolyten wandte sich die Menge in wirrem Gedränge zur Flucht. Als sie zurückkamen, hatte er das Raubtier geblendet. Im Angesicht der lichthellen todesstarren Augen beteten die Menschen Hakim an und bestätigten seine übernatürliche Kraft. Der Verhüllte Prophet Der amtliche Geschichtsschreiber der Abbasiden berichtet ohne sonderliche Begeisterung von den Fortschritten Hakims des Verhüllten in Khwaresm. Diese Provinz - in leidenschaftlicher Gärung wegen des Mißgeschicks und der Kreuzigung ihres bedeutendsten Anführers - warf sich mit verzweifelter Inbrunst der Lehre vom Strahlenden Antlitz in die Arme und opferte für sie Gut und Blut. (Hakim hatte da schon sein rohes Maskenhaupt abgelegt und es durch einen vierfachen Schleier aus weißer Seide, der mit kostbaren Steinen bestickt war, er­

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setzt. Die Emblemfarbe der Banu Abbas war Schwarz: Hakim erwählte die Farbe Weiß - als ihren äußersten Widerpart - für den Schleierder Bewahrung, die Banner und die Turbane.) Der Feldzug ließ sich zunächst gut an. Zwar sind im Buch der Deutung die Fahnen des Kalifen allerorten siegreich, da aber das häufigste Ergebnis dieser Siege die Absetzung von Generalen und die Preisgabe unerstürmbarer Festungen ist, weiß der kundige Leser, woran er sich zu halten hat. Am Ende des Monats Rejeb des Jahres 161 öfTnete die berühmte Stadt Nishapur dem Maskierten ihre metallenen Tore; zu Anfang des Jahres 162 die Stadt Astarabad. Die militärische Betätigung Hakims beschränkte sich (wie die eines anderen glücklicheren Propheten) auf mit Tenorstimme vorgetragene Bittgebete, die sich jedoch vom Rücken eines rötlichen Kamels inmitten der Schlacht zur Gottheit aufschwangen. Rund um ihn zischten die Pfeile, ohne daß sie ihm je eine Wunde beibrachten. Er schien die Gefahr zu suchen; als eines Nachts ein paar verfemte Aussätzige um seinen Palast lungerten, befahl er ihnen, vor ihm zu erscheinen, küßte sie und überreichte ihnen Silber und Gold. Die Mühen der Regierungsgeschäfte übertrug er auf sechs oder sieben Jünger. Er selber befleißigte sich der Meditation und des Friedens: ein Harem von 114 blinden Frauen trachtete die natürlichen Bedürfnisse seines göttlichen Leibes zu stillen. Die abscheulichen Spiegel

Solange ihre Worte nicht den orthodoxen Glauben entkräften, toleriert der Islam das Auftauchen vertrauter Freunde Gottes, mögen sie auch noch so unbedacht oder bedrohlich sein. Vielleicht hätte der Prophet die Vergünstigungen dieser großzügigen Nichtachtung nicht verschmäht, jedoch seine Parteigänger, seine Siege und der öffentliche Zorn des Kalifen - es war Mohammed Al Mahdi - zwangen ihn zur Ketzerei. Dieser Abfall wurde ihm zum Verderben, veranlaßte ihn aber, noch vorher die Artikel einer persönlichen Religion festzusetzen, 57

wenn auch mit offenkundigen Einschlägen gnostischer VorgeSchichtslehren. Am Anfang der Kosmogonie des Hakim steht ein geisterhafter Gott. Diese Gottheit ist auf majestätische Art ursprungslos und gleicherweise ohne Namen noch Antlitz. Es ist ein unwandelbarer Gott, dessen Bild jedoch neun Schatten warf, die, indem sie sich zum Handeln hinabließen, einen ersten Himmel ausstatteten und verwalteten. Aus dieser ersten demiurgischen Corona ging eine zweite hervor, auch sie mit Engeln, Mächten und Thronen ausgestattet, und diese gründeten einen anderen, tieferstehenden Himmel, der das symmetrische Doppel des ursprünglichen war. Dieses zweite Konklave erblickte sein Abbild in einem dritten und dieses wieder in einem noch tiefer stehenden, und so fort bis 999. Der Herr des untersten Himmels ist der, welcher uns regiert - als Schatten eines Schattens anderer Schatten -, und der Bruchteil seiner Göttlichkeit grenzt an Null. Die Erde, die wir bewohnen, ist eine Fehlleistung, eine unfähige Parodie. Die Spiegel und die Vaterschaft sind abscheulich, weil sie sie vervielfältigen und bekräftigen. Der Ekel ist die grundsätzliche Tugend. Zwei Lebensregeln (zwischen denen der Prophet die Wahl offenließ) können uns zu ihr hinfiihren: die Enthaltsamkeit und die Zügellosigkeit, das Leben im Fleisch oder seine Abtötung. Paradies und Hölle waren bei Hakim nicht weniger beklemmend. »Jenen, die das Wort leugnen, die den Juwelengeschmückten Schleier und das Antlitz leugnen« (so lautet eine Verwünschung der Verborgenen Rose, die sich erhalten hat), »verheiße ich eine wunderherrliche Hölle, denn jede einzelne von ihnen wird über 999 Feuerreiche herrschen, und in jedem Reich werden 999 Feuerberge sein und auf jedem Berg 999 Feuertürme und in jedem Turm 999 Feuergelasse und in jedem Gelaß 999 Feuerbetten, und in jedem dieser Betten wird er liegen und 999 Feuergeister (die sein Antlitz und seine Stimme haben werden) sollen ihn martern auf immerdar.« An einer

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anderen Stelle bekräftigt er: »Hier im Leben schmachtet ihr nur in einem Leib, im Tode und in der Vergeltung aber in unzähligen.« Über das Paradies äußert er sich weniger handgreiflich. »Immer ist es dort Nacht, und steinere Tröge sind da, und die Glückseligkeit dieses Paradieses ist die eigenartige Glückseligkeit des Abschieds, des Verzichts und jener, die wissen, daß sie schlafen.« Das Antlitz Im Jahr 163 der Flucht und im fünften des Strahlenden Antlitzes wurde Hakim in Sanam vom Heer des Kalifen eingeschlossen. An Vorräten und Märtyrern war kein Mangel, und man war der ungesäumten Hilfe einer Rotte von Lichtengeln gewärtig· So standen die Dinge, als ein furchtbares Gerücht die Festung durchlief. Es wurde erzählt, eine Ehebrecherin des Harems hätte, als sie von den Eunuchen erdrosselt wurde, geschrien, an der rechten Hand des Propheten fehle der Ringfinger, und die anderen seien ohne Nägel. Das Gerücht verbreitete sich unter den Gläubigen. Im grellen Sonnenlicht, auf einer erhöhten Terrasse, bat Hakim die ihm vertraute Gottheit um einen Sieg oder um ein Zeichen. Mit eingezogenem Kopf, diensteifrig - als liefen sie wider Regenschwaden an — rissen zwei Hauptleute ihm den juwelenbestickten Schleier herunter. Ein Schauder war das erste. Das verheißene Antlitz des Apostels, das Antlitz, das in den Himmeln gewesen war, es war in der Tat weiß, aber von dem eigentümlichen Weiß der Fleckenlepra. Es war so aufgeschwollen oder unglaubhaft, daß es ihnen wie eine Maske vorkam. Es hatte keine Brauen; das Unterlid des rechten Auges hing auf die altersschlafTe Wange herab; ein schweres Gehänge von Tuberkeln zerfraß die Lippen; die unmenschliche abgeplattete Nase war die eines Löwen. Die Stimme Hakims versuchte einen letzten Betrug: »Eure 59

abscheuerregende Sünde hindert euch, meinen Glanz zu sehen«, begann er zu sprechen. Sie jedoch hörten nicht auf ihn und durchbohrten ihn mit Lanzen.

Mann von Esquina Rosada Für Enrique Amorim

Ausgerechnet ich soll Ihnen etwas über den toten Francisco Real erzählen. Ich habe ihn gekannt, obwohl er nicht von hier war; er war eine große Nummer im Norden, so in der Gegend der Lagune von Guadalupe und Bateria.' Ich habe mit ihm nicht mehr als dreimal zu tun gehabt, und die drei Male alle in derselben Nacht, aber das ist eine Nacht, die ich nicht vergesse, weil da die Lujanera, einfach so, in meine Hütte schlafen kam, und in der Nacht ist Rosendo Juärez für immer aus dem Viertel am Bach verschwunden. Natürlich fehlt Ihnen die Erfahrung, deshalb können Sie mit dem Namen nichts anfangen, aber in Villa Santa Rita war Rosendo Juärez, Der Schläger, einer der härtesten Burschen. Er war einer der Leute von Don Nicolas Paredes, so wie Paredes einer aus der Truppe von Morel war, und er war berühmt dafür, daß er gut mit dem Messer umgehen konnte. Er kriegte es fertig, tipptopp geschniegelt zum PulT zu reiten, auf einem Rappen, mit silbernem Zaumzeug. Die Männer und die Hunde hatten Respekt vor ihm, und die Frauen auch. Alle wußten, daß er zwei Männer erledigt hatte. Er hatte auf seiner dicken Mähne immer einen von diesen weichen hohen Hüten mit feiner Krempe. Er war ein Glückspilz, wie man so sagt. Wir Jungs von Villa machten ihm alles nach, sogar, wie er spuckte. Eine Nacht hat uns dann aber gezeigt, was für ein Kerl Rosendo wirklich war. Klingt wie ein Märchen, aber die Geschichte dieser einmaligen Nacht fing damit an, daß eine laute Kutsche mit knallbun­ 60

ten Rädern, vollgepfropft mit Männern, diese harten Lehmgassen runtergeschlingert kam, zwischen den Ziegelbrennereien und den leeren Grundstücken; zwei Mann in Schwarz, mit Gitarren, daß einem die Ohren sausten, und auf dem Bock einer, der den Hunden eins mit der Peitsche überzog, wenn sie dem Pferd an die Beine gingen. Einer im Poncho saß ganz still in der Mitte; das war der berühmte Corralero, der Schlächter, und der war zum Kämpfen und zum Töten gekommen. Die Nacht war richtig angenehm kühl. Zwei von den Männern hockten auf dem umgeklappten Kutschdach, als wenn diese tote Ecke eine Promenade wäre. In der Nacht sind noch viele andere Dinge passiert, aber von diesem Anfang haben wir erst später erfahren. Wir Jungs waren alle schon ziemlich früh in Julias Salon; das war ein Schuppen aus Zinkblech, zwischen der Straße nach Gauna und dem Maldonado. Das Lokal konnte man schon von weitem sehen und hören, wegen der roten Laterne und dem Krach. Die Julia war ein bißchen dunkelhäutig; trotzdem gab sie sich Mühe, daß immer alles in Ordnung war; es gab immer Musiker, genug zu trinken und Mädchen, die lange tanzen konnten. Aber gegen die Lujanera, die Frau von Rosendo, kam keine an. Sie ist tot, und manchmal denke ich jahrelang nicht mehr an sie, aber damals hätten Sie sie sehen sollen, was die für Augen hatte. Sie sehen und nicht schlafen können war eins. Der Schnaps, die Musik, die Weiber, ein paar herablassende Schimpfworte von Rosendo und ein Klaps, den er mir auf den Buckel gab und den ich als freundschaftlich genommen habe: also - ich war richtig glücklich. Ich hatte eine Tänzerin erwischt, die sich so bewegte, als ob sie meine Gedanken erraten könnte. Der Tango hat mit uns gemacht, was er wollte, uns herumgetrieben und auseinandergebracht und dann wieder zusammen. Alle Männer waren voll dabei, wie im Traum, da kommt mir plötzlich die Musik irgendwie lauter vor. Das war, weil jetzt die beiden im Wagen, mit den Gitarren, immer näher kamen, und weil deren Musik sich mit unserer mischte. Dann

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hat sich der Wind gedreht, der die Musik hergeweht hatte, und ich habe wieder auf meinen Körper aufgepaßt und auf den meiner Partnerin und auf die Tanzfiguren. Eine ganze Weile später war etwas an der Tür zu hören, laut und irgendwie mit Macht, ein Schlag und eine Stimme. Allgemeines Schweigen, dann ein heftiger Stoß gegen die Tür, und der Mann war drin. Der Mann war wie die Stimme. Für uns war er noch nicht Francisco Real, aber wohl ein langer, stämmiger Typ, ganz in Schwarz, mit einem braunroten Halstuch über einer Schulter. Ich erinnere mich an das Gesicht, es war irgendwie indianisch und eckig. Als die Tür aufsprang, kriegte ich einen mit dem Türflügel ab. Ich war so überrascht, daß ich mich auf den Kerl gestürzt und ihm die Linke in die Visage gesetzt habe, und dabei will ich mit der Rechten schon das Messer aus der Jacke holen, hier unter der linken Achsel. War aber schnell zu Ende mit mir. Um geradezustehen streckt der Mann einfach die Arme aus und wischt mich weg, wie man einfach irgendwas aus dem Weg schiebt. Hat mich hinter sich auf dem Boden gelassen, und ich immer noch mit der Hand in der Jacke, am nutzlosen Messer. Er ist einfach so weitergegangen. Immer weiter, und immer größer als jeder von denen, die er wegschubst, als wenn er sie gar nicht sieht. Die ersten, Schlappschwänze mit großen Augen, haben ihm ängstlich den Weg freigemacht, das ging auf wie ein Fächer. Aber das hat nicht lange gedauert. Im nächsten Haufen war schon der Engländer, der auf ihn gewartet hat, und bevor der Fremde ihm die Hand auf die Schulter legen kann, hat er ihm schon eins mit einem Knüppel übergezogen, den er in der Hand hatte. Als die anderen das sehen, haben sie sich alle auf ihn gestürzt. Das Lokal war ganz schön tief, und sie sind über ihn hergefallen wie über den Heiland, mit Faustschlägen von oben bis unten, und Pfiffen und Spucksalven. Erst sind sie. mit den Fäusten rangegangen, und dann, als sie gesehen haben, daß er sich nicht wehrt, gab’s Ohrfeigen mit der offenen Hand und Gewedel mit Halstuchfransen, um sich über ihn lustig zu 62

machen. Und dabei haben sie ihn für Rosendo reserviert, der die ganze Zeit mit dem Rücken an der Wand am Ende stand, ohne sich zu rühren und still. Er hat hastig seine Zigarette geraucht, als hätte er schon gewußt, was wir anderen erst später kapiert haben. Den Corralero haben sie bis zu ihm hingeschoben, aufrecht und blutig, mit diesem ganzen spottenden Geschmeiß hinter ihm. AusgepfifTen, ausgelacht, angespuckt, und er hat erst angefangen zu reden, als er genau vor Rosendo war. Dann hat er ihn angesehen, sich mit dem Unterarm das Gesicht abgewischt und ungefähr das gesagt: »Ich bin Francisco Real, ich komme aus dem Norden. Ich bin Francisco Real, und die Leute nennen mich den Corralero. Ich habe mich von diesen Jammerlappen anfassen lassen, weil ich einen Mann suche. Ein paar Bolawerfer behaupten, daß es hier in diesen traurigen Lehmgruben einen gibt, der mit dem Messer umgehen kann und ein harter Bursche ist, und den nennen sie den Schläger. Ich möchte ihn treffen, damit er einem Niemand wie mir zeigt, was ein berühmter Mann mit Mut ist.« Das hat er gesagt und dabei Rosendo nicht aus den Augen gelassen. Plötzlich blinkt ihm ein Messer in der rechten Hand; das muß er im Ärmel gehabt haben. Die, die eben noch gedrängelt hatten, machen jetzt Platz, und wir alle stehen da und starren die beiden an. Sie hätten eine Stecknadel fallen hören können. Sogar der blinde Mulatte mit der Geige hatte seine Wulstlippen in die Richtung gedreht. In dem Moment höre ich, wie sich hinten was bewegt, und sehe im Türrahmen sechs oder sieben Männer stehen, wohl Anhang vom Corralero. Der Älteste, so ein Ledergesicht mit grauem Schnäuzer, sah aus wie ein Bauer, ist ein paar Schritte reingekommen, kriegte Glupschaugen bei so viel Weibern und Licht und nahm dann respektvoll den Hut ab. Die anderen sind stehengeblieben, um aufzupassen, daß das Spiel sauber bleibt, und notfalls mitzumischen. Was war die ganze Zeit mit Rosendo los, daß er dieses Großmaul nicht mit ein paar Tritten fertiggemacht hat? Er war 63

immer noch still und hatte die Augen am Boden. Ich weiß nicht, ob er die Zigarette ausgespuckt hat, oder ob sie ihm aus dem Gesicht gefallen ist. Endlich hat er ein paar Wörter gesagt, aber so leise, daß wir am anderen Ende des Lokals nichts verstehen konnten. Francisco Real hat ihn noch mal herausgefordert, und er hat sich wieder geweigert. Da fing der Jüngste von den Fremden an zu pfeifen. Die Lujanera hat ihn angesehen, als wenn sie ihn ermorden wollte; dann schiebt sie sich mit zurückgeworfener Mähne durch die Frauen und das Fuhrmannsvolk, hin zu ihrem Mann, legt ihm die Hand auf die Brust, zieht sein Messer raus und gibt es ihm. Dabei sagt sie: »Rosendo, ich glaube, du wirst es brauchen.« Oben unter dem Dach gab es so ein langes Fenster, das zum Fluß ging. Rosendo hat das Messer genommen und hin und her gedreht, als wenn er es noch nie gesehen hätte. Plötzlich lehnt er sich zurück und schleudert das Messer raus durch das Fenster in den Maldonado. Mir war irgendwie kalt. »Wenn ich dich nicht in Stücke schneide, dann nur, weil du mich ankotzt«, sagt der Corralero und holt aus, um ihm eine zu kleben. Genau in dem Moment schnappt sich die Lujanera den Corralero, wirft ihm die Arme um den Hals, sieht ihn mit ihren schönen Augen an und sagt wütend: »Laß den da, der uns weisgemacht hat, daß er ein Mann ist.« Francisco Real brauchte einen Augenblick, um dahinterzukommen, dann hat er sie umarmt, als wenn er sie nie wieder loslassen wollte, und den Musikanten zugerufen, sie sollten ihm Tangos und Milongas spielen, und uns anderen, daß wir tanzen sollten. Die Milonga ging wie ein Feuer von einer Ecke zur anderen. Real tanzte ziemlich steif, ohne sich viel Mühe zu geben, er hatte sie ja schon hingekriegt. Sie sind zur Tür gekommen, und er hat gerufen »Platz da, die Herren, sie schläft ja schon«, und weg waren sie, Wange an Wange, als wenn der Tango eine Sturzflut wäre und sie weggespült hätte. Ich muß wohl schamrot geworden sein. Ich habe ein paar Runden mit irgendeiner Frau getanzt und sie dann stehen64

lassen, wegen der Hitze und der Enge, habe ich ihr gesagt. Dann habe ich mich an der Wand entlang nach draußen verzogen. Schöne Nacht, bloß für wen? An der Straßenecke war die Kutsche, mit den beiden Gitarren aufrecht auf dem Sitz wie zwei Leute. Überkam mich ganz schön bitter, daß sie sie so sorglos rumstehen ließen, als wenn wir nicht mal imstande wären, Klimperkästen zu klauen. Ich habe versucht, mir einzureden, daß wir keine Nullen wären. Dann habe ich die Nelke hinter meinem Ohr genommen, zerdrückt, in eine Pfütze geschmissen und sie eine Weile angestarrt, um an nichts anderes mehr zu denken. Ich wäre gern mitten im nächsten Tag gewesen, ich wollte raus aus dieser Nacht. Dann kriegte ich einen Stoß von einem Ellbogen, fast eine Erlösung. Das war Rosendo, allein, der sich dünn machte. »Immer stehst du im Weg, Trottel«, knurrt er mich an, vielleicht um sich Luft zu machen, oder geistesabwesend. Er verdrückte sich in die Dunkelheit am Maldonado; ich habe ihn nie wiedergesehen. Da stand ich und starrte auf all das, was ich mein ganzes Leben lang gesehen hatte - Himmel bis zum Überdruß, der Fluß einsam und verloren, ein dösendes Pferd, die Lehmgasse, die Ziegelbrennereien - und dachte, daß ich nichts war als noch so ein Vorstadtgewächs, aufgewachsen zwischen anderem Unkraut und Dreck. Was sollte aus diesem Unrat entstehen wenn nicht Leute wie wir, schlappe Großschnauzen, Maulhelden, die sich nicht wehren? Dann dachte ich nein, je mieser die Umgebung, um so härter muß man werden. Dreck? Die Milonga tobte noch immer, in den Häusern war ein Getuschel, und der Wind brachte einen Duft von Geißblatt. Die Nacht war schön und klar. So viele Sterne waren am Himmel, einer über dem anderen, daß einem vom Hinsehen schwindlig werden konnte. Ich wollte mir einreden, daß die Geschichte mich nichts anging, aber ich wurde nicht mit Rosendos Feigheit und dem unerträgliehen Mut des Fremden fertig. Der große Kerl hatte sogar eine Frau für diese Nacht aufgerissen. Für diese und für viele, dachte θ5

ich, vielleicht iur alle, denn die Lujanera war schon was. Weiß Gott wo sie steckten. Weit konnten sie nicht sein. Wahrscheinlieh trieben sie es schon in irgendeinem Graben. Als ich zurückkam, war die Tanzerei immer noch im Gang. Ich drückte mich so unauffällig wie möglich durch das Gedränge und merkte, daß einige von unseren Leuten sich verzogen hatten, und daß die Leute aus dem Norden mit den übrigen Tango tanzten. Rempeleien oder Zusammenstöße gab es nicht, aber alle paßten auf und benahmen sich steif. Die Musik war schläfrig; die Frauen, die mit denen aus dem Norden tanzten, sagten kein Wort. Ich erwartete etwas, aber nicht das, was geschah. Draußen hörten wir eine Frau weinen und dann die Stimme, die wir schon kannten, aber ruhig, fast zu ruhig, als wenn sie schon keinem mehr gehörte, und die Stimme sagte: »Geh rein, Schatz« - dann neues Schluchzen. Und dann wieder die Stimme, schon fast verzweifelt: »Mach die Tür auf, sag’ ich, mach auf, du miese Schlunze. Mach auf, Hündin!« Da geht die wacklige Tür auf, und die Lujanera kommt rein, allein. Wie auf Befehl, als wenn sie von jemand geschoben würde. »Die schickt eine arme Seele«, sagte der Engländer. »Ein toter Mann, mein Freund«, sagte da der Corralero. Sein Gesicht sah aus wie bei einem Betrunkenen. Er kam rein und machte, wie vorher, ein paar Schritte in dem Gang, den wir freigaben — groß, ohne zu sehen -, und dann fiel er plötzlich um wie ein Baumstamm. Einer von seinen Leuten hat ihn auf den Rücken gelegt und ihm den Poncho als Kissen untergeschoben. Dabei hat er sich mit Blut besudelt. Dann haben wir gesehen, daß der Mann eine tiefe Wunde in der Brust hatte; das gab eine Blutpfutze um ihn herum, und seine hellrote Halsbinde wurde schwarz von Blut. Vorher hatte ich die Binde nicht gesehen, weil das große Halstuch sie verdeckt hatte. Eine der Frauen hat, als Erste Hilfe, Schnaps und ein paar halbverbrannte Tuchfet­ 66

zen geholt. Der Mann konnte nichts mehr erklären. Die Lujanera hat ihn nur wie verloren angestarrt, mit hängenden Armen. Alle hatten die eine Frage im Gesicht, und schließlich hat sie eine Antwort rausgebracht. Nachdem sie mit dem Corralero rausgegangen war, wären sie zu einem kleinen Feld gegangen, und da platzt ein Unbekannter dazwischen und fordert ihn wie verrückt zum Kampf auf und setzt ihm diesen Messerstich, und sie weiß nicht, wer es war, aber Rosendo war es nicht. Wer sollte ihr das glauben? Der Mann lag vor unseren Füßen und starb. Ich dachte bei mir: dem hat die Hand nicht gezittert, der ihn erledigt hat. Aber trotz allem war der Mann zäh. Als er das zweite Mal geklopft hatte, war Julia gerade dabei gewesen, Mate zu kochen, und der Mate ging einmal rum und war wieder bei mir gelandet, bevor der Mann starb. »Bedeckt mein Gesicht«, hat er leise gesagt, als er nicht mehr konnte. Ihm war nur der Stolz geblieben, und er wollte nicht, daß wir neugierig zusehen, wie sich sein Gesicht im Todeskampf verzerrt. Irgendwer hat ihm diesen hohen schwarzen Hut aufs Gesicht gesetzt. Unter dem Hut ist er gestorben, ohne einen Ton. Erst als die Brust aufgehört hatte, zu steigen und zu fallen, haben sie den Mut aufgebracht, ihn aufzudecken. Er sah so müde aus wie alle Toten; in seiner Zeit war er einer der mutigsten Kerle von Bateria bis zum Süden gewesen; als ich begriff, daß er tot war und nicht mehr reden konnte, habe ich aufgehört, ihn zu hassen. »Zum Sterben braucht man nur lebendig zu sein«, hat eine aus dem Haufen gesagt, und eine andere, nachdenklich: »So überheblich ist der Mensch, und am Ende doch nur Tummelplatz fiir Fliegen.« Dann fingen die Nordleute an, leise miteinander zu reden. Zwei haben es dann laut wiederholt: »Den hat die Frau umgebracht.« Einer hat ihr ins Gesicht geschrien, ob sie es war, und alle haben um sie herumgestanden. Da habe ich vergessen, daß ich vorsichtig sein muß, und bin wie ein Blitz dazwischen. Aus

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Leichtsinn ziehe ich fast das Messer. Ich spüre, daß mich viele ansehen, um nicht zu sagen: alle. Um ihnen das Maul zu stopfen, sage ich: »Seht euch die Hände von der Frau an. Wo soll sie die Kraft oder die Courage für ’nen Messerstich hemehmen?« Dann habe ich, als wäre ich beinahe enttäuscht, hinzugefugt: »Wer hätte das gedacht, daß der Tote da, der angeblich in seiner Gegend so’n toller Kerl gewesen ist, so häßlich endet, und dann auch noch in so ’nem toten Nest wie dem hier, wo nichts passiert, wenn nicht gerade einer von auswärts kommt, um uns zu zeigen, was Sache ist, und am Ende wird er für seine Mühe nur angespuckt?« Keinem hat das Fell nach Hieben gejuckt. In dem Moment wurde draußen in der Einsamkeit der Lärm von Reitern laut. Das war die Polizei. Der eine mehr, der andere weniger, jedenfalls hatten alle Gründe, sich nicht um diese Gesellschaft zu reißen, deshalb wurde beschlossen, daß es das beste wäre, den Toten in den Bach zu werfen. Sie werden sich noch an das lange Fenster erinnern, durch das das Messer geflogen ist. Da ging dann auch der Mann in Schwarz durch. Sie haben ihn mit vielen aufgehoben, und was er an Kleingeld und sonstigem Kram hatte, darum haben ihn diese vielen Hände erleichtert, und einer hat ihm einen Finger abgehackt, um den Ring abzustauben. Nutznießer, mein Herr, und sehr mutig einem armen wehrlosen Leichnam gegenüber, den ein anderer geschafft hatte, der mehr Manns war als sie. Ein guter Schwung, und das reißende und geduldige Wasser hat ihn mitgenommen. Kann sein, daß sie ihm, damit er nicht auftaucht, die Eingeweide rausgerissen haben; ich weiß es nicht, ich hatte keine Lust, hinzusehen. Der mit dem grauen Schnäuzer hat mich die ganze Zeit beobachtet. Die Lujanera hat den Trubel genutzt, um abzuhauen. Als die Gesetzeshüter reinkamen, um sich umzusehen, war der Tanz wieder im Gang. Der Blinde mit der Geige konnte ein paar Habaneras spielen, wie man sie heute nicht mehr hört. 68

Draußen wollte es schon hell werden. Ein paar Pfosten auf einem Hügel sahen einsam und verlassen aus, weil man so früh die feinen Drähte nicht erkennen konnte. Ich bin ruhig die drei Blocks zu meiner Hütte gegangen. Im Fenster brannte eine Kerze, die dann plötzlich ausging. Als mir klar wurde, was das hieß, habe ich mich natürlich beeilt. Und dann, Borges, habe ich noch einmal das kurze, scharfe Messer herausgezogen, das ich immer hier, in der Weste, unter der linken Achsel getragen habe, und ich habe es noch einmal langsam untersucht, und es war wie neu, unschuldig, und nicht die kleinste Spur von Blut war daran.

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Etcetera Für Nestor Ibarra

Ein Theologe im Tod Die Engel haben mir mitgeteilt, daß Melanchthon, als er verschied, in der anderen Welt ein Haus zugeteilt bekam, welches dem, das er auf Erden innegehabt, täuschend ähnlich war. (Nahezu allen, die erst jüngst in der Ewigkeit eingetroffen sind, widerfährt das gleiche, und darum glauben sie, sie seien nicht gestorben.) Die häuslichen Geräte waren gleich: der Tisch, das Schreibpult mit seinen Fächern, die Bibliothek. Als nun Melanchthon in dieser Behausung erwachte, nahm er seine literarischen Obliegenheiten wieder auf, als sei er kein Leichnam, und schrieb einige Tage lang über die Rechtfertigung durch den Glauben. Wie es seine Gewohnheit war, sagte er nicht ein Wort über die Liebe. Die Engel bemerkten diese Weglassung und schickten Personen zu ihm, die ihn hierüber befragen sollten. Melanchthon sagte ihnen: »Ich habe unwiderleglich bewiesen, daß die Seele der Liebe entraten kann und daß, um in den Himmel einzugehen, der Glaube genügt.« Diese Worte sprach er hochmütig und wußte nicht, daß er schon tot war und sein Ort nicht der Himmel. Als die Engel diese Rede vernähmen, wichen sie von ihm. Kaum waren ein paar Wochen vergangen, da fingen die Einrichtungsgegenstände an, bis zur Geisterhaftigkeit unsichtbar zu werden, ausgenommen der Schreibsessel, der Tisch, die Blätter Papiers und das Tintenfaß. Außerdem wurden die Wände des Gemachs kalkfleckig und der Boden wie gelber Firnis. Sogar die Wäsche, die er trug, war viel gewöhnlicher. Desungeachtet fuhr er mit Schreiben fort, aber da er auf der Leugnung der Liebe beharrte, verbrachten sie ihn in eine unterirdische Werkstatt, wo es andere Theologen gleich ihm gab. 71

Hier saß er einige Tage gefangen und begann an seiner These zu zweifeln, worauf sie ihm die Rückkehr gestatteten. Seine Leibwäsche war aus ungegerbtem Leder, aber er versuchte sich einzubilden, daß das frühere eine bloße Wahnvorspiegelung gewesen sei und fuhr fort, den Glauben zu verherrlichen und die Liebe zu verleumden. Eines Abends fühlte er sich kalt. Da ging er durch das Haus und stellte fest, daß die übrigen Gemächer nicht mehr denen seiner Behausung auf Erden entsprachen. Eines war angefüllt mit unbekannten Geräten, ein anderes war so klein geworden, daß man unmöglich hineingehen konnte, wieder ein anderes hatte sich nicht verändert, aber seine Fenster und Türen gingen auf große Dünen hinaus. Das letzte Zimmer war voll von Personen, die ihn vergötterten und immer wieder zu ihm sagten, kein Theologe sei ihm an Weisheit gleich. Diese Vergötterung behagte ihm, aber da eine dieser Personen kein Gesicht hatte und andere tot zu sein schienen, verabscheute und beargwöhnte er sie schließlich. Da entschloß er sich, einen Lobpreis auf die Liebe zu schreiben, aber die heute geschriebenen Seiten erschienen am nächsten Morgen ausgelöscht. Und zwar geschah dies, weil er sie ohne Überzeugung schuf. Er empfing zahlreiche Besuche von jüngstverstorbenen Leuten, aber er empfand Scham, daß er sich ihnen in seiner derart schmutzigen Behausung vorstellen mußte. Um sie glauben zu machen, er sei im Himmel, verabredete er sich mit einem Hexenmeister von denen aus dem letzten Zimmer, und dieser täuschte sie mit allerlei Blendwerk von Glanz und Heiterkeit. Kaum jedoch zogen die Besucher sich zurück, so erschienen wieder die Armseligkeit und der Kalk, manchmal auch ein bißchen früher. Die letzten Nachrichten von Melanchthon besagen, daß der Magier und einer der Männer ohne Gesicht ihn in die Dünen hinausfuhrten, und daß er heute eine Art Knecht der Dämonen ist. (Aus dem Buch Arcana Coelestia von Emanuel Swedenborg.)

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Die Kammer der Standbilder In den frühesten Tagen gab es im Reich der Andalusier eine Stadt, in der seine Könige residierten und die mit Namen Lebtit oder Ceuta hieß, oder Jaen. Es gab in dieser Stadt eine starke Festung, deren zweiflügeliges Tor nicht zum Eintreten bestimmt war, auch nicht zum Hinausgehen, sondern verschlossen gehalten werden sollte. Jedesmal wenn ein König verschied und ein anderer König seinen hocherhabenen Thron erbte, fugte dieser mit eigenen Händen dem Tor ein neues Schloß hinzu, bis es im ganzen vierundzwanzig Schlösser waren, eines für jeden König. Da geschah es, daß ein übelgesinnter Mann, der nicht dem Königshause angehörte, die Macht an sich riß, und anstatt ein neues Schloß hinzuzufugen, verlangte, daß die vierundzwanzig vorhergehenden aufgeschlossen werden sollten, um zu sehen, was diese Festung barg. Der Wesir und die Emire flehten ihn an, er möge nicht solches tun, und versteckten vor ihm den eisernen Schlüsselbund und sagten ihm, ein neues Schloß hinzuzufugen sei leichter als vierundzwanzig aufzubrechen; er jedoch antwortete mit wundersamer Arglist: »Ich will untersuchen, was diese Festung birgt.« Da boten sie ihm soviele Reichtümer, wie sie irgend zusammenbringen konnten, an Herden, an christlichen Götzenbildern, an Silber und Gold; er jedoch wollte von seinem Vorhaben nicht ablassen und öffnete das Tor mit seiner rechten Hand (die auf ewig brennen wird). Drinnen waren die Araber abgebildet, in Metall und in Holz, auf ihren schnellen Kamelen und Rossen, mit Turbanen, die über den Rücken hinabwallten, und mit Krummsäbeln, die im Leibgurt hingen, und der geraden Lanze in der Rechten. Alle diese Figuren waren plastisch und warfen Schatten auf den Boden, und ein Blinder hätte sie mit dem bloßen Tastsinn erkennen können, und die Vorderhufe der Rosse berührten nicht den Boden und fielen doch nicht, als ständen sie aufgebäumt da. Großes Entsetzen erweckten in dem König diese herrlichen Figuren, und mehr noch die tadellose Ordnung und

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die lautlose Stille, die an ihnen auffiel, weil alle nach einer Seite, und zwar gen Sonnenuntergang, blickten, aber weder eine Stimme noch eine Trompete zu hören waren. Dies befand sich im ersten Gemach der Festung. Im zweiten war der Tisch Solimans, des Sohnes Davids - möge beiden das ewige Heil beschieden sein! -, geschnitten aus einem einzigen Smaragd, dessen Farbe bekanntlich grün ist, und dessen verborgene Eigenschaften unbeschreiblich und verbürgt sind, denn er beschwichtigt die Stürme, bewahrt die Keuschheit seines Trägers, verscheucht die Dysenterie und die bösen Geister, entscheidet vorteilhaft einen Rechtshandel und ist bei den Geburten von großem Beistand. Im dritten fanden sie zwei Bücher; das eine war schwarz und lehrte die Kräfte der Metalle, der Talismane und der Tage, und ebenso die Zubereitung von Giften und Gegengiften; das andere war weiß, und was es lehrte, war nicht zu entziffern, obwohl die Schrift deutlich war. Im vierten stießen sie auf eine Weltkarte, auf der die Reiche, die Städte, die Meere, die Festungen und die Fährlichkeiten eingezeichnet waren, all dies mit seinem wahrhaften Namen und seiner genauen Gestalt. Im fünften fanden sie einen kreisförmigen Spiegel, ein Werk Solimans, des Sohnes Davids - werde beiden die Vergebung zuteil! -, von sehr hohem Wert, denn er war aus verschiedenerlei Metallen gefertigt, und wer in seine Rundung blickte, sah die Geister seiner Väter und seiner Söhne, von dem Erstgeborenen Adam an bis zu jenen, die den Schall der Posaune hören werden. Das sechste war voll eines Elixiers, von dem ein Quentchen genügte, um dreitausend Unzen Silber in dreitausend Unzen Gold zu verwandeln. Das siebente dünkte sie leer, aber es war so groß, daß der gewandteste Bogenschütze einen Pfeil von der Tür aus hätte abschießen können, ohne daß es ihm gelungen wäre, die Rückwand zu trefTen. In die Abschlußwand eingemeißelt sahen sie eine furchtbare Inschrift. Der König las und verstand sie und sprach folgendermaßen: »Wenn eine Hand das Tor dieser Festung öffnet, werden sich Krieger aus Fleisch und 74

Blut, die den metallenen Kriegern der Eingangshalle gleichen, des Reiches bemächtigen.« Diese Dinge ereigneten sich im Jahr neunundachtzig der Hedschra. Bevor es zu Ende ging, bemächtigte sich Tarik dieser Festung, schlug diesen König in die Flucht, verkaufte seine Weiber und seine Söhne und verwüstete seine Ländereien. So überschwemmten die Araber das Reich Andalusien mit seinen Feigengärten und bewässerten Fluren, auf denen man keinen Durst leidet. Was die Schätze angeht, so wird gesagt, daß Tarik, der Sohn des Zaid, sie dem Kalifen, seinem Herrn, übergab, der sie in einer Pyramide aufbewahrte. (Aus dem Buch von Tausendundeiner Nacht, 272. Nacht.)

