Genealogie des Staates: Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens [2 ed.] 9783428536283, 9783428136285

Das europäische Politikdenken der Neuzeit kreiste um den Begriff des Staates. Dieses Denken scheint heute an sein Ende z

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German Pages 932 [934] Year 2011

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Genealogie des Staates: Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens [2 ed.]
 9783428536283, 9783428136285

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Genealogie des Staates Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens

Zweite, durchgesehene Auflage

Von Klaus Roth

Duncker & Humblot · Berlin

KLAUS ROTH

Genealogie des Staates

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 130

Genealogie des Staates Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens Zweite, durchgesehene Auflage

Von Klaus Roth

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Der Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2003 Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13628-5 (Print) ISBN 978-3-428-53628-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83628-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur Neuausgabe Seit dem Wintersemester 2004/05 halte ich die Vorlesung „Politische Ideengeschichte“ am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, und zwar auf der Basis dieses Buches. Ich empfehle es stets zur Vertiefung, es erfreut sich reger bibliothekarischer Nachfrage und wird von den Studierenden zur Vorbereitung auf die Abschlußklausur genutzt. Doch in der bisherigen Preisklasse war es für sie meist unerschwinglich, und die wenigen Bibliotheksexemplare waren gewöhnlich bereits ausgeliehen und für lange Zeit vorgemerkt, so daß vielen die Lektüre nicht möglich war. Da ich die Vorlesung voraussichtlich auch in den nächsten Jahren halte, bin ich dem Verlag Duncker & Humblot und speziell dem Verleger Dr. Florian Simon zu großem Dank verpflichtet, diese verbilligte Studienausgabe ermöglicht zu haben. Ebenso danke ich den Studierenden für die Diskussionen in meinen Seminaren und Tutorenbesprechungen, die mich zu weiterem Nachdenken anregten. Das Buch hat im ganzen eine gute Aufnahme gefunden. Ich nutze diese Gelegenheit, zwei wohlwollende Kritiken hervorzuheben, die einander widersprechen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.1.2004 hat Herfried Münkler moniert, meine Argumentation sei „hegelianisch imprägniert“ und vertrete die Grundannahme, alles habe sich in der Geschichte vernünftig entwickelt, „so daß die Genealogie des Staates zuletzt nichts anderes ist als die Auslegung und Entfaltung einer Gestalt der politischen Vernunft“. Nun wäre mir das Etikett Hegelianismus nicht prinzipiell peinlich, doch hat mich der Vorwurf irritiert, in meiner Arbeit stecke eine „starke Vernünftigkeitsvermutung“. Habe ich doch immer wieder betont, daß ich in der Geschichte weder das Wirken der Vernunft noch die Notwendigkeit am Werke sehe, daß vielmehr Kontingenz herrsche, also nicht pure Beliebigkeit, sondern überschießende Möglichkeit – weshalb alles auch ganz anders hätte kommen können. Zu allen Zeiten gab es Alternativen und Weggabelungen, und nicht immer – oder eher selten – wurden die besseren Wege beschritten. Oftmals sind vielversprechende Entwicklungsperspektiven gewaltsam unterdrückt worden. Und so basiert auch die Tatsache, daß sich die Form Staat in der frühen Neuzeit gegen ihre einstigen Widersacher (Kirche, Reich, Stände, aufstrebende Städte etc.) durchgesetzt hat, nicht auf historischer Vernunft und Notwendigkeit, sondern ist Resultat gewaltsamer Auseinandersetzungen und kontingenter Prozesse der Machtkonzentration. Daher hat Arnhelm Neusüss durchaus recht, wenn er in seiner Besprechung in der Politischen Vierteljahresschrift (3/2004, S. 277 f.) bemerkt: „Hier fliegt keine Eule, hier wird keinem versöhnlich resümierenden Hegelianismus gehuldigt, auch keinem vernünftig

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Vorwort zur Neuausgabe

projektierenden – hier waltet vielmehr Benjamins Rettungspostulat“. In der Tat: es ging und geht mir in der Beschäftigung mit der Real- wie der politischen Ideengeschichte letztlich um „rettende Kritik“, d. h. um die Erinnerung an vertane Möglichkeiten. Dafür scheint mir allerdings weder eine system- noch eine evolutionstheoretische Blickrichtung hilfreich, in deren fatalistischem Realismus und restringierter Wahrnehmung die nicht-verwirklichten Alternativen vergehen müßten. Darum favorisiere ich gegen beide Kritiken nach wie vor eine Konzeption, die sich in der Dialektik von realgeschichtlicher und semantischer Entwicklung nicht den zufälligen Einfällen gewisser Philosophen widmet, sondern politischen Ordnungsvorstellungen nachgeht, die sie als Versuche versteht, sich in einer unübersichtlichen und zumeist als bedrohlich erfahrenen sozialen Welt deskriptiv und präskriptiv zu orientieren. Insbesondere die politische Philosophie suchte – und sucht – in Antworten auf konkrete Herausforderungen stets das momentan Bedrohliche durch Perspektiven eines dauerhaften Vertrauens zu bannen. Doch wurden die zentralen Ideen, die unserem Politikverständnis noch immer unterlegt sind, in der Regel nicht im philosophischen Denken geboren, sondern aus der Praxis. Die Philosophie kam gewöhnlich post festum, wenn es zu spät war, um zu retten, was noch zu retten schien. In der politischen Ideengeschichte ist das Selbstverständnis der Menschheit reflektiert. Sie ist der Hort ihrer Erfahrungen und Erwartungen, ihrer Hoffnungen und Befürchtungen. Folglich verstehe ich den historischen Fonds der Politischen Theorie als Archiv – nicht als Museum! – der kollektiven Erfahrungen der menschlichen Gesellschaften. In diesen Erfahrungen ist sich – wie in den anderen kulturellen Bereichen auch – die Gesellschaft selbst zum Problem geworden. Ihre fortwirkende Relevanz liegt darin, daß sich in ihnen zugleich die noch unbewältigten Konflikte, die uneingelösten Versprechungen, Hoffnungen und positiven Erwartungen, die offenen Lösungsvorschläge und die noch immer nicht vermiedenen Irrtümer angesammelt haben. Mein Erkenntnisinteresse war und ist es nicht, die eigenen Normativismen und ideologischen Optionen durch die Tradition bestätigen zu lassen, sondern die Tradition selbst ernst, also beim Wort zu nehmen und damit unser eigenes Weltbild samt seiner Begriffe in Frage, zumindest auf die Probe zu stellen. Was mich in der Beschäftigung mit der Real- und der Ideengeschichte des Politischen ab ovo antrieb, läßt sich in Anlehnung an Michel Foucault so umschreiben: ich möchte verstehen, wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind – um auszuloten, ob und wie wir anders werden können. Der Text ist im großen und ganzen unverändert. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahre zwangen mich zu keiner Revision. Nur wenige Neuerscheinungen wurden in die Fußnoten eingearbeitet, einige kleinere Fehler stillschweigend korrigiert. Wie schon die Ausgabe in der Reihe „Beiträge zur Politischen Wissenschaft“, so widme ich auch diese Studienausgabe meiner Frau. Berlin, im März 2011

Klaus Roth

Vorwort zur ersten Auflage Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 2001 abgeschlossen und im Juli 2002 vom Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Später erschienene Literatur konnte nur in wenigen Fällen berücksichtigt werden. Der Verfasser dankt den Professoren Gerhard Göhler, Dieter Löcherbach, Wolf-Dieter Narr und Arnhelm Neusüss (alle FB Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin) für freundlichen Zuspruch und kritische Hinweise. Sie haben in unterschiedlichen Entwicklungsphasen die Arbeit animiert und so den Gang der Studie stimuliert, die ohne ihre Ermunterung sicherlich noch nicht abgeschlossen wäre. Für Anregungen und Kritik danke ich ferner den Professoren Rolf Ebbighausen (FU Berlin) und Jürgen Gebhardt (Erlangen) sowie den Kollegen Klaus Reimus und Armin Steil. Unverzichtbare Hilfe in Fragen der EDV und tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung des Textes für den Druck erhielt ich von Thomas Schramm. Für seine kompetente Betreuung danke ich Herrn Lars Hartmann vom Verlag Duncker & Humblot. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften leistete freundliche finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. Zu danken habe ich schließlich meiner Frau für ihre unendliche Geduld. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Berlin, im Juli 2003

Klaus Roth

Inhaltsverzeichnis I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des Staates – Bilanz der Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung . . . . . . . 3. Methode und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 21 36 54

II. Philosophie und Politik in der Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Gestalt der Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Prozeß der Polisbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anfänge der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Griechische Freiheit vs. orientalischer Despotismus: Aufstieg und Fall Athens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sokrates und die Krise der athenischen Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom republikanischen Tugenddiskurs zum Institutionalismus: Zur Entwicklung der politischen Philosophie Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Poiesis, Praxis und Theoria bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nietzsches Mutmaßungen über den Zusammenhang von Philosophie und Politik und über den Niedergang der griechischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . .

75 77 83 94 99 117 117

III. Religion und Politik in den Großreichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Politische in den großen Reichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politisches Denken im Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer . . . . . . . . . . . . . . .

161 162 169 177

IV. Die jüdisch-christliche Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politisches Denken im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Exodus und Alter Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eroberung Kanaans und Richterzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Zeit der Könige und Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Exkurs: Prophetie und moderne Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . e) Politische Bestrebungen in der nachexilischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Rückblick und Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politisches Denken im Urchristentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Jesusbewegung im Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis der Jesusbewegung zum Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Organisation der urchristlichen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197 199 202 210 217 231 242 253 259 267 277 285

123 136 146

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Inhaltsverzeichnis 3. Die christliche Reichsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Von der pneumatischen Einheit zur hierarchischen Anstalt – Entstehung und Legitimation der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf dem Weg zum christlichen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hierokratie, Cäsaropapismus oder Gewaltenteilung? Das Verhältnis von Imperium und Sacerdotium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Der Drang zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herrschaftsorganisation und Machtkonstellation: Reich, Kirche und Territorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Alternativen der Herrschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Reichsidee im Kampf zwischen Kaiser, Papst und Fürstenopposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgen der Papstrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kirche und Reich nach dem Investiturstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die staufische Reichsidee und ihre Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Krise des christlichen Reiches im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kaiser- und Papsttum vom deutschen Thronstreit bis zum Ende der Staufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Reich und die westlichen Monarchien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Auf dem Weg zur äußeren Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Auf dem Weg zur inneren Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Sizilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Reichsidee im Spannungsfeld von Theologie, Jurisprudenz und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Folgen der Aristoteles-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sacerdotium, Imperium, Regnum, Civitas – Theologisch-politische Positionen der Übergangszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgen des Universalienstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Konziliarismus und Reichsreform als Ausweg aus der Krise? . . . . . . 3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Beginn der Neuzeit und die frühneuzeitliche Staatstheorie . . . . . . . . b) Grundlagen und Elemente des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wirtschaft und Sozialstruktur, Religion und Politik im frühneuzeitlichen Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entstehung und Entwicklung des neuzeitlichen Weltbildes . . . . . . . . (1) Empirismus, Rationalismus, Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exkurs: Kant und die „kopernikanische Wende“ in der Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375 377

305 322 344

387 388 392 398 412 422 442 450 469 470 480 481 490 498 512 517 524 567 583 609 612 627 630 648 651 659

Inhaltsverzeichnis (3) Neue Anthropologie und Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Staatsraison, Souveränität, Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Kampf um die adäquate Staatsform und um die Grenzen des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Liberalismus und Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Republikanismus und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Staat im Kraftfeld von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Hegel und der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sozialismus und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 671 684 713 717 728 744 747 758 771

VI. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917

I. Einleitung Das europäische Politikdenken der Neuzeit kreiste – im Unterschied zu dem der Antike, des Mittelalters und der außereuropäischen Kulturen – um den Begriff des Staates. Die Idee des nach innen wie außen souveränen, aus ständischer Herrschaft und geistlicher Bevormundung emanzipierten, durch Bürokratie und stehendes Heer institutionell konsolidierten Staates, der auf einem fest umgrenzten Territorium das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ bzw. der „Gewaltsamkeit“ innehat,1 mit Hilfe von Polizei und Verwaltung den innerstaatlichen Frieden sichert und seine Beziehungen zu anderen Staaten in Krieg und Frieden rechtlich regelt, ohne eine übergeordnete Entscheidungs- und Befehlsinstanz zu akzeptieren – diese Vorstellung gab der neuzeitlichen Theorie und Praxis der Politik in Europa Orientierung und Halt und stimulierte selbst noch jene Konzeptionen und Ordnungsentwürfe, die sich kritisch gegen diese Form der Menschenaggregation und der politischen Herrschaft verhielten. Der Begriff des Staates ermöglichte es, die Einheit und Differenz der europäischen Völker zu denken, die Politik aus der geistlich-religiösen Umklammerung, die einzelnen Territorien aus dem Herrschaftsbereich von Kirche und Reich und ihre politischen Systeme aus den Zwängen der alten Feudalstände zu befreien. Er erlaubte es, die allmähliche „Entfeudalisierung“ der Gesellschaft zu denken (und zu vollziehen) und half schließlich dem Bürgertum, jenes Zentralproblem zu lösen, das seit der Freisetzung der unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft im Mittelpunkt des Interesses stand, die Frage nämlich, wie aus einer Menge von Privateigentümern eine Gemeinschaft von Staatsbürgern werden kann, wie der egoistische, besitzindividualistisch orientierte Bourgeois sich zum gemeinwohlorientierten Citoyen transsubstantiieren kann. Der Staat sollte den zentrifugalen Kräften der Gesellschaft entgegenwirken und die Integration der Gesamtgesellschaft leisten. Ihm fiel die Aufgabe zu, die ökonomischen und rechtlichen, sozialen und politischen, nationalen und internationalen, religiösen und kulturellen Konflikte der Gesellschaften zu bewältigen. Er bildete den passenden Rahmen für die Entwicklung von Kapitalismus und moderner Kultur, war flexibel genug und ließ sich in unterschiedlichen Formen ausgestalten, durch widersprüchliche Zweckbestimmungen konkretisieren und mit mannigfachen Inhalten füllen. Er überdauerte die moderne Transformation vom absolutistischen Fürsten- zum gewaltenteiligen Verfassungsstaat, vom monarchischen Macht- zum bürgerlichen Rechtsstaat, vom Stände- zum Repräsentativstaat und zur parlamentarischen De1

Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29, 516 ff., 821 ff., passim.

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I. Einleitung

mokratie, vom liberalen Nachtwächter- zum Interventions- und Wohlfahrtsstaat. Das europäische Staatensystem der Neuzeit erwies sich als ein tragfähiges Fundament der Integration und Interaktion sowie der geschichtlichen Entwicklung der Völker. Es konnte als Paradigma, als Modell und Muster für die anderen Regionen dienen und schien die geeignete Organisationsform für die gesamte Welt zu sein, die sich problemlos von ihren abendländischen Ursprüngen ablösen und auf die außereuropäischen Völker übertragen, also „globalisieren“ ließ.2 Dieses – hier nur knapp skizzierte – Denken ist, wie man heute konstatieren muß, an sein Ende gekommen. Wohl ist die Form Staat weit entfernt von ihrem vorhergesagten Ableben, doch hat sie viel von ihrem einstigen Zauber verloren. Zwar gibt es gegenläufige Entwicklungen – von den an vielen Orten neu entflammenden Staatsbildungskriegen infolge des Zusammenbruchs der alten bipolaren Weltordnung bis zu den wiedererwachten etatistischen und nationalistischen Bestrebungen in den alten Industriegesellschaften des Westens –, die die Lebensfähigkeit der überkommenen Ideenwelt zu belegen und speziell in Deutschland eine „Renaissance der Staatsorientierung“ und eine „staatswissenschaftliche Abendröte“ zu bewirken scheinen,3 doch hat sich mittlerweile in weiten Kreisen die soziologisch gewonnene Einsicht durchgesetzt und folglich auch in der Politikwissenschaft zum wirksamen Paradigma entwickelt,4 daß in den fortgeschrittenen Weltgegenden – um die Nomenklatur Niklas Luhmanns zu benutzen – die einst primär hierarchisch stratifizierte einer primär funktional differenzierten Gesellschaft gewichen ist,5 in der dem Staat – als Subsystem neben anderen – die Rolle eines „local hero“ zukommt,6 der eine wichtige, aber keine beherrschende Stellung im Rahmen internationaler und innergesellschaftlicher Verhandlungssysteme innehat.7 An die Stelle des übergeordneten, aus der Spaltung und Verdop2 Vgl. B. Badie, L’Etat importé; M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 295 ff.; A. Kazancigil (Hg.), The State in Global Perspective; B. B. Lira, Vom Reich zu den Staaten, S. 321 ff.; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 480 ff.; ders. (Hg.), Verstaatlichung der Welt? 3 Vgl. H. Lietzmann, Staatswissenschaftliche Abendröte. Diese „Renaissance“ erwies sich allerdings als kurzlebiger Versuch einer Wiedererweckung vergangener Träume durch einzelne Intellektuelle. Vgl. dazu die folgenden Ausführungen und bes. Anm. 24. 4 Vgl. K. v. Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert, bes. S. 139 ff., 187 ff. 5 Der Wechsel des Differenzierungstyps wurde bereits von den Klassikern der Soziologie (Georg Simmel, Max Weber, Emile Durkheim) konstatiert und thematisiert, jedoch erst von Luhmann auf den Begriff gebracht. Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 256 ff., 620 ff.; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, S. 21 ff.; ders., Soziologische Aufklärung 4; ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft; ders., Das Recht der Gesellschaft; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2, S. 743 ff.; ders., Die Politik der Gesellschaft; ders. (Hg.), Soziale Differenzierung. 6 So im Anschluß an die angelsächsische Diskussion H. Willke, Ironie des Staates, S. 362 ff. 7 Vgl. F. W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. U. K. Preuß konstatiert lapidar: „Es gehört ja mittlerweile zum Alltagswissen, daß die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heute weniger hierar-

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pelung der Gesellschaft resultierenden Staates, der „zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft“ geworden war (Marx)8 und der die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu steuern und im Verbund mit seinesgleichen die Weltgeschichte zu rationalisieren vermochte, ist demnach eine primär funktional differenzierte Gesellschaft ohne Steuerungszentrum getreten, die den ausdifferenzierten Kommunikationssystemen (Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion, Wissenschaft, Erziehung, Sport usw.) ihre autopoietische Reproduktion und Evolution ermöglicht.9 In den letzten Jahrzehnten haben sich zahlreiche Gesichtspunkte aufgedrängt, die das Ende der traditionellen Form der Staatlichkeit nahelegen. Bereits 1963 schrieb Carl Schmitt anläßlich der Neuausgabe des Begriffs des Politischen: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. Mit ihr geht der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende, den eine europazentrische Staats- und Völkerrechtswissenschaft in vierhundertjähriger Gedankenarbeit errichtet hat. Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront“.10 Mag diese Einschätzung auch der Trauer über das Mißlingen des „konservativ-revolutionären“ Restaurationsversuches des Etatismus in der Zeit der Massendemokratie und des Dritten Reiches entsprungen, mag diese Feststellung auch als Appell zur Rekonstruktion des Staates intendiert gewesen sein, so manifestiert sich darin doch ein allgemeineres Moment. Längst hatte sich die Einsicht unter Staats- und Verfassungstheoretikern unterschiedlichster Provenienz verbreitet, „daß mit dem Denken in den Kategorien ,Staat‘ und ,Gesellschaft‘ die modernen Probleme der ,Staats- und Verfaschisch organisiert sind als ehedem und daß an die Stelle eines staatlichen Entscheidungszentrums, das allein über Macht, Recht und Geld verfügt, ein dezentrales Netzwerk voneinander abhängiger Politik-Arenen getreten ist. Dieses Netzwerk wird nicht länger von einer einheitlichen und homogenen Willensmacht – dem demokratisch legitimierten Staat – gesteuert“ (Das Recht der Revolution). 8 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie. MEW 3, S. 62. Vgl. K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: MEW 1, 203–333, bes. S. 234, 275 ff., 319; ders., Zur Judenfrage. In: MEW 1, 347–377, bes. S. 354 ff. 9 Auch J. Habermas kommt in seinen jüngeren rechtsphilosophischen Arbeiten zum Ergebnis, daß auf moderne Gesellschaften die Denkfigur einer im Staat zentrierten Gesellschaft nicht mehr problemlos angewandt werden kann (Faktizität und Geltung, S. 15, 359 ff.). Auch im diskurstheoretisch begriffenen Rechtsstaat verkörpert sich die Volkssouveränität „nicht mehr in einer anschaulich identifizierbaren Versammlung autonomer Bürger. Sie zieht sich in die gleichsam subjektlosen Kommunikationskreisläufe von Foren und Körperschaften zurück“ (S. 170). Vgl. auch ders., Der europäische Nationalstaat; ders., Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie. 10 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 10. Schmitt faßt damit eine lange Diskussion über den „Verfall“ und „Tod des Staates“ zusammen, die schon vor der Jahrhundertwende vor allem in Frankreich geführt wurde. Vgl. H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 11 ff.

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sungstheorie‘ . . . gedanklich nicht bewältigt werden können“.11 In der Zwischenzeit haben sich die Anomalien verschärft und akkumuliert, die im alten Paradigma12 nicht mehr bewältigt werden können und das Staatsmodell des 19. Jahrhunderts zur Verständnisbarriere werden lassen.13 Angesichts der neuen globalen Herausforderungen scheint die Problemlösungskraft der Form Staat zu versagen, jedenfalls nicht ausreichend zu sein. Die jüngeren Entwicklungen in Ökonomie, Politik, Recht, Religion (Fundamentalismen) usw. und die neu auftretenden ökologischen und sozialen Probleme lassen die Grenzen dieser überkommenen Ordnungsform deutlich werden. Allseits wird der Kompetenz- und Souveränitätsverlust des Staates konstatiert und sein Versagen in den traditionellen Aufgabenfeldern beklagt.14 Im Zuge der „Globalisierung“, der Internationalisierung des Kapitals und der Herausbildung multinationaler Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft, erweisen sich die alten Nationalstaaten eher als Schranke und Fessel denn als adäquater Rahmen der Produktivkraftentfaltung. Sie werden entsprechend genötigt, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.15 Viele der in der Dritten Welt nach europäischem Vorbild konstituierten Staaten fallen heute in sich zusammen wie Kartenhäuser, da sie auf ethnischen Grundlagen errichtet wurden, die keinen Staat zu tragen vermögen.16 Das Streben zahlreicher Regionen der Welt nach Anerkennung als Völkerrechtssubjekte, d. h. nach staatlicher Souveränität, erweist sich als bloße Vorstufe weitergehender Separations- oder künftiger Integrationsbemühungen. Zwar ist der Prozeß der europäischen Einigung durch zahlreiche Hindernisse gehemmt, doch scheint es längerfristig keine Alternative zu ihr zu geben. Umstritten bleibt, 11 H. Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“, S. 24. Vgl. auch E. Angermann, Das „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft“: „Die Trennung von Staat und Gesellschaft hat . . . nur innerhalb des rationalistisch-liberalen Gemeinschaftsdenkens eine gewisse Berechtigung; im Grunde ist sie – mutatis mutandis – für die Zeit nach dem achtzehnten Jahrhundert ebenso abzulehnen wie für das Mittelalter“ (S. 101). 12 Vgl. auch E.-W. Böckenförde (Hg.), Staat und Gesellschaft – und die Übersicht von B. Blanke, Theorien zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft. 13 Vgl. T. Ellwein, Staatlichkeit im Wandel; K. v. Beyme, Der Nationalstaat. 14 Vgl. etwa T. Ellwein/J. J. Hesse, Der überforderte Staat; E. Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt; D. Grimm (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben; ders. (Hg.), Staatsaufgaben; H.-H. Hartwich (Hg.), Politik und die Macht der Technik; ders. (Hg.), Macht und Ohnmacht politischer Institutionen; M. Jänicke, Staatsversagen; C. Koch, Zivilisation der Arbeitslosigkeit; ders., Nicht außen noch innen; T. Meyer, Die Transformation des Politischen, S. 39 ff.; S. Sassen, Losing Control? 15 Vgl. M. Albrow, Abschied vom Nationalstaat; E. Altvater, Operationsfeld Weltmarkt; I. Gerlach/P. Nitschke (Hg.), Metamorphosen des Leviathan?; M. Hardt/T. Negri, Empire; J. Hirsch, Vom fordistischen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat; S. Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat; O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung; W.-D. Narr/A. Schubert, Weltökonomie, S. 147 ff.; B. Wehner, Nationalstaat, Solidarstaat, Effizienzstaat; M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. 16 Vgl. R. Knieper, Nationale Souveränität; T. v. Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika. Siehe auch oben, Anm. 2.

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ob sich die Prinzipien und Errungenschaften des bürgerlichen Rechtsstaates, der parlamentarischen Demokratie und des Wohlfahrtsstaates von der Form Staat ablösen und auf andere, auf suprastaatliche Gebilde übertragen lassen. Nachdem die realsozialistischen Versuche einer staatlichen Planung und Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gescheitert sind, nachdem die einst auch im Westen verbreitete Planungs- und Steuerungseuphorie einer allgemeinen Ernüchterung gewichen ist,17 wird heute gelegentlich bereits die Frage aufgeworfen, „ob der Staat überhaupt eine für alle Fälle geeignete Ordnungsform der Politik sei“.18 Nachdem sich viele der alten Hoffnungen auf den Staat verflüchtigt haben, grassieren heute allseits Zweifel an seiner Vitalität. Der Eindruck verstetigt und verfestigt sich, er habe sich in einen Reparaturbetrieb verwandelt, der nur noch reaktiv auf Störungen der Kapitalzirkulation und der gesellschaftlichen Reproduktion antwortet. Offensichtlich ist, daß die staatliche Politik in den hochindustrialisierten Gesellschaften sich heute nicht mehr auf neue Ziele zubewegt, sondern in sich kreist und dabei gelegentlich ins Stocken und Stolpern gerät.19 Die Auffassung, der Staat habe sich zu einem System zusammengezogen, das nur noch mit seiner eigenen Autopoiesis, mit seiner eigenen Reproduktion und seinen eigenen Problemen befaßt ist, die es mit Hilfe des Steuerungsmediums Macht bearbeitet,20 bestätigt sich und erhält alltäglich neue Nahrung. Gemutmaßt wird bereits, daß parlamentarische Demokratie, bürgerlicher Verfassungs-, Rechts- und Sozialstaat mittlerweile alles Emanzipatorische abgestreift haben und von sich aus nichts Innovatorisch-Humanes mehr entwickeln.21 Das Gefühl verstärkt und verbreitet sich, daß die Sozialstaatsprogrammatik ihre Kraft verloren hat, „künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen“.22 Bestrebt, die virulente „Staats-“ und „Politikverdrossenheit“ zu 17 Zur Geschichte der Enttäuschung und Ernüchterung der politischen Steuerungsidee in der Politischen Soziologie von M. Weber, E. Durkheim, Vilfredo Pareto u. a. bis hin zu Jürgen Habermas und Niklas Luhmann vgl. K. v. Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Zu den Steuerungsproblemen des heutigen Staates siehe ferner N. Luhmann, Steuerung durch Recht?; G. Teubner, Recht als autopoietisches System. 18 N. Luhmann, Die Herrschaft der Natur in ihren späten Tagen. Vgl. ders., Metamorphosen des Staates. 19 Vgl. M. Theunissen, Negative Theologie, S. 308: „Offen am Tage liegt die Selbstverfehlung des Lebens, das mehr als Naturleben sein sollte, heute in seiner weltpolitischen Dimension: als Überformung gesellschaftlichen Lebens durch den Kreislauf des Kapitals und als Aushöhlung staatlichen Lebens durch eine Politik, die, statt sich auf neue Ziele hinzubewegen, in der Fixierung auf vorgegebene Ziele ins Rotieren gerät.“ 20 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 37 ff., 258 ff., 629 f.; ders., Macht, S. 90 ff.; ders., Ökologische Kommunikation, S. 167 ff., 202 ff.; ders., Die Wirtschaft, S. 324 ff.; ders., Die Politik, S. 18 ff. sowie die Kontroverse zwischen Luhmann und F. W. Scharpf in H.-H. Hartwich (Hg.), Macht und Ohnmacht politischer Institutionen, 12–29. 21 J. Agnoli, Zwanzig Jahre danach, S. 35. 22 J. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates, S. 147.

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bekämpfen, bemühen sich Politologen aller Couleur, die Ansprüche und Erwartungen der Bevölkerung an den Staat noch weiter zu drosseln und steigern so den ohnehin vorhandenen Zorn und Verdruß. Infolge dieser Ernüchterungen und Enttäuschungen werden die überkommenen etatistischen Vorstellungen und Anschauungen anachronistisch. Das Politische beginnt sich zu lösen aus der Bindung an den Staat.23 Die politischen Hoffnungen und Befürchtungen wachsender Teile der heute Lebenden richten sich immer weniger auf ihn24 und zusehends auf nicht-, auf über- oder unter-, vor- oder nach-staatliche Formen der Organisation und Problembewältigung.25 Der Staat hat den Glanz verloren, den er in der Entwicklung des Politikdenkens von Machiavelli, Bodin, Hobbes über Fichte und Hegel bis zu Hermann Heller und Carl Schmitt als orientierungsleitende und erwartungsträchtige Instanz des menschlichen Lebens besaß. „Die Staatsidee selbst ist zu einer Antiquität geworden“.26 Der Schwund staatlicher Ordnungsmacht manifestiert sich nicht nur in leeren öffentlichen Kassen, in der Auszehrung und Demontage der sozialen Sicherungssysteme und im Vertrauensverlust auf seiten der Bürger, sondern auch in der Erosion des Rechtssystems, das sich in ein mixtum compositum widersprüchlichster Normen und Vorschriften und ein beliebig einsetzbares Herrschafts- und Verwaltungsinstrument verwandelt hat.27 Dadurch büßte es seine Orientierungs- und Integrationsfunktion und seinen Systemcharakter als corpus iuris ein. Die heutigen Verfassungen und Rechtsordnungen enthalten keine richtungsweisenden Visionen mehr und spiegeln den Gesellschaften nicht länger das Bild ihrer gewünschten Zukunft wider. Sie sind zu handhabbaren Instrumenten der Politik und der Herrschaftstechnik geworden. Nicht nur einzelne Rechtsordnungen und -staaten, son23 „Es macht im Zeichen der zunehmenden Vergesellschaftung des Staates, das heißt der Politisierung der Gesellschaft neuerdings Karriere, indem es die verschiedensten Ansprüche und Einheiten in der sich rapide politisierenden Welt bezeichnet“ (C. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, S. 15). 24 Wie die Demoskopie zeigt, läßt sich selbst in Deutschland von einer Verehrung des Staates, einem Glauben an den Staat kaum etwas erkennen. Vgl. E. Noelle-Neumann, Die Deutschen und der Staat, S. 5: „Das liegt aber nicht nur an einem weitgehend geschwundenen Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Staat, sondern auch am Begriff ,Staat‘. Wenn er im Fragetext ersetzt wird und die Frage lautet: ,Was tue ich für mein Land?‘, dann ist das Bild ausgewogener, ein Drittel der Bevölkerung bekundet Gemeinsinn, ein Drittel lehnt ab, ein Drittel bleibt unentschieden.“ 25 Vgl. M. Albrow, Abschied, S. 101 ff., 253 ff.; U. Beck, Die Erfindung des Politischen, S. 149 ff., 204 ff.; ders., Was ist Globalisierung?; M. v. Creveld, Aufstieg, S. 373 ff.; E.-O. Czempiel, Weltpolitik im Umbruch; ders., Von der Staatenwelt zur Gesellschaftswelt; J.-M. Guéhenno, Das Ende der Demokratie; P. Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert; M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates – sowie die jüngeren Debatten über Zivilgesellschaft und Republikanismus und die Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus (s. u., Anm. 31). 26 R. Altmann, Der Staat und das große Ganze. In: FAZ v. Sa., 19.9.1992 (Beilage „Bilder und Zeiten“). Vgl. ders., Abschied vom Staat, S. 13 ff. 27 Vgl. dazu H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 9 ff., 65 ff.

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dern das ganze westliche Rechtswesen scheint heute in eine Krise geraten und an einem Kulminationspunkt angelangt, an dem sich entscheiden muß, ob es erstarrt oder zerfällt oder ob es in sich selbst die Kräfte zur Regenerierung und Selbststabilisierung findet. Auf den Ernst der Lage hat Harold J. Berman bereits 1983 hingewiesen, als er konstatierte, daß „die westliche Rechtstradition wie auch die westliche Zivilisation überhaupt im 20. Jahrhundert eine größere Krise durchmacht als je zuvor“, eine „Krise der Werte und des Denkens auf dem Gebiet des Rechts . . ., in der unsere gesamte Rechtstradition in Frage gestellt ist – und nicht nur die sogenannten liberalen Vorstellungen der letzten Jahrhunderte, sondern die Grundstruktur des westlichen Rechtswesens, die aus dem 11. und 12. Jahrhundert herrührt“.28 Das Ordnungsdenken, das sich im Staatsbegriff verdichtet und zu einer Leitidee der neuzeitlichen Politik entwickelt hat, ist also an seine Grenzen gestoßen und sieht seinem Ende entgegen. Die Staatsidee hat ihre Substanz und Triebkraft eingebüßt, eine allgemeine „Entzauberung des Staates“29 hat stattgefunden, der „Mythus des Staates“30 ist verpufft. Die Erschöpfung des alten Etatismus hat in der Politischen Theorie die Suche nach Alternativen, nach neuen Formen der Organisation des Politischen in der global vernetzten Welt stimuliert. Dabei rückten auch die früheren, vorstaatlichen Ordnungen (Polis, Reich) wieder stärker in den Blick, die zwar nicht wiederhergestellt werden können, die aber Anhaltspunkte für die Konzeption einer nachetatistischen Politik bieten könnten. So kann die griechische Polis und die in ihr verwirklichte Sittlichkeit als Orientierungsmuster für die kommunitaristische Kritik am Liberalismus und zugleich als Stimulans und Ausgangspunkt radikaldemokratischer Positionen dienen, die durch den Hinweis auf historische Erfahrung und auf die Praktikabilität einer direkten Demokratie die Forderung nach einer weitergehenden Demokratisierung von Staat und

28 H. J. Berman, S. 65. In der Hoffnung, daß wir „im kollektiven Gedächtnis unserer vergangenen Erfahrungen die Kräfte finden, die uns helfen könnten, die Hindernisse auf unserem Weg in die Zukunft zu überwinden“ (S. 11), rekonstruierte Berman in einer eindringlichen Untersuchung die Hauptzüge und die einzelnen Schichten, die Hintergründe und die Quellen, den Ursprung und die Formierung, die Entwicklung und die schließliche Krise der westlichen Rechtstradition. Diese Krise finde ihren Kern und ihren Ausdruck in der Tatsache, daß das Recht im 20. Jahrhundert – in Theorie und Praxis – „immer weniger als ein zusammenhängendes Ganzes, als System, als corpus iuris genommen [wurde], statt dessen mehr und mehr als Mischmasch, als atomisierte Masse von Ad-hoc-Entscheidungen und miteinander unvereinbaren Vorschriften, die nur noch durch gemeinsame ,Techniken‘ zusammengehalten werden. Das alte Meta-Recht ist zusammengebrochen und hat einer Art Zynismus Platz gemacht“ (S. 71). Den Ausweg aus der Krise erblickt Berman dementsprechend in der Erarbeitung eines neuen MetaRechts und in der Wiederherstellung des Systems der Rechte. 29 H. Willke, Entzauberung des Staates; ders., Ironie des Staates, S. 310 ff. Vgl. auch die frühe Studie von F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, II. Teil: „Die Entzauberung des Rechts“ (S. 73–196). 30 Vgl. E. Cassirer, Der Mythus des Staates.

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Gesellschaft zu untermauern vermögen.31 So werden Stimmen vernehmbar, die das Reich der Karolinger oder gar die Renovatio-Idee und den Imperialismus Ottos III. als Vorbild für ein vereinigtes Europa anpreisen.32 Zwar herrscht noch weitgehend Unklarheit und Uneinigkeit über mögliche Wege und Perspektiven einer postetatistischen Theorie und Praxis, doch hat die Form Staat ihre Bahn durchmessen und ihren Zenit erreicht. Deshalb ist es heute möglich geworden, ihre Anfänge und ihre Eigenart zu erkennen und ihre Leistungen und Grenzen zu bilanzieren. Die vorliegende Studie erforscht die Grundlagen und Gründe für den Aufstieg und die steile Karriere der auf den Staat fixierten Vorstellungswelt – um dadurch zugleich mögliche Ursachen für ihr Verblassen und ihren Niedergang zu beleuchten. Sie analysiert die Vorläufer des Staates (Polis, Reich, Ekklesia) und die in ihrem Rahmen entwickelten Politikvorstellungen, die durch Vermittlung der Politischen Philosophie in modifizierter Gestalt in die neuzeitliche Staatsidee eingeflossen sind. Sie beschäftigt sich folglich mit den Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens und ihrem geschichtlichen Wandel. Sie untersucht die Genese und die Metamorphose, die Anfänge und die Entfaltung des abendländischen Ordnungsdenkens und rekonstruiert die Erfahrungen und Erwartungen, die sich im Gang der europäischen Geschichte im Staatsbegriff verdichtet haben. Ihr Gegenstand ist nicht die realgeschichtliche Entwicklung des europäischen Staatensystems,33 sondern ihre konzeptionelle Vorbereitung in der Politischen Theorie. Ihr Anliegen ist nicht ein enragiertes Plädoyer für oder wider den Staat, sondern die bloße Bestandsaufnahme einer Denkbewegung, die in der griechisch-römi31 Vgl. etwa A. Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens; A. Honneth, Konzeptionen der „civil society“; ders. (Hg.), Kommunitarismus; Chr. Zahlmann (Hg.), Kommunitarismus; J. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie; A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend; C. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? 32 Vgl. etwa F. Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte, S. 333 ff.; O. v. Habsburg, Die Reichsidee; E. Morin, Europa denken; M. Salewski, Deutschland. Bd. 1, S. 23; ders. (Hg.), Nationale Identität und europäische Einigung; J. Schatz, Imperium, Pax et Iustitia, bes. S. 19 ff. 33 Vgl. dazu die Gesamtdarstellungen von P. Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates; G. Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus; R. Bendix, Könige oder Volk; W. Blockmans/J.-P. Genet (Hg.), The Origins of the Modern State; H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte; M. v. Creveld, Aufstieg; R. v. Dülmen, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa; H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt; dies., Zur Theorie der historischen Konstitution des bürgerlichen Staates; dies., Vom Ursprung bürgerlicher Staaten; E. Hinrichs (Hg.), Absolutismus; H.-H. Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates; Propyläen Geschichte Europas. 6 Bde.; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt; ders., Das Wachstum der Staatsgewalt; T. Schieder, Wandlungen des Staats in der Neuzeit; H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte; J. H. Shennan, The Origins of the Modern European State; J. R. Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates; C. Tilly (Hg.), The Formation of the National States; H. Timmermann, Die Bildung des frühmodernen Staates; D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, sowie die im folgenden Abschnitt und in Kap. V. 3 zitierte Literatur.

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schen Antike anhebt, in der Polis und im Reich ihre frühen Fixpunkte und Ideale findet, sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter mit der jüdisch-christlichen Tradition amalgamiert und im späten Mittelalter den Staat zu favorisieren beginnt, der schließlich in der Frühen Neuzeit seine potentiellen Widersacher aus dem Feld schlagen konnte und zur dominanten politischen Instanz wurde. Intendiert ist weder ein Appell zur Rekonstruktion und Restitution des Staates noch ein weiteres Klagelied über den „Verfall des Staates“ oder ein utopisches Hoffnungsszenario über das „Absterben des Staates“. Zu untersuchen sind stattdessen die Gründe für den Ursprung und die Entfaltung, den Aufstieg und die Etablierung des großen neuzeitlichen Ordnungssymbols, für die Bildung und institutionelle Verankerung der Staatsidee.

1. Begriff des Staates – Bilanz der Kontroversen Als Erfahrungsträger und Projektionsfläche für politische Erwartungen entzieht sich der Staatsbegriff einer eindeutigen Definition.34 Er ist vielmehr Gegenstand und Medium der theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung – in der Gegenwart nicht weniger als in der Vergangenheit. Es gibt daher keine Einigkeit in der Bestimmung seines Bedeutungsgehalts.35 Die Verfassungs- und Ideenhistoriker, die Staatsrechtslehrer und Politiktheoretiker streiten sich über Entstehung und Begriff, Aufbau und Gestalt, Leistung und Funktion, Reichweite und Grenzen des Staates. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung über den Staatsbegriff ist nach wie vor im Fluß und hat durch die jüngsten politischen Ereignisse nachhaltigen Auftrieb erhalten.36 Vorliegende Untersuchung möchte einen Beitrag leisten zur schärferen Konturierung des Staatsbegriffs. Sie möchte diesen 34 Bei der von der Jurisprudenz angebotenen Trias Staatsgebiet – Staatsvolk – Staatsmacht (vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff., 406 ff., 427 ff.) handelt es sich nicht um eine Definition, sondern um eine analytische Unterscheidung der Komponenten des Staates. Nach den Regeln der Logik würde sich eine „Definition“, die das Definiendum im Definiens wiederholt, den Vorwurf der Tautologie einhandeln. Verzichtet man jedoch auf den „Staat“ im Definiens, so trifft die „Definition“ seine Spezifik gerade nicht. Ein auf einem „Gebiet“ lebendes „Volk“ wird beispielsweise auch von der Mafia oder von einem Kohlekartell oder einem Elektrokonzern mit Hilfe von „Macht“ beherrscht. Gebiet, Volk und Macht erhalten offensichtlich selbst erst durch den Staat ihre konkrete Bestimmung und Gestalt. 35 Den Grund für diesen Sachverhalt hat Nietzsche auf einer allgemeineren Ebene festgehalten: „Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ (Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, 13., KSA 5, S. 317). 36 Aus der Flut neuer Publikationen über den Staat seien neben den bereits genannten Werken hier nur hervorgehoben: T. Evers, Supranationale Staatlichkeit; P. Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats; D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft; B. Kohler-Koch (Hg.), Staat und Demokratie in Europa; P. Kondylis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, S. 28 ff.; K. Ludwig, Europa zerfällt; P. C. Mayer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates.

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Beitrag in Form einer Analyse jener theoretischen Diskurse leisten, in denen die europäische Gesellschaft ihr politisches Selbstverständnis artikulierte, in denen sie ihr politisches Wissen erwarb, institutionell stabilisierte und tradierte. Bei der Realisierung seines Programms kann sich der Verfasser auf zahllose Vorarbeiten und eine breite Literatur stützen, die ihm sein Vorhaben überhaupt erst ermöglicht. Der Rückblick auf die Genealogie des Staates ist heute möglich geworden durch die mühevolle und beharrliche Arbeit ungezählter Generationen von Forschern auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich mit der Geschichte des Staates und der Staatstheorie beschäftigten – und dadurch selbst Teil dieser Geschichte und somit Gegenstand der vorliegenden Untersuchung wurden. Es ist nicht möglich, alle einschlägigen Forschungsarbeiten in einem Überblick Revue passieren zu lassen und zu würdigen. Zu zahlreich sind die gelehrten Werke über den Staat, die mittlerweile riesige Bibliotheken füllen. Zur Vorbereitung der Analyse und zur Konkretisierung, zur schärferen Konturierung und Eingrenzung der Fragestellung mag ein kurzer Rückblick auf die jüngere verfassungs- und ideengeschichtliche Staatsdiskussion jedoch hilfreich sein. Die dort erzielten Resultate können der nachfolgenden Untersuchung ebenso als heuristisches Prinzip und als Orientierungsrahmen dienen wie die unaufgelösten Widersprüche und offenen Fragen. Im Mittelpunkt dieser Kontroversen standen folgende Fragenkomplexe: – Soll der Ausdruck Staat als überepochaler Allgemeinbegriff verwendet werden?37 Oder ist der Staat ein in Europa kreierter, „einmaliger, konkreter, zeitgebundener Typus, vom 16. zum 20. Jahrhundert des christlichen Aeon zu datieren und aus diesen vier Jahrhunderten, aus Renaissance, Humanismus, Reformation und Gegenreformation hervorgegangen“?38 Dies ist die erste Grundentscheidung, die zu treffen ist. Von dieser ersten begrifflichen Weichenstellung hängt ab, welche Optik die Wahrnehmung leitet, wie die geschichtliche Entwicklung der Menschheit und die jeweilige politische Realität apperzipiert bzw. theoretisch konstruiert wird, welche Merkmale als wichtig oder nebensächlich betrachtet werden, was zu beachten und was zu vernachlässigen ist – und folglich auch in welche Richtung die Forschung voranzutreiben ist. 37 Vgl. J. Popitz, Der Staatsbegriff als allgemeingültiger Begriff. E.-W. Böckenförde unterstützt in seiner Einleitung zu dieser Dokumentation den Versuch einer epochenunspezifischen Fassung des Staatsbegriffs, während er einst selbst aufs Schärfste die von O. Brunner, C. Schmitt u. a. inspirierte Gegenposition vertrat (s. u. S. 35). Seine Abwendung von dieser Position deutet sich bereits in seiner Hegel-Rezeption an. Siehe E.-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat; ders., Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel. Siehe auch ders., Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Ferner A. Demandt, Der Idealstaat, S. 9 ff.; P. Koslowski, Gesellschaft und Staat; U. Scheuner, Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, S. 6 ff. 38 C. Schmitt, Glossarium, S. 19. Vgl. ebd., S. 139; ders., Reich – Staat – Bund; ders., Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff; ders., Der Nomos der Erde, S. 96 ff.; ders., Hamlet oder Hekuba, S. 65.

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Um die hier entspringenden Probleme angemessen behandeln zu können, soll eine kurze erkenntnistheoretische Reflexion eingeschaltet werden. Nach der wahren Bedeutung der Wörter zu fragen, ist, wie John Austin einmal bemerkte, nicht weniger naiv als die Frage nach der wirklichen Farbe des Chamäleons.39 Es gibt keine Korrespondenz zwischen Begriff und nichtbegrifflicher Wirklichkeit. Wie der – vom neukantianischen Subjektivismus beflügelte – jüngere Nominalismus lehrt, steht es uns frei, unsere Begriffe zu wählen und zu definieren, wie es uns gefällt. Entscheidend ist allein, ob es uns gelingt, mit ihrer Hilfe Komplexität zu reduzieren, das Erfahrungsmaterial zu strukturieren und die an sich chaotische Erfahrungswelt in eine gedankliche Ordnung zu transformieren, die durch Stringenz und Konsistenz ausgezeichnet ist.40 Voraussetzung dafür ist nur, daß wir an den einmal getroffenen Definitionen festhalten, d. h. die beigelegten Bedeutungen fixieren, um ihr Fluktuieren zu verhindern.41 Die Leistung und Funktion unserer Begriffe besteht in der Ordnung des Erfahrungsmaterials durch Abstraktion, d. h. durch Fixierung ganz spezifischer und Ignorierung anderer Eigenschaften der durch sie bezeichneten Gegenstände des Nachdenkens. Eine Eigentümlichkeit des menschlichen Denkens liegt im Zwang zur rang- und stufenförmigen und damit letztlich zur hierarchischen Konstruktion der begrifflichen Wirklichkeit. Wir benötigen neben Ausdrücken, die nur singuläre Erscheinungen und einzelne Objekte des Denkens bezeichnen, auch Allgemeinbegriffe, die für weitere und engere Bezirke der gedachten Wirklichkeit einzustehen haben und Gattungen und Arten sowie Relationen zwischen den Objekten bezeichnen. Nur durch die Einordnung der konkreten Sachbegriffe in den Kontext und Verbund dieser allgemeinen Kategorien gewinnen sie Signifikanz und Relevanz. Sie saugen die allgemeinen Merkmale in sich auf und präzisieren sie. Sie werden dadurch theoretisch aufgeladen und beziehen ihre Erklärungskraft aus dieser Ladung. Deshalb bleibt von entscheidender Bedeutung, welche Begriffe wir als All39 Ähnlich E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, S. 33: „Man muß in der Philosophie immer davon ausgehen, daß es sinnlos ist, sich über die wahre Bedeutung von Wörtern zu streiten. Worauf es ankommt, ist, die verschiedenen möglichen Bedeutungen eines Wortes zu unterscheiden und sich darüber im klaren zu sein, in welcher Bedeutung man es verwenden will.“ Daß die inhaltliche Fixierung des Staatsbegriffs sinnlos sei und nur Verwirrung stifte, behauptet T. D. Weldon, The Vocabulary of Politics, S. 46. 40 Nach Auffassung der analytischen Wissenschaftstheorie (K. R. Popper u. a.) sind Theorien „Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren. Sie erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt“. „. . . ein faktisches Zusammenstimmen der abgeleiteten Gesetzeshypothesen mit empirischen Gleichförmigkeiten ist prinzipiell zufällig und bleibt als solches der Theorie äußerlich“. „Wir wissen nämlich grundsätzlich nichts von einer ontologischen Entsprechung zwischen wissenschaftlichen Kategorien und Strukturen der Wirklichkeit“ (J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, S. 157). 41 Auch diese Prämisse wird neuerdings noch in Frage gestellt und aufgelöst bzw. verworfen vom Dekonstruktivismus.

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gemeinbegriffe verwenden. Diese Wahl ist der Beliebigkeit und unserer Willkür entzogen, sie hat weitreichende Konsequenzen für den Verstehens- und Erkennensprozeß. Je nachdem, mit welchem begrifflichen Instrumentarium wir die Wirklichkeit zu erfassen bzw. zu konstruieren, d. h. zu begreifen versuchen, erscheint diese in einer ganz spezifischen Gestalt. Die jeweilige Antwort auf unsere Ausgangsfrage ermöglicht und erzwingt eine je spezifische Konstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit. Wird der Staat als epochen- und kulturenübergreifende Erscheinung betrachtet,42 deren Besonderheit in der Abtrennung und Verselbständigung eines Organs der politischen Macht besteht, so erfolgt die Staatsentstehung in den frühen Hochkulturen.43 Die Weltgeschichte kennt dann insgesamt nur zwei konkrete Ordnungsformen, die Menschheit als ganze spaltet sich in staatlich organisierte und in primitive Gesellschaften, wobei die Eigenheit der letzteren just in der Ablehnung und Verhinderung des Staats bestünde – nicht weil sie unfähig zu dieser politischen Form wären, sondern „weil sie die Teilung des Sozialkörpers in Herrscher und Beherrschte ablehnen“.44 Die gesamte Weltgeschichte der „nicht-primitiven“, der „zivilisierten“ Völker hingegen erschiene unter politischen Gesichtspunkten als bloßer, aber steter Formwandel des Staates, der von den „primitiven Feudalstaaten“ über die „Seestaaten“ und den „entfalteten Feudalstaat“ zum „Verfassungsstaat“ und schließlich zur Aufhebung des Staates in einer „Freibürgerschaft“45 bzw. vom „charismatischen“ über den „traditionalen“ zum „rationalen Staat“46 oder von den frühen orientalischen Großreichen über die antike Polis zu den 42 Selbst die Verfasser des einschlägigen Artikels der Geschichtlichen Grundbegriffe sind sich nicht einig in dieser Frage. Vgl. W. Conze/R. Koselleck u. a., Art. „Staat-Souveränität“. Während Koselleck einen epochenspezifischen, auf die europäische Neuzeit zugeschnittenen Staatsbegriff vertritt (S. 1 ff.), ist Conze der Auffassung, die Anwendung des Terminus ,Staat‘ auf alle Kulturen und Perioden der Weltgeschichte könne, „wenn sie bewußt gemacht [sic!] und methodisch im Hinblick auf ihren (Vergleichs-) Wert [sic!] sowie auf ihre eingeschränkte Aussagekraft gerechtfertigt wird [sic!], vertreten werden“ (S. 5). 43 Vgl. dazu die jüngeren ethnologischen und soziologischen Forschungen zur „Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften“: S. Breuer, Der Staat; ders., Der archaische Staat; ders./H. Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates; R. R. Cohen/E. R. Service (Hg.), Origins of the State; K. Eder, Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften.; ders. (Hg.), Die Entstehung von Klassengesellschaften; J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 173 ff.; ders., Faktizität und Geltung, S. 176 ff.; M. Mann, Geschichte der Macht. Bd. 1; E. R. Service, Origins of the State and Civilization; H. Wimmer, Evolution der Politik. 44 P. Clastres, Zur Frage der Macht in primitiven Gesellschaften, S. 99. Vgl. ders., Staatsfeinde. 45 So nach F. Oppenheimer, Der Staat. 46 So nach S. Breuer, Der Staat. Breuer folgt dabei Max Weber, der den Staatsbegriff seinem modernen Typus entsprechend definierte, um so den okzidentalen „Sonderweg“ und die bloß rudimentären Formen „staatlicher“ Organisation in vormodernen und außereuropäischen Gesellschaften zu exemplifizieren. Diese „eurozentrische“ Sicht der Weltgeschichte leitet auch den Versuch Breuers, der außerhalb Europas und in der Früh-

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spätantiken und mittelalterlichen Reichen und schließlich zum „modernen Staat“ führte. Die Besonderheit des letzteren würde dann nicht durch den Staatsbegriff, sondern durch das Epitheton „modern“ ausgedrückt, das die Probleme der Differenzierung und Spezifikation nicht löst, sondern nur verschiebt auf die konkrete Bestimmung des Begriffs der „Modernität“.47 Entsprechend würde ein Gattungsbegriff fehlen, der das politisch Neue an der Neuzeit zu erfassen und zu artikulieren erlaubte. Die Vielfalt und der Formenreichtum der „modernen Staaten“ müßte durch eine lange Liste weiterer Epitheta verdeutlicht werden. Die „modernen Staaten“ des Westens müßten von denen der außerwestlichen Welt und schließlich voneinander begrifflich geschieden werden. Zugleich wäre die Chance vertan, das ganz Andere der früheren Kulturen und Epochen zu erfassen. Wird der Staatsbegriff auf diese übertragen, so ist man genötigt, ihn durch den kleinsten gemeinsamen Nenner zu definieren, ihre Gemeinsamkeiten mit den späteren Zeiten und Kulturen ins Zentrum zu rücken und die Unterschiede zwischen ihnen zu unterschlagen bzw. an die Peripherie zu schieben. Man würde die frühen wie die späten Formen ins Korsett eines Identischen zwängen und ihre Besonderheiten unterdrücken, was kaum zu ihrem besseren Verständnis beiträgt. Die antike Polis etwa erschiene als Embryonalform des modernen Verfassungsstaates, die zwar die individuelle Freiheit noch nicht kannte, dafür aber rechtlich geregelte Formen der Politikgestaltung vorsah.48 Oder aber sie erschiene als „antiker Sklavenhalterstaat“, der – wie die früheren und späteren Imperien und Staaten – als Instrument der gerade herrschenden Klasse zur Unterdrückung der beherrschten diente.49 Ihre historische Neu- und Einzigartigkeit – die Institutionalisierung und Organisation eines herrschafts- und staatsfreien Kommunikations-, Interaktions- und Handlungszusammenhangs einer autonomen Bürgerschaft50 – würde verkannt. Schließlich würde der universalistisch gefaßte Staatsbegriff nicht nur die Rede vom Anfang des Staates,51 sondern auch zeit folglich nur Embryonalformen, Vorläufer und Wurzeln der modernen okzidentalen Formen zu finden vermag. 47 Vgl. S. Skalweit, Der „moderne Staat“; ders., Der Beginn der Neuzeit. 48 So bezüglich der Politischen Philosophie des Aristoteles A. Schwan, Wahrheit, Pluralität, Freiheit, S. 15, 51 ff.; D. Sternberger, Die Stadt als Urbild, S. 60 ff., 143 ff.; ders., Drei Wurzeln der Politik, S. 118 ff., 141 ff.; G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles. Siehe auch F. Tomberg, Polis und Nationalstaat. 49 So noch immer in Brandenburgischen Lehrbüchern der Politischen Bildung für die Sekundarstufe II. 50 Vgl. H. Arendt, Vita activa, bes. §§ 4–10; R. Bubner, Polis und Staat; C. Meierer, Athen; ders., Die Entstehung des Politischen. 51 Vgl. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 30 ff.: „Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen“ (S. 30). „Welches auch der Ursprung eines Staates (,der politischen Zusammenfassung eines Volkstums‘) sei, er wird seine Lebensfähigkeit nur beweisen, wenn er sich aus Gewalt in Kraft verwandelt“ (S. 35).

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die vom Ende des Staates sinnlos werden lassen, da auch künftig irgendeine abgehobene politische Macht zu gewärtigen ist. Als längerfristige Perspektive würde sich allenfalls ein „Weltstaat“ am politischen Horizont abzeichnen.52 Mag die archäologische und ethnologische Forschung von dieser weichen und schwammigen Begrifflichkeit profitieren, da sie ihr ermöglicht, ihr Material zu strukturieren und zugleich die Eigenarten der „primitiven Gesellschaften“ durch den Kontrast zu allen anderen zu verdeutlichen, mag die historische Anthropologie auf solche Universalien angewiesen sein – der Politischen Theorie jedenfalls steht es nicht an, ihre Grundbegriffe so zu wählen, daß mit ihnen nur historische Konstanten, aber keine konkreten Eigenschaften spezifischer Ordnungen erfaßt werden können. Vielmehr hat sie darauf zu achten, daß sie das Nicht-Identische über dem Identischen an ihnen nicht übersieht. Dadurch sind der Beliebigkeit der Begriffsverwendung Schranken gesetzt. Diese wird im Bereich der Geschichtsund Politikwissenschaft zusätzlich eingeschränkt durch die Tatsache, daß deren Begriffe zugleich Medium und Objekt der historischen Erfahrung und Forschung sind. Sie stellen zumeist keine Neuschöpfung der heutigen Theoriebildung dar – wie die Kunstbegriffe der Kybernetik oder der Systemtheorie –, sondern sind aus der Tradition auf uns gekommen, stehen daher in einem geschichtlichen „Wirkungszusammenhang“ (Hans-Georg Gadamer). Sie sind entstanden in ganz konkreten Situationen und dienten dort der gedanklichen Bewältigung neuartiger Erscheinungen. In ihnen verdichten sich folglich ganz bestimmte Erfahrungen und Hoffnungen, die immer mitgedacht sein wollen, wenn man die Begriffe verwendet. Werden sie abgelöst von ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang, so verwandeln sie sich in leere Hülsen. Im Begriff des Staates verdichten sich die Erfahrungen, die die europäische Menschheit seit dem hohen Mittelalter gemacht hat. Es handelt sich dabei vor allem um die Trennung von Religion und Politik und um die Etablierung jener politischen Systeme, die den Prozeß der Kapitalisierung und der Entstehung der kulturellen Moderne begleitet und die Geschicke der Menschheit über lange Jahrhunderte bestimmt haben und die noch immer fortbestehen, obgleich sich mittlerweile große Zweifel an ihrer Problemlösungskraft eingestellt und verbreitet haben. Im Begriff des Staates versuchte die Neuzeit eine Lösung jener politischen Probleme zu denken, denen sie sich im Kampf gegen die religiös-politische Einheitswelt des Mittelalters und gegen das von der römischen Papstkirche verkörperte „Reich der Finsternis“ (Hobbes) konfrontiert sah. In ihm versuchten die Politiktheoretiker ihre Erwartungen zu fokussieren und jene politischen Erfahrungen zu codieren, die sie – als engagierte Teilnehmer und als neutrale Beobachter – im Prozeß der Emanzipation von diesen Mächten der Tradition und in 52 Vgl. etwa M. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 266 ff. Zur Kritik der Weltstaatsideen bei Ernst Jünger, Norbert Elias, Jürgen Habermas und Rolf Knieper vgl. aber W.-D. Narr/A. Schubert, Weltökonomie, S. 233 ff.