Geschichte von den zweien, die träumten Der arabische Geschichtsschreiber El Ixaqui berichtet folgenden Vorfall: »Von glaubwürdigen Menschen wird erzählt (aber Allah allein ist allwissend und allmächtig und erbarmungsvoll und schläft nicht), daß es in El Cairo einen mit Reichtümern gesegneten Mann gab, der aber so großmütig und so freigebig war, daß er sie alle einbüßte, außer dem Haus seines Vaters, und daß er sich genötigt sah, zu arbeiten, um sein Brot zu verdienen. Er arbeitete so hart, daß ihn eines Abends unter einem Feigenbäum in seinem Garten der Schlaf übermannte, und im Traum erblickte er einen vermummten Mann, der ein Goldstück aus seinem Munde zog und zu ihm sprach: »Dein Glück ist in Persien, in Isfahan, geh dorthin und suche es.< Am folgenden Morgen machte er sich auf und unternahm die weite Reise und trotzte den Gefahren der Wüsten, der SchifTe, der Seeräuber, der Götzendiener, der Flüsse, der wilden Tiere und der Mensehen. Zuletzt erreichte er Isfahan, jedoch im Bezirk der Stadt überraschte ihn die Nacht, und er streckte sich zum Schlaf im

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Hof einer Moschee aus. Dicht bei der Moschee war ein Haus, und nach dem Ratschluß Gottes des Allmächtigen durchquerte eine Räuberbande die Moschee und begab sich in das Haus, und die Leute, die darinnen schliefen, wachten bei dem Getöse der Räuber auf und riefen um Hilfe. Auch die Nachbarn schrien, bis der Hauptmann der Nachtwächter dieses Distrikts mit seinen Leuten herbeieilte und die Räuber über die Dachterrasse flüchteten. Der Hauptmann ließ die Moschee durchsuchen, und in ihr stießen sie auf den Mann aus El Cairo und versetzten ihm mit Bambusstöcken so hageldichte Schläge, daß er mehr tot als lebendig war. Zwei Tage später kam er im Gefängnis zur Besinnung. Der Hauptmann ließ ihn holen und sprach zu ihm: >Wer bist du, und was ist deine Heimat?< Der andere erklärte: >lch bin aus der berühmten Stadt El Cairo, und mein Name ist Mohammed El Magrebi.< Der Hauptmann fragte ihn: >Was führte dich nach Persien?< Der andere entschloß sich, die Wahrheit zu sagen, und sprach zu ihm: >Ein Mann hieß mich im Traum nach Isfahan gehen, denn hier sei mein Glück. Nun bin ich in Isfahan und sehe ein, daß dieses Glück, das er mir verhieß, die Prügel gewesen sein müssen, die ihr mir so freigebig gespendet habt.< Als er diese Worte hörte, lachte der Hauptmann so, daß er seine Weisheitszähne entblößte; am Ende sagte er: >Törichter und leichtgläubiger Mann, schon dreimal habe ich von einem Haus in der Stadt El Cairo geträumt, hinter dem ein Garten ist und in dem Garten eine Sonnenuhr und hinter der Sonnenuhr ein Feigenbaum und hinter dem Feigenbaum ein Brunnen und unter dem Brunnen ein Schatz. Ich habe dieser Lüge nie den geringsten Glauben geschenkt, du jedoch, mißgeborener Sohn einer Mauleselin und eines Dämonen, bist von Stadt zu Stadt geirrt, einzig im Vertrauen auf deinen Traum. Laß dich in Isfahan nicht wieder blicken. Nimm diese Geldstücke und scher dich fort.< Der Mann nahm die Geldstücke und kehrte in sein Vaterland zurück. Unter dem Brunnen in seinem Garten (es war der Garten im Traum des Hauptmanns) grub er den Schatz aus. So 76

schenkte ihm Gott Segen und belohnte und erhöhte ihn. Gott ist der Edelmütige, der Verborgene.« (Aus dem Buch von Tausendundeiner Nacht, 351. Nacht.)

Der übergangene Hexenmeister Es war einmal in Santiago ein Dechant, der war begierig, die Kunst der Magie zu erlernen. Er hörte sagen, daß keiner sich besser auf sie verstünde als Don Illän von Toledo und machte sich auf nach Toledo, um ihn aufzusuchen. Gleich am Tage seiner Ankunft lenkte er seine Schritte zum Hause Don Illäns und fand ihn lesend in einer abseits gelegenen Behausung. Dieser empfing ihn liebenswürdig und sagte ihm, er möge ihm erst nach Beendigung des Mittagsmahls den Anlaß seines Besuches bekanntgeben. Er wies ihm ein sehr kühles Gemach an und sagte ihm, er freue sich herzlich über sein Kommen. Nach dem Essen trug ihm der Dechant die Ursache seines Besuches vor und bat ihn, er möge ihn die Wissenschaft der Magie lehren. Don Illän sagte ihm, er habe sich gedacht, daß er Dechant sei, ein Mann in guter Stellung und mit guten Zukunftsaussichten, und er befurchte sehr, alsbald von ihm vergessen zu werden. Der Dechant versprach und versicherte ihm, daß er diese seine Gunst nie vergessen und ihm stets zu Diensten sein werde. Nachdem die Sache hiermit geregelt war, erklärte Don Illän, daß sich die magischen Künste nur an einem abgeschiedenen Ort erlernen ließen, und indem er ihn bei der Hand nahm, führte er ihn in ein Nebengemach, in dem sich am Boden ein großer eiserner Ring befand. Vorher sagte er zu der Dienstmagd, sie solle für den Abend Rebhühner zubereiten, aber nicht eher zum Braten an den Spieß stecken, bis es ihr befohlen würde. Sie hoben den Ring mit vereinten Kräften auf und stiegen eine wohlgefügte Steintreppe hinunter, bis es dem Dechanten schien, sie wären so tief hinabgestiegen, daß 77

sich das Bett des Tajo zu ihren Häuptern befand. Am Fuß der Treppe war eine Zelle und dann eine Bibliothek und dann eine Art Kabinett mit magischen Gerätschaften. Sie sahen die Büeher durch und waren hiermit gerade beschäftigt, als zwei Männer eintraten mit einem Brief fiir den Dechanten, geschrieben von dem Bischof, seinem Oheim, in dem er ihn wissen ließ, er sei sehr krank, und wenn er ihn noch lebend antreffen wolle, dürfe er nicht säumen. Dem Dechanten war diese Mitteilung sehr zuwider, einmal, weil es ihm um seinen Oheim leid tat, aber auch, weil er seine Studien unterbrechen mußte. Er entschloß sich, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, und schickte ihn dem Bischof. Drei Tage vergingen, da kamen einige Männer in Trauer mit weiteren Briefen fiir den Dechanten, in denen zu lesen stand, daß der Bischof verschieden sei, daß sie dabei seien, den Nachfolger zu wählen, und daß sie hofften, die Wahl möge durch Gottes Gnade auf ihn fallen. Sie sagten auch, er solle sich nicht die Mühe machen zu kommen, da es sich viel besser schicke, wenn sie ihn in seiner Abwesenheit wählten. Zehn Tage vergingen, da kamen zwei sehr wohlgekleidete Schildknappen, die sich ihm zu Füßen warfen und seine Hände küßten und ihm als ihrem Bischof huldigten. Als Don Illän dies geschehen sah, trat er mit großer Freude auf den neuen Prälaten zu und sagte ihm, er danke dem Herrn, daß so gute Nachrichten in seinem Haus einträfen. Dann bat er ihn fiir einen seiner Söhne um das freie Dekanat. Der Bischof tat ihm kund, er habe das Dekanat seinem eigenen Bruder vorbehalten, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Santiago aufmachen. Zu dritt reisten sie nach Santiago, wo sie ehrenvoll empfangen wurden. Sechs Monate vergingen, da erschienen vor dem Bischof Abgesandte des Papstes, die ihm den erzbischöflichen Stuhl von Tolosa anboten und die Ernennung eines Nachfolgers in seine Hände legten. Als Don Illän dies erfuhr, erinnerte er ihn an sein früheres Versprechen und erbat diesen Titel fiir seinen Sohn. Der Erzbischof tat ihm kund, er habe das Bistum 78

seinem eigenen Onkel, dem Bruder seines Vaters, vorbehalten, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Tolosa aufmachen. Don Illän hatte keine Wahl, als in diesen Vorschlag einzuwilligen. Zu dritt reisten sie nach Tolosa, wo sie mit Ehrenbezeigungen und Messen empfangen wurden. Zwei Jahre vergingen, da erschien vor dem Erzbischof ein Legat des Papstes, der ihm den Kardinalshut anbot und die Ernennung des Nachfolgers in seine Hände legte. Als Don Illän dies erfuhr, erinnerte er ihn an sein früheres Versprechen und erbat diesen Titel für seinen Sohn. Der Kardinal tat ihm kund, daß er den erzbischöflichen Stuhl seinem eigenen Oheim, dem Bruder seiner Mutter, vorbehalten habe, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Rom aufmachen. Don Illän konnte nicht umhin, einzuwilligen. Zu dritt reisten sie nach Rom, wo sie mit Ehrenbezeigungen, Messen und Prozessionen empfangen wurden. Vier Jahre später starb der Papst, und unser Kardinal wurde von allen übrigen für den päpstlichen Stuhl erkoren. Als Don Illän dies erfuhr, küßte er die Füße Seiner Heiligkeit, erinnerte ihn an sein früheres Versprechen und erbat das Kardinalsamt für seinen Sohn. Der Papst drohte ihm mit Gefängnis und sagte, er wisse wohl, daß er nichts weiter sei als ein Hexenmeister, und daß er in Toledo magische Künste gelehrt habe. Der beklagenswerte Don Illän sagte, er wolle nach Spanien zurückgehen, und bat ihn um Wegzehrung. Der Papst fand sich nicht dazu bereit. Da sagte Don Illän (dessen Gesicht sich auf wundersame Weise verjüngt hatte) mit einer Stimme ohne Schwanken: »So werde ich die Rebhühner essen müssen, die ich auf heute abend bestellt habe.« Die Dienstmagd erschien und Don Illän sagte ihr, sie solle sie braten. Bei diesen Worten fand sich der Papst in der unterirdisehen Zelle in Toledo wieder, nichts Besseres als Dechant von Santiago, und so beschämt über seine Undankbarkeit, daß er nicht Worte fand, sich zu entschuldigen. Don Illän sagte, es sei

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an dieser Probe genug, verweigerte ihm seinen Anteil an den Rebhühnern und begleitete ihn bis auf die Straße, wo er ihm glückliche Reise wünschte und ihn mit großer Höflichkeit verabschiedete. (Aus dem Libro de Patronio des Infanten Don Juan Manuel, der es aus einem arabischen Buch bezog: Die Vierzig Morgen und die Vierzig Nächte.)

Der Tintenspiegel Die Geschichte weiß, daß der grausamste der Gouverneure des Sudan Yakub der Leidende war, der sein Land an die Ruchlosigkeit der ägyptischen Steuereintreiber auslieferte und in einem Gemach des Palastes starb, am vierzehnten Tag des Barmajat-Mondes im Jahr 1842. Etliche wollten wissen, daß der Zauberer Abderrahman El Masmudi (dessen Name übersetzt etwa lautet: Der Diener des Barmherzigen) ihn mit einem Dolch oder mit Gift beseitigt habe, doch ist ein natürlicher Tod wahrscheinlicher - schon darum, weil sie ihn Den Leidenden nannten. Gleichwohl unterhielt sich der Hauptmann Richard Francis Burton mit diesem Zauberer im Jahr 1853 und erzählt, was er ihm berichtete, wie folgt: »Es ist wahr, daß ich in der festen Burg Yakubs des Leidenden als Gefangener schmachtete, auf Grund der Verschwörung, die mein Bruder Ibrahim anzettelte, mit dem faulen und eitlen Beistand der Negerhäuptlinge von Kordofan, die ihn denunzierten. Mein Bruder kam durch das Schwert um, auf dem Blutfell der Gerechtigkeit, ich jedoch warf mich vor die verhaßten Füße des Leidenden und sagte ihm, ich sei ein Zauberer, und wenn er mir das Leben schenkte, wollte ich ihm Formen und Erscheinungen zeigen, noch wunderbarer als die des Fanusi Jiyal (Latema magica). Der Unterdrücker verlangte von mir auf der Stelle einen Beweis. Ich bat um eine Rohrfeder, eine Schere, einen großen Bogen venezianischen

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Papiers, ein Horn Tinte, ein Holzkohlenbecken, ein paar Körner Koriandersamen und eine Unze Weihrauch. Ich zerschnitt das Blatt in sechs Streifen, schrieb Talismane und Beschwörungen auf die fünf ersten und auf den letzten die folgenden Worte, die in dem glorreichen Koran stehen: >Wir haben deinen Schleier gelüftet, und der Anblick deiner Augen ist durchdringend.< Dann zeichnete ich ein magisches Quadrat in Yakubs rechte Hand und bat ihn, er solle sie hohl machen, und goß einen Kreis Tinte mitten hinein. Ich fragte ihn, ob er sein Spiegelbild in dem Kreis deutlich wahrnehmen könne, und er antwortete mit Ja. Ich sagte ihm, er solle die Augen nicht auflieben. Ich zündete den Weihrauch und den Koriandersamen an und verbrannte die Beschwörungen in dem Holzkohlenbecken. Ich bat ihn, er solle die Gestalt nennen, die er zu erblicken wünsche. Er bedachte sich und sagte zu mir: ein wildes Pferd, das schönste, welches auf den Wiesen, die den Rand der Wüste säumen, zur Weide geht. Er sah hin und erblickte die grüne und stille Flur und danach ein Pferd, das näherkam, flink wie ein Leopard, mit einem weißen Stern auf der Stirne. Er bat mich um eine Herde Pferde, so vollkommen wie das erste, und sah am Horizont eine breite Staubwolke und dann die Herde. Da wußte ich, daß mein Leben in Sicherheit war. Das Tageslicht kam eben herauf, als zwei Soldaten in meinen Kerker traten und mich in das Gemach des Leidenden führten, wo schon der Weihrauch, das Holzkohlenbecken und die Tinte meiner harrten. So forderte er von mir und zeigte ich ihm alle Erscheinungen der Welt. Dieser tote Mann, den ich verabscheue, hielt in seiner Hand, was die toten Menschen irgend erblickt haben und die Lebendigen sehen: die Städte, Himmelsstriche und Reiche, in die sich die Erde teilt, die in ihrem Kem verborgenen Schätze, die Schiffe, die übers Meer fahren, die Geräte des Kriegs, der Musik und der Chirurgie, die liebreizenden Frauen, die Fixsterne und die Planeten, die Farben, deren sich die Ungläubigen beim Malen ihrer abscheulichen Bilder 81

bedienen, die Minerale und die Pflanzen, samt den Geheimnissen und Kräften, die sie bergen, die Engel aus Silber, deren Speise Lobpreis und Verherrlichung des Herren ist, die Austeilung der Preise in den Schulen, die Standbilder von Vögeln und Königen, die im Herzen der Pyramiden sind, der Schatten, den der Stier, auf welchem die Erde ruht, wirft und der Fisch, der unter dem Stier ist, die Wüsten Gottes des Barmherzigen. Er sah Dinge, die nicht zu schildern sind, wie die mit Gas erleuchteten Straßen und den Walfisch, der stirbt, wenn er den Schrei des Menschen vernimmt. Einmal befahl er mir, ich solle ihm die Stadt zeigen, die sich Europa nennt. Ich zeigte ihm ihre HauptStraße, und ich glaube, es war in diesem reißenden Strom von Menschen, die alle in Schwarz gingen und viele mit Brillen, daß er zum erstenmal den Maskierten erblickte. Diese Gestalt, zuweilen in sudanesischer Tracht, zuweilen in Uniform, jedoch stets mit einem Tuch vorm Gesicht, drang von da ab in die Visionen ein. Sie fehlte nie, und wir mutmaßten nicht, wer sie war. Auch waren die Erscheinungen des TintenSpiegels, die zuerst momentan und bewegungslos gewesen waren, jetzt verschlungener: sie gehorchten ohne Verzug meinen Weisungen, und der Tyrann folgte ihnen mit klarem Verstand. Allerdings waren wir beide am Ende jedesmal erschöpft. Der grausige Charakter der Szenen war eine weitere Quelle der Ermüdung. Es waren immer nur Züchtigungen, Würgestricke, Verstümmelungen, Ergötzungen des Henkers und des Grausamen. So erreichten wir schließlich den Morgen des vierzehnten Tages des Barmajat-Mondes. Der Tintenkreis war in die Hand gezeichnet worden, der Weihrauch in das Holzkohlenbecken gestreut, die Beschwörungen verbrannt. Nur wir beide waren zugegen. Der Leidende sagte mir, ich solle ihm eine unwiderrufliehe und gerechte Bestrafung zeigen, weil sein Herz an diesem Tage einen Todesfall zu sehen begehrte. Ich zeigte ihm die Soldaten mit den Trommeln, das ausgebreitete Kalbsfell, die Leute, die sich an dem Schauspiel weideten, den Henker mit 82

dem Richtschwert. Er verwunderte sich, als er ihn erblickte, und sagte zu mir: >Es ist Abu Kir, der deinen Bruder Ibrahim hingerichtet hat, der deinem Schicksal ein Ende setzen wird, sobald mir die Wissenschaft beschieden ist, diese Figuren ohne deinen Beistand zu beschwören.« Er verlangte von mir, sie sollten den Verurteilten herbeischaffen. Als sie ihn brachten, wechselte er die Farbe, denn es war der unerklärliche Mann mit dem weißen Tuch. Er befahl mir, sie sollten ihm, ehe sie ihn töteten, die Maske abnehmen. Ich warf mich ihm zu Füßen und sagte: >O König der Zeit und Grundstoff und Inbegriff des Jahrhunderts, diese Gestalt ist nicht wie die übrigen, weil wir seinen Namen nicht kennen noch den seiner Väter und auch nicht den der Stadt, die seine Heimat ist, so daß ich mich nicht getraue, an die Gestalt zu rühren, um nicht eine Schuld auf mich zu laden, für die ich Rechenschaft werde ablegen müssen.« Der Leidende brach in Lachen aus und schwor am Ende, er wolle gern die Schuld auf sich nehmen, wenn es da eine Schuld gäbe. Er beschwor es bei seinem Schwert und bei dem Koran. Da befahl ich, sie sollten den Verurteilten entkleiden und sollten ihn auf das Kalbsfell werfen und ihm die Maske herunterreißen. Diese Dinge geschahen. Die entsetzten Augen Yakubs vermochten endlich dieses Gesicht zu schauen - das sein eigenes war. Er verhüllte sich aus Furcht und Wahnsinn. Ich drückte ihm die zitternde Rechte mit meiner Rechten, die fest war, nieder und befahl ihm, er solle dem Begängnis seines Todes jveiter zusehen. Er war besessen von dem Spiegel: er versuchte nicht einmal die Augen aufzuheben oder die Tinte auszugießen. Als das Schwert in der Vision auf das schuldige Haupt niederfuhr, stöhnte er mit einer Stimme auf, die bei mir kein Mitleid fand, und rollte zu Boden, tot. Ruhm sei bei Jenem, der nicht stirbt und in seiner Hand die zwei Schlüssel der unbegrenzten Vergebung und der unendlichen Strafe hält.« (Aus dem Buch The Lake Region! of Equalorial Africa von R. F. Burton.)

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Ein Doppelgänger Mohammeds Da es sich so verhält, daß in der Vorstellung der Moslems die Ideen Mohammed und Religion unauflöslich verschmolzen sind, hat der Herr befohlen, daß ihnen im Himmel stets ein Geist vorschweben soll, der die Rolle Mohammeds spielt. Dieser Abgeordnete ist nicht immer derselbe. Ein Stadtbürger aus Sachsen, den zu seinen Lebzeiten die Algerier gefangengenommen hatten und der zum Islam übergetreten war, hatte einmal diesen Posten inne. Da er ein Christ gewesen war, sprach er zu ihnen von Jesus und sagte ihnen, er sei nicht der Sohn Josefs gewesen, sondern der Sohn Gottes; es war ratsam, ihn abzulösen. Wo sich dieser stellvertretende Mohammed befindet, ist durch eine Fackel bezeichnet, die nur den Moslems sichtbar ist. Der echte Mohammed, der Verfasser des Koran, ist seinen Glaubensjüngem nicht sichtbar. Man hat mir gesagt, daß er ihnen im Anfang vorschwebte, daß er sich aber die Herrschaft über sie anmaßte und in den Süden verbannt wurde. Eine Gemeinde von Moslems wurde von den Dämonen angestiftet, Mohammed als Gott anzuerkennen. Um den Aufruhr zu beschwichtigen, wurde Mohammed aus der Hölle heraufgebracht und zur Schau gestellt. Bei dieser Gelegenheit sah ich ihn. Er glich den körperhaften Geistern, die keine innere Wahrnehmung besitzen, und sein Gesicht war sehr dunkel. Er vermochte die Worte auszusprechen: »Ich bin euer Mohammed« und versank unmittelbar darauf. (Aus: Vera Christiana Religio,

von Emanuel Swedenborg.)

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Quellenangabe Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell. Life on the Mississippi, by Mark Twain. New York, 1883, Mark Twain’s America, by Bernard Devoto. Boston, 1932. Der unwahrscheinliche Hochstapler Tom Castro. The History of Piraiy, by Philip Gosse, London, Cambridge, 19 ■ > · Die Witwe Tsching, Seeräuberin. The History of Piracy, by Philip Gosse. London, 1932. Der Schandtatenmakler Monk Eastman. The Gangs of New York, by Herbert Ashbury. New York, 1927. Der uneigennützige Mörder Bill Harrigan. A Century of Gunmen, by Frederick Watson, London, 1931. The Saga of Billy the Kid, by Walter Noble Burns. New York, 1925. Der unhöfliche Zeremonienmeister Kotsuke no Suke. Tales of Old Japan, by A. B. Mitford. London, 1912. Der maskierte Färber Hakim von Merv. A History of Persia, by Sir Percy Sykes. London, 1915. Die Vernichtung der Rose. Nach dem arabischen Urtext übertragen von Alexander Schulz, Leipzig, 1927.

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Fiktionen Für Esther ^emborain de Torres

Der Garten der Pfade, die sich verzweigen

Vorwort Die sieben Stücke dieses Buches bedürfen keiner besonderen Erläuterung. Das siebte (Der Garten der Pfade, die sich verzweigen) ist eine Kriminalgeschichte; die Leser werden der Ausführung und allen Präliminarien eines Verbrechens beiwohnen, dessen Zweckabsicht ihnen nicht verborgen ist, das sie aber, glaube ich, bis zum letzten Absatz nicht verstehen werden. Die anderen sind phantastisch; eins von ihnen - Die Lotterie in Babylon ist nicht ganz frei von Symbolismus. Ich bin nicht der erste Verfasser der Erzählung Die Bibliothek von Babel; Leser, die auf ihre Geschichte und ihre Vorgeschichte neugierig sind, können sich darüber auf einer bestimmten Seite der Nummer 59 von Sur unterrichten, die so heterogene Namen wie Leukipp und Lasswitz, Lewis Carroll und Aristoteles verzeichnet. In Die kreisförmigen Ruinen ist alles irreal; in Pierre Menard, Autor des Quijote, ist es das Schicksal, das sich ihr Protagonist auferlegt. Die Aufzählung von Schriften, die ich ihm zuschreibe, ist nicht gerade kurzweilig, aber nicht willkürlich; sie ist ein Diagramm seiner geistigen Geschichte . . . Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Büeher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Resume, einen Kommentar vorzulegen. So machte es Carlyle in Sartor Resartus, so Butler in The Fair Haven: Werke, behaftet mit der Unvollkommenheit, daß sie eben auch Bücher sind, nicht minder tautologisch als die anderen. Aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vorgezogen. Diese sind Tlön, Uqbar, Orbis Tertius und Untersuchung des Werks von Herbert Quain. J. L. B.

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Tlön, Uqbar, Orbis Tertius I

Ich verdanke der Konjunktion eines Spiegels und einer Enzyklopädie die Entdeckung Uqbars. Der Spiegel beunruhigte das Ende eines Ganges in einem Landhaus der Calle Gaona in Ramos Mejia; die Enzyklopädie nennt sich fälschlich The Anglo-American Cyclopaedia (New York, 1917) und ist ein wortgetreuer, wenn auch mißbräuchlicher Nachdruck der Encyclopaedia Britannica von 1902. Der Vorfall ereignete sich vor etwa fünf Jahren. Bioy Casares1 hatte mit mir zu Abend gegessen, und wir waren in eine weitläufige Polemik über die Ausarbeitung eines Ich-Romans geraten, dessen Erzähler Tatsachen auslassen oder entstellen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte, die es wenigen Lesern - sehr wenigen Lesern - gestatten würden, eine grausige oder banale Wirklichkeit zu erahnen. Vom entfernten Ende des Ganges her belauerte uns der Spiegel. Wir entdeckten (in tiefer Nacht ist diese Entdeckung unvermeidlich), daß Spiegel etwas Monströses an sich haben. Daraufhin erinnerte sich Bioy Casares, daß einer der Häresiarchen von Uqbar erklärt hatte, die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen. Ich fragte ihn nach der Herkunft dieser denkwürdigen Sentenz, und er antwortete mir, daß The Anglo-American Cyclopaedia sie in ihrem Artikel über Uqbar anfuhre. In dem Landhaus (das wir möbliert gemietet hatten) befand sich ein Exemplar dieses Werkes. Auf den letzten Seiten von Band XLVI stießen wir auf einen Artikel über Upsala; auf den ersten Seiten von XLVII auf einen über Ural-Altaic Languages, aber kein Wort über Uqbar. Bioy, ein wenig bestürzt, sah in den Index-Bänden nach. Vergebens erschöpfte er alle denkbaren Lesarten: Ukbar, Ucbar, Ooqbar, Ookbar, Oukbahr. . . Vor dem Weggehen sagte er mir, es sei das eine Landschaft im Irak oder in Kleinasien. Ich muß gestehen, daß ich mit leisem Unbehagen zustimmte. Ich 93

nahm an, daß dieses unbezeugte Land und dieser anonyme Häresiarch eine von dem bescheidenen Bioy improvisierte Erfindung zur Rechtfertigung seines Ausspruchs seien. Die fruchtlose Durchsicht eines der Atlanten von Perthes verstärkten meinen Zweifel. Am folgenden Tag rief Bioy mich aus Buenos Aires an. Er sagte, der Artikel über Uqbar liege vor ihm, und zwar stehe er in Band XLVI der Enzyklopädie. Der Name des Häresiarchen sei nicht angegeben, wohl aber der Vermerk über seine Lehre, fast wörtlich, wie er sie wiedergegeben hatte, wenn auch vielleicht - literarisch schwächer. Er hatte sie so im Kopf gehabt: »Copulation and mirrors are abominable.« Der Text der Enzyklopädie lautete: »Für einen dieser Gnostiker war die sichtbare Welt eine Illusion oder (genauer gesagt) ein Sophismus. Der Spiegel und die Vaterschaft sind abscheulich (mirrors and fatherhood are hateful), weil sie diesen Sophismus vervielfaltigen und verbreiten.« Ich sagte ihm, ohne mich an der Wahrheit zu vergehen, daß ich diesen Artikel gern sehen möchte. Innerhalb weniger Tage brachte er ihn her. Das überraschte mich um so mehr, als die gewissenhaften Kartographisehen Indices der Erdkunde von Ritter in völliger Unkenntnis des Namens Uqbar befangen waren. Der Band, den Bioy brachte, war tatsächlich Band XLVI der Anglo-American Cyclopaedia. Die alphabetische Angabe (TorUps) auf dem Schutzumschlag und dem Buchrücken war die gleiche wie bei unserem Exemplar, doch statt aus g 17 bestand es aus 921 Seiten. Diese vier zusätzlichen Seiten enthielten den Artikel über Uqbar; in der alphabetischen Angabe (wie der Leser bemerkt haben wird) war er nicht berücksichtigt. Später stellten wir fest, daß zwischen den Bänden sonst kein Unterschied besteht. Beide (wie ich angedeutet zu haben glaube) sind Nachdrucke der zehnten Encyclopaedia Britannica. Bioy hatte sein Exemplar bei einer von zahlreichen Versteigerungen erworben. Wir lasen den Artikel mit einiger Sorgfalt. Die Stelle, an die Bioy sich erinnert hatte, war wohl die einzige überraschende.

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Alles übrige klang recht wahrscheinlich und war auf den allgemeinen (selbstredend ein wenig langweiligen) Tonfall des Werks abgestimmt. Als wir ihn ein zweites Mal lasen, stellten wir hinter seiner streng sachlichen Schreibweise eine grundlegende Verschwommenheit fest. Von den vierzehn Namen, die im geographischen Teil vorkamen, erkannten wir nur drei wieder - Khwaresm, Armenien, Erzerum -, die auf zweideutige Art in den Text eingeschmuggelt waren. Von den historischen Namen nur einen einzigen, den des betrügerischen Zauberers Smerdis2, auf den jedoch mehr metaphorisch Bezug genommen wurde. Die geographische Notiz schien die Grenzen Uqbars zu umreißen, aber ihre nebelhaften Bezugspunkte waren Flüsse und Bergketten des Gebiets selbst. So lasen wir zum Beispiel, daß die Tiefebenen von Tsai Khaldun und das Delta des Axa die Südgrenze bilden, und daß sich auf den Inseln dieses Deltas die Wildpferde vermehren. So zu Beginn von Seite 918. Dem geschichtlichen Abschnitt (Seite 920) entnahmen wir, daß bei Ausbruch der religiösen Verfolgungen des 13. Jahrhunderts die orthodoxen Gläubigen auf den Inseln Zuflucht suchten, wo sich ihre Obelisken bis heute erhalten haben, und wo man im Boden nicht selten auf ihre steinernen Spiegel stößt. Der Abschnitt Sprache und Literatur war knapp gehalten. Ein einziger bezeichnender Charakterzug: es war angemerkt, daß die Literatur Uqbars phantastischer Natur sei, und daß ihre Epen und ihre Legenden sich nie auf die Wirklichkeit bezögen, sondern auf die beiden Phantasiereiche Mlejnas und Tlön . . . Die Bibliographie zählte vier Bücher auf, die wir bis heute nicht ausfindig gemacht haben, obwohl das dritte - Silas Haslam *: History of the Land Called Uqbar, 1874 - in den Katalogen der Buchhandlung Bemard Quaritch aufgefiihrt ist. Das erste: Lesbare und lesenswerthe Bemerkungen über das Land Ukkbar in KleinAsien, stammt von 1641 und ist ein Werk von Johannes Valentinus Andreä. Ein bemerkenswerter Umstand; ein paar Jahre * Haslam hat außerdem A General History of Labyrinths veröffentlicht.

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danach stieß ich in den Schriften von De Quincey (Writings, dreizehnter Band) unvermutet auf diesen Namen und erfuhr, daß ein deutscher Theologe so hieß, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts die imaginäre Gemeinschaft der Rosenkreutzer beschrieb - die andere daraufhin gründeten, indem sie seinen vorausschauenden Entwurf nachahmten. Noch in derselben Nacht begaben wir uns in die Nationalbibliothek. Umsonst schlugen wir Atlanten, Kataloge, Jahrbüeher geographischer Gesellschaften, Memoiren von Reisenden und Geschichtsschreibern nach: niemand war je in Uqbar gewesen. Ebensowenig verzeichnete der Hauptindex der Enzyklopädie Bioys diesen Namen. Am folgenden Tag entdeckte Carlos Mastronardi3 (dem ich die Sache unterbreitet hatte) in einer Buchhandlung in der Straße Corrientes y Talcahuano die schwarzen, in Gold gepreßten Bände der Anglo-American Cyclopaedia ... Er ging hinein und sah in Band XLVI nach. Selbstverständlich fand er nicht den geringsten Hinweis auf Uqbar. II

Eine begrenzte und verblassende Erinnerung an Herbert Ashe, Ingenieur der Süd-Eisenbahnen, hält sich noch im Landhaus Adrogue unter dem üppigen Geißblatt und in der trügerischen Tiefe der Spiegel. Im Lauf seines Lebens litt er an Unwirklichkeit, wie viele Engländer; als Toter ist er nicht einmal das Gespenst, das er früher war. Er war groß und gleichgültig, und sein ermüdeter rechteckiger Bart war einmal rot gewesen. Soviel ich weiß, war er ein kinderloser Witwer. Alle paar Jahre reiste er nach England, um (wie ich aus Photographien schließe, die er uns zeigte) eine Sonnenuhr und ein paar Eichen zu besuchen. Mein Vater hielt mit ihm eine jener englischen Freundschaften ab (das Verb ist überschwenglich), die mit Ausschaltung jeder Vertraulichkeit anfangen und das Zwiegespräch sehr bald weglassen. Sie unterhielten gewohnheitsmäßig einen Austausch von Büchern und Zeitungen; sie pflegten sich 96

am Schachbrett schweigsam zu messen . . . Ich sehe ihn noch auf einem Gang der Villa, mit einem Mathematikbuch in der Hand, wie er bisweilen die unwiederbringlichen Farben des Himmels betrachtete. Eines Nachmittags sprachen wir vom Zwölfzahlensystem (bei dem die Zwölf als 10 geschrieben wird). Ashe sagte, er sei eben dabei, irgendwelche Zwölfertafeln in Sechzigertafeln zu übertragen (bei denen Sechzig als 10 geschrieben wird). Er fugte hinzu, ein Norweger habe ihm diese Arbeit aufgetragen: in Rio Grande do Sui. Acht Jahre kannten wir ihn schon, und nie hatte er seinen Aufenthalt in dieser Gegend erwähnt. . . Wir sprachen vom Hirtenleben, von capanga, von der brasilianischen Etymologie des Wortes gaucho (das ein paar alte Uruguayer noch heute gaücho aussprechen), und von Zwölferfunktionen - Gott verzeih mir - war nicht mehr die Rede. Im September 1937 (wir waren damals nicht im Landhaus) starb Herbert Ashe an einer aufbrechenden Pulsadergeschwulst. Ein paar Tage vorher hatte er aus Brasilien ein versiegeltes Wertpaket zugeschickt bekommen. Es war ein Buch in Groß-Oktav. Ashe ließ es in der Bar liegen, wo ich es Monate später - fand. Ich begann darin zu blättern und verspürte einen leichten Schwindel der Bestürzung, den ich nicht schildern werde, weil dies hier nicht die Geschichte meiner Empfindungen, sondern die von Uqbar und Tlön und Orbis Tertius ist. Der Islam kennt eine Nacht, genannt die Nacht der Nächte: da tun sich die geheimen Türen des Himmels weit auf, und süßer ist das Wasser in den Krügen; wenn diese Türen aufgingen, so würde ich nicht fühlen, was ich an diesem Abend fühlte. Das Buch war in englischer Sprache verfaßt und bestand aus 1001 Seiten. Auf dem gelben Lederrücken las ich diese seltsamen Worte, die sich auf dem Vorsatzblatt wiederfanden: A First Encyclopaedia of Tlön, Vol. XI, Hlaer io Jangr. Erscheinungsort und -jahr waren nirgends angegeben. Auf der ersten Seite und auf einem Deckblatt aus Seidenpapier, das eine der Farbtafeln schützte, war ein blaues Oval eingedruckt mit der Inschrift: Orbis Tertius. Zwei Jahre war es her, seit ich in einem 97

gewissen Band einer gewissen raubmäßig gedruckten Enzyklopädie eine zusammenfassende Beschreibung eines falschen Landes entdeckt hatte; jetzt bescherte mir der Zufall etwas weit Kostbareres und Wichtigeres. Jetzt hielt ich ein ausführliches, methodisch abgefaßtes Bruchstück der Gesamtgeschichte eines unbekannten Planeten in Händen, mit seinen Bauwerken und seinen Spielkarten, dem Schrecken seiner Mythologien und dem Gemurmel seiner Sprachen, mit seinen Kaisern und Meeren, mit seinen Mineralien und seinen Vögeln und seinen Fischen, mit seiner Algebra und seinem Feuer, mit seiner theologischen und metaphysischen Polemik. Dies alles gegliedert, zusammenhängend, ohne ersichtliche Lehrabsicht oder parodistische Färbung. Im »elften« Band, von dem ich spreche, finden sich Anspielungen auf folgende und vorangehende Bände. Nestor Ibarra hat in seinem heute bereits klassischen Aufsatz in der N. R. F * in Abrede gestellt, daß diese Nachbarbände existieren; Ezequiel Martinez Estrada und Drieu La Rochelle5 haben diesen Zweifel - vermudich siegreich - widerlegt. Tatsache ist, daß die gewissenhaftesten Nachforschungen bis heute fruchtlos geblieben sind. Vergebens haben wir die Bibliotheken der beiden Amerikas und Europas in Unordnung gebracht. Alfonso Reyes6, überdrüssig dieser untergeordneten Detektivarbeit, schlägt vor, wir sollten uns alle zusammentun und die Rekonstruktion der vielen dickleibigen Bände, die fehlen, in AngrifT nehmen: ex ungue leonem. Er berechnet halb im Ernst, halb im Spaß, daß eine Generation von Tlönisten ausreichen dürfte. Dieser gewagte Voranschlag führt uns auf das Grundproblem zurück: Wer sind die Erfinder von Tlön? Die Mehrzahl ist unerläßlich, weil die Hypothese eines einzigen Erfinders - eines unendlichen, in Schatten und Bescheidenheit wirkenden Leibniz - einhellig verworfen worden ist. Man vermutet, daß diese brave new world das Werk einer Geheimgesellschaft von Astronomen, Biologen, Ingenieuren, Metaphysikern, Dichtem, Chemikern, Algebraikern, Moralisten, Malern und Geometern ge­ 98

wesen ist. . . unter der Leitung eines im Dunkel gebliebenen Genies. Einzelpersönlichkeiten, die diese verschiedenen Disziplinen beherrschen, gibt es zwar in Menge, aber keine Erfindungsbegabten und erst recht keine, die begabt sind, die Erfindüng einem strengen systematischen Plan unterzuordnen. Dieser Plan ist so weitgespannt, daß der Beitrag jedes einzelnen Mitarbeiters verschwindend klein ist. Anfangs war man der Ansicht, Tlön sei ein bloßes Chaos, eine unverantwortliche Ausgeburt freier Phantasie; heute weiß man, daß es ein Kosmos ist, und die verborgenen Gesetze, die ihn durchwalten, sind, wenn auch nur provisorisch, formuliert worden. Der Hinweis mag genügen, daß die offensichtlichen Widersprüche im elften Band der beweiskräftige Prüfstein dafür sind, daß es die anderen geben muß, so durchaus klar und richtig ist die Ordnung, die man hier festgestellt hat. Die populären Zeitschriften haben sich verzeihlicherweise bemüßigt gefühlt, die Zoologie und Topographie von Tlön unter die Leute zu bringen; ich meine jedoch, daß seine durchsichtigen Tiger und seine Bluttürme nicht die fortwährende Aufmerksamkeit aller Menschen verdienen. Ich bin so kühn, um einige Minuten der Aufmerksamkeit für seinen Begriff des Universums zu bitten. Hume hat ein fiir allemal festgestellt, daß die Argumente von Berkeley nicht die geringste Erwiderung zulassen und nicht die geringste Überzeugung hervorrufen. Dieses Urteil ist, wenn man es auf die Erde anwendet, durchaus wahr, dagegen ganz und gar falsch in bezug auf Tlön. Die Völker dieses Planeten sind - von Geburt an - Idealisten. Ihre Sprache und was aus dieser Sprache folgt - die Religion, die Literatur, die Metaphysik - setzen den Idealismus voraus. Die Welt ist für sie nicht ein Zusammentreffen von Gegenständen im Raum; sie ist eine heterogene Reihenfolge unabhängiger Handlungen. Sie ist sukzessiv, zeitlich, nicht räumlich. Die erschlossene Ursprache Tlöns, von der die »heutigen« Idiome und Dialekte herstammen, kennt keine Substantive; es gibt unpersönliche Verben, die durch einsilbige Suffixe (oder Präfixe) adverbieller Art 99

näher bestimmt werden. Zum Beispiel: es gibt kein Wort, das dem Wort »Mond« entspräche, aber es gibt ein Verbum, das »monden« oder »mondieren« lauten würde. »Der Mond ging über dem Fluß auf« lautet: klär u fang axaxaxas mlö oder in genauer Wortfolge: »Empor hinter dauerfließen mondet es.« Xul Solar7 übersetzt in knapper Form: upa tras perfluyue lunö. Upward, behind the onstreaming it mooned. Das eben Gesagte gilt für die Sprachen der südlichen Hemisphäre. In denen der nördlichen Hemisphäre (über deren Urspräche der elfte Band nur sehr geringe Angaben enthält) ist die ursprüngliche Keimzelle nicht das Verb, sondern das einsilbige Adjektiv. Das Substantiv wird durch Häufung von Adjektiven gebildet. Man sagt nicht: Mond, man sagt: luftighell auf dunkelrund oder orangehimmelscheinend oder irgendeine andere Wortlugung. In dem angeführten Fall entspricht die Menge der Adjektive einem wirklichen Gegenstand; der Umstand ist rein zufällig. In der Literatur dieser Hemisphäre (wie in der subsistenten Welt von Meinong) kommen ideale Gegenstände in Fülle vor; je nach poetischer Notwendigkeit werden sie in einem Nu berufen und aufgelöst. Manchmal ist die bloße Gleichzeitigkeit für sie bestimmend. Es gibt Gegenstände, die aus zwei Begriffen zusammengesetzt sind, von denen der eine sichtbar, der andere hörbar ist: die Farbe des Sonnenaufgangs und der ferne Ruf eines Vogels. Andere sind aus vielen Begriffen zusammengesetzt: die Sonne und das an die Brust des Schwimmers schlagende Wasser, das vage pulsierende Rot, das man bei geschlossenen Augen sieht, das Gefühl eines Menschen, der sich von einem Strom, zugleich aber von einem Traum davontreiben läßt. Diese Gegenstände zweiten Grades können mit anderen kombiniert werden; der Prozeß ist, mit Hilfe gewisser Abkürzungen, praktisch unbegrenzt. Es gibt berühmte Gedichte, die aus einem einzigen Wortungeheuer bestehen. Dieses Wort verkörpert einen vom Autor geschaffenen poetischen Gegenstand. Die Tatsache, daß niemand an die Realität der Substantive glaubt, hat paradoxerweise zur Folge, daß ihre Zahl unbegrenzt ist. ioo

Die Idiome der nördlichen Hemisphäre von Tlön besitzen sämtliche Nomina der indoeuropäischen Sprachen - und viele andere mehr. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die klassische Kultur von Tlön eine einzige Disziplin umfaßt: die Psychologie. Die anderen sind ihr untergeordnet. Ich habe gesagt, daß die Menschen dieses Planeten die Welt als eine Folge geistiger Vorgänge außassen, die sich nicht im Raum, sondern nacheinander in der Zeit abspielen. Spinoza legt seiner unerschöpflichen Gottheit die Ausdehnung und das Denken als Attribute bei; kein Mensch in Tlön würde die Verschränkung des ersten Attributs (das lediglich für gewisse Zustände typisch ist) mit dem zweiten einsehen, das ein vollkommenes Synonym für den Kosmos ist. Mit anderen Worten gesagt: sie erfassen das Räumliehe nicht als in der Zeit fortdauernd. Die Wahrnehmung eines Rauchgewölks am Horizont und danach der brennenden Steppe und danach der halberloschenen Zigarre, die den Brand verursachte, wird als ein Beispiel von Gedankenassoziation gewertet. Dieser totale Monismus oder Idealismus setzt die Wissenschäft außer Kraft. Eine Tatsache erklären (oder beurteilen) heißt ja, sie mit anderen verbinden; diese Verknüpfung gilt auf Tlön als ein späterer Zustand des Subjekts, der den vorhergehenden Zustand weder beeinflussen noch erklären kann. Jeder geistige Zustand ist nicht reduzierbar: die bloße Tatsache, ihn zu benennen - id est zu klassifizieren -, bedeutet eine Verfälschung. Hieraus sollte man den Schluß ziehen, daß es auf Tlön keine Wissenschaft - ja nicht einmal Überlegungen gebe. In Wahrheit gibt es sie paradoxerweise, und zwar in nahezu unbegrenzter Zahl. Den Philosophien ergeht es genauso wie den Substantiven in der nördlichen Hemisphäre. Der Umstand, daß jede Philosophie von vornherein ein dialektisches Spiel, eine Philosophie des Als Ob ist, hat zu ihrer Vervielfältigung beigetragen. Es wimmelt von unglaublichen Systemen, deren Aufbau jedoch ansprechend oder aufsehenerregend ist. Die ΙΟΙ

Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: sie suchen das Erstaunen. Sie sind der Auffassung, daß die Metaphysik ein Zweig der phantastisehen Literatur sei. Sie wissen, daß ein System nichts anderes ist als die Unterordnung aller Aspekte des Universums unter irgendeinen von ihnen. Sogar die Bezeichnung »alle Aspekte« sei zu verwerfen, da sie die unmögliche Addition des gegenwärtigen Augenblicks und der vergangenen voraussetzt. Unzulässig sei aber auch der Plural »die vergangenen«, weil er einen anderen unmöglichen Denkschritt voraussetzt. . . Eine der Schulen von Tlön kommt zur Leugnung der Zeit: sie stellt die Überlegung an, daß die Gegenwart Undefiniert sei, daß die Zukunft nur als gegenwärtige Hoffnung Wirklichkeit habe, daß die Vergangenheit nur als gegenwärtige Erinnerung Wirklichkeit habe. * Eine andere Schule behauptet, daß bereits die ganze Zeit abgelaufen, und daß unser Leben nur die nachdämmernde Erinnerung oder der unzweifelhaft verfälschte und verstümmelte Widerschein eines unwiederbringlichen Vorganges sei. Eine andere, daß die Geschichte der Welt - und darin unser Leben und die geringfügigste Einzelheit unseres Lebens - die Schrift einer untergeordneten Gottheit sei, die sie verfertigt, um sich mit einem Dämonen zu verständigen. Eine andere, daß die Welt mit jenen Kryptogrammen zu vergleichen sei, in denen nicht alle Zeichen gültig sind, und daß Wahrheit nur das sei, was alle dreihundert Nächte geschieht. Eine andere, daß, während wir hier schlafen, wir woanders wachen, und daß so jeder Mensch zwei Menschen sei.

Unter den Lehren Tlöns hat keine so großen Anstoß erregt wie der Materialismus. Einige Denker haben ihn nicht so sehr klar als mit leidenschaftlichem Eifer so formuliert, wie man ein Paradoxon vorträgt. Um diese unbegreifliche These dem Ver* Russell (Tht Analysis af Mind, 1921, p. 159) setzt voraus, daß der Planet vor wenigen Minuten erschaffen wurde, ausgestattet mit einer Menschheit, die sich einer illusorischen Vergangenheit »erinnert«.

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ständnis näherzubringen, ersann im 11. Jahrhundert * ein Häresiarch das Sophisma von den neun Kupfermünzen, das ob seiner Anstößigkeit auf Tlön so berüchtigt ist wie bei uns die Aporien der Eleaten. Von dieser »spitzfindigen Beweisführung« gibt es viele Versionen, in denen die Zahl der Münzen und die Zahl der Funde Abwandlungen unterliegen; ich lasse hier die geläufigste folgen: »Am Dienstag überquert X einen menschenleeren Weg und verliert neun Kupfermünzen. Am Donnerstag findet Y auf dem Weg vier Münzen, die der Regen vom Mittwoch ein wenig geschwärzt hat. Am Freitag entdeckt Z drei Münzen auf dem Weg. Am Freitag morgen findet X zwei Münzen im Flur seines Hauses.« Der Häresiarch wollte aus dieser Geschichte die Realität - idest die Kontinuität - der neun wiedererlangten Kupfermünzen ableiten. »Es ist absurd, sich vorzustellen« (bekräftigte er), »daß vier der Münzen zwischen Dienstag und Donnerstag, drei zwischen Dienstag und Freitag nachmittag, zwei zwischen Dienstag und Freitag früh nicht existiert haben - sei es auch auf eine geheime, dem Begreifen des Menschen verschlossene Art in sämtlichen Augenblicken dieser drei Zeitspannen.« Die Sprache von Tlön widersetzte sich der Formulierung dieses Paradoxons; die meisten verstanden es überhaupt nicht. Die Verfechter des gesunden Menschenverstandes beschränkten sich anfangs darauf, der Anekdote jeden Wahrheitsgehalt abzusprechen. Sie hoben wiederholt hervor, es handle sich um eine sprachliche Täuschung, beruhend auf der tollkühnen Verwendung zweier durch den allgemeinen Gebrauch nicht autorisierter und jedem strengen Denken fernstehender Neologismen: der Verben »finden« und »verlieren«, die insofern eine petitio principii beinhalten, als sie die Identität der neun ersten und der neun letzten Münzen voraussetzen. Sie gaben zu bedenken, daß jedes Substantiv (Mensch, Münze, Donnerstag, * Im Rahmen des Duodezimalsystems bedeutet Jahrhundert eine Periode von einhundertvierundvierzig Jahren.

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Mittwoch, Regen) nur einen metaphorischen Wert hat. Sie wiesen auf den erschlichenen Nebenumstand hin: die der Regen vom Mittwoch ein wenig geschwärzt hatte, der voraussetzt, was erst bewiesen werden soll: die Andauer der Münzen zwischen dem Donnerstag und dem Dienstag. Sie erklärten, daß Gleichheit etwas anderes ist als Identität, und formulierten eine Art reductio ad absurdum an Hand eines hypothetischen Falles: neun Mensehen erleiden in neun aufeinanderfolgenden Nächten einen heftigen Schmerz. Wäre es nicht lächerlich zu behaupten, so fragten sie, daß dieser Schmerz ein und derselbe sei? * Sie sagten, den Häresiarchen habe lediglich das lästerliche Vorhaben getrieben, die göttliche Kategorie Sein ein paar Pfennigmünzen zuzusprechen; in gewissen Fällen leugnete er die Pluralität, in anderen nicht. Sie argumentierten, wenn Gleichheit soviel bedeute wie Identität, dann müsse man auch zugeben, daß die neun Münzen nur eine einzige seien. So unglaublich es klingen mag: mit diesen Widerlegungen hatte es nicht sein Bewenden. Hundert Jahre nach der Aufstellung des Problems formulierte ein brillanter Denker, der dem Häresiarchen nicht nachstand, aber der orthodoxen Tradition angehörte, eine überaus kühne Hypothese. Diese erleuchtende Spekulation behauptet, daß es ein einziges Subjekt gibt, daß dieses Subjekt unteilbar jede einzelne der Seinseinheiten des Universums ist, und daß diese die Organe und Masken der Gottheit sind. X ist Y und ist Z. Z entdeckt drei Münzen, weil er sich erinnert, daß sie X verloren gingen; X findet zwei im Flur, weil er sich erinnert, daß die übrigen wiedergefunden wurden . . . Der elfte Band gibt zu verstehen, daß drei Hauptgründe für den totalen Sieg dieses idealistischen Pantheismus * Heute stellt eine der Kirchen von Tlön die platonische Behauptung auf, daß ein gewisser Schmerz, ein gewisser grünlicher Anflug des Gelben, daß eine gewisse Temperatur, ein gewisser Ton die einzige Wirklichkeit sind. Alle Menschen sind im schwindelerregenden Augenblick des Koitus derselbe Mensch. Alle Menschen, die eine Zeile von Shakespeare memorieren, sind William Shake* speare.

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ausschlaggebend waren. Zum ersten die Zurückweisung des Solipsismus; zum zweiten die Möglichkeit, an der psychologisehen Grundlage der Wissenschaften festzuhalten; zum dritten die Möglichkeit, den Götterkult beizubehalten. Schopenhauer (der leidenschaftliche und geistesklare Schopenhauer) entwickelt eine ganz ähnliche Lehre im ersten Band von Parerga und Paralipomena. Die Geometrie umfaßt auf Tlön zwei voneinander abweichende Disziplinen: die Seh- und die Tastgeometrie. Die letztere entspricht der uns geläufigen, wird aber der ersten untergeordnet. Die Grundlage der Sehgeometrie ist die Oberfläche, nicht der Punkt. Diese Geometrie kennt nicht die Parallelen und«behauptet, daß der Mensch, der sich fortbewegt, die Formen seiner Umgebung verändere. Die Grundlage der Arithmetik istderBegrifTder Undefinierten Zahlen. Der Nachdruck ruht auf den VerhältnisbegrifTen »größer« und »kleiner«, die in unserer Mathematik mit > und mit < bezeichnet werden. Es wird behauptet, daß der Vorgang des Zählens die Mengen verändere und sie aus Undefinierten in definierte verwandele. Die Tatsache, daß mehrere Individuen, die eine gleich große Menge zählen, zum gleichen Ergebnis kommen, wird von den Psychologen als schlagendes Beispiel für Gedankenassoziation oder Gedächtnisschulung gewertet. Wir wissen ja, daß in Tlön das Subjekt des Erkennens eines und ewig ist. Auch in den literarischen Gebräuchen ist die Vorstellung von einem einzigen Subjekt allbeherrschend. Nur selten tragen Büeher den Namen des Verfassers. Den BegrifTdes Plagiats gibt es nicht: man geht von der festen Annahme aus, daß alle Werke das Werk eines einzigen Autors sind, der zeit- und namenlos ist. Die Kritik pflegt Autoren zu erfinden; sie greift zwei einander unähnliche Werke heraus - das Tao Te King etwa und die Märchen aus Tausendundeiner Nacht -, schreibt sie demselben Autor zu und bestimmt dann fein säuberlich die Psychologie dieses interessanten homme de lettres. Dennoch sind die Bücher unterschiedlich. Die schöngeistigen 105

umfassen ein einziges Thema in allen nur denkbaren Abwandlungen. Die philosophischen enthalten unfehlbar die These und die Antithese, das strenge Für und Wider einer Lehre. Ein Buch ohne Selbstwiderlegung gilt als unvollständig. Der Idealismus von Jahrhunderten und Abeijahrhunderten ist an der Wirklichkeit nicht spurlos vorbeigegangen. So ist in den ältesten Gebieten von Tlön die Verdoppelung verlorener Gegenstände nichts Seltenes. Zwei Personen suchen einen Bleistift; die erste findet ihn und sagt nichts; die zweite findet einen zweiten nicht minder wirklichen Bleistift, der jedoch ihrer ErWartung besser angepaßt ist. Diese Sekundärgegenstände heißen hrönir und sind, wenn auch anmutlos in der Form, um ein weniges größer. Bis vor kurzem waren die hrönir Zufallskinder der Zerstreutheit und der Vergeßlichkeit. Man sollte nicht glauben, daß ihre methodische Produktion nicht älter als knapp hundert Jahre ist, aber so steht es im elften Band. Die ersten Anstrengungen waren fruchtlos. Der modus operandi jedoch verdient, erwähnt zu werden. Der Direktor eines der Staatsgefängnisse teilte den Häfdingen mit, im ehemaligen Bett eines Flusses gäbe es gewisse Grabstätten, und versprach denen die Freiheit, die einen bedeutenden Fund herausholen würden. In den Monaten, die der Ausgrabung vorangingen, zeigte man ihnen fotografische Aufnahmen von dem, was sie finden würden. Dieser erste Versuch bewies, daß HofTnung und Gier sich hemmend auswirken können; eine Woche Arbeit mit Pickel und Spaten förderte kein anderes krön als ein verrostetes Rad zutage, das sich als späteren Datums erwies denn das Experiment. Dieses wurde geheimgehalten und danach in vier Studienanstalten wiederholt. In drei Fällen scheiterte es nahezu völlig; im vierten (der Leiter starb zufällig während der ersten Ausgrabungen) hoben - oder erzeugten - die Schüler eine Goldmaske, ein archaisches Schwert, zwei oder drei Tonkrüge und den grün angelaufenen und verstümmelten Torso eines Königs mit einer Inschrift auf der Brust, die bis heute der Entzifferung harrt. So kam man auf die Abträglichkeit von 06

Zeugen, die den experimentellen Charakter der Suche kennen . . . Die Massenforschungen bringen widerspruchsvolle Gegenstände hervor; heute bevorzugt man die individuellen und mehr improvisierten Arbeiten. Die methodische Züchtung von hrönir (sagt der elfte Band) hat den Archäologen kostbare Dienste geleistet. Sie hat die Befragung, ja die Veränderung der Vergangenheit ermöglicht, die heute nicht weniger bildsam und gefügig ist als die Zukunft. Ein seltsamer Umstand: die hrönir zweiten und dritten Grades - das heißt die hrönir, die von einem anderen hrön, sowie die hrönir, die vom krön eines krön abgeleitet sind - zeigen die Abweichungen von dem ursprüngliehen in übertriebener Form; die hrönir fünften Grades sind nahezu einförmig; die des neunten vermischen sich mit denen zweiten Grades, bei denen vom elften Grad kommt es zu einer Reinheit der Linien, wie sie die Originale nicht besitzen. Der Vorgang ist periodisch: beim hrön zwölften Grades setzt bereits der Verfall ein. Merkwürdiger und reiner als das hrön ist manchmal das ur. das durch Suggestion erzeugte Ding, der von HofTnung herangebildete Gegenstand. Die große Goldmaske, von der ich gesprochen habe, ist ein berühmtes Beispiel. Auf Tlön verdoppeln sich die Dinge; sie neigen ebenfalls dazu, undeutlich zu werden und die Einzelheiten einzubüßen, wenn die Leute sie vergessen. Ein klassisches Beispiel ist jene Türschwelle, die andauerte, solange ein Bettler sie besuchte, und die bei seinem Tode den Blicken entschwand. Zuweilen haben ein paar Vögel oder ein Pferd die Ruinen eines Amphitheaters gerettet. Salto Oriental, 1940.

Nachschüft von 1947. Ich gebe den vorstehenden Artikel genau so wieder, wie er 1940 in der Antologia de la literatura fantdstica erschien, lediglich mit Streichung einiger Metaphern und einer Art Schlußbetrachtung in spaßhaftem Ton, die heute frivol wirkt. Seit jenem Datum sind so viele Dinge geschehen. Ich will mich damit begnügen, an sie zu erinnern.

Im März 1941 wurde in einem Buch von Hinton aus dem Besitz Herbert Ashes ein handschriftlicher Brief von Gunnar Erfjord entdeckt. Der Umschlag trug den Poststempel von Ouro Preto; der Brief klärte das Rätsel von Tlön völlig auf. Der Text bestätigt die Hypothesen von Martinez Estrada. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts, während einer Nacht in Luzern oder London, hub die glanzvolle Geschichte an. Eine geheime und wohlmeinende Gesellschaft (zu deren Mitgliedern Dalgarno und später George Berkeley zählten) trat zusammen, um ein Land zu erfinden. In dem vagen Anfangsprogramm waren die »hermetischen Studien«, die Philanthropie und die Kabbala vertreten. Aus dieser ersten Epoche stammt das merkwürdige Buch von Andreä. Nach einigen Jahren, die mit Beratungen und vorschnellen Zusammenfassungen hingingen, sah man ein, daß eine Generation fiir die gegliederte Erfindung eines Landes nicht ausreichte. Man faßte den Beschluß: die in ihr vertretenen Meister sollten jeder zur Fortführung des Werkes einen Schüler bestimmen. Diese Erbregelung setzte sich durch, nach einer Unterbrechung von zwei Jahrhunderten taucht die verfolgte Bruderschaft in Amerika wieder auf. Um 1824 hat in Memphis (Tennessee) einer der Bundesbrüder eine Unterredüng mit dem asketischen Millionär Ezra Buckley. Dieser läßt den Bittsteller fast geringschätzig ausreden - und macht sich lustig über die Bescheidenheit des Plans. Er sagt ihm, in Amerika sei es absurd, ein Land erfinden zu wollen, und schlägt ihm die Erfindung eines Planeten vor. Dieser gigantischen Idee fugt er eine weitere hinzu, die seinem Nihilismus entspringt *: Geheimhaltung des ungeheuren Unternehmens. Zu der Zeit waren die 20 Bände der Encyclopaedia Britannica im Umlauf: Buckley rät zu einer methodischen Enzyklopädie des illusorisehen Planeten. Er wird den Geheimbrüdem seine goldhaltigen Bergzüge, die schiffbaren Flüsse, die von Stier und Bison bevölkerten Weideflächen, die Neger, die Bordelle und die Dollars * Buckley war Freidenker, Fatalist und Befürworter der Sklaverei.

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unter der einen Bedingung überlassen: »Das Werk soll kein Bündnis mit dem Scharlatan Jesus Christus eingehen.« Buckley glaubt nicht an Gott, will aber dem nichtexistierenden Gott beweisen, daß die Sterblichen Fähig sind, eine Welt auszuhecken. Buckley wird im Jahre 1828 in Baton Rouge vergiftet; im Jahre 1g14 überreicht die Gesellschaft ihren Mitarbeitern, deren Zahl sich auf dreihundert beläuft, den Schlußband der Ersten Enzyklopädie von Tlön. Die Ausgabe ist geheim; die vierzig Bände, die sie umfaßt (das gewaltigste Unternehmen, das Menschen je in Angriff genommen haben), waren als Grundlage für eine andere, mehr ins einzelne gehende gedacht, die nicht mehr in Englisch, sondern in einer der Sprachen von Tlön abgefaßt sein sollte. Diese Überarbeitung einer illusorisehen Welt nennt sich provisorisch Orbis Tertius, und einer ihrer bescheidenen Demiurgen war Herbert Ashe, ich weiß nicht, ob im Auftrag von Gunnar Erfjord oder als Bundesbruder. Daß er Empfänger eines Exemplars war, spricht für die zweite Annähme. Aber wer waren die anderen? Um das Jahr 1942 häuften sich die Tatsachen. An eine der ersten erinnere ich mich mit besonderer Deutlichkeit, und ich meine, daß ich sie wie eine Vorbotschaft empfand. Der Vorfall spielte sich in einem Appartement in der Calle Laprida ab, im Angesicht eines lichten hohen Balkons, der nach Sonnenuntergang sah. Die Prinzessin von Faucigny Lucinge hatte ihr Silbergeschirr aus Poitiers erhalten. Aus der Tiefe einer mit internationalen Siegeln kreuz und quer übersäten Kiste tauchten nacheinander feine unbewegliche Dinge auf, unter ihnen: Utrechter und Pariser Silbergeschirr mit hartgetriebener heraldischer Tierwelt, ein Samowar; unter ihnen spielte - mit dem merklichen und zarten Vibrieren eines schlafenden Vogels - geheimnisvoll ein Kompaß. Die Fürstin kannte ihn nicht. Die blaue Nadel strebte dem magnetischen Pol zu, die metallene Fassung war konkav; die Buchstaben auf dem Zifferblatt entsprachen einem der Alphabete von Tlön. Hier brach die phantastische Welt zum erstenmal in die reale Welt ein. Ein Zufall, der mich beunruhigt, «9

wollte es so, daß ich ebenfalls Zeuge des zweiten Einbruchs wurde. Er ereignete sich ein paar Monate später in der Schankwirtschaft eines Brasilianers, in der Cuchilla Negra. Amorim8 und ich kamen von Sant’Anna zurück. Da der Fluß Tacuarembo Hochwasser führte, sahen wir uns gezwungen, diese unterentwickelte Gastlichkeit zu erproben (und auf uns zu nehmen). Der Wirt schlug für uns in einem großen Raum, der mit Fässern und Schläuchen vollgestopft war, ein paar knarrende Bettstellen auf. Wir legten uns hin, aber der Rausch eines unsichtbaren Nebenbewohners, der unentwirrbare Fluchworte mit Milongas - oder Fetzen einer einzigen Milonga - versetzte, brachte uns bis in die Morgenstunden um den Schlaf. Begreiflicherweise schrieben wir dem feurigen Zuckerrohrschnaps des Wirts dieses hartnäckige Gebrüll zu . . . Am Morgen lag der Mann tot im Hausflur. Die Rauheit seiner Stimme hatte uns getäuscht: es war ein junger Bursche. Im Delirium waren ihm ein paar Münzen aus dem Bauchgurt gefallen, sowie ein blitzender Metallkegel vom Durchmesser eines Würfels. Vergebens mühte sich ein kleiner Junge, diesen Kegel aufzuheben. Ein Mann brachte es nur zur Not fertig, ihn in die Höhe zu stemmen. Ich hielt ihn einige Minuten lang auf der flachen Hand: ich erinnere mich, daß sein Gewicht unerträglich war und daß, nachdem ich den Kegel fortgenommen hatte, der Druck anhielt. Auch erinnere ich mich an den scharfgezogenen Kreis, den er mir ins Fleisch schnitt. Diese Wahrnehmung eines sehr kleinen, aber gleichzeitig ungeheuer schweren Gegenstandes hinterließ einen unangenehmen Eindruck von Ekel und Furcht. Ein Bauer schlug vor, man sollte ihn in den reißenden Fluß werfen. Amorim erwarb ihn ftir ein paar Pesos. Niemand wußte etwas von dem Toten, außer daß er »von der Grenze« kam. Diese kleinen überschweren Kegel (gemacht aus einem Metall, das nicht von dieser Welt ist) sind in gewissen Religionen von Tlön ein Abbild der Göttlichkeit. Hiermit schließe ich den persönlichen Teil meiner Erzählung ab. Alles andere hat Bestand im Gedächtnis (wenn nicht in der

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Hoffnung oder der Furcht) aller meiner Leser. Es mag genügen, wenn ich die nachfolgenden Ereignisse ins Gedächtnis zurückrufe oder erwähne, indem ich mich lediglich in Worten kurz fasse, die der Wölbungsraum allgemeiner Erinnerung bereiehern oder erweitern mag. Gegen 1944 exhumierte ein Forscher der Zeitung The American (aus Nashville, Tennessee) in einer Bibliothek von Memphis die vierzig Bände der Ersten Enzyklopädie von Tlön. Bis auf den heutigen Tag wird darüber gestritten, ob diese Entdeckung zufällig war, oder ob sie die Direktoren des immer noch nebelhaften Orbis Tertius zuließen. Die Wahrscheinlichkeit spricht iur die zweite Annahme. Ein paar unglaubhafte Einzelheiten im Elften Band (so die Vervielfaltigung der hrönir) sind in dem Exemplar von Memphis ausgeschieden oder abgeschwächt; der Schluß drängt sich auf, daß diese Tilgungen die Absicht verfolgen, eine Welt darzustellen, die mit der realen nicht allzu unvereinbar sein soll. Die AusStreuung von Tlön-Objekten in verschiedenen Ländern sollte diesen Plan ergänzen. * Tatsache ist, daß die internationale Presse kein Ende fand, den »Fund« auszuposaunen. Handbücher, Anthologien, Kurzfassungen, wortgetreue Abdrucke, autorisierte Neudrucke und Raubdrucke des Größten Werkes der Menschheit überfluteten und überfluten noch immer die Erde. Fast im selben Augenblick gab die Wirklichkeit in mehr als einem Punkt nach, und zwar gelüstete es sie, nachzugeben. Noch vor zehn Jahren reichte jede den Anschein von Ordnung erweckende Symmetrie - der dialektische Materialismus, der Antisemitismus, der Nazismus - völlig aus, die Menschen zu betören. Wie sollte man sich nicht Tlön unterwerfen, der minuziösen und umfassenden Ersichtlichkeit eines geordneten Planeten? Überflüssig zu erwidem, daß auch die Wirklichkeit geordnet ist. Mag sein, daß sie es ist, aber in Übereinstimmung mit göttlichen Gesetzen - ich übersetze: mit unmenschlichen Gesetzen -, die wir niemals * Wobei das Problem der Materie einiger Gegenstände natürlich bestehen bleibt.

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ganz begreifen werden. Tlön mag ein Labyrinth sein, doch ist es ein von Menschen entworfenes Labyrinth, ein Labyrinth, dessen Sinn es ist, von Menschen enträtselt zu werden. Die Berührung und der Umgang mit Tlön haben diese unsere Welt aufgelöst. Bezaubert von seiner strengen Gesetzmäßigkeit vergißt die Menschheit ein ums andere Mal, daß es eine Gesetzmäßigkeit von Schachspielern, nicht von Engeln ist. Schon ist das (erschlossene )»Uridiom« von Tlön in die Schulen eingedrungen; schon hat seine harmonische Geschichte (die so voll ist von bewegenden Episoden) die in meiner Jugend herrsehende ausgelöscht; schon nimmt in den Memoiren eine fiktive Vergangenheit die Stelle einer anderen ein, von der wir nichts mit Sicherheit wissen - nicht einmal, daß sie falsch ist. Man hat die Numismatik, die Arzneikunde, die Archäologie reformiert. Ich halte für ausgemacht, daß die Biologie und die Mathematik ebenfalls ihrer erneuerten Gestalt harren . . . Eine über die Welt verstreute Dynastie von Einsiedlern hat die Erdoberfläche umgewandelt. Ihre Aufgabe geht weiter. Wenn unsere Prognosen nicht irren, wird in hundert Jahren jemand die hundert Bände der Zweiten Enzyklopädie von Tlön entdecken. Englisch, Französisch und sogar Spanisch werden dann vom Planeten verschwunden sein. Die Welt wird Tlön sein. Mich kümmert das nicht, ich feile in der stillen Muße des Landhauses Adrogue weiter fort an einer tastenden, an Quevedo9 geschulten Übertragung des Um Burial von Browne10 (die ich nicht drucken zu lassen gedenke).

Pierre Menard, Autor des Quijote Für Silvina Ocampo

Das sichtbare Werk, das dieser Romancier hinterlassen hat, läßt sich leicht und in Kürze aufzählen. Um so unverzeihlicher sind die von Madame Henri Bachelier in einem fehlerhaften Werk­

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Verzeichnis begangenen Auslassungen und Zusätze, einem Verzeichnis, das ein gewisses Blatt, dessen protestantische Tendenz kein Geheimnis ist, seinen beklagenswerten Lesern zuzufugen rücksichtslos genug war, wenn diese auch gering an Zahl sowie Calvinisten, falls nicht gar Freimaurer und Beschnittene sein mögen. Die echten Freunde Pierre Menards haben dieses Werk Verzeichnis mit Bestürzung und sogar einer gewissen Wehmut zur Kenntnis genommen. Man könnte sagen, daß wir uns erst gestern vor dem marmornen Schlußstein unter den unseligen Zypressen versammelten, und allbereits trachtet der Irrtum sein Andenken zu trüben . . . Eine knappe Richtigsteilung ist entschieden unumgänglich. Ich bin mir bewußt, daß es leicht ist, meine ärmliche Autorität zu verwerfen. Gleichwohl holTe ich, daß es mir nicht verwehrt sei, zwei hochstehende Zeugnisse anzuführen. Die Baronesse de Bacourt (bei deren unvergeßlichen »vendredis« den betrauerten Dichter kennenzulernen ich die Ehre hatte) hielt es für ziemlich, den folgenden Zeilen ihre Billigung zukommen zu lassen. Die Comtessa di Bagnoregio, einer der feinstsinnigen Geister des Fürstentums Monaco (heute aber in Pittsburgh, Pennsylvania, nach ihrer kürzlich erfolgten Vermählung mit dem internationalen Philanthropen Simon Kautzsch, dem von den Opfern seiner selbstlosen Manöver ach so Verleumdeten), hat »der Wahrhaftigkeit und dem Tod« (so lauten ihre Worte) die adlige Zurückhaltung, die sie auszeichnet, aufgeopfert und mich in einem offenen, in der Zeitschrift Luxe erschienenen Brief gleichfalls ihrer Zustimmung versichert. Diese Ausführungsermächtigungen sind, glaube ich, nicht unzureichend. Ich sagte, das sichtbare Werk Menards sei leicht aufzählbar. Nach geflissentlicher Überprüfung seines Privatarchivs habe ich festgestellt, daß es aus den im folgenden aufgezählten Stücken besteht: a) Ein symbolistisches Sonett, das zweimal (mit Variationen) in der Zeitschrift La Conque (März und Oktober 1899) erschien. >13

b) Eine Monographie über die Möglichkeit, ein poetisches Vokabular aufzustellen, dessen Begriffe nicht Synonyme oder Umschreibungen der in der gewöhnlichen Sprache verwendeten Begriffe sein sollten, »vielmehr von einer Konvention erschaffene und hauptsächlich für dichterische Bedürfnisse bestimmte Idealgegenstände« (Nimes, 1901). c) Eine Monographie über »gewisse Konnexionen oder Affinitäten« im Denken von Descartes, Leibniz und John Wilkins (Nimes, 1903). d) Eine Monographie über die Characteristica Universalis von Leibniz (Nimes, 1904). e) Ein technischer Artikel über die Möglichkeit, das Schachspiel durch Abschaffung eines der Turmbauern zu bereichern. Menard schlägt diese Neuerung vor, empfiehlt sie, erörtert sie, um sie schließlich zu verwerfen. f) Eine Monographie über die Ars Magna Generalis des Raimundus Lullus (Nimes, 1906). g) Eine Übersetzung mit Vorwort und Anmerkungen des Libro de la invenciön liberaly arte deljuego del axedrez von Ruy Lopez de Segura1 (Paris, 1907). h) Die Skizzenblätter einer Monographie über die symbolisehe Logik von George Boole. i) Eine Untersuchung der metrischen Gesetze der französisehen Prosa, erläutert an Beispielen von Saint-Simon (Revue des langues romanes, Montpellier, Oktober 1909). j) Eine Erwiderung an Luc Durtain (der das Vorhandensein derartiger Gesetze geleugnet hatte), erläutert an Beispielen von Luc Durtain (Revue des langues romanes, Montpellier, Dezember ’909)· k) Eine handschriftliche Übersetzung der Aguja de navegar cultos von Quevedo2, betitelt La boussole des precieux. l) Ein Vorwort zu dem Katalog einer Ausstellung von Lithographien von Carolus Hourcade (Nimes, 1914). m) Das Werk Lesproblemes 5°

Eine Lästerersekte schlug vor, man solle die Suche einstellen, alle Menschen sollten Buchstaben und Zeichen so lange durcheinander würfeln, bis sie auf Grund eines unwahrscheinlichen Zufalls diese kanonischen Bücher zusammenbrächten. Die Behörden sahen sich gezwungen, strenge Anordnungen zu erlassen. Die Sekte verschwand, aber in meiner Kindheit sah ich alte Männer, die lange auf dem Abtritt verweilten, mit ein paar Metallscheiben in einem verbotenen Würfelbecher, kraftlos bemüht, die göttliche Unordnung nachzuahmen. Andere waren umgekehrt der Meinung, zuallererst müßten die überflüssigen Bücher ausgemerzt werden. Sie brachen in die Sechsecke ein, zeigten nicht immer falsche Beglaubigungsschreiben vor, blätterten verdrossen in einem Band und verdämmten ganze Regale. Ihr hygienischer Asketeneifer trägt die Schuld daran, daß Millionen Bücher sinnlos vernichtet wurden. Heute sind ihre Namen ein Greuel; wer aber die Thesauri beklagt, die ihrer Wut zum Opfer fielen, übersieht zwei allbekannte Tatsachen. Die eine: die Bibliothek ist so gewaltig an Umfang, daß jede Schmälerung durch Menschenhand verschwindend gering ist. Die andere: jedes Exemplar ist zwar einzig, unersetzlich, aber da die Bibliothek total ist, gibt es immer einige Hunderttausende unvollkommener Faksimiles: Werke, die nur in einem Buchstaben oder Komma voneinander abweichen. Entgegen der allgemeinen Anschauung wage ich die Vermutung, daß die Folgen der von diesen Säuberem verübten Plünderungen wegen des Entsetzens über diese Fanatiker zu hoch eingeschätzt worden sind. Sie waren von dem Wahn getrieben, die Bücher des Scharlachroten Sechsecks zu erobern: Bücher kleineren Formats als die natürlichen; allmächtig, erlaucht und magisch. Auch wissen wir von einem anderen Aberglauben jener Zeit: dem an den Mann des Buches. In irgendeinem Regal irgendeines Sechsecks (so dachten die Menschen) muß es ein Buch geben, das Inbegriff und Auszug aller ist: ein Bibliothekar hat es geprüft und ist Gott gleich. In der Sprache dieser Zone haben 15 1

sich noch Spuren des jenem zeitentfernten Beamten geweihten Kults erhalten. Viele begaben sich auf Pilgerschaft nach Ihm. Ein Jahrhundert lang schlugen sie umsonst die verschiedensten Richtungen ein. Wie sollte man auch das verehrte GeheimSechseck orten, das ihn beherbergte? Jemand schlug eine regressive Methode vor: um das Buch A zu lokalisieren, muß man zuvor ein Buch B heranziehen, das den Ort von A angibt; um das Buch B zu lokalisieren, muß man zuvor ein Buch C konsulderen, und so ins Unendliche . . . Mit dergleichen Abenteuern habe ich meine Jahre verschleudert und verzehrt. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß es in irgendeinem Regal des Universums ein totales Buch gibt , * ich flehe zu den unerkannten Göttern, es möge einen Menschen geben - einen einzigen, und habe er vor tausend Jahren gelebt -, der es untersucht und gelesen hat. Wenn Ehre, Weisheit und Glück nicht für mich sind, mögen sie es für andere sein. Möge der Himmel exisüeren, auch wenn mein Ort die Hölle ist. Mag ich beschimpft und zunichte werden, aber möge in einem Augenblick, in einem Sein Deine ungeheure Bibliothek ihre Rechtfertigung finden. Die Ruchlosen behaupten, daß in der Bibliothek die Sinnlosigkeit normal ist, und daß das Vernunftgemäße (ja selbst das schlecht und recht Zusammenhängende) eine fast wundersame Ausnahme bildet. Sie sprechen (ich weiß es) von der »fiebernden Bibliothek, deren Zufallsbände ständig in Gefahr schweben, sich in andere zu verwandeln, und die alles behaupten, leugnen und durcheinanderwerfen wie eine delirierende Gottheit«. Diese Worte, die nicht nur die Unordnung denunzieren, sondern sie mit einem Beispiel belegen, liefern einen offenkundigen Beweis des verwerflichen Geschmacks der Urheber und

* Ich wiederhole: die bloße Möglichkeit eines Buches ist hinreichend für sein Dasein. Nur das Unmögliche ist ausgeschlossen. Zum Beispiel: kein Buch ist zugleich eine Treppe, obwohl es bestimmt Bücher gibt, die diese Möglichkeit erörtern, leugnen oder beweisen, und andere, deren Struktur der einer Treppe entspricht.