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der Überwindung des Feudalismus machten. Es handelt sich hierbei um nichts Geringeres als die Probleme und Erfahrungen, aus deren Lösung und Verarbeitung die europäische Neuzeit ihr Selbstverständnis bezog. In der jüngeren sozial-, verfassungs- und ideengeschichtlichen Forschung wird daher zu Recht ein konkreter Staatsbegriff präferiert. Schon Hegel, der gleichwohl einen allgemeinen Staatsbegriff entwickelte, wußte: „Ein Volk ist zunächst noch kein Staat“. Der „Übergang einer Familie, Horde, Stammes, Menge usf. in den Zustand des Staats“ besteht in der Erlangung von Souveränität und in der Anerkennung durch die Mitglieder des Staates sowie durch andere Staaten.53 Marx folgerte: „Die Abstraktion des Staats als solchen gehört erst der modernen Zeit, weil die Abstraktion des Privatlebens erst der modernen Zeit gehört. Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt“.54 Max Weber schließlich, der in der Entwicklung des Staates, des modernen Rechts, der Stadt, Kultur etc. bekanntlich einen Sonderweg des Okzidents und ein Produkt seines Rationalismus erblickte, empfahl, den Staatsbegriff, „da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend . . . zu definieren“.55 Dieser Rat wurde in der Folgezeit dann auch beherzigt. Carl Schmitt mußte deshalb konstatieren: „Die ,Staatlichkeit‘ ist . . . kein allgemeiner, für alle Zeiten und Völker gültiger Begriff, sondern eine zeitgebundene, konkret-geschichtliche Erscheinung. Die völlig unvergleichbare, einmalige geschichtliche Besonderheit dessen, was man in einem spezifischen Sinne ,Staat‘ nennen kann, liegt darin, daß dieser Staat das Vehikel der Säkularisierung ist. Die völkerrechtliche Begriffsbildung dieser Epoche kennt deshalb nur eine einzige Achse: den souveränen Flächenstaat. Die neue Größe ,Staat‘ beseitigt das sakrale Reich und das Kaisertum des Mittelalters; sie beseitigt auch die völkerrechtliche potestas spiritualis des Papstes“.56 Niklas Luhmann faßt daher nur die Ergebnisse der soziologischen und verfassungsrechtlichen Klassiker sowie der jüngeren Forschung seit Weber zusammen, wenn er bemerkt: „Von ,Staat‘ in einem Sinne, der nicht mehr nur ,status‘ = Zustand bedeutet, spricht man seit etwa 500 Jahren“.57 Und weiter: „Soviel ist klar: der Staat ist eine europäische Erfindung, mit deren weltweiter Anwendbarkeit die Gesellschaft gegenwärtig experimentiert“.58 53

G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie [HW 7], § 349. K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: MEW 1, 203–333; hier: S. 233. 55 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 30. 56 C. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 97. 57 N. Luhmann, Metamorphosen des Staates, S. 102. Vgl. ders., Staat und Politik; ders., Staat und Staatsräson. 58 N. Luhmann, Die Herrschaft der Natur. Daß diese Einsicht noch keinen Eingang ins Allgemeinbewußtsein und in die Lehrbücher der Schulen gefunden hat, beweist die Reaktion eines Lesers, der sich bemüßigt sah, Luhmann alsbald zu belehren: „Der Staat soll eine ,europäische Erfindung‘ sein? Was sagt Luhmann da? Jeder Schüler in der 8. Klasse weiß es besser: Die Menschheit ,experimentiert‘ schon seit über 5000 Jahren mit dem Staat“ (K. Bloemker, Leserbrief in der FAZ v. Sa., 17.12.1994). 54

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Damit ist ebenfalls klar, daß mit diesem Staatsbegriff die früheren und die außereuropäischen politischen Verhältnisse und Systeme nicht zureichend erfaßt werden können. Schon früh erkannte Otto von Gierke den nicht- bzw. antistaatlichen Charakter des mittelalterlichen Reiches und löste damit eine erste Kontroverse über den „deutschen Staat des Mittelalters“ aus.59 Während Rudolph Sohm, Georg von Below u. a. auf der „Staatlichkeit“ der Welt des Feudalismus insistierten, gelangte Otto Brunner alsbald zu der Einsicht, daß die aus dem 19. Jahrhundert überkommenen staatsrechtlichen Begriffe insgesamt ungeeignet sind, die (politischen) Verhältnisse im Mittelalter zu begreifen. Sie projizieren spätere Erfahrungen in frühere Zeiten zurück und zwängen das historische Erfahrungsmaterial in Schablonen, die das Spezifische und Einmalige an ihm unsichtbar und unfaßbar werden lassen. Um die vom Staatsbegriff nicht erfaßten Phänomene begreifen zu können, schlug Brunner daher vor, stattdessen mit den Begriffen Land und Herrschaft zu operieren, die einen höheren Allgemeinheitsgrad beanspruchen können.60 Mit diesem Vorstoß stimulierte er eine weitere Kontroverse, die zu einer weiteren Klärung und Spezifikation des Staatsbegriffs führte.61 Obgleich Brunners Darstellung der mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse, der Fehden und Treueverhältnisse, mittlerweile ihrerseits als Projektion spezifischer Vorstellungen seiner Zeit entlarvt und sein „konkretes Ordnungsdenken“ als „antiliberale“ und „völkische“ Ideologie kritisiert worden ist,62 können seine Einsichten in die Begrenztheit des staatsrechtlichen Vokabulars weiterhin als zutreffend gelten. Die Rückprojektion des Staatsbegriffs und des dazugehörigen semantischen Arsenals hat sich – wie Brunner im Anschluß an Carl Schmitt zu Recht konstatierte – als Erkenntnisbarriere erwiesen, da sie die Besonderheiten und das ganz Andere früherer Zeiten hinter einem Identischen verschwinden läßt.63

59 Vgl. O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht; G. v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. 60 Vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft (zum früheren Streit um den „deutschen Staat des Mittelalters“: S. 146 ff.); ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 61 Vgl. die Dokumentation der Debatte über den „Staat des Mittelalters“ in: H. Kämpf (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter. Darin (S. 1–19) auch eine Zusammenfassung der zentralen Thesen O. Brunners, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte (1939/Neufassung 1955). Siehe auch H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 26 ff. (mit Hinweisen auf die einschlägige Literatur). Zur Fixierung der deutschen Geschichtsschreibung auf den Staat und ihre Probleme vgl. auch H. Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont, 13–53: „Die Deutschen und ihr Reich. Hochmittelalterliche Prägungen und Fixierungen der deutschen Geschichte“. 62 Vgl. G. Algazi, Otto Brunner; ders., Herrengewalt und Gewalt der Herren. 63 Vgl. dazu aus der jüngeren Literatur auch G. Althoff, Spielregeln der Politik; P. Grossi, L’Ordine giuridico medievale. Für einen „kontrollierten Anachronismus“ und für die weitere Universalisierung der staatsrechtlichen Semantik des 19. Jahrhunderts

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Der Staat, so kann vorläufig festgehalten werden, ist eine ganz konkrete Ordnungsform, die zu unterscheiden ist von den altorientalischen Großreichen, von der antiken Polis wie von den spätantiken und mittelalterlichen Reichen. Er ist eine Kreation des Abendlandes und des okzidentalen Rationalismus, seine Wurzeln liegen nicht in Mesopotamien oder in Altägypten. Er ist nicht nur eine europäische, sondern auch eine moderne Erscheinung, für deren Einzelelemente sich zwar spezifische Vorformen und funktionale Äquivalente in der Frühzeit ausmachen lassen, die aber insgesamt ein weltgeschichtliches Novum darstellt. Strittig bleibt dann allerdings, wann die „moderne Zeit“ beginnt, d. h. wann seine geschichtlichen Anfänge zu datieren sind. Um diese Frage kreiste die zweite große Kontroverse zwischen Sozial-, Verfassungs- und Ideenhistorikern: – Ist der Staat eine spezifisch neuzeitliche Erscheinung oder fällt seine Entstehungsphase ins späte, gar ins hohe oder frühe Mittelalter?64 Liegen die Anfänge des Staatsdenkens im Karolingerreich und in den frühen karolingischen Fürstenspiegeln?65 Liegt die Wiege der modernen Staatsidee in den großen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, Imperium und Sacerdotium des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts?66 Oder ist ihr Ursprung in den politischen Kämpfen des 13. und 14. Jahrhunderts zu suchen?67 Ist die spätmittelalterliche Stadt die Keimzelle und die erste Durchführung des modernen Staatsgedankens?68 Wird er in den italienischen Republiken der Renaissance und in den Konzepten der Staatsraison (Machiavelli, Guicciardini, Botero u. a.) geboren?69 Oder ist er gar erst eine Folge der Reformation und die theoplädiert hingegen P. v. Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Zur Kritik an Althoff und Grossi vgl. ebd., S. 75 ff. 64 Die Antwort auf diese Frage scheint vom Metier der einzelnen Wissenschaftler abzuhängen. Jeder sieht den Ursprung in dem Jahrhundert, auf das sich seine Forschungsinteressen konzentrieren. 65 Vgl. H.-W. Goetz, Regnum; H. M. Klinkenberg, Über karolingische Fürstenspiegel. 66 Vgl. W. Berges, Fürstenspiegel; H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 190 ff.; E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates; R. Faber, Der kaiserlich-päpstliche Dualismus; E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 64 ff.; J. Miethke/A. Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 16 ff.; G. Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 19 f., 120 ff.; J. R. Strayer, On the Medieval Origins of the Modern State; T. Struve, Regnum und Sacerdotium. 67 Vgl. A. Dempf, Sacrum Imperium, S. 285 ff.; R. Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII.; F. A. Frh. v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates; F. Bleienstein, Einführung zu Johannes Quidort von Paris, Über königliche und päpstliche Gewalt, 9–41; C. Tilly, Reflections on the History of European State-Making. In ders. (Hg.), The Formation of National States, 3–83, bes. S. 25 ff.; D. Grimm, Der Staat in der kontinentaleuropäischen Tradition. In ders., Recht und Staat, 53–83; M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates. 68 Vgl. O. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 300–332, Bd. 2, S. 828; Res publica; G. Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee. 69 Vgl. J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien; Fr. Meinecke, Die Idee der Staatsräson; H. Münkler, Im Namen des Staates; ders., Machiavelli; ders., Staatsraison und politische Klugheitslehre; J. H. Shennan, The Origins of the Modern European

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retische Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts?70 Eine Antwort auf diese Fragen kann nur gegeben werden, wenn geklärt ist, worin die Besonderheit des Staates und der Staatsidee gelegen ist, welche Momente konstitutiv sind für das Verständnis der neuen Form des Politischen. Diese Klärung ist Ziel der vorliegenden Studie insgesamt, kann daher nicht in extenso vorweggenommen werden. Allenfalls einige Resultate der jüngeren Debatten und einige Thesen können vorab notiert werden. Unstrittig ist, daß es im Mittelalter „zwar nicht den ,Staat‘ im modernen Sinn, wohl aber eine politische Organisation der Gesellschaft gegeben hat, die für Rechtsdurchsetzung und politische Willensbildung zuständig war, die das soziale Leben der Menschen regulierte, die den Rechtsfrieden durch Übereinkunft oder Zwang hergestellt hat“.71 Strittig bleibt, worin die Spezifik des „Staats im modernen Sinn“ gelegen ist. Nicht die Trennung des „privaten“ vom „öffentlichen Leben“ definiert den Staat. Diese erfolgte nicht erst im späten Mittelalter oder in der Frühen Neuzeit, sie wurde bereits von den alten Griechen in der archaischen und klassischen Zeit praktiziert. Im frühen Mittelalter aufgehoben, setzte sie im späten wieder ein.72 Nicht erst durch die allgemeine „Säkularisierung“ und „Entpolitisierung“ der Gesellschaft, die mit der Renaissance und der Reformation beginnt, sondern schon im späten Mittelalter entdeckte sich der Mensch als Individuum, das der Herkunft und den sozialen Banden und Institutionen überlegen ist.73 Ja, diese Selbsterkenntis wurde schon im vierten vorchristlichen Jahrhundert vorbereitet und infolge des Zerfalls der Polis vom Kynismus, von der Stoa und von Epikur theoretisch begründet. Auch nicht die Entstehung von Freiheits- und Rückzugsrechten für die einzelnen macht die Besonderheit der Neuzeit aus. Diese wurden bereits in den hellenistischen Reichen eingeräumt und im Römischen Reich durch das Auftreten des UrState; Q. Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Vol. 2; M. Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. 70 So im Anschluß an Carl Schmitt etwa R. Koselleck, Kritik und Krise, S. 12 ff.; ders., Vergangene Zukunft, S. 25 ff.; R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg; ders., Individualismus und Absolutismus; E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 11 ff. 71 J. Miethke/A. Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 16. 72 Vgl. G. Melville/P. v. Moos (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Es handelt sich allerdings, wie die einzelnen Beiträge dieses Bandes zeigen, nicht um die Etablierung einer von der „Privatsphäre“ der Individuen und Familien geschiedenen Sphäre der „Öffentlichkeit“ im Sinne der Moderne, weniger um „Wurzeln“ und „Vorläufer“ der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ mit der ihr eigenen öffentlich-diskursiven Willensbildung eines räsonierenden Publikums des Bildungsbürgertums, die erst im 17. (England) und 18. Jahrhundert (Frankreich) entstand (vgl. dazu J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit), sondern vielmehr um die Opposition von „offenbar“ und „geheim“, „publik“ und „intim“, um das Wechselspiel von Bekanntmachung und Verheimlichung, d. h. um die Dialektik von Ent- und Verbergung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. 73 Siehe unten, V. 2. (bes. Anm. 246).

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christentums erweitert und stabilisiert.74 Auch im christlichen Reich des Mittelalters läßt sich das Wechselspiel von Engagement und Distanzierung, Öffentlichkeit und Intimität beobachten. Hatte sich im Frühmittelalter das kommunitäre Ideal des Neuen Testaments gegen Vereinzelungsbestrebungen durchgesetzt, so machte sich im Spätmittelalter das Bedürfnis nach privaten Rückzugsräumen wieder geltend.75 Die vom jungen Marx konstatierte „Abstraktion des Privatlebens“ und damit des Staates vollzog sich nicht in einem einmaligen und revolutionären Akt, sondern in einer ganz allmählichen Evolution über lange Jahrhunderte. Der Streit um die exakte historische Verortung des Staatsbegriffs in der europäischen Geschichte ist Teil des neu entflammten allgemeinen Historikerstreits um die Datierung der Epochengrenzen von Antike, Mittelalter und Neuzeit,76 wobei die Festlegung der Epochengrenzen ihrerseits abhängig bleibt vom Staatsbegriff. Der Versuch, den Gegensatz zwischen Verfassungs- und Ideenhistorikern, modernen Staatsrechtslehrern und Mediävisten hinsichtlich des Beginns der Staatlichkeit mit Hilfe der Unterscheidung des „institutionellen Flächenstaates“ vom „feudalen Personenverbandsstaat“ zu überbrücken,77 ist gescheitert, da er die Kontroverse nur verschob auf die Frage nach den Anfängen des „institutionellen Flächenstaates“ und nach den Bedingungen und Formen seiner Entstehung. Beginnt die Staatswerdung der europäischen Gesellschaft Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhundert, so kann man auch für die Politikgeschichte an den 74 Hegel datiert daher den Beginn der „Moderne“ ans Ende der Antike: „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden.“ (Rph, § 124 Anm.). 75 Dies zeigt sich auch innerhalb der Klöster in der Geschichte der Einzelzelle, die eine Pendelbewegung sichtbar werden läßt: War bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts die Zelle durch die Gemeinschaftsräume (Dormitorium, Refektorium und Oratorium) verdrängt worden, so drängten die Mönche vom 11. bis zum 15./16. Jahrhundert auch gegen Widerstände von Generalkapiteln auf die abgeschlossene Einzelzelle, um sich einen Rückzugsraum innerhalb der Klöster zu sichern. Vgl. T. Lentes, Vita Perfecta zwischen Vita Communis und Vita Privata. 76 Die Infragestellung dieser Trias ist Ergebnis der jüngeren sozialgeschichtlichen, alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Forschungen. Vgl. dazu die Einführung von H. Münkler zum Thema „Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“ in: G. Göhler u. a. (Hg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, 79–88. Zur früheren Infragestellung vgl. E. Walder, Zur Geschichte und Problematik des Epochenbegriffs ,Neuzeit‘. Ferner S. Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. 77 Diese Formel hat Theodor Mayer geprägt. Demnach durchläuft der Staat einen Wandel „vom aristokratischen, dezentralistischen zum zentralistischen feudalen Personenverbandsstaat und zum institutionellen Flächenstaat“. Vgl. ders., Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates, S. 293 f. Auch H. Münkler läßt sich in seiner Untersuchung zur Staatsraison von dieser Formel leiten. Vgl. ders., Im Namen des Staates, bes. S. 18.

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alten Markierungen festhalten, die ohnehin nur als heuristische Prinzipien und keinesfalls als eindeutige Zäsuren zu verstehen sind. Beginnt sie hingegen im hohen oder späten Mittelalter, so bietet es sich an, die Zeit vom 11./12. bis zum 17./18. Jahrhundert bzw. bis zur Französischen Revolution als eigene Epoche („Alteuropa“) zu fassen, die Kontinuitäten im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit gegenüber den Diskontinuitäten zu betonen und die alte Einteilung der Renaissance-Philosophie und der Aufklärung zu revidieren. Dieser Paradigmenwechsel wird von der jüngeren Forschung zusehends vollzogen. Zwar wurde bislang noch kein Konsens erzielt, doch konnte Michael Stolleis nach der Durchsicht der neueren Forschungsergebnisse bereits eine erste Bilanz ziehen:78 „Vor allem für das Phänomen ,moderner Staat‘ mit seinen Merkmalen ,scharfer monistischer Souveränitätsbegriff – rationale, am staatlichen Machtzweck orientierte Verwaltung – besoldetes Berufsbeamtentum – faktisch unbegrenzte Gesetzgebungsund Besteuerungsgewalt‘ taugt die Grenze um 1500 nicht, und es empfiehlt sich tatsächlich, die Epoche vom 11./12. Jahrhundert bis zur Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert zusammenzufassen; denn alle für den ,modernen Staat‘ herkömmlich als konstitutiv angesehenen Merkmale reichen in ,mittelalterliche‘ Zonen hinein: die Souveränität, die moderne Gesetzgebungsideologie und ihr voluntaristischer Rechtsbegriff, das Berufsbeamtentum mit seinen Wurzeln in der kirchlichen Verwaltung und im Lehenwesen, die von einer stationären Kanzlei ausgeübte Territorialherrschaft und die Anfänge periodischer Abgabenerhebung“.

Ziel der vorliegenden Untersuchung kann nicht die Festschreibung eines konkreten Datums für die Staatsentstehung sein, sondern nur die Prüfung der Argumente für und wider die jeweilige Datierung. Da ihr Gegenstand nicht primär die realgeschichtliche Entwicklung von staatlichen Institutionen und Aktivitäten, sondern die Genese der Staatstheorie bzw. der Staatsvorstellung ist, verbietet sich eine vorschnelle Einengung des Staatsbegriffs. Vielmehr sind die Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung des Politikdenkens seit dem hohen Mittelalter herauszuarbeiten. Der Verfasser neigt dazu, jenen Autoren zu folgen, die den entscheidenden Einschnitt in der Entwicklung des abendländischen Ordnungsdenkens und die Anfänge der Staatsidee weder in der Renaissance noch in den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts oder gar im 19. Jahrhundert79 erblicken, sondern in der großen „Papstrevolution“ des späten 11. Jahrhunderts, die gewöhnlich als Investiturstreit ein wenig verharmlost wird.80 Er läßt sich leiten von der These, „daß im Westen die moderne Zeit – und zwar nicht nur die modernen Rechtsinstitutionen und -werte, sondern auch der mo-

78 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1, S. 47 f. (mit Verweisen auf die einschlägige Literatur). Den Merkmalskatalog übernahm Stolleis von J. Kunisch, S. Skalweit u. a. 79 Vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre. 80 Zum Begriff „Papstrevolution“ vgl. E. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen.

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derne Staat, die moderne Kirche, die moderne Philosophie, die moderne Universität, die moderne Literatur und vieles andere Moderne – ihren Ursprung in der Zeit zwischen 1050 und 1150 haben und nicht früher“.81 Der Ursprung des Staates und der Beginn der Staatstheorie ist demnach nicht im Karolingerreich zu erblicken, sondern in der innerkirchlichen Reformbewegung des späten 11. Jahrhunderts, die zu einer Umgruppierung auch im Bereich der „weltlichen Herrschaft“ führte. „Ursprung“ meint allerdings nicht, daß im Beginn bereits alle wesentlichen Elemente versammelt und vollständig entfaltet waren, sondern meint den Anfang einer kontinuierlichen Entwicklung, die immer wieder durch revolutionäre Schübe unterbrochen und vorangetrieben wurde. Der Ausdruck Staat wird dementsprechend nicht als zeit- und ortloser Universalbegriff, sondern zur Kennzeichnung derjenigen Ordnungsidee verwendet, die sich in Europa im Gefolge der „Papstrevolution“ vom 11. bis zum 18., in einigen Regionen sogar erst Anfang des 19. Jahrhunderts herausgebildet und seitdem weltweit verbreitet hat. Als Kennzeichen, als differentia specifica des Staates und als thematisches Zentrum der Staatstheorie wird die Ausgrenzung aus dem übergeordneten Bezugssystem des orbis christianus, die Konzentration und Zentralisation der Herrschafts- und politischen Entscheidungsgewalt in den Händen von absoluten Monarchen und/oder von Parlamenten und der von ihnen kontrollierten Regierungen und die dadurch ermöglichte Freisetzung der unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Den Kern der Staatsidee bildet der Gedanke der Souveränität, d. h. der zeitlich unbegrenzten, ungeteilten absoluten Herrschaft.82 Dieser erwuchs im späten Mittelalter,83 wurde von Bodin und Hobbes klassisch formuliert und avancierte seitdem zur Leitidee der Politischen Theorie, zum Idealtypus, der in Wirklichkeit zwar nie und nirgends realisiert, sondern allenfalls annäherungsweise erreicht wurde, der aber die weitere Entwicklung der Staaten und der Staatstheorie stimulierte und erst im zwanzigsten Jahrhundert seine Relevanz verlor und heute schließlich von vielen als Anachronismus betrachtet wird.84

81 H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 19. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates; W. Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen, S. 15 ff.; G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, S. 89 ff.; P. Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert. 82 Vgl. J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Bd. 1, S. 205 ff. 83 Zur Entwicklung und zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens vgl. J. Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität; W. Kölmel, Regimen Christianum; G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, S. 280 ff., 301 ff., 445 ff., 463 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 44 ff.; ders., Souveränität; H. G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität; ders., Die Gegner Ockhams; D. Wyduckel, Princeps legibus solutus. 84 Vgl. etwa M. Brumlik, Souveränität; E.-O. Czempiel (Hg.), Die anachronistische Souveränität.

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Diese Spezifikation trägt der älteren verfassungsgeschichtlichen Forschung von Hermann Heller, Otto Brunner u. a.85 sowie der jüngeren historischen, juristischen und theoriegeschichtlichen Diskussion Rechnung, die den Staatsbegriff reserviert für jene politischen Ordnungsgebilde, die sich im Gefolge der Auflösung des christlichen Reichs herausgebildet haben.86 Dadurch erübrigt sich die Beifügung so problematischer Epitheta wie „moderner“, „politischer“, „bürgerlicher“ oder „kapitalistischer“ Staat usw. Die Staatsbildung wird von der Nationenbildung unterschieden, der Nationalstaat wird als ein spätes Entwicklungsprodukt und als spezifische Formung des Staates verstanden.87 Der Ausdruck moderner Staat wird, soweit er überhaupt in Frage kommt, nicht für den im Spätmittelalter entstehenden neuzeitlichen Staat im ganzen, sondern exakt für jene Staaten reserviert, die in den Prozeß der Modernisierung im Gefolge der großen europäischen Revolutionen hineingerissen und dabei tatsächlich modernisiert, d. h. schubweise „demokratisiert“ und konstitutionell begrenzt und verfestigt wurden. Im Anschluß an die Forschungen Reinhart Kosellecks und seiner Mitarbeiter zu den semantischen und gnoseologischen Veränderungen seit der „Sattelzeit“ empfiehlt es sich, den Begriff der „Moderne“ zu reservieren für jene Phase, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann und eine neue Zeiterfahrung und ein neues Selbstverständnis der europäischen Gesellschaft hervorbrachte.88 Der Staat entstand als ein System von Staaten. Er kann nur im Plural erscheinen, weshalb die Rede von einem künftigen „Weltstaat“ sinnlos ist. Es handelt sich um den Verbund bzw. um das System von institutionell stabilisierten Herrschafts- und Interaktionszusammenhängen, die ihre Beziehungen untereinander in Krieg und Frieden rechtlich regeln, ohne einen Höheren über sich zu akzeptieren. Die Besonderheit des Staates ist in der Emanzipation der „weltlichen Herrschaft“ aus der geistlich-religiösen Umklammerung in der res publica christiana, in der Verdichtung der Herrschaftsbeziehungen, der Konzentration und Zentrali85 Vgl. H. Heller, Staatslehre, S. 141 ff. („Geschichtliche Voraussetzungen des heutigen Staates“); O. Brunner, Land und Herrschaft; H. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters; E. Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff; H.-H. Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates. 86 Vgl. etwa H. Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, S. 46 ff., 149 ff.; E. Hinrichs (Hg.), Absolutismus (weitere Literatur: S. 377–388); J. R. Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen; C. Tilly (Hg.), The Formation of the National States; H. Timmermann, Die Bildung des frühmodernen Staates; D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt.; D. Wyduckel, Princeps legibus solutus; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, bes. S. 20–43. 87 Vgl. H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte; B. Anderson, Die Erfindung der Nation, bes. S. 48 ff.; J. Habermas, Der europäische Nationalstaat; ders., Die postnationale Konstellation, S. 91 ff.; A. Hahn, Identität und Nation in Europa; J. J. Linz, Staatsbildung, Nationbildung und Demokratie; N. Luhmann, Die Gesellschaft. Bd. 2, S. 1045 ff.; H. Münkler, Reich, Nation, Europa, S. 61 ff.; ders./H. Grünberger/K. Mayer, Nationenbildung; Th. Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. 88 Vgl. R. Koselleck, Richtlinien; ders., Vergangene Zukunft, S. 17 ff., 310 ff.; ders., Art. Staat III.; J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 9 ff.

1. Begriff des Staates – Bilanz der Kontroversen

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sation der politischen Entscheidungsgewalt und in der Abstraktion der Herrschaftsbefugnisse von ihren Trägern89 zu erblicken. Dieser Prozeß beginnt im späten 11. Jahrhundert, erfährt eine gewaltige Beschleunigung im 13. Jahrhundert und kommt mit Renaissance und Reformation noch lange nicht zu seinem Ende. Die Bildung des Staates ist ein Prozeß, der vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert reicht, in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit und in den großen bürgerlichen Revolutionen seine beiden Kulminationspunkte, jedoch erst in deren Folge seine Vollendung und seinen Abschluß findet.90 Staatstheorie meint dementsprechend nicht das Ganze der Politischen Philosophie seit der Antike,91 sondern umfaßt gerade jene Erklärungskonzepte und Ordnungsentwürfe, die sich in dieser Zeit entwickelt haben, gleichgültig, ob das Wort Staat in ihnen selbst Verwendung findet oder nicht.92 Der Verfasser kann damit zwar nicht für seine ganze Generation, aber wenigstens für sich selbst bestätigen, was Ernst-Wolfgang Böckenförde in den 60er Jahren in Würdigung der Forschungsergebnisse der vorhergehenden – ein wenig voreilig – für seine Generation festgestellt hat:93 „Es gehört für unsere Generation zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewußtseins, daß der Begriff Staat kein Allgemeinbegriff ist, sondern zur Bezeichnung und Beschreibung einer politischen Ordnungsform dient, die in Europa vom 13. bis zum Ende des 18., teils Anfang des 19. Jahrhunderts aus spezifischen Voraussetzungen und Antrieben der europäischen Geschichte entstanden ist und sich seither, gewissermaßen abgelöst von ihren konkreten Entstehungsbedingungen, über die gesamte zivilisierte Welt verbreitet. Vom ,Staat der Hellenen‘, dem ,Staat des Mittelalters‘, dem ,Staat der Inkas‘ oder vom ,Staat‘ bei Plato, Aristoteles und Thomas von Aquin zu sprechen, wie es die Gelehrtengenerationen des 19. Jahrhunderts mit Selbstverständlichkeit und Selbstbewußtsein taten, ist heute nicht mehr möglich. Wir wissen, vor allem seit dem epochemachenden Buch ,Land und Herrschaft‘ von Otto Brunner, wie sich der Staat langsam aus den ganz unstaatlich strukturierten Herrschaftsbeziehungen und -ordnungen des Mittelalters herausgebildet hat; wie über die Stufen der Landesherrschaft, einem im Landesherrn zusammenlaufenden, territorial noch unabgeschlossenen Gefüge verschiedener Herrschaftssphären, dann der Landeshoheit als der wesentlich territorial bestimmten, die verschiedenen Herrschaftstitel zusammenfassenden und überhöhenden hoheitlichen Herrschaftsgewalt des Fürsten

89 Vgl. dazu bes. H. Beumann, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen; E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. 90 Zum Formwandel des Staates in der Neuzeit vgl. auch O. Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats; Th. Schieder, Wandlungen des Staats in der Neuzeit. 91 Vgl. etwa J. Barion, Grundlinien philosophischer Staatstheorie; F. Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte; A. Demandt, Der Idealstaat; L. Gumplowicz, Geschichte der Staatstheorien; D. Sternberger, Die Stadt als Urbild, S. 60 ff., 143 ff.; R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen. 92 Zum Verhältnis von Wort und Begriff siehe unten den Abschnitt I. 3 über „Methode und Gang der Untersuchung“. 93 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 42. Vgl. auch ders., Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Mittlerweile hat Böckenförde diese Einsicht wieder relativiert. Siehe dazu oben, S. 22, Anm. 37.

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I. Einleitung im Lande (jus territorii), schließlich – im aufgeklärten Absolutismus, in der Französischen Revolution und danach – die einheitliche, nach außen souveräne, nach innen höchste und . . . allumfassende Staatsgewalt entstand und ihr gegenüber die herrschaftlich-politisch eingeebnete bürgerliche Gesellschaft der (rechtsgleichen) Untertanen bzw. Staatsbürger.“

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung Mit diesen Festlegungen sollen aber andere Fragen noch nicht vorentschieden werden, die in der jüngeren Staatsdiskussion aufgeworfen wurden. Zu erwägen ist, ob der Staat die adäquate und einzig denkbare politische Organisation der neuzeitlichen Gesellschaft war oder ob es Alternativen gegeben hätte. Zu diskutieren bleibt, worin seine Leistungen und Grenzen lagen. War er Medium der menschlichen Selbsterhaltung und Selbststeigerung? War er der große Friedensstifter der Neuzeit oder wurde er selbst zum Hauptkriegstreiber und zum Ausdruck kollektiver Unvernunft?94 Liegt seine unverzichtbare Leistung in der Zivilisation, der Kultivierung und Zügelung der menschlichen Triebe und Leidenschaften durch Aufrichtung innerer Barrieren?95 Oder ist die Zeit der Staatlichkeit gerade durch Enthemmung und Entzivilisierung, durch ungezügelte Ausschweifung und nur gewaltsam verhinderten Sittenverfall charakterisiert?96 Diese und weitere Fragen werden im Gang der Untersuchung zu erörtern sein. Zu untersuchen ist, ob der Staat tatsächlich aus der gewaltsamen Konzentration und Zentralisation der herrschaftlichen Zwangs- und politischen Entscheidungsgewalt und der gleichfalls gewaltsamen Grenzziehung „gegen außen“ oder ob er nicht vielmehr „in seiner rechtlichen Verfaßtheit aus der treuhänderischen Vertragskultur des libertären Ständewesens vor den gleichschaltenden Diktaturen des Absolutismus“97 entstanden ist. Zu prüfen ist, ob die Fürsten oder ob die Stände den Ausschlag gaben. Nicht auszuschließen ist, daß beide gleichermaßen maßge94 Vgl. E. Krippendorff, Staat und Krieg – und die Kritik von H. Münkler, Staat, Krieg und Frieden. In: R. Steinweg (Hg.), Kriegsursachen, 135–144 sowie die Replik Krippendorffs, ebd., 145–150. Ferner W. Knöbl/G. Schmidt (Hg.), Die Gegenwart des Krieges; H. Münkler, Die neuen Kriege; U. K. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie. 95 Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 123 ff.; ders., Die höfische Gesellschaft; H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens; G. Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit, S. 187 ff. 96 Schon Hegel erblickte eine Hauptfunktion des Staates in der Zügelung „der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“ (Rph, § 185). Vgl. auch die Kritik an Elias von H. P. Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß; S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, S. 20 ff. 97 G. Barudio, Die Grenzen der Machthistorie. In: FAZ v. 18. Juli 1992, S. 27 (Rezension von J. Kunisch, Fürst – Gesellschaft – Krieg.). Vgl. ders., Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 13 ff.; ders., Im Glanz des Reichs; ders., Die verspottete Nation. In: Die Zeit v. 4. November 1994, S. 58.

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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bend waren, daß daher der Staat als eine Ellipse betrachtet werden kann, deren beide Brennpunkte, Fürst und Stände, als gleichberechtigt und gleichbedeutend anzusehen sind.98 Zu analysieren ist, wie der entstehende Staat seine Herrschaftsansprüche und -befugnisse legitimieren und zur Geltung bringen konnte.99 Zu beachten bleibt, daß die alten Einteilungen der Geschichtswissenschaft – „absolute Monarchie“, „aufgeklärter Absolutismus“, „Verfassungsstaat“ – mittlerweile ihre Evidenz eingebüßt haben. Sie haben sich als zeitweilig hilfreiche Konstrukte erwiesen, die heute ihren Dienst versagen.100 Nur empirisch und im je konkreten Fall läßt sich ferner entscheiden, ob der Staat eine eigenständige, dem gesellschaftlichen Interessenstreit enthobene und übergeordnete Realität bzw. ob und wann die moderne Staatsgewalt „nur ein Ausschuß“ war, „der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet(e)“.101 Auch feministische Kritiken sind in die Überlegung einzubeziehen, die im Staat nichts anderes als einen „Männerbund“ erblicken, der dem Ausschluß und der Unterdrückung der Frauen diente.102 Entscheidend wird jedoch die Frage sein, worin die Gemeinsamkeiten und Differenzen der frühen staatstheoretischen Konzeptionen gelegen sind, welche Theorie sich aufgrund welcher geschichtlichen Konstellation gegen ihre Konkurrenten behauptet und durchgesetzt hat, welche unterdrückt und über Bord geworfen wurde und welche sich institutionell materialisieren und im politischen System der abendländischen Gesellschaft ablagern und realisieren konnte. Der Begriff des Staates setzt bekanntlich den Begriff des Politischen voraus.103 Dies gilt sowohl in systematischer wie in historischer Hinsicht. Der Staat bildet 98 Vgl. W. Näf, Frühformen des „modernen Staats“ im Spätmittelalter; G. Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, bes. S. 199 ff.; ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, S. 143 ff. 99 Zur Legitimationsproblematik vgl. N. Achterberg/W. Krawietz (Hg.), Legitimation des modernen Staates; R. Ebbighausen (Hg.), Bürgerlicher Staat und politische Legitimation; J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus; P. G. Kielmansegg, Volkssouveränität; C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. 100 Vgl. E. Hinrichs, Zum Stand und zu den Aufgaben gegenwärtiger Absolutismusforschung. In ders. (Hg.), Absolutismus, 7–31; H. Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 37 ff., 159 ff. 101 K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4, 459–493; hier: S. 464. Im Anschluß an Marx und den russischen Rechtssoziologen Eugen Paschukanis (Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1929) wurde in der bundesdeutschen „Staatsableitungs-Debatte“ der 70er Jahre die These traktiert, auch der demokratische und soziale Rechtsstaat sei in Wirklichkeit nur ein mystifizierter Klassenstaat. Vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen Texte in englischer Übersetzung bei J. Holloway/S. Picciotto (eds.), State and Capital. Eine relativ vollständige Literaturübersicht bietet N. Kostede, Die neuere marxistische Diskussion über den bürgerlichen Staat, S. 192. 102 Vgl. etwa E. Kreisky, Der Staat als „Männerbund“; C. A. MacKinnon, Feminismus, Marxismus, Methode und der Staat; C. Pateman, The Patriarchal Welfare State. 103 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20.

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I. Einleitung

ein Kristallisationsprodukt,104 eine ganz spezifische Form der Organisation und Institutionalisierung des Politischen. Die Entstehung des Staates ist nur im Kontext des Formwandels des Politischen, die Staatsidee nur aus dem Gestaltwandel des Politikdenkens heraus zu verstehen. Die Genealogie des Staates ist folglich Moment der Morphologie des Politischen. Sie muß sich der vorstaatlichen Formen des Politischen vergewissern. Was aber ist das Politische? Was ist politisch? Was ist Politik? Die Rede von dem Politischen im Unterschied zur Politik gemahnt an Martin Heideggers Unterscheidung des Seins vom Seienden. Diese zielt auf eine in den Erscheinungen „wesende“, in ihnen „anwesende“, sie konstituierende, von ihnen ent- und doch zugleich verborgene Realität, die von der europäischen Metaphysik irrtümlicherweise im oder hinterm Seienden selbst gesucht und daher stets verfehlt worden sei (und die auch Heidegger selbst nicht begrifflich zu erreichen, d. h. zu erkennen vermochte). Entsprechend würde die Rede vom Politischen auf eine den politischen Aktivitäten und Institutionen zugrundeliegende, sie konstituierende, in ihnen „wesende“, hinter bzw. in ihnen verborgene „Realität“ der Politik der Gesellschaften zielen, die aber, wie das Scheitern Heideggers lehrt, genausowenig wie das Sein begrifflich erfaßt oder konstruiert werden könnte. Um diesem Dilemma zu entgehen und den unverhofften Rückfall in Metaphysik zu vermeiden, empfiehlt es sich, den Begriff des Politischen mit anderen Konnotationen zu versehen. Es handelt sich bei der Rede vom Politischen um eine Abstraktion, die die Gesamtheit der unterschiedlichen Politikformen und -arenen und das von ihnen aufgespannte Feld zu bezeichnen, d. h. begrifflich zu fixieren sucht. Sie umgreift sowohl die Gemeinsamkeiten wie die Differenzen der einzelnen Politikstile und -formen, die ihrerseits historischem Gestaltwandel unterliegen. Daraus ist zu folgern: Das Politische ist eine Abstraktion, die nicht zu einer Wirklichkeit sui generis hypostasiert bzw. auf eine ganz spezifische, normativ ausgezeichnete Gestalt der Politik reduziert werden darf, um diese dann der jeweiligen Realpolitik als Spiegel vor- bzw. als kritischen Maßstab entgegenzuhalten.105 In Wirklichkeit gibt es nur Politik und auch diese nur im Plural, d. h. in Gestalt unterschiedlicher Politiken. 104 Der Ausdruck „Kristallisation“ wird von Arnold Gehlen entlehnt, jedoch von den kulturpessimistischen Konnotationen befreit, die Gehlen ihm beigelegt hatte, indem er mit ihm „denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen Gebiet“ bezeichnete, „der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind“. Gehlen war der festen Überzeugung, „daß ideengeschichtlich nichts mehr zu erwarten ist, sondern daß die Menschheit sich in dem jetzt vorhandenen Umkreis der großen Leitvorstellungen einzurichten hat, natürlich mit der dann noch dazuzudenkenden Mannigfaltigkeit allerlei Variationen“. Die Menschheit würde so ins Posthistoire eintreten. Vgl. A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation. In ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Weinheim 1988, 133–143 (Zitate S. 140, 141). 105 Genau diese Strategie verfolgt jedoch E. Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen. Im Anschluß an Hannah Arendt konzipiert Vollrath „das

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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Der Ausdruck Politik besitzt gewöhnlich einen schillernden Charakter und wird zur Kennzeichnung unterschiedlicher Sachverhalte verwandt. Er läßt sich nicht eindeutig definieren. Bereits ein flüchtiger Blick auf die heute zirkulierenden Theorien zeigt ein undurchdringliches Chaos widersprüchlichster Politikbegriffe, die sich nur schwer systematisieren und zu Typen zusammenfassen lassen.106 Normativen Politikbegriffen stehen empirische und dezisionistische gegenüber. Für die einen ist Politik ein menschliches Tun oder Können, das der Herstellung einer guten, der menschlichen „Natur“ entsprechenden Ordnung dienen soll.107 Für die anderen ist sie die – mehr oder weniger intensive – Form der Austragung von Freund-Feind-Konflikten bzw. der Kampf um Macht, für den man sich Verbündete und Gegner sucht.108 Für die dritten ist sie Regierungstechnik und Verwaltung, für die vierten eine Form des Klassenkampfes, für die fünften schlicht Interessenvertretung im pluralistischen Kräftespiel oder der Akt der kollektiven Willensbildung und -durchsetzung etc. Den Handlungsbegriffen109 stehen Systembegriffe gegenüber, die in der Politik den Vollzug von Sachzwängen oder Zwangsgesetzen bzw. die konkrete Form der Autopoiesis des politischen Systems und die Lösung des Problems kollektiv bindender Entscheidungen erblicken.110 Alle diese Auffassungen, deren Liste sich beliebig erweitern ließe, fixieren bestimmte Merkmale des Politikbegriffs und lassen einige seiner Elemente sichtbar werden, erschöpfen seinen Bedeutungsgehalt aber nicht. In ihnen reflektiert sich die gegenwärtige Ablösung des Politikdenkens vom Staatsbegriff, der in der europäischen Neuzeit alle Politikbegriffe auf sich hin zentriert und seit dem 19. Jahrhundert gänzlich absorbiert hatte. Schon die gegenwärtige Lage bereitet einer Klärung des Begriffs des Politischen ausreichend theoretische Schwierigkeiten. Nimmt man darüber hinaus die Politische“ als mixtum compositum aus griechischem, speziell aristotelischem Politikverständnis und kantischer Kritik der Urteilskraft, um daran dann die „Abarten“ moderner Politik als Verfallsformen kritisieren zu können. 106 Vgl. etwa U. v. Alemann, Politikbegriffe; K. v. Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, S. 140 ff.; M. Hättich, Grundbegriffe der Politikwissenschaft, S. 13 ff.; P. C. Mayer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates, S. 11 ff.; Neue Hefte für Philosophie 21: Politikbegriffe. Göttingen 1982; E. Vollrath, Grundlegung. 107 Dieser „normativ-ontologische“ Politikbegriff, von der aristotelischen Tradition entwickelt, wurde in den 50er und 60er Jahren von der „Freiburger Schule“ Arnold Bergstraessers, der Schule Eric Voegelins, von Dolf Sternberger, Wilhelm Hennis u. a. vertreten. 108 Dieser „dezisionistische“ Politikbegriff wurde von Thukydides begründet und in der Tradition von Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes entfaltet. Im Anschluß an Max Webers, von Nietzsche beeinflußte, Definition der Politik als „Streben nach Machtanteil“ hat Carl Schmitt diese Tradition erneuert und im 20. Jahrhundert wieder theoriefähig gemacht. Vgl. bes. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 ff. 109 Vgl. K. Palonen, Politik als Handlungsbegriff, bes. S. 29. 110 Vgl. etwa N. Luhmann, Metamorphosen des Staates, S. 103; ders., Staat und Politik, S. 78; ders., Ökologische Kommunikation., S. 167 ff.; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 84 ff., 140 ff., 234 ff., 377 ff.

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I. Einleitung

historische Dimension in den Blick, so kompliziert sich die Sache noch um ein Vielfaches. Denn während die heute zirkulierenden Politikbegriffe in ihrer Ablösung vom Staat immer noch, wenngleich negativ, vom etatistischen Denken beeinflußt sind, konnten die vorneuzeitlichen Epochen noch nicht mit dem Staatsbegriff operieren. Sie hatten mit anderen, nicht-staatlichen politischen Gegebenheiten zu rechnen und entsprechend andere Verständnisse zu generieren. Einer verbreiteten Auffassung zufolge wurde Sache und Begriff des Politischen von den alten Griechen erfunden und erstmals in der Polis und in der klassischen Politischen Philosophie systematisch entfaltet.111 Politik meinte dort „das der Polis Eigene“, das Handeln in der und für die Stadt, „die in der Gesamtheit der Bürgerschaft gründete und von ihr ausgemacht war“.112 Sie ereignete sich im herrschaftsfreien Miteinander-Reden und im kollektiven Handeln freier und gleicher Bürger, die sich um ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten kümmerten.113 Bindende Entscheidungen wurden entsprechend nicht per Oktroi eines Mannes oder einer Junta ohne vorherige Beratung erlassen, sondern durch Diskussion, Argumentation und Abstimmung getroffen.114 Die Politik avancierte zum Lebenselexier der freien Bürger männlichen Geschlechts, die ihren Sinn und Zweck nicht in der Produktion und Konsumtion von Gütern und Waren suchten, sondern in der Kontemplation sowie in der Interaktion und Kommunikation mit ihresgleichen. Als ausgezeichneter Modus der menschlichen Selbsterkenntnis, der Selbstverwirklichung und Selbststeigerung sollte die politische Partizipation ein „glückliches“ und sinnvolles Leben ermöglichen und zusammen mit der aufblühenden Kultur „die schöne glückliche Freiheit der Griechen [realisieren], die so sehr beneidet worden [ist] und wird“.115 Nicht nur der Staat, sondern auch das Politische wäre demnach eine europäische Kreation und Errungenschaft. Während dieser aber erst im späten Mittelalter auf die Bühne trat, erblickte jenes zwei Jahrtausende früher das Licht der Welt, hatte daher noch eine lange Geschichte vor sich, ehe es sich zum Staat kristallisieren konnte. In der Zwischenzeit änderte es mehrfach seine Gestalt, schlüpfte in neue Formen und reicherte entsprechend den Begriff des Politischen mit neuen Bedeutungen an, die seine Konturen unscharf werden ließen. Die Folgen dieser Metamorphosen sowie die Differenz und Gegensätzlichkeit zwischen antikem und neuzeitlichem Politikdenken hat Christian Meier auf den Punkt gebracht:116 111 Vgl. V. Sellin, Art. Politik. Ferner H. J. Lietzmann/P. Nitschke (Hg.), Klassische Politik. 112 C. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, S. 27. 113 Vgl. H. Arendt, Vita activa, bes. S. 27 ff. 114 M. I. Finley, Das politische Leben in der antiken Welt, S. 70, 151, passim. Vgl. ders., Antike und moderne Demokratie, bes. S. 16 ff. 115 G. W. F. Hegel, Jenaer Realphilosophie von 1805/06. In ders., Frühe politische Systeme, 201–289; hier: S. 267.

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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„Die Bedeutungen, die das Wort politisch mit der Zeit angenommen hat, sind nicht nur vielfältig, sondern sie widersprechen sich teilweise auch. Zunächst bezog es sich auf die Polis, die mit der Bürgerschaft identisch war, und auf eine bestimmte Verfassung, dann auf den vom Monarchen repräsentierten Staat. Politisch Handeln wurde ursprünglich positiv, als am Ganzen orientiert verstanden – das Gegenteil war: eigennützig –, dann beurteilte man es eher technisch oder sogar negativ im Sinne von schlau, listig, verschlagen. Schließlich löst sich das Wort aus der Bindung an den Staat. Es macht im Zeichen der zunehmenden Vergesellschaftung des Staates, das heißt der Politisierung der Gesellschaft neuerdings Karriere, indem es die verschiedensten Ansprüche und Einheiten in der sich rapide politisierenden Welt bezeichnet.“

Interessant an dieser Feststellung ist, daß Meier nur die Polis und den Staat als Typen des Politischen diskutiert, andere Formen der Organisation aber stillschweigend übergeht. Weder die altorientalischen noch die hellenistischen Großreiche, weder die Römische Republik noch das Imperium Romanum oder das christliche Reich des Mittelalters werden in Betracht gezogen. Handelt es sich bei ihnen nicht um politische Gemeinwesen? Haben sie gänzlich apolitischen Charakter? Ist der Politikbegriff durch den von Meier aufgewiesenen Gegensatz zureichend definiert? Soll als politisch nur der herrschaftsfreie Interaktionszusammenhang der Polisbürgerschaft und der herrschaftlich organisierte Staat begriffen werden? Sind damit nur die beiden Extreme festgehalten, die ein weites Spektrum möglicher Zwischenformen und Mischgebilde umgrenzen? Gibt es nicht bereits in den altorientalischen Reichen Politik und Ansätze zu oder Spuren von politischen Ideen?117 Und was geschah in der Zeit zwischen dem Tod der Polis und der Geburt des Staates? Ist das Politische mit den alten Poleis abgestorben und erst nach jahrtausendewährender Absenz mit dem Staat wieder auferstanden? Es mag sein, daß die Rede von Politik und politischen Ideen bezüglich der alten Reiche ähnlich problematisch ist wie die Rede vom Staat, da sie spätere Erfahrungen in die Frühzeit zurückprojiziert und folglich auf einem Anachronismus basiert.118 Wurden diese Reiche doch durch verwandtschaftliche und/oder starre herrschaftliche Beziehungen integriert und durch Ursprungsmythen, Kosmologien und Theologien, durch die Berufung auf die Götter bzw. auf die über Götter und Menschen gesetzte unveränderliche Weltordnung legitimiert.119 Die 116

C. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 15. Vgl. die Kapitel über die frühen Hochkulturen in I. Fetscher/H. Münkler (Hg.), Handbuch. Bd. 1 (1988). 118 Dies räumen auch die Herausgeber des fünfbändigen Handbuchs der politischen Ideen, I. Fetscher und H. Münkler, ein: „Aber während das politische Denken in den außereuropäischen Hochkulturen noch weitgehend in kosmologische oder theologische Fragestellungen verwoben blieb, von denen es nur ein untergeordneter Teil war, ist das Politische als solches erst von den Griechen entdeckt worden“ (Vorwort der Herausgeber. In: Handbuch. Bd. 1, S. 18). 119 Vgl. K. Zibelius-Chen, Das alte Ägypten, S. 129: Die Berufung auf die unveränderliche Weltordnung (Maat) „stellt das umgreifende Kernstück der ägyptischen Wirklichkeitskonstruktion dar“. Dazu auch J. Assmann, Ma’at. Zu den alten Reichen siehe 117

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I. Einleitung

Lektüre der Überblicksdarstellungen zu den in ihnen entwickelten „politischen Ideen“ hinterläßt daher gemischte Gefühle. Der Leser erfährt eine Menge über kriegerische Auseinandersetzungen zwischen und über Machtkämpfe und dynastische Streitigkeiten in den einzelnen Imperien, weiß aber nicht, worin deren Bedeutung für die Genealogie des Politischen liegen soll. Der Politikbegriff gewinnt keine Konturen, sondern pendelt zwischen Mustern traditionaler Herrschaft einerseits, hegemonialen Konflikten andererseits, die allesamt auf das kosmische Naturgesetz bzw. auf die Götter zurückgeführt werden. Es scheint angemessen, den Begriff des Politischen für solche Einheiten zu reservieren, die mit diesen Formen des Denkens und der Herrschaft gebrochen haben, denen die Ordnung der Gemeinschaftsbeziehungen als solche zum theoretischen und praktischen Problem und somit zu einer (relativ) eigenständigen Anstrengung und einem Aktionsfeld sui generis geworden ist. Der Durchbruch, der Beginn politischer Bewegung wäre dann im alten Israel zu sehen, im Exodus, im Auszug der Israeliten aus dem ägyptischen Stahlgehäuse der Hörigkeit (Max Weber), im Murren des Volkes in der Wüste und in der Institutionalisierung, der Gründung und Organisation des Alten Bundes, den Gott am Berge Sinai mit Moses und seinem Volk schloß.120 Dabei wurden exemplarische geschichtliche Erfahrungen gemacht, auf die man sich in Krisenzeiten zurückbesinnen konnte, die zum Orientierungsmuster werden und die politische Erregung des Volkes steuern und zügeln konnten.121 Doch kehrte das auserwählte Volk in ruhigen Zeiten gewöhnlich zu vor- oder nicht-politischen Mustern der Herrschaft zurück (Patriarchat, Tribalismus, Patrimonialismus, Aristokratie, Theokratie, göttliche Monarchie, Nomokratie, Priesterherrschaft usw.). Zwar hat es lange und reichhaltige Erfahrungen in der Abwehr fremder Herrschaftsansprüche und in der Verteidigung der eigenen Sitten und Lebensformen gegen feindliche Hegemonialmächte und eigene Regenten sammeln können – Erfahrungen, die dann vom Frühchristentum im Römischen Reich reaktiviert und mobilisiert werden konnten –, doch wird man bezweifeln müssen, daß ihm die Emanzipation von den traditionalen Formen der Herrschaft in der Antike dauerhaft gelungen ist. Das Politische blieb episodisch und gewann keinen grundierenden Charakter im Leben des israelitisch-jüdischen Volkes. Es blieb Teil oder Moment des religiösen Lebens und erlangte keine Autonomie. Weder in der Richterzeit noch in auch B. B. Lira, Vom Reich zu den Staaten, S. 313 ff. (mit reichhaltiger Literatur, jedoch jeweils mit falschen Anmerkungsnummern zugeordnet). 120 Vgl. E. Voegelin, Order and History. Vol. I; J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, bes. S. 64 f., 71 ff., 77 ff. Neuerdings wird sogar die Entstehung der Demokratie von Athen ins alte Israel verlegt und die Grundlegung des bürgerlichen Rechtsstaates am Sinai beobachtet. Vgl. H. Stein, Moses und die Offenbarung der Demokratie. Dies gelingt allerdings nur um den Preis einer Verwässerung und Inflationierung des Demokratie- und Rechtsstaatsbegriffs. 121 Vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3, S. 1450 ff.; M. Walzer, Exodus und Revolution.

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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der Zeit der selbständigen Königreiche noch in den langen Phasen assyrischer, babylonischer, persischer, hellenistischer und römischer Fremdherrschaft oder in der Diaspora gelang die Institutionalisierung und damit die Aufdauerstellung eines öffentlich-diskursiven Willensbildungsprozesses, der sich mit den Prinzipien und Normen, Regeln und Formen des Zusammenlebens befaßte.122 Diese waren durch die Tradition der Väter und/oder durchs mosaische Gesetz festgelegt. Nur die Auslegung, d. h. die Geltung und Akzentuierung der Überlieferung und die Entscheidung über Form und Inhalt und die erforderliche Strenge der Einhaltung der einzelnen Ritual- und Sozialgesetze war zeitweilig umstritten und damit Gegenstand von Politik. Die Entscheidung über den politischen oder apolitischen Charakter des israelitisch-jüdischen Volkes hängt natürlich ihrerseits ab vom Politikbegriff. Identifiziert man das Politische insgesamt mit Herrschaft,123 so waren nicht nur die geeinten oder geteilten Königreiche, sondern auch die früheren patriarchalischen und gentilistischen sowie die nachexilischen Ordnungen eminent politisch. Versteht man „Politik“ mit Carl Schmitt als den Akt der Abgrenzung und Stabilisierung eines Kollektivs „gegen außen“ und als Kriterium des Politischen den Intensitätsgrad von Freund-Feind-Unterscheidungen, dann war die israelitisch-jüdische Geschichte der Antike eine eminent politische Geschichte. Doch bleiben beide Fassungen defizient und zu unspezifisch. Im ersten Fall avanciert der Politikbegriff zu einem überabstrakten Universalbegriff, der von sich aus keine Unterscheidungen hinsichtlich der unterschiedlichen Organisations- und Herrschaftsstrukturen mehr auszudrücken vermag, sondern alle gleichermaßen grau erscheinen läßt. Er müßte dann seinerseits – ähnlich wie der universalistische Staatsbegriff (s. o.) – durch eine Reihe von Epitheta spezifiziert werden. Das Politische würde so zum Charakteristikum der menschlichen Geschichte überhaupt, seitdem die Gattung das „Tier-Mensch-Übergangsfeld“ verlassen hatte. Es empfiehlt sich stattdessen, einen präziseren Begriff zugrundezulegen, um politische von a- oder präpolitischen Arten des Zusammenlebens unterscheiden zu können. Doch auch die Schmittsche Version bleibt unzulänglich. Richtet sie doch das Augenmerk ausschließlich auf die „Außenpolitik“, während im Innern der Kollektive das Politische geradezu stillgestellt werden soll.124 122 Die jüdische Religion ist geradezu charakterisiert durch das Fehlen entsprechender Institutionen und Veranstaltungen. Vgl. M. Walzer, Politik und Religion in der jüdischen Tradition. 123 Vgl. J. Assmann, Politische Theologie, bes. S. 23 ff., 39 ff., 71 ff. Assmanns These von der Entstehung der Politischen Theologie zwischen Ägypten und Israel, seine Charakterisierung des Alten Testaments als „Politische Theologie“ und des antiken Judentums als „politische Religion“ basiert auf der Gleichsetzung von Politik und Herrschaft. „Politische Theologie“ hat es dementsprechend mit der Verknüpfung von Herrschaft und Heil zu tun. Vgl. auch ders., Herrschaft und Heil. 124 Vgl. dazu C. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 30 ff.; ders., Zu Carl Schmitts Begriffsbildung, S. 545 ff. Das Fehlen innerstaatlicher Politik bei Carl Schmitt

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I. Einleitung

Diesem Mangel hatte bereits Max Weber abzuhelfen versucht, als er „Politik“ als das „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“ innerhalb von oder zwischen autonomen und autokephalen Verbänden definierte.125 Da „Macht“ diesbezüglich bedeuten soll „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“,126 hätte der Politikbegriff so eine ausreichend allgemeine wie zugleich präzise Fassung gewinnen können. Allerdings hat Weber seine Definitionen nicht konsequent durchgehalten. Sie haben ihn nicht davor bewahrt, das Politische an die Existenz von „Staaten“ zu knüpfen und damit seinerseits moderne Erfahrungen in die Antike zurückzuprojizieren. Diese Tatsache scheint verantwortlich für seine heftig umstrittene These, das Judentum habe sich in der Zeit des Zweiten Tempels von einem politischen in einen rein konfessionellen Verband und ein „Pariavolk“ verwandelt.127 Knüpft er doch hier das Politische an die Existenz eines souveränen „militärisch-politischen Verbandes“,128 so daß Politik per definitionem ausgeschlossen war und ihm die Vielfalt der religiös-politischen Bestrebungen in der persischen, hellenistischen und römischen Provinz Judäa sowie in der Diaspora entging.129 Ein Hauptgrund für Mißverständnisse und für die Aufregung der Kritiker dürfte auch hier im bedeutungsschwangeren und letztlich ungeklärten Politikbegriff liegen. Eine genauere Analyse der israelitisch-jüdischen Geschichte vor dem Hintergrund der Weberschen Religionssoziologie dürfte daher helfen, ihn zu spezifizieren. Sowohl Herrschaft als auch Freund-Feind-Differenzierungen charakterisieren die altisraelitische – wie jede – Geschichte. Löst man das „Streben nach Machtanteil“ von der Existenz eines geschlossenen Verbandes (Staates), so dürfte auch dieses zu den geschichtlichen Konstanten und Universalien gehören. Man wird daher nach weiteren Merkmalen suchen müssen, will man einen klaren und brauchbaren Politikbegriff gewinnen. Es bietet sich an, sich zunächst einmal an seine Schöpfer zu wenden, d. h. an die alten Griechen der archaischen und klassischen Zeit, die mit der Polis nicht nur eine spezifische Gestalt, sondern das Politische als solches kreiert oder „erfunden“ haben. Zwar wurden die Sozialstruktubemerkte und monierte bereits früh H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität: „Gar nicht gesehen ist von Carl Schmitt die Sphäre der innerstaatlichen Einheitsbildung als Politik“ (S. 10). Schmitt selbst räumte in seinem Vorwort zur Neuausgabe des Begriffs des Politischen von 1963 diese Tatsache ein, als er das Ende der Ära der Staatlichkeit beklagte und lapidar konstatierte: „Im Innern eines solchen Staates gab es tatsächlich nur Polizei und nicht mehr Politik“ (Der Begriff des Politischen, S. 10). 125 M. Weber, Politik als Beruf (1919). In ders., Gesammelte Politische Schriften, S. 506; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 828. 126 M. Weber, WuG, S. 28; cf. S. 541 ff. Dazu auch S. Breuer, Der Staat, S. 14 ff. 127 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3, S. 397 ff. 128 Vgl. M. Weber, WuG, 2. Teil, Kap. V.: Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung), 245–381; bes. S. 275 ff., 304 ff., 355 ff., 367 ff. (Zitat: S. 277). 129 Vgl. unten den Abschnitt „Politisches Denken im Alten Testament“ (Kap. IV. 1.).

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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ren und die Muster der Sozialintegration bereits in den altorientalischen Kulturen reflexiv, doch war vor den Griechen noch kein tauglicher Begriff vorhanden, der das hätte bezeichnen können, was seit ihnen Politik genannt wird. Damit existierte aber auch die gemeinte Sache nicht, denn: „Eine andere, ,wirklichere‘ Realität als diejenige, die Menschen mittels ihrer – von Wissen geleiteten – Wahrnehmungen konstruieren, . . . gibt es nicht“.130 Ist doch die Entstehung des Politischen bei den Griechen, die für die (weitere) Entwicklung des Politikbegriffs und der um ihn zentrierten Terminologie und Vorstellungswelt maßgeblich und paradigmatisch wurde, bedingt durch die Erfahrung der Veränder-, der Gestalt- und Machbarkeit sozialer Ordnungen und Verfassungen, Moment der Ausbildung eines allgemeinen „Könnens-Bewußtseins“ und der Ablösung des nomistischen durch das kratistische Denken, dem die politische Ordnung nicht mehr unabänderlich festgelegt, sondern zur Disposition gestellt und zur Aufgabe der Bürgerschaft geworden ist.131 Ob demokratisch, aristokratisch oder monarchisch verfaßt: Politik (im Sinne der Griechen) wäre zu begreifen als der mit Willen und Bewußtsein vollzogene Akt der Konstitution und Organisation familienübergreifender Kollektive und ihrer Beziehungen zueinander, wobei die Zielsetzung und die konkrete Form dieser Organisation über die jeweilige Gestalt des Politischen entscheidet. Das Politische besteht somit in der bewußten Durchbrechung, der Überwindung oder Überschreitung naturwüchsiger, familialer, ethnischer und religiös-kultischer Beziehungen, in der Institutionalisierung und Ingangsetzung von Verfahren zur Herbeiführung kollektiv bindender Entscheidungen und in der Organisation transfamilialen kollektiven Handelns zur Erreichung kollektiv bedeutsamer Ziele. Mit dieser Festlegung ist auch der „innere“ Aspekt der Gründung und Verfassung der verschiedenen Gemeinwesen eingeschlossen, den Schmitts Kriterium ausgeschlossen hatte, indem es sich auf das Verhältnis von politischen Einheiten (Staaten) zueinander fixierte, im Innern dieser Einheiten das Politische aber auszuschalten suchte. Der Glaube an die Unabänderlichkeit von – sei’s gott-, sei’s naturgegebenen – Verfassungen und Ordnungen wäre hingegen Indiz für ein aoder vorpolitisches Bewußtsein. Es sei denn, dieser Glaube wird selbst zum Streitobjekt oder zur politischen Ideologie und begründet – wie in den „revolutionären“ Phasen der alten Reiche und der alttestamentlichen Tradition oder in der späteren politischen Romantik132 – ein Denken und Handeln und in der Folge eine Partei oder Bewegung, die auf die Wiederherstellung der von Menschen mutwillig zerstörten „göttlichen“ oder „Naturordnung“ zielt. Dann nämlich wäre dieser Glaube nicht Ursache für Abstinenz und Quietismus, sondern für Engage130

M. T. Fögen, Das politische Denken der Byzantiner, S. 41. Vgl. dazu C. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 118, 149 f., 188, 206 ff., 469 ff.; ders., Athen. 132 Vgl. P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, bes. S. 34 ff.; K. Mannheim, Konservatismus, bes. S. 83 ff. 131

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ment und kollektive Anstrengung, für Abwanderung und Widerstand,133 Dissidenz und Opposition, Exodus und Revolution.134 Ob es sinnvoll ist, die altorientalischen Despotien als politisch zu bezeichnen, ob es nicht ratsamer wäre, nach dem Vorbild der Griechen die Politik als Gegensatz und Antidot zum Despotismus zu verstehen,135 ob es in den Innenräumen der alten Reiche wie in ihren Außenbeziehungen Aktivitäten gab, die sich als politisch im genannten Sinne etikettieren lassen – all diese Fragen müssen hier nicht entschieden werden. Da es sich hier um die Genealogie des Staates bzw. der Staatsidee handelt, die als eine Kreation der europäischen Neuzeit bzw. des späten Mittelalters betrachtet wird, können die altorientalischen Großreiche außer Betracht bleiben. Die in ihnen entwickelten Motive und Traditionen, ihre Herrschaftstechniken und „Pastoraltechnologien“,136 sind zum Teil im Hellenismus und im Römischen Reich wiederbelebt worden und vor allem durch die Vermittlung des Christentums im Abendland wirksam geworden. Zu verfolgen ist jedoch der Gestaltwandel, den das Politikdenken in der Zeit nach dem Niedergang der Polis und vor dem Aufstieg des Staates erfuhr. Dafür muß zunächst das Politische bei den Griechen selbst charakterisiert und in seiner Entstehung und Entwicklung rekonstruiert werden, um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die Brüche und Verwerfungen sichtbar zu machen, die mit den späteren Großreichen (Alexanderreich, Diadochenreiche, Römisches Reich) eingetreten sind, Strukturveränderungen, die neue Muster der Gemeinschaftsbildung forderten und zur Suche nach neuen Politikformen trieben. Erst im geschichtlichen Vergleich und nur im Kontext der Morphologie des Politischen seit den Griechen wird sich die differentia specifica des Staates gegenüber Polis und Reich erhellen. Zwar fließen die literarischen Quellen spärlich, doch darf vermutet werden, daß das Politische im klassisch-griechischen Sinne auch nach der Entstehung der neuen Großreiche nicht gänzlich abgestorben ist,137 sondern vor allem in den nicht-oligarchischen Unterschichten der Städte als Hoffnung und – wenn auch eingeschränktes – Betätigungsfeld weiterexistierte. Blieb die antike Kultur doch bis zu ihrem Ende eine „Stadtkultur“, in der die Kommunen innerhalb der großen Einheiten relative Freiheiten behielten.138 Ungleich günstiger ist die Quellen133 Vgl. A. O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch; ders., Engagement und Enttäuschung. 134 Vgl. M. Walzer, Exodus und Revolution, bes. S. 17 ff. 135 Für J. Assmann ist der Ausdruck „orientalische Despotie“ im Hinblick auf Ägypten hingegen ein nichtssagendes Klischee und eine rein polemische „Vokabel des Kalten Krieges zwischen West und Ost, von Aristoteles bis Wittfogel“ (Politische Theologie, S. 39 ff., 51 f.). 136 Vgl. M. Foucault, Omnes et singulatim, S. 68 ff. 137 Zum fortdauernden politischen Engagement der Bürger in Athen vgl. etwa C. Habicht, Athen. 138 Vgl. L. Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S. 19 ff.; E. Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, S. 15 ff.; H. G. Kippenberg, Die vorderasiati-

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lage aber im Frühchristentum, das in der kritischen Auseinandersetzung mit der jüdischen und römischen Gesetzesapotheose sowie mit der verknöcherten Macht im Imperium Romanum und im Tempel neue Politikvorstellungen entwickelte. Es wird sich zeigen, daß im Denken vor allem des frühen Christentums sehr wohl politische Motive im antik-griechischen Sinne eine zentrale Rolle spielten. Handelt es sich doch bei den frühen – wie auch den späteren – Gemeindegründungen um Versuche, neue, d. h. nicht-traditionale Formen der Vergesellschaftung und der Gemeinschaftsbildung zu entwickeln, die in Gegensatz zu den überkommenen ethnischen Bindungen und zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen im Römerreich traten, die allerdings im dritten Jahrhundert von der mittlerweile etablierten und hierarchisch organisierten Kirche stillgestellt wurden und auch später stets in Konflikt mit der Amtskirche gerieten. Dennoch kann festgehalten werden, daß die Impulse des Urchristentums bei allen Differenzen zur griechischen Organisation der Politik primär politische im klassischen Sinne waren, daß daher das Christentum in seinen Ursprüngen eine politische Religion war,139 die sich vor allem in den hellenistischen Städten am Mittelmeer verbreitete und etablierte. Wie im Alten so finden sich auch im Neuen Testament neben Mustern der Anpassung und Unterordnung unter die monarchische Herrschaft zugleich Paradigmen einer „revolutionären Politik“. Wie schon das Judentum so war auch das Christentum sowohl Befreiungs- als auch Herrschafts- oder Unterordnungstheologie. Die christliche Religion entfaltete sowohl Widerstandspotentiale als auch Anpassungsdruck. Darüber hinaus wäre zu bedenken, ob nicht das imperiale Denken der Griechen im Hellenismus und insbesondere der Römer seit der Spätzeit der Republik eine eigenständige Gestalt des Politischen oder eine originäre „Wurzel der Politik“140 darstellt, die seit dem vierten Jahrhundert im christlichen Reichsdenken ihre Fortbildung und theologische Überhöhung fand.141 Im Gegensatz zur griechischen Polisvorstellung, die sich auf die Ausgestaltung und Ordnung autarker Poleis konzentrierte und den Bezug dieser Gebilde aufeinander als nicht-politisch verstand, zielte die Reichsidee auf die Integration und Organisation völkerübergreifender Gebilde, „die über eine begrenzte Bürgerschaft und über Volksgrenzen hinauswachsen und mit prinzipiell universalem oder doch weiträumig regionalem und jedenfalls hegemonialem Anspruch . . . auftreten“ und „durch Ausbreitung eines im Zentrum des Imperiums formulierten Rechts, einer dort entwickelten schen Erlösungsreligionen, bes. S. 255 ff.; L. Mumford, The City in History; D. Nörr, Imperium und Polis in der hohen Prinzipatszeit; F. Vittinghoff (Hg.), Stadt und Herrschaft; bes. das Vorwort des Herausgebers (S. 7–10) und die Beiträge von W. Dahlheim, H. Galsterer und F. Vittinghoff über die Römische Kaiserzeit (S. 11–146); M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Teil, IX.7 („Typologie der Städte“), 727–814. 139 Vgl. E. Voegelin, Die politischen Religionen. 140 Vgl. D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik. 141 Vgl. auch C. Meier, Die alte Welt.