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ihrer verzweifelten Unwissenheit. In der Tat birgt die Bibliothek alle Wortstrukturen, alle im Rahmen der fünfundzwanzig orthographischen Symbole möglichen Variationen, aber nicht einen absoluten Unsinn. Es erübrigt sich zu bemerken, daß der beste Band der vielen Sechsecke, die ich verwalte, Gekämmter Donner betitelt ist, und ein anderer Gipskrampf und wieder ein anderer Axaxaxas Mio. Diese auf den ersten Blick unzusammenhängenden Wortfügungen entbehren gewiß nicht einer kryptographischen oder allegorischen Rechtfertigung; diese Rechtfertigung verbaler Art figuriert - ex hypothesi - bereits in der Bibliothek. Ich kann nicht etliche Schriftzeichen kombinieren dhcmrlcht d j,

die die göttliche Bibliothek nicht bereits vorausgesehen hätte, und die nicht in irgendeiner ihrer Geheimsprachen einen furchtbaren Sinn borgen. Niemand vermag eine Silbe zu artikulieren, die nicht voller Zärtlichkeit und Schauer ist, die nicht in irgendeiner dieser Sprachen der gewaltige Name eines Gottes wäre. Sprechen heißt: in Tautologien verfallen. Diese überflüssige und wortreiche Epistel existiert bereits in einem der dreißig Bände der fünf Regale eines der unzähligen Sechsecke - und auch ihre Widerlegung. (Eine Zahl n möglicher Sprachen verwendet den gleichen Wortschatz; in einigen erlaubt das Symbol Bibliothek die korrekte Definition überall vorhandenes und fortdauemdes System sechseckiger Galerien, aber Bibliothek ist Brot oder Pyramide oder irgend etwas anderes, und die sieben Wörter, die sie definieren, haben einen anderen Bedeutungswert. Bist du, (Leser, denn sicher, daß du meine Sprache verstehst?) Die methodische Schrift lenkt mich von der gegenwärtigen Verfassung der Menschen ab. Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen. Ich kenne Bezirke, in denen die Jungen sich vor den Büchern niederwerfen und in barbarischer Weise die Seiten küssen, aber nicht einen Buchstaben zu entziffern wissen. Die Epidemien, '53

die ketzerischen Zwistigkeiten, die Pilgerzüge, die unvermeidlieh in Banditentum ausarten, haben die Bevölkerung dezimiert. Ich glaube, ich sprach schon von den Selbstmorden, die jedes Jahr häufiger werden. Vielleicht trügen mich Alter und Ängstlichkeit, aber ich vermute, daß die Gattung Mensch - die einzige, die es gibt - im Aussterben begriffen ist, und daß die Bibliothek Fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim. Ich schrieb: unendlich. Nicht aus rhetorischer Gewohnheit ist mir dieses Adjektiv in die Feder geflossen; ich sage, es ist nicht unlogisch zu denken, daß die Welt unendlich ist. Wer sie für begrenzt hält, postuliert, daß an weit entfernten Orten die Gänge und Treppen und Sechsecke auf unfaßliche Art aufhören - was absurd ist. Wer sie für unbegrenzt hält, der vergißt, daß die mögliche Zahl der Bücher Grenzen setzt. Ich bin so kühn, die folgende Lösung des alten Problems zu bedenken zu geben: Die Bibliothek ist unbegrenzt und zyklisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmäße, so würde er nach Jahrhunderten feststellen, daß dieselben Bände in derselben Unordnung wiederkehren (die, wiederholt, eine Ordnung wäre: Die Ordnung). Meine Einsamkeit erfreut sich dieser eleganten-Hoffnung. * Mar del Plata, 194t.

* Letizia Alvarez de Toledo hat angemerkt, daß die ungeheure Bibliothek überflüssig ist; strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestünde. (Cavalieri sagte zu Anfang des 17. Jahrhunderts, daß jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Flächen ist.) Die Handhabung eines derart seidendünnen Vademecums wäre nicht leicht; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete zweiteilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.

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Der Garten der Pfade, die sich verzweigen Für Victoria Ocampo Auf Seite 242 der History of World War l von Liddell Hart steht zu lesen, daß eine Offensive von dreizehn britischen Divisionen (unterstützt von 1400 Artilleriegeschützen) gegen die Frontlinie Serre-Montauban für den 24. Juli 1916 angesetzt war, jedoch bis zum Morgen des 2g. verschoben werden mußte. Sintflutartige Regenlalle (vermerkt Captain Liddell Hart) veranlaßten diesen Aufschub - also nichts eigentlich Bedeutendes. Die nachfolgende, von Doktor Yu Tsun, ehemals Dozent für Englisch an der Hochschule von Tsingtau, diktierte, durchgesehene und unterzeichnete Erklärung wirft ein unvermutetes Licht auf den Fall. Die ersten zwei Seiten fehlen. . . . legte ich den Hörer auf. Unmittelbar darauf erkannte ich die Stimme, die auf Deutsch geantwortet hatte. Es war die Stimme von Captain Richard Madden. Madden in Viktor Runebergs Wohnung: das bedeutete das Ende unserer Anstrengungen und - aber das erst ganz in zweiter Linie, wie es mir jedenfalls hätte vorkommen sollen - auch unserer Leben. Es hieß, daß Runeberg verhaftet und ermordet worden sei. * Noch vor Sonnenuntergang würde mit mir dasselbe geschehen. Madden war unversöhnlich. Besser: er mußte unversöhnlich sein. Als Ire unter der Befehlsgewalt Englands, als ein Mann, den man der Lauheit, am Ende gar des Verrats zieh, wie sollte er nicht diese herrliche Gelegenheit ergreifen und dankbar begrüßen: die Entdeckung, die Gefangennahme, vielleicht den Tod zweier Agenten des Deutschen Reichs? Ich ging in mein Zimmer hinauf. Sinnlos sperrte ich die Tür mit dem Schlüssel ab * Eine gehässige und überspannte Vermutung. Der preußische Spion Hans Rabener alias Viktor Runeberg griffden Überbringer des Haftbefehls, Haupt* mann Richard Madden, mit einer Schnellfeuerpistole an. Dieser brachte ihm, in Notwehr handelnd, Verwundungen bei, die zum Tode führten. (Anm. d. Herausg.)

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und warf mich rücklings auf das schmale Eisenbett. Hinter den Scheiben waren die immergleichen Ziegeldächer und die dunstverhangene Sonne des Spätnachmittags. Es erschien mir unglaubhaft, daß dieser Tag ohne Vorahnungen und Vorzeichen unwiderruflich mein Todestag sein sollte. Obwohl mein Vater gestorben war, obwohl ich in einem symmetrischen Garten von Hai Feng Kind gewesen war, sollte ich heute sterben? Dann bedachte ich, daß alles, was uns geschieht, uns im heutigen Augenblick geschieht; Jahrhunderte um Jahrhunderte, und doch geschieht alles in der Gegenwart. Zahllose Menschen in der Luft, am Boden und auf See, und doch geschieht alles, was wirklich geschieht, mir . . . Die beinahe unerträgliche Erinnerung an Maddens Pferdegesicht verdrängte diese Abschweifungen. Inmitten meines Hasses und meiner Furcht (jetzt macht es mir nichts mehr aus, von Furcht zu sprechen: jetzt, da ich Richard Madden übertölpelt habe, jetzt, da meine Kehle nach dem Strang lechzt) überlegte ich, daß dieser ungestüme und sicher glückliche Krieger nicht ahnte, daß ich das Geheimnis kannte: den genauen Namen der Stellung des neuen britisehen Artillerieparks am Ancre. Ein Vogel streifte den grauen Himmel, und ich machte blindlings ein Flugzeug aus ihm und aus dem einen viele (am französischen Himmel), die mit senkrechten Bomben den Artilleriepark vernichteten. Wenn doch mein Mund, ehe eine Kugel mich auslöschte, den Namen so laut schreien könnte, daß sie ihn in Deutschland hörten . . . Meine menschliche Stimme war kläglich. Wie sollte ich sie ans Ohr des Chefs gelangen lassen? Ans Ohr jenes kranken und verhaßten Mannes, der von Runeberg und mir nichts wußte, außer daß wir uns in Staffordshire aufhielten, und der in seinem kahlen Berliner Büro auf unsere Informationen wartete und endlos Zeitungen untersuchte . . . Ich sagte laut: Ich mußfliehen. Ich richtete mich geräuschlos auf, überflüssigerweise um völlige Lautlosigkeit bemüht, als läge Madden bereits auf der Lauer. Etwas - vielleicht nur um mir augenfällig zu beweisen, daß meine Hilfsmittel gleich Null waren - ließ mich in meinen

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Taschen Nachschau halten. Ich fand, was ich zu finden erwartete. Die amerikanische Uhr, die Nickelkette und die viereckige Münze, den Schlüsselbund mit den verräterischen nutzlosen Schlüsseln zu Runebergs Büro, die Brieftasche, einen Brief, den ich auf der Stelle zu vernichten beschloß (und dann doch nicht vernichtete), den falschen Paß, eine Krone, zwei Schillinge und ein paar Pennies, den Rot- und Blaustift, das Taschentuch, den Revolver mit einer Patrone. Unsinnigerweise nahm ich ihn und wog ihn in der Hand, um mir Mut zu machen. Der Gedanke, daß ein Pistolenschuß sehr weit zu hören sei, streifte mich. Innerhalb von zehn Minuten war mein Plan fertig. Im Telefonbuch fand ich den Namen der einzigen Person, die die Nachricht weitergeben konnte. Die Person wohnte in einer Vorstadt von Fenton, weniger als eine halbe Stunde Bahnfahrt von hier. Ich bin ein feiger Mensch. Jetzt sage ich es, jetzt, nachdem ich einen Plan durchgeführt habe, den nicht riskant zu nennen keinem einfallen wird. Ich weiß, daß seine Durchführung furchtbar war. Ich tat es nicht für Deutschland, nein. Was liegt mir an einem barbarischen Land, das mir die Schmach aufgezwungen hat, Spion zu sein? Zudem kenne ich einen Mann in England - einen unauffälligen Mann -, der in meinen Augen nicht geringer ist als Goethe. Ich sprach mit ihm nicht länger als eine Stunde, aber während dieser Stunde war er Goethe . . . Ich tat es, weil ich spürte, daß der Chef meine Rassegefährten ein wenig fürchtete, die zahllosen Vorfahren, die in mir zusammenfließen. Ich wollte ihm beweisen, daß ein Gelber seine Armeen zu retten vermochte. Außerdem mußte ich vor dem Captain fliehen. Seine Hände und seine Stimme konnten jeden Augenblick an meine Türe pochen. Ich zog mich geräuschlos an, sagte mir im Spiegel Lebewohl, ging hinunter, spähte die stille Straße entlang und trat hinaus. Der Bahnhof war nicht weit vom Haus; dennoch zog ich es vor, ein Taxi zu nehmen. Ich redete mir ein, so liefe ich weniger Gefahr, erkannt zu werden; tatsächlich fühlte ich mich auf der leeren Straße unendlich sichtbar und verwundbar. Ich weiß noch, daß ich zu dem Chauffeur sagte, er >57

solle ein Stückchen vor dem Haupteingang anhalten. Absichtlieh zögernd und fast mühsam stieg ich aus. Mein Ziel war das Dorf Ashgrove, doch löste ich ein Billett für eine weiter entfernte Station. Der Zug fuhr binnen weniger Minuten ab, um acht Uhr fünfzig. Ich beeilte mich; der nächste würde erst um neun Uhr dreißig abgehen. Auf dem Bahnsteig war so gut wie niemand. Ich ging die Waggons entlang; ein paar Bauern sind mir noch im Gedächtnis, eine Frau in Trauer, ein junger Mann, der eifrig die Annalen von Tacitus las, ein verwundeter und glücklicher Soldat. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Ein Mann, den ich erkannte, lief vergeblich bis ans Ende des Bahnsteigs. Es war Captain Richard Madden. Vernichtet und zitternd drückte ich mich in die entgegengesetzte Ecke des Sitzes, weitab von der gefürchteten Scheibe. Diese Vernichtung wich einem fast schmählichen Glücksgefühl. Ich sagte mir, mein Zweikampf sei bereits im Gange und ich hätte den ersten Ausfall gewonnen, indem ich, wenn auch nur für vierzig Minuten, wenn auch nur durch einen glücklichen Zufall, den AngrifT meines Gegners überlistet hatte. Ich redete mir ein, daß dieser winzige Sieg den Endsieg vorwegnahm. Ich redete mir ein, es sei kein so winziger Sieg, da ich ohne diesen kostbaren Aufschub, den mir der Fahrplan bescherte, im Gefängnis oder schon tot wäre. Ich redete mir (nicht minder spitzfindig) ein, mein feiges Glücksgefühl beweise, daß ich Manns genug sei, das Abenteuer zum guten Ende zu führen. Aus dieser Schwäche zog ich Kräfte, die mich nicht mehr verließen. Ich sehe voraus, daß sich der Mensch täglich zu immer grausameren Taten bereitfinden wird; nicht lange, und es wird nur noch Krieger und Räuber geben; ihnen erteile ich den Rat: Wer ein schreckliches Unternehmen ausführt, muß sich vorstellen, daß er es bereits vollbracht hat; er muß sich eine Zukunft aufzwingen, die so unwiderruflich ist wie die Vergangenheit. So verfuhr ich, während meine Augen eines bereits Toten das Dahinfließen dieses Tages, der vielleicht der letzte war, und die Ausbreitung der Nacht in sich aufnahmen. Der Zug rollte gemächlich zwischen

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Eschen dahin. Er hielt an, fast auf dem freien Feld. Niemand rief den Namen der Station aus. Ashgrove? fragte ich ein paar Jungen auf dem Bahnsteig. Ashgrove, antworteten sie. Ich stieg aus. Eine Lampe erhellte den Bahnsteig, aber die Gesichter der Jungen blieben in der Schattenzone. Einer fragte mich: »Wollen Sie zu Doktor Stephen Albert?« Ohne die Antwort abzuwarten, sagte ein anderer: »Das Haus ist weit von hier, aber Sie können sich nicht verirren, wenn Sie den Weg hier links nehmen und an jeder Kreuzung links abbiegen.« Ich warfihm eine Münze (die letzte) zu, ging ein paar steinerne Stufen hinunter und machte mich auf den einsamen Weg. Er führte sachte bergab. Er war aus elementarer Erde, zu Häupten verwoben sich die Zweige, der niedrige und kreisrunde Mond schien mich zu begleiten. Vorübergehend kam mir der Gedanke, Richard Madden habe vielleicht mein verzweifeltes Vorhaben durchschaut. Gleich darauf sah ich ein, daß das unmöglich war. Der Rat, immer nach links abzubiegen, rief mir ins Gedächtnis, daß man! so vorgehen mußte, um den Innenhof gewisser Labyrinthe zu! entdecken. Ich verstehe mich ein wenig auf Labyrinthe; nicht umsonst bin ich der Urenkel jenes Ts’ui Pen, des Gouverneurs von Yunnan, der der weltlichen Macht entsagte, um einen Roman zu schreiben, der bevölkerter sein sollte als das Hung Lu Meng', und der ein Labyrinth bauen wollte, in dem alle Mensehen sich verirren sollten. Dreizehn Jahre widmete er diesen unterschiedlich gearteten Bemühungen; doch er fiel durch die Hand eines Fremden, und sein Roman war unsinnig, und niemand fand das Labyrinth. Unter englischen Bäumen sann ich über dieses verlorene Labyrinth nach: ich sah es unversehrt und vollkommen auf dem geheimen Gipfel eines Berges liegen; ich stellte es mir von Reisfeldern überschwemmt oder unter Wasser vor. Ich stellte es mir unendlich vor, nicht aus achteckigen Kiosken und gewundenen Pfaden bestehend, sondern aus Strömen, aus Provinzen und Reichen . . . Ich dachte an ein Laby­ 159

rinth aus Labyrinthen, an ein kurvenförmig anwachsendes Labyrinth, das die Vergangenheit umfaßte und die Zukunft, und das auch die Sterne irgendwie mit einbezog. Diesen Phantasiebildern hingegeben vergaß ich mein gehetztes Schicksal. Für die Dauer einer unbestimmten Zeit empfand ich mich als einen abstrakten Wahrnehmer der Welt. Die ungewisse und lebendige Feldflur, der Mond, der letzte Abendschimmer wirkten auf mich; dazu der sacht abfallende Weg, der jede Möglichkeit von Ermüdung ausschloß. Der Abend war traut, unendlich. Der Weg sank ab und gabelte sich zwischen den schon verwirrten Wiesenllächen. Eine grelle, fast silbenartig hervorgestoßene Musik kam und ging je nach Laune des Windes, in Laub und Ferne eingehüllt. Ich dachte: ein Mensch kann anderen Mensehen feind sein, anderen Momenten anderer Menschen, aber nicht einem Land; nicht Glühwürmchen, Worten, Gärten, Wasserläufen, Sonnenuntergängen. So kam ich vor ein großes, rostiges Tor. Zwischen den Stäben erriet ich eine Pappelallee und eine Art Pavillon. Sogleich fielen mir zwei Dinge auf, gewöhnlich das eine, fast unglaublich das andere: die Musik kam aus dem Pavillon, die Musik war chinesisch. Deshalb hatte ich sie unmittelbar in mich aufgenommen, ohne sie genauer zu beachten. Ich weiß nicht mehr, ob eine Glocke da war oder eine Klingel, oder ob ich mich durch Händeklatschen bemerkbar machte. Die perlende Musik dauerte fort. Aber aus der Tiefe des inneren Hauses näherte sich eine Laterne: eine Laterne, die von den Stämmen gestreift und manchmal ausgelöscht wurde, eine Papierlaterne von der Form der Trommeln und der Farbe des Mondes. Der sie trug, war ein hochgewachsener Mann. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil das Licht mich blendete. Er öfTnete das Tor und sagte gemessen in meiner Sprache: »Ich sehe: der mideidige Hsi P eng läßt es sich angelegen sein, meiner Einsamkeit abzuhelfen. Sie wollen gewiß den Garten sehen.« Ich erkannte den Namen eines unserer Konsuln und wiederholte verwirrt: »Den Garten?« 160

»Den Garten der Pfade, die sich verzweigen.« Etwas regte sich in meinem Gedächtnis, und ich äußerte mit unbegreiflicher Sicherheit: »Den Garten meines Vorfahren Ts’ui Pen.« »Ihres Vorfahren? Ihres erlauchten Vorfahren? Treten Sie ein!« Der feuchte Pfad beschrieb Zickzacklinien wie die Pfade meiner Kindheit. Wir kamen zu einer Bibliothek mit Büchern aus dem Morgen- und Abendland. Ich erkannte, in gelbe Seide gebunden, ein paar handschriftliche Folianten der Verlorenen Enzyklopädie, die der Dritte Kaiser der Erleuchteten Dynastie geleitet hatte, und die nie gedruckt worden war. Die Grammophonplatte kreiste neben einem bronzenen Phönix. Auch erinnere ich mich einer hohen Vase der Rosafamilie und einer anderen, um vielejahrhunderte älteren in jenem Azurblau, das unsere Künstler den persischen Töpfern nachschufen . . . Stephen Albert betrachtete mich lächelnd. Er war (wie ich schon sagte) sehr groß, hatte scharfe Gesichtszüge, graue Augen und grauen Bart. Er hatte etwas von einem Priester, aber auch von einem Seemann; später erzählte er mir, daß er Missionar in Tientsin gewesen war, bevor er »die Sinologie erstrebte«. Wir nahmen Platz, ich auf einem breiten niederen Diwan, er das Fenster und eine große kreisförmige Uhr im Rücken. Ich berechnete, daß mein Verfolger Richard Madden vor Ablauf einer Stunde nicht hier sein würde. Mein unwiderruflicher Entschluß konnte warten. »Erstaunlich, das Schicksal von Ts’ui Pen«, sagte Stephen Albert. »Gouverneur seiner Geburtsprovinz, gelehrt in Astronomie, Astrologie und der unermüdlichen Auslegung der kanonischen Bücher, Schachspieler, berühmter Dichter und Kalligraph: all das gab er auf, um ein Buch und ein Labyrinth zu schaffen. Er leistete Verzicht auf die Freuden der Unterdrückung, der Rechtsprechung, des vielzähligen Beischlafs, der Festmähler und auch der Bildung und schloß sich auf dreizehn Jahre im Pavillon der Lauteren Einsamkeit ein. Als er starb, 161

fanden seine Erben nichts als chaotische Manuskripte. Die Familie, wie Ihnen nicht unbekannt sein dürfte, wollte sie dem Feuer überantworten, doch sein Testamentsvollstrecker - ein taoistischer und buddhistischer Mönch - bestand auf der VeröfTentlichung.« »Wir aus dem Blute Ts’ui Pens«, erwiderte ich, »verfluchen diesen Mönch noch immer. Diese Veröffentlichung war unsinnig. Das Buch ist ein wirrer Haufen einander widersprechender Schmierzettel. Ich habe es einmal durchgesehen. Im dritten Kapitel stirbt der Held, im vierten ist er am Leben. Und was das andere Vorhaben Ts’ui Pens angeht, sein Labyrinth . . .« »Hier ist das Labyrinth«, sagte er, indem er auf einen hohen lackierten Schreibtisch deutete. »Ein Labyrinth aus Elfenbein«, rief ich, »ein Miniaturlabyrinth?« »Ein Labyrinth aus Symbolen«, stellte er richtig. »Ein unsichtbares Labyrinth der Zeit. Mir, dem englischen Barbaren, war es beschieden, dieses durchscheinende Mysterium zu entSchleiern. Nach über hundert Jahren sind die einzelnen Umstände natürlich nicht mehr festzustellen, aber was vorfiel, läßt sich unschwer erraten. Ts’ui Pen wird einmal gesagt haben: Ich ziehe mich zurück, um ein Buch zu schreiben. Ein andermal: Ich ziehe mich zurück, um ein Labyrinth zu schaffen. In jedermanns Vorsteilung waren es zwei Werke. Niemand dachte, daß Buch und Labyrinth ein einziger Gegenstand seien. Der Pavillon der Lauteren Einsamkeit erhob sich inmitten eines vielleicht verschlungenen Gartens. Aus diesem Umstand mögen die Leute auf ein physisches Labyrinth geschlossen haben. Ts’ui Pen starb; niemand in den ausgedehnten Ländereien, die ihm eigen waren, stieß aufdas Labyrinth; das Durcheinander des Romans brachte mich auf den Gedanken, daß er das Labyrinth sei. Zwei Umstände lieferten mir die schlüssige Lösung des Problems: einmal die sonderbare Legende, Ts’ui Pen hätte es auf ein Labyrinth abgesehen gehabt, das im strengen Sinne unendlich sein sollte. Zum anderen: ein Bruchstück eines Briefes, das ich entdeckte.«

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Albert stand auf. Für ein paar Augenblicke wandte er mir den Rücken zu. Er zog eine Schublade des goldenschwarzen Schreibtischs auf. Er kam zurück mit einem ehemals karmesinfarbenen, jetzt zu Rosa verblaßten Papier, das seidendünn und kariert war. Ts’ui Pens Ruf als Kalligraph bestand zu Recht. Verständnislos aber mit Inbrunst las ich die Worte, die ein Mann von meinem Blut mit winzigen Pinselstrichen hingemalt hatte: Ich hinterlasse den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen. Stillschweigend gab ich das Blatt zurück. Albert fuhr fort: »Bevor ich diesen Brief ausgrub, hatte ich mich gefragt, auf welche Weise ein Buch unendlich sein kann. Ich kam zu keinem anderen Schluß, als daß ein solcher Band zyklisch, kreisförmig angelegt sein müßte. Ein Band, dessen letzte Seite mit der ersten identisch sein müßte, mit der Möglichkeit, bis ins Unendliche fortzufahrenJ Ich dachte auch an jene Nacht, die in der Mitte von Tausendundeiner Nacht steht, wo die Königin Scheherazade (wohl infolge einer magischen Zerstreutheit des Abschreibers) sich anschickt, wortwörtlich die Geschichte von Tausendundeiner Nacht zu erzählen, so daß sie Gefahr läuft, wieder bei der Nacht, in der sie sie erzählt, anzukommen, und so immer fort. Ich stellte mir auch.ein platonisches Werk vor, das als Erbstück vom Vater auf den Sohn käme, bei dem jedes neue Individuum ein Kapitel hinzufugen oder mit pietätvoller Sorgfalt die Seite der Eltern verbessern würde. Diese Mutmaßungen zerstreuten mich, keine jedoch traf, auch nicht im entferntesten, auf die widerspruchsvollen Kapitel von Ts’ui Pen zu. Mitten in dieser Ratlosigkeit wurde mir von Oxford das handschriftliche Dokument übermittelt, das Sie durchgelesen haben. Natürlich blieb ich an dem Satz hängen: Ich hinterlasse den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen. Fast auf der Stelle begriff ich: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, war der chaotische Roman. Die Wendung: verschiedenen Zukünften (nicht allen) brachte mich auf das Bild der Verzweigung in der Zeit, nicht im Raum. Die abermalige 163

Gesamtlektüre des Werks bestätigte diese Theorie. In allen erdichteten Werken entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und scheidet die anderen aus; im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pen entscheidet er sich - gleichzeitig - für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman. Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis; ein Unbekannter klopft an seine Türe; Fang beschließt, ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene mögliche Lösungen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang töten; beide können davonkommen, beide können sterben usw. Im Werk von Ts’ui Pen kommen sämtliche Lösungen vor; jede einzelne ist der Ausgangspunkt w‫׳‬eiterer Verzweigungen. Manchmal streben die Pfade dieses Labyrinths aufeinander zu; etwa so: Sie kommen in dieses Haus, aber in einer der möglichen Vergangenheiten sind Sie mein Feind gewesen, in einer anderen mein Freund. Wenn Sie sich mit meiner unheilbaren Aussprache abfinden, wollen wir ein paar Seiten lesen.« Im lebhaften Lichtkreis der Lampe war sein Gesicht unzweifelhaft das Gesicht eines alten Mannes, doch war zugleich etwas Unbeugsames, ja Unsterbliches darin. Er las mit langsamer Genauigkeit zwei Fassungen ein und desselben epischen Kapitels. In der ersten zieht ein Heer durch ein ödes Gebirge in die Schlacht; der Schauder vor der Steinwüste und dem Nachtdunkel läßt die Männer das Leben gering achten und fuhrt sie mit Leichtigkeit zum Sieg; in der zweiten Fassung durchzieht dasselbe Heer ein Schloß, in dem ein Fest stattfindet; die strahlende Schlacht dünkt sie eine Fortsetzung des Festes, und sie erringen mit Leichtigkeit den Sieg. Ich lauschte mit geziemender Verehrung diesen alten Geschichten, die vielleicht nicht so bewundemswert waren wie die Tatsache, daß sie ein Mann meines Blutes ersonnen hatte, und daß ein Mann aus einem fernen Reich sie mir im Laufe eines verzweifelten Abenteuers auf einer Insel im Westen zurückerstattete. Ich erinnere mich der 164

Schlußworte, die sich in jeder Fassung wie ein heimliches Gebot wiederholten: So kämpften, gelassen das bewunderungswürdige Herz, gewaltigen Schwertes, zu töten und zu sterben bereit, die Helden. Von diesem Augenblick an spürte ich ringsum und in meinem dunklen Körper ein unsichtbares, ungreifbares Gewimmel. Nicht das Gewimmel der auseinanderstrebenden, gleichgerichteten und schließlich' miteinander verschmelzenden Heere, sondern eine unzugänglichere, tiefersitzende Erregung, die sie irgendwie vorausdeutend gestalteten. Stephen Albert fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß Ihr berühmter Vorfahr diese Variationen nur als ein müßiges Spiel betrieben hat. Ich halte nicht für wahrscheinlich, daß er dreizehn Jahre seines Lebens der unendlichen Ausführung eines rhetorischen Experiments geopfert hat. In seiner Heimat ist der Roman eine zweitrangige Gattung; in jener Zeit war er eine verächtliche Gattung. Ts’ui Pen war ein genialer Romandichter, ab^r er war auch ein hochgebildeter Mann, der sich gewiß nicht für einen bloßen Romanschreiber hielt. Laut dem Zeugnis seiner Zeitgenossen hatte er - wie aus seinem Leben sattsam hervorgeht - metaphysische, mystische Neigungen. Philosophische Kontroversen nehmen in seinem Roman einen beträchtlichen Raum ein. Ich weiß, daß ihn von allen Problemen keines so beunruhigte, daß ihn keines so plagte, wie das abgründige Problem der Zeit. Nun ist dies aber das einzige Problem, das in den Seiten des Gartens nicht vorkommt. Er verwendete nicht einmal das Wort für Zeit. Wie erklären Sie sich diese absichtliche Auslassung?« Ich schlug verschiedene Lösungen vor; alle erwiesen sich als unzureichend. Wir erörterten sie; zum Schluß sagte mir Stephen Albert: »Ein Rätsel, in dem es um das Schachspiel geht: wie lautet das einzige Wort, das nicht ausgesprochen werden darf?« Ich dachte einen Augenblick nach und erwiderte: »Das Wort Schach.« »Genauso ist es«, sagte Albert. - »Der Garten der Pfade, die sich 165

verzweigen ist ein ungeheures Ratespiel oder eine Parabel, deren Thema die Zeit ist; dieser tiefverborgene Grund verbietet ihm die Erwähnung ihres Namens. Ein Wort immerfort auszulassen, sich mit untauglichen Metaphern und offenkundigen UmSchreibungen zu helfen, ist vielleicht die betonteste Art, darauf hinzudeuten. Es ist die gewundene Art, die in jedem einzelnen der Mäander seines unermüdlichen Romans der indirekte Ts’ui Pen bevorzugte. Ich habe Hunderte von Handschriften miteinander verglichen, habe die Fehler korrigiert, die sich durch die Nachlässigkeit der Abschreiber eingeschlichen haben, ich habe den Plan dieses Chaos erschlossen, habe die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt oder glaubte, sie wiederhergestellt zu haben, ich habe das ganze Werk übersetzt: ich verbürge mich, daß kein einziges Mal das Wort Zeit darin vorkommt. Die Erklärung liegt auf der Hand: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen ist ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Weltganzen, so wie es Ts’ui Pen aufTaßte. Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer glaubte Ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder jahrhundertelang nicht voneinander wissen, umfaßt alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide. In dieser Zeit nun, die mir ein günstiger Zufall beschert, sind Sie in mein Haus gekommen. In einer anderen haben Sie mich, da Sie den Garten durchschritten, tot angetrofTen; in wieder einer anderen sage ich dieselben Worte, aber ich bin ein Trug, ein Phantasma.« »In allen«, sagte ich, nicht ohne zu schaudern, »danke ich in Ehrfurcht für Ihre WiedererschafFung des Gartens von Ts’ui Pen.« »Nicht in allen«, murmelte er lächelnd. - »Die Zeit verzweigt

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sich beständig zahllosen Zukünften entgegen. In einer von ihnen bin ich Ihr Feind.« Wieder empfand ich jenes Gewimmel, von dem ich gesprochen habe. Es war mir, als sei der feuchte Garten ums Haus bevölkert von einer Unzahl unsichtbarer Personen. Diese Personen waren Albert und ich, geheim, geschäftig und vielgestaltig in anderen Zeitdimensionen. Ich hob die Augen, und der llordünne Albdruck fiel von mir ab. In dem gelben und schwärzen Garten war nur ein Mensch; aber dieser Mensch war stark wie ein Standbild; aber dieser Mensch schritt auf dem Weg daher und war der Captain Richard Madden. »Die Zukunft existiert bereits«, antwortete ich, »aber ich bin Ihr Freund. Kann ich den Brief noch einmal sehen?« Albert stand auf. Hoch aufragend zog er die Schublade des hohen Schreibtischs auf; er wandte mir für einen Augenblick den Rücken zu. Ich hatte den Revolver in Anschlag gebracht. Ich schoß mit größter Sorgfalt: Albert brach sofort ohne einen Klagelaut zusammen. Ich schwöre, daß sein Tod auf der Stelle eintrat: ein Blitzschlag. Alles andere ist unwirklich, unbedeutend. Madden drang ein, verhaftete mich. Man hat mich zum Strang verurteilt. Auf abscheuliche Art habe ich gesiegt; ich habe an Berlin den geheimgehaltenen Namen der Stadt, die sie angreifen müsset», durchgegeben. Gestern haben sie sie mit Bomben belegt; ich las die Nachricht in denselben Zeitungen, die England vor das Rätsel stellten, daß der gelehrte Sinologe, Stephen Albert, von einem Unbekannten, Yu Tsun, ermordet worden war. Der Chef hat dieses Rätsel entschlüsselt. Er weiß, daß ich vor der problematischen Aufgabe stand, mitten im Kriegslärm die Stadt mit Namen Albert anzugeben, und daß ich kein anderes Mittel fand, als eine Person dieses Namens zu töten. Er weiß nicht (niemand kann wissen) um meine unendliche Zerknirschung und Müdigkeit.

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Kunststücke

Vorwort Wenn auch weniger plump in der Ausführung, unterscheiden sich die Stücke dieses Buches nicht von denen, die das vorangehende bilden. Zwei davon erlauben unter Umständen eine eingehendere Erwähnung: Der Tod und der Kompaß und Das unerbittliche Gedächtnis. Die zweite Geschichte ist eine lange Metapher der Schlaflosigkeit. Die erste ereignet sich trotz der deutschen und skandinavischen Namen in einem geträumten Buenos Aires; die gewundene Rue de Toulon ist der Paseo de Julio; Triste-le-Roy das Landhaus, wo Herbert Ashe den elften Band einer illusorischen Enzyklopädie erhielt und womöglich nicht las. Als diese Erfindung bereits niedergeschrieben war, habe ich an die Zuträglichkeit einer Erweiterung der Zeit und des Raums, den sie umfaßt, gedacht: die Rache könnte ein Erbgut sein; die Termine könnten nach Jahren, womöglich nach Jahrhunderten zählen; der erste Buchstabe des Namens könnte in Island artikuliert werden, der zweite in Mexiko, der dritte in Hindustan. Muß ich hinzufugen, daß es unter den Chassidim Heilige gab, und daß das Opfer von vier Leben, um die vier Buchstaben, aus denen der Name sich zusammensetzt, zu erhalten, ein Phantasieprodukt war, das mir die Form meiner Erzählung diktierte? Nachschrift von 1956. - Drei Erzählungen habe ich der Reihe angeschlossen: Der Süden, Die Phönix-Sekte, Das Ende. Außer einer Person - Recabarren deren Unbeweglichkeit und Passivität als Kontrast dient, ist nichts oder so gut wie nichts im knappen Verlauf der letztgenannten meine eigene Erfindung; alles, was in ihr vorkommt, ist implizit in einem berühmten Buch enthalten; ich bin nur der erste, der es herausgelöst oder zumindest erklärt hat. In der Phönix-Allegorie stellte ich mir als Aufgabe das Problem, eine allbekannte Tatsache - Das Geheimnis - auf schwankende und allmähliche Art zu suggerieren, bis sie sich zum Schluß unzweideutig herausschälen sollte; ich weiß nicht, wieweit mich das Glück begleitet hat. Von Der 17'

Süden, vielleicht meiner besten Erzählung, ist einführend nicht mehr zu sagen, als daß man sie wie eine direkte Schilderung romanhafter Vorgänge, aber auch auf andere Art lesen kann. Schopenhauer, De Quincey, Stevenson, Mauthner, Shaw, Chesterton, Leon Bloy bilden das heterogene Verzeichnis jener Autoren, die ich ständig wiederlese. In der christologischen Phantasie, betitelt Drei Fassungen von Judas, glaube ich den fernen Einfluß des letztgenannten wahrzunehmen.

J. L. B.

Buenos Aires, 29. August 1944

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Das unerbittliche Gedächtnis Ich erinnere mich an ihn (freilich habe ich nicht das Recht, dieses heilige Verb auszusprechen; nur ein Mensch auf Erden hatte das Recht dazu, und dieser Mensch ist tot), in seiner Hand eine dunkle Passionsblume, die er so sah, wie noch nie ein Mensch sie gesehen hat, auch wenn er sie vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, ein ganzes Leben lang, betrachtete. Ich erinnere mich an ihn, mit seinem schweigsamen, indianisch geschnittenen, seltsam fernen Gesicht hinter der Zigarette. Ich erinnere mich (glaube ich) an seine spitzen Lederflechterhände. Ich erinnere mich an ein Mategefäß mit dem Wappen von Uruguay nahe bei diesen Händen; ich erinnere mich an eine gelbe Schilfmatte mit einer verschwommenen Seelandschäft darauf am Fenster des Hauses. Deutlich erinnere ich mich an seine Stimme; die langsame, verdrossene, nasale Stimme der alten Stadtrandbewohner, ohne die heutigen italienischen Zischlaute. Häufiger als dreimal habe ich ihn nicht gesehen, zuletzt 1887 ... Es scheint mir ein glücklicher Plan, daß alle, die mit ihm Umgang hatten, über ihn schreiben sollen; mein Zeugnis wird vielleicht das kürzeste und zweifellos das kümmerlichste, aber nicht das am wenigsten unparteiische des Bandes sein, den Sie herausgeben werden. Zu meinem Unglück bin ich Argentinier; das verbietet mir, ins Dithyrambische zu verfallen, das in Uruguay obligatorisch ist, wenn ein uruguayisches Thema in Frage steht. Intellektueller, Schnüffler, Städter - gewiß hat mich Funes nie mit dergleichen Schimpfworten bedacht, aber mir ist nur allzu bewußt, daß ich in seinen Augen der Inbegriff dieser Gebrechen war. Pedro Leandro Ipuche hat geschrieben, Funes sei ein Vorläufer des Übermenschen gewesen, »ein unbändiger bodenständiger Zarathustra«; ich will das nicht bestreiten, aber man sollte doch nicht übersehen, daß er in Fray Bentos beheimatet war und seine unverbesserlichen Grenzen hatte. Meine erste Erinnerung an Funes ist sehr deutlich. Ich sehe 73

ihn in einer Abenddämmerung im März oder Februar des Jahres 84. Mein Vater hatte mich in diesem Jahr zur Sommerirische nach Fray Bentos mitgenommen. Ich kam mit meinem Vetter Bernardo Haedo von der Estancia San Francisco zurück - zu Pferd, singend, doch war dies nicht der einzige Grund fiir mein Glücksgefuhl. Nach einem drückend schwülen Tag hatte ein ungeheures, schieferfarbenes Unwetter den Himmel verdeckt. Der Südwind trieb es voran - schon begannen die Bäume, toll zu werden; ich fürchtete (holTte), daß der Wolkenbruch uns auf freiem Feld überraschen würde. Wir lieferten uns mit dem Sturm eine Art Wettrennen. Wir kamen in eine Gasse, die zwischen zwei hohen Ziegelsteinborden tief eingeschnitten war. Mit einem Schlag war es dunkel geworden; ich hörte eilige und fast verstohlene Schritte über uns - ich hob die Augen und sah einen Jungen, der auf dem schmalen und schadhaften Weg dahinlief wie auf einer schmalen und schadhaften Mauer. Ich erinnere mich an die Pumphosen, an die Hanfschuhe, an die Zigarette in dem harten Gesicht gegen die schon uferlose Gewitterwand. Bernardo rief ihm unversehens zu: »Wieviel Uhr ist es, Ireneo?« Ohne nach dem Himmel zu sehen, ohne stehen zu bleiben, gab der andere zur Antwort: »In vier Minuten acht, junger Herr Bernardo Juan Francisco.« Die Stimme war scharf und spöttisch. Ich bin so zerstreut, daß mir der Dialog, den ich da wiedergegeben habe, sicher nicht ■aufgefallen wäre, hätte ihn nicht mein Vetter breitgetreten; wie ich glaube, aus einem gewissen Lokalpatriotismus und um mir zu zeigen, wie wenig er sich aus der dreigeteilten Antwort des anderen machte. Er erzählte mir, der Junge aus der Gasse sei ein gewisser Ireneo Funes, bekannt durch einige Sonderlichkeiten; so gebe er sich mit niemandem ab und wisse immer die genaue Zeit, wie eine Uhr. Er fugte hinzu, er sei der Sohn einer Büglerin aus dem Dorf, Maria Clementina Funes, und manche behaupteten, sein Vater sei ein Arzt aus der Fleischkonservenfabrik, ein Engländer mit Namen O’Connor; andere, er sei ein Zureiter oder 174

Fährtensucher aus dem Bezirk Salto. Er lebte mit seiner Mutter nahe beim Haus der Laureles. In den Jahren 85 und 86 verbrachten wir die Sommerferien in Montevideo. Im Jahre 87 kam ich wieder nach Fray Bentos. Selbstverständlich erkundigte ich mich nach allen Bekannten und schließlich auch nach dem »zeitmessenden Funes«. Ich bekam zur Antwort, daß ein halb zugerittenes Pferd auf der Estancia San Francisco ihn abgeworfen habe, und daß er nun hoffnungslos gelähmt sei. Ich erinnere mich an das Gefühl einer unbehaglichen Magie, das diese Nachricht in mir hervorrief: beim einzigen Mal, als ich ihn gesehen hatte, kamen wir zu Pferd von San Francisco, und er ging an erhöhter Stelle; aus dem Munde meines Vetters Bernardo hatte das Ganze für mich viel von einem Traum, der aus älteren Elementen zusammengesetzt war. Man erzählte mir, daß er sich nicht von seinem Feldbett rühre, die Augen fest auf den Feigenbaum des Hinterhofes oder auf ein Spinngewebe gerichtet. An den Abenden erlaubte er, daß man ihn ans Fenster brachte. Er trieb den Hochmut so weit, so zu tun, als sei der Hufschlag, der ihn niedergestreckt hatte, eine Wohltat gewesen . . . Zweimal sah ich ihn hinter dem Fenstergitter, das seinen Zustand des ewigen Gefangenen plump unterstrich: das eine Mal unbeweglich, mit geschlossenen Augen - das andere Mal ebenso unbeweglich, ganz versunken in die Betrachtung eines blühenden Santonica-Zweiges. Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit hatte ich zu der Zeit mit dem methodischen Studium des Lateinischen begonnen. Mein Handkoffer enthielt De viris illustribus von Lhomond, den Thesaurus von Quicherat, die Kommentare des Julius Caesar und einen einzelnen Band der Naturalis historia des Plinius, der meine bescheidenen Lateinkenntnisse überstieg (und noch übersteigt). In einem kleinen Ort spricht sich alles herum; Ireneo in seinem Haus am Ortsrand erfuhr sehr bald vom Eintreffen dieser seltsamen Bücher. Er richtete einen blumigen und formliehen Brief an mich, in dem er sich auf unser, bedauerlicher­ 75

weise flüchtiges, ZusammentrelTen »am siebenten Februar des Jahres vierundachtzig« berief, die ruhmreichen Dienste erwähnte, die Don Gregorio Haedo, mein in diesem Jahr verstörbener Onkel, »den beiden Ländern am La Plata am tapferen Kampftag von Ituzaingö geleistet habe« und mich bat, ihm irgendeinen der Bände zu leihen, begleitet von einem Wörterbuch, »zum besseren Verständnis des Originaltextes, da ich des Lateinischen noch nicht mächtig bin«. Er versprach, sie in gutem Zustand und fast umgehend zurückzugeben. Die Schrift war tadellos, die Buchstaben fein gezogen; die Orthographie war, wie Andres Bello sie liebte: i statt y, j statt g.1 Zuerst fürchtete ich natürlich, es sei ein schlechter Scherz. Aber meine Vettern versicherten mir, das sei es gewiß nicht - so etwas sehe Ireneo ganz ähnlich. Ich wußte nicht, sollte ich die Vorstellung, daß das schwierige Latein nichts als ein Wörterbuch verlange, seiner Frechheit, Unwissenheit oder Dummheit zuschreiben; um ihn recht gründlich zu enttäuschen, schickte ich ihm den Gradus ad Parnassum von Quicherat und das Werk des Plinius. Am 14. Februar bekam ich ein Telegramm aus Buenos Aires: ich solle sofort zurückkommen, da es meinem Vater »gar nicht gut« gehe. Gott verzeihe mir: der rühmliche Umstand, Empfänger eines dringenden Telegrammes zu sein, das Verlangen, allen Leuten in Fray Bentos den Widerspruch zwischen dem negativ umschreibenden Wortlaut und dem unmißverständliehen »gar nicht« der Nachricht vor Augen zu fuhren, die Versuchung, meinen Schmerz zu dramatisieren, indem ich einen männlichen Stoizismus zur Schau trug, lenkten mich von jeder Möglichkeit wirklichen Kummers ab. Als ich meinen Koffer packte, bemerkte ich, daß der Gradus und der Band der Naturalis historia fehlten. Die »Saturno« lief am nächsten Morgen aus; abends nach dem Essen machte ich mich auf den Weg zu Funes’ Haus. Es verblüffte mich, daß die Nacht ebenso drückend war wie der Tag. In dem bescheidenen Haus empfing mich die Mutter von Funes. Sie sagte mir, Ireneo sei hinten im Hof im letzten Zim­

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mer, und ich solle mich nicht wundern, ihn im Dunkeln zu finden, denn Ireneo wisse die leeren Stunden ohne Kerzenlicht hinzubringen. Ich überquerte den mit Fliesen belegten Η0Γ, den kleinen Gang; ich kam zum zweiten Hof. Dort war eine Weinlaube; die Dunkelheit wollte mir vollständig scheinen. Plötzlich hörte ich Ireneos laute spöttische Stimme. Diese Stimme sprach lateinisch; diese Stimme (die aus der Finsternis kam) sagte mit lässigem Genuß eine Rede, ein Gebet oder einen Gesang auf. Die römischen Laute schallten in den Hof aus gestampftem Lehm; meiner Furcht schienen sie unentzifferbar, ohne Ende. Später, während des ungeheuren Zwiegesprächs dieser Nacht, erfuhr ich, daß sie im ersten Abschnitt des vierundzwanzigsten Kapitels des siebenten Buchs der Naturalis historia standen. Thema dieses Kapitels ist das Gedächtnis; die letzten Worte waren »ut nihil non iisdem verbis redderetur auditum«. Ohne die Stimme im mindesten zu verändern, sagte Ireneo, ich solle ein treten. Er lag auf dem Feldbett und rauchte. Mir ist, als hätte ich sein Gesicht bis zum Morgengrauen nicht gesehen; ich meine, mich des gelegentlichen Aufglühens der Zigarette zu erinnern. Ein schwacher Geruch von Feuchtigkeit war im Raum. Ich setzte mich, wiederholte die Geschichte von dem Telegramm und der Erkrankung meines Vaters. Hier komme ich zum heikelsten Punkt meiner Erzählung. Diese hat (zum Glück weiß der Leser es schon) nichts anderes zum Inhalt als jenes Zwiegespräch, das schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ich werde nicht versuchen, seine Worte wiederzugeben, die unwiederbringlich verloren sind. Ich ziehe es vor, wahrheitsgetreu all das, was Ireneo mir sagte, zusammenzufassen. Die indirekte Schreibweise wirkt fern und blaß; ich weiß, daß ich die Durchschlagskraft meiner Erzählung opfere. Mögen meine Leser in ihrer Phantasie die abgebrochenen Reden, die mich in jener Nacht betäubten, wiedererschaffen. Ireneo begann damit, in Latein und Spanisch die Fälle von 77

erstaunlichem Gedächtnis aufzuzählen, die in der Naturalis historia vermerkt werden: Cyrus, der Perserkönig, wußte alle Soldaten seiner Heere mit Namen zu nennen; Mithridates Eupator sprach Recht in den 22 Sprachen seines Reiches; Simonides, der Erfinder der Mnemotechnik; Metrodorus, der sich der Kunst befleißigte, nur einmal Gehörtes wortgetreu wiederzugeben. Ireneo äußerte sein offenbar ehrliches Erstaunen, daß solche Fälle Staunen erregten. Er erzählte mir, vor jenem regnerischen Tag, an dem das blaugraue Pferd ihn zu Boden schleuderte, sei er genauso gewesen wie alle Christenmenschen: blind, taub, zu nichts nütze, ohne Gedächtnis. (Ich versuchte, ihn an sein haargenaues Zeitgefühl, sein Namensgedächtnis zu erinnern; er ging nicht darauf ein.) Neunzehn Jahre hatte er gelebt wie einer, der träumt; er sah ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles. Beim Sturz verlor er das Bewußtsein; als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar, und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig später wurde ihm bewußt, daß er lahm war. Diese Tatsache interessierte ihn kaum. Er befand (er empfand), daß die Unbeweglichkeit ein äußerst geringer Preis sei. Jetzt waren seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis unfehlbar. Wir nehmen mit einem Blick drei Gläser auf einem Tische wahr; Funes alle Triebe, Trauben und Beeren, die zu einem Rebstock gehören. Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 und vermochte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband zu vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend des Quebracho-Gefechtes aufgewühlt hatte. Diese Erinnerungen waren indessen nicht einfältig; jedes optische Bild war verbunden mit Muskel-, Wärmeempfindungen usw. Er konnte alle Träume, alle Dämmerungsträume rekonstruieren. Zwei- oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel

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gewesen, aber jede solche Rekonstruktion hatte einen ganzen Tag beansprucht. Er sagte mir: »Ich allein habe mehr Erinnerungen, als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht.« Und weiter: »Meine Träume sind wie euer Wachen.« Und schließlich, gegen Morgengrauen: »Mein Gedächtnis, Herr, ist wie eine Abfalltonne.« Ein Kreis auf einer Schiefertafel, ein rechtwinkliges Dreieck, ein Rhombus sind Formen, die wir ganz und gar wahrnehmen können; ebenso erging es Funes mit der verwehten Mähne eines jungen Pferdes, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit dem wandelbaren Feuer und den unzählbaren Aschenstäubchen, mit den vielen verschiedenen Gesichtern eines Verstorbenen während einer langen Totenwache. Ich weiß nicht, wieviel Sterne er am Hirnmel sah. All diese Dinge erzählte er mir; weder damals noch später habe ich sie in Zweifel gezogen. Damals gab es weder Kino noch Phonographen; trotzdem ist es unwahrscheinlich, ja fast unglaublich, daß niemand mit Funes je ein Experiment gemacht hat. Tatsache ist, daß wir immerfort alles hinausschieben, was nur hinauszuschieben ist; vielleicht wissen wir alle zutiefst, daß wir unsterblich sind, und daß jeder Mensch früher oder später einmal alles tun und alles wissen wird. Funes’ Stimme, aus dem Dunkel kommend, sprach und sprach. Er erzählte mir, daß er sich um 1886 ein eigenes ZahlenSystem ausgedacht und in ganz wenigen Tagen 24000 überschritten hatte. Er hatte es nicht niedergeschrieben, denn was er nur einmal gedacht hatte, konnte er nicht mehr vergessen. Den ersten Anstoß gab ihm, glaube ich, der Ärger über die Unbequemlichkeit, daß die berühmten »Drei und dreißig Uruguayer« 2 Ziffern oder 3 Worte brauchten, anstatt eines einzigen Wortes und einer einzigen Ziffer. Dieses verrückte Prinzip wendete er dann auf die anderen Zahlen an. Anstatt siebentausend und dreizehn sagte er (zum Beispiel) »Maximo Perez«; anstatt siebentausend und vierzehn »Die Eisenbahn«. Andere Zahlen waren »Luis Melian Lafinur«, »Olimar«, »Schwefel«, ’79

»die Zügel«, »der Walfisch«, »das Gas«, »der Dampfkessel«, »Napoleon«, »Agustin de Vedia«. Anstatt fünfhundert sagte er neun. Jedes Wort hatte ein eignes Sinnbild, eine Art Merkzeichen; die letzten waren sehr kompliziert. . . Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, daß eine Rhapsodie aus unzusammenhängenden Begriffen genau das Gegenteil eines Zahlensystems sei. Ich sagte ihm, daß, wenn man dreihundertfünfundsechzig sagt, man 3 Hunderter, 6 Zehner, 5 Einer nennt; eine Analyse, die in »Zahlen« wie »der Neger Timotheus« oder »Fleischdecke« nicht enthalten ist. Funes begriff mich nicht oder wollte nicht begreifen. Im 17. Jahrhundert forderte Locke eine unmögliche Sprache (die er dann wieder verwarf), in der jedes einzelne Ding, jeder Stein, jeder Vogel und jeder Zweig einen eigenen Namen haben sollte. Funes hatte einmal eine ähnliche Sprache geplant, sie aber wieder aufgegeben, weil sie ihm zu allgemein, zu zweideutig erschien. Tatsächlich erinnerte Funes sich nicht nur an jedes Blatt jedes Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte. Er beschloß, jeden seiner vergangenen Tage auf 70000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab: die Einsicht, daß die Mühe endlos sein würde, die Einsicht, daß sie sinnlos war. Er überlegte, daß er in der Stunde seines Todes noch nicht einmal die Einordnung seiner sämtlichen Kindheitserinnerungen zu Ende gebracht haben würde. Diese beiden Projekte, die ich erwähnt habe (ein unendliches Vokabular für die natürliche Zahlenfolge, ein nutzloser geistiger Katalog aller Erinnerungsbilder), sind unsinnig, bekunden aber eine gewisse stammelnde Größe. Sie lassen uns die schwindelerregende Welt des Funes ahnen oder erraten. Er war vergessen wir das nicht - zu allgemeinen platonischen Ideen so gut wie nicht imstande. Nicht nur machte es ihm Mühe zu verstehen, daß der Allgemeinbegriff »Hund« so viele Geschöpfe verschiedener Größe und verschiedener Gestalt umfaßt; es

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störte ihn auch, daß der Hund von 3 Uhr 14 (im Profil gesehen) denselben Namen fuhren sollte wie der Hund von 3 Uhr 15 (gesehen von vorn). Sein eigenes Gesicht im Spiegel, seine eigenen Hände überraschten ihn immer wieder. Swift berichtet, daß der Kaiser von Lilliput die Bewegung des Minutenzeigers wahrnahm; Funes unterschied ständig die ruhigen Vorgänge der Verwesung, der Fäulnis, des Leidens. Er bemerkte die Fortschritte des Todes, der Feuchtigkeit. Er war der einsame und klare Beobachter einer vielgestaltigen, augenblicklichen und fast unerträglich deutlichen Welt. Babylon, London und New York haben mit ihrer wilden Pracht die Einbildungskraft der Menschen überladen. Aber niemand in ihren übervölkerten Türmen oder im Getriebe ihrer Straßen hat die Hitze und den Druck einer derart nimmermüden Wirklichkeit gefühlt, wie sie Tag und Nacht aufdem unseligen Ireneo in seinem südamerikanischen Vorort lastete. Schlafen fiel ihm sehr schwer. Schlafen heißt, sich von der Welt erholen; Funes, auf dem Rücken auf seinem Feldbett liegend, stellte sich im Dunkein jeden Riß, jedes Gesims der präzisen Häuser um ihn herum vor. (Ich wiederhole, daß die unbedeutendste seiner Erinnerungen genauer oder lebendiger war als für uns die Wahrnehmung eines physischen Lustgefühls oder einer physischen Qual.) Nach Osten zu, in einem noch nicht ganz parzellierten Viertel, gab es neue unbekannte Häuser. Funes stellte sie sich schwarz vor, eng zusammengedrängt, aus gleichmäßigem Dunkel gemacht; in diese Richtung wandte er das Gesicht, um schlafen zu können. Auch pflegte er sich vorzustellen, er liege aufdem Grund des Flusses, gewiegt und aufgelöst von der Strömung. Er hatte ohne Mühe Englisch, Französisch, Portugiesisch, Latein gelernt. Ich vermute allerdings, daß er zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art. Das scheue Licht des grauenden Morgens drang vom Hof

herein. Da erst sah ich das Gesicht der Stimme, die die ganze Nacht gesprochen hatte. Ireneo war 19 Jahre alt; er war 1868 geboren; er schien mir monumental wie Erz, älter als Ägypten, früher als die Prophezeiungen und die Pyramiden. Ich mußte daran denken, daß jedes meiner Worte (jede meiner Bewegungen) in seinem unerbittlichen Gedächtnis fortdauern würden; mich lähmte die Furcht, überflüssige Gebärden zu vermehren. Ireneo Funes starb 1889, 21 Jahre alt, an einer Lungenblutung. ‘942

Die Narbe Eine grimmige Narbe lief ihm quer über das Gesicht: ein aschfarbener und fast vollkommener Bogen, der an einem Ende die Schläfe, am anderen den Backenknochen furchte. Wie er wirklieh hieß, ist nicht wichtig; alle in Tacuarembo nannten ihn »der Engländer von La Colorada«. Der Besitzer .dieser Ländereien, Cardoso, wollte nicht verkaufen; man hat mir erzählt, der Engländer habe zu einem überraschenden Argument gegrillen: er vertraute ihm die geheime Geschichte der Narbe an. Der Engländer kam von der Grenze, von Rio Grande do Sui; es fehlte nicht an Leuten, die sagten, er sei in Brasilien Schmuggler gewesen. Die Weiden waren von Unkraut überwuchert, die Wasser der Tränken bitter; um diesen Übelständen abzuhelfen, arbeitete der Engländer Seite an Seite mit seinen Peones. Man sagt, daß er streng war bis zur Grausamkeit, aber peinlich gerecht. Man sagt auch, daß er ein Trinker war: ein paarmal im Jahr schloß er sich im Turmzimmer ein und tauchte nach zwei oder drei Tagen auf wie aus einer Schlacht oder einem Taumel, bleich, zittrig, wirr und so herrisch wie vorher. Ich erinnere mich an die eisigen Augen, die tatkräftige Magerkeit, den grauen Schnurrbart. Er verkehrte mit niemandem; sein Spanisch war wirklich armselig, mit brasilianischen Brocken unter­ 182

mischt. Außer dem einen oder anderen Geschäftsbrief oder einer Drucksache bekam er keine Post. Das letzte Mal, als ich die Nordprovinzen durchreiste, zwang mich ein Hochwasser des Caraguatä-Flusses, eine Nacht auf La Colorada zu verbringen. Schon nach wenigen Minuten glaubte ich zu bemerken, daß mein Erscheinen ungelegen kam; ich versuchte, mich dem Engländer angenehm zu machen; ich wandte mich an die undeutlichste aller Leidenschaften: den Patriotismus. Ich sagte, ein Land vom Geiste Englands sei unbesiegbar. Mein Gesprächspartner stimmte bei, lugte aber mit einem Lächeln hinzu, daß er kein Engländer sei. Er war Ire, aus Dungarvan. Nachdem er dies gesagt hatte, hielt er ein, als wenn er ein Geheimnis gelüftet hätte. Nach dem Abendessen gingen wir hinaus, um den Himmel zu betrachten. Er hatte sich aufgeklärt, aber hinter der Hügelkette braute der Süden, von Blitzen gefurcht und gezeichnet, ein neues Gewitter zusammen. Ins öde Eßzimmer brachte der Peon, der das Essen aufgetragen hatte, eine Flasche Rum. Wir tranken lange Zeit, schweigend. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es war, als ich merkte, daß ich betrunken war; ich weiß nicht, welche Eingebung oder welcher Drang oder welche Langeweile mich veranlaßte, die Narbe zu erwähnen. Das Gesicht des Engländers verfärbte sich; ein paar Sekunden lang glaubte ich, er werde mich aus dem Hause werfen. Schließlich sagte er mir mit seiner normalen Stimme: »Ich werde Ihnen die Geschichte meiner Verwundung erzählen, unter einer Bedingung: daß ich keine Gemeinheit, keinen schändlichen Umstand beschönige.« Ich stimmte zu. Dies ist die Geschichte, die er erzählte, abwechselnd auf Spanisch und Englisch, mit portugiesischen Brocken dazwischen. »Um 1922 war ich in einer Stadt in Connaught einer der vielen, die einer Verschwörung für die Unabhängigkeit Irlands angehörten. Von meinen Kameraden leben einige noch und gehen friedlichen Beschäftigungen nach; andere kämpfen para­ 183

doxerweise zur See oder in der Wüste unter englischer Fahne; einer, der beste von ihnen, starb auf einem Kasernenhof im Morgengrauen durch die Kugeln schlaftrunkener Männer; andere (und nicht die unglücklichsten) ereilte ihr Schicksal in den namenlosen und fast geheimen Schlachten des Bürgerkrieges. Wir waren Republikaner, Katholiken; wir waren, vermute ich, Romantiker. Irland war für uns nicht nur die utopische Zukunft und die unerträgliche Gegenwart; es war ein bitterer und zärtlicher Mythos, die runden Türme und die roten Moore, es war die Verstoßung Parnells und die gewaltigen Heldenlieder, die den Raub der Stiere besingen, die in einem früheren Leben Helden waren und in anderen Fische und Berge ... In einer Abenddämmerung, die ich nicht vergessen werde, ist einer unserer Parteigänger aus Munster zu uns gestoßen: ein gewisser John Vincent Moon. Er war knapp 20 Jahre alt. Er war mager und gleichzeitig aufgeschwemmt, machte den unangenehmen Eindruck, als hätte er kein Rückgrat. Er hatte mit glühendem Eifer und mit Eitelkeit fast alle Seiten irgendeines kommunistischen Handbuches durchstudiert; der dialektische Materialismus diente ihm dazu, jedwede Auseinandersetzung zu verdunkeln. Es gibt unendlich viele Gründe, aus denen ein Mensch den andern verabscheuen oder lieben kann: Moon reduzierte die Weltgeschichte auf einen einzigen dumpfen wirtschaftlichen Konflikt. Er versicherte, es sei der Revolution vorherbestimmt, zu triumphieren. Ich sagte ihm, einen >gentleman< könne nur eine verlorene Sache interessieren ... Es war schon Nacht; wir stritten weiter, ohne uns zu einigen, auf dem Gang, den Treppen, dann in den unsteten Straßen. Die Urteile, die Moon abgab, beeindruckten mich nicht so sehr wie sein apodiktischer Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Der neue Kamerad hat nicht diskutiert; mit Verachtung und einer Art von Zorn hat er Behauptungen aufgestellt. Als wir zu den letzten Häusern kamen, hat uns ein plötzliches Gewehrfeuer betäubt. (Vorher oder hinterher sind wir an der 184

blinden hohen Mauer einer Fabrik oder Kaserne entlanggegangen.) Als wir in eine ungepllasterte Straße einbogen, tauchte ein Soldat, riesengroß im Flammenschein, aus einer brennenden Hütte auf. Laut schreiend hat er uns befohlen, stehenzubleiben. Ich bin schneller gegangen; mein Kamerad ist mir nicht gefolgt. Ich habe mich umgeschaut: John Vincent Moon stand unbeweglich, festgebannt und wie zur Salzsäule erstarrt vor Schrecken. Da bin ich zurückgerannt, habe mit einem Hieb den Soldaten niedergeschlagen, Vincent Moon geschüttelt, ihn beschimpft und ihm befohlen, mir zu folgen. Ich habe ihn am Arm nehmen müssen; die Heftigkeit der Angst hatte ihn unfähig gemacht, sich zu rühren. Wir sind in die von Bränden durchlöcherte Nacht geflohen. Eine Gewehrsalve suchte uns; eine Kugel streifte Moons rechte Schulter. Während wir zwischen Fichten geflüchtet sind, ist er in ein jämmerliches Schluchzen ausgebrochen. In diesem Herbst 1922 hatte ich mich in dem Landhaus des Generals Berkeley verborgen. Er (ich hatte ihn nie gesehen) bekleidete damals ich weiß nicht welchen Verwaltungsposten in Bengalen. Das Gebäude war noch kein Jahrhundert alt, aber verfallen und fahl und besaß einen Überfluß von verwirrenden Gängen und unnützen Vorzimmern. Das Museum und die riesige Bibliothek nahmen das Erdgeschoß in Anspruch: einander widersprechende und unvereinbare Bücher, die auf irgendeine Art die Geschichte des 19. Jahrhunderts bilden; Krummsäbel aus Nishapur, in deren verhaltenen Kreisbogen der Wind und die Heftigkeit der Schlacht fortzudauern schienen. Wir sind (glaube ich mich zu erinnern) von der Rückseite hineingekommen. Moon murmelte mit zitternden und ausgetrockneten Lippen, die Ereignisse der Nacht seien interessant; ich habe ihn untersucht, ihm eine Tasse Tee gebracht; ich konnte feststellen, daß seine Wunde nur oberflächlich war. Plötzlich stammelte er bestürzt: >Sie haben sich aber empfindlich in Gefahr gebracht^ Ich habe ihm gesagt, er sollte sich deswegen keine Gedanken 185

machen. (Die Gewohnheit des Bürgerkriegs hatte mich dazu gebracht, so zu handeln, wie ich gehandelt habe; außerdem hätte die Gefangennahme eines einzigen unserer Parteigänger unsere Sache gefährdet.) Am nächsten Tag hatte Moon seine Sicherheit wiedergewonnen. Er nahm eine Zigarette an und hat mich dann einem strengen Verhör über die )ökonomischen Hilfsquellen unserer Revolutionspartei( unterworfen. Seine Fragen waren sehr genau; ich habe ihm gesagt (was der Wahrheit entsprach), daß die Lage ernst sei. Dumpfe Gewehrsalven erschütterten den Süden. Ich sagte Moon, daß uns die Kameraden erwarteten. Mein Mantel und mein Revolver waren in meinem Zimmer; als ich zurückkam, fand ich Moon auf dem Sofa ausgestreckt, mit geschlossenen Augen. Er hat behauptet, er hätte Fieber, und sich auf einen schmerzhaften Krampf in der Schulter berufen. Da habe ich begriffen, daß seine Feigheit unheilbar war. Ich habe ihn unbeholfen gebeten, sich zu pflegen, und mich verabschiedet. Dieser Mann hat mich mit seiner Angst beschämt, als wäre ich der Feigling, nicht Vincent Moon. Was ein Mensch tut, ist so, als täten es alle Menschen. Deswegen ist es nicht ungerecht, daß der Ungehorsam in einem Garten das ganze Menschengeschlecht befleckt; deswegen ist es nicht ungerecht, daß die Kreuzigung eines einzigen Juden genügt, es zu erlösen. Vielleicht hat Schopenhauer recht: ich bin die anderen, jeder Mensch ist alle Menschen, Shakespeare ist auf irgendeine Weise der jämmerliche John Vincent Moon. Neun Tage haben wir in dem riesigen Haus des Generals verbracht. Von den Todeszuckungen und den Lichtblicken des Krieges will ich nicht sprechen: meine Absicht ist nur, die Geschichte der Narbe zu erzählen, die mich schändet. Diese neun Tage bilden in meiner Erinnerung einen einzigen Tag, den vorletzten ausgenommen, an dem die Unseren eine Kaseme erstürmten und wir genau die 16 Kameraden rächen konnten, die in Elphin erschossen worden waren. Ich habe 186

mich gegen Morgen aus dem Haus geschlichen, in der ungewissen Dämmerung. Bei Anbruch der Nacht war ich zurück. Mein Gefährte hat mich im oberen Stockwerk erwartet; seine Wunde erlaubte ihm nicht, ins Erdgeschoß herunterzukommen. Ich erinnere mich genau, daß er ein Buch in der Hand hielt. F. N. Maude oder Clausewitz. >Meine LieblingswafTe ist die ArtillerieC’est une affaire flambee«, murmelte er. Um zu zeigen, daß es ihm gleichgültig war, ein Feigling zu sein, hat er mit seinem geistigen Hochmut geprahlt. Am zehnten ist die Stadt dann endgültig in die Hände der !Black and Tans< gefallen. Hoch zu Roß patrouillierten Wachen schweigend durch die Straßen; der Wind war voll Rauch und Asche; an einer Ecke sah ich einen Leichnam hingeworfen, der aber in meiner Erinnerung weniger haftet als eine Gliederpuppte, an der die Soldaten mitten auf dem Platz unaufhörlich ihre Schießkünste erprobten . . . Ich war fortgegangen, als das Morgengrauen am Himmel stand; vor Mittag kam ich zurück. Moon sprach in der Bibliothek mit jemandem; am Ton seiner Stimme konnte ich erkennen, daß er telefonierte. Dann hörte ich meinen Namen; dann, daß ich um sieben zurückkommen würde; dann den Hinweis, daß sie mich verhaften sollten, wenn ich den Garten durchquerte. Mein verständiger Freund war dabei, mich höchst verständig zu verkaufen. Ich hörte ihn Garantien für seine persönliche Sicherheit fordern. Hier verwirrt und verliert sich meine Geschichte. Ich weiß, daß ich den Verräter durch schwarze Albtraum-Gänge und über tiefe, schwindelerregende Treppen verfolgte. Moon kannte das Haus sehr gut, weit besser als ich. Ein- oder zweimal habe ich ihn verloren. Ich habe ihn gestellt, bevor die Soldaten mich fingen. Von einem der Waffen-Arrangements des Generals habe ich einen Pallasch heruntergerissen; mit diesem stäh­ >87

lernen Halbmond zeichnete ich ihm für immer einen blutigen Halbmond ins Gesicht. Borges: Ihnen, einem Fremden, habe ich diese Beichte abgelegt. Ihre Verachtung schmerzt mich nicht so sehr.« Hier hielt der Erzähler inne. Ich bemerkte, daß seine Hände zitterten. »Und Moon«, fragte ich ihn. »Strich den Judaslohn ein und floh nach Brasilien. An jenem Nachmittag sah er, wie auf dem Platz eine Gliederpuppe von Betrunkenen erschossen wurde.« Ich wartete vergeblich auf die Fortsetzung der Geschichte. Endlich sagte ich, er solle doch fortfahren. Da brach ein Stöhnen aus ihm; da wies er mir mit schwächlicher Sanftmut die krumme weißliche Narbe. »Sie glauben mir nicht?« stammelte er. »Sehen Sie nicht, daß ich auf dem Gesicht das Merkmal meiner Schande eingezeichnet trage? Ich habe Ihnen die Geschichte auf diese Weise erzählt, damit Sie sie zu Ende hören sollten. Ich habe den Mann verraten, der mich geschützt hatte: ich bin Vincent Moon. Jetzt verachten Sie mich.« 1942

Thema vom Verräter und vom Helden So the Platonic Year Whirls out new right and wrong, Whirls in the old instead; All men are dancers and their tread Goes to the barbarous clangour of a gong. W. B. Teals: The Tower

Unter dem notorischen Einfluß Chestertons (der sich auf das Erzählen und Ausschmücken eleganter Geheimnisse versteht) und des Hofrats Leibniz (der die prästabilierte Harmonie er­

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fand) bin ich auf dieses Thema verfallen, das ich vielleicht einmal ausfuhren werde, und das mich schon heute im Verlauf meiner müßigen Abende irgendwie rechtfertigt. Noch fehlen Einzelheiten. Richtigstellungen, Zurechtrückungen; es gibt Zonen der Geschichte, die sich mir noch nicht erschlossen haben. Heute, am 3. Januar 1944, sehe ich, ahne ich sie wie folgt: Die Handlung spielt in einem unterdrückten und zähen Land: Polen, Irland, die Republik Venedig, irgendein südamerikanischer oder balkanischer Staat - besser gesagt, sie hat gespielt, denn wenn auch der Erzähler Zeitgenosse ist, so ereignete sich die von ihm erzählte Geschichte doch in der Mitte oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sagen wir (der erzählerisehen Einfachheit halber) Irland; sagen wir 1824. Der Erzähler heißt Ryan; er ist ein Urenkel des jungen, des heldenhaften, des schönen, des ermordeten Fergus Kilpatrick, dessen Grab auf geheimnisvolle Weise geschändet wurde, dessen Name die Verse von Browning und Hugo ziert, dessen Standbild einen grauen Hügel zwischen roten Mooren beherrscht. Kilpatrick war ein Verschwörer, ein geheimer und glorreieher Hauptmann von Verschwörern. Ähnlich wie Moses, der vom Lande Moab aus das gelobte Land sah und es nicht betreten durfte, ging Kilpatrick am Vorabend der siegreichen Rebellion zugrunde, die er voraus geplant und erträumt hatte. Der 100. Jahrestag seines Todes rückt heran; die Umstände des Verbrechens sind rätselhaft. Ryan, mit der Abfassung einer Biographie des Helden beschäftigt, entdeckt, daß das Rätsel über das rein Kriminelle hinausgeht. Kilpatrick wurde in einem Theater ermordet; die englische Polizei hat den Mörder nie gefunden. Die Geschichtsschreiber behaupten, dies Versagen schmälere nicht ihren guten Ruf, da ihn vielleicht die Polizei selbst umbringen ließ. Weitere rätselhafte Züge beunruhigen Ryan. Sie sind zyklischen Charakters: sie scheinen Ereignisse aus weit entfernten Zeiten, weit entfernten Regionen zu wiederholen oder zu kombinieren. So weiß jedermann, daß die Polizei, als sie den Leichnam des Helden untersuchte, einen 189

verschlossenen Brief bei ihm fand, der ihn vor der Gefahr warnte, an diesem Abend das Theater zu besuchen; auch Julius Caesar erhielt, als er zu dem Ort aufbrach, wo ihn die Dolche der Freunde erwarteten, ein Schreiben, das er nicht las, und das den Verrat und alle Namen der Verräter enthüllte. Caesars Gattin, Calpurnia, sah im Traum einen Turm einstürzen, den ihm der Senat zugebilligt hatte. Am Vorabend des Todes von Kilpatrick wurden im ganzen Land falsche und anonyme Gerüchte vom Brand des Rundturmes von Kilgarvan verbreitet, was man als eine Art von Vorzeichen deuten konnte, denn in Kilgarvan war er geboren worden. Diese (und andere) Parallelen zwischen der Geschichte Caesars und der Geschichte eines irischen Verschwörers lassen Ryan auf eine geheime Form der Zeit schließen, auf ein Muster von Linien, die sich wiederholen. Er denkt an die Dezipnal-Geschichte, die Condorcet ersann; an die Morphologien, die Hegel, Spengler und Vico vortrugen; an die Menschen des Hesiod, die vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter entarten. Er denkt an die Seelenwanderung, eine Lehre, die die keltischen Schriften mit Schauder erfüllt, und die der nämliche Caesar den britannischen Druiden zuschrieb. Er denkt, daß Fergus Kilpatrick, bevor er Fergus Kilpatrick war, Julius Caesar war. Aus diesen kreisförmigen Labyrinthen rettet ihn eine seltsame Feststellung, eine Feststellung, die ihn dann in weitere, noch unentrinnbarere und fremdartigere Labyrinthe stürzt: gewisse Worte eines Bettlers, der mit Kilpatrick am Tage seines Todes sprach, waren von Shakespeare in seiner Tragödie Macbeth vorgebildet worden. Daß die Geschichte die Geschichte kopiert haben sollte, war schon bestürzend genug; daß die Geschichte die Literatur kopieren soll, ist unfaßbar . . . Ryan findet heraus, daß im Jahr 1814James Alexander Nolan, der älteste unter den Gefährten des Helden, die Hauptdramen Shakespeares ins Gälische übersetzt hatte, unter ihnen Julius Caesar. Auch entdeckt er in den Archiven einen handschriftlichen Artikel Nolans über die Schweizer Festspiele: große Wanderaufluhrungen, die Tausende von Schauspielern erfordern 19°

und geschichtliche Vorfälle in denselben Städten und Bergen darstellen, wo sie sich ereigneten. Ein anderes, unveröflentlichles Dokument verrät ihm, daß Kilpatrick wenige Tage vor dem Ende, als er in den letzten geheimen Versammlungen den Vorsitz luhrte, das Todesurteil eines Verräters unterschrieben hatte, dessen Name getilgt worden ist. Dieses Urteil stimmt nicht mit der ansonsten milden Natur Kilpatricks überein. Ryan untersucht den Fall (diese Untersuchung ist eine der Lücken des Themas), und es gelingt ihm, das Rätsel zu lösen. Kilpatrick wurde in einem Theater umgebracht, aber ein Theater war auch die ganze Stadt, und die Schauspieler waren Legion, und das Drama, das in seinem Tod gipfelte, dauerte viele Tage und Nächte. Hier folgt, was geschah: Am 2. August 1824 versammelten sich die Verschwörer. Das Land war reif für die Rebellion; irgend etwas schlug trotzdem immer fehl: ein Verräter mußte in der Geheimversammlung stecken. Fergus Kilpatrick hattejames Nolan aufgetragen, diesen Verräter herauszufinden. Nolan führte seine Aufgabe durch: vor der ganzen Versammlung gab er bekannt, daß der Verräter Fergus Kilpatrick selbst sei. Mit unwiderleglichen Beweisen belegte er seine Anklage; die Verschworenen verurteilten ihren Vorsitzenden zum Tode. Dieser unterzeichnete sein eigenes Urteil, bat aber inständig, daß seine Bestrafung nicht dem Vaterland zum Schaden gereiche. Da entwarf Nolan einen seltsamen Plan. Irland vergötterte Kilpatrick; der leiseste Verdacht, daß er ein Schurke sei, hätte die Rebellion vereitelt; Nolan schlug einen Plan vor, der aus der Hinrichtung des Verräters ein Werkzeug zur Befreiung des Vaterlandes machte. Er riet, den Verurteilten von der Hand eines unbekannten Mörders sterben zu lassen, unter absichtlich dramatischen Umständen, die sich in die Einbildungskraft des Volkes eingraben und die Rebellion beschleunigen sollten. Kilpatrick schwor, bei diesem Plan mitzuwirken, der ihm Gelegenheit gab, Abbuße zu tun, und den sein Tod besiegeln würde. Da die Zeit drängte, vermochte Nolan nicht, alle Umstände

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der vielfältigen Hinrichtungszeremonie zu erfinden; er mußte einen anderen Dramatiker kopieren, den englischen Feind William Shakespeare. Er übernahm Szenen aus Macbeth, aus Julius Caesar. Die öffentliche und geheime Vorstellung zog sich über mehrere Tage hin. Der Verurteilte zog in Dublin ein, stritt, handelte, betete, tadelte, sprach pathetische Worte, und jede einzelne dieser Handlungen, die im Nachruhm fortdauern sollten, war von Nolan vorherbestimmt. Hunderte von Schauspielern wirkten zusammen mit dem Hauptdarsteller; einige Rollen waren verzwickt, andere beschränkten sich auf einen Augenblick. Die Dinge, die sie sagten und taten, überdauern in den Geschichtsbüchern, im leidenschaftlichen Gedächtnis Irlands. Kilpatrick, hingerissen von diesem genau ausgedachten Schicksalsablauf, der ihn erlöste und vernichtete, bereicherte mehr als einmal den Text seines Richters mit improvisierten Taten und Worten. So entfaltete sich in der Zeit das volkreiche Drama, bis am 6. August 1824 in einer mit Trauervorhängen ausgeschlagenen Loge, die auf die Theaterloge Lincolns vorausdeutete, die ersehnte Kugel die Brust des Verräters und des Helden durchbohrte, der zwischen zwei Ergießungen jähen Blutes kaum noch ein paar vorgesehene Worte zu sprechen vermochte. In dem Werk Nolans sind die Teile, die sich an Shakespeare anschließen, die am wenigsten dramatischen; Ryan vermutet, daß der Autor sie einfugte, damit irgend jemand künftig die Wahrheit herausfinden sollte. Er begreift, daß auch er in NoIans Fabel einbezogen ist. ... Nach langem, zähem Schwanken beschließt er, die Entdeckung zu verschweigen. Er veröffentlicht ein Buch, das dem Ruhm des Helden gewidmet ist; auch das war, vielleicht, vorgesehen.