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politischen Kultur“ zusammengehalten werden sollten. Diese Idee vermischt sich zwar mit den anderen Typen oder Formen der Politik, „aber sie ist doch eigenen Ursprungs und Gehalts“.142 Ihre theoretische Begründung und Legitimation erfuhr sie vor allem im Zuge der hellenistischen Umbildung des jüdischen Gottesglaubens und der Übernahme der politisch-theologischen Propagandaformel göttliche Monarchie durch die katholische Kirche sowie im christlichen Reichsdenken seit der Christianisierung des Imperium Romanum.143 Die These, die im folgenden zu begründen ist, lautet daher: Das christliche Politikdenken in seinem Wandel vom frühen Gemeinde- über das spätantike Kirchendenken zur christlichen Reichsidee des Mittelalters generiert ein neuartiges Paradigma des Politischen und bildet insgesamt gesehen die Brücke von der Polis zum Staat, d. h. vom antiken zum neuzeitlichen Politikdenken. Die (christliche) Reichsidee selbst ist kein konstantes, ein für allemal verbindlich formuliertes, autoritativ festgelegtes und dogmatisch akzeptiertes Konzept, sondern eine umstrittene, sich mit der historischen Lage wandelnde Vorstellungswelt. „Es gibt keine ,Reichsidee‘ an und für sich in einem pointierten, gar tendenziell überzeitlichen Sinn“.144 Dennoch läßt sich aus der Pluralität der Konzeptionen die Einheit eines Denkstils ermitteln, der sich in prägnanter Weise von anderen Denkstilen abhebt. Das christliche Politik- und Reichsdenken im Mittelalter unterscheidet sich – bei aller Mittlerfunktion und allen internen Divergenzen zum Trotz – signifikant vom griechischen Polis- und vom neuzeitlichen Staatsdenken. Die differentia specifica dieses Denkens, die gemeinsamen Grundlagen und Elemente und die Metamorphosen des Politikverständnisses müssen im folgenden herausgearbeitet werden. Die Entfaltung der christlichen Reichsidee ist zu verfolgen bis zu dem Punkt, da sie zu verblassen beginnt, in eine große Krise gerät, aus der im späten Mittelalter die Staatsidee entspringt. Der Staat bildet das neuartige Paradigma, das im Spätmittelalter an die Stelle der alten Reichsidee trat, die seit dem 11. und verschärft im 13. Jahrhundert in eine tiefe Krise geraten war. Diese Krise fand aber erst im 17. Jahrhundert ihre Lösung – im Staat als neuem Muster der Konstitution und Selbstthematisierung des Politischen. Er etablierte sich in der Frühen Neuzeit auf europäischem Boden aufgrund konkreter Voraussetzungen, die zu analysieren sind. Er war jedoch nicht mit einem Schlag „fertig“, sondern wurde in langen Jahrhunderten vorbereitet. Nach der Anbahnung dieser Entwicklung in der Papstrevolution des späten 11. Jahrhunderts konkretisiert sich die Staatsidee im 13. und 14. Jahrhundert im Zusammenprall und in der schließlichen Synthese von christlichem Reichs- und antikem Polisdenken. „Erst im Zuge der Rezeption der aristotelischen ,Politik‘ in

142 143 144

A. Schwan, Dolf Sternbergers Philosophie freiheitlicher Politik, S. 479 f. Vgl. E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, S. 104. P. Moraw, Art. Reich, S. 456.

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der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vermochte sich der Gedanke einer natürlichen Begründung der staatlichen Gemeinschaft durchzusetzen“.145 In der Entwicklung des „abendländischen“ Politikdenkens dürfen somit idealtypisch vier große Komplexe von Ordnungsvorstellungen unterschieden werden, die der geschichtlichen Entwicklung der „abendländischen“ Gesellschaft korrespondieren: – In der auf Sklaverei basierten Gesellschaft der Antike erwuchsen die klassisch-griechischen Polisideen, die im Spätmittelalter wieder aufgegriffen wurden und in der Neuzeit gelegentliche Renaissancen erfuhren. – Mit dem Niedergang der Polis und der Entstehung großer Imperien verlagerte sich das Denken auf die übergreifenden Einheiten einerseits, auf die Individuen andererseits. In den hellenistischen Reichen entstanden individualistischeudaimonistische Ethiken, die das menschliche Glücks- und Vollkommenheitsstreben von der politischen Partizipation entlasteten. Zugleich erlebten altorientalische Reichs- und Kaiserideen eine Resurrektion. Das Politische im klassisch-griechischen Sinne wurde ersetzt durch Herrschaftstechnik und Ethik. Es wurde an die jeweilige konkrete Gestalt des Herrschers geknüpft, der als Dominus und Pastor seine Herde zu befrieden und auf die rechten Wege zu lenken hatte. Die Auseinandersetzung mit den neuen Formen und Erfordernissen der Verwaltungs- und imperialen Herrschaftstechnik im Römischen Reich schlug sich nieder im römischen Recht, dem das Prinzip der „Innerlichkeit“ als Komplement entsprach.146 – An die Stelle der Polis trat im antiken Judentum und im Frühchristentum die religiöse Ekklesia, die einen Ersatz für die fehlenden politischen Partizipations- und Interaktionsspielräume schuf und ihren Mitgliedern neuartige Muster der Betätigung und der Gemeinschaftsbildung ermöglichte. Sie stand einer alternativen Ausdeutung offen und ließ sich in unterschiedlicher Gestalt (Gemeinde, Kirche, Gottesreich) konkretisieren. Während im Judentum der strenge Nomismus im Verbund mit dem Ethnozentrismus der Entfaltung des Politischen unüberwindliche Schranken setzte, durchbrach das Urchristentum mit dem Prinzip der „Liebe“ diese Barriere und eröffnete so neue Perspektiven des Zusammenlebens, der Selbstbestimmung und der Solidarität. Seine Vorstellungswelt entfaltete und konkretisierte sich im Kampf gegen die römische wie jüdische Apotheose des Gesetzes, freundete sich aber alsbald mit dem einst verfemten Römischen Reich an und vermählte sich mit dem alten Gegner. Noch vor dem Übergang zur feudalistischen Gesellschaftsform des Mittelalters entstand im vierten christlichen Jahrhundert – als Antwort auf die Krise des 145 T. Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 191. Vgl. ders., Die Bedeutung der aristotelischen ,Politik‘ für die natürliche Begründung der staatlichen Gemeinschaft. 146 Vgl. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 351 ff., 385 ff.

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Imperium Romanum – die christliche Reichsidee, die Vorstellung einer civitas christiana, die das Ordnungsdenken des christlichen Mittelalters beherrschte. – Im späten Mittelalter schließlich erwuchs aus der Krise der Feudalgesellschaft und der christlichen Weltanschauung im Rekurs auf die antike Erfahrungswelt die neuzeitliche Staatsidee, die ihre klassische Formulierung im 16. und 17. Jahrhundert fand und das weitere Politikdenken der Europäer beherrschte. Während der Staat in der Folgezeit zur dominanten politischen Ordnungsform avancierte, begann mit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit ihm. Nachdem der Begriff des Staates elaboriert und konturiert worden war, entflammten Kämpfe um die adäquate Staatsform und um die Begrenzung der Staatsgewalt, die in der modernen Demokratietheorie und im Konstitutionalismus kulminierten. Auf der Grundlage bzw. in einer Kritik der frühneuzeitlichen Staatstheorie begründete die Philosophie der Aufklärung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine auf den Territorialstaat bezogene Demokratietheorie und eine auf dem Prinzip der Volkssouveränität und der Partizipation basierende Theorie des Verfassungsstaates mit sozial, politisch und weltanschaulich pluralistischer Struktur. Schließlich geriet die Staatsvorstellung als solche ins Kreuzfeuer der Kritik. Sie sah sich seit der Französischen Revolution und verstärkt im 19. Jahrhundert mit neuen Ordnungsvorstellungen konfrontiert, die den Staat auflösen und in die Gesellschaft zurücknehmen wollten: mit den Ideen des Sozialismus und Kommunismus, des Pluralismus, des Anarchismus usw., die – bei allen internen Unterschieden und Gegensätzen – allesamt den Etatismus attackierten, der sich im Kampf gegen diese Positionen zu regenerieren und zu stabilisieren suchte. Sowohl die Kritiker wie die Verteidiger blieben aber der überkommenen, um den Staatsbegriff zentrierten Gedanken- und Vorstellungswelt verhaftet. Die leitenden abendländischen Ordnungsvorstellungen (Polis, Reich, Ekklesia, Staat) lassen sich als Paradigmen oder Metaparadigmen der politischen Philosophie begreifen. Der Begriff des Paradigmas hat insbesondere in der wissenschaftstheoretischen und -geschichtlichen Diskussion im Anschluß an die Forschungen von Thomas S. Kuhn Karriere gemacht.147 Im Gefolge dieser Debatte erfuhr er jedoch eine inflationäre Verwendung, die seine Konturen unscharf werden ließ. Kuhn selbst hat das Konzept deshalb wissenschaftssoziologisch präzisiert und eingegrenzt auf ganz konkrete Orientierungsmuster abgrenzbarer (natur-)wissenschaftlicher Schulen.148 Da hier keine Klassifizierung politikphiloso147 Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zur Auseinandersetzung damit: W. Diederich (Hg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte; W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, bes. Bd. 2, VI. Kap., 726–776; ders., Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, bes. S. 108 ff. 148 Vgl. T. S. Kuhn, Postskriptum (1969). In ders., Die Struktur, 186–221. Dazu W. Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie. 4 Bde. Frankfurt/M 1981; Bd. 2 (Teil 3): „Theoriegruppen, Schulen und Institutionalisierungsprozesse“.

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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phischer „Schulen“ intendiert ist, sondern nur die Verdeutlichung und Absetzung unterschiedlicher Politikbegriffe und erkenntnisleitender Ordnungsvorstellungen, müssen diese wissenschaftssoziologischen Verschiebungen nicht nachvollzogen werden. Es genügt, die ursprüngliche Bedeutung zu vergegenwärtigen, da sich damit die Genese der Politischen Philosophie vorzüglich veranschaulichen läßt. Der Ausdruck Paradigmen meint dabei Komplexe von erkenntnisleitenden Orientierungsmustern, die für ausmachbare Personengruppen wirksam sind, Vorstellungen vom „richtigen“ oder „vernünftigen“ Zusammenleben, Welt- oder Gesellschaftsbilder, die vor jeder theoretischen Arbeit den Rahmen festlegen, innerhalb dessen überhaupt gedacht wird, die den Filter abgeben, durch den hindurch die Wirklichkeit wahrgenommen wird, durch den die einzelnen Phänomene Relevanz und Signifikanz erhalten, durch den folglich auch festgelegt wird, was überhaupt zum Problem der jeweiligen Theorie werden kann und welche theoretischen Problemlösungswege beschritten werden können. Diese Orientierungsmuster bleiben in der Regel unhinterfragt, solange auf ihrer Grundlage Lösungen für die anstehenden, innerparadigmatischen Probleme möglich scheinen. Sie werden erst dann zum Problem und reflexiv, wenn ihre Problemlösungskraft erschlafft. In diesem Sinne bilden Polis, Reich und Staat unterscheidbare Paradigmen, die den von ihnen geleiteten Theoretikern jeweils Raum für divergierende Positionen und Optionen ließen. Da hier keine umfassende „Geschichte der politischen Philosophie des Abendlandes“ intendiert ist, kann es genügen, die genannten Grundtypen voneinander abzusetzen und ihre spezifische Differenz zu diskutieren. Die Unterscheidung der vier (Meta-)Paradigmen knüpft lose und kritisch an eine Unterscheidung an, die Dolf Sternberger in seinem Buch über die Drei Wurzeln der Politik eingeführt hat.149 Sie modifiziert diese aber und fügt ihr weitere Formen hinzu, die Sternberger nicht hinreichend gewürdigt hat. Er unterscheidet insgesamt drei „Wurzeln“ der Politik: 1. die von Aristoteles begründete Politologik, 2. die von Augustinus begründete, von den Doctores der Scholastik (Albertus Magnus, Thomas von Aquin) spezifizierte und fortgebildete Eschatologik und 3. die von Machiavelli begründete Dämonologik. Geleitet von einem allgemeinen Staatsbegriff, demzufolge die alte Polis das „Urbild“ des modernen Verfassungsstaates bildet,150 möchte Sternberger die Praktische Philosophie rehabilitieren und die aristotelische Politologik restituieren und von den Beimischungen der Eschatologik und Dämonologik befreien. Konstitutionalismus und repräsentative Demokratie erscheinen als die einzig zulässigen und angemessenen Realisierungsformen der Politologik, die keine anderen Götter neben sich duldet. Weder der hellenistische, römische und christliche Imperialismus noch der neuzeitliche Etatismus wird dabei als authentische und eigenständige Gestalt oder „Wurzel“ des Politischen akzeptiert. Beide werden vielmehr als Verfehlungen und Abirrun149 150

Vgl. D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik. Vgl. auch D. Sternberger, Die Stadt als Urbild.

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gen qualifiziert, die auszumerzen bzw. auf den rechten Pfad zurückzuführen sind. Die Apokalyptik als Alternative zur Eschatologie und als spezifische Variante der christlichen Reichsidee wird ignoriert. Nichtstaatliche Formen der Politik kommen nicht in den Blick. Demokratische Formen der Willensbildung und der Selbstbestimmung werden von vornherein ins staatliche Korsett gezwängt. Die staatskritische, die anarchistische und kommunistische Doktrin und speziell die Marxsche Theorie wird schlicht der zweiten „Wurzel“ subsumiert, da sich in ihr die Augustinsche „Eschatologik“ in „säkularisierter“ Gestalt tradiere, angereichert mit Elementen aus der Machiavellschen „Dämonologik“, die insbesondere von Lenin und vom Marxismus-Leninismus gehegt worden seien. Diese Einschätzung wird dem Marxschen Denken natürlich nicht gerecht und verschleift die ganze Fülle jener Einsichten, die von der (liberalen, pluralistischen, anarchistischen, kommunistischen, marxistischen etc.) Staatskritik gewonnen wurden. Sie unterschlägt das ganze Spektrum alternativer Muster des Politischen, die in der Moderne konzipiert worden sind und die sich nur schwer den drei „Wurzeln“ zuordnen lassen. Insgesamt ist festzustellen, daß Sternberger zwar drei bedeutende, aber doch nur singuläre Theorien (Aristoteles, Augustinus, Machiavelli) aus der Geschichte der Politischen Philosophie herausgreift und zu Typen stilisiert, die das Ganze bei weitem nicht erschöpfen, Konzeptionen, die zwar jeweils das Wissen ihrer Zeit zusammenzufassen suchten, die aber doch nur partikulare Gestalten in der langen Morphologie des Politischen sind und Momentaufnahmen entspringen, die – Pars pro toto – metachronistisch aufs Ganze projiziert werden. Dies ist Folge der Intentionen Sternbergers, die ihn verleiten, die Theoriegeschichte nach „guten“ und „schlechten“, „brauchbaren“ und „unbrauchbaren“ Stücken abzusuchen – Intentionen, die ich präsentistisch zu nennen pflege. Dadurch wird sein Verdienst bezüglich der von ihm analysierten Konzeptionen zwar nicht geschmälert, doch müssen die politischen Alternativen gleichfalls unvoreingenommen und ohne Ressentiment betrachtet werden. Während Sternberger die drei „Wurzeln“ aus einer präsentistischen und einer auf den neuzeitlichen Verfassungsstaat zugeschnittenen aristotelischen Perspektive gewinnt, d. h. aus dem Versuch, gegenwärtige Politikbegriffe in der philosophischen Tradition zu verorten und nach dem Maßstab der aristotelisch-rechtsstaatlichen „Politologik“ zu kritisieren, soll hier versucht werden, die unterschiedlichen Paradigmen durch einen wissenssoziologisch belehrten antipräsentistischhermeneutischen Zugang zu gewinnen, aus dem Versuch, die einzelnen Theorien aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und als solche erst einmal ernst und beim Wort zu nehmen. Gefragt wird jeweils nach den Zielvorstellungen, die dem politischen Handeln von der Theorie unterstellt wurden, und nach den Ordnungsvorstellungen, die im Hintergrund der Theorien und der unterstellten Handlungsorientierungen standen. Die aristotelische Polis- und Politie-Vorstellung wird selbst als eine Variante unter anderen betrachtet, die unter heutigen Bedingungen kaum zu aktualisieren ist.151

2. Folgerungen und Thesen – Gegenstand und Ziel der Untersuchung

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In der Entwicklung der Politischen Philosophie bzw. der philosophia practica des Abendlandes werden folglich idealtypisch vier Paradigmen oder Metaparadigmen unterschieden: 1. die antike Polisvorstellung, die von den alten Griechen entwickelt wurde und ihre klassische Begründung im Werk von Platon und Aristoteles fand; 2. die antike Reichsidee, die Vorstellung einer vom Kaiser als Herrscher (Dominus) und Hirte (Pastor) gelenkten und befriedeten Welt, die jede natürliche Grenze transzendiert und keine andere Herrschaft als gleichberechtigt anerkennt; 3. die in der jüdisch-christlichen Tradition erwachsende Idee der Ekklesia und des Gottesreiches, die hinsichtlich der Organisation des Zusammenlebens einer alternativen Ausdeutung offenstand (Gemeinde, Kirche, Reich); sie kulminierte schließlich in der christlichen Reichsidee, der aus altorientalischen, jüdischen, hellenistischen und römischen Ideen gespeisten Vorstellung einer civitas christiana in ihrer Entwicklung von den Kirchenvätern bis hin zu den großen Doctores der Scholastik; 4. die neuzeitliche Staatsvorstellung, die auf den Trümmern der christlichen Weltanschauung erwuchs und – nach theoretischen Vorarbeiten der christlichen Aristoteliker (Jean Quidort von Paris, Marsilius von Padua u. a.) – von Niccolò Machiavelli, Jean Bodin, Johannes Althusius, Hugo Grotius u. a. begründet, von Thomas Hobbes klassisch formuliert und in der Folgezeit von Spinoza, Locke, Rousseau, Kant u. a. bis hin zu Hegel ausgefeilt wurde. Diese Paradigmen haben unterschiedliche Wurzeln und lassen sich nicht aufeinander reduzieren oder auseinander deduzieren, obgleich es selbstverständlich auch Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und Querverbindungen zwischen ihnen gibt. Im Kontext dieser Paradigmen wurden unterschiedliche Akzente gesetzt und zum Teil divergierende Vorstellungen entwickelt. Unhinterfragt blieb aber in den einzelnen Epochen das erkenntnisleitende Paradigma, die Grundvorstellung vom menschlichen Zusammenleben. So avancierte in der Frühen Neuzeit der aus geistlicher Umklammerung emanzipierte souveräne Staat zum politikphilosophischen Orientierungsmuster, auf das sich alle theoretischen Energien konzentrierten. Erst in der Folgezeit begannen kritische Reflexionen auf die staatliche Zwangsgewalt, die zur Suche nach alternativen Organisationsformen führten und das heute sich abzeichnende Ende der Staatlichkeit antizipierten. Bei aller Vielfalt der politischen Optionen und Vorstellungen lassen sich hinsichtlich der vorneuzeitlichen Entwicklung des abendländischen Politikdenkens 151 Die in der Gründerphase der Politikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland erstrebte „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“, der verbreitete Rekurs auf Aristoteles, geriet schon frühzeitig unter Beschuß und wurde von den meisten Vertretern der „zweiten Generation“ wieder relativiert oder aufgegeben. Vgl. die (selbst-)kritischen Stellungnahmen aus der Freiburger Schule A. Bergstraessers etwa von D. Oberndörfer, Zur Lage der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In: H.-A. Steger (Hg.), Die aktuelle Situation Lateinamerikas. Frankfurt/M 1971, 63–84, bes. S. 79; M. Schmitz, Politikwissenschaft zwischen Common-sense und Scientismus. In: D. Oberndörfer (Hg.), Systemtheorie, Systemanalyse und Entwicklungsländerforschung. Berlin 1971, 11–61; A. Schwan, Politik als „Werk der Wahrheit“, S. 84; ders., Dolf Sternbergers Philosophie freiheitlicher Politik, S. 482 ff.

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demnach idealtypisch drei Paradigmen unterscheiden, die jeweils den sozialen und politischen Gegebenheiten entsprachen. Sie alle durchlaufen Phasen der Entstehung und Verfestigung sowie des Niedergangs infolge neu entstehender Problemformationen. Die antike Polisvorstellung erwuchs zwischen dem 8. und 5. vorchristlichen Jahrhundert, fand ihre klassische Begründung zu Beginn des 4. vorchristlichen Jahrhunderts und erlebte dann ihren Verfall. Der Schwund des Politischen, die Entpolitisierung der antiken Gesellschaft, die Einbindung der Poleis in die entstehenden Großreiche reflektierte sich in der Philosophie zunächst im Rückzug auf eine individualistisch-eudaimonistische bzw. nicht-politische Ethik im Epikureismus und Stoizismus. Eine neue Hinwendung zur Politik begann in den Reflexionen über den Aufstieg und die Zerrüttung Roms, bei Polybios und Cicero, sowie bei den frühchristlichen Gemeindegründern, die sich auf die im Alten Testament fixierten altisraelitisch-jüdischen Erfahrungen zurückbesannen. Die von den Kirchenvätern vorbereitete christliche Reichsidee erwuchs im 4. christlichen Jahrhundert – mit den Reformen Konstantins des Großen und mit den christlichen Kaisern seit Theodosius –, erlebte erste Erschütterungen durch die großen innertheologischen Streitigkeiten, die auf den ersten ökumenischen Konzilen ausgetragen wurden, erfuhr im Westen eine Erneuerung und Steigerung unter den Karolingern und Ottonen und geriet seit dem 11. und verschärft im 13. Jahrhundert in eine große Krise, die zum Niedergang und zur Zerrüttung führte. Als Lösung dieser Krise trat der Staat auf den Plan, der die Politik der europäischen Gesellschaft in der Neuzeit monopolisierte. Aufgabe der vorliegenden Studie ist die Rekonstruktion dieser Metamorphosen.

3. Methode und Gang der Untersuchung Der Ausdruck Staat meint in der vorliegenden Untersuchung kein realgeschichtliches politisches System, sondern ein Ordnungssymbol, ein Realitätsbild und ein theoretisches Konstrukt, den Fokus einer Vorstellungs- oder Gedankenwelt.152 Er bezeichnet das in der Staatstheorie entworfene Bild einer Ordnung, eine spezifische Ordnungsvision, die sich unterscheidet von der antiken Polisund der antiken oder mittelalterlichen Reichsidee. Die Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Ordnungsentwürfe werden zu erörtern sein. Dafür muß zunächst die Gestalt (Morphe, Eidos) der Polis und des Reiches in groben Strichen umrissen und die auf sie bezogene Ideenwelt analysiert werden. Zu untersuchen ist sodann, aus welchen Gründen sie sich jeweils aufzulösen und einer neuen Ordnungsidee Platz zu machen begannen. Als zweite große Quelle des abendlän152 Zur Differenz von „Vorstellungen“ und „Gedanken“ vgl. G. Frege, Der Gedanke. In ders., Logische Untersuchungen, 30–53; J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 25 ff. „Dem Denken bewegt sich der Gegenstand nicht in Vorstellungen oder Gestalten, sondern in Begriffen“, bemerkt Hegel lapidar (Phänomenologie des Geistes. HW 3, S. 156).

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dischen Politikdenkens wird die jüdisch-christliche Tradition untersucht, die sich infolge der Christianisierung über ganz Europa verbreitete und die Kultur der griechisch-römischen Antike überlagerte. Die Wurzeln und Anfänge des Staatsdenkens werden im hohen und späten Mittelalter gesucht, in konkreten Konfliktlagen, die zu analysieren sind. Die spätere Entfaltung und schließliche Vollendung der Staatstheorie wird verstanden als Versuch der semantischen Bewältigung der strukturellen Entwicklungen der europäischen Gesellschaft. „Der Staat, das ist die Formel für die Selbstbeschreibung des politischen Systems der Gesellschaft“, so umschreibt Niklas Luhmann den Sachverhalt treffend.153 Und wie alle Vorstellungen und Begriffe, die unser heutiges Politikdenken tragen und die sich in den sozialen und politischen Institutionen der modernen Gesellschaft abgelagert haben, so entstand auch diese „Formel“ in jener Zeit, in der es um die Durchsetzung der modernen Gesellschaft gegen die religiös geprägten und hierarchisch strukturierten oder stratifizierten Adelsgesellschaften der alten Welt ging. Dies war die Zeit, die vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Moderne währte.154 Die Formel Staat war der Schlachtruf, der die Emanzipation der modernen Gesellschaft aus dem überkommenen religiös-politischen Herrschaftszusammenhang einleitete. Sie wurde zur Leitidee der neuzeitlichen Politik, zur Formel ihrer Selbstbeschreibung und zugleich zum Modell ihrer Institutionalisierung und Orientierung. In den Kontroversen, die seit dem hohen Mittelalter geführt wurden,155 formierte und artikulierte sich ein moralisch-praktisches Selbstverständnis der europäischen Gesellschaft im ganzen, das sich in den Institutionen der modernen Verfassungsstaaten niedergeschlagen und materialisiert hat und das die politischen Strukturen und das Selbstverständnis der Moderne noch immer bestimmt, obgleich heute allseits Zweifel an seiner Tragfähigkeit grassieren.156 153 N. Luhmann, Staat und Politik, S. 78. Vgl. ders., Die Politik, S. 189 ff.; ders., Staat und Staatsräson; ders., Soziale Systeme, S. 627. 154 Vgl. dazu auch N. Luhmann, Die Gesellschaft. Bd. 2, S. 707 ff.; ders., Die Politik, Kap. 3 (S. 69 ff.). 155 Zu Unrecht datiert J. Habermas (Faktizität und Geltung, S. 11) den Prozeß der Selbstverständigung und die Formierung des europäischen Selbstverständnisses auf die Zeit vom 17. Jahrhundert bis heute. Er setzt im späten 11. ein und endet im 19. Jahrhundert. 156 Auf diesen Zusammenhang hat Luhmann zu Recht hingewiesen, als er die Lage der Politischen Theorie im Wohlfahrtsstaat analysierte: „Ob wir es wissen oder nicht und ob wir uns erinnern oder nicht: die politischen Vorstellungen, die unsere Alltagsorientierungen bestimmen und die sich mit Begriffen wie Verfassung, Politik, Demokratie, Grundwerte, Rechtsstaat, Sozialstaat verbinden, haben ein theoretisches Fundament. Damit ist nicht gemeint, daß es eine theoretisch orientierte Wissenschaft gibt, die sich mit ihnen befaßt. Dies selbstverständlich auch! Wichtiger aber ist, daß solche Begriffe und die ihnen folgenden institutionellen Errungenschaften mit Hilfe von Theorie ins politische System eingeführt worden sind“ (S. 12). Und weiter: „Die Theorieablagerungen, die uns in den Institutionen entgegentreten [sc. den Institutionen des heutigen Wohlfahrtsstaates – K. R.], sind in den Jahrhunderten aufgeschichtet worden, in denen

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I. Einleitung

Der Staatsbegriff steht dabei ein für den Gesamtprozeß, für die „Ausdifferenzierung eines besonderen politischen Systems zu höherer funktionaler Autonomie“. Dieser Vorgang kann nur dann begriffen werden, wenn betrachtet wird, woraus sich dieses System herausentwickelt hat: die „alteuropäische Gesellschaft“. Diese aber ist uns nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur in jenen Quellen und Theorien, die ihre Struktur reflektiert und ihre Entwicklung begleitet haben. Dies sind insbesondere die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatstheorien. Die Beschäftigung mit ihrer Genealogie hat es somit nicht mit nebensächlichen Begleitphänomenen, Abbildungen oder Reflexen der europäischen Geschichte zu tun, sondern mit dieser selbst, mit den konkreten Formen und Erscheinungen, die sie hervorgebracht hat. Es geht um die Entstehung der modernen Gesellschaft und ihren Staat. In ihren Institutionen sind die alten Theorien aufbewahrt. Zu untersuchen ist, welche Theorien sich jeweils gegen ihre Konkurrenten behauptet und durchgesetzt haben, welche selektiert, welche gespeichert und in der Folge institutionell verankert wurden. Dies ist Ziel und Gegenstand der Genealogie des Staates, die sich um die Aufklärung des Staatsbegriffs bemüht. Die Klärung des Staatsbegriffs läßt sich durch Begriffsgeschichte nur unzureichend und durch etymologische Forschung überhaupt nicht realisieren,157 da die bedeutendsten frühen Klassiker den Ausdruck Staat noch nicht verwendet haben, sondern stattdessen von „Regnum“, „Imperium“, „Monarchie“, „Republik“, „Civitas“, „Commonwealth“ etc. sprachen.158 Die Merkmale, die den Staat charakterisieren und die der spätere Staatsbegriff fixierte, wurden jedoch von ihnen größtenteils schon beleuchtet und in unterschiedlichen Theorien begründet und erklärt, noch ehe das Wort zur Verfügung stand. Alle diese Begriffe strukturieren das semantische Feld, in dem der Staatsbegriff schließlich gebildet wurde. Einige von ihnen können als Vorläufer, einige als Synonyme betrachtet werden. Sie artikulieren die Erfahrungen und Erwartungen, die in ihn eingeflossen sind, die sich verdichtet haben zum Staatsbegriff. Andere hingegen bezeichnen geschichtliche Alternativen und entgegengesetzte, nicht- oder anti-staatliche politische Optionen. Es ist daher problematisch, wenn sie – wie es gewöhnlich geschieht – im es um die Durchsetzung der modernen Gesellschaft gegen die Adelsgesellschaften der alten Welt ging. Ihr Anlaß war die Ausdifferenzierung eines besonderen politischen Systems zu höherer funktionaler Autonomie . . . Diese Entwicklung hat ihr Ende erreicht. Ihre Errungenschaften können nicht aufgegeben werden. Sie definieren die Systemstrukturen der Moderne. Aber die Probleme, die an diesem Gesellschaftssystem heute sichtbar werden, lassen sich mit den Theorien nicht mehr begreifen, die den Prozeß seiner Durchsetzung reflektierten. Sie sind als Theorien – nicht als Rechtsformen und als Institutionen! – historisch überholt“ (S. 15 f.). 157 Zur Etymologie des Wortes Staat vgl. neben dem Art. „Staat-Souveränität“ im 6. Bd. der Geschichtlichen Grundbegriffe auch W. Mager, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs; P.-L. Weinacht, Staat. 158 Vgl. S. Hauser, Untersuchungen zum semantischen Feld der Staatsbegriffe von der Zeit Dantes bis zu Machiavelli.

3. Methode und Gang der Untersuchung

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Deutschen allesamt durch den Ausdruck Staat übersetzt und wiedergegeben werden. Dadurch werden die Nuancen eingeebnet und die erforderlichen Differenzierungen verschliffen. Im Zuge dieser Nivellierung avanciert der Staat erneut zu einem unscharfen Allgemeinbegriff, der den Gehalt und die Bedeutungen nicht nur seiner Vorläufer, sondern auch seiner Konkurrenten absorbiert. Er bezeichnet dann nicht nur die miteinander rivalisierenden Staatsideen, sondern umfaßt zugleich die durch sie ausgeschlossenen und verdrängten Ordnungsvorstellungen. Diese sind aber nicht in ihm aufgehoben, sondern wurden durch ihn beiseitegeschoben und unterdrückt, müssen daher gegen ihn geltend gemacht werden. Sie markieren seine Grenze und verkörpern das Andere des Staates. Deshalb muß exakt analysiert werden, welche Bedeutungen im Zuge der semantischen Umgruppierung tatsächlich in den Staatsbegriff eingeflossen sind und welche dabei auf der Strecke blieben. Die Abgrenzungen und Gegensätze sind erforderlich zur schärferen Konturierung durch Negation, d. h. zur Verdeutlichung dessen, was der Staat nicht ist und werden konnte. Erforderlich ist nicht der Rückgang auf die Etymologie dieser Grundbegriffe, sondern die Erweiterung der Begriffsgeschichte zur Ideen- bzw. Theorie(n)geschichte.159 Das Konzept der Begriffsgeschichte und ihren Unterschied zur Etymologie hat Reinhart Koselleck in extenso erläutert. Mit ihm läßt sich die Differenz und das Verhältnis zwischen Wort und Begriff folgendermaßen umschreiben: „Ein Wort wird zu einem Begriff, wenn [der] Bedeutungszusammenhang, in dem – und für den – das Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht. Der Begriff haftet am Wort, ist aber zugleich mehr als das Wort. Ein Begriff versammelt in sich eine Bedeutungsfülle, er ist also – anders als ein Wort – immer mehrdeutig. . . . Die Begriffe sind also Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte, die aus der geschichtlichen Wirklichkeit – jeweils verschieden – in das Wort eingehen. Nicht alle unsere Worte sind also Begriffe“.160 Während die Begriffsgeschichte demnach auf das Auftreten des Wortes angewiesen ist, muß sich die Theoriegeschichte dieser Restriktion nicht unterwerfen. Sie richtet ihr Augenmerk auf theo159 Vermutlich empfiehlt es sich, von Theorien- anstatt von Ideengeschichte zu sprechen, da der Ausdruck Idee infolge des Zusammenbruchs des Idealismus seinen ursprünglichen Sinn wieder verloren hat und im heute vorherrschenden Sprachgebrauch erneut zum Synonym für „Einfall“ geworden ist. Es ging den Philosophen und Theologen aber nicht um irgendwelche „Ideen“ oder um theoretische „Fragen“, sondern um Orientierungsversuche in einer unübersichtlichen und problematischen Welt. Vgl. dazu K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 13 ff. und die Kontroversen über „Sinn und Unsinn“ der Ideen- bzw. Theoriengeschichte zwischen U. Bermbach, L. Kramm, C. E. Bärsch und G. Nonnenmacher in PVS 22 (1981) sowie U. Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Ferner A. Dorschel; Ideengeschichte; M. Llanque, Politische Ideengeschichte; ders./H. Münkler (Hg.), Politische Theorie und Ideengeschichte; B. Stollberg-Rilinger (Hg.), Ideengeschichte. 160 R. Koselleck, Richtlinien, S. 86. Vgl. auch die Überlegungen zum Verhältnis von historischer Semantik und Sozialgeschichte von G. Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 15 ff.

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I. Einleitung

retische Begründungszusammenhänge,161 und ihre Abfolge und nimmt zunächst jene Theorien in den Blick, die zwar das Wort noch nicht benutzten, aber die Merkmale des späteren Begriffs bereits thematisierten. Der Bedeutungszusammenhang, in dem und für den das Wort Staat gebraucht wurde, die Bedeutungsfülle, die in ihm versammelt wurde, entstand in einer Zeit, in der das Wort noch nicht verfügbar war. Sollen die unterschiedlichen Bedeutungsschichten isoliert und analysiert werden, die sich im Staatsbegriff sedimentiert haben, so ist der Rückgang auf diesen Entstehungszusammenhang nötig. Zugleich ist der jeweilige theoretische Kontext ins Auge zu fassen, innerhalb dessen der Staatsbegriff seine Stellung und seinen Gehalt gewann. Damit läßt sich die anstehende Aufgabe präzisieren. Mit der Begriffsgeschichte interessiert sich die Theoriengeschichte für das Auftauchen und den Bedeutungswandel des Staatsbegriffes. Im Unterschied zu ihr begnügt sie sich nicht mit der Rekonstruktion der semantischen Entwicklung. Sie bezieht die pragmatische Dimension mit ein162 und konzentriert sich auf den Entstehungs-, den Begründungs- und den Wirkungszusammenhang der Staatstheorien, d. h. von umfassend angelegten, um Stringenz und Konsistenz bemühten Ordnungskonzeptionen, die mit Hilfe von Begriffen, Urteilen und Schlüssen eine Orientierung in einer stets komplexen, unübersichtlichen und problematischen Lebenswelt gewinnen wollen. Sie untersucht den Ursprung, die Genese und die Konkretisierung dieser Wirklichkeitskonstruktionen. Ihr Ziel ist die Prüfung ihrer Orientierungsleistung und die Ermittlung ihrer Entwicklungslogik, d. h. die Feststellung der Gründe ihres Wandels und ihrer Aufeinanderfolge. Erforderlich ist die Analyse der sozialen, rechtlichen, religiösen, ökonomischen und politischen Konfliktkonstellation und des semantischen Feldes, innerhalb dessen der Staatsbegriff entstand. Zu klären ist, weshalb, in welchem Kontext und in welcher Form der Staat zum herrschenden Paradigma, zum dominierenden Ordnungssymbol und zur Leitidee der Politiktheoretiker wurde. Zu untersuchen sind die konkreten Problemlagen, die mit ihm bewältigt werden sollten. Herauszuarbeiten sind die mit der Bildung des Staatsbegriffs ermöglichten Kontinuitäten und die erzwungenen Brüche in der Entwicklung des abendländischen Ordnungsdenkens. Zu fragen ist, welche Perspektiven durch ihn eröffnet und welche durch ihn verstellt, welche Wege durch ihn gebahnt und welche durch ihn versperrt wurden. Zu analysieren sind die unterschiedlichen Elemente, aus denen sich das in ihm artikulierte Ordnungsbild zusammensetzt. Zu isolieren sind die Bedeutungsschichten, die sich in 161 Zur Konzeption und zur Analyse von Begründungszusammenhängen vgl. G. Göhler (Hg.), Politische Theorie (bes. die Einleitung und den Eigenbeitrag des Herausgebers). 162 In analoger Weise hat H. G. Kippenberg im Anschluß an die von Jürgen Habermas und Clifford Geertz vollzogene pragmatische Wende in der Bedeutungstheorie das Konzept einer „Religionspragmatik“ entwickelt, die sich mit der Rolle der Religion im Kontext kommunikativen Handelns befaßt. Vgl. ders., Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, bes. S. 21 ff., 45 ff.

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ihm sedimentiert bzw. an ihn angelagert haben. Der Staatsbegriff erschließt sich nur einer genetischen Rekonstruktion, einer Analyse der Erfahrungen und Erwartungen, Einsichten und Enttäuschungen, die sich in ihm verdichtet und mit ihm verbunden haben. Zu rekonstruieren ist die Dialektik des Staates, zu verfolgen sind die Verschiebungen, die dieses Ordnungssymbol bewirkte. Zu untersuchen sind die Grundlagen und Gründe für den Aufstieg und die Verwirklichung der Staatsidee. Für dieses Programm steht der Begriff ein, mit dem im Titel die Aufgabe der Untersuchung umschrieben wird. Seine exakte Explikation und inhaltliche Füllung kann nur der Gang der Darstellung selber sein. Eine kurze Erläuterung vorab scheint jedoch angebracht. Das hier in Angriff genommene Konzept der Genealogie ist angesiedelt zwischen Oswald Spenglers Kulturmorphologie und Emile Durkheims sozialer Morphologie, folgt beiden aber nicht. Von der ersten können weder die metatheoretischen und kulturpessimistischen Prämissen übernommen werden noch läßt sich ihr übersteigerter Anspruch und ihre theoretische Emphase aktualisieren.163 Von der zweiten können – umgekehrt – die methodologischen und theoretischen Restriktionen nicht akzeptiert werden, die zur Betrachtung der kulturellen Phänomene als „soziale Tatbestände“ zwingen.164 Erstrebt wird weder eine Theorie der Weltgeschichte noch eine objektivistische Gesellschaftstheorie. Eher orientiert sich der Verfasser am Konzept der Entschlüsselung symbolischer Formen, wie es von Durkheim in anderen Kontexten grundgelegt und von so unterschiedlichen Autoren, wie Ernst Cassirer, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Eric Voegelin, Alfred Schütz, Peter L. Berger, Thomas Luckmann u. a. begründet und praktiziert wurde.165 Er kann jedoch auch deren weitreichende und übergreifende Zielsetzung nicht übernehmen. Während diese die gesellschaftliche Symbolwelt im ganzen untersuchen,166 ihren Ursprung in psychischen Dispo163 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Vgl. auch F. Borkenau, Ende und Anfang, S. 49 ff. („Spengler – weitergedacht“). 164 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 169 ff. Vgl. dazu R. König, Art. „Soziale Morphologie“. In ders. (Hg.), Soziologie. Frankfurt/M 198019 und Fr. Jonas, Geschichte der Soziologie 2, S. 83 ff. Durkheim unterschied zwei Teile der Soziologie: die „Soziale Morphologie“, die sich mit dem materiellen Substrat der Gesellschaft beschäftigt, und die „Physiologie“, die den sozialen Funktionszusammenhang der Gesellschaft zum Gegenstand hat. Sein Schwergewicht lag auf der letzteren. 165 Zur Entwicklung des Konzepts der symbolischen Formen und ihrer Entschlüsselung – von Durkheim, Ernst Cassirer, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Eric Voegelin zu Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann – sowie zu den folgenden Bemerkungen vgl. J. Gebhardt, Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung in der Krisenerfahrung. 166 Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen; ders., Versuch über den Menschen; A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt; ders./T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt; P. L. Berger/T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. – In seiner Analyse der Staatsmythologie betreibt Cassirer hinge-

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sitionen, in menschlichen Interaktionen bzw. in Bewußtseinsakten konkreter Personen erforschen,167 um so die historischen Sinnlinien und Strukturmuster zu erfassen, „die insgesamt die dynamische Textur des historischen Lebens der Menschheit ausmachen“,168 ist der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung beschränkter. Er umfaßt nur einen, wenngleich bedeutenden Ausschnitt aus der Welt der Symbolisierungen. Es geht nicht um die Deutung der geglückten oder verfehlten Suche der Menschen nach ihrer Humanität und deren Ordnung im allgemeinen,169 sondern nur um jene Suchbewegung, die sich in der Geschichte der Politischen Philosophie dokumentiert. Erstrebt wird keine allgemeine Theorie symbolischer Formen, sondern nur die Entschlüsselung des im Staatsbegriff artikulierten Ordnungssymbols. Dennoch kann die Analyse dieses Ordnungssymbols durch die Konzeption der genannten Autoren eine erste Anregung und Orientierung gewinnen.170 Gegenstand der Theorie symbolischer Formen sind die Muster menschlicher Selbstauslegung, Selbstwahrnehmung und existentieller Selbstrepräsentation, durch die sich gesellschaftliche und geschichtliche Wirklichkeit konstituiert. Das Augenmerk richtet sich vor allem auf die Herausbildung dominanter Symboliken, „die Elemente der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und Wissenschaft derart kombinieren, daß den Gesellschaftsmitgliedern die Sinnhaftigkeit ihrer gemeinsamen Existenz durchsichtig wird“.171 Diese Symboliken enthalten Realitätsbilder, Ordnungsinterpretationen, Existenzentwürfe und Sinndeutungen menschlicher Existenz, die dem Denken und Handeln Halt und Struktur verleihen und den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern eine Orientierung in einer unübersichtlichen und undurchsichtigen Erfahrungswelt ermöglichen. Sie leiten und filtern die Wahrnehmungen, synthetisieren und strukturieren die Erfahrungen, gen traditionelle Ideengeschichte, die mit Platons Politeia einsetzt. Vgl. ders., Der Mythus des Staates, S. 80 ff. 167 Vgl. E. Voegelin, Anamnesis. 168 J. Gebhardt, Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung, S. 60. 169 Vgl. J. Gebhardt, Über das Studium der politischen Ideen in philosophisch-historischer Absicht. In: U. Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte, 126–160. Die Rezeption der genannten Tradition und die Beschäftigung mit der Politischen Philosophie von Leo Strauss, Hannah Arendt und Eric Voegelin hat Gebhardt zur Formulierung dieses anspruchsvollen Programms der ,politischen Ideengeschichte‘ veranlaßt. 170 Die Einlösbarkeit des von Gebhardt begründeten Programms bezweifelt U. Bermbach, Zur Entwicklung und zum Stand der politischen Theoriengeschichte. In: K. v. Beyme (Hg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, 142–167; hier: S. 157 f. Obgleich die Aufgabe schwieriger und die Umsetzung des Programms unwahrscheinlicher wird, da das Ziel immer nur annäherungsweise erreichbar ist, sollte sich die ideengeschichtliche Forschung nach Auffassung des Verfassers am anspruchsvolleren Konzept orientieren und von den Einsichten der genannten Forschungstradition inspirieren lassen. 171 J. Gebhardt, Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung, S. 48. Vgl. dazu auch J. Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. In ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, 9–40.

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steuern ihre Selektion und Speicherung, veranlassen ihre Aktualisierung und Erinnerung und ermöglichen so Komplexitätsreduktion. Theoriebildung ist Teil dieses Prozesses der „Symbolisierung“, der menschlichen Selbstwahrnehmung und Selbstverständigung, der Selbsterfahrung und Selbstdarstellung, der „gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann). In ihr reflektiert sich zugleich der Gesamtprozeß. Theorien partizipieren an den anderen Formen der Selbstdarstellung, beeinflussen sie und versuchen zugleich, das Ganze der geschichtlichen Erfahrung zu durchdringen und zu artikulieren. Ihr Material sind vor- bzw. nicht-theoretische Formen der Symbolisierung, der Wirklichkeitsperzeption und -konstruktion. Ihre Aufgabe besteht in der Verarbeitung und Strukturierung sowie der Läuterung vortheoretischer Anschauungen und Vorstellungen, Meinungen und Weltdeutungen. Als sinnhaft strukturierte, sprachlich artikulierte Formen der menschlichen Wirklichkeitsapperzeption und -konstitution, die sich zu umfassenden Begründungszusammenhängen runden, dienen sie der menschlichen Orientierung und Verständigung sowie der Ermöglichung, Fixierung und Tradierung geschichtlicher Erfahrungen. In ihnen manifestieren und verbalisieren sich die Ordnungsinterpretationen, Existenzentwürfe und Sinndeutungen, die den nicht-theoretischen Mustern der Symbolisierung zugrunde liegen, in diesen wirksam werden, jedoch noch ohne ihren theoretischen Ausdruck, ihre verbale und logisch stringente Manifestation zu finden. Theorien lassen sich deshalb nur aus der Gesamtkonstellation, aus dem grand discours einer Zeit heraus verstehen, wie umgekehrt die Kultur einer bestimmten Epoche insgesamt theoriegeleitet ist und nur im Licht der sie leitenden und reflektierenden Theorien verständlich wird. Dieser Zusammenhang läßt sich durch eine weitere Überlegung verdeutlichen. Wie die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie lehrt, sind alle menschlichen Beobachtungen und Wahrnehmungen stets schon „theoriegeleitet“, d. h. sie werden immer schon im Kontext von bereits vorhandenen Kenntnissen und weiteren Informationen, von gespeicherten Erfahrungen und akkumuliertem Wissen verarbeitet und interpretiert. Sie werden im Akt ihrer Verarbeitung ins Vorwissen integriert und „aufgehoben“ und dabei gleichsam theoretisch aufgeladen. Diese Kenntnisse und Erfahrungen verbinden sich und schließen sich zu Realitäts- oder Weltbildern zusammen, die eine einheitliche Struktur besitzen und die weitere Beobachtung und Wahrnehmung lenken. Sie äußern sich im Prozeß der menschlichen Selbstverwirklichung und Symbolisierung und verdichten sich zugleich zu Theorien („Gesamtanschauungen“), die sich durch die Integration der von ihnen ermöglichten neuen Erfahrungen selbst erweitern. Singuläre Eindrücke, Wahrnehmungen, Beobachtungen, Überlegungen oder fremde Äußerungen erlangen erst Signifikanz und Relevanz, d. h. sie werden erst dann zu Erfahrungen, wenn sie eingeordnet werden können in einen umfassenden Verbund bereits erworbener Kenntnisse, in einen weiteren Zusammenhang gespeicherter Erfahrungen. Sie werden im Kontext von Realitäts- oder Weltbildern verarbeitet, die im Alltags-

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leben noch nicht theoretisch formuliert, d. h. artikuliert und stringent begründet sein müssen, sondern einen vortheoretischen Status haben und latent bleiben können. Aufgabe und Ziel der Theorien (im engeren Sinne)172 ist es nun aber, diese latent vorhandenen „Theorien“, die erfahrungsleitenden Weltbilder, Weltbildfragmente oder -surrogate manifest zu machen und den Gesamtzusammenhang der Kenntnisse und Informationen zu erstellen, der erforderlich ist zum Verständnis und zur Erklärung des jeweils thematischen Sachverhaltes. Die Theorie erstrebt einen in sich stringenten und konsistenten Begründungszusammenhang, der den Regeln der Logik und Grammatik und den jeweils geltenden wissenschaftlichen Standards genügen muß. Sie findet ihr Material in den vortheoretischen Formen menschlicher Weltwahrnehmung, die sie nach ihren eigenen Methoden und mit ihren eigenen Instrumenten bearbeitet. Ihr Ziel ist die kritische Reflexion, die theoretische Artikulation und Begründung der diese Wahrnehmung leitenden Ordnungsvorstellungen und Realitätskonstruktionen, die in den anderen Mustern der Symbolisierung wirksam sind. Theorien sind somit Teil des allgemeinen Symbolisierungsprozesses und zugleich seine sprachliche Manifestation und kritische Selbstreflexion. Jede Theorie bildet ein Ganzes, das den einzelnen Elementen – Begriffen, Sätzen, Aussagen, Behauptungen etc. – ihren Stellenwert zuweist und ihren Sinn verleiht. Daraus erklärt sich der Gestaltcharakter der Theorien, der Gegenstand der Morphologie ist. Aufgabe und Ziel der Politischen Theorie (in Vergangenheit wie Gegenwart) ist demnach die logisch stringente und konsistente Entfaltung aller Zusammenhänge, die zum Verständnis des Politischen erforderlich sind. Da das Politische in der Vormoderne jedoch noch nicht als ausdifferenzierter Sachbereich bzw. als selbstreferentiell geschlossenes System begriffen wurde, sondern als ein Wirkungszusammenhang, der potentiell alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfaßte oder ergriff, mußten sich die Politischen Philosophien der Vormoderne zu umfassenden Systemen runden, die den Anspruch auf Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität erhoben, diese in Erklärungen der Welt im ganzen integrierten und so selbst zu geschlossenen Bedeutungsganzheiten, zu umfassenden Symbolisierungen der menschlichen Erfahrungwelt wurden. Politische Theorien sind Formen menschlicher Selbstwahrnehmung und Selbstverständigung. Sie leisten die begriffliche Artikulation und Reflexion der vor- oder nicht-theoretischen Ordnungserfahrungen und Existenzentwürfe. In ihnen spiegelt sich der Gesamtprozeß im Medium des begrifflichen Denkens wider. 172 Zwischen Philosophie und Theorie wird in der vorliegenden Untersuchung begrifflich nicht unterschieden. Die Differenz zwischen beiden liegt nach Ansicht des Verfassers nicht im „weicheren“ Charakter der ersteren im Unterschied zur „harten“ Theorie, sondern im umfassenderen Anspruch, durch den sich die Philosophie abhebt von sog. „empirischen Theorien“, von Theorien mittlerer bis kürzester Reichweite. Jede Philosophie hat den Charakter einer Theorie, nicht jede Theorie hat den Rang einer philosophischen Theorie.

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Die Politische Philosophie der europäischen Neuzeit läßt sich entsprechend verstehen als eine Form der Selbstdarstellung oder Selbstthematisierung der europäischen Gesellschaft – neben anderen. In dieser Funktion gesellt sie sich zu den anderen Formen der Selbstexplikation, zur Kunst, Literatur, Religion, zum Theater, zum Recht und natürlich zur Politik selbst. In allen diesen kulturellen Veranstaltungen wird sich die Gesellschaft selbst zum Problem. Und alle schlagen sich nieder in spezifischen Theorien und werden ihrerseits von Theorien geleitet. Auch Recht und Politik sind Formen der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung und Selbstverständigung. Ihre Rolle als Steuerungsmedien in Wirtschaft und Gesellschaft, als organisierende Zentren der materiellen Reproduktion, ist nicht zu trennen von ihren symbolischen Funktionen. Sie leisten einen je spezifischen Beitrag zur symbolischen Reproduktion der Gesellschaft, zur Sozialisation, zur sozialen Integration und zur kulturellen Reproduktion.173 Die Prozesse des Machterwerbs, des Machterhalts und des Machteinsatzes vermitteln sich nicht nur über eigene Symbole, sondern haben selbst symbolischen Charakter.174 Die Überführung von Interessen in Gesetze, die Produktion allgemeinverbindlicher Entscheidungen und die Bereitstellung kollektiver Güter dient der Selbstbewußtwerdung und Verständigung, der Selbsterhaltung, Selbstdarstellung und Selbststeigerung der Gesellschaft. Die Spezifik der Politischen Theorie und Philosophie gegenüber den anderen Formen der Selbstthematisierung liegt in ihrem theoretischen oder philosophischen Charakter, der daraus resultiert, daß sie verwiesen ist auf Sprache und auf die Regeln und Zwänge des logischen und wissenschaftlichen Denkens. Die Politische Philosophie bildet den Versuch der theoretischen Formulierung der kollektiv verbindlichen Erfahrungen der europäischen Gesellschaft. Zum dominanten politischen Ordnungssymbol, zum Kern des Realitätsbildes der europäischen Gesellschaft wurde in der Neuzeit der Staat. Er wurde nicht nur orientierungsleitendes Paradigma und organisierendes Zentrum der Politischen Theorie, sondern zugleich der Politik, des Rechts, der Religion, der Ökonomie und der gesamten Kultur der Gesellschaft. Er wurde zum Gegenstand der Verehrung und der ehrerbietigen Unterwerfung. Auf ihn richteten sich die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen. Er vermittelte dem menschlichen Leben einen 173 Zur Unterscheidung dieser Sphären der symbolischen Reproduktion vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, 209 ff. Für Habermas ist Politik bzw. Macht jedoch keine Form kommunikativen oder kollektiven Handelns, sondern bloßes Steuerungsmedium der materiellen Reproduktion, das keinen Zutritt finden soll zur „Lebenswelt“. Nur das Recht gehöre zu den „legitimen Ordnungen der Lebenswelt selbst“ (S. 536). Eine Umorientierung diesbezüglich deutet sich jedoch an in J. Habermas, Faktizität und Geltung; ders., Die Einbeziehung des Anderen. Vgl. dazu auch K. Roth, Die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. In: P. Massing (Hg.), Gesellschaft neu verstehen. Schwalbach/Ts. 1997, 24–54; bes. S. 39 ff. 174 Vgl. dazu auch die Überlegungen zur „symbolischen“, d. h. zur Orientierungsund Integrationsfunktion politischer Institutionen von G. Göhler, Politische Institutionen und ihr Kontext, S. 38 f.

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höheren Sinn. Im Staat schuf sich das politische System der Neuzeit eine Leitidee (idée directrice), schuf sich die Politik ein inneres Modell ihrer selbst.175 Der Staat erlangte das Monopol der legitimen physischen Gewalt (Max Weber), er wurde zur rechtsetzenden und -durchsetzenden Instanz. Er übernahm die Funktion der Selbstrepräsentation der Gesellschaft und wurde zum dominanten Muster der Selbstinterpretation und menschlichen Selbsterfahrung. Aufgabe der Politischen Theorie oder Philosophie jedoch war die begriffliche Artikulation dieses Ordnungssymbols, seine Durchsetzung als dominantes Symbol durch Abdrängung alternativer Ordnungsmodelle, seine Legitimation und Institutionalisierung und seine Verankerung im Bewußtsein der Individuen. In der Geschichte der Politischen Philosophie reflektiert sich der Ursprung und die Entwicklung, die Verwandlung und die Etablierung des Staates. Dieser Prozeß ist Gegenstand und Thema der Genealogie. Ihr Ziel ist die Analyse des politischen Ordnungsdenkens, das sich im Staatsbegriff verdichtet bzw. mit ihm verbunden hat. Ihre Aufgabe ist die Rekonstruktion der Logik menschlicher Selbstwahrnehmungen, die sich in Theorien und über diese in konkreten Institutionen abgelagert haben. Es geht um die Erforschung der politischen Erfahrungen, die sich in den Texten der Politischen Philosophie niedergeschlagen und zu Theorien verdichtet haben.176 Ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Gestalt und Struktur sowie ihr Wandel und ihre reflexive Verflüssigung ist Gegenstand der Genealogie, die sich auf die zeitliche, sachliche und soziale Dimension des Themas erstreckt und auf den Ursprung und die Entwicklung, Form und Gestalt, gesellschaftliche Verankerung und Wirkung des im Staatsbegriff artikulierten Ordnungsbildes zielt. Er bezeichnet sowohl die faktische Entwicklung, die logische Genese des thematischen Gegenstandes (Staatsbegriff), wie die ihm angemessene Art seiner Erforschung und Darstellung. Genealogie – als Forschungsansatz – meint den Rückgang auf den Ursprung, auf die Bildungsphase des Staatsbegriffs. Sie untersucht die Vorgeschichte, die Zeit der noch ausstehenden Entscheidung, der offenen Kämpfe und Auseinandersetzungen um alternative Ordnungsmodelle, die Phase der Bildung und Verbreitung und schließlichen Durchsetzung und Speicherung der Staatsidee als dominantes Paradigma der Politischen Philosophie. Sie rekonstruiert die Entstehungsbedingungen und den Selektionsprozeß der Staatsidee und zugleich die überschießenden, „utopischen“ oder „emanzipatorischen“ Potentiale, die nicht zum Zuge kamen, die historisch nicht wirksam geworden sind, die weder in der politischen Praxis noch von der späteren Geschichte der politischen Ideen „aufgehoben“ wurden. Sie thematisiert den Überschuß an Ordnungsentwürfen und an 175

Vgl. oben Anm. 153 (die Hinweise zu N. Luhmann) sowie H. Willke, Ironie, S. 9. Die vorliegende Untersuchung möchte entsprechend einen Beitrag leisten zu einer Theorie der Wahrnehmung im Sinne Walter Benjamins. Vgl. dazu D. Schöttker, Walter Benjamin und seine Rezeption. In: Leviathan 20 (1992), 268–280; bes. S. 278 ff. 176

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Einsichten, der im Gang der europäischen Geschichte nicht realisiert, sondern verschüttet oder beiseitegeschoben wurde. Sie möchte den verdrängten „Rest“ ans Tageslicht befördern und genauer ins Auge fassen. Das Konzept folgt Nietzsches Genealogie der Moral,177 natürlich ohne deren Prämissen zu übernehmen. Es orientiert sich zugleich an Michel Foucaults „Archäologie“ des Wissens und der „Genealogie“ der zugehörigen Praktiken. Gefragt wird, wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind – um zu explorieren, ob wir anders werden können.178 Während die Forschungen Foucaults in der Soziologie und Philosophie breit rezipiert und kontrovers diskutiert worden sind,179 haben sie in der Politikwissenschaft bislang weniger Resonanz gefunden. Dabei können sie gerade auch hier die Aufmerksamkeit auf spezifische, noch wenig erforschte Zusammenhänge lenken und entsprechend forschungsstimulierend wirken.180 Foucault selbst hat sein Konzept auch auf den neuzeitlichen Staatsdiskurs appliziert und so der nachfolgenden Analyse wichtige Hinweise gegeben und unverzichtbare Einsichten vermittelt.181 Ziel ist somit die Ausleuchtung der geschichtlichen Alternativen und die Rekonstruktion ihres Selektionsprozesses. Gefragt wird, welche Denkmöglichkeiten durch den Staatsbegriff eröffnet und welche durch ihn ausgeschlossen, verdrängt oder beiseitegeschoben wurden, welche Weichenstellungen durch sein Vordringen und Dominantwerden vorgenommen wurden. Indem sie die faktische und logische Genese der historisch wirksam gewordenen Theorien bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt, macht die Genealogie die Alternativen sichtbar, die von der geschichtlichen Entwicklung überrollt oder ins Abseits gedrängt wurden. Sie

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Fr. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft; ders., Die Ordnung der Dinge; ders., Archäologie des Wissens; ders., Von der Subversion des Wissens; ders., Überwachen und Strafen.; ders., Dispositive der Macht; ders., Das Subjekt und die Macht. Siehe auch R. Geuss, Privatheit; M. Saar, Genealogie als Kritik. 179 Vgl. etwa S. Breuer, Produktive Disziplin. Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft. In ders., Die Gesellschaft des Verschwindens, 41–64; H. L. Dreyfus/P. Rabinow, Michel Foucault. Frankfurt/M 1987; F. Ewald/B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Frankfurt/M 1991; A. Honneth, Kritik der Macht, S. 121 ff.; ders., Foucault und Adorno. In ders., Die zerrissene Welt des Sozialen, 73–92. 180 Das Konzept der Genealogie, das die Forschungen Foucaults leitet, hat J. Habermas treffend erläutert: Während die Archäologie „die wahrheitskonstitutiven Ausschlußregeln der Diskurse aufdeckt“, untersucht die Genealogie, „wie sich Diskurse formieren, warum sie auftreten und wieder verschwinden, indem sie die Genesis der geschichtlich variablen Geltungsbedingungen bis in die institutionellen Wurzeln hinein verfolgt“. Sie soll „nicht nach einem Ursprung fahnden, sondern die kontingenten Anfänge der Diskursformationen aufdecken, die Vielfalt der faktischen Herkunftsgeschichten analysieren und den Schein von Identität . . . auflösen“, um das präsentistische Zeitbewußtsein der Moderne zu destruieren bzw. hinter sich zu lassen (Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 292 f.). 181 Vgl. M. Foucault, Omnes et singulatim. Ferner J. Donzelot u. a., Zur Genealogie der Regulation. 178

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bildet ein Korrektiv zu Hegels Phänomenologie des Geistes mit ihrem geschichtsphilosophischen Optimismus, ihrem Vertrauen in die „List der Vernunft“.182 Sie verzichtet auf die teleologische Prämisse, daß die Geschichte immer „vernünftig“ verlaufen oder gar einem (göttlichen) Plan gefolgt ist. Vielmehr vermutet sie, daß das Gegenteil der Fall gewesen ist. Entsprechend stellt sie sich die Frage, warum dies so war, ob sich diese Entwicklung hätte vermeiden lassen, welche Alternativen möglich gewesen wären. Nicht übernommen wird die verschwörungstheoretische Haltung Nietzsches und das metaphysische Konzept des alles beherrschenden „Willens zur Macht“. Nicht geteilt wird die Erwartung, daß die Erkenntnis des Ursprungs zugleich das Wissen des wahren Weges und die Möglichkeit einer Vermeidung der von der Menschheit begangenen „Irrtümer“ einschließt. Diese metatheoretischen Prämissen, diese Einstellungen und Hoffnungen sind dem „nachmetaphysischen Denken“183 verbaut. Nietzsches Konzeption ist in ihrer skeptischen Einstellung und ihrer Radikalität nicht radikal und skeptisch genug, um die Konsequenzen ihrer Einsichten gänzlich zu ziehen und voll zu tragen. Nur knapp thematisiert werden kann die Metamorphose des Staates in der Moderne, der Formwandel, den die Staatsidee in der Neuzeit erfuhr. Zu verdeutlichen sind die Kontinuitäten und Brüche im europäischen Politikdenken in der Zeit zwischen dem Leviathan des Thomas Hobbes (1651) und der Rechtsphilosophie Hegels (1820/21) sowie im nachhegelschen Denken. Zu vergegenwärtigen sind die Erfahrungen, die vom Staatsbegriff ermöglicht wurden, die Erwartungen, die von ihm gestiftet, und die Enttäuschungen, die durch ihn hervorgerufen wurden. Zu thematisieren ist die Pathogenese des Politischen in der Moderne, der Bildungsprozeß, den die Staatstheorie durchlaufen mußte, die Auf- und Abklärung, die anfängliche Begeisterung und die ihr folgenden Ernüchterung des Staatsdenkens durch „Prüfung der Realität des Erkennens“.184 Zu klären ist, worin das identische, sich gleichbleibende Moment gelegen ist, das die moderne Transformation des Staates vom Leviathan (Hobbes) zur Wirklichkeit der sittlichen Idee (Hegel), vom absolutistischen Fürstenstaat zum gewaltenteiligen Verfassungs-, zum bürgerlichen Rechtsstaat und zur parlamentarischen Demokratie, vom liberalen Nachtwächter- zum Interventions- und Wohlfahrtsstaat,185 vom 182 Zu Recht hält R. Rorty Hegels Phänomenologie „sowohl für den Anfang vom Ende der platonisch-kantischen Tradition wie für ein Paradigma der ironischen Fähigkeit, die Möglichkeiten massiver Neubeschreibung zu erkunden“ (Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 135). Ebenfalls zu Recht hält er „ironistische Theoretiker“ wie Hegel, Nietzsche, Derrida und Foucault für „reichlich nutzlos, wenn es um Politik geht“ (S. 142). Dem politischen „Nutzen“ wollten sie nicht dienen. 183 Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken. 184 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie. HW 3, S. 68 ff.; hier: S. 75, 80. 185 Vgl. dazu auch den Überblick zur Entwicklung des Staates vom „Polizei-“ über den „Rechts-“ und „Sozial-“ bis zum „Steuerstaat“ von F.-X. Kaufmann, Diskurse über Staatsaufgaben.

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Partikularismus zurück zum Universalismus (Völker- oder Staatenbund, „Idee Europa“186) überdauerte, welche Verschiebungen und Verwerfungen im Ordnungsdenken nötig waren, um diese Transformationsprozesse zu verarbeiten. Diese Aufgabe kann hier nicht mit der erforderlichen Akribie in Angriff genommen werden. Da der Schwerpunkt dieser Untersuchung auf der Vor- und Frühgeschichte des Staates liegt, muß sie sich mit der Darstellung der großen Linien der weiteren Entwicklung und mit der Betrachtung einiger markanter Positionen begnügen. Die hier erstrebte Morphologie des Politikdenkens knüpft nicht nur an die bereits erwähnten theoretischen Konzeptionen an. Sie macht sich auch die Einsichten zunutze, die von der jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen Forschung gewonnen wurden. Sie rekurriert zugleich auf die Theorie der Paradigmen und ihres Wandels, wie sie von Thomas S. Kuhn in seinem Buch über Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen entwickelt wurde.187 Wie Kuhn anhand der Geschichte der Naturwissenschaften zeigte, wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihre theoretische Konzeptualisierung stets von bestimmten Grundorientierungen geleitet, von Orientierungsmustern oder Musterorientierungen, die vor jeder theoretischen Arbeit den Rahmen dieser Arbeit abstecken und den Filter abgeben, durch den hindurch die Wirklichkeit überhaupt erst wahrgenommen wird, durch den demzufolge auch erst die eigentlichen Fragen und Probleme festgelegt werden, die die Theorie zu lösen hat. Kuhn hat den Paradigmenwechsel, der sich in verschiedenen Epochen in der naturwissenschaftlichen Entwicklung ereignete, mit den Umbrüchen verglichen, die sich in der Politik im Gefolge von Revolutionen ereignen. Entscheidend ist, daß sich hierbei das menschliche Selbstverständnis ändert. Die Sicht der Welt sowie der Stellung des Menschen in ihr wandelt sich und dementsprechend auch die Einschätzung der für dringlich erachteten Probleme und der Mittel, mit denen sie gelöst werden sollen. Bezieht sich der dabei eintretende Gestaltwandel in den Naturwissenschaften bloß auf die jeweilige (subjektive) Sichtweise der Wissenschaftler – die Erde kreiste vor wie nach der „kopernikanischen Wende“ um die Sonne –, so hat der Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften bzw. in der Politischen Philosophie zugleich Konsequenzen für den Gegenstand der Theorie selbst, für das soziale und politische, das geistige und kulturelle Leben der von ihm betroffenen Menschen. Auch ohne einer idealistischen Geschichtsauffassung zu huldigen, die das historische Geschehen allein aus dem Willen handelnder Akteure begreift, wird man doch unterstellen dürfen, daß das jeweilige Selbstverständnis der Individuen und Gruppen eine nicht unbedeutende Rolle in der geschichtlichen Entwicklung gespielt

186 Zur Geschichte des Einigungsgedankens vgl. auch R. H. Foerster (Hg.), Die Idee Europa; P. M. Lützeler (Hg.), Hoffnung Europa; H. Münkler, Reich, Nation, Europa, S. 97 ff.; H. Schulze/I. U. Paul (Hg.), Europäische Geschichte. 187 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Dazu oben S. 50 ff.

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I. Einleitung

hat. Das Phänomen des Paradigmenwechsels ist in der Politischen Philosophie somit komplexer. Durch ihren Ansatz, ihre Fragestellung und ihre Methode, unterscheidet sich die vorliegende Studie von der traditionellen ideengeschichtlichen Forschung der Politologen,188 in der – im Unterschied zur Theoriegeschichte der Philosophen und Philologen – gewöhnlich ein präsentistisches Verständnis und Interesse vorherrscht. Im Streben, einen unmittelbaren Bezug zur und Einfluß auf die politische Praxis zu erlangen, wird die Geschichte der politischen Ideen nach „Lebendigem und Totem“ durchforstet, für vorgegebene politische Ziele vereinnahmt und für beliebige Zwecke instrumentalisiert.189 Die Geschichte der politischen Ideen kennt jedoch nicht nur funktionale, sondern zugleich überschießende Potentiale, einen Überschuß an Ordnungsentwürfen und an Einsichten, der im Heute nicht „aufgehoben“ ist, sondern verschüttet wurde. Es lohnt sich nun aber auch und gerade, diesen verdrängten „Rest“ ans Tageslicht zu befördern und genauer ins Auge zu fassen. Gerade im „Verdrängten“, im „Beiseitegeschobenen“ liegt oft das Interessanteste verborgen.190 Leitendes Erkenntnisinteresse der hier versammelten Studien ist nicht, die Normativismen und ideologischen Vorentscheidungen des Verfassers durch die Tradition bestätigen zu lassen. Vielmehr möchten sie mit Hilfe der Tradition unser eigenes Weltbild und unsere Kategorien in Frage stellen – oder wenigstens auf die Probe stellen durch Konfrontation mit fremden Erfahrungen. Nicht Vereinnahmung, sondern Verfremdung (Bertolt Brecht) ist das erste Ziel. Es geht um Distanzierung, d. h. darum, Abstand zu gewinnen von den heutigen Selbstverständlichkeiten und Denkgewohnheiten. Diese Distanz ist unabdingbare Voraussetzung der Erkenntnis wie der Findung praktischer Lösungen. Nur auf diese Weise öffnet sich die Chance, etwas „Neues“ zu entdecken in der Beschäftigung mit dem „Alten“. Diese Absicht kann durch eine weitere Präzisierung der Fragestellung und der in Anschlag gebrachten Methode verdeutlicht werden. Erstrebt wird eine nicht-idealistische Hermeneutik im Sinne Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers,191 die sich belehren läßt durch die Wissenssoziologie, wie sie im Anschluß an und in Weiterführung von Karl Mannheims 188 Vgl. dazu die Bestandsaufnahme von U. Bermbach, Über die Vernachlässigung der Theoriengeschichte als Teil der Politischen Wissenschaft (9–31) und G. Trautmann, Hat Theoriegeschichte Sinn? Anmerkungen zum Forschungsstand einer Teildisziplin (250–280), beide in: U. Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte; U. Bermbach, Zur Entwicklung und zum Stand der politischen Theoriengeschichte. 189 Man könnte dies die „Aschenbrödel-Methode“ nennen, weil dabei nach dem altbewährten Motto verfahren wird: „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“. 190 Vgl. dazu K. Heinrich, Dahlemer Vorlesungen. Basel, Frankfurt/M 1981 ff. sowie die III. und insbesondere die VII. Geschichtsphilosophische These von W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 252, 253 f. 191 M. Heidegger, Sein und Zeit; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode.

3. Methode und Gang der Untersuchung

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Konzeption192 von den genannten Vertretern des Symbolischen Interaktionismus (A. Schütz, P. L. Berger, Th. Luckmann) sowie von den französischen Poststrukturalisten,193 von Michel Foucault, Pierre Bourdieu194 u. a. entwickelt wurde und heute ihren bedeutendsten Repräsentanten in Niklas Luhmann findet.195 Aber keine dieser Konzeptionen kann als solche übernommen werden, vielmehr ist die Kombination ihrer Fragestellungen und ihres methodologischen Instrumentariums sowie die Synopse ihrer Ergebnisse erforderlich. Hermeneutik und Wissenssoziologie stehen – anstatt sich wechselseitig auszuschließen – in einem Ergänzungsverhältnis. Sie verweisen in ihren jeweiligen Leistungen und Grenzen wechselseitig aufeinander und verlangen nach ihrer Verknüpfung oder Verschmelzung. Die Notwendigkeit dieser Synthesis, die keinen Eklektizismus impliziert oder zur Folge hat, ergibt sich aus den jeweiligen Schwächen dieser Konzeptionen, die von ihren Stärken nicht zu trennen sind. Die synthetische Verbindung von Hermeneutik und Wissenssoziologie trägt zugleich dem alten Streit um „Hermeneutik und Ideologiekritik“ Rechnung,196 der durch sie auf eine neue Ebene transformiert und erledigt wird. Dies muß kurz verdeutlicht werden. Die Hermeneutik in ihrer elaborierten Gestalt hat sich im Zuge der Selbstkritik des Historismus aus diesem herausentwickelt.197 Sie möchte Texte oder Ereignisse, Kunstwerke oder Theorien aus ihrer Zeit heraus verstehen, ohne sich dem Material ihrer Forschung auszuliefern. Sie bildet für die Ideengeschichte eine Brücke vom Historismus zur Wissenssoziologie und ebnet zugleich die Wege, auf denen die Einsichten beider in die Praktische oder Politische Philosophie eingebracht werden können. Sie hält sich frei von den Illusionen eines naiven Präsentismus wie von den Verwerfungen und Relativismen des traditionellen Historismus. Sie begreift die frühen Theoretiker weder als unmittelbare Dialogpartner, mit denen wir in einen Streit über die richtige und gute politische Ordnung ein192 Vgl. bes. K. Mannheim, Art. „Wissenssoziologie“; ders., Ideologie und Utopie; ders., Wissenssoziologie; ders., Strukturen des Denkens; V. Meja/N. Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie; K. Lenk, Marx in der Wissenssoziologie; A. Neusüss, Utopisches Bewußtsein und freischwebende Intelligenz; ders., Die Entdeckung des blinden Flecks. 193 Vgl. dazu auch T. McCarthy, Ideale und Illusionen. Dekonstruktion und Rekonstruktion in der kritischen Theorie. Frankfurt/M 1993 und die Kritik des Vf., Neue Entwicklungen der Kritischen Theorie. In: Leviathan 22 (1994), 422–445. 194 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede; ders., Sozialer Raum und „Klassen“; ders., Sozialer Sinn. Dazu A. Honneth, Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. In ders., Die zerrissene Welt des Sozialen, 156–181; A. Steil, Eine ,Psychoanalyse‘ des Sozialen. In: Düsseldorfer Debatte 4/87, 40–57. 195 Vgl. bes. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik; ders., Liebe als Passion; ders., Soziologische Aufklärung 4. 196 Vgl. K.-O. Apel u. a., Hermeneutik und Ideologiekritik. 197 Zur Entwicklung der Hermeneutik von Schleiermacher und Dilthey über Heideggers „Hermeneutik der Faktizität“ zur Theorie der hermeneutischen Erfahrung vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 175–269.

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I. Einleitung

treten können, noch begreift sie die Aussagen und Inhalte der früheren Theorien als bloß zeitgebundene und obsolete Produkte vergangener Konfliktkonstellationen. Sie möchte nicht die Antworten, sondern die Fragen der Alten zu den ihren machen und dadurch dem Denken neue Impulse geben, neue Möglichkeiten und neue theoretische Perspektiven eröffnen. Sie möchte die frühen, zu Theorien oder Kunstwerken geronnenen Einsichten und Erfahrungen weder für beliebig vorgegebene theoretische oder praktische Zwecke instrumentalisieren noch zu bloß zeitgebundenen Antworten auf längst erledigte Fragen relativieren und in den Orkus der Geschichte verbannen. Vielmehr möchte sie aus ihnen lernen, indem sie das in ihnen aufbewahrte Wissen interpretiert, die in ihnen kristallisierten Erkenntnisse aktualisiert und verflüssigt, in einen anderen Aggregatzustand versetzt, in offene Fragen zurückverwandelt und so fruchtbar macht für die eigene theoretische Praxis. Während sich der Historist in die jeweilige historische Situationen hineinversenkt und sich bemüht, alle relevanten Faktoren aus ihrer Zeit heraus deutend zu erschließen, um ein Gesamtbild der Epoche zu gewinnen, weiß der Hermeneutiker um die Notwendigkeit der „Horizontverschmelzung“.198 Er betrachtet die Vergangenheit weder als kontingente Abfolge abgeschlossener Episoden noch als Steinbruch, aus dem sich jeder nach Bedarf bedienen kann. Vielmehr verfolgt er die Wirkungsgeschichte von Theorien und betrachtet die frühen Auseinandersetzungen und Kämpfe als zum Teil noch unabgeschlossen und unerledigt. Umgekehrt betrachtet er die Gegenwart nicht als creatio ex nihilo und als unproblematische Gegebenheit, sondern als fragwürdige Konstellation, die aus den Erfahrungen der Tradition lernen kann. Die frühen Theorien werden dementsprechend nicht nur als funktionale und historisch relevant gewordene oder wirkungslos gebliebene und obsolete Konstruktionen betrachtet, sondern zugleich auf die in ihnen artikulierten oder versteckten Problemlösungen, auf die nicht erledigten Konflikte, die nicht-eingelösten Hoffnungen und die nicht zu Ende geprüften Lösungsvorschläge hin befragt. Die Stärke des hermeneutischen Ansatzes, der kritisch-konservierend verfährt und politische Theorien als Antworten auf konkrete Problemlagen bzw. als Eingriffe in konkrete Diskurse zu begreifen erlaubt, liegt darin, daß er die politischen Ideen aus ihrem Entstehungszusammenhang, d. h. aus ihrer Zeit heraus verständlich machen und dabei unversehrt, in ihrem vollen Gehalt erschließen, in die Praktische Philosophie einbringen und somit „aufheben“ kann. Seine Schwäche oder sein Problem liegt darin, daß er genötigt ist, zwischen Historismus und Präsentismus hin und her zu schwanken. Der Hermeneutiker weiß um die Unmöglichkeit eines vorurteilsfreien Wissens,199 will aber weder die Vorurteile der Ge198

Vgl. ebd., S. 311 ff. Vgl. ebd., S. 270 ff. Daß die Geschichtsschreibung selbst immer theoriegeleitet und theorieabhängig ist, betont H. White, Metahistory; ders., Auch Klio dichtet. 199

3. Methode und Gang der Untersuchung

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genwart noch die der Vergangenheit akzeptieren. Beide sollen sich im Prozeß der Horizontverschmelzung wechselseitig läutern. In seiner Abwehr des Historismus begibt er sich in die Gefahr, in Präsentismus abzugleiten. Die Abwehr präsentistischer Ambitionen bringt ihn wiederum in Versuchung, in Historismus abzugleiten. Er kann keinen neutralen Beobachterstandpunkt gewinnen, sondern ist genötigt zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu pendeln. Er muß die Perspektive des Beteiligten einnehmen – im Heute wie im Gestern. Er besitzt keine neutralen Kriterien zur kritischen Bewertung oder Beurteilung der politischen Ideen. Vielmehr muß er diese entweder dem philosophischen Diskurs der Gegenwart oder aber der thematischen Tradition entnehmen. Schwankend zwischen Historismus und Präsentismus gewinnt er keinen Halt unter den Füßen. Er liefert sich der herrschenden Meinung seiner Gegenwart aus oder aber er verfällt der Tradition, die er doch kritisch sichten wollte. In beiden Fällen ist er genötigt, sich mit den jeweils herrschenden Gedanken zu identifizieren, die doch stets die Gedanken der Herrschenden sind.200 Die Stärke dieses Ansatzes ist deshalb zugleich seine Schwäche. Um den Universalitätsanspruch der Hermeneutik aufrechterhalten zu können,201 muß er sich die „Standortgebundenheit“ des eigenen Denkens verleugnen, die ihm von der Wissenssoziologie vor Augen geführt wird. Als Korrektiv hat sich deshalb die Wissenssoziologie bzw. zunächst – als ihre Vorläuferin – die Ideologiekritik entwickelt, die politische Ideen als verschleiertes Herrschaftswissen oder als „falsches Bewußtsein“ oder aber (mit Marx) als adäquaten Ausdruck und Reflex „falscher“ gesellschaftlicher Zustände entlarvt.202 Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, daß er hinter den politischen Ideen soziale und politische Interessen sichtbar zu machen vermag, so daß diese als abgeleitete Phänomene verständlich werden. Seine Schwäche liegt jedoch in seinem destruktiven Charakter und in der eigenen Haltlosigkeit. Der Ideologiekritiker behält letztlich nichts mehr übrig und gerät am Ende selbst in die Verdachtsstruktur hinein, die er bekämpft.203 Er ist gezwungen, einen Wahrheitsanspruch zu erheben, den er selbst nicht mehr begründen und einlösen kann, ohne daß der Negativismus zugunsten eines neuen Normativismus aufgegeben wird. In diesem Falle würde sich die Ideologiekritik jedoch in praktische Philosophie verwandeln, d. h. in ihr Gegenteil übergehen und sich somit selbst aufheben. Das Grundproblem der Ideologiekritik – und der Aufklärung insgesamt204 – liegt

200

Vgl. W. Benjamin, Thesen über den Begriff der Geschichte, S. 251 ff. Vgl. J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. 202 K. Marx/Fr. Engels, Die Deutsche Ideologie. MEW 3, bes. S. 13 ff. Zur Marxschen Ideologietheorie vgl. K. Lenk, Marx in der Wissenssoziologie; ders. (Hg.), Ideologie. 203 Vgl. A. Neusüss, Die Ideologien und das Ideologische; ders., Die Ideologie der Kritik. 204 Dazu G. W. F. Hegel, Phänomenologie [HW 3], S. 403 ff., 413. Ferner V. Hösle, Moralische Reflexion und Institutionenzerfall. 201

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I. Einleitung

darin, daß sie letztlich jeglichen Maßstab destruiert und damit selbstdestruktiv wird. Als ein anspruchsvollerer Versuch, der den genannten Problemen Rechnung trägt, hat sich aus der Selbstkritik der traditionellen Ideologiekritik die Wissenssoziologie herausgebildet. Ihr Ziel ist nicht länger die „Entlarvung“ und Destruktion von Wissensbeständen und Institutionen, sondern die kritische Durchleuchtung ihres Gehalts, ihrer Funktionalität und Wirkungsweise. Sie möchte die Theoriegeschichte auf die Realgeschichte hin transparent machen und die semantischen Veränderungen im Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft begreifen. Die Stärke dieses Ansatzes liegt in dieser Verknüpfung von struktureller und semantischer Entwicklung und in der Einnahme einer neutralen Beobachter-Perspektive. Seine Schwäche liegt – ähnlich wie bei der kruden Ideologiekritik – darin, daß auch hier ein Standpunkt außerhalb des thematischen Feldes bezogen wird, der sich selbst nicht mehr wissenssoziologisch, sondern allenfalls praxisphilosophisch oder aber evolutionstheoretisch begründen läßt. Während Mannheim die Lösung des Problems im Konzept der „freischwebenden Intelligenz“ zu finden hoffte, weiß Luhmann um die Brüchigkeit und Haltlosigkeit desselben. Er sucht die Basis seiner Analysen in einer evolutionistischen Systemtheorie, die den semantischen Umstrukturierungen im Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft nachspürt. Die thematischen Theorien werden in Gestalt einer „Beobachtung zweiter Ordnung“ daraufhin befragt, inwieweit sie einen Beitrag zur Artikulation der epochalen Umbrüche geleistet haben. Sie werden somit nicht von ihren eigenen zentralen Intentionen her und aus sich selbst verstanden, sondern von einer ihnen fremden Warte her, die gleichwohl einige ihrer Implikationen sichtbar zu machen erlaubt. Dabei geht allerdings das überschießende Potential der früheren Theorien verloren, weil alles, was nicht in Richtung funktionaler Differenzierung führte und im Heute nicht aufgehoben ist, ausgeblendet werden muß. Der Wissenssoziologe ist – gleichgültig, ob er sich als Ideologiekritiker oder als Strukturtheoretiker versteht – genötigt, einen Standpunkt außerhalb des untersuchten Feldes zu beziehen, also die Teilnehmer-Perspektive des Hermeneutikers durch eine BeobachterPerspektive zu vertauschen. Er muß frühere Theorien so betrachten als hätten sie seine eigene Position zum Fluchtpunkt, kann sie daher nur als Vorformen oder als Vorläufer der eigenen Theorie betrachten. Dadurch nähert er sich – wenn auch ohne normativistischen Hintergedanken – dem Präsentismus des Praxisphilosophen. Aus den jeweiligen Stärken und Schwächen der genannten Ansätze folgt, daß sie gegenseitig aufeinander angewiesen sind und sich – anstatt sich negatorisch auszuschließen – wechselseitig ergänzen, indem sie die Schwächen des jeweils anderen Ansatzes kompensieren. Die Wissenssoziologie ist wichtig als Ergänzung und als Korrektiv der Hermeneutik – et vice versa. Sie hat, wie jene, ihre eigenen Probleme und Selbstbegründungsschwierigkeiten und bleibt als solche

3. Methode und Gang der Untersuchung

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defizient. Es kann nach Auffassung des Verfassers nicht darum gehen, mit fertigen Schablonen aus der heutigen Wissenschaft an die Theoriegeschichte heranzutreten, um in verschiedene Schubladen einzusortieren, was sich ihnen fügt. Vielmehr geht es zunächst einmal darum, die eigenen Kategorien in Frage zu stellen und die Tradition aus sich heraus zu verstehen. Man muß versuchen, die jeweiligen Problemstellungen und die Diskussionszusammenhänge zu begreifen, in die die einzelnen Theoretiker eingegriffen haben. Die Theoriegeschichte ist zu betrachten als der großangelegte und großartige Versuch, die zu bestimmten Zeiten jeweils vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten zu reflektieren und auszuloten, die jeweils vorhandenen Probleme in den Griff zu bekommen und Lösungswege zu ersinnen. Dabei sind nicht immer die besten oder vernünftigsten Entwürfe zum Zuge gekommen. Nicht selten wurde vielmehr der schlimmere Weg gewählt. Zunächst einmal ist jede politische Theorie aus ihrer Zeit heraus und vor dem Hintergrund der Probleme, auf die sie reflektiert, zu verstehen. Nur im Licht ihrer wesentlichen Intentionen lassen sich theoretische Texte begreifen.205 Erst im zweiten Schritt kann gefragt werden, ob der Begründungszusammenhang der betreffenden Theorie stringent und konsistent und somit geeignet ist, die von ihr in Angriff genommenen Probleme zu bewältigen. Erst in diesem zweiten Schritt stellt sich die Frage, ob die thematische Theorie angemessen auf die strukturellen Veränderungen oder Probleme ihrer Zeit reagiert und eine überzeugende Erklärung der erklärungsbedürftigen Zusammenhänge gibt oder ob sie bloß parteilich, partikularistisch oder gar ideologisch ist. Und erst danach kann man in einem dritten Schritt die Frage stellen, ob und wie weit die betreffende Theorie auch heute noch trägt in der Erklärung bestimmter Zusammenhänge. Die fortdauernde Relevanz früherer politischen Theorien liegt darin, daß sie sich in konkreten Institutionen niedergeschlagen haben, sowie in der Tatsache, daß sich in ihnen zugleich die nichterledigten Konflikte, die nicht-eingelösten Hoffnungen oder Erwartungen, die nicht zu Ende geprüften Lösungsvorschläge und die noch immer nicht vermiedenen Irrtümer niedergeschlagen haben. Darin liegt ihr Potential für die heutige Theorie und Praxis. Die Klassiker haben zum Teil bereits an Problemen laboriert, die uns auch heute noch beschäftigen. Wir können ihre Fragen, nicht aber ihre Antworten, zu den unseren machen. Daß in der Geschichte des Politikdenkens gelegentlich und immer wieder auch neue Fragen und Probleme aufgetaucht sind, macht ihre spezifische Dynamik aus. Intendiert ist somit weder Historismus noch Präsentismus, sondern eine wissenssoziologisch belehrte Hermeneutik, die sich mit den Prämissen des neuzeit205 Vgl. T. Hobbes, Leviathan, S. 459: „Denn nicht die bloßen Worte, sondern das Ziel des Verfassers wirft das wahre Licht, in dem jede Schrift auszulegen ist, und jene, die sich auf einzelne Stellen versteifen, ohne den Hauptzweck in Betracht zu ziehen, können aus ihnen nichts klar ableiten, sondern werfen Schriftatome wie Staub vor die Augen der Menschen und machen dadurch eher alles dunkler als es ist – ein übler Kunstgriff derer, die nicht die Wahrheit, sondern ihren eigenen Vorteil suchen“.

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I. Einleitung

lichen Politikdenkens beschäftigt, mit der Entstehung und Entwicklung jener politischen Ideen, die sich im Gang der europäischen Geschichte im Staatsbegriff verdichtet haben. Ihr Einsatz ist die Erfindung des Politischen bei den Griechen (II. Kap.). Sodann wird der Zusammenhang von Religion und Politik in den antiken Großreichen thematisiert (III. Kap.). Danach wird die jüdisch-christliche Tradition auf die in ihr verankerten politischen Potentiale befragt (IV. Kap.). Schließlich wird der Durchbruch und die Etablierung des Staates als dominantes politisches Symbol analysiert (V. Kap.). In leichter Abwandlung einer bekannten Passage aus Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie läßt sich das Ziel der Untersuchung zusammenfassend wie folgt umreißen: So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Genealogie des Staates enthält, nichts anderes sein als der Versuch, die Entstehung, den Wandel und die Verbreitung der Staatsidee als vernünftig zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen. Die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu instruieren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er in seinem Auf- und Abstieg erkannt werden kann. Damit ist zugleich die Grenze der Untersuchung benannt: Es kann nicht ihre Aufgabe sein, die heute anstehenden sozialen, ökonomischen, politischen, rechtlichen und kulturellen Probleme zu lösen. Es geht vielmehr um die Rekonstruktion einer Vorstellungswelt, die sich in den Institutionen der modernen Staaten materialisierte und die heute auf ihre Grenzen stößt. Es geht um die Genealogie, die Analyse der Grundlagen und Gründe für die Entstehung des Staates.

II. Philosophie und Politik in der Polis Die meisten unserer politischen Grundbegriffe wurden von den alten Griechen geprägt – vom Politikbegriff selbst über den Demokratiebegriff, den Begriff der Verfassung, der Regierung usw. bis hin zur Unterscheidung der einzelnen Regierungsformen und ihrer jeweiligen Bedingungen und Formen, Regeln und Normen. Sie wurden gewonnen im Rahmen der alten Polis und wurden später übertragen auf ganz anders verfaßte Einheiten. Bei dieser Übertragung mußten die Ecken und Kanten abgeschliffen, mußten viele Begriffe über Bord geworfen, andere den neuen Sachverhalten angepaßt und mit neuen Denotationen versehen werden. Dabei flossen neue Erfahrungen in den Politikbegriff ein, haben sich neue Erwartungen in ihm verdichtet, hat sich schließlich ein ganzer Bedeutungshof angelagert. Dennoch blieben die Ursprungserfahrungen paradigmatisch, d. h. mustergültig. Ihre Erinnerung und Reaktivierung in verschiedenen Epochen hat die weitere geschichtliche Erfahrung und damit die politische Entwicklung geleitet bzw. überhaupt erst ermöglicht. Der Kern dieser Erfahrungswelt muß deshalb zuallererst herausgearbeitet werden, damit die späteren Umbrüche verständlich werden. Erst danach können die Neuerungen transparent gemacht werden, die in der Folgezeit eingetreten sind und ihren Niederschlag in der Politischen Philosophie fanden. Da die Geschichte der antiken, vor allem der athenischen Polis sowie der griechischen Philosophie und Politik gut erforscht ist, kann die nachfolgende Darstellung relativ knapp gehalten werden und sich beschränken auf die Zusammenstellung und Synopsis jener Ergebnisse der älteren und jüngeren Forschung, die den griechischen „Sonderweg“1 verständlich und die Spezifik der Polisvorstellung im Kontrast zum späteren Politikdenken deutlich werden lassen.2 Die Entstehung des Politischen bei den Griechen ist Moment und Katalysator der „Entdeckung des Geistes“, der Genesis des rationalen Denkens im Kampf mit den Ursprungsmächten des alten Mythos.3 Sie ist Ausdruck oder Motor der Entwicklung eines neuen menschlichen Selbstverständnisses und Selbstgefühls, ei1

Vgl. C. Meier, Athen, S. 108 ff. Eine knappe Zusammenfassung der folgenden Ausführungen habe ich in einigen kleineren Texten versucht. Vgl. K. Roth, Demokratie in der Antike; ders., Polis/Praxis. In: G. Weißeno (Hg.), Lexikon der politischen Bildung. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 1999; I. Antike: Herodot, Platon, Aristoteles, Cicero. Eingeleitet, ausgewählt und interpretiert von K. Roth. In: P. Massing/G. Breit (Hg.), Demokratietheorien, 13–51. 3 Vgl. W. Nestle, Vom Mythos zum Logos; B. Snell, Die Entdeckung des Geistes; J.-P. Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens; ders., Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Zur kritischen Infragestellung der von Nestle konstatierten Entwicklung vgl. R. Buxton (Hg.), From Myth to Reason? 2

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II. Philosophie und Politik in der Polis

nes neuartigen „Könnens-Bewußtseins“,4 das sich in einer noch nie gesehenen und nie wieder erreichten kulturellen Blüte manifestierte. Die Entstehung und Entwicklung der Polis ermöglichte und erzwang neue „Selbstpraktiken“ und eine neuartige „Sorge um sich“.5 Sie trieb den Selbstschöpfungs- und Zivilisationsprozeß voran, in dem die menschliche Natur gezähmt und der „identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen“ geformt und gestählt wurde.6 Das politische Denken entwand sich den Ursprungsmythen und brach ihren Bann.7 Es vollzog einen entscheidenden Akt der „Dialektik der Aufklärung“, beschleunigte den Siegeszug des Logos über den Mythos und beförderte so die „Entzauberung der Welt“,8 die daher neue Formen der Sinnfindung verlangte und alsbald nach einer Wiederverzauberung lechzte. „Der Niedergang des Mythos beginnt mit dem Tag, an dem die ersten Weisen die Ordnung der menschlichen Gesellschaft zur Diskussion stellten und den Versuch unternahmen, sie aus sich selbst heraus zu begründen, sie mit dem menschlichen Verstand zugänglichen Formeln zu beschreiben und die Norm der Zahl und des Maßes auf sie anzuwenden. So entstand ein bestimmtes, außerreligiöses und spezifisch politisches Denken mit seinem eigenen Vokabular, seinen Begriffen, seinen Prinzipien und seinen theoretischen Auffassungen“.9

Das politische Denken der Griechen erwuchs in und aus der politischen Praxis, nicht in theoretisch-philosophischen Systemen. Diese kamen vielmehr post festum – nach dem alten Hegelschen Motto: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“.10 Als die großen philosophischen Systeme von Platon und Aristoteles entstanden, war es bereits vorbei mit der „schönen glücklichen Freiheit der Griechen“ (Hegel). Platon (427–347 v. Chr.) und sein Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) schauten bereits zurück auf die Hochphase der Polis und auf die Blüte der athenischen Kultur. Sie selbst lebten in der Phase des Niedergangs und des Verfalls, die mit dem Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) einsetzte und mit dem Siegeszug Philipps II. von Makedonien und Alexanders des Großen (338 v. Chr.) endete.11 Anders die großen Tra4 Vgl. C. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 435 ff. (bes. S. 484 ff.); ders., Athen, S. 470 ff. 5 Vgl. M. Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. 6 M. Horkheimer/T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 33. 7 Vgl. P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, S. 16 ff., 24 ff.; K. Heinrich, anthropomorphe. Dahlemer Vorlesungen. Bd. 2, bes. S. 87 ff. 8 Vgl. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594. Siehe dazu unten den Abschnitt „Nietzsches Mutmaßungen über den Zusammenhang von Philosophie und Politik und über den Niedergang der griechischen Kultur“ (S. 146 ff.). 9 J.-P. Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, S. 133. 10 G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, Vorrede. HW 7, S. 28. 11 Daß es sich beim vierten Jahrhundert um eine Verfalls- und Niedergangsphase handelt, ist in der heutigen Literatur indes umstritten. Vgl. unten Kap. III. 2.

1. Begriff und Gestalt der Polis

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gödiendichter Aischylos und Sophokles. In ihrem Werk reflektieren sich die Brüche und Umbrüche, die die Entwicklung der Polis und die Etablierung und Festigung der Demokratie begleiteten.12 Anders auch die Vorsokratiker, die dem Mythos den Kampf ansagten und die Erscheinungswelt auf rationale Prinzipien zurückführten.13 Der Aufstieg, die Konsolidierung und der schließliche Niedergang der Polis reflektiert sich in der Abfolge der literarischen Quellen: von Homer und Hesiod über die vorsokratische Philosophie, die klassische Tragödie und die Geschichtswerke von Herodot und Thukydides bis hin zu den Fragmenten der Sophisten und schließlich zur Politischen Philosophie von Platon und Aristoteles.14

1. Begriff und Gestalt der Polis Der Ausdruck Polis wird gewöhnlich übersetzt mit „Stadtstaat“ oder nur mit „Stadt“ oder „Staat“. Diese Übersetzungen sind allesamt nicht glücklich, weil sie dazu verleiten, Merkmale späterer Ordnungen in einer frühen Ordnungsform zu suchen, die von ganz anderer Gestalt war. Die Polis war weder ein „Staat“ noch eine „Stadt“ im modernen Sinne, und die Rede von „Stadtstaaten“ erinnert an spezifische Privilegien und Formen kommunaler Selbstverwaltung im Rahmen heutiger Staaten, assoziiert daher Vorstellungen, die dem Verständnis nicht dienen, die vielmehr in die Irre führen. Die Polis war kein Staat,15 weil in ihr die entscheidenden Wesensmerkmale der Form Staat (Souveränität nach innen und nach außen, Trennung von Kirche und Staat sowie von Gesellschaft und Staat, 12 Vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 144 ff.; ders., Politik und Anmut; ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie; W. Schadewaldt, Die griechische Tragödie. 13 Vgl. W. Capelle (Hg.), Die Vorsokratiker; H. Diels/W. Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker; W. K. C. Guthrie, Die Griechischen Philosophen; ders., A History of Greek Philosophy; W. Kranz, Die griechische Philosophie; G. S. Kirk/J. E. Raven/ M. Schofield, Die Vorsokratischen Philosophen; F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen; W. H. Pleger, Die Vorsokratiker; W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen; G. Thomson, Die ersten Philosophen, S. 125 ff. 14 Vgl. die Überblicksdarstellungen von K. Rosen, Griechenland und Rom; K. Raaflaub, Die Anfänge des politischen Denkens; ders., Politisches Denken im Zeitalter Athens; R. Bubner, Polis und Staat, S. 29 ff.; A. Demandt, Der Idealstaat; A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2; H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1; P. Weber-Schäfer, Einführung in die antike politische Theorie; E. Voegelin, Order and History. Bd. 2 u. 3; ferner die Kapitel zu Platon und Aristoteles von J. Annas und P. Spahn in: I. Fetscher/H. Münkler (Hg.), Handbuch. Bd. 1, 369–437 sowie von H. Kuhn und P. Weber-Schäfer in: H. Maier u. a. (Hg.), Klassiker. Bd. 1, 1–63. 15 Vgl. hingegen K.-W. Welwei, Die griechische Polis, S. 9 ff. Obgleich er die Differenz zwischen beiden Organisationsformen erfaßt hat, meint Welwei dennoch, der moderne Staatsbegriff lasse sich auf die antike Polis übertragen, weil „ihre innere Ordnung als Mittel zur Erreichung gemeinsamer Ziele und zur Durchführung gemeinsamer Aufgaben der Bürgerschaft diente“ (S. 10). Diese Feststellung konterkariert die eindringlichen und materialreichen Analysen des ansonsten überaus verdienstvollen Buches. Vgl. auch ders., Polis und Arché.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Konzentration und Verselbständigung der politischen Entscheidungsgewalt, stehendes Heer und Bürokratie) fehlten. Der Ausdruck Stadt ist zu unpräzise, weil die Polis auch das „Hinterland“ und nicht nur das städtische Zentrum umfaßte.16 Da kein deutsches Synonym vorhanden ist, sollte auf eine Übersetzung verzichtet werden. Es handelt sich bei der antiken Polis weder um eine „Festung“ oder „Burg“ noch um eine „Marktansiedlung“,17 sondern vielmehr um die historisch einmalige Organisation einer Bürgergemeinde, einer staatsfreien Verbands- und Handlungseinheit, die über den Familien und den natürlichen Abstammungs- und Kultgemeinschaften, den Phylen und Phratrien, angesiedelt war und von den freien Bürgern (männlichen Geschlechts) konstituiert und verwaltet wurde. Die Polis war weder das bloße Gebiet einer Stadt noch ein verselbständigter politischer Apparat, sondern die autarke Bürgerschaft, die sich selbst bestimmte und regierte. Zwar verfügte sie über eine Befestigung und einen Markt, zwar spielten neben militärischen18 und wirtschaftlichen19 auch religiöse und kultische Motive20 eine bedeutende Rolle bei ihrer Entstehung, doch wurde die antike Schwurgemeinschaft erst zur Polis durch die Politisierung der Bürgerschaft, die ein eigenes Gericht und eigenes Recht entwickelte, sich selbst verwaltete und dabei Verbandscharakter sowie Autonomie und Autokephalie erlangte.21 „Die Polis war kein Ort, wenn sie auch ein bestimmtes Areal einnahm; sie war Volk, 16 Dies betont zu Recht M. I. Finley, The Ancient City. Daß dem Hinterland im Verbund der griechischen Polis oder der römischen Civitas nur geringes politisches Gewicht zukam, betont hingegen E. Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, S. 17. Vgl. ferner M. Hammond, The City in the Ancient World; R. Martin, L’urbanisme dans la Grèce antique; L. Mumford, The City in History; E. C. Welskopf (Hg.), Hellenische Poleis. 17 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Teil, IX.7 (Typologie der Städte), S. 727–814. 18 Vgl. auch H. Bengtson (Hg.), Griechen und Perser, S. 11 ff.; Meier, Athen, S. 7 ff.; O. Murray, Das frühe Griechenland, S. 159 ff.; Vernant, Mythos und Gesellschaft, S. 27 ff. 19 Vgl. M. I. Finley, Die antike Wirtschaft; ders., Das politische Leben in der antiken Welt, S. 11 ff.; P. Spahn, Mittelschicht und Polisbildung; Thomson, Die ersten Philosophen, S. 143 ff.; Vernant, Mythos und Gesellschaft, S. 11 ff. 20 Vgl. N. D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat; A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin. Bd. 1, S. 55 ff. Nach Fustel de Coulanges ist die Polis (wie die römische Civitas) primär ein Zusammenschluß der Familien und überkommenen Kultverbände zu einem neuen, übergreifenden Kultverband. Die noch aus der Zeit der alten Stammesverbände existierenden Phratrien, Phylen und Kurien „verbrüdern“ sich, schließen sich zusammen, indem sie gemeinsame Stadtgottheiten über ihren einzelnen Göttern einsetzen (S. 157 ff.). Die olympischen Götter waren jedoch von vornherein überfamiliale, ethnien-, phratrien- und phylenübergreifende Gottheiten. 21 Dies sind die Merkmale, die nach Max Weber (WuG, S. 736) die „Stadtgemeinde“ im vollen Sinn des Wortes auszeichnen, die als Massenerscheinung nur der Okzident gekannt habe. Vgl. dazu C. Meier (Hg.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zu den „politischen“ Gründen der Polisbildung vgl. auch T. Hölscher, Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten.

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das gemeinsam handelte und deshalb in der Lage sein mußte, sich zu versammeln und sich mit seinen Problemen direkt auseinanderzusetzen“.22 Und just in der Versammlung des Volkes, in der Beratung und Verständigung über die kollektiven Ziele und Aktivitäten, im Streit über die richtigen Wege, in der Auseinandersetzung über die erwünschten Formen und Institutionen des Gemeinwesens, kurz: im Kampf der Meinungen und Waffen, der Faktionen und Interessen ereignete sich die Politik im klassisch-griechischen Sinne. In diesem Kampf entschied sich auch, welche Regierungsform institutionalisiert wurde, ob eine Monarchie, eine Aristokratie, eine Demokratie oder ein mixtum compositum aus allen drei Formen. Folglich war die Polis alles andere als eine harmonische Gemeinschaft, ein Hort der Ruhe und des Friedens, der Eintracht und des „ewigen Gespräches“. Sie zeichnete sich vielmehr aus durch Aggressivität und Militanz. Anstatt dem Bürger Freiheits- und Rückzugsrechte zu gewähren, verpflichtete sie ihn zu den unterschiedlichsten Aktivitäten und nahm ihn vollauf in Dienst.23 Wer sich dem politischen Leben verweigerte, verlor seine Bürgerrechte, wurde als „Idiot“, als Eigenbrötler betrachtet und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.24 Nicht kommunikatives, sondern strategisches Handeln, nicht diskursive „Verständigung“, sondern der Kampf der Argumente und Waffen dominierte den politischen Prozeß. Nicht Friede und Eintracht, sondern der Bürgerkrieg, die stasis, stand im Zentrum der Polis und war „grundlegend für das Politische, gerade sofern dieses auf Gemeinschaft zielt(e)“.25 Der Konflikt, der Streit, der Kampf wurde als „Vater aller Dinge“ (Heraklit) betrachtet.26 Schon unter Solon legte ein Bürgerrechtsgesetz für Athen verbindlich fest, daß derjenige, der während eines Aufruhrs in der Stadt nicht für eine der beiden Parteien zu den Waffen greift, seine Ehre und seine bürgerlichen Rechte verliert und aus der Gemeinde ausscheiden muß.27 Bereits die alten Griechen wußten also, daß der Streit nicht nur destruktive Folgen, sondern zugleich sehr nützliche und konstruktive Funktionen hat. Er dient nicht nur der Befriedigung des Herreninstinkts im Sinne Nietzsches, son-

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M. I. Finley, Die Griechen, S. 39. Vgl. auch F. Tomberg, Polis. Vgl. P. Veyne, Kannten die Griechen die Demokratie?, S. 13 ff.; N. D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat, S. 304 ff.; J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, S. 77; ders., Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 88 f. 24 Vgl. die berühmte Leichenrede des Perikles in: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg II, 40. (S. 145): „Wir sind die einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern für ein unnützes Mitglied desselben halten.“ 25 N. Loraux, Das Band der Teilung, S. 34 f. Vgl. auch H.-J. Gehrke, Stasis. 26 Herakleitos, fr. 53. In: Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker (= DK) [W. Capelle, Die Vorsokratiker, fr. 29]. Vgl. auch DK fr. 80/Capelle, fr. 30, S. 135: „Man muß wissen, daß der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und daß alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt.“ 27 Aristoteles, Athenaion Politeia, 8. (S. 15). Vgl. N. Loraux, Das Band der Teilung, S. 39. 23

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dern auch der Sozialintegration im Sinne Durkheims. Indem wir streiten, befassen wir uns miteinander und verhindern so die Auflösung der Sozietät in allgemeine Lethargie und Langeweile. Der Streit wird dadurch zum stabilisierenden Faktor und zugleich zum Motor der sozialen Dynamik und Veränderung.28 Er knüpft das „Band der Teilung“ und hält die auseinanderstrebenden Elemente durch „gegenstrebige Fügung“ [palintropos harmoniê] (Heraklit) zusammen.29 „Der Konflikt, in der gebändigten Form des agôn, macht bereits die Mitte der Polis aus“.30 Allerdings fehlten auch die Gegenkräfte nicht. Als Antidot zum Streit (neikos) entdeckte Empedokles die Freundschaft und die Liebe (philía), die ihrerseits dem Streit den Kampf ansagt und von Zeit zu Zeit die Oberhand gewinnt.31 Obgleich die Polis demnach keine Spielwiese für schüchterne Naturen war, sondern eine Bühne der Eristik, ein Tummelplatz der Eitelkeiten, ein Schauplatz nicht nur der Machtentfaltung, sondern auch der Gewalt,32 wurde im Übergang vom sechsten zum fünften vorchristlichen Jahrhundert das Politische, wie vor allem Christian Meier in immer neuen Anläufen zu zeigen sucht,33 zum Lebensmittelpunkt der freien Bürger männlichen Geschlechts. Im Gefolge der Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) wurde in Attika die bürgerliche Selbstverwaltung institutionalisiert und mit der Isonomie eine Vorform der Demokratie realisiert. Infolge des Jonischen Aufstandes (500–494) und der Perserkriege (490–479) festigte sich die Bürgeridentität, die auf der Partizipation breitester Schichten basierte. Durch den Sieg über die Perser wurde die griechische Freiheit gesichert und die Überlebensfähigkeit, ja Überlegenheit der autarken Poleis erwiesen. Die Polis erstrahlte in neuem Glanz, der die Bürger zu gesteigertem Engagement anstachelte. Die Politik avancierte zu einem eigenständigen und autonomen Betätigungsfeld, dem eine höhere Dignität zugesprochen wurde als der Sphäre der materiellen Produktion und Reproduktion, der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz.34 Das Politische erzeugte seine eigenen Methoden und Gesetze und wurde zu einer autonomen Stätte der menschlichen 28 Vgl. dazu G. Simmel, Soziologie, 284–382; L. A. Coser, Theorie sozialer Konflikte; R. Dahrendorf, Die Funktion sozialer Konflikte. 29 Herakleitos, DK fr. 51/Capelle, fr. 27, S. 134. Vgl. auch DK fr. 8/Capelle, fr. 25, S. 134. 30 N. Loraux, Das Band der Teilung, S. 37. Zu Heraklit vgl. ebd., S. 45 ff., bes. S. 53. 31 Vgl. Empedokles, DK fr. 20 f., 35, 58 f./Capelle, fr. 24 ff., S. 197 ff.; Kirk/Raven/ Schofield, Die Vorsokratischen Philosophen, S. 326 ff. 32 Zur Unterscheidung beider vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 44 ff.; dies., Über die Revolution, S. 232 ff. Dazu J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht. Zum Machtbegriff siehe auch die Übersicht von H. Fink-Eitel, Dialektik der Macht. 33 Vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 247 ff.; ders., Die politische Kunst, bes. S. 19 ff.; ders., Athen, bes. S. 182 ff.; ders., Bürger-Identität und Demokratie. 34 Siehe dazu unten den Abschnitt über „Poiesis, Praxis und Theoria bei Aristoteles“ (S. 136 ff.).

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Selbstverwirklichung und Selbststeigerung, in der mehr Anerkennung, Ruhm und Ehre erlangt werden konnte als in anderen Handlungsfeldern. In diesem Kontext wurde der klassisch-griechische Politikbegriff gebildet,35 der auf die unterschiedlichsten Aktivitäten der Bürgerschaft zielte und all das umfaßte, was die Gründung, Einrichtung, Instandhaltung und Aktivierung der Polis betraf. Politik ereignete sich und bestand in der Teilnahme der Bürger an der Selbstverwaltung und Organisation der Polis, die sich in verschiedene Unterabteilungen gliederte und durch mannigfache Institutionen stabilisierte.36 Mit dem Begriff des Politischen wurde jener Raum bezeichnet, der in der Kommunikation und Interaktion der freien Bürger aufgespannt wurde. Mit ihm bezeichneten und erfaßten die Griechen das, was alle anging, die öffentlichen Angelegenheiten. Der Ausdruck politisch „zielte auf die Sache aller“, war folglich gleichbedeutend mit „allgemein“. Der Gegensatz dazu hieß „privat“, „selbstbezogen“, „eigennützig“. Ferner stand er im Gegensatz zu „despotisch“, „ja zu allen Formen der Herrschaft Weniger über Viele“ (S. 27). Politik meinte die Selbstbestimmung der Bürgerschaft und tendierte daher aus sich heraus in Richtung Isonomie und Demokratie. „Das Politische“, so faßt Meier die Ergebnisse seiner Untersuchungen zur klassischen Zeit zusammen, „war der prall erfüllte Lebensbereich nicht einer Gesellschaft im neuzeitlichen Sinne . . ., sondern von Bürgerschaften, die sich mit dem Gemeinwesen identifizieren“ (S. 43). „Man hatte keinen Staat, keine Regierung, keine Instanzen, auf die man sich (selbst wenn man es anders gewußt hätte) hätte verlassen können. Keine (oder fast keine) Polizei, keinen Apparat, auch keine öffentlichen Schulen; überall lag die Verantwortung bei und in und zwischen den Bürgern; lediglich die Ausführung der Beschlüsse wurde Einzelnen übergeben (und vielfach kontrolliert)“.37 Voraussetzung dafür und für das Engagement breiter Bürgerschichten war die Existenz von Sklaven, die für die Subsistenz zu sorgen hatten. Funktionsbedingung der Polis und der athenischen Politik war ferner der Ausschluß von ortsansässigen Fremden (Metöken) sowie von Frauen, denen jegliches Bürgerrecht verweigert wurde. Frauen hatten – als Mädchen, Gattinnen und Mütter – ihre Pflichten im Oikos, im privaten Haushalt, zu erfüllen. Ihre Abwesenheit war conditio sine qua non der männlichen Politik wie der Politischen Philosophie – nicht nur in der Antike, sondern in der gesamten Geschichte des Abendlandes.38 Sie wur35 Vgl. zum folgenden Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 12 ff., 27 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 36 Zur politischen Ordnung Attikas im allgemeinen und zu den politischen Organisationsformen der Demokratie im besonderen vgl. J. Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 79 ff., 128 ff. 37 Meier, Die politische Kunst, S. 8 f. 38 Vgl. S. Benhabib/L. Nicholson, Politische Philosophie und Frauenfrage; E. Conradi, Ist der Ausschluß von Frauen für die traditionelle Demokratietheorie grundlegend und wie wird er gerechtfertigt?

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II. Philosophie und Politik in der Polis

den von allen öffentlichen Plätzen und Angelegenheiten ferngehalten.39 Selbst ihr Schmerz und ihre Trauer, ihre Totenklage über den Verlust der Väter, Brüder, Männer und Söhne in den endlosen Kriegen, wurde von der agora auf den Friedhof und in den Raum der Familie verbannt.40 Selbst ihre Opferung und rituelle Hinrichtung in der Tragödie wurde nicht auf der Bühne gezeigt, sondern in Erzählungen gebannt.41 Das Politische bestand in der Verselbständigung und Auslagerung eines spezifischen Handlungsfeldes aus dem natürlichen Lebenszusammenhang.42 Die Polis basierte auf der Abdrängung der materiellen, der wirtschaftlichen Angelegenheiten in den Oikos.43 Schon bei Homer zeichnete sich die Trennung beider Sphären ab, die dann bei Hesiod, Solon und Aischylos immer klarer konturiert und schließlich von Aristoteles theoretisch begründet wurde.44 Mit den wirtschaftlichen Belangen wurde zugleich die Herrschaft in den Oikos verlagert. Die Politik ereignete sich im Zusammentreffen Freier und Gleicher, die durch keinerlei Über- und Unterordnungs-Verhältnisse miteinander verbunden waren. Sie war charakterisiert durch die Abwesenheit von Herrschaft (im Sinne Max Webers), d. h. durch das Fehlen von Befehls-Gehorsams-Beziehungen.45 Die Herrschaft hatte ihren Ort in der vorpolitischen Sphäre der Familie, im Oikos, der alles umfaßte, was zum antiken „Haushalt“ gehörte. Hier herrschten die Hausvorsteher als Despoten über ihre Frauen, Kinder und Sklaven.46 Der politische Bereich hingegen wurde von freien und gleichen Bürgern konstituiert und ausgefüllt. Regenten spielten in ihm die Rolle von Primi inter Pares, die vielfach kontrolliert und in der Regel nur auf Zeit gewählt oder durchs Los bestimmt wurden.

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Vgl. C. Mossé, La Femme dans la Grèce Antique; N. Loraux, Les expériences de Tirésias. Daß die Trennung von männlicher und weiblicher Lebenssphäre keine prinzipielle Einschließung der Frauen bedeutete, betont hingegen C. Schnurr-Redford, Frauen im klassischen Athen. 40 Vgl. N. Loraux, Die Trauer der Mütter. 41 Vgl. N. Loraux, Tragische Weisen, eine Frau zu töten. Allerdings wurden auch Opferungen und Hinrichtungen von Männern in der Regel nicht auf der Bühne gezeigt. Eine Ausnahme dürfte der Freitod des Aias in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles gewesen sein. 42 Vgl. C. Meier, Entstehung des Begriffs ,Demokratie‘, S. 20 ff. 43 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 31 ff. 44 Vgl. P. Spahn, Mittelschicht und Polisbildung; ders., Oikos und Polis; ders., Die Anfänge der antiken Ökonomik; W. J. Booth, Politics and the Household; P. Koslowski, Zum Verhältnis von Polis und Oikos bei Aristoteles. 45 Vgl. H. Arendt, Vita activa, S. 34 f.; dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 182 ff. Zum Begriff der Herrschaft vgl. M. Weber, WuG, S. 28, 541 ff. 46 Vgl. Aristoteles, Politik, I. Buch, 1253 b 1 ff., bes. 1255 b 16 ff.

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a) Der Prozeß der Polisbildung Die Polis existierte nicht von Anfang an und ist nicht mit einem Schlag entstanden. Sie hat sich vielmehr aus gesellschaftlichen Verhältnissen herausentwikkelt, die gänzlich unpolitisch waren, die nicht auf der Partizipation der Bürger, sondern auf „Herrschaft“ gründeten und Formen des „Despotismus“, der „Tyrannei“, der „Aristokratie“ usw. realisierten.47 Das Politische der Griechen entstand zu einer relativ späten Zeit. Es entwickelte sich zwischen dem achten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert, in der archaischen Zeit. Bis zum 10. bzw. zum 9. Jahrhundert war Griechenland in unterschiedliche Stämme integriert (Ionier, Äolier/Achaier, Dorer), die von Königen oder Häuptlingen, d. h. von Stammesfürsten regiert wurden. Im 10. bzw. 9. Jahrhundert zersplitterten die Stämme – außer in Attika, wo Athen die Verselbständigung der einzelnen Gegenden unterdrückte. Zwar sind zuverlässige Informationen über das „dunkle Zeitalter“ rar, doch darf als sicher angenommen werden, daß die Monarchie allmählich verfiel und daß jeweils eine Gruppe adeliger Geschlechter an ihre Stelle trat, d. h. daß Aristokratien oder Oligarchien entstanden, in denen die Könige nurmehr die Rolle von Primi inter Pares spielten (so es sie überhaupt noch gab). In Athen beispielsweise lag die Macht im 7. Jahrhundert bei einer relativ exklusiven Gruppe von Adeligen bzw. Adelsgeschlechtern, den Eupatriden, die alle wichtigen Institutionen der Polis beherrschten.48 Der Polis voraus ging die Geschlechterstadt, wie sie in den Epen Homers und bei Hesiod begegnet. Die Gesellschaft, die Homer zeichnet,49 setzt sich zusammen aus Königen und Adeligen, die viel Land und zahlreiche Herden besitzen und die als Kriegshelden leben. Im Mittelpunkt ihres Wirkens stand die adlige Hofhaltung und die Kriegführung. Für die Subsistenz und für die materielle Reproduktion hatten andere zu sorgen. Das Volk hingegen erscheint bei Homer so gut wie gar nicht. Es bildet in den Epen eine struktur- und formlose Masse, der keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Könige ragen kaum heraus aus der lokalen Aristokratie. Und der Adel hat sich noch nicht oder nur in sehr geringem Maße auf den gemeinsamen, also den politischen Bereich hin orientiert. Er ist fixiert auf den eigenen Oikos, auf den privaten Haushalt. Die eigentliche Lebensund Handlungseinheit bilden die einzelnen Haushalte der Stammesverbände, während übergreifende Einheiten kaum in Erscheinung treten.

47 Einen prägnanten Überblick zur griechischen Geschichte, zu Grundproblemen und Tendenzen der Forschung sowie ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis bietet W. Schuller, Griechische Geschichte. 48 Vgl. Spahn, Mittelschicht, S. 114 ff.; Schuller, Griechische Geschichte, S. 10 ff. (zur Forschungslage: S. 103 ff.; weitere Literatur: S. 164 ff., 193 ff.). Zur Entwicklung außerhalb Athens und Spartas siehe auch H.-J. Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta. 49 Vgl. M. I. Finley, Die Welt des Odysseus; ders., Die Griechen, S. 12 ff.; Spahn, Mittelschicht, S. 29 ff.