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Der Tod und der Kompaß Für Mandie Molina Vedia

Von den vielen Problemen, die den furchtlosen Scharfsinn Lönnrots beschäftigten, war keines so eigenartig - sagen wir ruhig: so rigoros eigenartig - wie die periodische Serie von Bluttaten, die in der Villa Triste-le-Roy, inmitten des immerwährenden Duftes der Eukalyptusbäume, ihren Höhepunkt erreichte. Es stimmt zwar, daß Erik Lönnrot das letzte Verbrechen nicht verhindern konnte, aber unstreitig hat er es vorausgesehen. Auch die Identität von Yarmolinskys unglücklichem Mörder erriet er nicht, wohl aber die versteckte Morphologie der verruchten Serie und die Beteiligung Red Scharlachs, dessen zweiter Spitzname Scharlach der Dandy ist. Dieser Verbreeher hatte (wie so viele) bei seiner Ehre geschworen, Lönnrot zu töten, aber der ließ sich niemals einschüchtern. Lönnrot hielt sich ftir einen reinen Logiker, für einen Auguste Dupin; aber er hatte auch etwas von einem Abenteurer, ja sogar von einem Spieler. Das erste Verbrechen ereignete sich im Hotel du Nord jenem hohen Prisma, das die Flußmündung beherrscht, deren Wasser wüstenfarbig sind. In diesem Turm (der aufdringlich das scheußliche Weiß eines Sanatoriums, die numerierte Teilbarkeit eines Gefängnisses und den allgemeinen Anschein eines Freudenhauses in sich vereinigt) traf am 3. Dezember der Delegierte aus Podolsk zum Dritten Talmudischen Kongreß ein, Dr. Marcel Yarmolinsky, ein Mann mit grauem Bart und grauen Augen. Wir werden nie wissen, ob ihm das Hotel du Nord gefiel: er nahm es mit der uralten Resignation hin, die es ihm ermöglicht hatte, drei Jahre Krieg in den Karpaten zu erdulden und dreitausend Jahre der Unterdrückung und der Pogrome. Man gab ihm ein Zimmer im Stockwerk »R«, gegenüber der Suite, die nicht ohne Pomp der Tetrarch von Galiläa bewohnte. Yarmolinsky speiste zu Abend, verschob die Erfor­ 193

schung der unbekannten Stadt auf den nächsten Tag, verstaute seine vielen Bücher und die sehr wenigen Kleidungsstücke in einem Wandschrank und schaltete sein Licht noch vor Mitternacht aus. (So lautete die Aussage des Chauffeurs des Tetrarchen, der im Nebenzimmer schlief.) Am 4., um 11 Uhr und drei Minuten vormittags, rief ihn ein Redakteur der Jiddischen Jaxlung an; Dr. Yarmolinsky antwortete nicht; man fand ihn in seinem Zimmer, schon mit einem dunklen Anflug im Gesicht, fast nackt unter einem altmodischen großen Mantel. Er lag nicht weit von der Tür entfernt, die auf den Korridor führte; eine tiefe Messerwunde hatte ihm die Brust aufgerissen. Ein paar Stunden später, inmitten von Reportern, Fotografen und Polizisten, erörterten Kommissar Treviranus und Lönnrot im selben Zimmer den Fall in aller Ruhe. »Da braucht man gar nicht erst die Nadel im Heustock zu suchen«, sagte Treviranus und fuchtelte mit einer gewichtigen Zigarre. »Wir wissen alle, daß der Tetrarch von Galiläa die wertvollsten Saphire der Welt besitzt. Irgend jemand wird wohl, als er sie rauben wollte, aus Versehen hier eingedrungen sein. Yarmolinsky ist aufgestanden, und der Dieb mußte ihn umbringen. Was halten Sie davon?« »Möglich, aber nicht interessant«, antwortete Lönnrot. »Sie werden mir entgegnen, daß die Wirklichkeit nicht die geringste Verpflichtung hat, interessant zu sein. Ich werde dem entgegenhalten, daß zwar die Wirklichkeit sich dieser Verpflichtung entziehen kann, Hypothesen können es aber nicht. Die von Ihnen provisorisch vorgebrachte läßt dem Zufall allzuviel Raum. Wir haben es hier mit einem toten Rabbiner zu tun. Deswegen würde ich eine rein rabbinische Erklärung vorziehen; nicht die imaginären Mißgeschicke eines imaginären Diebes.« Übelgelaunt antwortete Treviranus: »Rabbinische Erklärungen interessieren mich nicht. Mich interessiert die Festnähme des Mannes, der diesen Unbekannten erstochen hat.« »So unbekannt ist er auch wieder nicht«, stellte Lönnrot ’94

richtig, »Hier stehen seine Gesammelten Werke.« Er wies auf eine Reihe hoher Bände im Wandschrank: eine Ehrenrettung der Kabbala, eine Untersuchung der Philosophie Robert Fludds, eine wörtliehe Übersetzung des Sepher Yezira, eine Biographie Baal Scherns, eine Geschichte der Sekte der Chassidim, eine Monographie (in Deutsch) über das Tetragrammaton, eine weitere über die göttliche Nomenklatur des Pentateuch. Der Kommissar sah sie furchtsam, fast mit Widerwillen an. Dann brach er in Lachen aus. »Ich bin ein armer Christ«, sagte er. »Nehmen Sie sich meinetwegen all die Scharteken mit. Ich habe keine Zeit, mich mit jüdischem Aberglauben zu befassen.« »Vielleicht gehört dieses Verbrechen in die Geschichte jüdisehen Aberglaubens«, murmelte Lönnrot. »Wie das Christentum«, wagte der Redakteur der Jiddischen Zflitung beizutragen. Er war kurzsichtig, Atheist und sehr schüchtern. Niemand antwortete. Einer der Polizisten hatte in der kleinen Schreibmaschine ein Blatt Papier entdeckt, auf dem der folgende unschlüssige Satz stand: Der erste Buchstabe des NAMENS ist artikuliert worden. Lönnrot lächelte nicht. Plötzlich war er Bibliophile oder Hebraist, ließ sich die Bücher des Toten einpacken und nahm sie mit in seine Wohnung. Der polizeilichen Untersuchung gegenüber gleichgültig, widmete er sich dem Studium der Büeher. Ein großer Oktavband enthüllte ihm die Lehren Israel Baal Schern Tobhs, des Gründers der Sekte der Frommen. Ein anderer die Tugenden und Schrecken des Tetragrammaton, welches der unaussprechliche Name Gottes ist. Ein weiterer die These, daß Gott einen geheimen Namen hat, in dem (wie in der Glaskugel, die die Perser Alexander von Mazedonien zuschreiben) Sein neuntes Attribut enthalten ist, die Ewigkeit - das heißt, die unmittelbare Erkenntnis aller Dinge im Universum, die sein werden, die sind und die waren. Die Überlieferung zählt neunundneunzig Namen Gottes. Die Hebraisten fuhren 195

diese unvollkommene Zahl auf die magische Furcht vor geraden Zahlen zurück; die Chassidim behaupten, dieser Hiatus deute auf einen hundertsten Namen hin - den Absoluten Namen. Von dieser Gelehrsamkeit lenkte ihn wenige Tage später der Besuch des Redakteurs der Jiddischen -ζαι/ung ab. Er wollte über den Mord sprechen; Lönnrot sprach lieber von den verschiedenen Namen Gottes. Daraufhin erklärte der Journalist in drei Spalten, der Ermittler Erik Lönnrot habe sich dem Studium der Namen Gottes gewidmet, um den Namen des Mörders zu finden. Lönnrot, an die Vereinfachungen der Presse gewöhnt, entrüstete sich nicht. Einer von jenen Krämern, die herausgefunden haben, daß jeder beliebige Mensch dazu zu bringen ist, jedes beliebige Buch zu kaufen, brachte eine Volksausgabe der Geschichte der Sekte der Chassidim heraus. Das zweite Verbrechen ereignete sich in der Nacht des dritten Januar, in der verlassensten und wüstesten Gegend der westlichen Vororte der Hauptstadt. Gegen Morgengrauen sah einer der Polizisten, die zu Pferd jene Einsamkeiten bewachen, auf der Türschwelle einer alten Farbenhandlung einen in einen Poncho gehüllten Mann liegen. Das harte Gesicht war wie von Blut maskiert; ein tiefer Messerstich hatte ihm die Brust aufgerissen. An der Wand, über den gelben und roten Rhomben, standen einige mit Kreide geschriebene Wörter. Der Polizist schrieb sie Buchstabe für Buchstabe ab . . . Am Abend fuhren Treviranus und Lönnrot zum abgelegenen Schauplatz des Verbrechens. Links und rechts ihres Wagens löste sich die Stadt auf; das Firmament wuchs, die Bedeutung des Häuser schwand gegenüber Ziegelbrennereien oder Pappeln. Sie kamen zu ihrem elenden Ziel: einer letzten Gasse mit rosafarbenen Lehmwänden, die irgendwie den ungeheuren Sonnenuntergang widerzuspiegeln schienen. Man hatte den Toten bereits identifiziert. Es war Daniel Simon Azevedo. In den alten Vorstädten des Nordens stand er in einem gewissen Ruf, denn er hatte sich vom Kärrner zum 196

Saalschutz bei den Wahlen heraufgearbeitet, um dann zum Dieb zu degenerieren, ja sogar zum Spitzel. (Der einzigartige Stil seines Todes erschien ihnen angemessen, denn Azevedo war der letzte Repräsentant einer Generation von Banditen, die noch mit dem Messer umzugehen verstand, nicht aber mit dem Revolver.) Die mit Kreide hingeschriebenen Worte lauteten: Der zweite Buchstabe des NAMENS ist artikuliert worden. Das dritte Verbrechen ereignete sich in der Nacht des dritten Februar. Kurz vor ein Uhr läutete im Büro des Kommissars Treviranus das Telefon. Ein Mann mit gutturaler Stimme, der betont geheimnisvoll tat, sagte, er heiße Ginzberg (oder Ginsbürg) und sei bereit, gegen eine angemessene Belohnung Einzelheiten über die beiden Opferungen Azevedos und Yarmolinskys mitzuteilen. Ein Mißklang von PfifTen und Hörnern übertönte die Stimme des Denunzianten. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Ohne die Möglichkeit eines Scherzes ganz auszuschließen (schließlich war Karneval) ermittelte Treviranus, daß vom Liverpool House aus gesprochen worden war, einer Taverne in der Rue de Toulon, jener verkommenen Straße, in der das Wachsfigurenkabinett mit der Milchstube koexistiert und das Bordell mit Bibelverkäufern. Treviranus rief den Wirt an (Black Finnegan, ein ehemaliger irischer Gauner, besorgt um und fast vernichtet durch seine Ehrbarkeit) und erfuhr, daß die letzte Person, die das Telefon des Hauses benutzt hatte, ein gewisser Gryphius, ein Mieter, gewesen sei, der gerade eben mit ein paar Freunden weggefahren sei. Treviranus fuhr sofort zum Liverpool House. Dort teilte ihm der Wirt folgendes mit: Vor acht Tagen hatte Gryphius ein Zimmer über der Bar genommen: ein Mann mit scharfen Gesichtszügen, nebelhaftem, grauem Bart und schäbig schwarz gekleidet. Finnegan (der das in Frage stehende Zimmer einem Zweck vorzubehalten pflegte, den Treviranus leicht erriet) hatte eine zweifellos übermäßig hohe Miete verlangt; Gryphius hatte die geforderte Summe auf der Stelle bezahlt. Er ging fast nie aus. Mittag- und Abendessen nahm er im Zimmer ein. Kaum daß 97

man in der Bar sein Gesicht kannte. Heute nacht war er heruntergekommen, um im Büro Finnegans zu telefonieren. Ein geschlossener Wagen war unterdessen draußen vorgefahren. Der Kutscher hatte sich nicht vom Bock gerührt; einige Kunden erinnerten sich, daß er eine Bärenmaske getragen hatte. Aus der Kutsche stiegen zwei Harlekine. Sie waren von kleiner Gestalt, und keiner konnte übersehen, daß sie sehr betrunken waren. Unter Hörnergeblase drangen sie ins Büro Finnegans ein, umarmten Gryphius, der sie zu erkennen schien, sich ihnen gegenüber aber ablehnend verhielt; sie wechselten ein paar Worte auf Jiddisch - er mit leiser und gutturaler Stimme, sie mit verstellten, hohen Stimmen - und gingen dann hinauf in sein Zimmer. Nach einer Viertelstunde kamen alle drei in sehr fröhlichem Zustand wieder herunter. Gryphius torkelte hin und her und schien genauso betrunken zu sein wie die anderen. Groß und schwankend ging er in der Mitte, zwischen den beiden maskierten Harlekinen. (Eine der Frauen in der Bar entsann sich der gelben, roten und grünen Rauten ihrer Kostüme.) Zweimal stolperte er, und beide Male hielten die beiden Harlekine ihn fest. Draußen stiegen die drei in den Wagen und verschwanden in Richtung auf den Binnenhafen, ein Rechteck aus Wasser. Mit einem Fuß schon auf dem Trittbrett kritzelte der eine Harlekin noch eine obszöne Zeichnung und einen Satz auf eine der schiefernen Speisekarten vor der Taverne. Treviranus sah sich den Satz an. Er war beinahe vorauszusehen: Der letzte der Buchstaben des NAMENS ist artikuliert worden. Danach besichtigte er das kleine Zimmer des GryphiusGinzberg. Den Boden bedeckte ein schrofTer Blutstern; in den Ecken lagen Zigarettenstummel einer ungarischen Marke; in einem Schrank stand ein Buch in Latein - Philologus HebraeoGraecus (1739) von Leusden - mit mehreren handschriftlichen Randbemerkungen. Treviranus betrachtete das alles mit Empörung und ließ Lönnrot holen. Der begann zu lesen, ohne erst den Hut abzunehmen, während der Kommissar die einander 198

widersprechenden Zeugen der möglichen Entführung verhörte. Um vier Uhr verließen sie das Haus. Als sie in der gewundenen Rue de Toulon über die wirren Luftschlangen der Nacht schritten, sagte Treviranus: »Und wenn diese Geschichte heute nacht nur etwas vortäusehen soll?« Erik Lönnrot lächelte und las mit vollem Ernst eine - übrigens unterstrichene - Stelle aus dem Kapitel XXXIII des Philologus vor: »>Dies Judaeorum incipit a solis occasu usque ad solis occasum diei sequentis.der Tag der Juden beginnt bei Sonnenuntergang und dauert bis zum nächsten Sonnenuntergang. « * Der andere gab sich ironisch: »Ist das der wichtigste Hinweis, den Sie heute nacht aufgelesen haben?« »Nein. Wichtiger ist ein Wort, das Ginzberg gesagt hat.« Die Zeitungen des folgenden Tages befaßten sich gründlich mit diesen periodischen Fällen von Tod und Verschwinden. Das Kreuz des Schwertes stellte sie in Gegensatz zur bewunderungswürdigen Disziplin und Ordnung des letzten Einsiedlerkongresses. Ernst Palast rügte in Der Märtyrer »die unerträglich stockende Entwicklung eines verhohlenen und sparsamen Pogroms, das drei Monate gebraucht hat, um drei Juden zur Strecke zu bringen«. Die Jiddische Jaitung verwarfdie grauenerregende Hypothese eines antisemitischen Komplotts, »wenn auch manche scharfsinnigen Köpfe sich zu keiner anderen Lösung des dreifachen Rätsels verstehen wollen«. Der bekannteste der Revolverhelden des Südens, Dandy Red Scharlach, schwor, daß es in seinem Distrikt nie zu dergleichen Verbrechen kommen würde, und warf dem Kommissar Franz Treviranus unverantwortliche Nachlässigkeit vor. Dieser empfing in der Nacht des ersten März einen gewichtigen versiegelten Umschlag. Er ößhete ihn: darin waren ein mit Baruch Spinoza unterzeichneter Brief und ein genauer Plan der Stadt, offensichtlich aus einem Baedeker herausgerissen. Der Brief prophezeite, daß am dritten März kein viertes Ver­

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brechen stattfinden würde, denn die Farbenhandlung im Westen, die Taverne in der Rue de Toulon und das Hotel du Nord seien »die genauen Scheitelpunkte eines gleichseitigen und mystischen Dreiecks«. Der Plan demonstrierte mit roter Tinte die Regelmäßigkeit des Dreiecks. Treviranus las resigniert diese Beweisführung more geometrico und schickte Brief und Plan Lönnrot ins Haus - dem solche Narreteien zweifellos zukamen. Erik Lönnrot studierte Plan und Zuschrift eingehend. Die drei Orte waren tatsächlich gleich weit voneinander entfernt. Es lag also eine Symmetrie nicht nur in der Zeit (3. Dezember, 3. Januar, 3. Februar), sondern auch eine Symmetrie im Raum vor ... Er hatte auf einmal das Gefühl, daß er vor der Lösung des Geheimnisses stand. Ein Kompaß und ein Zirkel kamen der jähen Eingebung ergänzend zu Hilfe. Er lächelte, sprach das Wort Tetragrammaton aus (das er sich unlängst erst zu eigen gemacht hatte) und rief den Kommissar an. »Vielen Dank für das gleichseitige Dreieck, das Sie mir gestem abend geschickt haben. Es hat mir erlaubt, das Problem zu lösen. Morgen, Freitag, werden die Verbrecher im Gefängnis sitzen. Wir können ganz beruhigt sein.« »Dann ist also kein viertes Verbrechen geplant?« »Eben weil sie ein viertes Verbrechen planen, können wir ganz beruhigt sein.« Lönnrot hängte ein. Eine Stunde später saß er in einem Zug der Südbahn. Sein Ziel war die leerstehende Villa Triste-le-Roy. Im Süden der Stadt meiner Geschichte fließt ein trübes, lehmiges Flüßchen, geschändet von Abwässern und Kehricht. Auf der anderen Seite liegt eine Fabrikstadt, in der, beschirmt von einem Boß aus Barcelona, die Revolverhelden gedeihen. Lönnrot lächelte bei dem Gedanken, daß der berüchtigteste von ihnen - Red Scharlach - alles dafür gegeben hätte, diesen heimlichen Ausflug in Erfahrung zu bringen. Azevedo war ein Kumpel von Scharlach gewesen; Lönnrot erwog die entfernte Möglichkeit, daß Scharlach selbst das vierte Opfer sein sollte. Aber dann verwarf er sie . . . Er

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hatte das Problem so gut wie gelöst. Die bloßen Umstände, die Wirklichkeit (Namen, Verhaftungen, Gesichter, Justiz- und Gerängnisformalitäten) interessierten ihn jetzt kaum mehr. Er wollte spazierengehen, sich ausruhen von den drei Monaten, in denen er seine Nachforschungen im Sitzen betrieben hatte. Er dachte noch einmal darüber nach, daß die Aufklärung der Verbrechen in einem anonymen Dreieck und in einem verstaubten griechischen Wort steckte. Das Mysterium erschien ihm jetzt fast so klar wie Kristall. Es verdroß ihn, daß er hundert Tage damit zugebracht hatte. Der Zug hielt auf einem stillen Güterbahnhof. Lönnrot stieg aus. Es war einer jener öden Spätnachmittage, die dem Morgengrauen gleichen. Die Luft über der dunstigen Ebene war feucht und kalt. Lönnrot begann über die Felder zu wandern. Er sah Hunde, er sah einen Viehwaggon auf einem toten Gleis, sah den Horizont, ein silberfarbenes Pferd, das köstliches Wasser aus einer Pfütze sofT. Es wurde schon dunkel, als er endlich den rechteckigen Erker der Villa Triste-le-Roy auftauchen sah, fast genauso hoch wie die schwarzen Eukalyptusbäume, die ihn umstanden. Er dachte daran, daß nur noch ein Morgengrauen und ein Sonnenuntergang (ein alter Glanz im Osten und ein anderer im Westen) ihn von der Stunde trennten, die die Sueher des NAMENS herbeisehnten. Ein rostiges Gitter begrenzte den unregelmäßigen Umkreis des Grundstücks. Das Haupttor war geschlossen. Ohne große HofTnung, einen anderen Zugang zu finden, ging Lönnrot das Gitter entlang. Wieder am unzugänglichen Portal angelangt, schob er fast mechanisch die Hand durch die Stäbe und fand den Riegel. Das Quietschen der Eisenscharniere überraschte ihn. Mit beschwerlicher Nachgiebigkeit wich das ganze Tor zurück. Lönnrot nahm seinen Weg zwischen den Eukalyptusbäumen und trat auf Generationen starrer, gebrochener Blätter. Von nahem gesehen, schwelgte das Haupthaus des Anwesens Triste-le-Roy in unnützen Symmetrien und manischen Wie­

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derholungen: einer eisigen Diana in einer modrigen Nische entsprach in einer zweiten Nische eine andere Diana; ein Balkon hatte sein Ebenbild in einem anderen Balkon; doppelte Freitreppen mündeten in doppelte Balustraden. Ein zweigesichtiger Hermes warf einen monströsen Schatten. Lönnrot umschritt das Haus, wie er vorher das Grundstück umschritten hatte. Alles prüfte er genau. Unterhalb der Terrasse fand er eine schmale Schiebetür. Er drückte sie auf: ein paar Marmorstufen führten in ein Souterrain. Lönnrot, dem die bevorzugten Launen des Architekten schon vertraut zu werden begannen, ahnte, daß er an der Gegenwand des Kellergeschosses wieder auf Marmorstufen stoßen würde. Er fand sie, stieg hinauf, reckte die Hände und hob eine Falltüre auf. Ein Leuchten zog ihn ans Fenster. Er öffnete es: ein gelber und runder Mond umriß in dem traurigen Garten zwei versiegte Springbrunnen. Lönnrot durchforschte das Haus. Durch Vorsäle und Gänge trat er in Patios, die einander glichen, mehrmals auch in denselben Patio. Über verstaubte Treppen gelangte er in kreisrunde Vorzimmer. In opponierenden Spiegeln sah er sich endlos vervielfältigt. Er wurde es müde, ganz oder spaltweise Fenster zu öffnen, die ihm draußen immer denselben trostlosen Garten zeigten, aus verschiedenen Blickwinkeln und verschiedener Höhe gesehen. Drinnen stieß er immer wieder auf Möbel mit gelben Überzügen und auf Lüster in baumwollenen Hüllen. In einem Schlafzimmer verhielt er den Schritt. Hier stand in einer Porzellanvase eine einzige Blume. Bei der ersten Berührung zerfielen die alten Blütenblätter. Im zweiten, dem obersten Stockwerk erschien ihm das Haus unendlich groß und immer noch wachsend. An sich ist das Haus nicht so groß, dachte er. Die Dunkelheit, die Symmetrie, die Spiegel, die vielen Jahre, meine Unvertrautheit, die Einsamkeit lassen es größer erscheinen. Über eine Wendeltreppe erreichte er schließlich den Erker. Der Abendmond warf sein Licht durch die Rauten der Fenster; 202

sie waren gelb, rot und grün. Eine bestürzende und schwindelerregende Erinnerung ließ ihn innehalten. Zwei Männer von kleiner Statur, wild und stämmig, fielen ihn an und entwaffneten ihn. Ein dritter, sehr großer, grüßte ihn ernst und sagte: »Sie sind sehr liebenswürdig. Sie haben uns eine Nacht und einen Tag erspart.« Es war Red Scharlach. Die beiden anderen fesselten Lönnrots Hände. Der fand endlich die Sprache wieder. »Scharlach, suchen Sie den Geheimen Namen?« Scharlach stand da, gleichgültig. Er hatte sich an dem kurzen Handgemenge nicht beteiligt; kaum daß er die Hand ausgestreckt hatte, um Lönnrots Revolver entgegenzunehmen. Dann sprach er; Lönnrot hörte aus seiner Stimme einen erschöpften Triumph, einen Haß von der Größe des Universums und eine Traurigkeit, nicht minder groß als der Haß. »Nein«, sagte Scharlach, »ich suche etwas Vergänglicheres und Hinfälligeres, ich suche Erik Lönnrot. Vor drei Jahren haben Sie in einem Spiellokal in der Rue de Toulon eigenhändig meinen Bruder verhaftet und ihn einsperren lassen. In einem Wagen haben meine Männer mich aus der Schießerei herausgeholt, mit einer Polizeikugel im Bauch. Neun Tage und neun Nächte habe ich hier in dieser verlassenen symmetrischen Villa mit dem Tod gekämpft; das Fieber hat mich verheert, der schauderhafte zweigesichtige Janus, der die Sonne auf- und untergehen sieht, hat mein Schlafen und Wachen mit Entsetzen gefüllt. Am Ende habe ich meinen Körper verabscheut und hatte das Gefühl, zwei Augen, zwei Hände, zwei Lungen seien genau so ungeheuerlich wie zwei Gesichter. Ein Ire hat versucht, mich zum Glauben an Jesus zu bekehren: er predigte mir immer wieder den Satz der Gojim >Alle Wege fuhren nach RomOpfer< habe ich die Nacht des dritten Januar ausgesucht. Yarmolinsky starb im Norden; für das zweite >Opfer< schien uns ein Ort im Westen passend. Daniel Azevedo war das notwendige >Opferc Er hatte den Tod verdient: er war ein Triebmensch, ein Verräter; seine Verhaftung hätte den ganzen Plan zunichte gemacht. Einer von unseren Leuten hat ihn erstochen. Um seine Leiche mit der von Yarmolinsky in Zusammenhang zu bringen, habe ich über die Rhomben der Farbenhandlung geschrieben: Der zweite Buchstabe des NAMENS ist artikuliert worden. Das dritte )Verbrechen« fand am dritten Februar statt. Wie Treviranus erraten hat, handelt es sich nur um ein Scheinverbrechen. Gryphius-Ginzberg-Ginsburg bin ich. Eine endlose Woche, dazu mit einem schütteren falschen Bart, habe ich in diesem widerlichen Loch in der Rue de Toulon verbracht, bis meine Freunde mich endlich entfuhrt haben. Vom Trittbrett des Wagens aus hat einer von ihnen an den Pfeiler geschrieben: Der letzte der Buchstaben des NAMENS ist artikuliert worden. Dadurch wurde bekannt, daß es sich um eine Dreizahl von Verbrechen handelt. So hat es die Öffentlichkeit auch verstanden; ich hatte aber verschiedene Hinweise eingeschaltet, damit Sie, der reine Denker Erik Lönnrot, erraten sollten, daß es sich um eine Vierzahl handelte. Ein seltsamer Vorfall im Norden, zwei weitere im Osten und im Westen schreien nach einem vierten im Süden; außerdem besteht das Tetragrammaton - der Name Gottes, JHVH - doch aus vier Buchstaben. Die Harlekine und die Rhomben des Farbenladens deuteten ebenfalls auf vier Elemente hin. Im Handbuch von Leusden habe ich dann eine gewisse Stelle unterstrichen. Sie besagt, daß die Hebräer den Tag von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang rechnen. Die Stelle gibt zu verstehen, daß die Morde alle am vierten des jeweiligen Monats stattgefunden hatten. Ich habe Treviranus 205

auch das gleichseitige Dreieck geschickt. Ich sah voraus, daß Sie den fehlenden Punkt ergänzen würden, den Punkt nämlich, der einen vollkommenen Rhombus ergibt, den Punkt, wo ein ausgefeilter Tod Sie erwartet. All das habe ich geplant, Erik Lönnrot, um Sie hierher zu locken, in die Einsamkeit von Triste-le-Roy.« Lönnrot wich den Augen Scharlachs aus. Er sah hinaus auf Bäume und Himmel, die in trüb gelbe, grüne und rote Rhomben zerschnitten waren. Er fröstelte ein wenig und empfand eine unpersönliche, fast anonyme Traurigkeit. Es war schon Nacht; aus dem staubigen Garten drang der unnütze Ruf eines Vogels herauf. Lönnrot überdachte zum letzten Mal das Problem der symmetrischen und periodischen Morde. »In Ihrem Labyrinth sind drei Linien zuviel«, sagte er schließlich. »Ich weiß von einem griechischen Labyrinth, das aus einer einzigen, geraden Linie besteht. Auf dieser Linie haben sich schon so viele Philosophen verirrt, daß ein bloßer Detektiv sich wohl verirren darf. Scharlach, wenn Sie in einer anderen Wiedergeburt wieder Jagd auf mich machen, dann fingieren - oder begehen - Sie bitte ein Verbrechen in A, dann ein zweites in B, acht Kilometer von A entfernt; daraufhin ein drittes in C, vier Kilometer von A und B entfernt, auf halbem Weg zwischen beiden. Erwarten Sie mich in D, zwei Kilometer von A und C entfernt, wiederum auf halbem Weg. Und töten Sie mich in D, so wie Sie mich jetzt in Triste-le-Roy töten werden.« »Für das nächste Mal, daß ich Sie töte«, entgegnete Scharlach, »verspreche ich Ihnen dieses Labyrinth, das aus einer einzigen, geraden Linie besteht, und das unsichtbar, unaufhörlieh ist.« Er trat einige Schritte zurück. Dann, sehr sorgfältig, feuerte er.

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Das geheime Wunder

Und Gott ließ ihn hundert Jahre lang sterben; dann hauchte er ihm Leben ein und sprach zu ihm: »Wie lange bist du hier gewesen?« »Einen Tag oder den Bruchteil eines Tags«, antwortete er. Koran, II, 261

Jaromir Hladik, Autor der unvollendeten Tragödie Die Feinde, einer Ehrenrettung der Ewigkeit und einer Untersuchung der indirekten jüdischen Quellen bei Jakob Böhme, träumte in der Nacht des 14. März 1939 in einer Wohnung in der Zeltnergasse in Prag von einer großen Schachpartie. Sie wurden nicht von zwei Personen, sondern von zwei berühmten Familien gespielt; die Partie hatte schon vor vielen Jahrhunderten begonnen; niemand kannte mehr den Einsatz, um den gespielt wurde, aber man munkelte, er sei ungeheuer, ja vielleicht unendlich groß; die Figuren und das Schachbrett standen in einem geheimen Turm; Jaromir war (im Traum) der Erstgeborene einer der verfeindeten Familien; auf den Uhrtürmen schlug die Stunde der unaufschiebbaren Partie; der Träumer lief durch die Sanddünen einer regnerischen Einöde und wußte sich weder der Figuren noch der Regeln des Schachspiels zu erinnern. An diesem Punkt wachte er auf. Das donnernde Geräusch des Regens und der furchtbaren Uhren hörte auf. Ein rhythmischer, einmütiger Lärm, von Kommandostimmen unterbrochen, drang von der Zeltnergasse herauf. Es war früher Morgen; die gepanzerte Vorhut des Dritten Reichs rückte in Prag ein. Am neunzehnten ging bei den Behörden eine Denunziation ein; am gleichen neunzehnten gegen Abend wurde Jaromir Hladik verhaftet. Man schaffte ihn in eine aseptische und weiße

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Kaserne am anderen Ufer der Moldau. Er konnte keine einzige Anschuldigung der Gestapo widerlegen: der Familienname seiner Mutter war Jaroslawski, er war jüdischen Blutes, seine Untersuchung über Böhme warjudaisierend, seine Unterschrift verlängerte eine Liste von Proteststimmen gegen den Anschluß. 1928 hatte er das Sepher l'ezira für den Verlag Herman Barsdorf übersetzt; der überschwengliche Prospekt dieses Hauses hatte aus Geschäftsgründen den Namen des Übersetzers in den Hirnmel gehoben; diesen Prospekt hatte Julius Rothe, einer der Gestapofuhrer, in dessen Händen Hladiks Schicksal lag, durchgeblättert. Es gibt keinen Menschen, der nicht außerhalb seines Spezialgebiets leichtgläubig ist; zwei oder drei Adjektive in gotischen Lettern genügten, um Julius Rothe von Hladiks Bedeutung zu überzeugen, und er befahl, ihn zum Tode zu verurteilen, />ow encourager les autres. Die Hinrichtung wurde auf den neunundzwanzigsten März, neun Uhr morgens, festgesetzt. Dieser Aufschub (dessen Bedeutung der Leser später würdigen wird) war dem behördlichen Wunsch zu verdanken, ganz unpersönlich und ohne Übereilung vorzugehen, wie die Pflanzen und die Planeten. Hladiks erste Empfindung war schieres Entsetzen. Er meinte, daß der Galgen, die Enthauptung oder die Garrotte ihn nicht so in Schrecken versetzt haben würden, daß aber der Tod durch Erschießen unerträglich sei. Vergeblich sagte er sich immer wieder, daß die schlichte und allgemeine Tatsache des Sterbens das Furchterregende sei, nicht die konkreten Umstände. Unaufhörlich stellte er sich diese Umstände vor: unsinnigerweise suchte er alle Varianten zu erschöpfen. Unzählige Male nahm er den ganzen Hergang vorweg, vom schlaflosen Morgengrauen bis zu der geheimnisvollen Salve. Vor dem von Julius Rothe festgesetzten Tag war er schon Hunderte von Toden gestorben, in Höfen, deren Winkel die Geometrie überforderten, niedergestreckt von veränderlichen Soldaten in wechselnder Anzahl, die ihn manchmal aus der Feme auslöschten, andere Male ganz aus der Nähe. Er bot diesen eingebildeten

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Hinrichtungen mit wirklicher Angst die Stirn (vielleicht mit wirklichem Mut); jedes Trugbild dauerte wenige Sekunden; hatte der Kreis sich geschlossen, so kehrte Jaromir endlos zu den bebenden Vorabenden seines Todes zurück. Dann überlegte er, daß die Wirklichkeit nicht mit dem Vorausgesehenen übereinzustimmen pflegt; mit perverser Logik folgerte er daraus, daß einen Nebenumstand vorhersehen soviel heißt wie verhindern, daß er eintrifTt. Getreu dieser schwächlichen Magie erfand er, damit sie nicht geschähen, gräßliche Einzelheiten; selbstverstündlich fürchtete er zum Schluß, diese Einzelheiten seien prophetisch. In diesen Elendsnäcßten suchte er auf irgendeine Weise in der flüchtigen Substanz der Zeit Halt zu finden. Er wußte, daß diese auf die Morgendämmerung des neunundzwanzigsten zustürzte; laut mit sich selber sprechend überlegte er: »Jetzt lebe ich in der Nacht des Zweiundzwanzigsten; solange diese Nacht dauert (und noch weitere sechs Nächte), bin ich unverwundbar, unsterblich.« Er stellte sich seine Traumnächte als tiefe dunkle Brunnenschächte vor, in die er sich versenken konnte. Manchmal ersehnte er mit Ungeduld die endgültige Salve, die ihn wohl oder übel von seiner vergeblichen Einbildungsmühe erlösen würde. Am achtundzwanzigsten, als der letzte Sonnenuntergang von den hohen Eisengittem widerstrahlte, lenkte ihn der Gedanke an sein Drama Die Feinde von diesen erbärmlichen Erwägungen ab. Hladik hatte die Vierzig überschritten. Abgesehen von einigen Freundschaften und vielen Gewohnheiten machte die problematische literarische Betätigung sein Leben aus; wie alle Schriftsteller maß er die Fähigkeiten der anderen an dem, was sie geleistet hatten, und erwartete, daß die anderen ihn nach dem beurteilten, was er erträumte oder plante. Alle Bücher, die er in Druck gegeben hatte, flößten ihm ein komplexes Reuegefühl ein. Bei seinen Untersuchungen der Werke Böhmes, Ibn Esras, Fludds war vorwiegend der bloße Fleiß maßgebend gewesen, bei seiner Übersetzung des Sepher Yezira die Nachlässigkeit, die Mühsal und die bloße Mutmaßung. Für weniger 209

mangelhaft hielt er möglicherweise seine Ehrenrettung der Ewigkeit; der erste Band schilderte die verschiedenen Ewigkeiten, die die Menschen ersonnen haben, vom unbeweglichen Sein des Parmenides bis zur veränderlichen Vergangenheit Hintons; der zweite leugnet (mit Francis Bradley), daß alle Vorfälle des Universums eine zeitliche Reihenfolge bilden. Er argumentiert, daß die Zahl der möglichen Erfahrungen des Menschen nicht unendlich ist, und daß eine einzige >Wiederholung< genügt, um zu beweisen, daß die Zeit ein Trug ist . . . Unglücklicherweise sind die Argumente, mit denen dieser Trug bewiesen wird, nicht minder trügerisch. Hladik pflegte sie mit einer Art geringschätziger Betroffenheit durchzugehen. Auch hatte er eine Reihe expressionistischer Gedichte verfaßt; diese erschienen, zur Verwirrung des Dichters, in einer Anthologie von 1924, und es gab keine spätere Anthologie, die sie nicht erbte. Von dieser ganzen zweideutigen und kümmerlichen Vergangenheit wollte Hladik sich mit dem Versdrama Die Feinde loskaufen. (Hladik pries den Vers, weil er verhindert, daß die Zuschauer die Irrealität, die Voraussetzung der Kunst ist, vergessen.) Dieses Drama wahrte die Einheit der Zeit, des Orts und der Handlung; es spielte in Hradcany, in der Bibliothek des Barons von Roemerstadt, an einem der letzten Abende des 19. Jahrhunderts. In der ersten Szene des ersten Aktes besucht ein Unbekannter Roemerstadt. (Eine Uhr schlägt sieben, das Feuer der scheidenden Sonne läßt die hohen Glasfenster aufglühen, der Wind trägt die deutlich erkennbaren Klänge einer leidenschaftlichen ungarischen Musik heran.) Diesem Besuch folgen andere; Roemerstadt kennt die Personen, die ihn behelligen, nicht, hat aber das unbehagliche Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, vielleicht in einem Traum. Alle sagen ihm übertriebene Schmeicheleien, aber es ist klar, zuerst dem Zuschauer, dann ihm selbst, daß sie geheime Feinde sind, die sich verschworen haben, ihn zu verderben. Roemerstadt gelingt es, ihre verzwickten Intrigen zu durchkreuzen oder zu vereiteln; im Gespräch wird auf seine Verlobte, Julia von Weidenau,