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Der griechische Adel gründete seine Herrschaft auf konkrete, und zwar primär ökonomische Überlegenheit.50 Das Verhältnis der Fürsten zu den Untertanen und zueinander „beruhte nicht auf einem gesetzlichen Zustand, sondern auf der Übermacht des Reichtums, des Besitzes, der Bewaffnung, der persönlichen Tapferkeit, auf dem Vorzug der Einsicht und Weisheit und endlich der Abstammung und der Ahnen“.51 Das einzig Verbindende der Heerführer und ihrer Gefolgschaften scheint die gemeinsame Kriegführung gewesen zu sein, die aber, wie die Ilias zeigt, so gemeinsam gar nicht war und kaum durch Absprachen koordiniert wurde. Die hehren Krieger, Agamemnon, Achilleus, Odysseus u. a. metzelten jeweils für sich an verschiedenen Plätzen Scharen ihrer Gegner nieder im ersten Völkermord der Weltgeschichte.52 Und als der Kriegsheld Odysseus in seine Heimat zurückkehren wollte, mußte er erst von den mythischen Mächten geschliffen werden, die ihm den Kriegspanzer vom Leibe rissen und ihn durch allerlei Gefahren und Prüfungen allmählich auf die Rückkehr und die Wiedereingliederung ins Gemeinwesen der alten Geschlechterstadt vorbereiteten.53 So vor- und zubereitet für das friedliche Zusammenleben, konnte er dann – im Aias des Sophokles – zum Protagonisten der Polisordnung werden, die er – im Theater zurückversetzt ins griechische Lager bei Troja, doch eigentlich auf der agora in Athen postiert – gegen die Atriden, gegen Agamemnon und Menelaos, verteidigt, indem er die endlose Kette des Hasses durchbricht, die aristokratischen Prinzipien der Freundund Feindschaft verwirft und sich für die Bestattung der Leiche seines größten Feindes Aias einsetzt.54 Politische Strukturen im vollen Wortsinn existieren also bei Homer noch nicht. Die Menschen sind eingebunden in eine lange Geschlechterkette, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine ideelle Ordnung vermittelt. Politische Strukturen entstehen erst seit dem 8. und dann verstärkt im 7. und 6. Jahrhundert, in der archaischen Zeit. Es entwickelt sich nun eine große Zahl festgefügter Gemeinwesen, die bei Homer noch gänzlich fehlten. Der Prozeß der Polisbildung bestand – wie Peter Spahn (1977) betont – in der allmählichen Ausweitung des gemeinsamen Bereichs auf Kosten des jeweils eigenen, privaten Bereichs. Er bestand in der Politisierung der Bürgerschaft, in der Entstehung und Entwicklung eines gemeinsamen Handlungsfeldes und einer gemeinschaftlichen Aufgabe. Zeugnis dafür legen die Schriften Hesiods ab, speziell Werke und Tage,55 worin 50

Vgl. Spahn, Mittelschicht, S. 46 f.; Finley, Das politische Leben, S. 61 ff. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 282. 52 Vgl. Homer, Ilias, bes. XI. Gesang. Zum Topos „Völkermord“ vgl. P. Furth, Troja hört nicht auf zu brennen, S. 13. 53 Vgl. H. Geyer-Ryan/H. Lethen, Von der Dialektik der Gewalt zur Dialektik der Aufklärung. 54 Vgl. Sophokles, Aias, 1316 ff. [Die Tragödien, S. 47 ff.]. Dazu auch Meier, Die politische Kunst, S. 193 ff.; Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 204 ff. 55 Vgl. Hesiod, Werke und Tage. 51

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Hesiod die Probleme und Nöte der Bauern thematisiert. Kurt Raaflaub faßt den Inhalt der beiden großen Werke Hesiods wie folgt zusammen:56 „Die Theogonie schildert die Entwicklung der Welt bis hin zur Machtergreifung des Zeus, der alle Mächte des Bösen, der Gewalt und der Überheblichkeit besiegt hat. Seine Herrschaft verbürgt Gerechtigkeit, Wohlordnung und Frieden. . . . Die Werke und Tage ergänzen diese Darstellung um die irdische Dimension, stellen dem idealen Bild der olympischen Götterwelt und der in jeder Beziehung guten Monarchie des Zeus die Realität der Menschenwelt und der korrupten Adeligen gegenüber. Am Vorherrschen von Übel in der Welt sind die Menschen (bzw. ursprünglich ihr göttlicher Vorkämpfer, Prometheus) selber schuld. . . . Die Verantwortung für eine Verbesserung der Zustände in der Menschenwelt liegt also bei den Menschen selber.“

Damit ist der Niedergang des Mythos und die Entstehung des polito-logischen Denkens eingeleitet. Schon in der Ilias sahen sich die Helden nicht mehr wüsten Kräften ausgesetzt, sondern den mit menschlichen Eigen- und Leidenschaften ausgestatteten olympischen Göttern, die ihnen eine wohlgeordnete und sinnvolle Welt vermittelten.57 Homer und der Verfasser der Theogonie hatten den Griechen ihre Götter gegeben,58 hatten diesen aber, wie Xenophanes moniert, alle seinerzeit denk- und beobachtbaren menschlichen Schwächen, Übel und Launen zugeschrieben, vom Diebstahl über den Ehebruch bis zum Betrug.59 In ihnen spiegelten sich die Sitten und Gebräuche der griechischen Aristokratie. Von diesen Göttern konnte keine Rettung erwartet werden. Man mußte sich stattdessen auf sich selbst besinnen. Nunmehr, mit den Werken und Tagen, wendet der Mensch den Blick auf sich zurück und wird sich des Elends bewußt, das von den anthropomorph-aristokratischen Göttern nur verschleiert worden war. Die Götter bringen keine Lösung mehr, die Menschen sind für ihre Probleme und Nöte selbst verantwortlich und müssen ihre Verhältnisse durch eigene Aktivitäten in Ordnung bringen. Da diese Aufgabe aber die Möglichkeiten der einzelnen und selbst der mächtigsten Familien übersteigt, bedarf es dafür kollektiver Anstrengungen. Man mußte erkennen, daß die anstehenden Probleme nur durch Gemeinschaftsinitiativen zu bewältigen waren. Diese Erkenntnis war Resultat eines langwierigen, von den materiellen Lebensverhältnissen erzwungenen Lernprozesses, der sich seit der Mitte des 7. Jahrhunderts anbahnte, als die Adelsherrschaft in eine schwere Krise geriet, die Bürgerkrieg und eine Politisierung breitester Schichten zur Folge hatte. Die Philosophie, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts aufkam, beschäftigte sich zu dieser Zeit noch nicht direkt mit den menschlichen Angelegenheiten. Sie hatte „Wichtigeres“ zu tun und suchte nach festen Prinzipien für die Erklärung der 56

K. Raaflaub, Die Anfänge des politischen Denkens, S. 223 (cf. S. 215 ff.). Vgl. B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 13–44, bes. S. 29. 58 Herodot, Historien II,53. (S. 124). Dazu Heinrich, anthropomorphe, S. 37 ff. 59 Vgl. Xenophanes, DK fr. 11/Capelle fr. 22, S. 121. Dazu Heinrich, anthropomorphe, S. 82 ff., 99 f. Ferner Platon, Politeia. II. Buch, bes. 377 c ff. (IV, S. 147 ff.). 57

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Welt im ganzen, die sie dem alten Mythos entwand. An die Stelle der nach menschlichem Selbst- und Idealbild konstruierten olympischen Götter setzte sie die Kräfte und Gewalten der Natur und die Prinzipien des mathematisch-logischen Denkens (Zahl, Maß etc.). Im Mittelpunkt der ionischen Naturphilosophie (Thales, Anaximander, Anaximenes) und der Philosophie des Pythagoras standen Seins- und Kosmosspekulationen, die ohne die alten Götter auszukommen suchten. Die drei Milesier griffen die Prinzipien der Theo- und Kosmogonien auf, entfernten die Götter aus ihnen und „säkularisierten“ das Denken, indem sie es von seinen mythischen Bestandteilen befreiten. Den Ursprung der Welt erblickten sie im „Wasser“ (Thales), im „Unendlichen“ oder „Unbestimmten“ [apeiron] (Anaximander) bzw. in der „Luft“ (Anaximenes), während Pythagoras und seine Schüler die Welt in Zahlenverhältnisse auflösten.60 Den Grund für die politische Enthaltsamkeit der älteren Philosophen hat Nietzsche darin ausgemacht, daß sie sich um die Schaffung einer panhellenischen Gesinnung bemühten und gegen die Polis und ihren Mythos kämpften. Tatsächlich hat Thales einen Städtebund vorgeschlagen, „die Gründung einer Eidgenossenschaft von Städten“, während Heraklit die griechische Isolierung befürchtete und eine überhellenische Weltordnung erstrebte.61 Erst die Späteren, erst Empedokles, Demokrit und die Sophisten fanden sich mit der Existenz der Polis ab und kämpften für ihre Reform und Stabilisierung. Die Philosophie – als Form der Theoria, als neuartige Form der Weltbetrachtung – wurde, wie das Politische, von den Griechen erfunden. Sie hat sich in Konkurrenz mit dem alten Mythos entfaltet. Der Übergang vom Mythos in den Logos und das Verhältnis zwischen beiden bleibt prekär. Joachim Ritter hat darauf hingewiesen, daß Theoria in ihren griechischen Ursprüngen Theologie war, das Sagen vom Göttlichen.62 Nichts anderes war der alte Mythos, der das Erfahrungsmaterial strukturiert und in eine gedankliche Ordnung gebracht hatte. Seine Funktion war es, „Modelle zu offenbaren und damit der Welt und dem menschlichen Dasein eine Bedeutung zu verleihen“.63 Entstanden als sprachliche Fixierung und Artikulation dessen, was im Ritus praktiziert und erstrebt wurde,64 hatte er die irdischen Erscheinungen auf ihren göttlichen Grund und Ursprung zurückgeführt und dadurch einen ideellen Zusammenhang geschaffen, aus dem 60 Vgl. Capelle, S. 67 ff.; W. K. C. Guthrie, Die Griechischen Philosophen, S. 19 ff.; Hegel, Vorlesungen I. HW 18, S. 173 ff.; C. H. Kahn, Anaximander; Kirk/Raven/Schofield, Die Vorsokratischen Philosophen, S. 84 ff.; W. Röd, Die Philosophie der Antike 1; Thomson, Die ersten Philosophen, S. 125 ff.; Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie, S. 213 ff. 61 F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, S. 192 f. 62 J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. In ders., Metaphysik und Politik, 9–33; bes. S. 14 ff. 63 M. Eliade, Mythos und Wirklichkeit. Vgl. C. Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung. 64 Vgl. A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 219, 222.

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heraus die Menschen sich verstehen konnten.65 Sie konnten sich als Glieder einer endlosen Kette begreifen und ihrem Handeln dadurch Sinn zusprechen, daß sie sich als Teil des Kosmos verstanden und in den Zusammenhang des Ursprungsgeschehens einordneten. Das Wesen des Mythos besteht in der Genealogie,66 d. h. in der Zurückführung der empirischen Erscheinungen auf den bzw. ihrer Ableitung aus dem sie begründenden göttlichen Grund. Doch auch die Philosophie landete auf ihrer Suche nach letzten Ursachen stets bei einem Urgrund, den sie im „Wasser“, im „Unendlchen/Unbestimmten“, in der „Luft“, der „Zahl“ oder im „Atom“ (Leukipp, Demokrit) fand bzw. „den unbewegten Beweger“ (Aristoteles), „das Absolute“ (Schelling, Hegel) oder schlicht „Gott“ zu nennen pflegte.67 Nur wenn sie, wie im neuzeitlichen Szientismus, diese Suche vorzeitig abbricht und sich mit „zweiten Ursachen“ (Natur- und Denkgesetzen) begnügt, entgeht sie diesem logischen Zwang. Dabei kommt ihr aber das semantische Potential abhanden, das der Mythos geschaffen hatte, um die Welt mit Sinn zu belehnen und erfahrbar zu machen. Anstatt den Mythos zu beerben, sein Erklärungspotential „aufzuheben“ und zu retten, verdrängt sie die in ihm verhandelten Probleme, gibt den in ihm aufbewahrten Erfahrungsreichtum preis und treibt damit den Entzauberungsprozeß auf die Spitze. Stattdessen wäre eine „rettende Kritik“ zu praktizieren, die seine rationalen Leistungen würdigt und sein Erklärungspotential ins nicht-mythologische Weltbild transformiert.68 Aus der Einsicht, daß der Mythos „selbst ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos“ ist, läßt sich folgern, „daß die Antithese von Mythos und Vernunft eine späte und schlechte Erfindung ist, weil sie darauf verzichtet, die Funktion des Mythos bei der Überwindung jener archaischen Fremdheit der Welt selbst als eine vernünftige anzusehen“.69 Lassen wir, um den Zusammenhang zu verdeutlichen, einige Experten der Mythenanalyse sprechen: „Die Funktion der Genealogie im Mythos ist es, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete“. „Die genealogische Rückbindung an den Ursprung antwortet auf die Leben zerstörende Bedrohung, mit nichts identisch zu sein“.70 „Mythos und Religion müssen deshalb als rationale Leistungen allerersten Ranges gelten, weil sie durch eine einheitliche Erklärung der Welt Antworten boten, aus de65

Vgl. W. F. Otto, Mythos und Welt. Vgl. P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, S. 24 ff. 67 Vgl. T. Hobbes, Leviathan, S. 80: „Neugier oder Liebe zum Tatsachenwissen führt einen Menschen von der Betrachtung der Wirkung zur Erforschung der Ursache und ferner zur Erforschung der Ursache dieser Ursache, bis er zuletzt notwendig auf den Gedanken kommen muß, daß es eine Ursache gibt, der keine frühere Ursache mehr zugrunde liegt, sondern die ewig ist. Dies ist es, was die Menschen Gott nennen.“ 68 Vgl. J. Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik, S. 320, 326 f., 329. 69 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 18, 56. Vgl. auch K. Kerény, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos. 70 K. Heinrich, Parmenides und Jona, S. 12, 13 f. 66

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II. Philosophie und Politik in der Polis nen der Mensch die nötige einheitliche Orientierung seines Handelns gewinnen konnte“.71 „Die realen Ursprungsmythen der Völker, so wie sie uns überliefert sind, sprechen von sehr gefährlichen und bedrohlichen Vorgängen in der Gattungsgeschichte. Sie führen uns wahrscheinlich in die Zeit der neolithischen Revolution zurück, in der die Menschengesellschaft wie nie zuvor in den Naturhaushalt eingegriffen hat“. „. . . die Mythen sind schon so etwas wie ein Stück Selbstanalyse. Als das sollten wir sie verstehen und ernstnehmen“.72

Auch die frühen Versuche zur Begründung der Logik, der Rationalisierung von ,wenn-dann‘-Beziehungen, sind – wie die Metaphysik – zu verstehen als Versuche der Brechung von Ursprungsmythen und damit als Zurückweisung und Verdrängung der tragischen Weltsicht, wie sie im Mythos festgehalten und artikuliert war.73 Zwar haben die ersten Philosophen den Mythos beerbt und sein semantisches Potential rationalisiert und aufgehoben, doch zeichnet sich die „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ (Nietzsche) in ihrem Pessimismus bereits durch eine erstaunliche Gelassenheit aus. Wie anders sollte man den berühmten Satz des Anaximander verstehen, der Martin Heidegger zu einem fast fünfzigseitigen Aufsatz und schon Nietzsche zu längerem Nachdenken veranlaßt hat?74 Ohne Pathos, fast gleichgültig und unbekümmert, formuliert er sein allgemeines Weltgesetz: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit“ (Nietzsches Übersetzung). Wie anders sollte man die späteren Sätze Heraklits verstehen, der das Werden und Vergehen geschaut hatte und nicht nur die ewige Dauer der Welt, sondern das Sein als solches verneinte? Schon hier, im tragischen Zeitalter, bahnte sich jener Nihilismus an, der – Nietzsche zufolge – die Geschichte des Abendlandes beherrschen und bestimmen sollte. Die griechische Philosophie entsprang dem Staunen über die Wohlgeordnetheit des Kosmos. Sie ging der Frage nach, wie aus dem ursprünglichen Chaos ohne Mitwirkung der Götter Ordnung hatte entstehen können. Sie fand bei ihrer Entstehung bereits eine – vortheoretische – Weltdeutung vor, an der sie sich abzuarbeiten hatte. Sie war in ihren Ursprüngen kritische Durchdringung des Mythos und blieb bis hin zu Platon und Aristoteles kritische Hinterfragung und Läuterung der in der Polis zirkulierenden Meinungen und Mythen. Die Verleugnung ihrer Herkunft aus dem Mythos75 ist selbst Moment ihrer Seinsvergessenheit. 71

F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften, S. 298. K. Heinrich/H. Kurnitzky, Sog, S. 85, 93. 73 Vgl. K. Heinrich, tertium datur, S. 164, 187; E. Angehrn, Ursprung und Gestalt. 74 Vgl. F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, S. 21 ff.; M. Heidegger, Der Spruch des Anaximander. 75 Vgl. M. Heidegger, Der Spruch, S. 325. 72

1. Begriff und Gestalt der Polis

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Noch heute sieht sich die Philosophie aufgefordert, sich ihren Ursprung ins Gedächtnis zu rufen, sich ihrer Unselbständigkeit bewußt zu werden und ihrer – sei’s unbekümmerten, sei’s negativistischen – Haftung an mythologischen Erklärungsmustern Rechnung zu tragen: „Bevor die Reflexion in ihre Rechte tritt und die imaginativen Erzeugnisse der menschlichen Einbildungskraft auf ihre mögliche Tauglichkeit hin prüft, auswählt oder verwirft, hat der mythenbildende Instinkt des Menschen immer schon einen Deutungshorizont aufgerichtet, von dem her die einzelnen Dinge ihre Signifikanz erlangen und auf den hin sie entworfen sind“.76 „Der Logos kommt mithin als des Mythos eigener Logos zur Welt. Er ist von Geburt Mythologie, in einem der Tod und die Verinnerlichung des Mythos. Mächtig ist er als überwindendes Eingedenken seiner Abkunft. Doch ist ihm bestimmt, selbst in Gestalt des Mythos zu existieren, sobald er diesen Zusammenhang vergißt“.77

Die Rückwendung der Philosophie auf die unmittelbaren Probleme und Nöte des menschlichen Lebens und Zusammenlebens erfolgt im Zusammenhang mit der Entstehung und Konsolidierung der Polis. Polis und Politische Philosophie sind bei den Griechen gleichursprünglich. Doch erst mit dem Auf- und Abstieg der Demokratie wird diese systematisch entfaltet. Zwar werden anthropologische Fragen bereits in der weiteren Entwicklung verstärkt erörtert – von Xenophanes, Heraklit, den Eleaten und Anaxagoras –, doch rückt die Politik erst spät ins Zentrum der philosophischen Bemühungen. Kritische Reflexionen auf die soziale Lage blieben zunächst der Lyrik vorbehalten. Sie finden sich in der Mitte des 7. Jahrhunderts vor allem in den Spottgedichten des Archilochos und in den Elegien des Tyrtaios, die eine herbe Kritik des ausschweifenden adligen Lebens vortrugen.78 In der griechischen Lyrik von Alkman über Stesichoros, Ibykos und Simonides, Sappho und Anakreon bis Bakchylides und Pindar, reflektiert sich das Erwachen des Persönlichkeitsbewußtseins, das mit dem Prozeß der Polisbildung und der Entstehung des Politischen untrennbar verbunden ist.79 Erst am Ende der archaischen Zeit erheben Philosophen ihre Stimme und rufen angesichts der Zerrüttung der überkommenen Aristokratie zum Engagement fürs Gemeinwesen auf. So setzt Xenophanes – in einer Kritik der landesüblichen Wettkämpfe der Athleten – „dem individuellen Streben des Adligen nach Ruhm und Macht die Besinnung auf das kollektive Wohl der Polis entgegen“.80 Dagegen wiederum setzt Heraklit, voller Verachtung fürs Volk und für seine Lands76

W. Lange, Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurteil, S. 116. M. Frank, Die Dichtung als ,Neue Mythologie‘, S. 17. 78 Vgl. K. Raaflaub, Die Anfänge, S. 231 ff.; B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 58 ff., 165 ff. 79 Vgl. H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums; B. Snell, Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik. In ders., Die Entdeckung, S. 56–81. 80 Raaflaub, Die Anfänge, S. 233. Xenophanes, DK fr. 2/Capelle fr. 18, S. 119 f. 77

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II. Philosophie und Politik in der Polis

leute aus Ephesos,81 seine aristokratisch geprägte Lehre vom Streit und von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze. Empedokles schließlich, in die politischen Kämpfe Agrigents verwickelt, die 472 v. Chr. zur Demokratie führten, wurde von leidenschaftlichem Haß gegen die Tyrannis getragen und suchte die Menschen zum koina ton philon der Pythagoreer hinzuführen, kämpfte daher für „eine soziale Reform mit Aufhebung des Eigenthums. Die Alleinherrschaft der Liebe zu begründen, zieht er als Wanderprophet umher, als ihm dies in Agrigent nicht gelungen ist“.82 Aber erst den Sophisten wird die Einrichtung der Polis und damit die Politik zum beherrschenden philosophischen Thema. Erst ihnen gilt der Mensch als „Maßstab aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind“ (Protagoras).83 Erst ihnen wird die Kontingenz und Veränderbarkeit der Verfassungen und Gesetze (nómoi) bewußt und zum entscheidenden Problem. Erst sie wenden den Blick gänzlich ab von den Göttern und zurück auf die Menschenwelt mit ihren gebrechlichen Ordnungen. Erst sie gestehen, von den Göttern nichts zu wissen, „weder, daß es sie gibt, noch, daß es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben“.84 Erst jetzt drängt sich die Frage nach dem richtigen Gesetz und nach der guten Ordnung der Polis in den Mittelpunkt. Die Entstehung der Polis hatte ihren Grund in ökonomischen und sozialen Veränderungen und in der Eskalation der Kämpfe zwischen den mächtigen Adelsfamilien in ihrem Streben nach Hegemonie. Die Konflikte, die zur Krise der Adelsherrschaft und in Athen zur Ablösung der Aristokratie durch die Tyrannis der Peisistratiden führten, die Politisierung der Bauern und des Mittelstandes bewirkten und so den Weg zur Isonomie und schließlich zur Demokratie bahnten, sollen ganz kurz verdeutlicht werden.85

81 Vgl. Herakleitos, DK fr. 121/Capelle, fr. 115, S. 155: „Die Ephesier sollten sich samt und sonders, Mann für Mann, aufhängen und den Unmündigen ihre Stadt überlassen, sie, die den Hermodoros, ihren besten Mann, weggejagt haben, indem sie sagten: ,Von uns soll keiner der Beste sein; wenn aber doch, dann anderswo und bei anderen!‘“ 82 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, S. 82. Vgl. ebd., S. 79 ff. sowie Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie, S. 433 ff. 83 So nach Platon, Theätet 151 E f. (= DK 80, B 1; Capelle fr. 9, S. 327). 84 Protagoras, Von den Göttern (DK 80, B 4; Capelle fr. 18, S. 333). 85 Vgl. zum folgenden Bengtson, Griechen und Perser, S. 28 ff.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 13 ff.; S. Breuer, Zur Soziogenese des Patrimonialstaates. In: ders./H. Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, S. 163–227; ders., Der Staat, S. 69 ff.; M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 31 ff.; V. Ehrenberg, Der Staat der Griechen; ders., From Solon to Sokrates; ders., Polis und Imperium; Finley, Die Griechen; ders., Das politische Leben, S. 11 ff., 37 ff.; Meier, Entstehung des Begriffs ,Demokratie‘, S. 15 ff.; ders., Die Entstehung des Politischen, S. 51 ff.; ders., Athen, S. 65 ff.; O. Murray, Das frühe Griechenland, S. 228 ff.; Schuller, Griechische Geschichte, S. 15 ff., 103 ff.; Spahn, Mittelschicht; Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, S. 34 ff., 66 ff.; ders., Mythos und Gesellschaft, S. 81 ff.; Welwei, Die griechische Polis; A. Zimmern, The Greek Commonwealth. London 1961.

1. Begriff und Gestalt der Polis

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Die archaische Zeit hatte im 8. Jahrhundert einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, der seinen Ausdruck fand im Aufblühen von Handel und Gewerbe und in der Entstehung einer breiten Mittelschicht. In dieser Zeit wurde der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft vollzogen. Der wirtschaftliche Aufschwung war andererseits begleitet von einem starken Bevölkerungswachstum, das zu steten Erbteilungen führte, was für die Kleinbauern zur Folge hatte, daß sie nicht mehr auskamen mit ihrem Besitz. Während auf der einen Seite ein mächtiger Mittelstand erwachsen war, zu dem neben den Händlern und Handwerkern auch die neu entstehende Soldatenschicht der Hopliten gehörte, setzte auf der anderen eine massenhafte Verarmung und Verelendung der kleinbäuerlichen Familien ein, die sich stark verschuldeten und in Knechtschaft gerieten. Diese wurde festgeschrieben durch das Institut der Schuldknechtschaft, wonach derjenige, der seine Schulden nicht bezahlen konnte, Frondienste für seinen Gläubiger zu leisten hatte, aus denen er nie wieder freikam. Der erstarkte Mittelstand nun wehrte sich gegen die Willkür der Aristokraten und forderte die (Wieder-)Herstellung der „guten Ordnung“ (eunomía), d. h. der Herrschaft des Gesetzes.86 Die verarmten Kleinbauern, die am Existenzminimum vegetierten, verlangten die Aufhebung der Schuldknechtschaft und eine tiefgreifende Agrarreform. Es entwickelte sich so in den unteren und mittleren Schichten ein gemeinsames Interesse gegen den Adel, das sich in der Mitte des 7. Jahrhunderts politisch artikulierte. Zugleich verstrickten sich die adligen Schichten in interne Machtkämpfe, in Kämpfe um die Hegemonie, die zur Bildung von Gruppen und Faktionen führten. Um dem politischen Druck der unteren Schichten standhalten und sich gegen ihre Konkurrenten behaupten zu können, wandten sich einzelne Aristokraten dem niederen Volke zu und griffen seine Forderungen auf. Medium der Entstehung politischer Strukturen war demnach der Klassenkampf. Die Krise resultierte aus der Kumulation der genannten sozialen und hegemonialen Konflikte: auf der einen Seite standen die mächtigen adeligen Familien, die sich gegenseitig befehdeten; auf der anderen Seite standen die verarmten Kleinbauern, die um ihre Existenz bangten und die Aufhebung der Schuldknechtschaft forderten; dazwischen stand ein breiter und mächtiger Mittelstand, der Rechtssicherheit verlangte und nach rechtlicher Gleichstellung (isonomía) strebte. Da der Appell an die herrschenden Aristokraten nicht zum Ziele führte bzw. ungehört verhallte, mußten die unteren und mittleren Schichten lernen, daß sie selbst ihren Beitrag zur Schaffung einer „guten Ordnung“ zu leisten hatten. Sie erstrebten alsbald Mitwirkung und Einfluß innerhalb der bestehenden Institutionen und kämpften, wo ihnen diese verweigert wurden, um die Einrichtung neuer Institutionen, in denen sie ihre Interessen artikulieren und vertreten konnten. Ein 86 Vgl. Meier, Entstehung des Begriffs ,Demokratie‘, S. 15: „Die ersten Termini, mit denen die Griechen den Zustand, die Ordnung von Poleis bezeichneten, waren nicht von der Frage nach Herrschaft oder Obmacht, sondern von der nach dem Nomos, nach Ordnung, Brauch, Herkommen, Recht . . . bestimmt“.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

flüchtiger Blick auf die institutionelle Entwicklung, die schließlich im 5. Jahrhundert zur Demokratie führte, mag diesen historischen Rückblick abrunden. Schon in der Frühzeit hatten die Könige einen Rat der Alten (gerontes) institutionalisiert. Sie beriefen die Häupter der großen Familien, um sich mit ihnen zu beraten. Dieser Rat (boulé) wurde später selbständig und schränkte allmählich die Macht des Königs ein. Am Ende des dunklen Zeitalters waren die Könige und Häuptlinge schließlich verschwunden. „Die Macht war auf kleine Gruppen aristokratischer Familien übergegangen, die, wenn nicht das ganze Land, so doch den Großteil für sich allein in Anspruch nahmen und teils mit Hilfe offizieller Institutionen, Räten und Behörden, regierten, teils als etablierter Machtapparat oder dank der unangreifbaren Autorität, die von ihren Vorfahren stammten“.87 Nach der Verdrängung der Monarchie lag die politische Macht der entstehenden Poleis in den Händen des Rates.88 Der Rat, der zunächst eine Vereinigung der Adelshäupter war, wurde in der Oligarchie zur entscheidenden Machtzentrale und behielt diese Funktion auch in der Polis. Nur der Modus seiner Zusammensetzung änderte sich dort. Die Frage war, wie seine Mitglieder rekrutiert wurden, nachdem die Adelsherrschaft gebrochen war. Und diese Frage stand im Mittelpunkt jener Reformen, die zur Demokratie führen sollten (s. u.). Der Rat ernannte die „Angestellten“ oder „Beamten“ der Polis, d. h. jene Bürger, die für eine begrenzte Zeit Verwaltungsaufgaben außerhalb der Volksversammlung oder der Gerichte zu erfüllen hatten. Die beiden wichtigsten Beamten waren der Basileus, d. i. der oberste Kultbeamte, und der Archon, der die Gesetzesinitiative hatte. Später – in der Demokratie – wurde dann ein Kollektiv der Nomotheten geschaffen, das diese Aufgabe übernahm. Der Archon oder Archont war der höchste Beamte in weltlich-politischen Dingen. Ihm kam die Aufgabe zu, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, d. h. solche Gesetzesvorschläge zu unterbreiten, die zur Verhinderung bzw. zur Beendigung des Bürgerkrieges und zur Wiederherstellung der Ordnung führen konnten, zur Eunomia, d. h. zu einem Zustand, in dem es gut um den Nomos, das Gesetz, bestellt ist. 594 v. Chr. wurde Solon zum Archonten von Athen gewählt. Er erhielt den Auftrag, den drohenden Bürgerkrieg abzuwenden und den Klassenkampf zu schlichten durch eine Reform der Polis.89 Er sollte die besagten Probleme und Konflikte lösen, der Forderung sowohl der verarmten Kleinbauern nach Aufhebung der Schuldknechtschaft wie des erstarkten Mittelstands nach politischer Gleichberechtigung entsprechen und schließlich die Fehden der mächtigen 87

Finley, Die Griechen, S. 24. Vgl. V. Ehrenberg, Der Staat der Griechen. Bd. 1., S. 44 ff. 89 Zu Solon vgl. auch Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 14 ff.; Meier, Entstehung des Begriffs ,Demokratie‘, S. 19 ff.; Murray, Das frühe Griechenland, S. 228 ff.; Raaflaub, Die Anfänge, S. 234 ff.; Schadewaldt, Die Anfänge, S. 113 ff.; Schuller, Griechische Geschichte, S. 23 f., 114; Spahn, Mittelschicht, S. 136 ff.; Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, S. 81 ff. 88

1. Begriff und Gestalt der Polis

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Adelsfamilien beenden, sollte also durch eine Neuordnung der Stadt einen Kompromiß zwischen den kämpfenden Klassen institutionalisieren. Damit begann, wie Christian Meier bemerkt,90 „etwas ganz Neues in der attischen Geschichte“, denn erstmals wurde „das Ganze der Polis-Ordnung zum Gegenstand des Handelns“ (S. 70). Es ging „nicht mehr nur um einzelnes Unrecht, sondern der Zustand der Stadt im Ganzen ist der Gesamtheit der Bürger aufgegeben“ (S. 74). „So begegnet hier erstmals der Gedanke der Verantwortung der Bürger für die Stadt“ (S. 73). Vor diesem Gedanken schreckte Solon allerdings zurück. Er hielt die Bauern und Handwerker für politikunfähig und setzte sein Vertrauen auf die Reichen und Mächtigen in der Stadt, die er auf den rechten Pfad der Tugend zurückzuführen hoffte. Der Erfolg seiner Reform war deshalb begrenzt. Er erfüllte nur einen Teil der Forderung der verarmten Bauern, indem er die Schuldknechtschaft abschaffte,91 führte aber keine grundlegende Agrarreform durch, so daß die freigelassenen Bauern nach der Reform kaum besser dastanden als zuvor. Ferner kam Solon den Forderungen des Mittelstandes nur halbherzig nach – durch eine Reform des Gerichtswesens. Er schuf die Möglichkeit, vor Gericht das Interesse eines Geschädigten durch Dritte wahrnehmen zu lassen, und institutionalisierte eine Appellationsinstanz, d. h. die Möglichkeit der Berufung bei einem Volksgericht. Das waren zwar wichtige Schritte in Richtung Isonomia. Sie konnten jedoch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme nicht lösen. Schon bald nach Solons Gesetzesreform flammten die Kämpfe daher wieder auf. Sie wurden erst stillgestellt in der Mitte des 6. Jahrhunderts – durch Peisistratos, der 561 v. Chr. die Macht der anderen Adelsfamilien brach und eine Tyrannis errichtete, d. h. – nach der Definition des Aristoteles – die Herrschaft eines Mannes, der – im Unterschied zum Monarchen – auf nicht-legalem oder nicht-legitimem Weg an die Macht gekommen war und nur nach seinen eigenen Interessen regierte.92 Die Interessen des Peisistratos fielen nun aber zusammen mit denen der unteren und mittleren Schichten, die auf die Brechung der Adelsherrschaft und -willkür hofften. Peisistratos – und nach ihm sein Sohn Hippias – konzentrierte die Macht in seinen Händen und drängte die anderen Adelsgeschlechter zurück. Die Herrschaft der Peisistratiden führte zu politischer Ruhe und zu einem neuen wirt90 Vgl. zum folgenden Meier, Athen, S. 69 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz beziehen sich auf dieses Werk. 91 Eine Parallele dazu findet sich in der persischen Provinz Judäa, in der Nehemia die Schuldknechtschaft beseitigte. Vgl. H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 131 ff.; ders., Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, S. 54 ff. In Rom führten die Ständekämpfe erst 367/66 v. Chr. mit den Licinisch-sextischen Gesetzen zur Schuldenermäßigung. 92 Zur Entwicklung der Tyrannis in dreiunddreißig griechischen Städten vgl. L. De Libero, Die archaische Tyrannis.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

schaftlichen Aufschwung. Die Adligen behielten zwar die führenden bürgerlichen und militärischen Ämter, aber sie wurden jetzt zu Befehlsempfängern, d. h. zu Instrumenten der Polis und des Gesetzes. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung wurde das größte Elend der Armen beseitigt, durch die Entmachtung des Adels wurde die Forderung des Mittelstandes nach Gleichstellung erfüllt und zugleich der inneraristokratische Machtkampf stillgestellt. Die Tyrannis brachte dreißig Jahre Frieden, der nur durch eine zweimalige Vertreibung des Peisistratos unterbrochen wurde. Im Gegensatz zu den späteren Griechen, die in der Herrschaft der Peisistratiden den großen Sündenfall der griechischen Geschichte und das für alle Zeiten abschreckende Exempel einer fürchterlichen Tyrannis erblickten, muß der heutige Historiker daher nüchtern konstatieren: „Die Peisistratiden haben in Athen durch ihre Religionspolitik zur Integration der Bauern und damit zur Entstehung einer Polis-Gesellschaft stark beigetragen. Insofern sind sie aus der Vorgeschichte der Demokratie kaum wegzudenken“.93 „Peisistratos’ Regime ist, aufs Ganze gesehen, den Athenern sehr zugute gekommen, vor allem den breiten Schichten“.94 Schon Aristoteles bemerkte, Peisistratos habe die Polis „eher verfassungstreu als tyrannisch“ verwaltet und die Regierungsgeschäfte „in maßvoller Weise und eher mit bürgerlichem Verantwortungsbewußtsein“ geführt.95 Allerdings lähmte die Tyrannis, wie Herodot konstatierte, die Aktivitäten der Athener. Ihre Energien wurden erst freigesetzt, als sie das Joch der Tyrannis abgeschüttelt hatten. Solange sie als Untertanen für ihre Gebieter kämpften, waren sie „absichtlich feige und träge, während sie jetzt, wo jeder für sich selber arbeitet, eifrig und tätig wurden“.96 b) Anfänge der Demokratie Die antike Demokratie war eine Ordnungsform der Polis und läßt sich nur aus dem Prozeß der Polisbildung heraus begreifen. Demokratie meinte eine politische Ordnung, in der die Volksversammlung, der Demos, die entscheidende Rolle spielte und die Oberherrschaft ausübte. Bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts gab es Demokratie im vollen Wortsinn nur in Athen. Alle späteren demokratischen Verfassungen, die vor allem im 4. Jahrhundert nachweisbar sind, wurden nach dem Vorbild Athens geprägt, – sei es, daß sie von Athen gewaltsam oktroyiert wurden, 93

Meier, Die Entstehung des Poltischen, S. 65. Meier, Athen, S. 90. 95 Aristoteles, Athenaion Politeia, 14.(3), 16.(2) [S. 21, 22]. Der Stagirit folgt dabei vermutlich Herodot, der in den Historien [I,59. (S. 25)] bemerkt, Peisistratos habe die bestehenden Ämter nicht abgeschafft und die Gesetze nicht geändert, sondern die Stadt unter Wahrung ihrer Einrichtungen trefflich und ordentlich regiert. 96 Herodot, Historien, V,78. (S. 359). Später kursierte allerdings das Gerücht in der Stadt, es sei Perikles gewesen, der die Athener „träge, feig, schwatzhaft und geldgierig gemacht hat, weil er sie zuerst zu Soldempfängern hat werden lassen“. Vgl. Platon, Gorgias 515 e (II, S. 382). 94

1. Begriff und Gestalt der Polis

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oder sei es, daß sie von eigenständigen demokratischen Bewegungen erkämpft wurden, die sich dabei am Vorbild Athens orientierten.97 Deshalb kann die athenische Entwicklung als Paradigma oder Exemplum dienen.98 Der entscheidende Bruch erfolgte 514 v. Chr., als Hipparchos, der zweite Sohn des Peisistratos und jüngere Bruder des Hippias, ermordet wurde, und zwar – wie man vermutet – durch einen Rivalen in der Konkurrenz um die Gunst eines Jünglings. Die Folge war eine mehrjährige grausame Diktatur, die den späteren Betrachtern und Kritikern als Offenbarung des eigentlichen Wesens der Tyrannis erschien und die erneut zum Bürgerkrieg führte. Dieser Bürgerkrieg schließlich endete mit der Vertreibung des Hippias und mit dem Übergang zur Demokratie, die durch die Reformen des Kleisthenes vorbereitet wurde.99 Erst dadurch konnte das Politische zum eigentlichen und höchsten Lebensinhalt der Bürgerschaft werden, konnte jene Hierarchie zwischen Öffentlichem und Privatem entstehen, die den griechischen „Sonderweg“ charakterisiert. Kleisthenes hat die alte Phylenordnung reformiert, hat die Wahl durch das Los und die Vergütung der Amtstätigkeiten eingeführt, so daß nunmehr auch die Armen ein Amt übernehmen und politisch tätig werden konnten. Er hat die Bürgerschaft „erfunden“ und die Voraussetzungen für die Demokratie in Athen geschaffen.100 Dem Adelsgeschlecht der Alkmeoniden entstammend, wandte sich Kleisthenes „dem Volke zu, weil er dessen Beistand dringend brauchte, als in [den] verworrenen Kämpfen das Vakuum gefüllt werden sollte, das der abgesetzte Tyrann Hippias . . . hinterlassen hatte“ (Finley 1976, S. 54 f.). Um das Volk hinter sich zu bringen, mußte er seine Forderungen aufnehmen und zu erfüllen versuchen. Das Volk forderte aber isonomía, d. h. Gleichheit der politischen Rechte, „und da das Volk in der Mehrzahl war, führte isonomía zur demokratía“ (ebd., S. 42).

97 Vgl. Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 379 ff. Daß von einer „Ur-Demokratie“ in Sparta nicht die Rede sein kann, wie häufig behauptet wurde, betont Spahn, Mittelschicht, S. 98 ff. 98 Zur Entwicklung der athenischen Demokratie vgl. auch Beloch, Die attische Politik seit Perikles; Bengtson, Griechen und Perser, S. 34 ff., 82 ff.; J. K. Davies, Das klassische Griechenland und die Demokratie, S. 70 ff.; V. Ehrenberg, From Solon to Sokrates.; Finley, Antike und moderne Demokratie; D. Kagan, Perikles; K. H. Kinzl (Hg.), Demokratia; C. Mossé, La démocratie grecque; Thomson, Die ersten Philosophen, S. 172 ff.; Welwei, Die griechische Polis, S. 150 ff.; ders., Das klassische Athen. Weitere Literaturhinweise bei Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 408 ff. und Schuller, Griechische Geschichte, S. 173 ff. 99 Vgl. dazu auch D. Kienast, Die innenpolitische Entwicklung Athens im 6. Jahrhundert und die Reform von 508; P. Siewert, Die Trittyen Attikas und die Heeresreform des Kleisthenes; Schuller, Griechische Geschichte, S. 25 f., 116 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen). 100 C. Meier, Die Erfindung der Bürgerschaft. Vor 2500 Jahren schuf Kleisthenes die Voraussetzungen für die Demokratie in Athen. In: FAZ v. Sa., 1.7.1995 (Beilage „Bilder und Zeiten“).

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Voraussetzungen und Folgen, Mittel und Wege der Reformen des Kleisthenes hat wiederum Christian Meier in mehreren Anläufen plastisch beschrieben. Eine kurze Zusammenfassung seiner Ergebnisse mag hier zur Veranschaulichung genügen:101 Es ging um die politische und militärische Organisation Attikas im allgemeinen, um die Volks- oder Bürgerversammlung im besonderen. In der überkommenen Ordnung war Attika insgesamt in vier Phylen gegliedert, die vom Adel beherrscht wurden.102 Es handelte sich dabei um die alten Stammesverbände noch aus der Zeit der Landnahme her, also um reine Personenverbände. Die einzelnen Phylen setzten sich zusammen aus mehreren Phratrien, aus „Bruderschaften“, die ihrerseits verschiedene Geschlechter und Kultvereine umfaßten. Die Bürgerschaft war somit in drei Unterabteilungen von verschiedener Größenordnung organisiert: „Der attische Bürger gehörte also (außer seiner eigenen Familie) einem Geschlecht oder Kultverein, mitsamt diesem einer Phratrie, mitsamt dieser einer Phyle und mitsamt dieser der Bürgerschaft im ganzen an“ (S. 96 f.). Die Unterabteilungen waren nicht durch wirtschaftliche oder soziale Interessen voneinander unterschieden. „Es waren vielmehr untereinander grundsätzlich gleichartige Kultgemeinschaften verschiedener Größenordnung“ (S. 100). Dabei beherrschten die adeligen Geschlechter die einzelnen Abteilungen. Die anderen waren abhängig von ihnen und waren nur durch das Geschlecht, dem sie zugeteilt waren, repräsentiert. Der Adel stellte die Vorsteher und Priester der einzelnen Abteilungen. Die Macht der Polis lag insgesamt in den Händen des Rates, der durch die Adelsgeschlechter gebildet wurde. Die Rolle der Bürgerversammlung war unbedeutend. Sie hatte im Grunde nur die Beschlüsse des Rates entgegenzunehmen und abzusegnen. Die Bürgerversammlung war hervorgegangen aus der alten Wehrgemeinde des einzelnen Stammes, wie sie bereits bei Homer begegnet. Sie war ursprünglich die Versammlung aller wehrfähigen Männer, die die Befehle des Königs oder des Adels entgegenzunehmen zu hatte. In der Oligarchie wurde dann die Teilnahme an der Volksversammlung abhängig gemacht vom Besitz und von der Abstammung, so daß die „Volks-“ oder „Bürgerversammlung“ in Wirklichkeit keine Versammlung des Volkes, sondern eine Versammlung der Aristokraten war. Diese Situation sollte sich nun aber ändern mit den Reformen des Kleisthenes. „Durch eine neue Einteilung des attischen Volkes hat Kleisthenes die alten Geschlechterverbände auseinandergerissen und sie dadurch ihrer politischen Bedeu101 Vgl. zum folgenden bes. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 91 ff. Seitenzahlen im fortlaufenden Text ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. Zur Prüfung und Ergänzung siehe ders., Athen, S. 182 ff.; ders., Bürger-Identität und Demokratie. In: ders./P. Veyne, S. 51 ff. sowie die genannten Werke von Beloch, Bengtson, Bleicken, Davies, Ehrenberg, Finley u. a. 102 Vgl. dazu auch Aristoteles, Athenaion Politeia, 21. f. [S. 27 f.]; Herodot, Historien, V, 66. ff. (S. 354 ff.).

1. Begriff und Gestalt der Polis

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tung beraubt“.103 Er zerstörte das alte Gefüge zwar nicht. „Aber er errichtete daneben eine neue, zweite Phylenorganisation mit neuen Unterabteilungen und übertrug wichtigste politische Funktionen der alten sowie neue Aufgaben auf sie“ (S. 103). Er teilte Attika insgesamt in drei Regionen: 1. die Stadt Athen (ásty) mit ihrer näheren Umgebung; 2. das übrige Binnenland (mesógeion) und 3. die übrige Küste (paralía). Jeden der drei Bereiche teilte er in 10 Trittyen, um sodann jeweils eine Trittys jeden Bereichs mit je einer der anderen Bereiche per Los zu einer Phyle zusammenzufassen, die nunmehr auf rein lokalem Prinzip aufruhte. Dadurch entstanden 10 Phylen, die aus den drei Gegenden gebildet wurden. So wurde verhindert, daß die Zentralorganisation bloß lokale, also einseitige Interessen vertrat. Diese Zentralorganisation war der Rat der 500, den Kleisthenes neben den Adelsrat stellte. Jede Phyle entsandte fünfzig Ratsherren in den Rat der 500, dem viele Funktionen des alten Areopags übertragen wurden. Mit dieser Reform wurde die alte Adelsherrschaft vollständig gebrochen. Die adeligen Familien waren jetzt nur noch Teil einer lokalen Vereinigung, die mit anderen Gemeinden in einer Phyle zusammengefaßt wurden. Das entscheidende Novum, der Kern der Phylenreform, bestand jedoch, wie Christian Meier betont, in der Schaffung einer neuen Demenverfassung. Die Trittys, aus denen die Phylen gebildet wurden, setzten sich nämlich zusammen aus den einzelnen Demen, in denen sich das unmittelbare politische Leben der Bürgerschaft abspielte. „Die neue Ordnung beruhte auf den Demen, d. h. kleinen Siedlungseinheiten“ (S. 103 f.). Die Demen bestanden in der Regel aus einem Dorf oder einer kleinen Stadt. Schwach bevölkerte Flecken wurden mit anderen zu einem Demos zusammengefaßt, während Athen in mehrere Demen unterteilt wurde. Dadurch ergab sich „eine rein lokale Gliederung Attikas in vermutlich 139 Einheiten, deren Bevölkerung je zwischen nahezu 100 und etwa 1200 männlichen erwachsenen Bürgern differierte“ (S. 104). „Die Demen erhielten eine politische Organisation . . ., sie erhielten eigene Beamte, Priester und Gemeindeversammlungen und es wurden verschiedene Funktionen auf sie übertragen“. Sie hatten – proportional zu ihrer Größe – die Ratsherren für den Rat der 500 zu stellen. Jeder Demos besaß eine fast vollständige eigene Verwaltung mit einem Demarchos an der Spitze, mit eigenen Finanzbeamten und Priestern, einer eigenen Gemeindeversammlung, die auch als Gericht fungieren konnte.104 Sieht man von der Außenpolitik und von der Kriegführung ab, so waren die Demen relativ autonom – wie es, Aristoteles zufolge, einer guten Ordnung ziemt.105 Jede Phyle bestand somit aus Demen aus ganz verschiedenen Regionen; jede Region war in jeder Phyle vertreten. Dadurch wurde die Bürgerschaft „ge-

103 104 105

Bengtson, Griechen und Perser, S. 36 f. Vgl. auch Spahn, Mittelschicht, S. 164. Vgl. dazu F. Tomberg, Polis und Nationalstaat, S. 15 ff., 22 ff.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

mischt“.106 Durch Ausschaltung partikularer Gruppierungen wurde eine Vereinheitlichung hergestellt. Vor allem aber wurden auf die Dauer breite Schichten der attischen Bürgerschaft selbständiger, einander vertrauter und letztlich auch mächtiger (S. 136). Die Reform führte damit zu einer breiten Politisierung der Bürgerschaft. Die Bürger mußten jetzt der Politik „in ihrem Denken und Handeln relativ großen Anteil einräumen“ (S. 139). Die Polis wurde zu einer abgehobenen Instanz über allen partikularen Kräften, lag jedoch gänzlich in den Händen der Bürgerschaft. Die Politik, d. h. die Gestaltung der Polis, geriet jetzt in die Hand von Volksversammlung und Rat der 500. Die politische Ordnung spaltete sich ab von der gesellschaftlichen Ordnung. Neben der neuen Ordnung bestand die alte zunächst fort. Man entzog ihr jedoch wichtige Funktionen. Der alte Adelsrat existierte neben dem Rat der 500 und war weiterhin zuständig für die Blutgerichtsbarkeit und für die Aufsicht über die Beamten. Diese Rolle verlor er jedoch 462/61, als die Bürgerschaft mit Ephialtes den Areopag stürzte und gänzlich entmachtete und eine radikale Demokratie einführte.107 Auf diesen Vorgang antworten die großen Tragödien, vor allem die Orestie des Aischylos, die 458 v. Chr., d. h. kurz nach dem Sturz des Areopags aufgeführt wurde und zur Versöhnung der neuen und alten Machthaber, der neuen und alten Ordnung, des neuen und alten Rechts aufrief. Ephialtes wurde 461 ermordet. Sein Nachfolger war Perikles (ca. 500–429 v. Chr.), der auf dem von seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg weiterging.108 Er hat die Herrschaft des souveränen Volkes, des Demos von Athen stabilisiert und damit zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Demokratie geschaffen, die, wie Christian Meier betont (S. 51, passim), nur eine direkte oder radikale Demokratie sein konnte. Im Gefolge der kleisthenschen Reformen, der Perserkriege und der Stabilisierung der Demokratie im Zeitalter des Perikles bildete sich für die freien Bürger eine Art Doppelleben aus:109 neben oder oberhalb des „häuslichen“ Lebens entwickelte sich das „politische“ Leben, an dem breiteste Bürgerschichten partizipierten. Im Haus, im eigenen Oikos, sorgte jeder für sich und seine Familie, in der Polis sorgte jeder Bürger für das Wohl der Stadt, für die Interessen der Gesamtheit. Durch das Losprinzip und durch die Begrenzung der Amtsdauer wurde 106

Vgl. Aristoteles, Politik, VI. Buch, 1319 b 20 ff. Vgl. Bengtson, Griechen und Perser, S. 83 ff.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 42 ff.; Ehrenberg, From Solon to Sokrates; J. Martin, Von Kleisthenes zu Ephialtes; Meier, Der Umbruch zur Demokratie in Athen. 108 Zu Perikles vgl. Plutarch, Von großen Griechen und Römern, 295–345; D. Kagan, Perikles; G. Wirth (Hg.), Perikles und seine Zeit. 109 Vgl. H. Arendt, Vita activa, S. 28. Diese Spaltung und Verdoppelung reproduziert sich unter gewandelten Verhältnissen und in neuer Form im modernen Staat. Sie fand ihren theoretischen Niederschlag in der berühmten Unterscheidung J.-J. Rousseaus zwischen Citoyen und Homme bzw. Bourgeois. Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: MEW 1, 203–333, bes. S. 281 ff. 107

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gesichert, daß möglichst viele Bürger mindestens einmal im Leben ein politisches Amt übernahmen. Solange das Politische in diesem Sinne funktionierte, gab es auch keinen Bedarf für eine theoretische Motivierung der Bürger und für die Begründung fester Ordnungsformen. Die Bereitschaft zur Mitwirkung in den Selbstverwaltungsorganen durfte vorausgesetzt werden. Die Institutionen mußten sich im politischen Leben selbst konstituieren. Erst als das politische Leben zerrüttet wurde und seinem Untergang und Ende entgegensah, wurden theoretische Reflexionen nötig, die zum Engagement aufriefen, die Notwendigkeit und den Sinn der Partizipation aufzeigten und nach festgefügten Formen suchten, nach Institutionen, die dem individuellen und sozialen Leben einen neuen Halt und Sinn vermitteln konnten. Diese Reflexionen setzten in der großen Krise des 4. Jahrhunderts ein und erreichten ihren Höhepunkt im Werk von Platon und Aristoteles. Allerdings gab es bereits im 5. Jahrhundert tiefgreifende Konflikte, die ein gründliches Nachdenken über den Sinn und Zweck der Politik, über das Für und Wider bestimmter Institutionen und über die Vor- und Nachteile bestimmter Entscheidungen erforderlich machten. Dieses Nachdenken fand seinen Niederschlag in den klassischen Tragödien, den Historien Herodots, in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides sowie in den philosophischen Fragmenten der Sophisten. c) Griechische Freiheit vs. orientalischer Despotismus: Aufstieg und Fall Athens „Die Perserkriege sind das nationale Unglück: der Erfolg war zu groß, alle schlimmen Triebe brachen heraus, das tyrannische Gelüst ganz Hellas zu beherrschen wandelte einzelne Männer und einzelne Städte an. Mit der Herrschaft von Athen (auf geistigem Gebiete) sind eine Menge Kräfte erdrückt worden“. „Auch die Athener wären etwas Höheres geworden ohne den politischen Furor seit den Perserkriegen“.110

Diese Diagnose Nietzsches – kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und in der Vorahnung des alsbald aufblühenden aggressiven deutschen Nationalismus formuliert – ist frappierend und verdient ein wenig Aufmerksamkeit. Welche geistigen Kräfte wurden von Athen erdrückt? Welche Energien wurden durch den „politischen Furor“ absorbiert? In welchen anderen Betätigungsfeldern hätten sie sich konzentrieren und entfalten sollen? Welche Alternativen wurden abgeschnitten? Hätten sich die Griechen dem persischen Heer beugen sollen? Hätten sich die im sechsten Jahrhundert aufkeimenden Potentiale bei einer Niederlage im Rahmen des orientalischen Despotismus (besser) entfalten können? Haben die Griechen im Zeitalter der Demokratie nicht einen weiteren 110 F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, S. 182, 190. Seitenzahlen in den folgenden beiden Abschnitten ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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tragischen Akt des großen Weltdramas aufgeführt? Was hätte anders werden können oder sollen? Welche Alternativen zur Polis und zur Politik hätte es gegeben? Aus den zitierten Worten Nietzsches spricht seine Verachtung der klassischgriechischen Politik, sein Haß auf die Polis und die in bezug auf sie gebildete Begriffs- und Vorstellungswelt. Der spätere Verfasser des Zarathustra läßt seinem Ressentiment gegen die Massen und gegen die Demokratie freien Lauf und bezieht zugleich deren Gegner und Verächter (Sokrates, Platon, Aristoteles etc.) mit ein. Er ergießt seinen Hohn auf die Philosophen der Polis – beginnend mit Empedokles, dem Demokraten, „der sociale Reformen im Schilde führt“ (S. 187, cf. S. 77 ff.), endend mit dem „Lebensphilosophen“ Sokrates (S. 116), der eine neue Ethik und neue Institutionen suchte, um die seit dem Peloponnesischen Krieg zerrüttete Polis zu restituieren. Erpicht auf eine neue Herren- anstelle der überkommenen platonisch-jüdisch-christlichen „Sklavenmoral“, träumend von einem Leben jenseits von Gut und Böse, sehnt Nietzsche sich in das Jahrhundert vor den Perserkriegen zurück, in dem er ungeheuere Energien und gigantische Kräfte am Werke sah, die von Athen und von der Demokratie unterdrückt und erstickt worden seien. Wie aber stimmt diese Kritik mit Nietzsches Weltbild überein? Hätte der spätere Theoretiker des Willens zur Macht nicht seine Freude haben müssen an der athenischen Machtentfaltung in der Mitte des fünften Jahrhunderts? Bereits sein Lehrmeister Thukydides hat doch gezeigt, daß gerade das demokratische Athen einen ausgeprägten Machtinstinkt entwickelte und durch seine Rücksichtslosigkeit gegen die verbündeten Poleis zur vorherrschenden Macht in der Ägäis aufstieg.111 Dieser ungezügelte, von keiner humanistischen Moral gebremste Machtwille war es, der ihm später zum Verhängnis wurde. Mit dem Ersten Attischen Seebund (478/77 v. Chr.) war ansatzweise der von Thales erstrebte Städtebund gegründet worden (cf. S. 187, 192), der unter der Führung Athens alsbald eine gesamthellenische Gesinnung entwickelte, wie Nietzsche sie bei den älteren Vorsokratikern bewunderte. Im perikleischen Zeitalter schließlich tat sich Athen durch eine rege Bautätigkeit, eine grandiose Kunst und Kultur sowie durch eine gesteigerte Rüstung hervor, so daß man alsbald hoffen durfte, dem alten Konkurrenten Sparta gewachsen zu sein. Hat die Verachtung der Massen, hat sein antidemokratisches Ressentiment Nietzsches Blick getrübt? Ist sein Haß auf „das Sokratische“, auf den Sieg der theoretischen über die tragische und ästhetische Weltbetrachtung verantwortlich für seine wütenden Ausfälle gegen die Politische Philosophie? Schon in seiner frühen Untersuchung über Die Geburt der Tragödie (1872) hatte sich Nietzsche gefragt, ob Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus sei, eine feine Notwehr gegen – die Wahr111 Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, bes. I, 88, 118 (S. 66, 87). Dazu H. Münkler, Thukydides; ders., Im Namen des Staates, S. 23 ff.; Raaflaub, Die Anfänge, S. 329 ff.

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heit?112 Theorie vom sokratischen Typus wäre demnach Kompensation, wäre der Versuch, den Pessimismus abzuwehren. Nietzsche lenkte damit den Blick auf das Verdrängte, das Beiseitegeschobene, und machte aufmerksam auf den Verlust, der die Hinwendung zur rationalen Wissenschaft begleitete. Sein Orientierungsmuster bildeten die dionysischen Kulte und Mysterien, in denen er jene Begeisterung und Ekstase fand, jenen apollinisch gebändigten Rausch, den er selber vergeblich suchte – und auch in Wagners Bayreuther Gesamtkunstwerk nicht fand. Mit dem Aufstieg der Polis und ihrer Konsolidierung und Demokratisierung sei die tragische der ästhetischen und schließlich der theoretischen Weltbetrachtung gewichen. Der Pessimismus der Alten wurde verdrängt, ein planer Optimismus machte sich breit, dem alsbald die Ernüchterung folgte, die aber nicht zur Wiederherstellung des aktiven Pessimismus führte, sondern zur Verzweiflung und Larmoyanz, zum Quietismus und zu einer weinerlichen Wehleidigkeit. Während bei Aischylos noch die gelungene Synthese zwischen Dionysischem und Apollinischem zu beobachten sei, habe bereits bei Euripides „das Sokratische“ die Oberhand gewonnen und einen siegreichen Kampf gegen „das Tragische“ geführt.113 Mit einem Mal habe sich das Individuum zu wichtig genommen, was – von Sokrates an – zur „Flucht der Besseren aus der Welt“ (1875, S. 176) führte. Während die ältere Philosophie eine „Philosophie von lauter Staatsmännern“ war (S. 177), begann nun das moralingesäuerte Räsonnement und Ressentiment der Sektengründer und mit ihm die Genealogie der Moral, der Niedergang der vornehm-heiter-tragischen Lebenskunst und der Verfall der feineren Sitten.114 Über die konkreten Alternativen zum griechischen Sieg und zur Politik im klassischen Zeitalter läßt Nietzsche uns im Dunkeln. Mutmaßungen über die Folgen einer möglichen Niederlage und über das vorzeitige Scheitern bzw. Ausbleiben der Demokratie blieben ohnehin spekulativ. Entscheidend ist der Hinweis auf die mit dem Aufstieg Athens verknüpften Verdrängungen, die einen weiteren Akt der Dialektik der Aufklärung einleiteten. Was genau wurde von der Polis und von der mit ihr aufstrebenden Philosophie verdrängt? Was ist verlorengegangen mit dem Siegeszug der Politik und mit dem Aufstieg der Philosophie zur dominieren112 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Werke. Bd. I, 7–134; hier: S. 10. 113 Zum „Sokratischen“ und zur „sokratischen Tendenz, mit der Euripides die äschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte“, vgl. ebd., S. 71 u. ff. Zum „ewigen Kampf zwischen der theoretischen mit der tragischen Weltbetrachtung“ siehe ebd., S. 95. 114 Eine Aktualisierung und Applikation dieser Thesen Nietzsches auf die deutsche Realität nach dem Ende des Ost-West-Konflikts versuchte vor einiger Zeit Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel 6/1993, 202–207. Der Titel, den Strauß für seinen Rundumschlag wählte, ist allerdings verfehlt. Handelt es sich doch bei dem von ihm Beobachteten weniger um die Wiedergeburt des Tragischen, als vielmehr um Verrohung und Verödung, um ein „anschwellendes Murren“, d. h. um Folgen der allgemeinen „Politisierung“ im Sinne der prägnanten Differenzierung Nietzsches. Vgl. dazu auch unten, S. 151 ff.

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den geistigen Macht? Nietzsches Antwort lautet: das Dionysische wie das Apollinische, der Rausch und der Traum, der Streit und das Leid, die ungebändigten Triebe und Leidenschaften, das „Irrationale“ – also alle jene Momente, die, dem von Schopenhauer belehrten Jungwagnerianer zufolge, das menschliche Leben aus- und überhaupt erst lebenswert machen, sofern sie durch eine auf harmonische Entfaltung aller Kräfte bedachte Lebensführung balanciert, stilisiert und gezüchtet werden. Die Politische Philosophie aber hat versucht, die Lebenswelt der Menschen als eine Welt zu konstruieren, die allein auf der Vernunft basiert und in der Einsicht begründet ist, aus der somit alle arationalen Elemente, alle Antagonismen und Aporien ausgeschieden sind. Damit hat sie das Tragische ignoriert und eliminiert, das seinen Kern im Antinomischen und Agonalen findet, im Streit, „der vom Menschen nur ausgetragen werden kann durch das Leiden“.115 Der Versuch, den Streit politisch zu kanalisieren und zu zähmen und mit ihm das tragische Leiden auszuschalten, bedeutet für Nietzsche die Verdrängung der lebenserhaltenden und -steigernden Kräfte und Strebungen, die Sublimierung der wichtigsten Triebe und Leidenschaften, kurz: die Erdrosselung des menschlichen Lebens. Der „ängstliche Adler“116 teilt damit die Auffassung, die sein Zeitgenosse Tolstoi im Epilog seines Hauptwerkes formulierte: „Mit der Annahme, das menschliche Leben könne nach den Grundsätzen des Verstandes geleitet werden, verneint man die Möglichkeit des Lebens selbst“.117 Der junge Nietzsche ahnte schon, was später Sigmund Freud nachweisen sollte, daß nämlich das Verdrängte irgendwann wiederkehren und sich als destruktive Kraft zur Geltung bringen werde, die das Leben dann nicht fördert, sondern lähmt und in einem aussichtslosen Abwehrkampf verzehrt. Diesen Abwehrkampf erblickte er in der späteren, von Sokrates inspirierten Philosophie, die so zum Symptom und Paradigma einer Zwangsneurose oder Psychose mutierte, an dem sich die Ursachen der griechischen Malaise studieren ließen – jener Krankheit, die in Deutschland im 19. Jahrhundert erneut ausbrach und bei den Philologen und Philosophen in der Nachfolge Winckelmanns Perseveration zur Folge hatte. Die klassische griechische Philosophie und ihre seit der Renaissance in immer neuen Wellen erfolgende Rezeption erschien Nietzsche als Rezidiv, als Rückfall in eine überwunden geglaubte Krankheit, die zu therapieren er sich aufgemacht hatte. Doch die Rekonvaleszenz sollte nicht gelingen. Nietzsche betrachtet die Polis von ihrem Ende her. Im Aufstieg Athens sieht er bereits die Keime des späteren Untergangs. Die Politik im demokratischen Zeitalter erscheint ihm als Ursache ihres Verfalls. Sie trug ihr Ende als Telos in sich.