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angespielt, sowie auf einen gewissen Jaroslav Kubin, der sie früher einmal mit seiner Liebe belästigt hat. Inzwischen ist dieser Kubin wahnsinnig geworden und hält sich für RoemerStadt. . . Die Gefahren mehren sich; am Ende des zweiten Akts sieht sich Roemerstadt gezwungen, einen Verschwörer zu töten. Der dritte Akt, der letzte, beginnt. Allmählich häufen sich die Widersinnigkeiten: Schauspieler, die aus der Handlung bereits ausgeschieden zu sein schienen, treten wieder auf; für einen Augenblick kehrt der von Roemerstadt Getötete zurück. Jemand macht darauf aufmerksam, daß es nicht Abend geworden ist; die Uhr schlägt sieben, in den hohen Glasfenstern spiegelt sich von Westen her die Sonne; der Wind trägt eine leidenschafdiche ungarische Musik heran. Es tritt der erste Gesprächspartner auf und wiederholt die Worte, die er in der ersten Szene des ersten Aktes gesprochen hat. Roemerstadt spricht mit ihm ohne Erstaunen; der Zuschauer begreift, daß Roemerstadt der elende Jaroslav Kubin ist. Das Drama hat sich nicht ereignet: es ist die kreisende Wahnvorstellung, die Kubin unaufhörlich und immer von neuem lebt. Nie hatte Hladik sich gefragt, ob diese Tragikomödie der Irrungen banal oder bewundernswert, folgerichtig oder zufällig sei. In dem Handlungsschema, das ich skizziert habe, erkannte er ahnungsweise die Erfindung, die am geeignetsten war, seine Mängel zu verbergen und seine glücklichsten Seiten spielen zu lassen, die Gelegenheit, (auf symbolische Art) das Grundgefuhl seines Lebens einzulösen. Er hatte den ersten Akt schon beendet, auch ein paar Szenen des dritten; der metrische Charakter des Werks erlaubte ihm, es ständig zu überprüfen, die Hexameter zu verbessern, ohne das Manuskript vor Augen zu haben. Er dachte daran, daß noch zwei Akte fehlten, und daß er sehr bald sterben würde. Im Dunkeln redete er mit Gott. »Wenn ich auf irgendeine Weise existiere, wenn ich nicht eine Deiner Wiederholungen und Fehler bin, so existiere ich als Autor von Die Feinde. Um dieses Drama zu vollenden, das mich und Dich rechtfertigen kann, brauche ich noch ein Jahr. Gewähre mir 21 I

diese Tage, Du, dessen die Jahrhunderte sind und die Zeit.« Es war Nacht, die gräßlichste, aber zehn Minuten später spülte der Schlaf ihn hinweg wie ein dunkles Wasser. Gegen Morgen träumte ihm, er hätte sich in der Bibliothek des Clementinum verborgen. Ein Bibliothekar mit schwarzer Brille fragte ihn: »Was suchen Sie?« Hladik antwortete: »Ich suche Gott.« Der Bibliothekar antwortete: »Gott ist in einem der Buchstaben auf einer der Seiten eines der vierhunderttausend Bände des Clementinum. Meine Eltern und die Eltern meiner Eltern haben diesen Buchstaben gesucht. Ich habe mich blind danach gesucht.« Er nahm die Brille ab, und Hladik sah die Augen, die tot waren. Ein Leser kam herein, um einen Atlas zurückzugeben. »Dieser Atlas taugt nichts«, sagte er und reichte ihn Hladik. Der öffnete ihn aufs Geratewohl. Er sah eine Landkarte von Indien; ihm schwindelte. Mit plötzlicher Gewißheit berührte er einen der winzig kleinen Buchstaben. Eine allgegenwärtige Stimme sprach zu ihm: »Die Zeit für deine Arbeit ist dir gewährt.« Hier erwachte Hladik. Er erinnerte sich daran, daß die Träume der Menschen Gott angehören, und daß Maimonides geschrieben hat, die Worte eines Traums seien göttlicher Art, wenn sie klar und deutlich vernehmbar sind und man nicht den sehen kann, der sie spricht. Er kleidete sich an; zwei Soldaten betraten die Zelle und befahlen ihm, ihnen zu folgen. Jenseits der Tür hatte Hladik sich ein Labyrinth von Galerien, Treppen und Nebengebäuden vorgestellt. Die Wirklichkeit war nicht so reich; sie stiegen über eine einzige Eisentreppe in einen Hinterhof hinab. Mehrere Soldaten - einer in aufgeknöpftem Uniformrock - untersuchten ein Motorrad und diskutierten darüber. Der Feldwebel sah auf die Uhr: es war acht Uhr vierundvierzig. Es hieß warten, bis es neun schlug. Hladik setzte sich, mehr unbedeutend als unglücklich, auf einen Holzstoß. Er bemerkte, daß die Augen der Soldaten seinen auswichen. Um ihm das Warten zu erleichtern, streckte der Feldwebel ihm eine Zigarette hin. Hladik rauchte nicht; aus Höflichkeit

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oder Demut nahm er sie. Als er sie anzündete, merkte er, daß seine Hände zitterten. Der Tag bewölkte sich; die Soldaten sprachen gedämpft, als sei er schon tot. Vergeblich versuchte er, sich an die Frau zu erinnern, deren Symboljulia von Weidenau war ... Das Kommando formierte sich, richtete sich aus. Hladik erwartete aufrecht vor der Kasernen wand die Salve. Jemand äußerte Besorgnis, die Wand könne Blutspritzer abbekommen; da befahl man dem Delinquenten, ein paar Schritte vorzutreten. Absurderweise mußte Hladik an die langwierigen Vorbereitungen beim Fotografen denken. Ein schwerer Regentropfen streifte Hladiks Schläfe und rollte langsam die Wange herab. Der Feldwebel schrie den letzten Befehl. Das physische Universum blieb stehen. Die Gewehre waren auf Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten sollten, waren unbeweglich. Der Arm des Feldwebels verewigte eine unabgeschlossene Gebärde. Auf eine Fliese des Hofs warf eine Biene einen festen Schatten. Wie auf einem Bild hatte der Wind zu wehen aufgehört. Hladik versuchte einen Schrei, eine Silbe, eine Handbewegung. Er begriff, daß er paralysiert war. Kein noch so schwacher Laut erreichte ihn mehr aus der gelähmten Welt. Er dachte: »Ich bin in der Hölle, ich bin tot.« Er dachte: »Ich bin wahnsinnig.« Er dachte: »Die Zeit ist stehengeblieben.« Dann überlegte er, daß in diesem Fall ja auch sein Denken mit stehengeblieben wäre. Er wollte die Probe machen: ohne die Lippen zu bewegen, sagte er sich die geheimnisvolle vierte Ekloge von Vergil vor. Er meinte, die schon femgerückten Soldaten müßten sein Angstgefühl teilen; es drängte ihn, sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Es erstaunte ihn, daß er keinerlei Ermüdung empfand, nicht einmal ein Schwindelgefühl durch das lange unbewegliche Stehen. Nach einer unbestimmten Zeit schlief er ein. Als er aufwachte, war die Welt noch immer unbeweglich und stumm. Auf seiner Wange dauerte der Wassertropfen, im Hof der Schatten der Biene; der Rauch der Zigarette, die er fortgeworfen hatte, kam

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nicht dazu sich zu verflüchtigen. Es verging ein weiterer »Tag«, bevor Hladik begriff Ein volles Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk zu beenden: ein Jahr gewährte ihm seine Allmacht. Gott vollbrachte für ihn ein geheimes Wunder: das Blei der Deutschen würde ihn zur bestimmten Stunde töten, aber in seinem Geist würde ein Jahr vergehen zwischen dem Befehl zum Feuern und der Ausführung des Befehls. Von der Bestürzung ging er zu fassungslosem Staunen, von dem Staunen zu Ergebung, von der Ergebung zu plötzlicher Dankbarkeit über. Er verfügte über kein Dokumentenmaterial als sein Gedachtnis. Das Abwägen jeden Hexameters, den er hinzufügte, nötigte ihn zu einer vorteilhaften Strenge, von der jene nichts ahnen, die vorläufige und verwaschene Sätze aufs Geratewohl hinsudein und vergessen. Er arbeitete nicht für die Nachwelt, nicht einmal für Gott, über dessen literarische Vorlieben er wenig wußte. Peinlich genau, unbeweglich, geheim spann er in der Zeit sein hohes unsichtbares Labyrinth. Zweimal überarbeitete er den dritten Akt. Er tilgte das eine oder andere allzu deutliche Symbol: die wiederkehrenden Glockenschläge, die Musik. Kein Einzelumstand machte ihm zu schafTen. Er ließ fort, kürzte, erweiterte; in einem Fall kam er aufdie erste Fassung zurück. Er gewann schließlich den Hof, die Kaserne lieb; eines der Gesichter ihm gegenüber änderte seine Auflassung vom Charakter Roemerstadts. Er entdeckte, daß die grellen Mißklänge, die Flaubert so erschreckten, bloßer Augenaberglaube sind: Schwächen und Beschwerden des geschriebenen, nicht des klingenden Wortes ... Er beendete sein Drama; nur die Frage eines einzigen Beiworts galt es noch zu lösen. Er fand es; der Wassertropfen rollte über seine Wange herab. Er stieß einen verrückten Schrei aus, wandte sein Gesicht, die vierfache Salve warf ihn nieder. Jaromir Hladik starb am neunundzwanzigsten März, um neun Uhr zwei Minuten.

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Drei Fassungen von Judas There seemed a certainty in degradation. T. E. Lawrence Seven Pillars of Wisdom, CIII

In Kleinasien oder in Alexandria, im zweiten Jahrhundert unseres Glaubens, als Basilides verkündete, der Kosmos sei eine verwegene oder verworfene Improvisation fehlerhafter Engel, hätte Nils Runeberg mit ausgesuchtem Verstandeseifer einen der gnostischen Konventikel geleitet. Dante hätte ihm unter Umständen ein feuriges Grab zudiktiert; sein Name würde die Kataloge kleinerer Ketzer zwischen Satornilos und Karpokrates bereichern; ein Bruchstück aus seinen Predigten, mit Injurien geziert, dauerte in dem apokryphen Liber adversus omnes haereses fort oder wäre, als der Brand einer Klosterbibliothek das letzte Exemplar des Syntagma vernichtete, untergegangen. Statt dessen beschied Gott ihm das 20. Jahrhundert und die Universitätsstadt Lund. Hier veröffentlichte er im Jahre 1904 die erste Ausgabe von Kristus och Judas‫׳‬, hier, im Jahre 1909, sein Hauptwerk Den hemlige Frälsaren. (Von dem zweiten Buch gibt es eine deutsche Fassung, die im Jahr 1912 Emil Schering besorgte; sie heißt Der heimliche Heiland.) Ehe wir die vorgenannten Arbeiten näher untersuchen, muß wiederholt werden, daß Nils Runeberg, Mitglied der Evangelischen Nationalunion, tief religiös war. In einem Intellektuellenzirkel in Paris oder auch in Buenos Aires könnte ein Literat die Thesen von Runeberg sehr wohl wieder aufgreifen; Thesen jedoch, in einem solchen Zirkel vorgetragen, wären leichtfertige und überflüssige Übungen in Gedankenlosigkeit oder Blasphemie. Für Runeberg dagegen waren sie der Schlüssel zu einem zentralen Mysterium der Theologie; sie boten ihm den StofTfür Meditationen und Analyse, für geschichtliche und philologisehe Kontroversen, für Hochmut, Jubel und Schrecken. Sie rechtfertigten und zerstörten sein Leben. Wer sich mit diesem

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Artikel befaßt, muß überdies bedenken, daß er nur die Schlußfolgerungen Runebergs verzeichnet, nicht seine Dialektik und seine Beweise. Jemand wird die Bemerkung machen, daß die Schlußfolgerung sicher vor den »Beweisen« da war. Wer bescheidet sich damit, Beweise für etwas zu suchen, woran er nicht glaubt, oder an dessen Verkündigung ihm nichts liegt? Die erste Ausgabe von Kristus och Judas ist unter den folgenden kategorischen Vorspruch gestellt, dessen Sinngehalt der nämliche Nils Runebergjahre später auf ungeheuerliche Weise erweitern sollte: »Nicht nur ein einzelner Zug, sondern alles, was die Überlieferung Judas Ischariot ansinnt, ist falsch.« (De Quincey, 1857) In der Nachfolge eines Deutschen hatte De Quincey die spekulative Behauptung aufgestellt, daß Judas den Herrn auslieferte, um ihn zur Erklärung seiner Gottnatur zu zwingen und einen weitreichenden Aufstand wider das römisehe Joch zu entflammen; Runeberg hingegen legt eine Rechtfertigung metaphysischer Art nahe. Geschickt fängt er damit an, den überflüssigen Charakter der Tat des Judas herauszustellen. Er bemerkt (wie Robertson), daß man, um einen Meister zu identifizieren, welcher täglich in der Synagoge predigte und Wundertaten vor Tausenden versammelter Menschen verrichtete, nicht auf den Verrat eines Jüngers angewiesen war. Dies geschah jedoch. Einen Irrtum in der Heiligen Schrift anzunehmen, ist untragbar; nicht weniger untragbar ist es, eine zufällige Tatsache im Verlauf des kostbarsten Geschehens der Geschichte der Welt zuzulassen. Ergo: der Verrat des Judas war nicht zufällig; er war eine vorbestimmte Tatsache, die in der Ökonomie der Erlösung ihren geheimnisvollen Platz hat. Runeberg fährt fort: Das Wort, da es Fleisch wurde, ging von der Allgegenwart in den Raum, von der Ewigkeit in die Geschichte hinüber, von der schrankenlosen Wonne in die Wandelbarkeit und den Tod; um einem derartigen Opfer zu entsprechen, mußte notwendig ein Mensch, in Vertretung aller Menschen, ein dem würdiges Opfer darbringen. Judas Ischariot war dieser Mensch. Judas als einziger unter den Jüngern erschaute die

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geheime Gottnatur und das furchtbare Vorhaben Jesu Christi. Das Wort hatte sich zur Sterblichkeit hinabgelassen; Judas, der Jünger des Wortes, konnte zum Verräter hinabsinken (dem schlimmsten Verbrechen, dessen die Niedertracht fähig ist) und seine Wohnung in jenem Feuer nehmen, das nie erlischt. Die niedere Ordnung ist ein Spiegel der höheren Ordnung; die Formen der Erde entsprechen denen des Himmels; die Flecken auf der Haut sind eine Karte der unvergänglichen Sternbilder; Judas spiegelt aufgewisse Weise Jesus. Daher die dreißig Silberlinge und der Kuß; daher der freiwillige Tod, um der Verdammnis in noch höherem Maße würdig zu werden. So erhellte Nils Runeberg das Rätsel des Judas. Die Theologen sämtlicher Bekenntnisse widerlegten ihn. Lars Peter Engstrom zieh ihn der Unkenntnis oder Mißachtung der hypostatischen Einheit; Axel Borelius, daß er die ketzerisehe Anschauung der Doketen erneuere, die Jesus die Menschennatur absprachen; der eherne Bischof von Lund, daß er dem dritten Vers im zweiundzwanzigsten Kapitel des LukasEvangeliums widerspreche. Diese mancherlei Verdammungsurteile hatten Einfluß auf Runeberg, der das verworfene Buch teilweise neu schrieb und seine Lehre abwandelte. Er überließ seinen Gegnern das theologische Feld und führte indirekte Gründe moralischer Art ins Treffen. Er gab zu, daß Jesus, »der über die ansehnlichen Hilfsmittel, welche die Allmacht an die Hand zu geben vermag, verfugte«, nicht auf einen einzelnen Menschen angewiesen war, um alle Menschen zu erlösen. Dann wandte er sich gegen jene, die behaupten, daß wir von dem unerklärlichen Verräter nichts wissen; wir wissen, sagte er, daß er einer der Jünger war, einer der Erwählten für die Verkündigung des Himmelreichs, die Heilung von Kranken, die Reinigung von Aussätzigen, die Auferweckung von Toten und die Austreibung von Teufeln (Matth. 10, 7-8; Lukas 9,1). Ein Mann, den der Erlöser derart ausgezeichnet hat, darf von uns die beste Deutung seines Verhaltens erwarten. Sein Verhalten der Begehrlichkeit zuschrei­ 217

ben (wie es einige unter Berufung aufjoh. 12,6 getan haben) heißt, sich mit dem gröbsten Motiv zufriedengeben. Nils Runeberg bringt das entgegengesetzte Motiv vor: eine übersteigerte und geradezu schrankenlose Askese. Der Asket erniedrigt und tötet das Fleisch zur größeren Ehre Gottes; Judas tat dasselbe mit dem Geist. Er entsagte der Ehre, dem Guten, dem Frieden, dem Himmelreich, so wie andere, weniger heldenhaft, der fleischlichen Lust entsagen. * Er plante mit furchtbarer Hellsichtigkeit seine Verfehlungen voraus. Am Ehebruch sind gewohnlich Zärdichkeit und Hingabe beteiligt; am Mord der Mut; an den Entweihungen und der Blasphemie ein gewisser satanischer Glanz. Judas entschied sich für jene Verfehlungen, denen keinerlei Tugend beiwohnt: Vertrauensbruch (Joh. 12, 6) und Verrat. Er handelte aus alles überragender Demut, er hielt sich nicht für wert, gut zu sein. Paulus hat geschrieben: »Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn.« (1. Korinther 1, 31 )■Judas trachtete nach der Hölle, weil ihm das Glück des Herren genug war. Er glaubte, daß die Glückseligkeit wie das Gute Attribute des Göttlichen seien, und daß der Mensch sich ihrer nicht bemächtigen dürfe. ** Vielen ist post factum aufgefallen, daß bereits in den noch vertretbaren Anfängen Runebergs sein ausschweifendes Ende * Borelius stellt die spöttische Frage: Warum entsagte er nicht dem Entsagen? Warum nicht dem Entsagen des Entsagens? ** Euclydes da Cunha vermerkt in einem Buch, von dem Runeberg keine Kenntnis hatte, daß iur den Häresiarchen von Canudos, Antonio Conselheiro, die Tugend »schon fast ein Verstoß wider die Frömmigkeit« war. Der argentinisehe Leser wird sich ähnlicher Stellen im Werk von Almafuerte1 entsinnen. Runeberg veröffentlichte in dem symbolischen Blatt Sju insegel ein ehrgeiziges beschreibendes Gedicht Das heimliche Wasser; die ersten Strophen schildern die Vorfälle eines stürmisch bewegten Tages, die letzten das Auffinden eines vereisten Weihers; der Dichter legt den Gedanken nahe, daß die währende Dauer dieses in Stille versunkenen Weihers unsere fruchtlose Heftigkeit ausgleicht und sie gewissermaßen zuläßt und freispricht. Das Gedicht schließt mit den Worten: »Das Wasser dort im Walde ist voll Glück; wir dürfen böse sein und Schmerz erleiden.«

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enthalten ist, und daß Den hemlige Frälsaren nichts anderes ist als eine Perversion oder Zuspitzung von Knstus och Judas. Gegen Ende 1907 schloß Runeberg die Niederschrift ab und redigierte das Manuskript; fast zwei Jahre vergingen, ohne daß er es in Druck gab. Im Oktober 1909 erschien dann das Buch mit einem (bis zur Rätselhaftigkeit lauen) Vorwort des dänischen Hebraisten Erik Erfjord und unter dem folgenden perfiden Motto: »Es war in der Welt und die Welt war durch dasselbe gemacht, und die Welt erkannte es nicht.« (Joh. 1,10) Die allgemeine Beweisfiihrung ist nicht schwierig, die Schlußfolgerungen allerdings ungeheuerlich. Gott, so argumentiert Nils Runeberg, erniedrigte sich und wurde Mensch, um der Erlösung des Menschengeschlechts willen; man darf annehmen, daß das von ihm gewirkte Opfer vollkommen war, weder entwertet noch abgeschwächt durch Auslassungen. Was er erduldete, aufdie Todesnot eines Nachmittags am Kreuz einzuschränken, kommt einer Lästerung gleich. * Behaupten, daß er Mensch und daß er keiner Sünde fähig war, schließt einen Widerspruch in sich; impeccabilitas und humanitas sind als Attribute unvereinbar. Kemnitz räumt ein, daß der Erlöser fähig war, Müdigkeit, Frost, Anfechtung, Hunger und Durst zu leiden; auf eben die Weise muß eingeräumt werden, daß er fähig war, zu sündigen und sich zu verlieren. Die berühmte Schriftstelle: »Denn er schoß auf vor ihm wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich; er

* Maurice Abramowicz stellt fest: »Diesem Skandinavier zufolge hat Jesus sich immer die schöne Rolle ausgesucht; seine Aussprüche genießen dank der Buchdruckerkunst einen vielsprachigen Ruf; sein dreiunddreißigjähriges Weilen unter den Menschen war, im ganzen gesehen, nur ein Ferienaufenthalt.« Erfjord weist im dritten Anhang der Christeiige Dogmatik diese Stelle zurück. Er weist daraufhin, daß Gott nie aufgehört hat, gekreuzigt zu werden, weil das, was einmal geschah, sich in Ewigkeit pausenlos wiederholt. Judas empfangt heute wieje die dreißig Silberlinge, er küßt heute wieje Christus, wirft heute wie je die Silberlinge in den Tempel, knüpft heute wieje die Seilschlinge auf der Richtstätte. (Erfjord beruft sich, um seine Behauptung zu stützen, aufdas letzte Kapitel des ersten Bandes der Rechtfertigung der Ewigkeit von Jaromir Hladik.)

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hatte keine Gestalt noch Schöne; er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit« (Jesajas 53; 2, 3) gilt vielen als Vorausschau auf den Gekreuzigten in der Stunde seines Todes; für einige (so etwa Hans Lassen Martensen) als eine Widerlegung der Schönheit, die nach allgemeiner Auflassung Christus zugeschrieben wird; für Runeberg als die peinlich genaue Prophezeiung nicht nur eines Augenblicks, sondern der gesamten gräßlichen Zukunft, die dem fleischgewordenen Wort in Zeit und Ewigkeit bevorsteht. Gott ward voll und ganz Mensch, aber Mensch bis zur Ruchlosigkeit, Mensch bis zur Verworfenheit und zum Abgrund. Zu unserer Errettung konnte er jedes beliebige unter den Schicksalen wählen, aus denen sich das verschlungene Netz der Geschichte webt; er konnte Alexander werden oder Pythagoras oder Rurik oder Jesus; er wählte ein allemiedrigstes Schicksal: er wurde Judas. Vergebens boten die Buchhandlungen in Stockholm und in Lund diese Offenbarung feil. Die Ungläubigen erblickten in ihr a priori ein albernes, spitzfindiges theologisches Spiel; die Theologen übergingen sie mit Verachtung. Runeberg fühlte in dieser ökumenischen Gleichgültigkeit eine fast ans Wunderbare grenzende Bestätigung. Gott gebot diese Gleichgültigkeit; Gott wollte nicht, daß Sein furchtbares Geheimnis auf Erden ruchbar werde. Runeberg sah ein, daß die Stunde noch nicht gekommen war. Er fühlte, wie sich um sein Haupt uralte göttliche Verwünschungen zusammenzogen; er dachte an Elias und an Moses, die auf dem Berg ihr Gesicht verhüllten, um Gott nicht zu sehen; an Jesajas, der sich zu Boden warf, als seine Augen Ihn schauten, dessen Ruhm die Erde erfüllt; an Saul, dessen Augen auf dem Weg nach Damaskus blind wurden; an den Rabbiner Simeon ben Azai, der das Paradies schaute und starb; an den berühmten Hexenmeister Johann von Viterbo, der wahnsinnig wurde, als er die Dreieinigkeit zu sehen vermochte; an die Midrashim, die voll Abscheu sind vor den Frevlern, die das Shem Hamephorash, den Geheimen Namen Gottes, aussprechen. Hatte er sich vielleicht auch dieses dunklen Verbrechens schul­

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dig gemacht? War dies etwa die Sünde wider den Geist, die nicht vergeben wird (Matth. 12, 31)? Valerius Soranus starb, weil er den verborgenen Namen Roms preisgegeben hatte; welche unendliche Strafe harrte seiner, da er den entsetzlichen Namen Gottes entdeckt und preisgegeben hatte? Trunken von Schlaflosigkeit und schwindelerregender Dialektik irrte Nils Runeberg durch die Straßen von Malmö, laut betend um die Gnade, mit dem Heiland die Hölle teilen zu dürfen. Er starb am Bruch einer Pulsadergeschwulst am 1. März igi 2. Die Häretikerforschung wird ihm vielleicht ein Gedenken bewahren; er hat dem anscheinend erschöpften BegrilTdes Sohnes die Verstrickungen des Bösen und des Mißgeschicks hinzugefügt.

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Das Ende Recabarren, liegend, öfTnete die Augen halb und sah das schräge Rohrdach. Aus dem anderen Zimmer klang das Klimpem einer Gitarre, eine Art ärmlichsten Labyrinths, das sich endlos verwob und aufknüpfte. Nach und nach erfaßte er wieder die Wirklichkeit, die alltägliehen Dinge, die er nie mehr gegen andere tauschen würde. Er sah ohne Mitleid auf seinen großen untauglichen Körper, auf den grobwollenen Poncho, der seine Beine einhüllte. Draußen, jenseits der Eisenstangen des Fensters, dehnten sich die Steppe und der Abend aus; er hatte geschlafen, aber am Himmel war noch viel Licht. Mit dem linken Arm tastete er, bis er am Fuß des Lagers die bronzene Schelle zu fassen bekam. Ein- oder zweimal schüttelte er sie; von der anderen Seite der Türe ließen sich weiter die bescheidenen Akkorde vernehmen. Der Gitarrenspieler war ein Neger, der sich eines Abends als Sänger eingefiihrt und mit einem anderen fremden Gast in einer langen

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Stegreifballade um die Wette gesungen hatte. Er war unterlegen, besuchte aber weiterhin die Schänke, als warte er auf jemanden. Er vertrieb sich die Zeit mit der Gitarre, doch gesungen hatte er nie wieder; vielleicht hatte ihn die Niederlage verbittert. Die Leute hatten sich unterdessen an diesen harmlosen Mann gewöhnt. Recabarren, dem Wirt der Schänke, sollte dieser Wettstreit nie mehr aus dem Gedächtnis schwinden; als er am nächsten Tag ein paar Maultierlasten Heu gebündelt hatte, war ihm plötzlich die rechte Seite abgestorben, und er hatte die Sprache verloren. Aus lauter Mitleid mit den Schicksalen der Romanhelden kommen wir schließlich dazu, uns wegen eigener Schicksalsschläge übermäßig zu bemitleiden; nicht so der geduldige Recabarren, der die Lähmung hinnahm, wie er vordem Härte und Einsamkeiten Amerikas hingenommen hatte. Gewohnt, wie die Tiere in der Gegenwart zu leben, sah er jetzt in den Himmel und dachte, der rote Hof um den Mond deute auf Regen. Ein Junge mit indianischen Gesichtszügen (sein Sohn vielleicht) öffnete die Türe um einen Spalt. Recabarren fragte mit den Augen, ob von den Leuten aus der Nachbarschaft jemand da sei. Der Junge gab ihm schweigsam durch Zeichen zu verstehen, keiner sei da; der Neger zählte nicht. Der ausgestreckt Daliegende blieb wieder allein; seine linke Hand spielte eine Zeitlang mit der Glocke, als übe sie eine Macht aus. Die Ebene war unter der letzten Sonne fast abstrakt wie eine Traumerscheinung. Ein Punkt bewegte sich am Horizont und wuchs, bis er ein Reiter war, der auf das Haus zukam oder zuzukommen schien. Recabarren sah den breitkrempigen Hut, den weiten dunklen Poncho, das schwarzbraune Pferd, jedoch nicht das Gesicht des Mannes, der zum Schluß aus dem Galopp fiel und sich in kurzem Trab näherte. Etwa zweihundert Schritt entfernt schwenkte er ein. Recabarren sah ihn nicht mehr, hörte aber, wie er durchparierte, aus dem Sattel sprang, das Pferd mit dem Zügel am Geländer festmachte, dann mit kräftigern Schritt in die Schankstube trat. 222

Ohne seine Augen von dem Instrument aufzuheben, wo er etwas zu suchen schien, sagte der Neger sanftmütig: »Ich wußte ja, Herr, daß ich auf Sie zählen konnte.« Der andere erwiderte mit barscher Stimme: »Und ich auf dich, Neger. Ein paar Tage habe ich dich warten lassen. Aber nun bin ich hier.« Eine Zeitlang blieb es still. Schließlich antwortete der Schwarze: »Ich habe mich ans Warten gewöhnt. Sieben Jahre lang habe ich gewartet.« Der andere erklärte unbekümmert: »Über sieben Jahre lang habe ich meine Kinder nicht gesehen. Heute bin ich ihnen begegnet, aber ich wollte vor ihnen nicht wie ein Mann dastehen, der auf Messerstechereien auszieht.« »Das habe ich mir wohl gedacht«, sagte der Neger. »Ich hoITe, Sie haben sie bei guter Gesundheit verlassen.« Der Fremde, der sich auf die Theke gesetzt hatte, lachte hellauf. Er bestellte ein Glas Zuckerrohrschnaps und nippte daran, trank es jedoch nicht aus. »Ich habe ihnen gute Ratschläge gegeben«, erklärte er, »davon kann man nie zuviel haben, und sie kosten nichts. Ich habe ihnen unter anderem gesagt, daß der Mensch nicht das Blut des Menschen vergießen soll.« Ein langsamer Akkord ging der Antwort des Negers voraus: »Gut so. Dann werden sie nicht wie wir.« »Zumindest wie ich«, sagte der Fremde und setzte, als dächte er laut, hinzu: »Mein Schicksal hat gewollt, daß ich töte, und heute gibt es mir wieder das Messer in die Hand.« Der Schwarze, als ob er ihn nicht hörte, bemerkte: »Im Herbst werden die Tage kürzer.« »Mir reicht das Licht draußen noch«, erwiderte der andere, aufstehend. Er baute sich vor dem Neger auf und sagte beinahe müde: »Laß die Gitarre in Frieden, jetzt kriegst du es mit einer anderen Art Wettsingen zu tun.« Die beiden schritten zur Türe; der Neger murmelte im Hin­ 223

ausgehen: »Mag sein, daß es mir diesmal so übel ergeht wie beim erstenmal.« Der andere entgegnete ernsthaft: »Beim erstenmal erging es dir nicht übel. Du hattest nur Lust, zu diesem zweiten Mal zu kommen.« Sie entfernten sich eine Strecke von den Häusern, nebeneinander hergehend. In der Ebene war eine Stelle wie die andere, der Mond gleißte. Plötzlich sahen sie einander an, blieben stehen, und der Fremde legte die Sporen ab. Schon hatten sie den Poncho um den Unterarm geschlungen, als der Schwarze sagte: »Um eines möchte ich Sie noch bitten, bevor wir handgemein werden. Nehmen Sie bei diesem Zweikampf Ihren ganzen Mut und Ihre ganze Geschicklichkeit zusammen, genauso wie damals bei jenem anderen vor sieben Jahren, als Sie meinen Bruder getötet haben.« Vielleicht zum erstenmal, seit sie miteinander sprachen, hörte Martin Fierro den Haß. Sein Blut empfand ihn als Ansporn. Sie fielen einander an, und der geschliffene Stahl streifte und zeichnete das Antlitz des Schwarzen. Es gibt am Abend eine Stunde, in der die Steppe kurz davor ist, etwas zu sagen; sie sagt es nie, oder vielleicht sagt sie es unaufhörlich, und wir verstehen es nicht, oder wir verstehen es, aber es ist unübersetzbar wie Musik . . . Von seinem Lager aus sah Recabarren das Ende. Ein Ausfall, und der Neger wich zurück, verlor den Stand, fuhr mit dem Messer nach oben, als wollte er das Gesicht treffen, und streckte sich dann in einem tiefen Stich, der in den Bauch drang. Darauf folgte ein zweiter Stich, den der Schankwirt nicht genau sehen konnte, und Fierro stand nicht mehr auf. Reglos schien der Neger über seinen mühsamen Todeskampf zu wachen. Er reinigte die blutige Klinge im Gras und kehrte sich, ohne einen Blick zurück, langsam den Häusern zu. Jetzt, da er seine Richterpflicht erfüllt hatte, war er niemand mehr. Besser gesagt, er war der andere: er hatte auf Erden kein Schicksal, und er hatte einen Menschen getötet.1 224

Die Phönix-Sekte Leute, die schriftlich behaupten, daß die Phönix-Sekte ihren Ursprung in Heliopolis hatte, und die sie von der religiösen Restauration herleiten, die mit dem Tode des Reformators Amenophis IV. einsetzte, berufen sich auf Texte von Herodot, von Tacitus und auf ägyptische Zeugnisse, wissen aber nicht oder wollen nicht wissen, daß die Benennung nach dem Phönix nicht in die Zeit vor Hrabanus Maurus zurückreicht, und daß die ältesten Quellen (so etwa die Satumalien oder Flavius Josephus) lediglich von den Leuten des Brauchs oder von den Leuten des Geheimnisses sprechen. Schon Gregorovius stellte im Hinblick auf die Konventikel von Ferrara fest, daß die Erwähnung des Phönix in mündlicher Rede nur äußerst selten vorkam; in Genf habe ich mit Handwerkern verkehrt, die mich nicht verstanden, als ich sie fragte, ob sie Phönix-Männer seien, die aber auf der Stelle zugaben, Männer des Geheimnisses zu sein. Wenn ich mich nicht täusehe, verhält es sich mit den Buddhisten ebenso; der Name, unter dem die Welt sie kennt, ist nicht der, den sie aussprechen. Miklositsch hat auf einer allzu berühmten Seite die PhönixSektierer mit den Zigeunern verglichen. In Chile und Ungarn gibt es Zigeuner, aber auch Sektierer; abgesehen von dieser Art der Allgegenwart haben sie nicht viel miteinander gemein. Die Zigeuner sind Roßtäuscher, Kesselflicker, Hufschmiede und Wahrsager; die Sektierer pflegen die freien Berufe mit Glück zu betreiben. Die Zigeuner verkörpern einen bestimmten physisehen Typus und sprechen oder sprachen ein geheimes Idiom; die Sektierer vermischen sich mit den anderen, was schon daraus hervorgeht, daß sie nie Verfolgungen erlitten haben. Die Zigeuner sind ein malerisches Volk und inspirieren die schiechten Dichter; die Romanzen, die Farbdrucke und die Boleros gehen an den Sektierern achtlos vorüber. . . Martin Buber erklärt, die Juden seien im Wesensgrund pathetisch; die Sektierer sind es nicht durchweg, und es gibt welche, die vor dem 225

Pathetischen einen Abscheu haben; diese öffentliche und allbekannte Tatsache sollte hinreichen, das vulgäre Fehlurteil zu widerlegen (das Urmann absurderweise in Schutz nimmt), das im Phönix einen Ableger von Israel erblickt. Das Volk denkt mehr oder weniger so: Urmann war ein feinfühliger Mensch, Urmann war Jude; Urmann verkehrte mit den Sektierern im Prager Judenviertel; die von Urmann empfundene Verwandtschäft beweist eine reale Tatsache. Ehrlich gesagt kann ich mich diesem Urteil nicht anschließen. Daß die Sektierer in einem jüdischen Milieu denjuden gleich sehen, beweist nichts; nicht zu leugnen ist jedoch, daß sie wie der unendliche Shakespeare von Hazlitt allen Menschen gleich sehen. Sie sind für alle alles, wie der Apostel Paulus; seinerzeit machte sich Doktor Juan Francisco Amaro aus Paysandü Gedanken über ihre rasehe Angleichung an die Kreolen. Ich habe gesagt, daß die Geschichte der Sekte keine Verfolgungen verzeichnet. Das stimmt zwar; da es aber keine Gruppe von Menschen gibt, in der nicht Phönix-Anhänger vertreten sind, steht genauso fest, daß es keine Verfolgung oder Härte gibt, die sie nicht erlitten und zugefugt haben. In den Kriegen des Abendlandes und in den fernen Kriegen Asiens haben sie unter einander befehdenden Feldzeichen jahrhundertelang ihr Blut vergossen; es nutzt ihnen wenig, daß ,sie sich mit allen Nationen der Erde identifizieren. Ohne ein heiliges Buch, das sie zusammenschart wie die Heilige Schrift Israel, ohne ein gemeinsames Gedächtnis, ohne jenes andere Gedächtnis, das eine Sprache darstellt, zerstreut über das Angesicht der Erde, verschieden in Hautfarbe und Körperbildung, einigt sie nur eines - das Geheimnis - und wird sie bis ans Ende der Tage einigen. Es gab einmal außer dem Geheimnis eine Legende (vielleicht sogar einen Weltentstehungsmythos), aber die oberflächlichen Phönix-Menschen haben sie vergessen und bewahren heute nur noch die dunkle Überlieferung einer Strafe. Einer Strafe, eines Paktes oder eines

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Vorrechts, weil die Fassungen voneinander abweichen und kaum noch den Schiedsspruch eines Gottes erkennen lassen, der einem Stamm die Ewigkeit verheißt, wenn seine Angehörigen von Geschlecht zu Geschlecht einen Ritus vollziehen. Ich habe die Berichte von Reisenden durchforscht, habe mich mit Patriarchen und Theologen unterhalten; ich kann glaubwürdig versichern, daß die Vollziehung des Ritus die einzige religiöse Betätigung ist, der die Sektierer nachgehen. Der Ritus ist das Geheimnis. Dieses wird, wie ich bereits andeutete, von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben, aber der Brauch will nicht, daß es die Mütter ihren Kindern beibringen, auch nicht die Priester; die Einweihung in das Mysterium ist Aufgabe der niedrigsten Individuen. Ein Sklave, ein Aussätziger oder ein Bettler sind die Mystagogen. Auch kann ein Halbwüchsiger einen anderen Halbwüchsigen unterweisen. Der Akt an sich ist ganz gewöhnlich, geschieht im Nu und bedarf keiner Beschreibung. An Materialien werden Kork, Wachs oder Gummi arabicum verwendet. (In der Liturgie ist von Lehm die Rede; auch er kommt zur Verwendung.) Es gibt keine der Abhaltung dieses Kults eigens gewidmeten Tempel, sondern man sieht eine Ruine, einen Keller oder einen Hausflur als geeignete örtlichkeiten an. Das Geheimnis ist heilig, entbehrt aber gleichwohl nicht einer gewissen Lächerlichkeit; seine Ausübung ist flüchtig, ja verstohlen, und die Jünger sprechen nicht von ihm. Es gibt keine schicklichen Worte, es zu benennen, aber es versteht sich, daß alle Worte es benennen oder - besser gesagt - unvermeidlich darauf anspielen, und so habe ich im Gespräch mit den Jüngern irgend etwas gesagt, woraufhin sie lächelten oder unbehaglich hin und her rückten, weil sie spürten, daß ich an das Geheimnis gerührt hatte. In den germanischen Literaturen gibt es von Sektierern verfaßte Gedichte, deren nominelles Thema das Meer oder die Abenddämmerung ist; es sind, wie mir immer wieder gesagt wird, auf irgendeine Weise Sinnbilder des Geheimnisses. Orbis terrarum est speculum Ludi, lautet ein apokryphes Sprichwort, das Du Cange in seinem Glossar ver­

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zeichnete. Eine Art heiligen Schauders verbietet einigen Gläubigen den Vollzug des einfachsten Ritus; die anderen verachten sie, doch verachten sie selbst sich noch mehr. Dagegen stehen jene in hohem Ansehen, die aus freien Stücken auf den Brauch verzichten und mit der Gottheit unmittelbaren Verkehr erreichen. Dieselben, um diesen Verkehr kundzutun, bedienen sich liturgischer Formen, und darum schrieb John of the Rood: Kund tu ich den neun Himmelskreisen, daß wonnevoll der Gott wie Kork und Schlamm ist.

Ich habe in drei Kontinenten die Freundschaft vieler PhönixAnhänger erworben; ich weiß gewiß, daß ihnen das Geheimnis im Anfang banal, peinlich, gewöhnlich und (was noch merkwürdiger ist) unglaublich vorkam. Sie wollten sich nicht zu dem Gedanken bequemen, daß ihre Eltern sich je zu solchen Machenschaften hinabgelassen hätten. Das Seltsame ist, daß das Geheimnis nicht schon vor Zeiten verlorengegangen ist; trotz der Wechselfälle des Universums, trotz der Kriege und der Massenfluchten erreicht es furchterregend alle Gläubigen. Jemand hat sogar behauptet, daß es bereits zu einem Instinkt geworden sei.

Der Süden Der Mann, der im Jahr 1871 in Buenos Aires an Land ging, hieß Johannes Dahlmann und war Pfarrer der Evangelischen Kirehe; im Jahr 1939 war einer seiner Enkel, Juan Dahlmann, Sekretär einer Städtischen Bibliothek in der Straße Cordoba und fühlte sich zutiefst als Argentinier. Sein Großvater mütterlicherseits war jener Francisco Flores vom 2. Linieninfanterieregiment gewesen, der an der Grenze der Provinz Buenos Aires durch Lanzen der Catriel-Indianer fiel; im Widerstreit seiner beiden verschiedenen Abstammungen entschied sich Juan 228

Dahlmann (vielleicht auf Drängen seines germanischen Blutes) für die Linie dieses romantischen Vorfahren mit seinem romantischen Tod. Ein Lederetui mit dem Daguerreotyp eines unpersönlich dreinblickenden bärtigen Mannes, ein alter Degen, der Schwung und die Herzhaftigkeit gewisser Musikstücke, der ständige Umgang mit den Versen des Martin Fierro', die Jahre, die Enttäuschungen und die Einsamkeit verstärkten seinen »criollismo«, sein Bedürfnis, sich als eingeborener Argentinier zu fühlen, das er zwar bewußt pflegte, aber nie übertrieben zur Schau trug. Um den Preis einiger Entbehrungen war es Dahlmann gelungen, sich das Kernstück einer Estancia im Süden zu erhalten, die den Flores gehört hatte. Zu seinen ErinnerungsGewohnheiten gehörte das Bild der balsamisch duftenden Eukalyptusbäume und des langgestreckten rosafarbenen Hauses, das einmal karmesinrot gewesen war. Seine Arbeit und vielleicht auch eine gewisse Trägheit hielten ihn in der Stadt fest. Sommer auf Sommer begnügte er sich mit der abstrakten VorStellung des Besitzes und mit der Gewißheit, daß dort an einer bestimmten Stelle der weiten Ebene sein Haus auf ihn wartete. In den letzten Februartagen 1939 stieß ihm etwas zu. Blind für wirkliche Schuld, kann das Schicksal doch unbarmherzig gegen die kleinsten Unachtsamkeiten sein. Dahlmann hatte an diesem Abend ein unvollständiges Exemplar von Tausendundeine Nacht von Weil aufgetrieben; begierig, diesen Fund zu betrachten, wartete er nicht, bis der Fahrstuhl herunterkam, sondern lief eilig die Treppe hinauf. In der Dunkelheit streifte etwas seine Stirn - eine Fledermaus, ein Vogel? Im Gesicht der Frau, die ihm die Tür öfTnete, stand Entsetzen geschrieben, und die Hand, mit der er sich über die Stirn strich, färbte sich rot von Blut. Die Kante eines frischgestrichenen Fensterflügels, den jemand zu schließen vergessen hatte, war schuld an dieser Wunde. Es gelang Dahlmann einzuschlafen; aber gegen Morgen wurde er wach, und von diesem Augenblick an bekamen alle Dinge einen abscheulichen Geschmack. Das Fieber verzehrte ihn, und die Illustrationen von Tausendundeiner Nacht 229

waren dazu angetan, Angstträume auszuschmücken. Freunde und Verwandte besuchten ihn und versicherten ihm mit übertriebenem Lächeln, daß er sehr gut aussehe. Dahlmann hörte sie mit einer Art von mattem Erstaunen an und wunderte sich, daß sie nicht wußten, daß er in der Hölle war. Acht Tage vergingen wie acht Jahrhunderte. Eines Nachmittags erschien sein gewohnter Arzt mit einem neuen Arzt, und sie brachten ihn in ein Sanatorium in der Straße Ecuador, weil sich eine Röntgenaufnahme als unumgänglich erwiesen hatte. In der Mietdroschke, die sie dorthin brachte, dachte Dahlmann, daß er in einem Zimmer, das nicht sein Zuhause wäre, endlich würde schlafen können. Erfühlte sich glücklich und gesprächig. Kaum angekommen, entkleidete man ihn, schor ihm den Kopf, schnallte ihn auf einer Bahre fest, durchleuchtete ihn bis zum Blindwerden und bis zum Schwindel, horchte ihn ab, und ein maskierter Mann stieß ihm eine Nadel in den Arm. Er wachte mit Brechreiz auf, fest verbunden und in einer Zelle, die etwas von einem Brunnenschacht hatte; in den Tagen und Nächten, die auf die Operation folgten, mußte er erkennen, daß er bis dahin kaum im Vorhof der Hölle gewesen war. Das Eis ließ in seinem Mund nicht die leiseste Spur der Erfrischung zurück. In diesen Tagen begann Dahlmann, sich Stück für Stück zu hassen; er haßte sein Selbst, seine körperlichen Bedürfnisse, seine Erniedrigung, den Bart, der sein Gesicht stachelig machte. Mit stoischem Gleichmut ertrug er die Behandlungen, die sehr schmerzhaft waren; aber als der Chirurg ihm sagte, daß er beinahe an einer Sepsis gestorben sei, brach Dahlmann in Tränen aus, nur aus Mitleid mit seinem Geschick. Das körperliehe Elend und das unablässige Gefaßtsein auf schlimme Nächte hatten ihn an etwas so Abstraktes wie den Tod nicht denken lassen. Am nächsten Tag sagte ihm der Chirurg, daß er auf dem Weg der Besserung sei, und daß er sehr bald zur Erholung auf die Estancia werde gehen können. Wider alles Erwarten kam der versprochene Tag heran. Die Wirklichkeit liebt die Symmetrien und die leichten Ana­

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chronismen; Dahlmann war in einer Mietdroschke ins Sanatorium gekommen, und jetzt brachte ihn eine Mietdroschke zur Bahnstation Constituciön. Die erste herbstliche Kühle nach der drückenden Luft des Sommers war gleichsam ein Sinnbild seines Schicksals, das ihn von Fieber und Tod losgesprochen hatte. Die Stadt hatte um 7 Uhr früh noch nicht das Aussehen eines alten Hauses eingebüßt, das ihr die Nacht zu geben pflegte; die Straßen waren wie lange Gänge, die Plätze wie Höfe. Dahlmann erkannte sie mit einem Gefühl von Glück und anfänglichem Schwindel wieder; Sekunden bevor seine Augen sie entdeckten, erinnerte er sich an die Straßenkreuzungen, die Anschlagsäulen, an die bescheidenen Unterschiede im Stadtbild von Buenos Aires. Im gelben Licht des neuen Tages kamen alle Dinge zu ihm zurück. Jedermann weiß, daß der »Süden« jenseits der Straße Rivadavia2 beginnt. Dahlmann pflegte zu sagen, daß das keine bloße Redensart ist, daß, wer diese Straße überquert, eine ältere und gefestigtere Welt betritt. Vom Wagen aus suchte er zwischen den Neubauten das alte Gitterfenster, den Türklopfer, den Türbogen, den Gang und den Innenhof. In der Bahnhofshalle merkte er, daß noch 30 Minuten Zeit waren. Er erinnerte sich plötzlich, daß es in einem Cafe in der Straße Brasil (wenige Schritte vom Hause Irigoyens3 entfernt) einen riesigen Kater gab, der sich wie eine Gottheit verächtlich von den Leuten liebkosen ließ. Er ging hinein. Da lag der Kater, schlafend. Er bestellte eine Tasse Kaffee, süßte sie langsam, kostete (dieser Genuß war ihm in der Klinik untersagt gewesen) und dachte, während er das schwarze Fell streichelte, daß diese Berührung eitel war, und daß sie wie durch eine Glaswand voneinander getrennt waren; denn der Mensch lebt in der Zeit, im Ablauf der Dinge, und das magische Tier in der Gegenwart, in der Ewigkeit des Augenblicks. Am vorletzten Bahnsteig wartete der Zug. Dahlmann ging durch die Wagen und fand einen, der fast leer war. Er verstaute den Handkoffer im Netz; als die Wagen sich in Bewegung 231

setzten, öffnete er ihn und holte, nach einigem Zögern, den ersten Band von Tausendundeine Nacht heraus. Mit diesem Buch zu reisen, das so eng mit der Geschichte seines Mißgeschicks verknüpft war, war soviel wie eine Bestätigung, daß dieses Mißgeschick behoben war, und eine heitere und geheime Herausforderung an die gescheiterten Mächte des Bösen. Zu beiden Seiten des Zuges löste die Stadt sich in Vororte auf; dieser Anblick und dann der der Gärten und Landhäuser zögerten den Beginn der Lektüre hinaus. In Wahrheit las Dahlmann wenig; der Magnetberg und der Geist, der geschworen hat, seinen Wohltäter zu töten, waren wunderbar - wer könnte das bezweifeln —, aber nicht viel wunderbarer als der Morgen und die Tatsache des Seins. Das Glücksgefiihl lenkte ihn von Scheherezade und ihren überflüssigen Wundern ab; Dahlmann schloß das Buch und überließ sich einfach dem Leben. Das Mittagessen (bei dem die Fleischbrühe in glänzenden Metallschalen serviert wurde, wie in längst vergangenen Sommerfrischen seiner Kindheit) war ein neuer, mit Ruhe und Dankbarkeit hingenommener Genuß. Morgen werde ich auf der Estancia aufwachen, dachte er, und es war, als sei er zur selben Zeit zwei Menschen: einer, der durch den Herbsttag, durch die heimatliche Landschaft dahinfuhr, und der andere in einem Sanatorium eingesperrt und planmäßiger Knechtschaft unterworfen. Er sah ungetünchte Backsteinhäuser, langgestreckt und mit vielen Ecken, die ohne Ende nach den vorbeifahrenden Zügen ausschauten; er sah Reiter auf den Erdstraßen; sah Gräben und Lagunen und Vieh; sah breite, leuchtende Wolken, die wie aus Marmor schienen, und all diese Dinge waren zufällig, wie Träume der weiten Ebene. Er glaubte auch Bäume und Äcker wiederzuerkennen, die er nicht hätte nennen können, da seine unmittelbare Kenntnis des Landes erheblich geringer war als seine sehnsüchtigen und literarischen Kenntnisse. Manchmal schlief er, und in seinen Träumen war das Vorwärtsdrängen des Zuges. Die unerträglich weiße Sonne des 232

Mittags hatte sich in die gelbe Sonne verwandelt, die der Abenddämmerung vorausgeht, und bald würde sie rot sein. Auch der Wagen war ein anderer geworden, es war nicht mehr derselbe Wagen, der den Bahnsteig in Constituciön verlassen hatte: die Ebene und die Stunden hatten ihn durchdrungen und verwandelt. Draußen verlängerte der bewegliche Schatten des Wagens sich bis zum Horizont. Die unbebaute Erde störten weder Ortschaften noch sonstige Spuren des Menschen. Alles war weit, aber zur selben Zeit war es vertraut und, auf irgendeine Weise, geheim. Auf der ungeheuren Fläche war manchmal nichts zu sehen als ein Stier. Die Einsamkeit war vollkommen, vielleicht feindlich, und Dahlmann konnte sich einbilden, er fahre in die Vergangenheit, nicht bloß in den Süden. Aus dieser phantastischen Vorstellung riß ihn der SchafTner, der, als er seine Fahrkarte sah, ihn darauf aufmerksam machte, daß der Zug nicht aufder gewohnten Station halten werde, sondern auf einer anderen, etwas früheren, die Dahlmann kaum kannte. (Der Mann fugte eine Erklärung hinzu, die Dahlmann gar nicht zu verstehen, ja nicht einmal zu hören versuchte, da der Mechanismus der Tatsachen ihm nicht wichtig war.) Der Zug hielt mühsam, fast mitten auf freiem Feld. Aufder anderen Seite der Geleise lag die Station, die wenig mehr als ein überdachter Bahnsteig war. Es gab kein Fahrzeug, aber der Stationsvorsteher meinte, er könne vielleicht eines in dem Laden, den er ihm angab, bekommen, etwa 1000 Meter weiter weg. Dahlmann akzeptierte den Spaziergang wie ein kleines Abenteuer. Die Sonne war schon untergegangen, aber ein letzter Glanz ließ die lebendige, schweigende Ebene aufleuchten, bevor die Nacht sie auslöschte. Weniger um sich nicht zu ermüden, als um all dies andauern zu lassen, ging Dahlmann langsam und atmete in feierlichem Glücksgeiuhl den Geruch des Klees ein. Die Ladenschänke war früher einmal hochrot angestrichen gewesen, aber die Jahre hatten die heftige Farbe vorteilhaft

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gedämpft. Etwas in ihrer armseligen Architektur erinnerte ihn an einen Stahlstich, vielleicht aus einer alten Ausgabe von Paul et Virginie. An das Geländer davor waren ein paar Pferde gebunden. Drinnen glaubte Dahlmann den Wirt zu erkennen; aber dann merkte er, daß ihn seine Ähnlichkeit mit einem der Angestellten des Sanatoriums getäuscht hatte. Der Mann hörte sich den Fall an und sagte, er werde ihm den Wagen anspannen lassen; um diesem Tag noch ein weiteres Ereignis hinzuzufiigen und um die Zeit auszufullen, beschloß Dahlmann, in der Ladenschänke zu essen. An einem Tisch aßen und tranken lärmend ein paar kräftige Burschen, um die Dahlmann sich anfangs nicht kümmerte. Auf dem Boden, gegen den Schanktisch gelehnt, hockte unbeweglieh, als sei er bloß ein Ding, ein sehr alter Mann. Die Jahre hatten ihn vermindert und abgeschlifTen, wie Wasser einen Stein oder wie Generationen von Menschen ein Sprichwort. Er war dunkel, klein und ausgemergelt, schien gleichsam außerhalb der Zeit, in einer Ewigkeit, zu existieren. Dahlmann bemerkte mit Befriedigung die Kopfbinde, den Flanell-Poncho, die Gauchohose und die Stiefel aus Fohlenleder; er erinnerte sich an fruchtlose Diskussionen mit Leuten aus dem Norden oder der Provinz Entrerios und sagte sich wieder einmal, daß es Gauchos wie diesen eben nur noch im Süden gibt. Dahlmann machte es sich beim Fenster bequem. Die Dunkelheit verschluckte allmählich das Land draußen, aber sein Geruch und seine Geräusche drangen auch jetzt noch durch die Fenstergitter bis zu ihm hin. Der Wirt brachte ihm Sardinen und dann am Rost gebratenes Fleisch; Dahlmann spülte es mit ein paar Glas Rotwein hinunter. Müßig kostete er den herben Geschmack und ließ seinen schon etwas schläfrigen Blick durch den Raum schweifen. Die Petroleumlampe hing von einem der Balken herunter; die Gäste am anderen Tisch waren zu dritt: zwei sahen wie Peones von einer Farm aus; der dritte, mit einem stumpfen Eingeborenengesicht, trank mit dem Hut auf dem Kopf. Dahlmann spürte plötzlich, daß etwas leicht sein Gesicht

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streifte. Neben dem Trinkgefäß aus trübem Glas, auf einem der Streifen des Tischtuches, lag ein Kügelchen aus Brotteig. Das war alles, aber irgendwer hatte es nach ihm geworfen. Die am anderen Tisch schienen sich gar nicht um ihn zu kümmern. Verwirrt beschloß Dahlmann bei sich, daß nichts geschehen sei, und öfTnete den Band von Tausendundeine Nacht, wie um die Wirklichkeit zu verdecken. Nach wenigen Minuten trafihn ein zweites Kügelchen, und diesmal lachten die Peones. Dahlmann sagte sich, daß er keinerlei Angst fühle, daß es aber eine Torheit wäre, wenn er, als Rekonvaleszent, sich von Unbekannten zu einem zweifelhaften Streit hinreißen ließe. Er beschloß hinauszugehen und war schon aufgestanden, als der Wirt zu ihm trat und ihn mit besorgter Stimme ermahnte: »Senor Dahlmann, kümmern Sie sich nicht um diese Bursehen, die sind schon ziemlich angetrunken.« Dahlmann wunderte sich gar nicht, daß der andere ihn jetzt auf einmal kannte, aber er fühlte, daß diese beschwichtigenden Worte in Wahrheit die Situation verschlimmerten. Vorher hatte sich die Herausforderung der Peones an ein zufälliges Gesicht gerichtet, eigentlich an niemand; jetzt ging sie gegen ihn und seinen Namen, und die Nachbarn würden davon erfahren. Dahlmann schob den Wirt zur Seite, stellte sich vor die Peones hin und fragte, was sie wollten. Der Flegel mit dem Eingeborenengesicht stand schwankend auf. Nur einen Schritt von Juan Dahlmann entfernt, schrie er ihm Beschimpfungen ins Gesicht, als stände er weit weg. Er übertrieb absichtlich seine Betrunkenheit, und diese Übertreibung war Wut und war Hohn. Unter Flüchen und unflätigen Schimpfworten warf er ein langes Messer in die Luft, folgte ihm mit den Augen, fing es und forderte Dahlmann zum Zweikampf auf. Der Wirt wandte mit zitternder Stimme ein, daß Dahlmann keine Waffe habe. In diesem Augenblick geschah etwas, was nicht vorauszusehen war. Aus der Ecke warf der alte reglose Gaucho, in dem Dahlmann ein Sinnbild des Südens sah (des Südens, der ihm ge­ 235

hörte), ihm ein blankes Dolchmesser zu, das vor seine Füße fiel. Es war, als habe der Süden beschlossen, daß Dahlmann die Herausforderung annehmen sollte. Dahlmann bückte sich, um das Dolchmesser aufzuheben, und spürte zweierlei. Erstens, daß diese fast instinktive Bewegung ihn zum Kampf verpilichtete. Zweitens, daß die WafTe in seiner ungeschickten Hand nicht zu seiner Verteidigung dienen würde, sondern nur zur Rechtfertigung fiir die anderen, ihn zu töten. Er hatte wohl einmal mit einem Dolch gespielt, wie jeder Mann; aber seine Fechterei reichte nicht weiter als bis zu der Kenntnis, daß die Stöße von unten nach oben geführt werden müssen und mit der Schneide nach innen. Im Sanatorium hätten sie nicht zugelassen, daß mir so etwas geschieht, dachte er. »Gehen wir«, sagte der andere. Sie gingen hinaus, und wenn in Dahlmann keine HofTnung war, so doch auch keine Angst. Während er über die Schwelle trat, fühlte er, daß in der ersten Nacht im Sanatorium, als man ihm die Nadel einstach, es für ihn eine Erlösung gewesen wäre, ein Glück und ein Fest, in einem Messerkampf zu sterben, unter freiem Himmel, im AngrifT. Er fühlte, daß - wenn er damals seinen Tod hätte wählen oder erträumen können - es dieser Tod gewesen wäre, den er erwählt oder erträumt hätte. Mit festem GrifT packt Dahlmann das Messer, das er vielleicht nicht einmal zu führen wissen wird, und geht in die Ebene hinaus.

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Anhang

Editorische Notiz Dieser erste Band der Erzählungen enthält die beiden frühesten Erzählungssammlungen, die Jorge Luis Borges in seine Obras Completas von 1974 aufgenommen hat: Historia universal de la infamia (1935) und Ficciones (1944). Zwei kurze Texte, die ursprünglich zum Anhang Etcetera der Universalgeschichte der Niedertracht gehörten - Von der Strenge der Wissenschaft und Der edelmütige Feind-, wurden von Borges in den Teil Museum des Bandes El hacedor (Borges und Ich) verwiesen und erscheinen in dieser deutschen Ausgabe entsprechend. - Die bekannte Erzählung Der Weg zu Almotdsim erschien zuerst als fingierte Rezension im Essayband Geschichte der Ewigkeit‫׳‬, später nahm Borges sie in Ficciones auf. In der Gesamtausgabe wurde die ursprüngliche Anordnung wiederhergestellt; entsprechend steht Der Weg zu Almotdsim in dieser Ausgabe in Band 5/I, Essays 1g^2-1g^6. Die unter den Titeln Labyrinthe (1959), Der schwarze Spiegel (1961) zuerst und dann wieder in Sämtliche Erzählungen (1970) erschienenen Übersetzungen von Karl August Horst u. a. wurden für diesen Band revidiert. Die Anmerkungen von Borges stehen mit * als Fußnoten auf den jeweiligen Seiten. Die Übersetzer-Anmerkungen sind numeriert und finden sich im Anhang.

Zur Revision der Übersetzung

Als Karl August Horst vor mehr als zwanzigJahren Jorge Luis Borges für Deutschland entdeckte und übersetzte, betrat er Neuland. Inzwischen hat eine internationale Rezeption und Interpretation des Werks stattgefunden, die den Verlag veranlaßte, mich mit der Revision der damaligen Übersetzungen zu beauftragen. Der Bearbeiter steht auf den Schultern des Erstübersetzers; seine Aufgabe ist ungleich leichter als die des »Pioniers«. Die 239

seit den ersten deutschen Ausgaben international veröHentlichte Literatur über Borges ist kaum noch zu überschauen. Da jede Übersetzung eine Interpretation ist und einer solchen bedarf, ist die - zumindest teilweise - Kenntnis der Sekundärliteratur notwendig und hilfreich. Hinzu kommt die Möglichkeil, in Zweifelsfällen die inzwischen ebenfalls vorliegenden englischen, französischen oder italienischen Übersetzungen zu konsultieren. Ich bin davon überzeugt, daß der verstorbene Karl August Horst bei gleichem Informationsstand ähnliche Korrekturen vorgenommen haben würde.

Diese Überarbeitung diente vor allem drei Zielen: 1. Korrektur von Fehlern, Irrtümern und Undeutlichkeiten Hierzu gehören z. B. Argentinismen (etwa in Mann von Esquina Rosada), lexikalische Fehler oder Stellen, die im Original nicht eindeutig sind bzw. für die es im Deutschen mehrere mögliche Übersetzungen (oder keine genau entsprechende) gibt. In einigen derartigen Fällen erwies sich ein von Borges selbst zusammen mit Norman Thomas di Giovanni erarbeiteter Auswahlband The Aleph and Other Stories (New York 1970) als hilfreich, da hier unter Federführung von Borges, dessen zweite Mutterspräche Englisch ist, jeweils eine Bedeutung festgeschrieben wurde. Hierzu gehört z. B. der Komplex von Borges’ StrukturSymbolen, die die vielen verschiedenen Ebenen von Erzählungen wie Der Tod und der Kompaß, Emma funz oder Averroes auf der Suche verbinden. In diesem System, das der traditionellen Symbolik der Farben und Formen entlehnt ist, ist die Sphäre vollkommen, das Quadrat stabil, der Rhombus Zeichen der Auflösung, die Fläche/Ebene Urzustand vor der Konzeption einer Idee; rot ist stärker als grau (Red Scharlach triumphiert in Der Tod und der Kompaß über den »halbroten« Erik Lönnrot, eine Person namens Ashe ist a priori leblos; viele der spanischen Namen sind bezeichnend und unübersetzbar; so ist im todge­

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weihten Funes in Das unerbittliche Gedächtnis der Komplex Tod und Bestattung angedeutet: »funesto«, »fünebre« etc.); Türme und Leitern sind Symbole des Übergangs und der »OfTenbarung, zu der es nicht kommt« (Die Mauer und die Bücher, Essays 1952-1979). Dieses komplizierte Symbolsystem zwingt den Übersetzer zu Interpretation und Genauigkeit, da es andernfalls im Deutschen unzugänglich wäre. Daher findet sich z. B. der »Rhombus« durchgehend auch an Stellen, an denen »Karo« eleganter oder »Parallelogramm« korrekter wäre. 2. Wahrung sprachlicher und stilistischer Eigentümlichkeiten des Originals

So wurde z. B. darauf verzichtet, unübliche Adjektive, die im spanischen Original ebenso unüblich sind, durch Relativsätze erläuternd wiederzugeben. Ein von Borges u. a. in Pierre Menard behandeltes Problem stellt sich in jeder Übersetzung: dem Autor und seinem zunächst erreichbaren Leser sind die Straßen von Buenos Aires und die Existenz von Gauchos selbstverständlieh, für uns sind sie exotisch. Schauplatz von Mann von Esquina Rosada ist ein inzwischen zu Buenos Aires gehörendes Vorstadtpanorama; Esquina Rosada ist kein Ortsname, sondern eine rudimentäre Adresse. Die französischen und englischen Ausgaben tragen dem Rechnung; der Titel der Erzählung lautet dort L’homme du coin de la rue rose bzw. Streetcomer Man. »Der Mann von der rosa Straßenecke« wäre die genaue Übersetzung des Titels; dies hätte allerdings nichts an der Exotik reitender und messerstechender Vorortgestalten aus Buenos Aires geändert, die durch den Titel nur geringfügig vergrößert wird. Neben der Überlegung, daß es nicht gut sei, eine mehrfach veröffentlichte Erzählung plötzlich unter einem neuen Titel zu präsentieren, war für die Beibehaltung des alten Titels die Erinnerung an jene Dumas-Übersetzung zuträglich, in der aus Le Chevalier de Maison-Rouge um jeden Preis Der Herr vom Roten Haus wurde.

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3■ Anpassung des Textes an deutsche Sprechgewohnheiten Vor allem in den langen Passagen direkter Rede in einigen Erzählungen war es nötig, im Deutschen ein stärkeres Gefalle zwischen Schreib- und Redesprache zu erarbeiten. Im Gegensatz zum mündlichen Spanisch, in dem sämtliche flektierten Vergangenheitsformen üblich sind, finden im gesprochenen Deutsch Berichte nahezu ausschließlich im Perfekt statt, mit nur gelegentlichen Imperfekt-Einschüben. Eine komplette Einpassung in deutsche Sprechgewohnheiten wäre allerdings nur möglich, wenn eine Übersetzung ähnlich rigoros vorginge wie die vorstehend zitierte amerikanische Ausgabe, die unter Borges’ Mitwirkung entstand. Im Vorwort dazu bemerkt Borges, Ziel der Arbeit sei es gewesen, die Erzählungen so klingen zu lassen, als seien sie ursprünglich in Englisch verfaßt worden. Ein solches Ziel einer literarischen Übersetzung ist aber nur unter Mitwirkung des Autors erreichbar und verlangt interpretatorisehe und andere Gewaltakte, die dem einsamen Übersetzer keineswegs gestattet sind. Bedenkt man zu allem, daß Borges das jeweilige Thema seiner Erzählung gleichzeitig in Sprache, Stil und Struktur durchfuhrt (der von K. A. Horst in seinem Nachwort zu Labyünthe betonte »mimische Gestus«), darf man wohl füglich sagen, daß Borges schwierig, wenn nicht unmöglich zu übersetzen ist. Vermutlich führt jeder Versuch, Fehler auszumerzen, zu ihrer Vervielfachung. Vielleicht legt in hundert Jahren ein Team von Enzyklopädisten ä la Tlön, Uqbar, Orbis Tertius die definitive Übersetzung der Gesammelten Werke vor, einschließlich ihrer Widerlegung; für dies Projekt möge diese Bearbeitung ein vorzeitiges krön sein.

Gisbert Haefs

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Anmerkungen des Übersetzers Vorworte 1 Evaristo Carriego (1930), Borges’ Buch über den Dichter, Erzähler und Dramaturgen Evaristo Carriego (1883-1912); zu diesem später leicht umgearbeiteten Werk bemerkte Borges, je mehr er geschrieben habe, um so geringer sei sein Interesse am Titelhelden geworden; aus einer geradlinigen Biographie sei das Buch zu einer Suche nach dem alten Buenos Aires entraten. - Carriego gehörte den Boheme-Kreisen der Jahrhundertwende an, arbeitete an der anarchistischen Zeitschritt La Protesta mit und entdeckte die Vorstadt - vor allem sein eigenes Viertel von Buenos Aires, Palermo und ihre Bewohner als poetische Sujets. Zu Lebzeiten erschien ein Gedichtband, Misas herejes (1908), posthum Erzählungen, Theaterstücke und verstreute Lyrik. Carriego war mit Borges’ Vater befreundet und verkehrte im Haus der Familie in Palermo. 2 Stadtrandsprache - im Zusammenhang mit der Erzählung Marrn von Esquina Rosada zu verstehen als eine Mischung aus Hoch- und Umgangssprache mit Einschüben aus dem lunfardo, einer Art )Rotwelsch« von Buenos Aires, über dessen Ursprung die Meinungen auseinandergehen: einige halten es für eine authentische Untergrunderzeugung wie das französische Argot, andere für eine Erfindung von Dandies und Tangokomponisten. Im übrigen bezeichnet )Stadtrandsprache« keinen abgrenzbaren regionalen Dialekt, sondern eher eine idiomatisch durchsetzte Sprachebene. 3 Compadre, compadrito - ursprünglich ein kleiner Gauner oder Messerstecher in Buenos Aires; wörtl. etwa )Gevatter«; heute »Mann aus dem gemeinen Volk, Krakeeler, Prahler, affektiert in Kleidung und Verhalten . . .« (Diccionario de voces lunfardasy vulgares, Buenos Aires, 3. Auflage 1976). 4 Großes Fahrzeug - Sanskrit: Mahayana‫׳‬, Bezeichnung des nördlichen Buddhismus (Tibet, Mongolei, Ostasien).

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Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell i Bartolome de las Casas, 1474-1566, Dominikaner, ab 1502 in Amerika, dort zeitweilig Bischof von Chiapas, kehrte später nach Spanien zurück und verfaßte mehrere Schriften, darunter die bekannteste Breoisima relacion de la destruccion de las Indios (Kurzgefaßter Bericht über die Zerstörung der indianischen Lande und Reiche). In seinen Memoriales kam er 1562-63 u. a zu dem Schluß, daß alle an der Eroberung und der fortdauernden Plünderung, der Verwaltung und der Ausrottung der Indianer beteiligten Personen sich im Zustand der Todsünde befänden, daß alle geraubten Reichtümer unverzüglieh den rechtmäßigen Besitzern der neuen Länder, den Indios, zurückzuerstatten seien, und daß diese im übrigen einen gerechten Anspruch auf ewigen Krieg wider die spanische Nation, endend am Jüngsten Tag oder mit der Tilgung aller Spanier vom Antlitz der Erde, erworben hätten. Sein bemerkenswerter Vorschlag, Negerskiaven einzufuhren, trug mit zur modernen Geschichte der Sklaverei bei. Folgend zählt Borges eine Reihe afroamerikanischer Personen, Vorgänge und Phänomene auf, deren detaillierte Einzeldarstellung eine Enzyklopädie lullen würde. Pardosy Morenos sind etwa »Mulatten und Schwarze«, Candombe ist ein afroamerikanischer Tanz.

Die Witwe Tsching, Seeräuberin 1 Boabdil, eigentl. Abu Abdallah, letzter König von Granada; Geburtsdatum unsicher; vertrieb 1482 seinen Vater vom Thron und bekämpfte erfolgreich seinen Onkel, schwächte aber dabei die maurischen Kräfte so sehr, daß 1492 Ferdinand von Aragon das letzte maurische Königtum beenden und die Stadt Granada übernehmen konnte. Boabdil begab sich ins Exil nach Nordafrika, wo er in Diensten des Königs von Fez gegen 1538 starb. Angeblich drehte er sich am letzten Punkt der Straße zur Küste, von dem aus Granada noch zu sehen ist, noch einmal um und seufzte; die paßartige Stelle heißt seither Suspiro del moro, Seufzer des Mauren. Daraufhin soll seine Mutter ihm einen entsprechenden Satz gewidmet haben. 2 Fan Tan, chinesisches Spiel; die auch in den USA verbreitete Variante ähnelt dem Romme: ein kompletter Satz von 52 Karten wird

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verteilt; die Spieler legen zunächst in jeder Farbe die Sieben aus und bei den folgenden Runden entsprechend die Sechs oder die Acht an. Gewonnen hat, wer zuerst keine Karte mehr in der Hand hat.

Der Schandtatenmakler Monk Eastman 1 Junin, Ort im Bergland von Zentralperu; am 6. August 1824 fand dort eine der entscheidenden Schlachten um die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien zwischen spanischen Truppen und Freischärlern unter Simon Bolivar statt; Bolivars Kavallerie entschied die Schlacht zugunsten der Aufständischen.

Der uneigennützige Mörder Bill Harrigan i Brigham Young, 1801-1877, mormonischer Führer und einer der Kolonisatoren des späteren Staates Utah; hinterließ bei seinem Tod eine nicht genau bekannte Anzahl von Witwen und 56 Kinder.

Der maskierte Färber Hakim von Merv 1 Thomas Moore, 1779-1852, irischer Dichter; wichtigste Werke Laila Rookh (1817) und Irish Melodie! (1807-34), darin viele später bekannte »Volkslieder( wie The Last Rose of Summer u. a.

Mann von Esquina Rosada i Guadalupe, La Bateria, Maldonado usw., Vorstädte, Fluß etc., die heute zu Groß-Buenos Aires gehören. Zu Schauplatz und Übersetzung der Erzählung vgl. die Editorische Notiz, S. 241.

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Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ‫ ז‬Adolfo Bioy Casares, geboren 1914, argentinischer Schriftsteller.

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Verfaßte zahlreiche Romane und (phantastische) Erzählungen sowie Essays; Freund und Mitarbeiter von Borges; beide gaben eine Anzahl von Anthologien heraus und schrieben zusammen Erzählungen und Drehbücher: Seis problemas para don Isidro Parodi, Cronicas de Bustos Domecq, Un modelopara la muerte, Elparaiso de los creyentes u. a., zum Teil unter gemeinsamem Pseudonym. Von seinen eigenen Werken zu erwähnen vor allem La invencion de Morel (1940), Plan de evasion (1945), El sueno de los heroes (1954), El gran serafin (1967). Smerdis, persisch Bardija, Bruder des Kambyses, wurde auf dessen Befehl heimlich ermordet, da er angeblich selbst nach der Krone strebte. Als Kambyses in Ägypten Krieg führte (525-522 v. Chr.), bestieg der Magier Gaumata unter dem Namen Smerdis den persisehen Thron, wurde aber von Darius I. beseitigt. Carlos Mastronardi, geboren 1901, argentinischer Essayist und Lyriker, bedeutender Stilist. Werke u. a.: Tierra amanecida (1926), Conocimiento de la noche (1937), Valery 0 la infinitud del metodo (1955), Formas de la realidad nacional (1961). N. R. F. - Nouvelle Revue Fran^aise; Nestor Ibarra, französischer Übersetzer von Borges, veröffentlichte 1969 bei L’Herne, Paris, Borges et Borges, Interviews über Borges. Ezequiel Martinez Estrada, 1885-1964, argentinischer Dichter, Erzähler, Dramatiker, Essayist; vielseitig interessierter Mann (Literatur, Musik, Malerei, Theater), der ein weitläufiges Werk hinterließ: Gedichte; Studien über Nietzsche, Montaigne, Shakespeare, Balzac; argentinische Themen {Radiografia de la pampa, 1933); KampfSchriften; theoretische Erörterungen (Andlisis funcional de la cultura, 1960) und z. T. phantastische Erzählungen. Pierre Drieu La Rochelle, 1893-1945, französischer Schriftsteller, reiste Anfang der 30er Jahre nach Buenos Aires und entdeckte als vermutlich erster Europäer Borges; nach seiner Rückkehr soll er bemerkt haben, Borges sei eine Reise wert (!Borges vaut le voyage«). Alfonso Reyes, 1889-1959, mexikanischer Literaturkritiker, Gelehrter, Dichter; verfocht die OfTenhaltung der Kommunikation der Südamerikaner mit anderen Kulturkreisen, besonders mit Spanien, sprach sich gleichermaßen gegen engen Regionalismus wie gegen

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sklavische Imitation aus; nach Borges’ Meinung bester spanischer Prosastilist des Jahrhunderts. Alejandro Xul Solar, eigentlich Schulz-Solari, argentinischer Maler und Mystiker baltisch-italienischer Abkunft, erfand u. a. eine philosophisch gegliederte Sprache. Enrique Amorim, 1900-1960, uruguayischer Romanautor, lebte lange in Buenos Aires; schilderte in Werken wie Tangarupa oder La carreta u. a. Zustände und Gegebenheiten des uruguayischen Provinzlebens. Francisco de Quevedo y Villegas, 1580-1645, einer der bedeutendsten spanischen Schriftsteller und Gelehrten überhaupt; verfaßte Gedichte, Festschriften, Satiren [Los suenos, La fortuna con seso deutsch: Träume; Die Fortuna mit Hirn), den Schelmenroman Historia de la vida del Buscon (deutsch: Leben des Buscon), Literaturkritik, Politisehe Schriften, philosophische und asketische Schriften, Polemiken, Übersetzungen etc. Sir Thomas Browne, 1605-1682, englischer Arzt und Schriftsteller; verfaßte u. a. Religio medici (Die Religion eines Arztes) mit Essays über die verschiedensten Themen, Pseudodoxia epidemica or Vulgär and Common Errors (Über allgemeinen Irr- und Aberglauben); bei dem hier von Borges zitierten Hjdriotaphia or Ume-Buriall (Urnenbestattung) handelt es sich um eine sehr weitläufige Meditation über Tod und Unsterblichkeit. - Browne gilt bis heute als einer der größten englischen Prosa-Stilisten.

Pierre Menard, Autor des Quijote 1 Ruy Lopez de Segura veröffentlichte 1561 das hier zitierte Buch über die Kunst des Schachspiels; obwohl die historische Abfolge nicht gesichert ist, werden ihm allgemein die erste Festlegung der Bewegungsweisen einiger Figuren (Turm und Springer), die DoppeleröfTnung mit zwei Bauern (die inzwischen wieder abgeschafit wurde) sowie einige grundlegende Eröflnungsvarianten (Spanische Partie) zugesprochen. 2 Francisco de Quevedo y Villegas; vgl. hierzu Anmerkung 9 zu Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. - Bei Aguja de navegar cultos handelt es sich um eine kaum zu übersetzende kurze Satire (etwa: )Kompaßnadel zur

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Beschiffung der Gelahrten«) gegen die vom Dichter Luis de Göngora y Argote (1561-1627) beeinflußte Mode künstlicher, dunkler und von gewalttätigen Metaphern durchsetzter Gedichte. In diesem Text lehrt Quevedo, wie man ein )babylonischer Poet< wird, »KonfusionsSonette« verfaßt, durch Übernahme lateinischer Wortstellung die spanische Syntax verfinstert und die einfachsten Dinge durch hochtrabende und unverständliche Metaphern zu poetischen Rätseln macht.

Der Garten der Pfade, die sich verzweigen i Hung Lu Meng oder Hong Leou Mong, deutsch Der Traum der roten Kammer, Roman aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, wahrscheinlieh verfaßt von Ts’ao Tchan (Siue-K’in), 1719-1764.

Das unerbittliche Gedächtnis i Andres Bello, 1781-1865, venezolanischer Gelehrter und Schriftsteller; verfaßte Bücher über Völkerrecht, Geographie, Grammatik, Orthographie; eine Geschichte Venezuelas; Gedichte. Auch nach der Unabhängigkeit hielt er Spaniens zivilisatorischen Einfluß auf Lateinamerika für wichtig und versuchte mit Gramdtica de la lengua castellana destinada al uso de los americanos (1847) einen gemeinsamen Sprachstandard für Spanien und Amerika als Band zwischen den hispanischen Völkern zu schaffen. Er schlug verschiedene RechtSchreibänderungen vor; dazu gehörte die hier von Borges zitierte Ersetzung desj (>undLoch