115 Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 59. Zur Kritik an Nietzsche vgl. ebd., S. 53 ff. Zu den arationalen Trieben und Leidenschaften, die das Leben der Athener bedrängten, vgl. auch J. N. Davidson, Kurtisanen und Meeresfrüchte. 116 Vgl. W. Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. München 19942. 117 L. Tolstoi, Krieg und Frieden (1864–69/dt.1885). Epilog, I. Teil. 2. Bd., S. 690.

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Was der Peloponnesische Krieg nicht schaffte, vollendeten schließlich die Makedonier. Die Griechen haben aus ihrer Geschichte nichts gelernt. Nachdem der äußere Feind besiegt und als Drohung weggefallen war, verstrickten sie sich in innere Streitigkeiten. Nachdem sie sich sodann in einem zermürbenden Bruderkrieg untereinander erschöpft und aufgerieben hatten, empfahlen ihnen ihre Philosophen, mit dem alten Übel fortzufahren. Sie sollten auch fernerhin ihre geistigen Energien auf die Polis lenken und ihre Kräfte in der Politik vergeuden, die doch zu keinem anderen Ergebnis führen konnte, als zur ständigen Erneuerung des banalisierten, auf den Marktplatz verlagerten Streits – und damit eben zur erneuten Verdrängung des Tragischen. Gerade darin erblickt Nietzsche den Grund ihres Scheiterns, die Ursache des Niedergangs einer vielversprechenden Kultur. Er kann in der athenischen Art der Gestaltung des Politischen kein sinnvolles Unternehmen erkennen, für das zu kämpfen sich jemals gelohnt hätte oder lohnen würde. Das leidige Gezänk der demokratischen Politiker erscheint ihm als ein Schmierentheater. Der Mensch sollte „Größeres“ in Angriff nehmen als die Politik (im klassisch-griechischen Sinne). Auch die Philosophie könnte dann ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen und sich wieder, wie in ihren Anfängen bei den Vorsokratikern, auf „wichtigere“ Fragen konzentrieren. Auch wenn man Nietzsches Sicht der Dinge nicht teilt und in der Polis und der ihr gemäßen Politik eine bedeutende Schöpfung oder Erfindung der Griechen erblickt, kann seine Polemik doch sensibilisieren für spezifische Zusammenhänge. Sie erzwingt ein neues Nachdenken über das Politische bei den Griechen und hilft beim Versuch einer Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Politik. Vor allem aber lenkt sie den Blick auf ein Faktum, das auch gegen die ingeniöse Deutung der klassischen Tragödie, wie sie heute von und im Anschluß an Christian Meier vorgetragen wird, geltend zu machen wäre. Namentlich Aischylos läßt sich schwerlich als Vordenker und Protagonist der radikalen Demokratie interpretieren, wie sie nach dem Sturz des Areopags praktiziert wurde. Er ist eher der Mahner und Kritiker, der die altaristokratische Rechts- und Werteordnung und ihre Träger in der neuen Verfassung verankern und stärken und so der Demokratie ethische und institutionelle Riegel vorschieben möchte. Seine Tragödien wollen nicht der Eingewöhnung und Einübung der Bürger in die Demokratie dienen, sondern der Wiedergewinnung des tragischen Sinns, der durch die demokratische Politik bedroht und letztlich zerstört wurde. Sie zielen auf eine Relativierung des Politischen und auf die Hinlenkung des Fühlens und Denkens der Menschen auf größere geschichtliche Zusammenhänge, wie sie bereits vom Mythos gestiftet wurden und nach seinem Niedergang und Ende „aufgehoben“, d. h. negiert, rationalisiert und bewahrt werden sollen. Zwar bilden die aktuellen Vorgänge in der Polis jeweils den Anlaß der tragischen Dichtungen, doch werden sie in größere Dimensionen eingerückt und auf tieferliegende, in der menschlichen Natur verankerte Verstrickungen zurückgeführt, die sich nicht ein für allemal lösen lassen, sondern stets aufs Neue reproduzieren.

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Für die alten Griechen stellte sich die Sache indes zunächst ganz anders dar als für den späten Betrachter und Kritiker in seiner Retrospektion aus der welken Spätkultur des neunzehnten christlichen Jahrhunderts. Sie hatten in der ersten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts mit gänzlich andersgearteten Schwierigkeiten zu ringen. Sie frönten einem ausschweifenden und sinnlichen Leben, feierten ihre Feste und wohnten den Aufführungen der klassischen Tragödien bei, die ihnen ihre eigenen Nöte und Sorgen wie die der anderen vor Augen führten. Sie hatten an ihren Sieg und seine Folgen zu denken und sich auf die Bedingungen und Formen, Regeln und Normen eines friedlichen Zusammenlebens zurückzubesinnen. Nicht nur die Athener, sondern auch ihre Verbündeten sahen die Dinge damals völlig anders als Nietzsche. Es sei „nur die reine Wahrheit, wenn man die Athener die Retter von Hellas nennt“, schreibt Herodot. „Der Lauf der Dinge hing allein davon ab, wie die Athener entschieden. Dadurch, daß ihre Wahl auf die Erhaltung der hellenischen Freiheit fiel, weckten sie ganz Hellas zum Widerstand, soweit es nicht medisch gesinnt war“.118 Sowohl der Historiker der Perserkriege als auch der von Nietzsche hochverehrte Vater der klassischen Tragödie entwickelte eine affirmativere Einstellung zur griechischen Freiheit und Demokratie als sein später Bewunderer. Ob panhellenisch oder polisorientiert, ob demokratisch oder aristokratisch eingestellt, die Botschaft der klassischen Tragödiendichter richtet sich an die siegreichen Griechen und speziell an die sich demokratisch organisierenden Athener, die zur Mäßigung und zur inneren Versöhnung aufgerufen werden. Auf eine detaillierte Rekonstruktion der klassischen Tragödien und der großen Geschichtswerke muß hier verzichtet werden. Herauszugreifen sind nur diejenigen tragisch-politischen Zusammenhänge, die zu einem besseren Verständnis der Eigenart und der Entwicklung des Politischen bei den Griechen beitragen können. Dabei soll der Akzent auf den älteren der drei Dichter gelegt werden, da dieser die wichtigsten Themen bereits vorgegeben hat und unmittelbar Zeitzeuge des athenischen Aufstiegs war. Im Mittelpunkt aller Tragödien wie Historien steht der Zusammenprall unterschiedlicher, jeweils für sich berechtigter Wertordnungen, der Kampf von Recht gegen Recht, die Konfrontation gegensätzlicher Lebensformen und -ideale. Der politische Zentralkonflikt besteht in der Konfrontation zwischen Aristokratie und Demokratie, die in der Polis ausgetragen und entschieden werden muß. Das Ziel der Dichter ist der Ausgleich, die mögliche Synthese zwischen beiden Welten. Auch und vor allem bei Aischylos, dem nach Nietzsche die ideale Synthese zwischen Dionysischem und Apollinischem gelungen ist, werden politische Kompromisse gesucht. Beide Seiten, Adel und Volk, haben sich zu arrangieren und aufs Gemeinwohl hin zu orientieren, soll ein menschenwürdiges Leben möglich bleiben.

118

Herodot, Historien, VII, 139. (S. 485).

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Der Krieg gegen und der schließliche Sieg der Griechen über die Perser (479 v. Chr.) bildeten den ersten großen Anlaß für theoretische Reflexionen über Bedingungen und Formen, Regeln und Normen der Politik. Sie finden sich in den Historien Herodots und in den frühen Tragödien des Aischylos, den Persern (aufgeführt 472 v. Chr.) und den Hiketiden (463 v. Chr.),119 die den Gegensatz zwischen orientalischem und griechischem Leben und Denken herausarbeiten, den Antagonismus zwischen orientalischem Despotismus und griechischer Freiheit.120 Zugleich erörtern die Tragödien wie die Historien die Vor- und Nachteile, Stärken und Schwächen, Gefahren und Gebrechen der Demokratie. So unterbricht Herodot gelegentlich die Darstellung der historischen Ereignisse, um allgemeine und aktuelle Probleme zu diskutieren, etwa in der berühmten „Verfassungsdebatte“ anläßlich der Machtergreifung des Dareios nach dem Sturz der Mager. Er läßt die Befürworter und Gegner der Demokratie zu Worte kommen und die Vor- und Nachteile der drei möglichen Regierungsformen abwägen. Während der eine für die Demokratie plädiert, ein anderer die Aristokratie/Oligarchie präferiert, macht sich der dritte stark für die Monarchie. Im Gegensatz zur Alleinherrschaft eines Mannes verdiene die Herrschaft des Volkes schon durch ihren Namen, die Gleichberechtigung aller, den Vorzug, läßt Herodot den Otanes sagen. „Sie bestimmt die Regierung durchs Los, und diese Regierung ist verantwortlich; alle Beschlüsse werden vor die Volksversammlung gebracht“. Dagegen rät Megabyzos zur Oligarchie, da es „nichts Unverständigeres und Hochmütigeres [gebe] als die blinde Masse“. „Wir sollten vielmehr einem Ausschuß von Männern des höchsten Adels die Regierung übertragen.“ Dareios schließlich begründet die Vorzüge der Monarchie mit dem Hinweis auf die immer wieder ausbrechenden Privatfehden in der Oligarchie und auf die zwangsläufig sich einstellende Schlechtigkeit und Gemeinheit des Volkes in der Demokratie.121 Aischylos wurde 525 v. Chr. in Eleusis geboren und starb 456 auf Sizilien. Er lebte also in der Phase der Entstehung der Demokratie und war unmittelbar Zeuge der genannten Entwicklungen und Umwälzungen. In seinem dichterischen Werk reflektiert sich die gesamte Problematik der neuen politischen Ordnung. In ihm wird versucht, eine Antwort auf die großen Fragen der Zeit zu geben, eine Lösung der auftretenden Spannungen und Konflikte zu finden. Die großen Tragödien wurden in der Zeit kurz vor und nach dem Sturz des Areopags aufgeführt und haben vor allem die Voraussetzungen und Folgen dieses Sturzes zum Gegenstand. 119 Vgl. Meier, Die politische Kunst, S. 76 ff., 99 ff.; Raaflaub, Politisches Denken, S. 284 ff.; Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 73 ff., 116 ff. 120 Zum Begriff des „orientalischen Despotismus“ vgl. K. A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Zur Kritik daran vgl. J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, bes. S. 39 ff. 121 Herodot, Historien, III, 80.–82. (S. 218 f.). Zu Herodot vgl. auch R. Bichler, Herodots Welt. Zur „Verfassungsdebatte“ siehe auch den Abdruck und meine Interpretation in: P. Massing/G. Breit (Hg.), Demokratietheorien, S. 21 ff.

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Auch für Aischylos stehen jedoch zunächst die Perserkriege und ihre Folgen im Mittelpunkt der dichterischen Arbeit. In den Persern erinnert er an die zahlreichen Toten und führt den siegreichen Griechen das Schicksal ihrer Opfer vor Augen. Er verdeutlicht den Unterschied zwischen westlicher und östlicher Ordnung und erweist beide als gleichermaßen berechtigte Formen der Organisation des menschlichen Zusammenlebens. Während die orientalische Despotie durch bedingungslose Unterwerfung unter den Despoten gekennzeichnet ist, zeichnet sich die Polis aus durch rechenschaftspflichtige Regierung, durch Redefreiheit und durch Mitbestimmung der Bürger.122 Nichtsdestoweniger werden die siegreichen Griechen zur Versöhnung mit dem Gegner aufgerufen. Indem Aischylos das unbegreifliche Leid der Perser zum Thema macht, führt er den Siegern zum einen ihren Triumph vor Augen und weckt zum andern Verständnis und Empathie für die Unterlegenen. Hellas und Persia werden als „Schwestern eines Stammes“ (Perser, 181. ff.) betrachtet und an ihre gemeinsame Herkunft erinnert. Herrschaft und Freiheit, Despotismus und Politik, werden als mögliche und jeweils für sich berechtigte Formen der Ordnung erwiesen, die gegenseitigen Respekt verdienen und sich nicht länger bekämpfen sollen. Der Dichter ruft den alten mythischen Zusammenhang von Schuld und Strafe, Rache und Gegenrache ins Gedächtnis und setzt ihm das Gerechtigkeitsmodell der Polis entgegen, in dem die endlose Kette durchbrochen ist (Meier 1988, S. 88). Wie später Sophokles so will auch Aischylos den ewigen Kreislauf durchbrechen. Die alten aristokratischen Ideale und Werte haben sich überlebt. Das Prinzip der persönlichen Ehre muß zurücktreten hinter das Wohl der Polis. Der Haß auf die Perser muß besänftigt werden, ein Arrangement mit dem alten Feind ist erforderlich. Die Verhandlung überzeitlich-allgemeiner Fragen ist, wie zumeist, auch in den Persern durch aktuelle politische Probleme veranlaßt. Denn: „Hellas und Asien für Schwestern auszugeben und beiden damit die Versöhnung zur Pflicht zu machen, war keineswegs eine hochherzig-unverbindliche oder gar eine für die Athener einfach selbstverständliche Denkweise. Themistokles war es, der, innergriechische Verwicklungen voraussehend, einen Ausgleich mit Persien anstrebte und dafür, auf Betreiben Spartas, des Hochverrats zugunsten Persiens angeklagt, verurteilt und in die Verbannung – nach Persien! – getrieben wurde“.123

Im Unterschied zu Themistokles wurde Aischylos nicht ostrakisiert, da er nicht unmittelbar in die Politik ein- und nach der Macht zu greifen gedachte. Doch scheint auch er die Gefahr einer innergriechischen Verwicklung nach dem Wegfall der östlichen Bedrohung vorausgeahnt zu haben. Die Folgen der fortgesetzten Seebundpolitik und der sich anbahnenden innergriechischen Verwicklungen standen allerdings erst Sophokles und Euripides vor Augen. Noch waren die Grie122 Vgl. Aischylos, Die Perser, 241. ff., 591. ff. (Sämtliche Tragödien, S. 9–40; hier: S. 16, 26). Dazu Meier, Die politische Kunst, S. 84, 91; Raaflaub, Politisches Denken, S. 284 f., 353. 123 W. H. Friedrich, Nachwort zu Aischylos, Sämtliche Tragödien, S. 281.

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chen damit beschäftigt, ihre Landsleute im westlichen Kleinasien vom persischen Joch zu befreien, ein Streben, das Aischylos in Angst und Schrecken versetzte. Die Griechen, insbesondere die Athener von diesem Unterfangen abzubringen, dürfte das hauptsächliche politische Anliegen seiner ersten überlieferten Tragödie sein. Die Botschaft der Perser ist diesbezüglich eindeutig und unmißverständlich. Aber auch die innere Ordnung der Polis war bedroht. Die Athener schickten sich an, die Möglichkeiten der Demokratie auszuprobieren. Der Übergang zur radikalen Demokratie war allerdings noch nicht vollzogen, als Aischylos Die Sieben gegen Theben (467 v. Chr.) und die Hiketiden (463 v. Chr.) zur Aufführung brachte. Das erste Werk handelt von der Bedrohung der Stadt Theben, die durch den Zwist der beiden Ödipus-Sprößlinge Eteokles und Polyneikes gefährdet ist und nur durch den Tod der beiden Rivalen gerettet werden kann. Indem sie den Fluch ihres Vaters vollstrecken, ermöglichen sie den Übergang in die neue Ordnung, die aber, wie das Ende der Tragödie zeigt, durch den Tod der Brüder belastet wird. Muß doch der Herold am Schluß verkünden, was „des Volkes hoher Rat“ beschlossen hat, daß nämlich zwar Eteokles, „weil er treuen Sinn dem Land bewahrt“ (1008.), nicht aber der Aufrührer Polyneikes in der Heimat begraben werden soll.124 Mag dieser Schluß auch unecht sein: In der Antigone hat Sophokles ihn aufgenommen, um eine weitere Verwicklung vorzuführen, die in der Polis durch den Zusammenstoß des neuen Gesetzes mit dem alten ungeschriebenen Recht entstand. Das Anliegen des Aischylos indes war ein weiteres Mal der Aufweis, wie die von ihm verherrlichte Polis aus Kämpfen hervorgegangen ist und sich durch Kämpfe gegen ihre inneren und äußeren Feinde wiederherstellen und stabilisieren muß (Schadewaldt 1991, S. 115). Hinweise auf eine demokratische Politik lassen sich in den Sieben gegen Theben aber schwerlich finden. In den Hiketiden hingegen sollen, wie Kurt Raaflaub (1988, S. 286) bemerkt, „erstmals die wesentlichen konstitutionellen Charakteristika der Demokratie auf[treten], reprojiziert in die vom Mythos geforderte monarchische Vorzeit und nach Argos verlegt“. „Zum erstenmal liegt hier in der geistigen Auseinandersetzung mit dem ,Phänomen Demokratie‘ die argumentative Deutung einer als Herrschaftsform verstandenen Verfassung vor“ (S. 287). Dies scheint nun doch ein wenig zu viel des Guten, handelt es sich doch bei der Verfassung von Argos, die Aischylos nur erahnen läßt, keineswegs um eine Demokratie, sondern um eine Monarchie, in der König Pelasgos die Völker seines Reiches beruft, um sie den Schutzflehenden treu und mild zu stimmen (Hiketiden, 517. f.). Nicht Überforderung des Königs scheint der Grund für diesen Schritt zu sein, sondern Furcht vor den Folgen seiner Entscheidung, „denn gern häuft Schuld das Volk auf seinen 124 Aischylos, Die Sieben gegen Theben, 1006. ff. (S. 72 ff.). Die Echtheit des Schlusses ist jedoch umstritten. Vgl. die Hinweise bei Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 98 f.

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Herrn“ (ebd., 485.). Wenn Pelasgos die Letztentscheidung über die Asylgewähr „seinem Volk“ überläßt, dann nur, weil er weiß, daß sein eigenes Votum ausschlaggebend ist, er aber die Verantwortung für den unabwendbaren Krieg nicht allein tragen möchte.125 Zwar mußte „in tiefe, vielbewegte Sorge“ er sich versenken (407.), doch sein Entschluß stand fest, als er die Bürgerschaft versammelte (439. f.). Das alte Recht bewährte sich, der Kampf war unvermeidlich. Nicht die abseits vom Tragödiengeschehen tagende „Volksversammlung“ beschließt nach einer aufreibenden Debatte, sie segnet nur den feststehenden Beschluß des Königs ab und ist daher gezwungen, die aus der Entscheidung resultierenden Verpflichtungen zu akzeptieren und die geforderten Opfer zu bringen. Gerade dadurch wird sie in das tragische Geschehen verstrickt, das der Schluß der Tragödie offen-, aber erahnen läßt. Auch hier ging es dem Dichter weniger um ein Plädoyer für die Demokratie als um die Darstellung der zwiespältigen Folgen jeden Handelns und eines aufreibenden Wertekonflikts. Es ging um die sittlichen und moralischen Schranken der freien Entscheidung: die ungeschriebenen, natürlichen oder göttlichen Gesetze – die „Menschenrechte“, wie sie heute heißen – verlangen die Gewähr von Asyl für bedrohte Menschen, ohne Rücksicht auf die möglichen Schäden, die dem eigenen Gemeinwesen dadurch erwachsen können. Ferner ging es um den Zusammenstoß zweier unvereinbarer Lebensordnungen, der eine unaufschiebbare Entscheidung erforderte. Die Polis bietet auch Frauen Schutz, die sich dem gewaltsamen Werben ihrer Vettern zu entziehen trachten. Letztlich siegte das natürliche oder göttliche Recht gegen die Möglichkeit einer utilitaristisch orientierten politischen Rechtsetzung. Wenn auch schwerlich zu leugnen ist, daß in der Tragödie die Bürgerschaft – wer immer auch zu ihr zu rechnen ist – „nicht mehr nur Objekt einer Fürsorge . . ., sondern Subjekt der Politik“ und „das Ganze der Polis“ sein sollte,126 so wird man doch festhalten müssen, daß ihre aktive Rolle dabei recht begrenzt geblieben ist. Man könnte fast zum Umkehrschluß gelangen und mutmaßen, der Dichter habe dem Volk hier demonstrieren wollen, daß seine Interessen in den Händen des Monarchen, des Basileus oder Polemarchos, besser aufgehoben sind als in den eigenen. Jedenfalls überschreiten Fürst und Volk noch nicht die Grenzen der konventionellen Moral. Sie haben noch nicht den Übergang vom nomistischen zum kratistischen Denken vollzogen, der sich erst in den Eumeniden abzeichnet. O Kinder, freut euch! Glücklich steht es in der Stadt; Vom Volk genehmigt sind die Beschlüsse allzumal. (Hiketiden, 601.) Wohl hörte seine Rede klug und vielgewandt Das Volk; doch Zeus ist’s, der es so zum Ziel gewandt! (623. f.) 125 Vorsichtiger formuliert Peter Spahn, für den sich hier der Begriff ,Demokratie‘ erstmals andeutet. Vgl. P. Spahn, Kritik und Legitimation politischer Institutionen in der Sophistik, S. 31. Dazu auch Meier, Die politische Kunst, S. 99, 110. 126 Meier, Die politische Kunst, S. 111. Vgl. ders., Der Umbruch, S. 359 ff.

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Erst in den Hiketiden des Euripides (aufgeführt 430 v. Chr.) werden tatsächlich die Umrisse einer konstitutionellen Demokratie sichtbar.127 Hier nämlich antwortet Theseus auf die Frage eines Herolds nach dem Landesherrn: „Freund, gleich der Anfang deiner Red ist falsch: du suchst hier einen Herrscher, aber nicht ein Mann gebeut in diesem Volke, sondern frei ist unsre Stadt. Abwechselnd herrschen unter sich der Reihe nach ein Jahr die Bürger; nicht dem Reichtum geben sie die Ehre, nein, der Arme hat hier gleiches Recht“ (403.–408.). Bei Aischylos hingegen geht es zunächst nur um den Konflikt jeglicher Politik mit dem ungeschriebenen göttlichen Gesetz. Die Polis wird ermahnt, diese ihre Grenzen nicht zu überschreiten. Sie ist gegründet auf das Recht, die díke, wie auf das Gesetz, den nómos. Die Tragiker „erkennen, daß die Polis aus den Fugen geraten muß, wenn der Mensch in ihr die jenseitigen Bindungen vergißt. Sie rufen zurück zum ungeschriebenen Gesetz, zur Scheu vor dem ,Unheimlichen‘ (deinón), zur Frömmigkeit (eusébeia)“.128 Insofern ist die Funktion der frühen Tragödien für die Demokratie weniger eine „fundierende“ als vielmehr eine „kontrapräsentische“: beschworen wird – wie in der Ilias – eine Vergangenheit, die das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, Verdrängte sichtbar macht.129 Allerdings hat sich das menschliche Handeln aus den mythischen und theologischen Zwängen mittlerweile freigemacht. Ist das irdische Geschehen im Homerischen Epos – wie in den Kosmo- und Theogonien – bewirkt von den Ursprungsmächten des Mythos und eingebunden in den Zusammenhang des Wirkens der olympischen Götter, so hat es sich seit den Werken und Tagen Hesiods und seit der Philosophie der frühen Vorsokratik weitgehend daraus emanzipiert. Zwar thronen auch bei Aischylos und Herodot, bei Sophokles und Euripides die Götter über allem, doch hat der Mensch letztendlich den Lauf der irdischen Dinge zu entscheiden: „Aischylos hat als erster das Handeln des Menschen als Resultat eines inneren Vorgangs (be)griffen . . . in zugespitzten Situationen stellt er, was menschliches Handeln in seinem Kern ist, möglichst rein dar“. – Er hat in seinen tragischen Gestalten Musterbilder, Paradeigmata, Exempla des menschlichen Seins aufgestellt: „wo immer der Mensch sich freifühlt, das Recht zu tun, findet er in diesen Gestalten Modelle seiner selbst und in ihrem Handeln Idealfälle des Eigensten, Innersten . . . Die Tragödie kann nicht mehr die Welt in eine sinngebende und in eine sinnempfangende Schicht aufteilen. Über den Figuren der aischyleischen Tragödien strahlt keine glanzvolle Welt der Götter, die das Irdische erleuchtet und bedeutungsvoll macht, sondern über den Sinn des Geschehens entscheidet der Mensch, nach seinem eigenen Bewußtsein vom Recht“.130

127 Vgl. Euripides, Die Schutzflehenden (403. ff.). In: Sämtliche Tragödien. Bd. 2, S. 384 f. 128 R. Bultmann, Das Urchristentum, S. 137. Siehe auch ebd., S. 127–166: „Das griechische Erbe“. 129 Vgl. J. Assmann, Frühe Formen politischer Mythomotorik, bes. S. 52 ff. 130 B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 106, 107.

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Eine erste große Probe für das menschliche Entscheidungsvermögen und einen weiteren Anlaß zu politiktheoretischen Reflexionen bildeten die Ereignisse um den Areopag, der nach den Perserkriegen zunächst wieder Macht gewonnen hatte, aber 462/61 von Ephialtes entmachtet wurde.131 Auf diese Situation reagieren die Orestie (aufgeführt 458 v. Chr.) und der Prometheus (457 v. Chr.) des Aischylos.132 Auch ihr Thema ist der Aufeinanderprall zweier in sich jeweils berechtigter Rechtsprinzipien, der Zusammenstoß von Recht gegen Recht, von göttlichem und menschlichem, altem und neuem Recht. Speziell die Eumeniden bieten sich in der Tat für eine politische Lektüre des tragischen Geschehens an, wie sie von Meier, Raaflaub u. a. versucht wird. Hier wird die triumphierende Demokratie ermahnt, die alten Mächte nicht zu ignorieren, sondern zu integrieren in die neue Ordnung. Auch die Vertreter der alten Ordnung haben berechtigten Anspruch darauf, respektiert und gehört zu werden. Ihre Einbindung wird als unabdingbar erwiesen, soll die Demokratie nicht ihre besten Kräfte verlieren. Hatten die Reformen des Ephialtes zu einer Spaltung der Bürgerschaft geführt, so suchte Aischylos nach der Möglichkeit der bürgerlichen Einigkeit und einer auf den neuen Grundlagen basierten Gemeinsamkeit. Es ging ihm um die Weckung des erforderlichen Verantwortungsbewußtseins – auf beiden Seiten der Bürgerschaft, auf seiten des Adels wie des Volkes. Schon Aischylos erkannte – wie viele Jahrhunderte später Alexis de Tocqueville – die Vergeblichkeit der Bemühungen um Wiederherstellung der alten aristokratischen Ordnung, die er in seinem Werk wiederaufleben und zu neuem Glanz erstrahlen ließ. Er trauerte zwar ihrer Würde und Größe nach, doch hatte er ihre Schranken und ihre Überlebtheit erkannt. Die alten Werte – Geburt, Ehre, Freundschaft, Treue usw. – hatten sich als lebenshemmend erwiesen, da sie ihre Repräsentanten und Verfechter unausweichlich in Aporien hineintrieben, indem sie den undurchbrechbaren Kreislauf von Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe, Haß und Gegenhaß, Rache und Gegenrache ewig erneuerten. Dieser Kreislauf war in der Polis durchbrochen, was Aischylos mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah. Einerseits war mit den traditionellen Werten der unabwendbar und endlos scheinende Krieg und Bürgerkrieg zu Ende gekommen. Andererseits drohte damit ein bedeutsames Moment des menschlichen Lebens verlorenzugehen. Das in der Polis etablierte Gerechtigkeitsmodell schien keinen Sinn mehr zu entwickeln und keine Lösungsmöglichkeiten anzubieten für die nichtpolitischen Konflikte, die mit der neuen Ordnung nicht beseitigt waren und 131 Vgl. Aristoteles, Athenaion Politeia, 23. [S. 31]: „Nach den Perserkriegen gewann der Rat auf dem Areopag wieder Macht und verwaltete die Stadt, ohne seine Vorherrschaft einem Beschluß zu verdanken, sondern nur, weil er für die Seeschlacht bei Salamis verantwortlich war“. Zur Entmachtung des Areopags siehe ebd., 25. ff. [S. 32 ff.]. 132 Vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 144 ff.; ders., Politik und Anmut; ders., Die politische Kunst, S. 113 ff.; Raaflaub, Politisches Denken, S. 281 ff.; Schadewaldt, Tragödie, S. 151 ff.; Snell, Die Entdeckung, S. 95 ff.

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sich nicht einfach eskamotieren ließen. Im Zusammenhang damit drohte das Bewußtsein für die inneren und äußeren Gefährdungen zu verblassen, das die Griechen im Kampf gegen die Perser geeint und groß gemacht hatte. Dieses Bewußtsein mußte wiedererweckt werden, um das drohende Unheil abzuwenden. Aischylos kämpfte deshalb für eine Synthese und machte sich stark für eine gemäßigte Form der Demokratie, in der die alten aristokratischen Rechte, Institutionen und Werte nicht unterdrückt und beseitigt, sondern respektiert und aufgehoben sein sollten. Sein Ziel war die Versöhnung von alter und neuer Ordnung, von Aristokratie und Demokratie – in einer Mischverfassung, die dem alten Adelsrat eine bedeutende Rolle als Blutgericht und mit ihm das tragische Bewußtsein am Leben erhält. Beide Seiten, Volk und Adel, sollten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, da sich nur so die Ordnung stabilisieren und das Bewußtsein für die dem Demos von allen Seiten drohenden Gefahren schärfen ließ. Indem er die Bürger mit den Prinzipien, Werten und Konflikten der alten Ordnung konfrontierte, führte er ihnen die Relativität der neuen und die mit ihrer Einführung verbundenen Gewinne und Verluste vor Augen. Er demonstrierte ihnen die Stärken und Schwächen, die Schwierigkeiten und Grenzen der neuen Politik. Die alten Ehrprinzipien und die in ihnen angelegten tragischen Konflikte sollten nicht eliminiert oder ignoriert, sondern institutionell verankert und mit klarem Verstand gehegt, gepflegt und geregelt werden. Zwar überträgt Athene in den Eumeniden die Verantwortung für die Stadt der Volksversammlung, doch mahnt sie diese, dem alten Adelsrat seine Funktion zu erhalten und ihm den nötigen Respekt zu zollen:133 Hört mein Gesetz nun, Männer, Volk von Attika, Der ersten Klage Richter um vergossen Blut! Es soll des Aigeus Bürgern dieses Tribunal Für alle Zukunft fürder bleiben und bestehn. [681–684] Nicht unregiert und nicht gewaltbeherrscht zu sein, Das sei dem Volk, fürsorgend rat ich’s, hoch und wert! Und nicht entfernt euch alles Mächtge aus der Stadt; Denn welcher Mensch bleibt, wenn er nichts mehr scheut, gerecht? Und scheut gerecht ihr dieses Rats Ehrwürdigkeit, Des Landes Bollwerk, eures Staates Kraft und Heil, so nennt ihr euer, was der Menschen keiner hat, Der Skythe weder noch des Pelops nahes Land [696–703].

Die politische Intention des Dichters ist demnach Versöhnung, Mäßigung und Integration. Die Bürger sollen sich ihrer Verantwortung bewußt werden und ihren Sinn für die tragischen Implikationen und Folgen ihres Tuns und Lassens bewahren. Dafür vor allem brauchen sie den alten Adel, der in solchen Zusammenhängen die nötigen Erfahrungen gesammelt hatte. Die Problematik des Verantwor133 Zitiert nach der Übersetzung von J. G. Droysen (1832) in: Aischylos, Sämtliche Tragödien, S. 221.

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tungsbewußtseins beherrscht das gesamte aischyleische Werk. Sie tritt auch in der letzten erhaltenen Tragödie hervor, die sich mit der Rache des Zeus am Feuerspender Prometheus beschäftigt.134 Selbst aus dem Gefesselten Prometheus läßt sich mit ein wenig Phantasie das aktuelle tragisch-politische Anliegen extrapolieren (cf. Meier 1988, S. 173 ff.). Ging es doch in ihm um die Synchronisation der Götter- und der neuen Menschenwelt. „Die politische Botschaft des Dichters an seine Mitbürger“, so stellt daher Kurt Raaflaub fest, „ist hier gegenüber der Orestie in jeder Hinsicht intensiviert: Noch ist die Demokratie lediglich usurpierte Herrschaft eines Teils der Bürgerschaft; Legitimität und Dauer kann sie nur erreichen, wenn sie die andere Hälfte zu versöhnen, zu integrieren und zur aktiven Mitarbeit zu gewinnen vermag“. Aber: „auch die Vertreter der alten Ordnung werden Konzessionen machen und sich in die neue Ordnung einfügen müssen, wenn sie aus ihrer Zwangsisolierung herauskommen wollen“ (Raaflaub 1988, S. 294). Auch in den Tragödien des Sophokles (497 bis 406 v. Chr.) stehen unschlichtbare Wertekonflikte im Mittelpunkt. Die Lösung ist nun aber schwieriger geworden. Sie sprengen den Kosmos der Polis-Welt. Wieder steht Recht gegen Recht. Die Diskrepanz zwischen altem und neuem, göttlichem und menschlichem Recht wird größer. Das alte Recht läßt sich nicht mehr in die Ordnung der Polis integrieren. Die Adelswelt hat sich überlebt. Sie steht der neuen „Zweckwelt“135 fremd und unvermittelt gegenüber. Das tragische Bewußtsein stellt sich in der Polis nicht mehr ein. Die alten Ehrprinzipien haben ihren Sinn verloren, sie sind als Ideale überholt. Das Beharren auf ihnen bringt die Repräsentanten der alten Ordnung – Agamemnon und Menelaos im Aias, Antigone usw. – ins Unrecht und treibt sie in den Untergang. Selbst der Tod bringt keine Lösung, solange den Getöteten ein würdiges Begräbnis versagt wird. Setzt sich im Aias schließlich Odysseus gegen seine befreundeten Widersacher durch, so bleibt Kreon in der Antigone stur und lädt sich damit nicht nur den Zorn der Götter auf, sondern auch den Haß der Bürgerschaft. Der Freitod stellt die Würde der Personen wieder her. Aias wird im Nachhinein rehabilitiert, Antigone erweist sich als die Überlegene, während Kreon „geschlagen und zerbrochen ist“ (Schadewaldt 1991, S. 230). In der Entwicklung des sophokleischen Werks spiegelt sich die Entwicklung der Demokratie sowie der Aufstieg und Niedergang der athenischen Macht.136 Vom frühen Aias über die Antigone (aufgeführt ca. 442/40 v. Chr.), Die Trachinierinnen und den König Ödipus (429/425 v. Chr.), die Elektra und den Philokte134 Zum Prometheus-Mythologem und seiner Fortwirkung vgl. auch H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 329 ff. 135 Vgl. Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 241, 318; ders., Die Anfänge der Philosophie, S. 24 ff. 136 Vgl. zum folgenden Meier, Die politische Kunst, S. 186 ff.; Raaflaub, Politisches Denken, S. 296 ff.; Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 173 ff.; ders., Nachwort zu Sophokles, Die Tragödien; ders., Sophokles und Athen.

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tes bis hin zum späten Ödipus auf Kolonos verschärfen sich die Aporien, verdüstert sich der Horizont zusehends. Während die früheren Dramen noch einen Hoffnungsschimmer enthalten, ist dieser in den späteren verblaßt. „Die Gestalten gehen gleichsam an sich selbst zugrunde, durch Irrtum und daimonische Verstrickung . . . Der große Mensch steht gegen eine Welt, aus der sich die Götter zurückgezogen haben und höchstens noch aus der Ferne wirken“ (Schadewaldt 1991, S. 197). Schon in der Antigone ist die Polisordnung im ganzen in Frage gestellt. Sie kann ihre Antagonismen und Zielkonflikte nicht mehr in und aus sich selber lösen. „Die Grenzen nicht nur der Politik, sondern auch der Polis-Gesetzgebung stehen zur Debatte“ (Meier 1988, S. 220). Der Grund für die zunehmende Verfinsterung der Perspektiven ist in der schweren Krise zu sehen, in die Athen infolge der um 430 v. Chr. grassierenden Pest geriet,137 der auch Perikles zum Opfer fiel. Die Folge war jener Kompetenzverlust der auf den großen Führer folgenden Politiker – von Kleon bis Alkibiades –, den Thukydides wie Aristoteles als Ursache des Niedergangs und der athenischen Niederlage erkannten.138 „Wo Aischylos darauf aus gewesen war, wo er darauf hoffen konnte, in den Institutionen – und freilich auch im versöhnlichen Handeln der Athene – die Probleme der Polis lösen zu können, wo ihm gar der tiefe Umsturz seiner Zeit als sinnvoll erscheinen konnte auf dem Hintergrund einer ganzen Geschichte der Zivilisation, ja einer Geschichte der Dynastie des Zeus – da ist für Sophokles alles unsicher und im Wechsel begriffen. Da ist die Demokratie schon keine Gewähr mehr dafür, daß die inneren Probleme der Stadt gelöst sind: Sie stellen sich vielmehr auch in der neuen Ordnung. . . . In der ,Antigone‘ wird dann deutlich, wie sehr statt der Ordnung die Vernunft selbst das Problem geworden war.“ (Meier 1988, S. 207)

Noch wankender wird es bei Euripides (ca. 485–406 v. Chr.), dem „Dichter der Krise“, „jener großen, umfassenden griechischen Welt- und Zeitkrise“ (Schadewaldt 1991, S. 334), die mit der großen Pest einsetzte. Die Polis ist in Auflösung begriffen, die einzelnen sind auf sich selbst zurückgeworfen, die politischen Verhältnisse halten dem drohenden Unheil nicht mehr stand. Das menschliche Leben als solches ist bedroht. Die Verfassung, das Gesetz, der nómos, hat seine Geltung verloren. Die göttlich-überindividuelle Ordnung der Polis ist in Frage gestellt, das normative Wertgefüge ist zerbrochen. War bei Aischylos am Schluß alles klar und geordnet, so bleibt nunmehr alles offen.139 Euripides führt seinen Mitbürgern die Tragik und Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen. „Im Unterschied zum aischyleischen Zentralproblem: gelingt es, per137

Vgl. Thukydides, II, 47. ff. (S. 150 ff.). Vgl. Thukydides, II, 65. (S. 165); Aristoteles, Athenaion Politeia, 28. (S. 35 f.): „Von Kleophon an übernahmen die Volksführung ununterbrochen nur noch die, die sich am unverschämtesten aufführten und dem Volk am meisten nach dem Munde reden wollten, dabei aber nur auf den augenblicklichen Effekt achteten.“ [28. (4), S. 36] 139 Vgl. zum folgenden W. Jens, Einleitung zu Euripides, Sämtliche Tragödien. Seitenzahlen ohne weitere Angaben im folgenden Absatz beziehen sich auf diesen Text. Siehe auch Raaflaub, S. 342 ff.; Schadewaldt, S. 323 ff. 138

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sönliche Maßlosigkeit im Raum der polis in legitimes, der Gemeinschaft verpflichtetes Streben zu verwandeln?, zielt die euripideische Fragestellung auf das persönliche Verhältnis eines Einzelnen zu seiner Heimat“ (XXVI). Dieses Verhältnis ist gestört. Es gibt „weder feststehende Ordnungen noch unwiderrufliche Gesetze . . . nichts Festes, keine Bindungen, auf die man sich verlassen dürfte: jederzeit kann sich ein Umschwung vollziehen; nichts hat Bestand; wenn die Not kommt – und sie kommt über Nacht – ist man allein. Alle Welt verachtet den Unglücklichen. Die Konturen zerfließen, von einer einheitlichen Persönlichkeit kann man bei Euripides nicht mehr sprechen: die Affekte dominieren . . .“ (XXX). „Ewiges Auf und Ab, ständiger Wechsel, Vertauschung von oben und unten, das ist das einzig Gewisse“ (XXXI). Als einzige Möglichkeit des Helden bleibt das Opfer, „um sich noch einmal mit der Welt zu verknüpfen, seiner Isolation zu entgehen und neue Ordnungen zu stiften“ (XXIII). Aber auch Euripides zehrt immer noch von der alten Polis-Vorstellung: „Freiwillige Preisgabe, Opfervollzug, ist allein dort möglich, wo jedenfalls die Vorstellung einer höheren, gemeinschaftsbildenden Ordnung noch durchscheint“ (XXIV). „(. . .) auch für Euripides, den einsamen, seiner Stadt entfremdeten Dichter, bleibt die Vorstellung einer Gemeinschaft, auf die sich der Mensch beziehen kann, zumindest als Vorstellung, Silhouette und Hintergrund, immer gegenwärtig“ (ebd.). Damit schließt sich der Kreis. Am Ende der Entwicklung bleibt die Sehnsucht nach der verlorenen Welt. Euripides hat die endgültige Niederlage Athens nicht mehr erlebt. Er verließ die Stadt kurz nach 408 v. Chr., um seinen Lebensabend am Musenhof des Archelaos in Makedonien zu verbringen, wo er 406 v. Chr. starb, im selben Jahr wie Sophokles. Er hatte aber noch den Sturz der Demokratie miterlebt, der auf den Untergang des athenischen Heeres in Sizilien (413 v. Chr.) folgte. Nach der sizilianischen Katastrophe begannen sich die Ereignisse in der heimischen Polis zu überschlagen. Innerhalb von nur acht Jahren erlebte Athen eine viermalige Verfassungsänderung, die den ohnehin bereits virulenten Zweifeln an der Göttlich- und Natürlichkeit des nómos Auftrieb und neue Nahrung gab. 411/10 v. Chr. wurde die Demokratie beseitigt und mit dem Rat der Vierhundert eine Oligarchie errichtet.140 Dieser folgte zwar die Restitution der Demokratie, die aber mit der Kapitulation Athens (404 v. Chr.) der Tyrannis der Dreißig und der Zehn wich, bis sich schließlich das Volk wieder zum „Souverän“ aufwarf und alles durch von ihm dominierte Abstimmungen und Gerichtshöfe verwaltete.141 Infolge dieser Entwicklungen mußte sich auch bei denen, die noch immer an die göttliche Kraft des Gesetzes geglaubt hatten, die Gewißheit einstel140 Vgl. Aristoteles, Athenaion Politeia, 29. (S. 36): „Solange . . . die Kriegslage ausgeglichen war, wahrten die Athener die Demokratie. Als aber nach dem Rückschlag in Sizilien die Position der Spartaner wegen ihres Bündnisses mit dem Großkönig stärker wurde, waren sie gezwungen, die Demokratie abzuschaffen“. 141 Vgl. Thukydides, VIII, 63. ff. (S. 675 ff.); Aristoteles, Athenaion Politeia, 41. (S. 47 f.).

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len, daß der nómos keine von Natur gegebene Einrichtung ist, sondern eine wandelbare Festsetzung, die bei Bedarf geändert werden kann und immer nur befristet gilt. Dieser Gedanke hatte sich den philosophischen Betrachtern schon früher aufgedrängt, da der Vergleich der unterschiedlichen Verfassungssysteme in und außerhalb Griechenlands die Relativität und Abhängigkeit des Gesetzes von zahlreichen – sozialen, ethnischen, religiösen u. a. – Faktoren vor Augen geführt hatte. Artikuliert wurde er von den Sophisten, die damit zwar ihre philosophischen Gegner auf den Plan riefen, in Wirklichkeit aber nur ausplauderten, was viele dachten.142 Anders als Euripides und die spätere Philosophie versuchte die Geschichtsschreibung derweil eine nüchterne Bestandsaufnahme der zurückliegenden Kämpfe und Schlachten. Thukydides (ca. 460 bis kurz nach 400 v. Chr.) erforschte in seinem großen Werk die Gründe für den Aufstieg und den Niedergang der athenischen Macht. Er fand sie im ungezügelten und rücksichtslosen Machtstreben der Athener, das er auf die menschliche Natur zurückführte, auf das angeborene Streben der Menschen nach Freiheit einerseits, nach Macht und Herrschaft andererseits. Von ihm wurde nicht nur Nietzsches Konzept des Willens zur Macht, sondern auch Thomas Hobbes inspiriert, dessen erste literarische Produktion die 1629 erschienene englische Übersetzung des Peloponnesischen Krieges war. Thukydides gilt entsprechend heute als der Begründer des Dezisionismus, da er das jeweils geltende Recht, den nómos, als ein normativ aus dem Nichts geborenes Resultat politischer Kämpfe und die Politik selbst nicht länger als MiteinanderReden und -Handeln und als Sorge ums Gemeinwohl, sondern als Machtkampf begriff. Er erscheint heute manchem Betrachter gar als der eigentliche „Entdekker des Politischen“. Nicht die Griechen der spätarchaischen und klassischen Zeit, sondern Thukydides soll das Politische erfunden haben. Ihm, dem Historiker, sei die „Entdeckung des Politischen als eines isolierbaren Phänomens in der Fülle der geschichtlichen Erscheinungen“ gelungen.143 In seiner Kriegsursachenanalyse werde „der politische Bereich erstmals zu einer selbständigen Dimension“, erreiche „,das Politische‘ seine volle Autonomie“. Mit ihm beginne „die bis in die jüngste Zeit vorherrschende Konzentration der Geschichtsschreibung auf die politischen und militärischen Vorgänge“.144 Er habe „das Programm eines politischen Realismus“ entworfen, „demzufolge alle moralischen, alle recht142 Vgl. Münkler, Thukydides, S. 42: „Der Krieg und seine tiefgreifenden Erschütterungen des politischen Selbstverständnisses der Griechen haben nach der ethnographisch-komparativen, der philosophisch-epistemologischen und der naturwissenschaftlich-medizinischen Infragestellung des nomos das Vertrauen in dessen Gültigkeit schließlich auch bei denen zerstört, die zunächst noch an ihm festgehalten hatten, und dies sicherlich auch deswegen, weil der nomos mit Ausbruch des Krieges zu einer Waffe im Konflikt zwischen Athen und Sparta geworden war.“ 143 H. Strasburger, Einleitung zu Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, S. XLIX. 144 Raaflaub, Politisches Denken, S. 340. Vgl. auch H. Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis.

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lichen Argumente nur Verschleierungen eines dahinterstehenden Machtstrebens, oder, schlimmer noch, Illusionen sind“. Seine Politiktheorie sei „als Basis aller Machttheorien von Machiavelli bis Morgenthau von der Politikwissenschaft noch zu entdecken“.145 Ist dies das Endergebnis der gesamten Entwicklung? Ist dies die Abendröte, die auf den herrlichen Sonnenaufgang am Ende der archaischen Zeit, auf die Mittagsglut der Perserkriege und auf den heißen Nachmittag nach der Entmachtung des Areopags folgte? Liegt der Sinn und Zweck des von den Griechen entdeckten Politischen tatsächlich im natürlichen und angeborenen Macht- und Freiheitsstreben? Geht es auf im Machtkampf in und zwischen den Poleis? Bildet das Politische für Thukydides tatsächlich ein isolierbares, selbständiges und selbstgenügsames Phänomen? Zehrt es nicht von den anderen Bereichen? Hat nicht gerade Thukydides gezeigt, daß es immer abhängig bleibt von materiellen Voraussetzungen und mitbewirkt wird insbesondere von wirtschaftlichen Faktoren?146 Hat der Historiker des Peloponnesischen Krieges hinsichtlich der Politik das letzte Wort gesprochen? Hat die nach ihm kommende Politische Philosophie nichts Neues mehr zutage gefördert? Diese Fragen leiten über zu den nächsten Abschnitten. Sie führen zugleich zum Ausgangspunkt zurück und erzwingen eine abschließende Bilanz der Entwicklung des griechischen Politikdenkens, die aber erst nach der Betrachtung der klassischen Politischen Philosophie möglich ist. Sie soll – nach dem Durchgang durch die Politische Philosophie – durch Wiederaufnahme und Fortführung der abgebrochenen Nietzsche-Interpretation in Angriff genommen werden. Auch am Ende des Peloponnesischen Krieges stellte sich die Sache für die alten Griechen ganz anders dar als für Nietzsche und die späteren Betrachter. Sie mußten sich – wie schon nach den Perserkriegen – mit den Folgen des zurückliegenden Krieges und mit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines politischen Neubeginns beschäftigen. Konnte nach dem Sieg der Verbündeten im ersten Drittel des Jahrhunderts die tragische Verstrickung in Vergessenheit geraten, so stand am Ende des Jahrhunderts die Tragik des athenischen Scheiterns allen vor Augen. Man mußte sich mit den Folgen der Niederlage auseinandersetzen und die Bedingungen und Formen, Regeln und Normen eines friedlichen Zusammenlebens analysieren. Welche Konsequenzen haben die Philosophen aus dem Auf- und Abstieg ihrer Polis gezogen? Haben sie die alten Fehler wiederholt? Welche Neuerungen haben sie ins Politikdenken eingeführt?

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Münkler, Thukydides, S. 45, 43. Thukydides, I, 1.–19., bes. 11., 13., 17. (S. 11 f., 15). Vgl. P. Spahn, Kritik und Legitimation politischer Institutionen in der Sophistik, S. 37. 146

2. Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie

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2. Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie a) Sokrates und die Krise der athenischen Polis Im Verlauf des Peloponnesischen Krieges verbreitete sich eine allgemeine Unsicherheit über die Sitten und Gebräuche, die Umgangsformen und Institutionen der Polis. Die seitherigen Gepflogenheiten des politischen Lebens, die lange Zeit nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten, die eingespielten Gewohnheiten, selbst die geltenden Gesetze wurden nunmehr in Frage gestellt und relativiert, der feste Grund wurde wankend gemacht. Das Vertrauen in die integrierende und ausgleichende Kraft des nómos schwand. Die frühere Geltung und Bedeutung der Polis war erschüttert. Die Bürger zweifelten am Sinn der Politik. Eine allgemeine „Politikverdrossenheit“ breitete sich aus. Zwar war die Demokratie 403 v. Chr. wiederhergestellt worden, doch wollte alsbald keiner mehr in die Volksversammlung gehen, weshalb man – nach dem Zeugnis des Aristoteles – „alle möglichen Listen“ ersann, „um die Menge zur beschließenden Abstimmung zu locken“. So führte man wieder Diäten für die Übernahme von Mandaten und 392 v. Chr. endlich ein Tagegeld für den Besuch der Volksversammlung ein, das zunächst einen Obolus betrug, alsbald aber auf zwei und schließlich auf drei Obolen erhöht wurde.147 Damit waren aber die Ursachen des schwindenden Engagements nicht beseitigt, sondern nur die Symptome angegangen bzw. überdeckt worden. Die Philosophie konnte sich mit solch oberflächlichen Heilmethoden nicht begnügen. Man mußte sich über den Sinn und Zweck des individuellen und politischen Lebens verständigen. Man mußte die Gründe des Sittenverfalls analysieren und die potentiellen Gegenmittel thematisieren. Welche Tugenden und Institutionen waren nötig, um das städtische Leben in vernünftige Bahnen zurückzulenken? Welche Lebensweise, welche Umgangsformen, welche Sitten und Normen waren erforderlich, um zu Frieden und Eintracht zurückzufinden? Was ist der Mensch, was ist seine Bestimmung? Welches sind die Institutionen einer wohlgeordneten Polis? Wie werden sie hervorgebracht und vor dem Zerfall geschützt? Mit diesen Fragen hatte sich nunmehr die Philosophie auseinanderzusetzen. Sie stehen im Zentrum der politischen Philosophie der Sophisten sowie ihrer Gegner und Kritiker, Platon und Aristoteles. „So war nun die Polis vor das Tribunal der Vernunft gefordert. Sie mußte sich dadurch rechtfertigen, daß sie Auskunft gab über ihr Was und Wozu. So begann die Wissenschaft von der Politik“.148 Unzufrieden mit den Verhältnissen in der Stadt, zweifelnd an den überkommenen Sitten, machten sich die jungen Intellektuellen auf die Suche nach dem Bild einer besseren Polis, nach einem Paradigma für die Politik. Ausgangspunkt des Denkens war nicht länger das Staunen über den wohlgeordneten Kosmos, son147 148

Aristoteles, Athenaion Politeia, 41. (S. 48). H. Kuhn, Platon, S. 13.

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dern die Erfahrung der Zerrüttung der Polis-Ordnung. Der Verlust der Einheit, der Verfall der Sitten schürte das Verlangen nach neuen Formen, trieb neue Philosophien hervor. Polisspekulationen erblühten, Lehrer des Volkes zogen durch die Lande, Rhetoriker, Sophisten, die den Bürgern Mores lehren wollten. Hatte sich die frühere Philosophie konzentriert auf die Natur und auf den Kosmos, so wurden nun die sozialen und politischen Verhältnisse zum alles entscheidenden theoretischen Problem. Die Philosophie begnügte sich im Bereich der Humanitas nicht länger mit Sittensprüchen (wie bei den Sieben Weisen), sie suchte vielmehr nach festen Lebensprinzipien, um der Unsicherheit der sozialen Verhältnisse zu entrinnen. Erwägungen wurden laut, ob man die Polis nicht durch eine Monarchie substituieren solle. Einige rieten, wie Xenophon, die Athener sollten die Verfassung des Siegers Sparta übernehmen. Andere empfahlen, wie Isokrates, die Rückkehr zur gemäßigten Demokratie, wie sie von Solon und Kleisthenes geschaffen worden war, und setzten ihre Hoffnungen auf eine Einigung der Hellenen und einen panhellenischen Zug gegen die Perser.149 Die Sophisten hingegen zogen als Lehrer durch die Lande, um den Kindern wohlhabender Familien die Prinzipien eines gelingenden, eines ehrenhaften und erfolgreichen Lebens beizubringen, sie zu geschickten Rednern zu machen und in der praktischen Klugheit auszubilden, damit sie sich sowohl in den eigenen Angelegenheiten als auch im öffentlichen Leben bewähren, ihr eigenes Haus möglichst gut verwalten und in den Angelegenheiten der Stadt mithandeln und mitreden konnten.150 Sie waren – im Unterschied zu ihren Kritikern und Gegnern, zu Sokrates, Platon und Aristoteles – in der Regel Demokraten und überzeugt davon, daß sich „Tugend“ oder „Tüchtigkeit“ (areté) lehren lasse. Ihr Ziel war es, ihren Schülern einen neuen Lebenssinn und eine neue Orientierung zu vermitteln.151 Die Sophisten leisteten vornehmlich negatorische Arbeit. Sie schürten Zweifel und lehrten die jungen Menschen, ihre eigenen Voraussetzungen in Frage zu stellen. Alle Verhältnisse und Institutionen wurden dialektisch behandelt und dem radikalen Zweifel unterworfen.152 Schon Protagoras (481–411 v. Chr.), der erste Lehrer, der sich selbst Sophist nannte, stellte fest, daß es keine absolute Wahrheit gibt. Jeder habe seine eigene, für sich berechtigte Meinung. Gerade in der Vielfalt der Meinungen und Anschauungen äußere sich die Wahrheit.153 Zwar gelangte er selbst noch nicht zu einer Relativierung des nómos, doch wurden seine 149

Vgl. K. Rosen, Griechenland und Rom, S. 62 ff. Vgl. Platon, Protagoras, 312 d, 318 e (Bd. I, S. 190, 199 f.). 151 Zu den Sophisten vgl. C. J. Classen (Hg.), Sophistik; T. Buchheim, Die Sophistik; W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy. Bd. 3. 152 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen 1. HW 18, S. 406 ff. 153 Protagoras, so berichtet Sextus Empiricus, habe behauptet, „es seien sämtliche Vorstellungen und Meinungen wahr, und die Wahrheit gehöre zu den relativen Dingen, weil alles, was ein Mensch sich vorstellt oder meint, in Hinsicht auf diesen wirklich wahr sei“. (DK fr. 1; Capelle, fr. 8, S. 327). Vgl. auch Platon, Theaitetos 166 D ff. (DK 74 A 21 a/Capelle, fr. 13, S. 329). 150

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Nachfolger und Schüler zu der Einsicht getrieben, daß auch die Sitten und Gebräuche, Institutionen und Gesetze instabil und variabel, daß die menschlichen Dinge im Gegensatz zur äußeren Natur nicht feststehend, sondern veränderbar sind. Sie mußten erkennen, daß es keine unwiderruflichen Gesetze gab, daß der nómos vielmehr auf bloßer Konvention beruhte. Diese Erkenntnis wurde gewonnen in der berühmten Nomos-physis-Kontroverse, die zu einer Relativierung und Abwertung des nómos führte, der zuvor als Schranke der Politik und als Legitimationsgrundlage der Institutionen betrachtet worden war.154 Damit wurde auch in der Politischen Philosophie der Übergang vom nomistischen zum kratistischen Denken vollzogen, d. h. die Ablösung des auf die Gesetze fixierten durch das an Macht und Machbarkeit und letztlich an der Politik orientierten Denkens.155 Man begann nach einem Maßstab zu suchen, mit dem man gutes von schlechtem Recht unterscheiden konnte. Kurt Raaflaub faßt die Voraussetzungen und Ergebnisse der Kontroverse wie folgt zusammen: „Schon am Ende des 6. Jahrhunderts verwiesen Xenophanes, Heraklit und Hekataios auf die Vielfalt von Bräuchen und Gesetzen bei verschiedenen Völkern. Die ethnographischen Exkurse in Herodots Historien trugen weiter zur Bestätigung dieser Tatsache bei . . . und bezeugen das andauernde Interesse an diesen Dingen. Während frühere Generationen versucht hatten, unter Berufung auf göttliche Sanktion allgemeingültige und -verbindliche Verhaltensweisen (nomoi) zu postulieren, wurde die Geltung des nomos (Brauch, Herkommen, Gesetz) jetzt relativiert. Zumal die Beobachtung des in der Natur (physis) und im zwischenstaatlichen Bereich Üblichen deutete in wesentlichen Hinsichten auf einen beschränkten Geltungsbereich des jeweiligen nomos und einen ausgeprägten Kontrast zwischen nomos und physis. Als einer der ersten scheint der Athener Archelaos, ein Schüler des Anaxagoras, ausgesprochen zu haben, daß Konzepte wie ,das Gerechte‘ oder ,das Schändliche‘ nicht von Natur aus, sondern nur aufgrund menschlicher Konvention bestünden . . .“ (Raaflaub 1988, S. 319)

Hatte schon Antigone in der nach ihr benannten Tragödie des Sophokles darauf beharrt, daß die göttlichen Gesetze höher stehen als die von Menschen erlassenen (Antigone, 450. ff.), so wurden nun auch die natürlichen über die menschlichen Gesetze gestellt. Am schärfsten dürfte Antiphon die Differenz artikuliert haben, als er bemerkte: „. . . die Gesetze [der Polis] sind willkürlich gesetzt, die der Natur dagegen notwendig. Und die Bestimmungen der Staatsgesetze sind das Ergebnis von gegenseitiger Übereinkunft, nicht aber gewachsen“. Ja, die größte Zahl der menschlichen Satzungen sei „im Gegensatz zur Natur gegeben“, weshalb es ratsam sei, vor Zeugen die Gesetze der Polis zu befolgen, ohne Zeugen dagegen

154 Vgl. F. Heinimann, Nomos und Physis; Raaflaub, Politisches Denken, S. 319 ff.; Spahn, Kritik und Legitimation, bes. S. 34 ff. Zur Etymologie des physis-Begriffs vgl. auch Schadewaldt (1978), S. 201 ff. 155 Vgl. Meier, Entstehung des Begriffs ,Demokratie‘, S. 15 ff., 35 ff.; ders., Die politische Kunst, S. 427 ff.

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die der Natur.156 Um den Gesetzen Nachdruck zu verleihen, so ergänzte Kritias, habe schließlich „ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern erfunden . . ., damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder [auch nur] dachten“.157 „Nicht nur Recht und Gesetz sind brüchig geworden“, so folgert Peter Spahn, „auch der Götterglaube ist nun als nützliche Lüge entlarvt“.158 Dagegen setzte schließlich der Anonymos Iamblichi wieder eine positive Ethik, die zeigen wollte, daß die Achtung und Einhaltung der Gesetze und der Glaube an die Gerechtigkeit unabdingbar seien für den Erhalt und Zusammenhalt der Polis.159 Damit näherten sich die Sophisten am Ende der Position ihres schärfsten Kritikers. Es war Sokrates, der gegen sie zu Felde zog, indem er den Wahrheits- und Werterelativismus attackierte und sich bemühte, die sophistische Kunst und Rhetorik als Dilettantismus, als leerlaufendes und sinnloses Können zu entlarven. Auch er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die jungen Leute ins Reich der Praktischen Philosophie einzuführen. Anders als seine philosophischen Gegner ließ er sich dafür aber nicht entlohnen und erhob keinen Anspruch, seine Schüler zu erfolgreichen Praktikern zu machen und sie in Fragen der gelingenden Lebensführung unterrichten zu können. Vielmehr wollte er sie den Alltäglichkeiten gerade entfremden, indem er sie zu kritischen Reflexionen anhielt. Er pflegte auf dem Marktplatz zu disputieren und seine Mitbürger zum Nachdenken über ihre Pflichten in den unterschiedlichsten Situationen und Zusammenhängen anzuregen. Von ihm lernten sie, ihre vorgefaßten Meinungen zu hinterfragen und alle eingespielten Selbstverständlichkeiten des praktischen Lebens in Zweifel zu ziehen. Von ihm erfuhren sie, daß Tugend und Anstand, daß Sittlichkeit nicht lehrbar sei, daß jeder einzelne sie für sich selbst erringen müsse durch die bedingungslose Hingabe an die Liebe zum Wissen, durch eigene Erfahrung und durch die unermüdliche Suche nach der Wahrheit. Sokrates wurde 469 v. Chr. geboren und starb 399 durch den Schierlingsbecher. Er hat als Hoplit drei Feldzüge des Peloponnesischen Krieges mitgemacht – Potidaia in Thrakien, Delium in Böotien, Amphipolis in Edonis am strymonischen Meerbusen – und kann als Verkörperung des von ihm selbst propagierten Tugendideals angesehen werden.160 Er hat sich durch Tapferkeit ausgezeichnet, war ein Ausbund griechischer Weisheit, lebte besonnen und sparsam, d. h. in ärmlichen Verhältnissen, hat sich um Freundschaft bemüht, hat versucht, gerecht zu sein und den geltenden Gesetzen gemäß zu leben und sein Tun und Lassen den 156 Antiphon, DK 87, B 44 A/Capelle fr. 11, S. 376. Vgl. auch W. Wieland (Hg.), Antike, S. 89 ff. 157 Kritias, Sisyphos. In: DK 88, B 25/Capelle, fr. 1, S. 378. 158 Spahn, Kritik und Legitimation, S. 35. 159 Vgl. Anonymos Iamblichi, in: Capelle, S. 381 ff. 160 Zu Sokrates vgl. Xenophon, Memorabilien; Hegel, Vorlesungen 2. HW 19, S. 441 ff.; Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, S. 113 ff.

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Einsichten seiner Vernunft unterzuordnen. Dennoch – oder gerade deshalb – wurde er angeklagt, und zwar zunächst von Aristophanes in den Wolken, der ihn als Hypersophisten karikierte und zum Gegenstand des Spottes machte. Sodann vom athenischen Volk, das ihn der Verführung der Jugend und der Leugnung der in der Stadt anerkannten Götter bezichtigte. Diese Anklage war nach dem noch geltendem Recht berechtigt und wurde im Urteil des Gerichts bestätigt. Sie hätte aber nicht zum Tode führen müssen, denn das athenische Recht überließ es dem Angeklagten selbst, das Strafmaß zu bestimmen. Weil Sokrates jedoch die Kompetenz des athenischen Volkes bestritt und sich als Strafe eine Belobigung und eine freie Beköstigung im Prytaneion ausdachte, wurde er schließlich zum Tode verurteilt, ein Urteil, dem er sich ohne Widerstand unterwarf, da er die Gesetze der Polis als höchste Instanz achtete.161 Damit hat sich seine Verachtung der Demokratie und seine Ignoranz gegenüber dem Tragischen gerächt. Sein Versuch, den Zusammenhang von Haß und Streit, Kampf und Leid in Räsonnement zu überführen und die Eitelkeiten und Interessen seiner Mitbürger mit theoretischen Mitteln zu überwinden, schlug auf ihn selbst zurück und ließ ihn die Folgen seiner eigenen Schuldverstrickung spüren. Sokrates hielt sich von den politischen Tagesgeschäften fern, weil in ihnen die strenge Respektierung der moralischen Gesetze unmöglich war.162 Er war aber jederzeit bereit, mit jedermann an jedem Ort jedes Problem zu diskutieren und seinen Gesprächspartnern ihre theoretischen Grenzen vorzuführen. Den Ausgangspunkt seiner Unterhaltungen bilden in Platons Dialogen immer konkrete Anlässe und konkrete Fragen. Die allgemeinen Einsichten und Erkenntnisse werden stets aus dem konkreten Fall entwickelt, indem die festgewordenen Auffassungen und Prämissen der Disputanten verwirrt und aufgelöst werden. Sokrates zwingt seine Mitbürger, durch eigene Einsicht zur Erkenntnis des Richtigen und Wahren zu gelangen. Er stellt alle seine Fragen nur aus einem einzigen Grund, schreibt Platon, nämlich weil er wissen will, was es auf sich hat mit der menschlichen Tugend oder Tüchtigkeit (areté), ob sie lehrbar ist oder nicht, ob sie eine Einheit unterschiedlicher Einzeltugenden ist oder ob diese unabhängig voneinander sind.163 Indem er seine Gesprächspartner in Aporien hineintreibt und sie in Widersprüche verwickelt, zwingt er sie, ihre Prämissen preiszugeben und weiterzufragen. Darin liegt der Kern der sokratischen Methode, der Dialektik, die Sokrates selbst als Mäeutik verstand. Er führte nach seinem Selbstverständnis das Handwerk seiner Mutter fort, die einst Hebamme gewesen war.164 Er wollte keine neuen Dogmen und Einsichten verkünden, sondern nur das aus seinen Ge161 Vgl. Platon, Die Apologie des Sokrates, 36 D (II, S. 240 f.); ders., Kriton, 50 B ff. (II, S. 261 ff.). Zur athenischen Gerichtspraxis siehe auch L. Burckhardt/J. v. Ungern-Sternberg (Hg.), Große Prozesse im antiken Athen. 162 Vgl. Platon, Die Apologie des Sokrates, 31 C f. (II, S. 233). 163 Vgl. Platon, Protagoras, 361a (I, S. 264). 164 Vgl. Platon, Theaitetos, 149a (II, S. 14).

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sprächspartnern herauskitzeln, was ohne ihn bereits in ihnen war. Die Vernunft und die Wahrheit ist demnach im Denken der Menschen angelegt, sie muß nur freigesetzt und aus ihrem Dämmerschlaf erweckt werden. Die sokratische Methode ist der radikale Zweifel, der Inhalt ist die Erkenntnis des Guten, Wahren, Richtigen und Schönen. Sokrates selbst begnügte sich mit mündlichen Disputen, seine Schüler aber brachten seine und ihre Gedanken zu Pergament. Der bedeutendste von ihnen war Platon (427–347 v. Chr.), dem wir die wichtigsten Informationen sowohl über seinen Lehrer als auch über seine philosophischen Rivalen, die Sophisten, sowie die entscheidenden Anstöße für die künftige Philosophie verdanken. Gegen Ende des fünften vorchristlichen Jahrhunderts setzte somit eine Kontroverse ein, die man als republikanischen Tugenddiskurs bezeichnen kann. Dieser begann folglich nicht erst mit dem Florentiner Bürgerhumanismus in der Frühen Neuzeit,165 sondern in den Kontroversen zwischen den Sophisten und ihren philosophischen Kritikern und Gegnern. Es ging den Theoretikern der Polis um die Begründung und (Wieder-)Herstellung jener inneren Einstellung der Bürger, die unabdingbar ist für das Funktionieren einer republikanischen Ordnung – wie immer diese auch konkret ausgestaltet und regiert sein mag. Auch Sokrates und Platon teilten zunächst die von den Sophisten stammende Auffassung, die Thukydides in seiner Kriegsanalyse zum Ausdruck gebracht hatte, daß nämlich in Politik und Geschichte „nicht die Institutionen als äußerliche, auf Dauer gestellte Regeln und Regelungen, sondern die innere Einstellung der Menschen, der éthos, entscheidend sei“.166 Ihr Anliegen war deshalb die Formung der Charaktere,167 d. h. die Erziehung der Bürger wie der Regenten zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit. Nur hinsichtlich der Wege und Methoden dieser Erziehung gingen die Meinungen auseinander. Während die Sophisten davon überzeugt waren, daß die Tugenden lehrbar seien, wiesen Sokrates und Platon diese Annahme zurück. Nach ihrer Auffassung konnte man praktische Klugheit nur in der Praxis selbst erlangen – durch unermüdliche Bemühung um ein richtiges und gelingendes Leben und durch die bedingungslose Hingabe an die Liebe zum Wissen. Dennoch stand auch bei ihnen die Frage nach der Gewinnung eines republikanischen Ethos im Mittelpunkt der praktischen und politischen Philosophie. Erst als er eingesehen hatte, daß jeglicher Appell an die Bereitschaft der Bürger ungehört verhallen würde, suchte Platon nach festeren Formen, nach Regeln und Institutionen, die das politische Leben erneuern und stabilisieren und die Menschen auch gegen ihren Willen auf rationale Pfade lenken sollten. 165 Vgl. H. Baron, Bürgersinn und Humanismus; ders., The Crisis of the Early Italian Renaissance; H. Münkler, Die Idee der Tugend; ders., Politische Tugend; J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment; ders., Die andere Bürgergesellschaft. Siehe auch unten, S. 561 f. 166 Münkler, Thukydides, S. 43. 167 Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia.

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b) Vom republikanischen Tugenddiskurs zum Institutionalismus: Zur Entwicklung der politischen Philosophie Platons Platon wurde ca. 427/29 v. Chr. als Sohn einer aristokratischen Familie in Athen geboren. Er erlebte seine Kindheit und Jugend während des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) und wurde durch die nicht enden wollenden inneren und äußeren Kämpfe mit den Unwägbarkeiten des Lebens vertraut. Durch seinen Lehrer Sokrates wurde er als junger Mann in die Philosophie eingeführt und zum Nachdenken über die Grundlagen und Formen, Werte und Normen der Ethik und Politik sowie zur kritischen Infragestellung der in der Polis zirkulierenden Meinungen angeregt. Von ihm erlernte er den radikalen Zweifel, der alle seitherigen Gepflogenheiten und Dogmen vor den Gerichtshof der Vernunft zitierte. Durch die mehrfache Verfassungsänderung zwischen 411 und 403 v. Chr., durch die Niederlage und den Zerfall der athenischen Polis wurde er sensibilisiert für die Fragilität und Kontingenz der politischen Institutionen und für die Relativität und Unbeständigkeit der Sitten. Der Prozeß gegen Sokrates, der 399 v. Chr. mit der Verurteilung und dem Tod des Angeklagten endete, mußte das ohnehin vorhandene Mißtrauen des jungen Philosophen gegen die Demokratie schüren. Platon zog sich in der Folge enttäuscht aus der politischen Arena zurück und konzentrierte sich mit seinen Schülern auf die geistige Arbeit in der von ihm gegründeten Akademie. Er begann, alle damaligen Wissensgebiete systematisch zu durchdringen, unterzog die Erkenntnisse seiner Vorgänger einer kritischen Revision und entwickelte das erste umfassende und in sich geschlossene philosophische System, das zur Inspirationsquelle und zum permanenten Bezugspunkt der künftigen Philosophie wurde. In der Entwicklung der Philosophie Platons werden gewöhnlich drei Phasen unterschieden: 1. die frühen Dialoge, die sich vor allem mit ethischen Fragen des richtigen und guten Lebens befassen; 2. die mittleren Dialoge, deren bedeutendster die Politeia ist; 3. die späten Dialoge, in denen die Suche nach dem Guten durch die grundsätzlichere Frage nach dem Sein des Seienden überlagert bzw. verdrängt wird. Es gab seinerzeit keine unproblematischen Anknüpfungspunkte mehr. Man konnte sich auf keine Vorgaben der Tradition stützen, sondern war genötigt, ganz von vorne zu beginnen und neue Fundamente für das Denken zu legen. Vor allem im Bereich der Ethik und Sittlichkeit gab es keine irreversiblen Gewißheiten mehr, vor denen die Skepsis hätte Halt machen können. Die widersprüchlichsten Auffassungen über das richtige Leben standen unvermittelt nebenund gegeneinander. Die Sophisten waren deshalb zu der Einsicht gelangt, daß Aussagen über das Wahre, Gute und Richtige stets relativ und situationsabhängig sind. Vordringlich war folglich die kritische Durchdringung und Dekonstruktion der kursierenden Meinungen, die auf ihren rationalen Kern zu reduzieren waren. Platon verfaßte deshalb Dialoge, in denen zumeist Sokrates der Wortführer ist, der im Gespräch mit wechselnden Partnern das Für und Wider der unterschiedlichen Auffassungen bedenkt, seinen Gesprächspartnern ihre theoretischen Gren-

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zen vorführt, ihre Prämissen verwirrt und sie zu neuem Nachdenken inspiriert, damit sie durch eigene Einsicht zur Erkenntnis des Richtigen und Wahren gelangen. In eben dieser Weise erörtert er in Platons Politeia mit seinen Gegenspielern Glaukon und Adeimantos die Prinzipien und Erfordernisse eines vernünftigen Lebens und die Funktionen und Probleme der Polis, die seinerzeit ziemlich im Argen lag und eine Totalreform an Haupt und Gliedern nötig hatte. In Platons Werk zeigt sich eine Entwicklung, die man in der Geschichte der politischen Ideen immer wieder beobachten kann. Zu allen Zeiten suchten die Denker eine Lösung der entstehenden sozialen, ökonomischen, rechtlichen, religiösen und politischen Probleme zunächst im Menschen selbst: in einer neuen Handlungsorientierung, die durch Aufklärung, Erziehung, durch eine neue Moralphilosophie sowie durch die Preisgabe der eingespielten Lebensgewohnheiten gewonnen werden sollte. Die verkrusteten Strukturen und Institutionen der Gesellschaft werden einer radikalen Kritik unterworfen, um die Spontaneität der handelnden Individuen freizusetzen, die Menschen aus den Zwängen der Tradition zu emanzipieren, neue Lebensformen, neue Formen des Zusammenlebens und einer kollektiven Rationalität zu ermöglichen. Das Gelingen wie das Scheitern dieses Bemühens führte dann jedoch stets dazu, festere Ordnungsformen und Handlungsregeln zu suchen, um den erreichten Fortschritt zu stabilisieren und auf Dauer zu stellen oder aber – beim Mißlingen – den Ausweg aus der Krise in überindividuellen Mechanismen zu suchen, in neuen Ordnungen und Institutionen, die die Individuen – auch gegen ihren Willen, gegen ihre subjektiven Neigungen und Interessen – zu vernünftigem Handeln zwingen sollten. Dies läßt sich vielfach illustrieren – von Platon über das Christentum bis hin zu Hegel und Marx.168 Bei Platon läßt sich dieser Umbruch im Übergang von den Frühdialogen zur Politeia und zu den Spätschriften (Politikos, Nomoi) beobachten, wobei die Meisterdialoge die Brücke vom Früh- zum Spätwerk bilden. Erst im Zuge dieser institutionalistischen Wende wurde jene Frage zum Zentralproblem seiner politischen Philosophie, die nach Julia Annas im Mittelpunkt aller seiner politikphilosophischen Überlegungen steht: „das Spannungsverhältnis zwischen der Herrschaft des Gesetzes auf der einen und der Herrschaft eines weisen Experten auf der anderen Seite“.169 In den Frühdialogen liegt der Akzent weder auf den Institutionen noch auf der Führung der Polis durch einen weisen Herrscher, sondern auf den Sitten und Umgangsformen, auf der menschlichen Handlungsorientierung im allgemeinen. In einer schroffen Kritik des protagoreischen Wahrheits- und Werterelativismus

168 Zum Christentum vgl. unten (IV. 2.+3.). Zu Hegel und Marx vgl. K. Roth, Freiheit und Institutionen, S. 233 ff., 282 ff. Auch Jürgen Habermas, der einstmals seine Hoffnungen auf die kommunikative Kompetenz der mündigen Bürger setzte, sucht heute das Heil in den Gesetzen. Vgl. ders., Faktizität und Geltung. 169 J. Annas, Platon, S. 373. Vgl. auch dies., An Introduction to Plato’s Republic.

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suchte Platon zu zeigen, daß sich ein „richtiges“ und „gutes“, ein „vernünftiges“ und „glückliches“, ein „gerechtes“ und „gelingendes“ Leben nur führen läßt, wenn man aufs Allgemeine zielt und sich um Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit bemüht. Tugend oder Tüchtigkeit (areté) sei aber nur als Einheit aller ihrer einzelnen Momente möglich: als Ganzes aus Tapferkeit (andreía), Besonnenheit (sophrosyne), Gerechtigkeit (dikaiosyne) und Frömmigkeit (eusébeia) bzw. Einsicht/Weisheit (sophía) – unter der strengen Kontrolle und Leitung der Vernunft (lógos). Keine dieser Tugenden könne für sich, ohne alle anderen sein. Alle komplettieren sich im einzelnen Menschen zu einem Ganzen, das entweder als Totalität aller Einzelmomente oder aber gar nicht existiert.170 Das große Tugendideal ist demnach die allseitig entwickelte Persönlichkeit, die nicht auf Einzelheiten fixiert ist und einzelne Vermögen oder Kräfte auf Kosten der anderen ausbaut, sondern sich um die gleichmäßige Entwicklung aller Anlagen bemüht. Zwar kann Tugend oder Tüchtigkeit nicht gelehrt werden, doch ist ein jeder aufgefordert, sich um den Erwerb aller Einzeltugenden gleichermaßen zu bemühen. Nur so kann schließlich die politische Malaise bewältigt werden. Dies wird in den einzelnen Dialogen anhand der unterschiedlichen Tugenden oder Fertigkeiten demonstriert, wobei sich folgende Schwerpunktthemen ergeben: „Laches“ „Charmides“ „Lysis“, „Phaidros“, „Symposion“ „Hippias max.“ „Protagoras“ „Euthyphron“ „Gorgias“ „Politeia“

Tapferkeit Besonnenheit Liebe, Freundschaft Schönheit, Freude Gerechtigkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit Frömmigkeit Rhetorik Gerechtigkeit (mit Akzent auf den Institutionen)

Auch die späten Nomoi enden mit der Frage, die sich durch alle ethisch-politischen Dialoge Platons zieht: ob und wie die vielen Tugenden als Einheit, als „eine Idee“ begriffen werden können, wie die Tugend zugleich Eines und Vieles sein kann (cf. Nomoi, 963 c ff./VII, S. 539 f.). In dieser Frage dürfte der Grund für die Errichtung einer zweiten Säule zu sehen sein, auf die Platon sein System basierte. Neben der sokratischen Ethik wurde die Ontologie des Parmenides tragend für das Corpus Platonicum, die Frage nach dem Sein des Seienden, nach dem Festen und Ruhenden hinter den Erscheinungen.171 Aus beiden Elementen speist sich die Ideenlehre, wie sie in der Politeia entwickelt ist. Den letzten 170 Vgl. Platon, Laches, 199 c–e (I, S. 36); Charmides, 166 e (ebd., S. 63); Protagoras, 329 c,d, 349 b ff. (ebd., S. 214, 244 ff.; Gorgias, 481 b ff. (II, S. 327 ff.); passim. In der Politeia ist die „Einsicht/Weisheit“ an die Stelle der „Frömmigkeit“ getreten, die in den Frühdialogen noch eine bedeutende Rolle spielte. Vgl. Politeia, 427 e ff. (IV, S. 222 ff.). 171 Vgl. bes. Platon, Parmenides, 129 a ff. (VI, S. 109 ff.); Phaidon 100 b ff. (III, S. 74 ff.).

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Grund der menschlichen wie natürlichen Dinge erblickt Platon in den Ideen, die er als Urbilder der Erscheinungen begreift. Seine Antwort auf die erkenntnistheoretische Frage nach den richtigen Wegen des Erkennens und nach der letzten Ursache oder dem unbewegten Beweger ist die Ideenlehre, die zum Ausgangspunkt des objektiven Idealismus wurde, wie er später im Christentum und auch noch in der Philosophie von Schelling und Hegel leitend wurde. Wenn wir die empirischen Erscheinungen verstehen oder erkennen wollen, dann müssen wir sie Platon zufolge zurückführen auf ihr Urbild oder ihre Idee (eidos, idéa). Die Ideen existieren aber wirklich. Sie sind keine bloßen Hilfskonstrukte des denkenden Kopfes, der mit ihrer Hilfe das Erfahrungschaos strukturiert. Im Unterschied zum subjektiven Idealismus, wie er in einer Radikalisierung des Nominalismus von Kant und Fichte begründet wurde, sind die Ideen für Platon subsistierende Wesenheiten und das eigentlich Reale und Existierende. Die empirischen Erscheinungen dagegen sind für ihn bloße Imitationen, d. h. mehr oder weniger gelungene oder mißratene Verkörperungen oder Nachbildungen, die nur durch ihre Teilhabe an den Ideen existieren. Sie sind hervorgegangen aus den Urbildern und können nur erkannt werden, wenn sie zurückgeführt werden auf diesen ihren Ursprung. Die Ideen selbst können aber weder durch sinnliche Erfahrung noch durch die Reflexion noch durch die Techniken der Mathematik, der Astronomie usw., sondern nur mittels der Dialektik und durch Noesis und Anamnesis erkannt werden.172 Entscheidende Aufgabe der Philosophie mußte es daher sein, die Ideen zu erkennen, die hinter den empirischen Erscheinungen stehen. Hinter den schönen Dingen war die Idee der Schönheit (kállos), hinter den guten Taten und Institutionen die Idee des Guten (agathón) zu erkennen – und diese Idee des Guten ist für Platon die höchste Idee, die allen anderen zugrundeliegt. Sie zu erfassen ist folglich Aufgabe der Philosophie und das Ziel aller platonischen Dialoge. Sie ist auch und vor allem im Politischen am Werke. Wenn es gelingt, diese Grundidee zu erkennen und zu verwirklichen, dann würde es auch möglich, die Misere der Polis zu überwinden. Hinter der Vielfalt der Erscheinungen und Meinungen sollte die alles tragende Idee des Guten gefunden werden, um den Abfall der empirischen Wirklichkeit von ihr rückgängig zu machen. Allerdings ist der Mensch durch viele Hemmnisse daran gehindert, eine klare Vorstellung von den Ideen zu bekommen. Dies wird gezeigt im berühmten Höhlengleichnis im VII. Buch der Politeia, in dem die Schwierigkeiten des Aufstiegs zur Wahrheit und ihrer Vermittlung an die Höhlenbewohner allegorisiert werden. Allenfalls eine Annäherung ans Ideal dürfte in der Praxis möglich sein, doch auch diese nur durch eine unermüdliche Anstrengung in der Bemühung um Weisheit und Wissen. 172 Vgl. Platon, Politeia, 509 a–511 e, 532 a ff. (IV, S. 347–352; 380 ff.); Phaidon, 65 b ff. (III, S. 15 f.). Dazu Hegel, Vorlesungen 2. HW 19, S. 56 ff.; E. Voegelin, Anamnesis, bes. S. 7 ff., 37–76, 283 ff.; ders., Der meditative Ursprung philosophischen Ordnungswissens.

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Den Ausgangspunkt der Politeia bildet die Frage nach der Gerechtigkeit.173 Sokrates hinterfragt und widerlegt zunächst die Auffassungen seiner Gesprächspartner und holt dann zu einer weitläufigen Betrachtung aus, um das Wesen oder die Idee der Gerechtigkeit zu erkennen. Besser als in den Handlungen der einzelnen lasse sich diese Idee anhand der Polis studieren, die als ein großer Mensch vorgestellt wird. Dieser Gedanke eines großen Menschen wurde auch später immer wieder bemüht, etwa bei Thomas Hobbes, der den Leviathan als einen „künstlichen Menschen“ und „sterblichen Gott“ vorstellte. Andererseits weist Platons Auffassung bereits voraus auf den Marxschen Gedanken, wonach das Wesen des Menschen kein dem Individuum innewohnendes Abstraktum, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Dadurch wurde die Anthropologie destruiert und in Soziologie überführt. So weit ging Platon seinerzeit noch nicht. Ihm ging es nicht um die Ersetzung der Anthropologie, sondern um die Analogie zwischen Mensch und Polis. Er strebte nach Erkenntnis der Idee der Gerechtigkeit, mit der allein die Krise der Polis überwunden werden konnte. Der Mangel an Gerechtigkeit wurde als Hauptgrund der allgemeinen Misere diagnostiziert. Die Ethik wurde in Politische Philosophie überführt bzw. in ihr verankert. Die für ein sinnvolles Leben erforderlichen Fähig- oder Fertigkeiten können nach Platon nur im Ganzen der Polis erlangt und verwirklicht werden. Zwei Wesenszüge sind, wie Helmut Kuhn betont, für die platonisch-sokratische Theorie charakteristisch:174 „Da ist zunächst das eiserne Bestehen auf Einheit ohne Rücksicht auf Tradition und politische Realisierbarkeit. Der zerfahrenen und zerfallenden griechischen Polis wird ein ehernes Standbild ihres wahren Selbst in aufrüttelndem Kontrast entgegengestellt“. Der zweite Wesenszug liegt in der paradigmatischen Komposition, in der Harmonisierung von Polis und menschlicher Psyche. Platon entwirft keine Utopie,175 sondern ein Paradigma. Er begreift die Polis in Analogie zur menschlichen Psyche mit ihren drei Teilen: den Begierden und Neigungen, den Tugenden und der Vernunft. Den Sinn und Zweck (télos) des menschlichen Lebens erblickt er in der Vervollkommnung der Seelen, in der Entfaltung und Steigerung der ethischen und dianoetischen Anlagen und Fertigkeiten. Aufgabe der Polis ist es, diese zu ermöglichen und zu fördern. Erkenntnisleitende Frage der Politeia ist demzufolge, welche Einrichtungen vonnöten sind, um dieses Ziel zu erreichen. 173 Zur Interpretation des politikphilosophischen Hauptwerkes vgl. auch R. Ferber, Platos Idee des Guten; O. Höffe (Hg.), Platon: Politeia (Klassiker auslegen. Bd. 7); H. Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit; W. Kersting, Platons „Staat“; Nam-Duh Kim, Die Gerechtigkeit und das Gute in Platons „Politeia“. 174 H. Kuhn, Platon, S. 26. Vgl. auch E. Cassirer, Der Mythus des Staates, S. 80 ff.; bes. S. 104. 175 Vgl. dagegen R. Saage, Politische Utopien der Neuzeit, S. 15 f., 25 f., 31, passim; ders., Utopia als Leviathan. Das zentrale Anliegen der politischen Utopien, die in der Frühen Neuzeit entstanden, war die Imagination einer herrschaftsfreien Gesellschaft, was Platon nie in den Sinn gekommen ist.

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Das Grundproblem der Politischen Philosophie liegt in der Verknüpfung von Handlungs- und Institutionentheorie. Hierin tut sich ein Dilemma auf, das Platon sehr scharf erkannt und auf den Punkt gebracht hat. Politische Institutionen resultieren aus der Interaktion handelnder Bürger, die in ihrem Zusammentreffen unterschiedliche Charakterstrukturen ausprägen und realisieren. Weil es wünschenswert ist, vernünftige und wohlgeformte Charaktere hervorzubringen, schält sich als zentrale Frage die nach der richtigen Erziehung der Bürger heraus. Richtig ist die Erziehung aber nur dann, wenn sie zu einem tugendhaften Leben anhält. Da sich nun aber Tugend oder Tüchtigkeit nicht lehren läßt, wie Platon in seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten unermüdlich zu beweisen sucht,176 schließt sich der Kreis der Fragen zurück zu den institutionellen Voraussetzungen der Erziehung zum vernünftigen Leben. Zwar wäre es auch für Platon wünschenswert, die Politik allein auf die Vernunft der Bürger zu gründen und festgefügte Ordnungsformen zu erübrigen. Da aber Weisheit und Tugendhaftigkeit seinerzeit längst kein Wesensmerkmal der athenischen Bürgerschaft mehr war, da vielmehr allerlei Entartungen zu beobachten waren, da sich der Appell an die menschliche Einsichtsfähigkeit und Vernunft als vergeblich erwies, galt es, wenigstens jene Ordnungsformen theoretisch zu begründen, die eine ungefähre Annäherung ans Ideal der griechischen Sittlichkeit ermöglichten. Erkenntnisleitende Frage war demzufolge, welche Einrichtungen vonnöten sind, um dieses Ziel einigermaßen zufriedenstellend erreichen zu können. Da alle Institutionen im Dienst der Vervollkommnung der Seelen stehen sollten, wurden sie aus dem Bild einer „vollkommenen Seele“ abgeleitet. Die menschliche Psyche setzt sich nach Platon aber aus drei Teilen zusammen: den Begierden und Leidenschaften, dem muthaft-zornigen Teil und der Vernunft. Diese müssen folglich ein organisches Ganzes bilden und sich gegenseitig stützen. Hinsichtlich der Tugend/Tüchtigkeit waren alle Einzeltugenden in Rechnung zu stellen und jene Einrichtungen zu begründen, die ihre gleichmäßige Ausprägung ermöglichen konnten. Einerseits Resultat vernünftigen Handelns, sollten diese andererseits Voraussetzung eben dieses Handelns sein. Da es Aufgabe der Institutionen ist, die Vervollkommnung der Seelen zu ermöglichen, da ferner die menschliche Psyche ein organisches Ganzes ihrer drei Teile ist, da schließlich die vier Grundtugenden (Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Einsicht) eine untrennbare Einheit bilden, so daß die unverhältnismäßige Entwicklung einer Einzeltugend – etwa der Tapferkeit – ohne gleichzeitige Entwicklung der anderen eine Dissonanz zur Folge hätte (Verwegenheit, Tollkühnheit usw.),177 deshalb muß auch die vernünftige Polis diesem Ganzen gemäß eingerichtet sein. Nur dann kann sie die einzelnen zur eudaimonia, zum glück176

Vgl. bes. Protagoras, 319 a ff. (I, S. 199 ff.). Zur erforderlichen Verknüpfung von Tapferkeit und Besonnenheit vgl. neben dem Laches auch Politikos, 306 b ff. (V, S. 309 ff.). 177

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lichen oder geglückten Leben befähigen, wenn sie alle diese Momente in Rechnung stellt und den Bürgern ermöglicht, sie zu einem harmonischen Ganzen zu entfalten. Allerdings sieht Platon in der Politeia eine Arbeitsteilung vor. Die drei Grundvermögen werden von den drei Ständen der Polis realisiert: für die Vernunft sind die Regenten zuständig, tugendhaft und tüchtig müssen vor allem die Wächter sein, die Begierden und Leidenschaften sind vornehmlich Sache des einfachen Volkes, der Handwerker, Bauern und Kaufleute. Damit ist das ethischpolitische Anliegen der Frühdialoge preisgegeben. Nicht mehr die Gesamtheit der Bürger soll befähigt werden, alle Fertigkeiten gleichermaßen zu entfalten, vielmehr soll jeder „das Seine tun“ und die aus seiner Stellung in der Polis resultierenden Pflichten erfüllen (vgl. Politeia, 431 d ff./IV, S. 229 ff.). Darin ist ein Umbruch zu erblicken, der vermutlich auf die politische Entwicklung in den ersten Dezennien des 4. Jahrhunderts und die Symptome des Niedergangs der Polis zurückzuführen ist.178 Die Polis entstehe, weil kein Mensch sich selbst genügen kann, schreibt Platon (369 b ff./S. 132 ff.). Jeder hat viele andere nötig und ist auf seine Mitmenschen angewiesen. Dies gilt bereits für die Selbsterhaltung und die materielle Reproduktion. Noch deutlicher wird es hinsichtlich der Idee des richtigen und guten Lebens. Für das politische Geschehen sind neben oder nach den Regenten die Wächter ausschlaggebend, die für die Sicherheit der Gemeinschaft und für die innere Ordnung verantwortlich sind. Ihrem Amt und ihrer Erziehung widmet Platon deshalb ganz besondere Sorgfalt (374 e ff./S. 142 ff.). Sie haben sich der Verwirklichung des Gemeinwohls und der Optimierung der Einheit zu widmen und dafür auf jegliches private Glück zu verzichten. Ihre Aufgabe ist die Selbstaufopferung für die durch Wissen erfolgreich gegründete und regierte Stadt. Bei der von ihnen geforderten Tugend oder Tüchtigkeit (areté) sollen alle Einzeltugenden in Rechnung gestellt und Vorkehrungen getroffen werden, die ihre gleichmäßige Ausprägung ermöglichen. Wichtigste Lehrfächer sind Musik, Gymnastik und Philosophie. Im Gegensatz zur damaligen Praxis und zur herrschenden Meinung seiner Zeit plädiert Platon für die Einbeziehung der Frauen in die Politik. Entscheidend für die Rekrutierung des Wächterstandes sei nicht die Abstammung und das Geschlecht, sondern die jeweilige Begabung. Auch Frauen seien für den gehobenen Dienst in der Stadt als Wächterinnen geeignet. Es gibt kein Amt in der Polis, das sie nicht übernehmen und ebenso gut wie ihre männlichen Partner ausüben können.179 Ihnen gemeinsam obliegt die Aufsicht über das Wohl und Wehe der Stadt. Sie organisieren stellvertretend für die Bürgerschaft das Ge178 Vgl. dazu Bengtson, Griechen und Perser, S. 246 ff.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 365 ff. („Symptome des Niedergangs der Demokratie im 4. Jahrhundert“). 179 „Es gibt also, mein Freund, in der Verwaltung der Stadt keine Beschäftigung eigens für die Frau, nur weil sie Frau ist, und auch keine für den Mann, nur weil er Mann ist. Die Begabungen finden sich vielmehr gleichmäßig bei beiden Geschlechtern verteilt“ (455 d/S. 264). Vgl. auch Menon 71 D ff. (III, S. 403 ff.).

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II. Philosophie und Politik in der Polis

meinwesen und haben für die richtige Ordnung des Ganzen Sorge zu tragen. Aus ihrem Kreis werden die Erfahrensten und Besten zu Regenten gewählt, die über Krieg und Frieden entscheiden und die Richtlinien der Politik bestimmen. Politik ist für Platon folglich nicht länger der Zusammenhang herrschaftsfreier Kommunikation und Interaktion der ganzen Bürgerschaft. Die Polis mutiert stattdessen zu einer hierarchisch stratifizierten Ordnung. Das gemeine Volk spielt in ihr keine tragende Rolle. Es hat für den Unterhalt der Wächter und Regenten zu sorgen, die dafür als Ordnungshüter tätig werden und für die allgemeine Sicherheit sorgen. Ihnen allein gilt deshalb die weitere Aufmerksamkeit der Disputanten in der Politeia. Im Ausgang von der Idee des Guten, auf die nach Platon letztlich alle guten Dinge, Eigenschaften und Aktivitäten zurückgehen, kann Sokrates seine Gesprächspartner mit nur geringen Schwierigkeiten davon überzeugen, daß in der vollkommen eingerichteten Wächter-Polis die Frauen und Kinder allen gemeinsam gehören (449 a ff./S. 254 ff.), daß also nicht die Eltern über die Eheschließung zu entscheiden haben, daß vielmehr überhaupt keine dauerhaften Ehen geschlossen werden und daß die Kindererziehung kollektiv zu erfolgen hat. Ferner kann er einsichtig machen, daß Privateigentum für das allgemeine Wohlergehen abträglich und deshalb zu verbieten ist, da dieses Raffgier provoziert und so die Eintracht und den inneren Frieden stört. Prinzipiell sei eine gemeinschaftliche Arbeit auf der Basis gemeinsamen Besitzes vorzuziehen – im Frieden wie im Krieg. Auch der Tausch und seine Medien, Geld und Vertrag, sollen in diesem Kreis abgeschafft und verboten werden, weil ihnen der Betrug substantiell innewohnt.180 Die Wächter leben demnach in einem großen Kollektiv und praktizieren eine Form des Zusammenlebens, die man im Rekurs auf den ursprünglichen Sinn des Wortes Kommunismus nennen kann. Zu guter Letzt kann Sokrates zeigen, daß die Regenten wißbegierig oder weisheitsliebend, also Philosophen sein müssen, weil Ignoranten, Narren und Idioten nur selten richtige Entscheidungen im Interesse der ganzen Bürgerschaft treffen (vgl. 472 d ff./S. 293 ff.). Welche Regierungsform wollte Platon etablieren? Und wie begründet er dieselbe? – Als beste aller geschichtlich erprobten Verfassungen zeichnet er die gemäßigte Aristokratie und die konstitutionelle Monarchie aus, d. h. Regierungen, die dem Gemeinwohl dienen und sich den Gesetzen der Stadt unterordnen, ohne an ihnen zu rütteln (445 e/S. 253). Nur in diesen Ordnungen herrsche Gerechtigkeit und Güte. Neben diesen beiden gebe es vier weitere Grundtypen von Verfassungen, die Platon als verfehlt betrachtet (544 b ff./S. 397 ff.): 1. die kretische und lakonische Verfassung, die ausschließlich auf den Krieg ausgerichtet ist; 2. die Oligarchie, die auf der Einschätzung des Vermögens basiert, in der die Reichen herrschen und die Armen keinen Anteil an der Regierung haben; 3. die

180 „Wegen des Gelderwerbs nämlich entstehen alle Kriege“, heißt es lapidar im Phaidon (66 c/III, S. 17).

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Demokratie, in der die vielen Armen die wenigen Reichen unterdrücken; 4. „die edle Tyrannis, die vierte und letzte Krankheit einer Stadt“. Patriarchalische Herrschaft, korrupte Königsherrschaft und dergleichen lägen in der Mitte zwischen diesen Formen und seien bei Hellenen ebenso wie bei Barbaren anzutreffen. Alle diese Verfassungen entspringen aus der Natur der Bürgerschaft und formen ihrerseits bestimmte Charaktere. Die lakonisch-kretische beispielsweise, die Platon mangels besserer Ausdrücke Timokratie oder Timarchie nennt, entspringe einer streit- und ehrsüchtigen Bürgerschaft und fördere eben diese Eigenschaften. Im Ausgang von diesen Beobachtungen gelangt Platon zu einer Verfallstheorie bzw. einer Theorie des Verfassungskreislaufs: Der Mensch der Aristokratie sei gut und gerecht (545 a/S. 398), er folge den Gesetzen und bemühe sich um Tüchtigkeit und ein ehrbares Leben. Aus der Aristokratie erwachse die Timokratie, da die Söhne der Machthaber, die das Erbe ihrer Väter antreten und in der Folgezeit die herrschende Elite bilden, die Sitten ihrer Väter mißachten und sich in zügelloser Streitlust und Ehrsucht üben. Ihr folgt die Oligarchie, die alle Regierungskompetenzen in den Händen weniger Reicher konzentriert. Ihr Übergang in die Demokratie sei gesetzmäßig und erfolge wegen der Unersättlichkeit des Verlangens nach Besitz. Es sei offensichtlich, schreibt Platon, „daß man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muß man drangeben“ (555 c/S. 415). Eine Demokratie entstehe immer dann, wenn die Armen in der Stadt die Oberhand gewinnen und ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen, um schließlich die Ämter unter sich zu verlosen (557 a/S. 417). Damit erinnert Platon an den Sturz des Areopags (462/61 v. Chr.) und die Ermordung und Vertreibung der Areopagiten. Die Umwandlung der Demokratie schließlich führe zur Tyrannis (562 a ff./S. 426 ff.), und zwar wegen der übersteigerten Freiheit. Da die Menschen der Demokratie „darin unersättlich und gegen alles andere gleichgültig“ sind, ertöne irgendwann der Ruf nach einer starken Hand, die wieder Ordnung in die aufgewühlte Gesellschaft bringt. Damit schließt sich dann der Kreis. Der Tyrann erzwingt die innere Ruhe, gewöhnt die Bürger wieder an Recht und Ordnung und schafft so die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Monarchie bzw. zur gemäßigten Aristokratie usw. Jede Verfassungsänderung resultiere daraus, „daß in dem Teile der Bürgerschaft, der die Regentschaft innehat, Uneinigkeit entsteht“ (545 c/S. 399). Der Hauptgrund dafür, daß eine Stadt in Bewegung und Aufruhr gerät, liege in der Entzweiung der Wächter, die sich gegenseitig zu übervorteilen und zu unterjochen streben (546 a ff./S. 400 f.). Dagegen wären demnach Vorkehrungen zu treffen. Die Eintracht der Wächter muß gewahrt bleiben, wodurch sichergestellt werden soll, daß die erstrebte Ordnung stabil, d. h. dem Werden und Vergehen und damit dem endlos scheinenden Verfassungskreislauf entzogen bleibt. Dafür aber ist die Regentschaft der Philosophen erforderlich, die das Gute, Schöne, Wahre und Gerechte an sich hinter den vielen guten, schönen, wahren und ge-

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rechten Dingen geschaut haben und vom Gesetzgeber genötigt werden sollen, sich um die Belange der Stadt zu kümmern. Denn: „Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten“, so resümiert der platonische Sokrates, „oder die, die man heute Könige und Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie, und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, gewaltsam davon ausgeschlossen werden, so wird es, mein lieber Glaukon, mit dem Elend kein Ende haben, nicht für die Städte und auch nicht, meine ich, für das menschliche Geschlecht“ (473 d/S. 294).

Ein solcher Philosophenkönig stand seinerzeit aber nicht in Aussicht, nachdem man Sokrates vergiftet hatte. Obgleich sich unter Platons Schülern große Philosophen fanden, brachte es doch keiner von ihnen zu einem Königreich. Einer allerdings wurde zum Erzieher Alexanders des Großen, der dann der Polis vollends den Garaus machte. Platons Haß auf die Demokratie erklärt sich vor allem aus den Erfahrungen des Jahres 399 v. Chr. Die Verurteilung seines Lehrers durch den athenischen Demos war es, die den jungen Philosophen erschüttert hatte und zum erklärten Gegner der Demokratie werden ließ, die er in seiner politischen Philosophie leidenschaftlich bekämpfte. Weil der vom Demos installierte Volksgerichtshof in der Verhandlung gegen Sokrates versagt hatte, zog sich Platon aus der athenischen Politik zurück, um sie aus der Distanz desto radikaler zu attakkieren, ihre Schwächen aufzudecken und sie mit theoretischen und praktischen Alternativen zu konfrontieren. Dennoch hielt er an der Polis fest, die nur intern reformiert werden sollte. Indem er die politischen Geschäfte in die Hände von Philosophen legen wollte, strebte er nach einer Form der Politik, die gänzlich in Vernunft und Einsicht begründet sein sollte. Nicht nur das Tragische, sondern auch die Dichter selbst sollten aus der guten Polis ausgeschlossen werden. Man hat die Politeia gelegentlich als Utopie und als Chimäre kritisiert, als müßige Konstruktion des denkenden Kopfes, die, wie die Erfahrung lehre, entweder keine Chance auf Verwirklichung habe oder aber, wo sie versucht würde, zwangsläufig zu „totalitären“ Verhältnissen führe.181 Mit dem zweiten Argument werden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in die Antike rückprojiziert. Durch den ersten Einwand wurde bereits Immanuel Kant, außerhalb jeglichen Totalitarismus-Verdachtes stehend,182 in Rage gebracht, der solchen Feststellungen – ähnlich wie später auch Hegel – entgegenhielt, nichts könne „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren

181 Vgl. etwa K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: „Der Zauber Platons“, bes. 6. + 9. Kapitel (S. 126 ff., 213 ff.). 182 Vgl. ebd., S. 9 ff.: „Immanuel Kant: Der Philosoph der Aufklärung“.

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Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten“.183 Legt man die Maßstäbe der heutigen Weltanschauung an, so ist nicht zu leugnen, daß Platons Grundidee – Erziehung der Bürger zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit – „antiliberale“ Implikationen und Konsequenzen hat. Der Liberalismus entstand jedoch erst zweitausend Jahre später. Die Ideen der repräsentativen Demokratie und des bürgerlichen Rechtsstaates waren seinerzeit noch nicht entwickelt. Sie wurden erst im Gefolge der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution generiert und erforderten noch lange und mühsame Lernprozesse. Das große Ziel der klassischen griechischen Philosophie war die Krisenbewältigung, die Restitution der zerrütteten Polis und die Wiedergewinnung der zerfallenen Sittlichkeit. Dafür war Platon bereit, autoritäre Einrichtungen und die Aufhebung der Trennung des Öffentlichen und Privaten in Kauf zu nehmen. Auch die familiale Sphäre und das Privatleben der Wächter sollte streng kontrolliert und reglementiert werden. Verlangt wurde die bedingungslose Aufopferung der einzelnen für ihr Gemeinwesen. Jegliche Rückzugsrechte wurden ihnen verweigert. Gleichheit und Sicherheit galten als oberste Prinzipien, denen die Freiheit geopfert werden sollte. Erst der moderne Liberalismus hat schließlich die Konsequenzen aus dem Scheitern „erziehungsdiktatorischer“ Konzeptionen gezogen. Es war Adam Smith, der erkannte, daß kein Mensch, weder ein Philosoph noch ein Staatsmann, verbindlich begründen kann, was für jeden einzelnen das Beste ist. Deshalb sollte es jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Fasson er selig werden möchte. Die Folge war das von Platon konstatierte Überhandnehmen der Freiheit, die alles andere (Tugendhaftigkeit/Tüchtigkeit, Solidarität etc.) neben sich als gleichgültig erscheinen ließ. Da auch diese Entwicklung ungeahnte Risiken und ungewollte Nebenwirkungen mit sich brachte, mehren sich heute wieder die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf die Grundsätze der antiken Ethik verlangen und den modernen Freiheits- mit dem antiken Gemeinschaftsgedanken konfrontieren (Kommunitarismus, Neoaristotelismus). Der erste große Denker, der im Rahmen der antiken Polis und der ihr gemäßen Sittlichkeit versuchte, die allzu rigiden Vorschläge Platons zu mildern und zu korrigieren, war sein Schüler Aristoteles. Im Politikos, der die Brücke zwischen Politeia und Nomoi und zugleich die Überleitung zu Aristoteles bildet,184 wird das Wesen des Politikers oder Regenten und des Philosophen erneut zum Gegenstand. Noch einmal wird das Philoso183 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 316/B 372 f. [S. 351 f.]. Vgl. Hegel, Rph., Vorrede. HW 7, S. 24; ders., Vorlesungen. Bd. 2. HW 19, S. 108 f. 184 O. Gigon bemerkt in seiner Einleitung zu Bd. V der Jubiläumsausgabe: „Es findet sich kein Satz, den nicht Aristoteles hätte schreiben können“ (XLIV). Diese Feststellung läßt sich natürlich generalisieren: „Gibt es in der Tat einen einzigen Gedanken bei Aristoteles, der nicht bei Platon vorgebildet wäre?“ fragt K. Heinrich (anthropomorphe, S. 189).

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phenkönigtum als beste aller Verfassungen ausgezeichnet. Weil diese beste Verfassung aber schwerlich zu erringen ist, wird eine zweitbeste Form gesucht. Diese besteht in der Herrschaft des Gesetzes, d. h. in der Orientierung der Regierung und Verwaltung an feststehenden Gesetzen. Indem Platon die drei möglichen Regierungsformen – Monarchie, Aristokratie und Demokratie – zugleich nach ihrem Bezug und ihrer Verankerung in Gesetzen unterscheidet, führt er zusätzlich zu der numerischen eine qualitative Unterscheidung ein und nimmt damit die Sechser-Typologie des Aristoteles (s. u. S. 144) vorweg. Am besten sei die in gute Vorschriften und Gesetze eingebundene Herrschaft eines einzigen, doch ohne Gesetze sei sie lästig und schwer erträglich. Im Zustand der Gesetzlosigkeit sei selbst die Demokratie vorzuziehen, die ansonsten für Platon die schlechteste aller möglichen Regierungsformen ist.185 Weil aber die Gesetze, die durch willkürliche Entscheidungen irgendwelcher Bürgerschaften zustande kommen, problematisch bleiben,186 unternimmt Platon dann in seinem letzten und umfänglichsten Werk, den Nomoi, eine eindringliche Untersuchung der Gesetze, ihrer Entstehung und Beschaffenheit, ihrer Wirkung und Notwendigkeit, um gute von schlechten Gesetzen unterscheiden zu können.187 Nicht nur das „gute“ Leben, sondern auch das Überleben war fraglich geworden. Es sei bloße Unvernunft der Menge, läßt Platon den Kreter Kleinias im ersten Buch der Nomoi sagen, wenn sie nicht begreife, „wie doch das ganze Leben hindurch unaufhörlich ein Kriegszustand gegen alle anderen Städte besteht“ (Nomoi, 625 E/VII, S. 7). Was gewöhnlich Friede genannt werde, sei ein bloßes Wort, denn im politischen Leben seien alle einander feind, „und im persönlichen Leben ist es sogar jeder sich selber“.188 Dabei sei doch wahrlich ein allgemeiner Friede und freundschaftliche Gesinnung unter den Menschen besser, ergänzt der Fremdling aus Athen, der sich in dieser fremd gewordenen Welt nicht mehr heimisch fühlen konnte. Der einstige Philosophenkönig, Sokrates, der die Vervollkommnung des Menschen, die Tugend oder Tüchtigkeit zum höchsten Gut und Ziel der Polis erklärt hatte, erscheint nunmehr als athenischer Fremdling, der die Wahrheit über den Menschen nicht mehr in der Handlungsorientierung, sondern in den Gesetzen und Institutionen der Polis sucht. Die Politik, d. i. die „Pflege der Seelen“, könne nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf vernünftigen Einrichtungen aufbauen, wenn sie sich auf feste For185 Vgl. Politikos, 303 a, b (V, S. 303 f.). Zur Demokratiekritik vgl. ebd., 293 a, 297 b (V, S. 286, 294). 186 Ein Gesetz sei wohl niemals in der Lage, „genau das zu enthalten, was für alle gleichzeitig am besten und am gerechtesten ist“, heißt es im Politikos (294 b/V, S. 288). 187 Zum Verhältnis der Nomoi zu den Frühdialogen vgl. auch die Einleitung von O. Gigon zu Bd. VII. der Jubiläumsausgabe. Ferner A.-B. Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, bes. S. 163 ff. 188 Das spätere Motiv des Thomas Hobbes, das bellum omnium contra omnes, der Krieg aller gegen alle, ist so bereits von Platon vorweggenommen.

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men stützen kann, meint der athenische Fremdling. Diese Institutionen und Gesetze dürfen aber nicht auf einseitige Prinzipien gegründet werden, da dies die Deformation des Menschen und die Auflösung der politischen Gemeinschaft zur Folge hätte. Wenn sich die Gesetze der unterschiedlichen Poleis, wie von den Disputanten festgestellt wurde, von den Göttern herleiten – bei den Kretern von Zeus, bei den Lakedämoniern von Apollo –, so sei es verfehlt, sie nur auf eine Einzeltugend gründen und nach einseitigen Prinzipien ausrichten zu wollen. Die Götter selbst seien nämlich Totalitäten. Suchte Platon einst die Lösung der politischen Probleme im Menschen selbst, so findet er sie jetzt in den apriorisch ermittelten Gesetzen der wohlgeordneten Stadt. Auch hier wird die eine und allgemeine Idee gesucht, die hinter allen einzelnen Erscheinungsformen steht, die Idee der Polis, die zugleich Denken und Sein umspannt, die folglich die substantielle Einheit beider ist.189 Die Nomoi enden schließlich mit jener Frage, die im Zentrum der gesamten Ethik und politischen Philosophie Platons steht, der Frage nämlich, ob und wie die vielen Tugenden als Einheit, als „eine Idee“ begriffen werden können, wie die Tugend zugleich Eines und Vieles sein kann (vgl. 963 c ff./VII, S. 539 f.). Damit runden sie das Ganze ab und führen zum Ausgangspunkt der frühen Dialoge zurück. Platons Vorstellungen ließen sich in Griechenland nicht realisieren. Der Niedergang der Poleis war nicht aufzuhalten. Weder trat ein Philosophenkönig auf den Plan noch setzte sich die Herrschaft der Gesetze durch. Die Selbstzerfleischung der griechischen Städte nahm kein Ende. Die Zersplitterung des harmonischen Ganzen, die Verselbständigung der einzelnen Momente war schon zu weit fortgeschritten. Einzelne Tugenden und Fertigkeiten breiteten sich unverhältnismäßig aus und verselbständigten sich gegeneinander. Anstelle des politischen Engagements wurde der Gelderwerb zum höchsten Ziel der Bürgerschaft. Platon selbst scheiterte in Syrakus, als er mit Hilfe des Tyrannen Dion seine Lehre in die Praxis umsetzen wollte.190 Sein erneuter Rückzug aus der Politik war motiviert durch die Weigerung der von ihm beratenen Regenten, das Privateigentum abzuschaffen. So beschloß er, sich ganz der Weisheitsliebe hinzugeben und den elenden Zustand der Polis zu beklagen. Ob er in der Akademie tatsächlich eine ungeschriebene, nicht-dialogische und esoterische Prinzipienlehre entwickelt hat,191 ist für die Genealogie des Politischen ohne Belang. Diese hat sich an die vorliegenden Texte zu halten und zu rekonstruieren, wie die zentralen Theoreme in der Folgezeit modifiziert und weitergebildet wurden. Entscheidend hierfür wurde 189 Im Timaios (92 c) wird die perfekte Ordnung schließlich im Himmel gefunden, im „wahrnehmbaren Gott“, der das Abbild des denkbaren ist und zum schönsten und vollkommensten Kosmos geworden ist, „wie es keinen anderen geben kann“ (VI, S. 306). 190 Vgl. Platon, Der siebente Brief. Dazu K. v. Fritz, Platon in Sizilien. 191 Vgl. H. Krämer, Areté bei Platon und Aristoteles; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre; V. Hösle, Wahrheit und Geschichte; C. Jermann, Philosophie und Politik.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Platons Schüler Aristoteles, der die Konsequenzen aus dem praktischen Scheitern seines Lehrers und aus der weiteren politischen Entwicklung zog. c) Poiesis, Praxis und Theoria bei Aristoteles Im Unterschied zu Platon mußte Aristoteles (384–322 v. Chr.) nicht ganz von vorne anfangen, er konnte an die Vorgaben seines Vorgängers und Lehrers anknüpfen und auf den von ihm gelegten Fundamenten aufbauen. Er mußte sich nicht erst durch die Flut konkurrierender Meinungen durcharbeiten, sondern konnte die einzelnen Wissensgebiete durch kritische Analyse der platonischen Dialoge systematisieren. Seine politische Philosophie muß hier nicht in extenso rekonstruiert werden. Aufzugreifen sind nur einige Pointierungen und begriffliche Neuerungen, die den Umbruch und die weitere Entwicklung des griechischen Politikdenkens verdeutlichen. Aristoteles, 384 v. Chr. in Stageira geboren, war 43 Jahre jünger als Platon. Er kam 367, als Siebzehnjähriger, nach Athen und trat in Platons Akademie ein, der er zwanzig Jahre lang als Lernender und Lehrender angehörte. Nach Platons Tod (347) verließ er Athen und zog auf die Insel Lesbos, wo die Zusammenarbeit mit Theophrast, seinem bedeutendsten Schüler, begann. Dieser leitete später den Peripatos, die aristotelische Schule in Athen. Aristoteles kehrte 335/34 v. Chr. nach Athen zurück und verließ es erst wieder 323/22, nach Alexanders des Großen und kurz vor seinem eigenen Tod (322).192 Die politische Situation jener Zeit hat Peter Spahn wie folgt umschrieben:193 „Ähnlich wie schon im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts befand sich die griechische Welt auch im 4. Jahrhundert fast ständig im Kriegszustand. Es gelang aber keiner der größeren Poleis mehr, auf Dauer eine Vormachtstellung zu begründen, die etwa derjenigen Athens im Ersten Attischen Seebund vergleichbar gewesen wäre. Im Kampf um die Hegemonie erschöpften Sparta, Theben und Athen ihre Kräfte. Infolgedessen konnte schließlich das Königreich Makedonien innerhalb von nur zwei Jahrzehnten die Vormacht in Griechenland werden. Die Polis hatte damit ihre Rolle als überregionaler Machtfaktor im ägäischen Raum endgültig ausgespielt.“

Die Politik des Aristoteles ist Teil der praktischen Philosophie und Fortsetzung der Ethik.194 Sie fragt nach den Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des menschlichen Handelns, um herauszufinden, was für den Menschen das Gute sei (anthrópinon agathón). Gut für den Menschen ist ein glückliches Leben, weshalb sich die praktische Philosophie auf die Frage nach dem Weg zum Glück 192

Zur Entwicklung des Aristoteles vgl. W. Jaeger, Aristoteles. P. Spahn, Aristoteles, S. 398 f. 194 Vgl. G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie; O. Höffe (Hg.), Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (Klassiker auslegen, Bd. 2); Aristoteles: Politik (Bd. 23); J. Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie; ders., Metaphysik und Politik; A. Schwan, Politik als „Werk der Wahrheit“. 193

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bzw. zur Glückseligkeit (eudaimonía) konzentriert. Ihr Ziel ist demnach, über die Bedingungen und Formen einer gelingenden Selbstverwirklichung aufzuklären. Im Unterschied zu Platon geht Aristoteles dabei nicht von der Idee des Guten aus, sondern von der empirischen Realität. Er will kein Ideal begründen, sondern untersuchen, welche Möglichkeiten sich unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen eröffnen. Zu diesem Zweck zerschlägt er den Begründungszusammenhang der Philosophie Platons und legt ihn in seine Einzelbestandteile auseinander, die er dann neu sortiert und komponiert. Während nach Platon allein den ewigen und unveränderlichen Ideen wahres Sein zukommt und die sichtbaren Dinge als bloße – mehr oder weniger gelungene oder mißratene – Abbilder derselben gelten, verwarf Aristoteles die Ideenlehre und die mit ihr verknüpfte Herabwürdigung der empirischen Erscheinungen. Zwar war auch er der Überzeugung, daß die Wissenschaft (sophía, epistéme) nicht bei der ungeordneten Vielfalt der singulären und unverbundenen Erfahrungstatsachen stehen bleiben kann, sondern das ihnen Gemeinsame und Allgemeine zu erkennen hat, doch suchte er dieses nicht hinter, sondern in den Einzeldingen. Er fand es in der ewigen „Form“, die als schaffendes Prinzip (Entelechie) den Primat über die Materie besitzt und ihr Gestalt, Bewegung und Veränderung vermittelt.195 Hatte Platon in der Politeia eine auf philosophischer Einsicht basierte vollkommene Stadt konstruiert, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Interessen der einzelnen die Idee des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit realisiert, so geht Aristoteles aus vom Streben der Menschen nach Glückseligkeit, das nicht einem Höheren untergeordnet, sondern selbst der höchste Lebenszweck ist. Die von den Ideen verbürgte Sicherheit ist entfallen, der Mensch wird nicht mehr von der vorgegebenen Gesamtordnung der Polis behütet, er hat sie in Kooperation mit seinen Mitbürgern selbst hervorzubringen. Demzufolge erhalten die ethischen und dianoetischen Tugenden wieder einen anderen, höheren Stellenwert. Sie sind keine Charaktereigenschaft irgendwelcher „Wächter“, sondern müssen von allen Bürgern entwickelt werden und zeichnen verantwortlich für das Gelingen der politischen Selbstverwaltung. Während die verstandesmäßigen Tugenden (Wissenschaft, Technik, Einsicht, Klugheit, Vernunft, Weisheit) zum größten Teil durch Belehrung entstehen und wachsen, resultieren die ethischen aus Gewöhnung und Sozialisation (Nikomachische Ethik II.1. 1103 a 14 ff.). Aristoteles beschränkt sich bei ihrer Analyse nicht auf die vier bzw. fünf von Platon erörterten Kardinaltugenden, sondern nimmt das Gesamtspektrum aller möglichen Charaktereigenschaften in den Blick. Er gelangt deshalb zu einer präziseren Beschreibung und bestimmt die erforderlichen Tugenden jeweils als Mittelmaß zwischen zwei Extremen (II, 1104 a 20 ff.; III, 1115 a 5 ff.; IV, 1119 b 21 ff.). Tapferkeit und Besonnenheit werden als rechte Mitte (mesótes) zwischen Tollkühnheit und 195 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, II. Buch (B), 3, 4. Zur Kritik an Platons Ideenlehre vgl. ebd., I. Buch (A), 9; XIII. Buch (M), 4.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Feigheit, Zügellosigkeit und Stumpfheit begriffen, die Freigebigkeit und der Stolz als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung bzw. Eitelkeit und Kleinmut, die Sanftmut als „Mitte beim Zorn“ usw. Auch die Gerechtigkeit wird „mesotisiert“ und als Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden begriffen (V. 9. 1133 b 30 ff.). Da diese Bestimmung aber unzureichend bleibt, unternimmt Aristoteles eine gründliche und weit ausgreifende Analyse (V, 1129 a 3 ff.), die bis heute die ethischen Debatten und den Gerechtigkeitsdiskurs belebt. Was sich in der Politeia – gegen die Intentionen des frühen Platon – ankündigte, wird von Aristoteles zu Ende geführt: Die Idee des Guten legt sich in eine Reihe isolierbarer Einzeltugenden auseinander, deren Verhältnis nurmehr theoretisch rekonstruiert, aber nicht mehr praktisch postuliert werden kann.196 Zwar versucht die Nikomachische Ethik (II.–VI.) noch einmal, den Zusammenhang der ethischen und der dianoetischen Tugenden zu begründen, doch ist diese Begründung nun nicht mehr an der praktischen Verwirklichung ihrer Einheit orientiert, sondern eine rein gedankliche Ordnung des Philosophen. Die Einzeltugenden werden in eine Rangordnung gebracht, die sich aus ihrer Anteilhabe an der Realisierung der Glückseligkeit, der eudaimonía, bestimmt. Ihre Entwicklung und Verwirklichung wird nicht mehr von der Realisierung aller anderen abhängig gemacht. Nicht jeder einzelne kann die Gesamtheit aller Tugenden realisieren, meint Aristoteles. Die Verwirklichung des Guten und Gerechten ist arbeitsteilig organisiert. Jeder hat seinen Teil zu übernehmen. Der eine soll in den Dienst der Tapferkeit treten, der andere soll sich um die Frömmigkeit bemühen, der dritte soll besonnen sein, der vierte schließlich soll philosophieren. Den Dienst im Hause haben die Frauen und die Sklaven zu versehen. Hatte Platon noch die „ökonomische“ Freiheit, den Warentausch und das Privateigentum, aus der guten Polis und der Idee der Gerechtigkeit verbannt, da sie die Gefahr, ja die Notwendigkeit des Betruges in sich birgt, so warf Aristoteles diesen Begründungszusammenhang über Bord, um zu zeigen, daß es neben der universalen Gerechtigkeit noch partikulare Formen derselben gibt: die distributive (austeilende), die kommutative (ordnende) und die ausgleichende oder wiedervergeltende, kurz: die Tausch-Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik V. 4. 1130 a 15 ff.; Politik I, 1256 b 40 ff.).197 Jedem das Seine geben und die von ihm geleistete Arbeit nach ihrem Wert quittieren. Damit kündigte sich bereits an, was in der neueren Zeit zum obersten Prinzip des sozialen Handelns und in den Institutionen des Privat- und Strafrechts verankert wurde. Indem er die Philosophie Platons in ihre Einzelbestandteile auflöste und daraus seinen eigenen Begründungszusammenhang formte, unternahm Aristoteles den ersten großen Schritt in Richtung des „Prinzips der neueren Zeit“ (Hegel), der subjektiven Freiheit der 196 197

Vgl. H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles. Vgl. dazu auch G. Bien, Die Grundlegung, bes. S. 32, 285.

2. Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie

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Individuen,198 so daß seine römischen, christlichen und antichristlichen Nachfolger nur noch die Konsequenzen ziehen mußten, wenn sie zu konstitutionellen Formen auf der Basis des Individualismus gelangen wollten.199 Ein individualistisches Menschenbild hat Aristoteles aber nicht entwickelt. Vielmehr hielt er am antiken Substantialismus und Immanentismus fest und verstand den Menschen als zôon lógon echon, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, sowie als zôon politikón, als ein politisches Lebewesen, das seinen Sinn und Zweck nur in der Interaktion und Kooperation mit seinesgleichen finden kann (Politik I, 1253 a 2 f.; III, 1278 b 19 ff.).200 Gravierender und origineller als einzelne Retuschen an Platons Theorie sind die Analysen der Handlungstypen und der ihnen entsprechenden Wissensformen und Erkenntnismodi, die Aristoteles im VI. Buch der Nikomachischen Ethik unternommen hat.201 Verdichtet man seine Überlegungen, so erhält man folgendes Schema: Handlungsformen Wissensformen theoría praxis poíesis

sophía epistéme phrónesis téchne

Mit der Unterscheidung und hierarchischen Verortung der drei Handlungsformen sollte noch einmal die Dignität des Politischen herausgestellt und die Bürgerschaft zu neuem Engagement aufgerufen werden. Der freie Bürger sollte sein Telos, seinen Sinn und Zweck, nicht in der Arbeit, der Herstellung von Gütern oder Werken, bzw. in der Akkumulation und Konsumtion von Reichtümern und Besitz suchen und finden, sondern einerseits in der Kontemplation, andererseits in der Praxis, d. h. im Handeln, in der Gemeinschaft, der Kommunikation und Interaktion mit seinesgleichen, die sich – wie Aristoteles betont – von der Poiesis, dem Herstellen und Machen, dadurch unterscheidet, daß sie ihren Zweck in sich selber trägt, während jene Ziele verfolgt, die außerhalb der Tätigkeit gelegen sind (Nikomachische Ethik, VI, 1139 a 36 ff., 1140 b 6). Die Politik wurde als eine Form der Praxis und somit als Selbstzweck betrachtet. Sie sollte keinem ihr äußerlichen Zweck dienen, sondern sich selbst genügen und ihre eigenen Ziele, 198 Vgl. J. Ritter, Zur Grundlegung, S. 487: „Aristoteles hat in der Auseinandersetzung mit Platon allgemein und grundsätzlich das positive und unabdingbare Recht des einzelnen geltend gemacht“. 199 Vgl. dazu G. Bien, Die Grundlegung, S. 315 ff.; A. Schwan, Wahrheit, Pluralität, Freiheit, S. 15, 51 ff.; F. Tomberg, Polis und Nationalstaat. 200 Vgl. auch W. Oncken, Die Staatslehre des Aristoteles, Teil 2, S. 14 ff.; L. Strauss, The City and Man, S. 30 ff. 201 Zur Etymologie des Praxisbegriffs und zur Systematisierung der Handlungsformen bei Aristoteles vgl. G. Bien, Praxis, praktisch; ders., Das Theorie-Praxis-Problem bei Platon und Aristoteles.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Methoden und Fragestellungen entwickeln. Sie wurde unterschieden sowohl von der poíesis wie von der theoría, der reinen, von praktischen und poietischen Belangen freien Erkenntnis.202 Zwar können sowohl die theoretischen Einsichten der praktischen Philosophie wie auch spezifisch politische Techniken in ihr nützlich und hilfreich sein, doch verlangt und erzeugt die Praxis – ebenso wie die beiden anderen Formen der menschlichen Selbstverwirklichung und Selbststeigerung, poíesis und theoría – eine eigene, ihr gemäße Form des Wissens und Denkens und damit ganz spezifische Kenntnisse, die weder in der Arbeit noch in der Theorie erworben werden können.203 Die ihr gemäße Wissensform nennt Aristoteles phrónesis und unterscheidet sie sowohl von der téchne als auch von den theoretischen Erkenntnisweisen epistéme und sophía, d. h. der strengen, auf das Unveränderliche gerichteten Wissenschaft einerseits, der weicheren, da auf die veränderlichen Dinge bezogenen Philosophie andererseits.204 Als Wissen um die Bedingungen und Formen des Umgangs mit anderen Menschen, als Ratio des kollektiven Handelns, als sittliches Einfühlungsvermögen, als Medium der Erkenntnis, der Befolgung und Hervorbringung moralischer und rechtlicher, sozialer und politischer Normen und Institutionen, kurz: als praktische Klugheit unterscheidet sich die phrónesis sowohl von den Wissensformen der Theorie wie von der Kunstfertigkeit der téchne, d. h. dem Wissen um die Beschaffenheit von materiellen Gegenständen und um die Wirkung von Werkzeugen, Instrumenten und Strategien. Derart spezifiziert und qualifiziert, schreibt ihr Aristoteles einen höheren Rang als der Technik und eine Zwischenstellung zwischen dieser und der Theoria zu, die sich in den beiden Formen der epistéme und der sophía realisiert. Die Theorie ist einerseits bezogen auf das Unveränderliche, das Feststehende, auf den Kosmos oder die Natur, die für die Griechen einen ewigen Kreislauf vollzieht. Sie ist andererseits bezogen auf die menschliche Welt, auf das Veränderliche. Beiden Gegenständen entsprechen zwei unterschiedliche Wissensformen. Der Naturwissenschaft entspricht die epistéme, d. i. die strenge, apodiktische Erkenntnis. Ihre Gewißheit und Präzision ist im Feld der Praxis nicht möglich, weil das menschliche Handeln und Zusammenleben gerade durch steten Wandel charakterisiert ist. Der Wissenschaft vom Menschen und der nicht-sichtbaren Dinge entspricht die sophía, die Philosophie, die als allgemeine Metaphysik den einzel202 Siehe dazu auch Platon, Politikos, 258 e, 260 b ff. (V, S. 225 f., 228 ff.); Politeia, 428 b ff., 509 d ff. (IV, S. 222 ff. 349 ff.); Theaitetos, 146 b ff. (V, S. 9 ff.). 203 Vgl. H. Arendt, Vita activa, S. 27 ff.; J. Habermas, Die klassische Lehre der Politik; W. Hennis, Politik und praktische Philosophie; A. Schwan, Politik als „Werk der Wahrheit“, S. 52 ff., 74 ff.; ders., Die Staatsphilosophie im Verhältnis zur Politik als Wissenschaft, S. 159 ff., 176 ff. Zur Etymologie der Grundbegriffe siehe auch Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie, S. 166 ff. 204 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI. Buch, 1140 a 25 ff. (bes. 1140 b 11 ff.). Bei Platon hingegen war die phrónesis das Organ der Ideenschau gewesen.

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nen Wissenschaften ihre methodischen Hilfsmittel und ihre Probleme und Aufgaben zuweist. Die Wissensform der Praxis selbst ist weder die strenge Wissenschaftlichkeit noch die Philosophie, sondern die phrónesis, d. h. die praktische Klugheit (prudentia).205 Andererseits waren die Griechen alles andere als Technik-Gegner. Sie entwikkelten vielmehr großes Geschick in den einzelnen Bereichen der Herstellung von Gütern und Werken. Die Philosophen rebellierten nicht gegen die Technik als solche, sondern nur gegen die Zersplitterung und Verselbständigung einzelner Fertigkeiten und die damit verknüpfte Spezialisierung und Vereinseitigung der Menschen auf isolierte, gegeneinander selbständig vorgestellte Tätigkeiten, deren Zusammenhang und sinnstiftende Leistung nicht mehr eingesehen wurde. Schon die Vorsokratiker hatten sich gegen die Zersplitterung der einzelnen technai im Mythos gewandt. Im Gegenzug zur Personifikation einzelner Vermögen in unterschiedlichen Göttern wollten sie sich nicht auf eine spezifische Technik festlegen lassen, sondern das ganze Spektrum menschlicher Produktivkräfte erwerben. Sie wollten Technologen sein, d. h. Spezialisten, die nicht auf die eine oder andere Fertigkeit spezialisiert sind, sondern den lógos beherrschen, der über alle téchnai verfügt.206 Sie wollten klären, ob die einzelnen téchnai einer gemeinsamen Logik unterliegen, ob es demnach möglich sei, den lógos der téchne zu erkennen und zu beherrschen und die spezialisierten Formen des Wissens und Könnens in eine harmonische Totalität zu reintegrieren. Auch die Klassiker (Sokrates, Platon, Aristoteles) waren keine TechnikFeinde.207 Sie wandten sich nur – wie ihre Vorgänger – gegen ein Können, dem 205 Die aristotelische Unterscheidung von Theorie und Praxis bzw. von sophía und phrónesis wurde von W. Hennis (s. Anm. 57) und in seinem Gefolge zunächst auch von J. Habermas (Die klassische Lehre, S. 49) ignoriert, die Kluft zwischen beiden Sphären entsprechend eingeebnet, indem die praktische Philosophie zwar von der strengen Wissenschaft (epistéme), aber nicht mehr von der praktischen Klugheit (phrónesis) abgehoben, sondern im Gegenteil mit ihr identifiziert wurde. Die von Hennis konzipierte „praktische Wissenschaft“ basierte dann auch auf dem von der Philosophie belehrten Common Sense. Später stellt Habermas allerdings richtig: „Für die Alten war das Vermögen zwecktätigen Verhaltens, die Kunstfertigkeit, techne, ebenso wie die Klugheit vernünftigen Handelns, phronesis, ein Wissen, das wohl auf Theorie als den obersten Zweck und das höchste Ziel stets verweist, aber niemals selbst von ihr sich herleiten, aus ihr sich rechtfertigen kann. Es blieben ,niedere‘ Erkenntnisvermögen gerade um dieser Eigenständigkeit der Kontemplation willen. Die Sphäre des Tuns und des Handelns, die Lebenswelt der um ihre Erhaltung oder ihr Zusammenleben besorgten Menschen und Bürger war im strengen Sinne theoriefrei“ (S. 66). 206 Vgl. Heinrich, anthropomorphe, bes. S. 106 ff., 152 ff., 231 ff. Zur weiteren Entwicklung der philosophischen Technik-Reflexion vgl. P. Fischer (Hg.), Technikphilosophie. 207 In den Früh- und Meisterdialogen Platons scheint der Begriff der téchne geradezu leitend gewesen zu sein: „Techne ist der Leitbegriff in allen Analysen der frühen ,sokratischen‘ und ,aporetischen‘ Dialoge“ (H. Kuhn, Platon, S. 14). K. Heinrich (anthropomorphe, S. 168) nennt daher Platon „den größten Technologen der Antike“. Vgl. auch ebd., S. 188 ff.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

das Wissen um seinen Sinn abhanden gekommen ist, und gegen die Verselbständigung spezifischer Kunstfertigkeiten, speziell im Bereich der Politik. Ihre Abwertung und Herabstufung der Technik ist Moment ihrer Kritik an den Sophisten. Wie vor ihm Sokrates und Platon so wandte sich auch Aristoteles gegen den Typus der freigesetzten und isolierten Technik, den die Sophistik auf dem Gebiet der Politik und des Rechtswesens verkörperte.208 Das Ergebnis der sophistischen Bemühungen in Erziehung und Ausbildung, Rhetorik und Eristik erschien ihm als blindes Können ohne Einsicht in die Gründe desselben, das daher keinen Anspruch auf einen Eigenwert erheben konnte, sondern in den Dienst des Erkennens und der nicht-poietischen Praxis zu treten hatte und für die Polis nutzbar zu machen war. Aristoteles steht somit am Ende einer Entwicklung, die mit den Vorsokratikern begonnen hatte. Seit ihren Anfängen hatte sich die Philosophie bemüht, jener Verpflichtung nachzukommen, die Hegel zweieinhalb Jahrtausende später zu ihrer Hauptaufgabe erklärte und zum allgemeinen Gesetz der Entwicklung des Geistes stilisierte: „Das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes setzt sich von selbst gegen die Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte oder, was auf dasselbe hinauskommt, ebenso vorgestellten Tätigkeiten“.209 Wie schon sein Vorgänger und Lehrer so versuchte auch Aristoteles noch einmal, das gesamte Wissen seiner Zeit zusammenzufassen. Die einzelnen Erscheinungen sollten auf ihren sie begründenden Grund zurückgeführt und als Momente eines sinnvollen Ganzen begriffen werden. Nicht nur die Götter und die äußere Natur, sondern auch die menschliche Welt, die seit dem Peloponnesischen Krieg aus den Fugen geraten war, sollte noch einmal als Teil des wohlgeordneten Kosmos begriffen werden. Theoretische und praktische Philosophie, Logik und Metaphysik, Naturphilosophie und Ästhetik, Anthropologie und Psychologie, Ethik und Politik – sie alle sollten ihren Teil beitragen zur Erkenntnis der Rationalität der Welt und zur Verwirklichung des Guten und Richtigen in Poiesis und Praxis. Zwar rangieren die menschlichen Angelegenheiten insgesamt am Ende der theoretischen Skala, doch mußten auch sie untersucht und hinsichtlich ihrer Würde unterschieden werden. Um das soziale und politische Leben in geordnete Bahnen zurückzuführen und den „Krieg aller gegen alle“210 zu beenden, sollten noch einmal die Bedingungen und Formen eines sinnvollen Lebens und einer gelingenden Praxis ermittelt werden. Um die Polisbürger vom Sinn und Zweck einer rationalen Politik zu überzeugen, stellte man die richtigen, die wünschenswerten und erforderlichen For208 Vgl. H. Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, S. 13, 66 f., 73 ff. Zur sophistischen téchne als Anspruch auf universale Könnerschaft vgl. auch T. Buchheim, Die Sophistik, bes. S. 110. 209 Hegel, Enzyklopädie, § 379. 210 Vgl. Platon, Nomoi, 625 E (VII, S. 7).

2. Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie

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men der menschlichen Selbstverwirklichung heraus, brachte sie in eine Rangfolge und stellte ihnen die unerwünschten und verfehlten gegenüber. Weil die Griechen und insbesondere die Athener, wie schon Thukydides gezeigt hatte, durch ihre Besitz- und Machtgier, durch ihre Triebe und Leidenschaften auf falsche Pfade gelenkt und ins Elend gestürzt wurden, wollte Platon das Privateigentum abschaffen und dem Machtstreben einen institutionellen Riegel vorschieben. Aristoteles hingegen betonte die Bedeutung der ethischen und dianoetischen Tugenden, begründete eine Hierarchie der Zwecke und der Tätigkeiten und demonstrierte die Notwendigkeit und Höherrangigkeit der kontemplativen Theorie gegenüber der Praxis sowie dieser gegenüber der Poiesis. Nicht in sich selbst sollte der freie griechische Bürger sein Telos und sein Glück suchen und finden, sondern in der Betrachtung des Kosmos und in der Politik. Ein sinnerfülltes Leben läßt sich demzufolge nicht durch Rückzug von den anderen führen, sondern nur im Zusammenwirken mit ihnen. Der einzelne Mensch trägt seinen „Zweck“ nicht in sich, sondern findet ihn allein in der Kontemplation, der theoretischen Betrachtung der Welt, und in der Interaktion und Kommunikation mit seinesgleichen, in der Politik, die sich um die vernünftige Einrichtung der Polis bemüht. Gleichgültig, welche konkrete Regierungsform sich durchsetzen würde, entscheidend war, daß sich jeder Bürger als zôon politikón, als „politisches Lebewesen“ verstand. Die wohlgeordnete Polis war der höchste praktische Zweck, dem sich die Individuen verschreiben sollten. Dies zu zeigen ist das Ziel der praktischen Philosophie des Aristoteles. Die politische Philosophie gilt als Fortsetzung der Ethik, die Politik selbst als ein ausgezeichneter, gleich hinter der Theorie rangierender Realisierungsmodus eines „guten“ und „geglückten“ Lebens.211 Doch dieser war, als Aristoteles seine Werke verfaßte, in Griechenland bereits abhanden gekommen. Der Stagirit schaute daher mit Wehmut auf die klassische Zeit des Politischen zurück. Wie schon sein Lehrer Platon so kompensierte auch er den Verlust der praktischen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten durch intensivierte Hingabe an die Philosophie. Die Polis ist bei Aristoteles die agierende und interagierende Bürgerschaft als „eine institutionell geordnete Gemeinschaft von Menschen“.212 Sie realisiert jene Gesetzesherrschaft oder Nomokratie, die Platon im Politikos und in den Nomoi begründet hatte. Der Akzent liegt nunmehr eindeutig auf der Ordnung, auf den Ämtern und Institutionen, die dem richtigen und guten Leben dienen sollen. Im Zentrum steht die Politeía, die Verfassung und die Ämterordnung. Als Bürger gilt jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (Politik III, 1275 b, 18 ff.). Ausgeschlossen bleiben Frauen und Sklaven. Platons Lehre, wonach das höchste Ziel einer vernünftig eingerichteten Polis die größt211 Vgl. J. Ritter, Zur Grundlegung; ders., Metaphysik und Politik, S. 57 ff., 106 ff.; A. Schwan, Die Staatsphilosophie, S. 176 ff.; ders., Politik, S. 52 ff. 212 P. Weber-Schäfer, Aristoteles, S. 50.

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mögliche Einheit und deshalb die Weiber- und Kindergemeinschaft nötig sei, wird einer scharfen Kritik unterzogen (II, 1261 a 10 ff.). Aristoteles insistiert auf der Trennung des Öffentlichen und Privaten.213 Die Polis dürfe nicht als große Familie bzw. als Haushalt (oikos) mißverstanden werden. Ihr Wesen sei nicht Einheit, sondern Vielheit, sie müsse die Unterschiede zwischen den einzelnen Familien respektieren und dürfe ihre Freiheit nicht beschneiden (II, 1261 a 16 ff.). Das Endziel der Verfassung sei die Glückseligkeit der Bürger, die in der vollkommenen Verwirklichung und Anwendung der Tugend (areté) besteht (VII, 1332 a 5 ff.). Die Tugend aber sei bedingt durch die Natur (physis), die Gewöhnung (éthos) und die Vernunft (lógos). Ihrer Entfaltung habe die Erziehung in der Polis zu dienen (1332 b 12 ff.). Als richtig und wünschenswert wird stets der Mittelweg zwischen zwei Extremen ausgezeichnet. Mäßigung wird zum Grundprinzip. Nicht verwegen, aber auch nicht feige, nicht gierig, aber auch nicht asketisch, nicht gutgläubig, aber auch nicht allzu skeptisch soll der ordentliche Bürger sein. Wie zuvor Platon214 so unterscheidet auch Aristoteles sechs Regierungsformen, die sich aus der Verdoppelung der traditionellen Trias ergeben. Neben die numerische tritt eine normative Unterscheidung, indem Monarchie, Aristokratie und Demokratie nun nicht nach ihrer Verankerung in der Verfassung, sondern nach ihrer Qualität befragt und in sich differenziert werden:215 gute Formen Monarchie Aristokratie Politie

schlechte Formen Tyrannis Oligarchie Demokratie

Das Qualitätsmerkmal resultiert aus der Art, wie die Regentschaft ausgeübt wird. Ist das Tun des/der Regenten am Gemeinwohl orientiert, so ist die Regierung „gut“. Orientiert sie sich aber nur am Nutzen des/der Regenten selbst, so ist sie „schlecht“. Diese Ordnungen müssen nicht, wie Platon meinte, in einem endlosen Kreislauf ineinander über- oder auseinander hervorgehen. Vielmehr gelangt Aristoteles bei der Analyse der Umwälzungen (metabolé) der Verfassungen (politeía) zu einer Kritik an Platons Verfallstheorie (Politik V, 12., 1312 b 11 ff.). Eine Regierungsform verwandelt sich nicht zwangsläufig in die ihr nächstliegende. Sie kann durch alle möglichen abgelöst werden. Die Transformation der Aristokratie in die Oligarchie erfolge ferner nicht dadurch, daß die Regenten geld- und wuchersüchtig werden, sondern weil die Reichen es nicht für richtig halten, daß die Besitzlosen die gleichen politischen Rechte haben (1316 b 1 ff.). Die Monarchie gilt als eine gute oder richtige Verfassungsform, sofern der Alleinregent sich an die geltenden Gesetze bindet und das Wohlergehen der Allge213 Vgl. dazu auch P. Koslowski, Zum Verhältnis von Polis und Oikos bei Aristoteles, S. 24 ff. 214 Vgl. Platon, Politikos, 291c ff., 301a ff. (V, S. 284 ff., 300 ff.). 215 Vgl. Aristoteles, Politik, III.–IV. Buch (bes. 1278 b 6 ff., 1289 a ff.).

2. Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie

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meinheit im Auge hat. Es sei aber besser, wenn die Entscheidungen der Regierung von einer Mehrzahl guter Männer getroffen werden als von einem einzelnen, vorausgesetzt, daß diese Männer nicht gegen das Gesetz verstoßen (III, 15., 1286 a 25 ff.). Das konstitutive Prinzip der Aristokratie erblickt Aristoteles in der Tugend, das der Oligarchie im Reichtum. Die Demokratie/Politie hingegen basiere auf der Freiheit (IV, 8., 1294 a 10 f.). Präferiert wird die Politie, in der die wenigen Reichen insgesamt so viel Gewicht haben wie die vielen Armen und alle Bürger sich im Sinne eines Rotationsprinzips in der Rolle der Regenten und Regierten abwechseln (I, 12., 1259 b 4 ff.; VI, 2., 1317 b 1). Weil aber alle „reinen“ Formen die Gefahr der „Entartung“ in sich bergen, empfiehlt Aristoteles den Völkern, sie mögen die einzelnen Prinzipien durcheinander relativieren und Mischverfassungen – er nennt sie ebenfalls Politie – institutionalisieren (bes. 1294 b 15 ff.),216 in denen auch das monarchische Element verankert und mit den beiden anderen ausbalanciert ist.217 Der Demokratiebegriff hatte seinen positiven Klang endgültig verloren. Wie schon bei Platon, so steht er auch bei Aristoteles für eine „Entartung“ des Politischen, für den Verfall der Politie. Damit ist eine „gemäßigte“ Form der Demokratie gemeint, die Regentschaft Aller zum Wohle Aller.218 Weil Aristoteles jedoch den ärmeren Schichten unterstellt, sie würden blindlings ihren Volksführern folgen, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und die wenigen Reichen unterdrücken (V, 9., 1310 a 2 ff.), deshalb sucht er nach einer Ordnung, in der die Interessen Aller gleichermaßen zur Geltung kommen, in der also ein Ausgleich möglich wird. Eine Regierungsform, in der die Minderheit der Reichen dasselbe Gewicht und denselben Stimmenanteil wie die Mehrheit der Armen hat, ist aber nur dann möglich, wenn eine Art Zensus-Stimmrecht eingeführt wird. Damit wird, wie in der klassischen Tragödie, die Versöhnung der Bürgerschaft zum politischen Programm. Allerdings steht nun nicht mehr der Adel mit seiner heroischen Lebensweise den unteren und mittleren Schichten gegenüber, die Bürgerschaft teilt sich nun in Arme und Reiche (V, 11., 1315 a 33). Wollte Aristoteles noch alle Bürger, also auch die Armen an der Regentschaft beteiligen, so zogen die Athener alsbald weitergehende Konsequenzen aus seinen Empfehlun216 Vgl. dazu W. Nippel, Mischverfassungstheorie; D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, S. 118 ff. 217 Dieser Vorschlag des Stagiriten wurde in der Folgezeit beherzigt. Auch in der Moderne wurde ihm entsprochen. In den repräsentativen Demokratien westlichen Typs wählen Alle (Demokratie) Einige ins Parlament (Aristokratie), die wiederum Einen zum Kanzler oder Präsidenten wählen (Monarchie). In Präsidialsystemen erfolgt auch noch die Wahl des „Monarchen“ durch das souveräne Volk. Es handelt sich folglich um Mischverfassungen, die im Sinne des Aristoteles die drei gegensätzlichen Prinzipien miteinander verschränken und konstitutionell begrenzen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht mehr um Poleis, sondern um Staaten, die mit Hilfe von stehenden Heeren und Bürokratie das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit ausüben. 218 Vgl. auch Aristoteles, Politik, IV. Buch, 1293 b 21 ff.; V. Buch, 1304 b 20 ff.; VI. Buch, 1317 a 16 ff.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

gen. Zwar wurden die demokratischen Einrichtungen in Athen zunächst beibehalten, doch wurden sie zusehends ihrer Substanz beraubt. Die politische Macht geriet in die Hände der alten Eliten, die Masse der Armen verzichtete gegen Ende des 4. Jahrhunderts nach und nach auf ihr Bürgerrecht. Sie zog sich freiwillig aus der Politik zurück und übertrug die städtische Macht den wenigen Reichen: „Gegen Ende des 4. Jahrhunderts zur Zeit des Demetrius von Phaleron setzte sich in Athen eine gemäßigt am Zensus orientierte Demokratie durch“.219 Sie war jedoch bloße Vorstufe zu einer noch weitergehenden Entpolitisierung der Bürgerschaft. In ihr kündigte sich bereits der Übergang zur hellenistischen und römischen Herrschaft an. Die Demokratie zerfiel. An ihre Stelle trat die Oligarchie der Honoratioren, in der die Masse der Bürger ihre politischen Rechte schließlich gänzlich verfallen ließ. Der antike Euergetismus, die Armenfürsorge der Wohlhabenden, ersetzte die politische Partizipation.220 Die Rolle des Monarchen in der praktizierten Mischverfassung übernahm der einstige Zögling des Aristoteles, der Makedonier Alexander der Große, der die Ära der autonomen Poleis 338 v. Chr. beendete, indem er sie unterwarf und seinem Weltreich eingliederte. Damit sind die für die Genealogie, Phänomenologie und Pathologie des griechischen Politikdenkens entscheidenden Punkte benannt. Erforderlich ist nur noch eine Synopsis, d. h. die zusammenfassende Charakterisierung seiner Besonderheiten. Als Einstieg und Leitfaden mag dabei die weiter oben referierte Polemik Nietzsches gegen die Theorie und Praxis der athenischen Polis sowie gegen Sokrates und die Sokratiker dienen. Der nochmalige Rekurs auf sie ermöglicht auch die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage nach dem Originalitätswert der klassischen Politischen Philosophie.

3. Nietzsches Mutmaßungen über den Zusammenhang von Philosophie und Politik und über den Niedergang der griechischen Kultur Bei der Interpretation und Kritik der Thesen und Polemiken Nietzsches ist – wie stets – zu unterscheiden zwischen aktueller Lagebeurteilung und historischer Analyse, d. h. zwischen Projektionen, die der Einschätzung der deutschen und europäischen Situation im späten 19. Jahrhundert dienen sollen, und solchen Diagnosen, die zu einem besseren Verständnis der griechischen Geschichte beitragen können. Archivarische Interessen lagen Nietzsche fern. Als Archäologe und Genealoge sträubte er sich mit Vehemenz gegen jegliche hermeneutische Anwandlung, jegliche Spielart des Historismus war ihm verhaßt. Die von ihm 219 P. Veyne, Brot und Spiele, S. 183. Vgl. ebd. Kap. 2: Der griechische Euergetismus (S. 163–311). 220 Vgl. ebd., S. 83 ff., 101 ff., 107 ff., 179 ff., 316 ff.

3. Nietzsches Mutmaßungen

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praktizierte historische Aufklärung sollte dem Leben nützen und wollte keine antiquarische, sondern eine monumentalische und kritische Art der Historie sein:221 „Wenn wir von den Griechen reden, reden wir unwillkürlich von heute und gestern: ihre altbekannte Geschichte ist ein blanker Spiegel, der immer etwas widerstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist“.222 Mit der Bewunderung und Stilisierung der Griechen des tragischen Zeitalters, mit der Verherrlichung des Jahrhunderts vor den Perserkriegen wollte Nietzsche dazu beitragen, den Begriff „Mensch“ weiter auszuspannen und die ganze Fülle menschlicher Möglich- und Fertigkeiten wiederzugewinnen. Durch das Studium der archaischen Zeit wollte er nicht nur „Kenner“, sondern zugleich „Könner des Großen“ werden. Mit der Kritik an der klassischen Zeit hingegen wollte er die beklemmende Last der Gegenwart abwerfen, dem Trend zur allgemeinen Politisierung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaften entgegenwirken und den geschichtlichen Traditionszusammenhang durchbrechen, der seit der Renaissance entstanden war und von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bewußt, von den Gräzisten in der Nachfolge Jacob Burckhardts unbewußt am Leben gehalten wurde. Nietzsches politische Prognosen erweisen ihn als hellsichtigen Propheten, der bereits zu Beginn des Bismarckreiches die Katastrophen des zwanzigsten christlichen Jahrhunderts vorausahnte. Dennoch wird in der geschichtlichen Reflexion und Verfremdung der Gegenwart auch einiges widergespiegelt, das im Spiegel selbst gewesen ist. Wie aus den oben zitierten Andeutungen Nietzsches erhellt,223 sieht dieser die klassische Politische Philosophie nicht als Begründerin eines Neuen, sondern als Reflex und Fortsetzung der zurückliegenden Praxis und als nachträgliche Manifestation der Gründe ihres Scheiterns. Polis und demokratische Politik erscheinen ihm als vorweggenommene Inkarnation der späteren Politischen Philosophie. Schon seit Beginn des fünften Jahrhunderts hatte der athenische Demos praktiziert, was seine Philosophen ihm post festum als Mittel zur Genesung empfahlen: er hatte sich bemüht, das Leben „rational“ zu gestalten, die Triebe und Leidenschaften unter die Herrschaft der Vernunft zu beugen und einen Großteil der menschlichen Antriebsenergien an sich zu binden. Er hatte versucht, das Tragische in Politik zu überführen, d. h. durch Rede und Gegenrede, durch den Kampf der Meinungen und Interessen, durch die Sorge ums Gemeinwohl zu substituieren. Dabei kam ihm das Verständnis für die tragischen Folgen und Verstrickungen seines eigenen Tuns und Lassens abhanden, für die unaufhebbare Verkettung von Handeln und Schuld, die einen endlosen Prozeß von Haß und Gegenhaß, 221 Vgl. dazu F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen (1873–76). Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Werke. Bd. I., bes. S. 219 ff. 222 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1878–80). Zweiter Band, Erste Abteilung, 218. (I, S. 818 f.). 223 Vgl. den Beginn des Abschnitts „Griechische Freiheit versus orientalischer Despotismus“ (oben, S. 99 ff.).

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Rache und Gegenrache in Gang setzen mußte, der eine Lösung und Versöhnung verlangte, sie aber niemals finden konnte. Auch nicht in den Gesetzen und Institutionen der Polis. Hätten sich die Athener auf diesen bereits vom Mythos gelehrten und von den Tragödiendichtern stets aufs Neue dramatisierten Zusammenhang besonnen, so wären sie schwerlich in den Peloponnesischen Krieg marschiert und hätten sich nicht kopfüber ins Unglück gestürzt. So aber forderte das Schicksal seinen Preis. Das Verdrängte kehrte wieder und riß die Ignoranten in den Abgrund der Macht. Der unlösbare Zusammenhang von Kampf und Haß, Streit und Leid hat sich in und mit der Politik erneuert und hat Athen in die Katastrophe getrieben. Anstatt nun aber die Konsequenzen aus dem praktischen Scheitern zu ziehen und sich auf die Einsichten des Mythos und der Tragödien zurückzubesinnen, bestätigten ihnen die Philosophen der Polis nachträglich die Richtigkeit ihrer verfehlten Bemühungen. Sie sahen nicht die Inkonsistenz und den gravierenden Mangel ihres Tuns. Im theoretischen wie praktischen Streben, den ewigen Streit politisch zu kanalisieren und das aus ihm resultierende unabwendbare Leid zu besänftigen oder zu eliminieren, zeigt sich für Nietzsche eine Ignoranz, die sich früher oder später rächen mußte. Der Verlust des tragischen Sinns mußte die geistigen Kräfte schwächen und die Bürger der Polis in ihrem Leichtsinn auf falsche Bahnen und schließlich ins Verderben locken. Diese frühzeitige Schwächung und Ablenkung wurde von der späteren Politikphilosophie nicht korrigiert oder kritisiert, sondern prolongiert – mit der Folge, daß die Griechen den heranrückenden Makedoniern in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts außer den verbitterten Schmähreden des Demosthenes nichts mehr entgegenzusetzen hatten.224 Die gesamte Politische Philosophie – Empedokles, Demokrit, Sophistik, Sokratiker, Aristoteles usw. – wurde deshalb von Nietzsche als nachträgliche Legitimation und als Fortsetzung einer verfehlten Entwicklung begriffen. Die Eule der Minerva begann ihren Flug in der Morgendämmerung. Der Hochmut kam mit dem Fall noch nicht zu seinem Ende. Nachdem der Peloponnesische Krieg das Scheitern der athenischen Politik offenbart hatte, kämpfte die Politische Philosophie in ihren bedeutendsten Vertretern für die Restitution und Reform der Polis. Sie hielt an ihren Prinzipien und Formen fest, wollte sie neu verankern und stabilisieren, sorgte damit nach Nietzsche für die Perpetuierung des alten Übels. Die Praxis folgte ihr, indem sie zwar nicht ihre konkreten Einzelempfehlungen, aber doch ihre Fixierung auf die autonome und autarke Polis übernahm. Die Warnungen der frühen Tragödien wurden in den Wind geschlagen. Die alte Kette von Kampf und Haß, Rache und Gegenrache blieb in Gang.

224 Zu Demosthenes vgl. Plutarch, Von großen Griechen und Römern, S. 501 ff. Zur Entwicklung der Demokratie vgl. M. H. Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes; C. Mossé, Der Zerfall der athenischen Demokratie; W. Eder (Hg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Ch.

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Man hatte aus dem Verderben und der Schmach nichts gelernt. Die Leidtragenden und Kritiker des fast dreißigjährigen Krieges – Euripides, Sokrates, Platon u. a. – erscheinen so nicht nur als Opfer, sondern zugleich als verkappte Urheber der athenischen Hybris. Sie haben theoretisch fortgeführt, was in der politischen Praxis begonnen wurde. Sie wollten die Polis kurieren, indem sie ihr die Keime ihrer Infektion als Medikament verordneten. Was sie ihr als Therapie empfahlen, bildet für Nietzsche den Grund ihrer Krankheit. In ihrem Denken sieht er dieselbe Logik am Werke, die in der Praxis gescheitert war. Ihre Erschöpfung und Resignation am Ende des Peloponnesischen Krieges ließ sich daher problemlos in die Zeit nach den Perserkriegen projizieren und als Ursache der Verweichlichung und des Niedergangs diagnostizieren. Der Rückzug der Sokratiker aus der politischen Praxis,225 ihre Konzentration auf die Praktische Philosophie bildet somit nicht die Antwort auf das mißlungene Machtstreben der Athener, sondern die natürliche Folge einer a priori aussichtslosen Politik, die ihren tieferen Grund in der Ignorierung des Tragischen findet, das sich zwar durch ein naives Machtstreben verdecken, aber nicht eliminieren läßt. Wie schon für Kant und Hegel so gilt auch für Nietzsche Platons Politeia nicht als eine Utopie, „als ein vermeintlich auffallendes Beispiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkens ihren Sitz haben kann“ (Kant), oder als „Sprichwort eines leeren Ideals“ (Hegel), sondern als Manifestation und Synopsis der griechischen Sittlichkeit.226 Anders als seine Vorgänger bewertet Nietzsche die klassische Politikphilosophie nicht als Ausdruck höchster Vollkommenheit, sondern des Niedergangs und Verfalls. Die vier Kardinaltugenden Platons – Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit – erscheinen ihm nicht als notwendige Momente eines gelingenden Lebens, sondern als Stufen einer Verfallsgeschichte.227 Sokrates gilt ihm als der eigentliche Theoretiker der Polis, der in seinem Tun und Lassen ihr Wesen und ihre Konsequenzen enthüllt. Nietzsche erblickt in ihm einen verschmitzten Plebejer, der sich insgeheim lustig gemacht habe über die attische Kultur, der nichts anderes getan habe, als über „die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener“ und schließlich über sich selbst zu lachen.228 Er habe das Denken endgültig auf eine falsche Bahn gebracht, indem er es in die Stadtmauern Athens einpferchte. Sein Aufruf zur Mäßigung und zur Besonnenheit (sophrosyne), seine Besinnung auf ethische Tugenden gerät zur nachträglichen Legitimation und Fortsetzung der Tragikverges225 Zum Rückzug der Philosophen des 4. und 3. Jahrhunderts aus der Politik vgl. P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. 226 Siehe oben, S. 133, Anm. 183. 227 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band, Zweite Abteilung, 64. (I, S. 907). 228 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886). Fünftes Hauptstück, 191. KSA 5, S. 112. Vgl. auch ders., Götzen-Dämmerung (II, S. 951 ff.: „Das Problem des Sokrates“).

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senheit und der ihr entspringenden Schwäche. Die Demokratie und die von ihr provozierte Politische Philosophie erscheinen insgesamt als Irrweg, als verfehlte Kanalisierung und Zähmung der „dionysischen“ Energien, die nicht in „apollinische“, sondern in „theoretische“ Form gepreßt und so für sinnlose Mühen und Unterfangen verbraucht und geopfert wurden. Das Denken der Sokratiker erscheint nicht als ein notwendiges oder kontingentes Resultat des Aufstiegs und Falls der Athener, sondern als Wiederkehr des Verdrängten. An ihm ließen sich folglich die Symptome der griechischen Krankheit studieren. Hat die Philosophie, hat die griechische Kultur im allgemeinen von der Entstehung des Politischen, d. h. von der Politisierung der Bürgerschaft profitiert? Nietzsche bestreitet dies. Im direkten Gegensatz zu Jacob Burckhardt leugnet er jeglichen konstitutiven Zusammenhang von Politik und Kultur, ja, er konstatiert sogar eine negative Korrelation: „Trotz der Polis entwickelte sich also die Bildung“. Die „Verherrlichungsrede“ des Perikles bei Thukydides sei „nur ein großes optimistisches Trugbild über den angeblich notwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Kultur“. „Die Kultur verdankt das allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten“.229 Nur dann, wenn die geistigen Energien nicht durch politische Aktivitäten gebunden und abgelenkt wurden, kam es zu einer kulturellen Blüte. Selbst Sokrates und seine Schüler können hier zum Beleg angeführt werden. Nur ihr Rückzug aus der politischen Arena hat ihnen den erforderlichen Freiraum geschaffen, um ihre geistigen Kräfte in der Philosophie freizusetzen. Die Folgerung aus Nietzsches Analyse des Verhältnisses von Politik und Kultur lautet demnach: „So wenig als möglich Staat! – Alle politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind es nicht wert, daß gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müßten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer als ein Notstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen“.230 Gefordert wird stattdessen ein „Pathos der Distanz“,231 die Wiedergewinnung des tragischen Bewußtseins und des „Heroismus“,232 die Überwindung der „sokratischen Kultur“, die eine „Kultur der Oper“ gewesen sei.233 Im Gegensatz zum „romantischen Pessimismus, d. h. zum 229 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Erster Band, 474., 465. (I, S. 684, 677). Vgl. ders., Götzen-Dämmerung (II, S. 985). 230 Nietzsche, Morgenröte (1881). Drittes Buch, 179. (I, S. 1133). 231 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886). Neuntes Hauptstück, 257. (KSA 5, S. 205 f.); ders., Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887). Erste Abhandlung, 2. (ebd., S. 259). 232 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Viertes Buch (1882), 283. (II, S. 165): „Ich begrüße alle Anzeichen dafür, daß ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nötig haben wird – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen.“

3. Nietzsches Mutmaßungen

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Pessimismus der Entbehrenden, Mißglückten, Überwundenen“, strebt Nietzsche nach einem heroischen Pessimismus, den er 1886 auf folgende Formel brachte: „es gibt einen Willen zum Tragischen und zum Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist . . . Hinter einem solchen Willen steht der Mut, der Stolz, das Verlangen nach einem großen Feind. – Dies war meine pessimistische Perspektive von Anbeginn“.234 Der „große Feind“ für Nietzsche waren – paradoxerweise – die demokratischen Bewegungen in Europa, die sich seit Rousseau an der alten Polis orientierten und – wie die Griechen nach den Perserkriegen – die aristokratische Lebensweise durch Politik ersetzen wollten und vorgaben, auf lange Sicht keine „großen Feinde“ mehr zu kennen, sondern nur noch die vielen kleinen Feinde, die politischen Gegner und Konkurrenten innerhalb des demokratischen Weltsystems. Auch Sozialismus und Nationalismus würden letztlich nur Wasser auf die demokratischen Mühlen leiten, meinte Nietzsche, weil jetzt alle Parteien genötigt seien, „dem ,Volke‘ zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird“.235 Das Grundübel seiner Zeit erblickte er nicht in der einen oder anderen Ausgestaltung des demokratischen Prinzips, sondern in der von den alten Griechen begründeten Form der Politik als solcher, die aus sich heraus in Richtung Isonomie und Demokratie tendierte, die im 18. Jahrhundert von den amerikanischen Gründervätern und von den französischen Revolutionären erneuert wurde und nunmehr weltweit auf dem Vormarsch war. Anstatt sich mit den einzelnen politischen Bestrebungen seiner Zeit herumzuschlagen, wollte Nietzsche zu den Wurzeln des Übels vordringen und das Politische insgesamt ausrotten. Er projizierte seine Verachtung und seinen Haß zurück auf die alten Griechen, auf die Erfinder der Politik und auf die Philosophen der Polis, in denen er ebenbürtige Gegner sah, die er in der modernen Politik- und Demokratietheorie nicht fand. Der Standortgebundenheit seines Denkens zum Trotz hat Nietzsche damit etwas Richtiges und Wichtiges beobachtet, das nicht verdeckt werden darf. Seine Art des Perspektivismus verhinderte zwar die unvoreingenommene Betrachtung der griechischen Politik des 5. Jahrhunderts, die Würdigung der bahnbrechenden Leistungen des attischen Demos, dem es gelang, neue Formen der menschlichen Selbstverwirklichung, der Selbsterkenntnis und Selbststeigerung zu etablieren. Nietzsches Haß auf die griechische Demokratie und Politik überhaupt, sein scheeler Blick auf die Polis ermöglichte ihm aber andererseits Einsichten in spe233 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus (1872). I, S. 103. „Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber“ (ebd., S. 113). 234 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band, Vorrede (1886), 7. (I, S. 743). 235 Ebd., Zweite Abt., 292. (S. 991 f.). Vgl. Erster Band. Achtes Hauptstück, 480. (S. 689).

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zifische Zusammenhänge, die einem unbefangenen Betrachter verborgen bleiben mußten. Seine Polemik rückt die Eigentümlichkeiten und Folgen der demokratischen Politik in ein helleres Licht. Sie fordert einerseits zum Widerspruch heraus, provoziert andererseits jedoch Fragen, die von der Politischen Philosophie zu beantworten sind. Sie verdeutlicht die Ambivalenz der ganzen Entwicklung sowie die Leistungen und Grenzen der Politik. Sieht man von der sich bereits in den frühen Schriften abzeichnenden Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und von der Heraufkunft des europäischen Nihilismus sowie vom Ressentiment gegen die ressentimentgeladenen „Massen“ (die „Herde“) einmal ab, so bleibt als wichtigste Erkenntnis der Hinweis auf den Gegensatz und den wechselseitigen Ausschluß von aristokratischer Lebensweise und Politik und auf die mit dem Übergang von der einen in die andere verknüpften Verdrängungen und Verluste. Die Einbindung der Aristokraten in die Polis – das große Ziel der frühen Tragödien – erweist sich für Nietzsche als Folge eines grandiosen Mißverständnisses, da diese dadurch zur Preisgabe ihrer herkömmlichen heroischen Lebensart gezwungen wurden. Die Umdeutung der Aristokratie zu einer Verfassungsform der Polis erscheint als ein fauler Trick der Politikphilosophen, die sich damit als Gegner des Heroischen und als verkappte Demokraten zu erkennen geben. Indem sich die Elite der Hellenen fernerhin mit den kleinen Leuten herumschlagen und verständigen mußte, wurde ihre geistige Kraft und Energie – wie Nietzsche insinuiert – für nichtige und letztlich sinnlose Streitereien und Auseinandersetzungen verbraucht. Indem sie in das politische Spiel und den rhetorischen Kampf auf der agora und in den einzelnen Verwaltungsabteilungen der Polis verwickelt wurden, fehlte ihnen die Zeit und der Raum für größere Unternehmungen. Sie mußten sich den Sitten und Gesetzen der Massen beugen. Die Folge sei eine weitreichende Nivellierung und Verflachung des Lebens gewesen. Mit der aristokratischen Lebensweise ist der Pessimismus, ist der Sinn für die Größe und Tragik des menschlichen Lebens abhanden gekommen, den die Tragödien des Aischylos und Sophokles erfolglos wiederzuerwecken versuchten. An die Stelle von Ehre und Freundschaft sind „Politik und Anmut“ (C. Meier) getreten. An die Stelle der großen Schlachten der Heroen ist der gebändigte Kampf der Meinungen und Argumente und die Mitbestimmung der Bürgerschaft in den öffentlichen Angelegenheiten der Polis getreten. Die frühen Tragödien konnten hier nur der Selbsttäuschung dienen. Ihre Aufführung erleichterte die Eingewöhnung in die Gegenwart durch Beschwörung der heroischen Vergangenheit, die eigentlich aufrütteln sollte, in Wirklichkeit aber über die Versagungen der Zeit hinwegtröstete. Die von ihnen bewirkte Katharsis diente der Abschreckung wie der Ablenkung, der Zerstreuung der Bürgerschaft und der Kompensation eines öde gewordenen politischen Lebens. In ihnen spiegelten sich die Griechen eine Größe und Selbstherrlichkeit vor, die ihnen längst abhanden gekommen war. Die ruhmreiche Vergangenheit sollte auf die ruhmlose Gegenwart abstrahlen und sie in einem milderen Licht erscheinen lassen.

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Nimmt man diese Sichtweise ernst, so erweist sich Nietzsche selbst als ein romantischer Pessimist, der über den Verlust einstiger Größe und Erhabenheit lamentiert. Verändert man aber die Koordinaten der Wahrnehmung und Bewertung, dann kommen die großartigen Leistungen der Griechen in den Blick. Durch die Entstehung der Polis, durch die von ihr ermöglichte und erzwungene neue Form des Miteinander-Umgehens, des Miteinander-Redens und -Handelns, wurde für Viele ein menschenwürdiges Leben überhaupt erst möglich. Die Wildheit der vorpolitischen Hellenen ließ sich tatsächlich politisch zähmen. Neue Formen der „Sorge um sich“ (Foucault) entstanden, neue Muster der Selbstverwaltung wurden entdeckt. Das heroische Gehabe erwies sich als anachronistisch. Es war nicht das gemeine Volk, das die Aristokraten an großen Werken und Taten und an der Entfaltung von Macht und Größe hinderte. Diese waren vielmehr dekadent geworden und hatten sich in endlosen Fehden erschöpft. Nach der Entmachtung des Areopags hätten sie die Chance gehabt, sich weitgehend aus der Politik zurückzuziehen und sich „Größerem“ und „Wichtigerem“ zuzuwenden. Sie fanden aber keine neuen Betätigungsfelder, in denen sie ihre vermeintlichen Potenzen und Kräfte hätten einsetzen können. Es blieben nur die von Aristoteles unterschiedenen drei Typen der Aktivität: Poiesis, Praxis und Theoria. Vor allem in den beiden letzteren konnten sie sich bewähren und Ehre und Ansehen gewinnen. Das agonale Spiel blieb aber fernerhin nicht einer kleinen Gruppe vorbehalten, sondern wurde zum Lebenselexier zahlreicher Bürger, die in der politischen Betätigung einen neuen Lebenssinn finden konnten. Zwar blieben Frauen, Fremde und Sklaven ausgeschlossen, doch war das politische Engagement der mittleren und unteren Schichten mit der Zeit so mächtig geworden, daß Perikles 451 v. Chr. ein Bürgerrechtsgesetz verabschieden ließ, das auf eine Begrenzung der Bürgerschaft zielte, indem es festlegte, attischer Vollbürger könne ferner nur sein, wer beiderseits von Athenern abstamme.236 Die Entstehung des Politischen bei den Griechen erweist sich so als Moment und Katalysator der Emanzipation, als erfolgreicher Versuch, die traditionale Herrschaft zu überwinden, den Bann des alten Mythos zu brechen und den tragischen Konnex von Streit und Leid, Schuld und Sühne, Haß und Rache zu rationalisieren. Sie hat nicht zur Nivellierung, zur Verflachung und Vergleichgültigung des Lebens geführt, sondern im Gegenteil gewaltige Kräfte freigesetzt und großartige kulturelle Leistungen ermöglicht. Allerdings hat sie den Entzauberungsprozeß vorangetrieben, dessen Kehrseite ein weitreichender Sinn- und Freiheitsverlust war, der durch den politischen Prozeß nicht kompensiert werden konnte, 236 Vgl. dazu Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 45, 128 ff., 307 ff.; C. Patterson, Pericles’ Citizenship Law of 451–50 B. C. Zu den Schwierigkeiten der Einschätzung der Partizipation und der Anzahl der Aktivbürger vgl. auch W. Schuller, Griechische Geschichte, S. 126 f. (und die dort genannte Literatur). Die Schätzungen schwanken zwischen 20000 und 30000 Vollbürgern in der Blüte der athenischen Demokratie bei einer attischen Gesamtbevölkerung von ca. 200.000 Menschen.

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sondern im Gegenteil forciert wurde. Die Politische Philosophie hat diese Entwicklung nachvollzogen, indem sie die Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des bürgerlichen Lebens untersuchte,237 die des heroischen hingegen in Vergessenheit geraten ließ. Gegen das aktive und ausschweifende Leben setzte sie ihre Vorstellungen vom kontemplativen und tugendhaften Leben, anstelle von Tapferkeit und Ehre predigte sie Besonnenheit und Gerechtigkeit. Dafür versprach sie den Bürgern die Glückseligkeit auf Erden sowie einen gerechten Lohn der Götter nach dem Tode.238 Sie analysierte das Gesamtspektrum bürgerlicher Aktivitäten und bemühte sich um die Wiederverzauberung der entzauberten Welt. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, kurz den Sinn und Gehalt des Entzauberungstheorems ins Gedächtnis zu rufen, den Max Weber in der Nachfolge Nietzsches vor allem der Entwicklung der Moderne abgelesen hat, der aber schon die Ambivalenz der griechischen Geschichte verdeutlichen kann und der bei der heute üblichen inflationären und unreflektierten Verwendung des Topos gelegentlich verlorenzugehen droht:239 „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet . . . nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“

Dies war in der Tat das Ergebnis der Entstehung und Entwicklung von Philosophie und Politik bei den Griechen und der mit ihnen verknüpften Ausbildung eines allgemeinen „Könnens-Bewußtseins“ (C. Meier). Erstrebt und erlernt wurde schließlich nur noch ein rein technisches Können, dem die Einsicht in die sinnstiftenden Leistungen des Wissens und Handelns abhanden gekommen ist. Die Philosophie drängte schon bei den Vorsokratikern in diese Richtung und rief damit die Reaktion der Sokratiker hervor. Sie versuchte, die Welt im ganzen zu begreifen und auf rationale Prinzipien zurückzuführen, um sie berechen- und beherrschbar zu machen.240 In ihrer Entwicklung von der frühen Ionischen Natur237 Vgl. J. Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks. In ders., Metaphysik und Politik, 57–105. 238 Vgl. Platon, Politeia, X. Buch, 614 a ff. (IV, S. 510 ff.). 239 Vgl. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594. 240 Vgl. oben die Ausführungen zum Technik-Verständnis der griechischen Philosophen, S. 141 f. Der Traditionsbruch, den „der Vater der experimentellen Philosophie“, Francis Bacon, in der frühen Neuzeit vollzog, betrifft demnach eher das Theorieverständnis des christlichen Mittelalters als die griechischen Anfänge der Philosophie. Vgl. neben Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 7 ff. K. Heinrich, Mytheninterpretation bei Francis Bacon. In ders., Parmenides und Jona, 29–60; bes. S. 37 ff.

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philosophie bis hin zu den Sophisten verdrängte sie die mythische und tragische durch eine rein theoretische Weltbetrachtung, die zunächst noch von den vortheoretischen Apperzeptionsweisen zehrte, aber alsbald auf eigenen Beinen zu gehen und jegliche Verbindung zu ihren Vorgängern zu kappen versuchte. Selbst die menschlichen Lebenswelten, Oikos wie Polis, wurden schließlich als bloß technische, als mach- und beherrschbare Zusammenhänge begriffen. In der Genese dieser philosophisch-politischen Allmachtsphantasien können zwei Stufen unterschieden werden: Zunächst versuchten die früheren Vorsokratiker theoretische Prinzipien zu gewinnen, mit der sich das Sein, die Natur und der Kosmos im ganzen, ohne Rückgriff auf die Götter und die alten Ursprungsmächte des Mythos begreifen ließ.241 Den Endpunkt dieser Entwicklung bildet das to hen panta, die Ontologie des Parmenides, die das Viele auf das Eine zurückführte und die Welt als Einheit und Totalität konstruierte. Sodann wurden diese Prinzipien auf die Menschenwelt übertragen, die nunmehr selbst rational gestaltet werden sollte. Dabei wurde nicht nur der vom Mythos konstruierte Sinnzusammenhang zerstört, sondern zugleich das tragische Bewußtsein eliminiert. Der Pessimismus wurde durch einen theoretischen Optimismus verdrängt, der die Hoffnung nährte, nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur des Menschen sowie die sozialen und politischen Verhältnisse durch die Vernunft beherrschen und bestimmen zu können. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung erreichten die Sophisten, die sich auf die Ökonomik und die Politik konzentrierten und das Politische auf seine Techniken, auf die Mittel der Rhetorik und Eristik und auf die Verfahren des Machterwerbs und Machteinsatzes reduzierten. In dieser Entwicklung konnte Nietzsche eine weitere Parallele zu den industriell-technischen und politischen Bestrebungen seiner Zeit erblicken, die den unauflösbaren und daher ewigen Konflikt zwischen Logos und Mythos nicht austragen, sondern ignorieren und verdrängen wollten. Nicht erst der Historismus und Positivismus des 19. Jahrhunderts zerstörte die mythischen Deutungshorizonte, sondern bereits die frühe Aufklärung der Griechen, die ihre bedeutendsten Repräsentanten in den Sophisten fand.242 Überzeugt von der Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit mythischer Masken und Illusionen,243 strebte Nietzsche daher hinter sie zurück. „Der tragische Mythos“, so faßt Wolfgang Lange den „Mythos241

Vgl. oben die Ausführungen zur Vorsokratik, S. 85 ff. Daß schon der Mythos Aufklärung war und von den Menschen die Furcht zu nehmen versuchte, betonen zu Recht Horkheimer/Adorno, S. 5, 11 ff., passim. 243 Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Werke. Bd. I, S. 48: „Die Erkenntnis tötet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Überschuß von Möglichkeiten, nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflektieren, nein! – die wahre Erkenntnis, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen . . .“ 242

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komplex“ von und bei Nietzsche zusammen, „die Substanz der attischen Tragödie, war für Nietzsche nicht bloß ästhetische Norm und unerreichtes Muster der in Klassizismen erstickenden bürgerlichen Kunst, sondern zugleich Ausdruck einer Weltbetrachtung, die es wiederzugewinnen galt“. „Die im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. sich herausbildende Konstellation, der Kampf zwischen der tragischen Weltbetrachtung und dem sokratischen Optimismus, wird ihm zu einer Auseinandersetzung, die unter verschiedenen Vorzeichen stets von neuem auszutragen ist“.244 – Als Stein des Anstoßes hätte sich allerdings zunächst eher der „sophistische“ anstelle des „sokratischen Optimismus“ angeboten. Waren doch die Sophisten – im Unterschied zu den Sokratikern – zumeist Demokraten, die ihre Schüler in die Verfahren und Praktiken der Demokratie einzuüben suchten. Weshalb hat Nietzsche seinen Groll nicht an ihnen abreagiert, sondern sich auf Sokrates und Platon kapriziert? Schienen sie ihm als Gegner zu klein und zu unbedeutend? Der Grund dafür, daß sich Nietzsche diese beiden Antidemokraten als Kombattanten wählte, dürfte darin zu suchen sein, daß sie im Gegenzug zur sophistischen Entzauberung des Politischen an seiner Wiederverzauberung arbeiteten. Gegen die technische Auffassung der Sophisten setzten sie eine moralisch-therapeutische Konzeption,245 die zugleich ästhetisch überhöht und durch neue und alte Mythen aufgeladen wurde. Wie später Aristoteles so bemühten auch sie sich um den Nachweis, daß die Tugenden und mit ihnen die Praxis unverzichtbare Konstituentien eines gelingenden Lebens sind und der menschlichen Natur und Würde entsprechen. Während Aristoteles aber der tragischen Dichtung eine wichtige kathartische Funktion zuschrieb, hatte Sokrates nur Verachtung für sie übrig und blieb den feiertäglichen Inszenierungen nach Möglichkeit fern. Platon hingegen hielt die Tragödie wie die Komödie nicht nur für überflüssig, sondern sogar für schädlich, wollte deshalb prinzipiell alle Dichter aus der Polis verbannen. Er suchte nachzuweisen, daß die Philosophie sowohl der Tragödie als auch der Komödie überlegen ist und alle ihre konstruktiven Funktionen besser erfüllen kann. Diese Überlegenheit demonstrierte er im Symposion mit Hilfe einer Metapher: nachdem Sokrates seine Konkurrenten Agathon und Aristophanes unter den Tisch getrunken hatte, nahm er ein Bad und ging anschließend seinem Tagewerk nach, während seine Rivalen ihren Rausch ausschliefen.246 Philosophie, so wollte Platon damit zeigen,247 ist die bessere Tragödie und bessere Komödie, weil sie nicht an deren Formen und Voraussetzungen gebunden ist. Sie spricht nicht in 244

W. Lange, Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurteil, S. 113. Zur Unterscheidung von Ästhetik und Therapeutik vgl. O. Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. In ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 85–106. 246 Vgl. Platon, Symposion, 39., 223b–d (III, S. 181). 247 Vgl. zum folgenden J. Taubes in: F. Rötzer (Hg.), Denken, das an der Zeit ist. Frankfurt/M 1987, 305–319; bes. S. 309 f. 245

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Versen, sondern in Prosa. Sie ist nicht an eine feiertägliche Inszenierung gebunden, sondern immer möglich, ihre Katharsis ist zu jeder Zeit, an jedem Platz und in jeder Sprache erreichbar. Die Philosophie sollte den von keinem Staat ermöglichten oder erzwungenen inneren Zusammenhalt der Bürgerschaft vermitteln und symbolisieren und so den Selbstinszenierungsbedürfnissen der Polis genügen. Sie sollte damit jene Aufgabe übernehmen, die früher die Feste zu erfüllen hatten.248 Darüber hinaus hat Platon den alten Mythos nicht destruiert, sondern philosophisch „aufgehoben“. Er hat ihm einen ansehnlichen Platz in seinem System eingeräumt und die wohl wichtigsten Theoreme seiner Dialoge in Form von Mythen eingeführt. So zählt der Mythos des Protagoras im gleichnamigen Dialog ebenso zu den nicht wegzudenkenden Bestandteilen der platonischen Philosophie wie der Mythos der Diotima im Symposion oder der Mythos von Atlantis im Timaios usw. Auch die alten Götter werden beschworen, wenngleich der Mensch auf ihre Mitwirkung nicht länger angewiesen ist. Im Gegenzug zur technizistischen Entleerung und Verflachung des Politischen bei den Sophisten suchte Platon dem politischen Geschehen insgesamt einen tieferen Sinn zu vindizieren und die Notwendigkeit und die überragende Größe der Polis zu erweisen, durch die jeder einzelne Bürger Glied eines größeren Ganzen und Moment und Träger einer überindividuellen Rationalität wird. Indem er philosophisch-theoretisch einen ethisch-politischen Sinnzusammenhang konstruierte, versuchte er auf höherem Abstraktionsniveau jene Vertrautheit mit der Welt wiederzugewinnen, die der alte Mythos in der Erzählung vom Ursprungsgeschehen erreicht hatte. Wären die Athener seinem Rat gefolgt und hätten den von ihm propagierten „Wächterkommunismus“ installiert, so wären sie vermutlich kaum von den Makedoniern überrannt worden. Eher wären sie an ihrer Unfreiheit erstickt. Die Folge der Apotheose der Polis wäre gewesen, daß der von Max Weber in der Moderne konstatierte Wiederaufstieg und Kampf der verdrängten Götter der einzelnen Ordnungen und Werte um die Hegemonie ausgeblieben wäre.249 Verzaubert und in Gestalt persönlicher Glaubensmächte wären sie in ihren Gräbern geblieben und hätten im Hades über das Wohl und Wehe der Stadt gewacht, ohne in das politische Geschehen einzugreifen. So aber mußten sie erneut aus ihren Gräbern steigen und die fortwährende attische Hybris bestrafen. Die Apotheose der Polis und mit ihr der Politik mußte den Zorn bereits des jungen Nietzsche wecken, den aber keine Muse singen mochte, wollte er doch anstelle des Politischen das Heroische und Aristokratische am Leben halten. Vor allem Platon bildete folglich das Objekt seiner Wut und die Projektionsfläche für seine Verachtung, da er mit seiner Politeia am meisten für die Verklärung der 248 Vgl. dazu Meier, Die politische Kunst, S. 54 ff.: „Die Bedeutung der Feste in Athen“. 249 Vgl. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 605.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Politik getan hatte. Dabei war er, wie Nietzsche kopfschüttelnd bemerkte, von Hause aus Aristokrat und für den „Sokratismus“ eigentlich zu vornehm gewesen.250 Nur dadurch, daß er seine ererbten Anlagen und Kräfte für ihn einsetzte, konnte dieser zu der geistigen Macht werden, die er tatsächlich geworden ist. Hätte Sokrates die Rache der Polis für seine Ironie überlebt, so wäre er vermutlich Zyniker oder Kyniker geworden und hätte in einer Tonne aus der Ferne das vornehme Getue der attischen Politiker des 4. Jahrhunderts verlacht. Platon hingegen, „in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers“, wollte sich mit Aufwand aller Kraft beweisen, „daß Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf ,Gott‘“. Damit hat er, wie Nietzsche beklagt, alle späteren Theologen und Philosophen auf eine falsche Bahn gebracht und den Sieg der „Herde“ eingeleitet. 251 Kein Wunder, daß seine Lehre später zu einem festen und wesentlichen Bestandteil der christlichen Theologie wurde. Indem er das Programm der theoría von der unbewegten Ordnung des Universums und der sich ewig gleichbleibenden Bewegung der Natur auf die Polis übertrug und dabei vornehmlich moralische Kategorien in Anschlag brachte, hat er die Menschen einerseits unterfordert und unter Wert und Würde betrachtet, andererseits aber überfordert und in eine zwangsneurotische Situation gebracht. Er hat ihnen einen Maßstab aufgerichtet, der nie und nimmer eingeholt werden konnte, da er nicht lebensfördernd, sondern -hemmend war. Wären die Bürger seinem Ideal nachgeeifert, so hätte sie für immer ein schlechtes Gewissen geplagt. Um sie davon zu entlasten, bot ihnen alsbald Aristoteles eine harmlosere Variante des Politikdenkens als Ausweg an, indem er die platonische Idee des Guten den gegebenen sozialen und politischen Verhältnissen anpaßte und den Gedanken der Freiheit in die Polisvorstellung implantierte. Der scheele Blick, den Nietzsche auf die Polis wirft, erweist sich so als äußerst hilfreich zur Erkenntnis der Besonderheiten der nicht-staatlichen Formen der attischen Politik. Er hilft bei der Präzisierung des Begriffs des Politischen und läßt in seiner Verachtung gerade das sichtbar werden, was die große und bahnbrechende Leistung der Isonomie und Demokratie ausmacht. *** Damit können die Besonderheiten des griechischen Politikdenkens der klassischen Zeit zusammenfassend charakterisiert werden. Das antike Selbstverständnis steht in deutlichem Kontrast sowohl zum christlich-mittelalterlichen wie zum neuzeitlichen, insbesondere modernen Selbstverständnis. Dem christlichen Transzendentalismus steht die antike Weltimmanenz gegenüber, dem neuzeitlichen Individualismus der antike Substantialismus, das Eingebundensein des einzelnen 250 251

Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. 5. Hauptstück, 190. (KSA 5, S. 111). Ebd., 191. (S. 112).

3. Nietzsches Mutmaßungen

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Menschen als zôon lógon echon und zôon politikón in den Kosmos und den Verbund der Polis. Im Unterschied zur christlichen Lebensauffassung sahen die alten Griechen den Sinn und Zweck des menschlichen Lebens nicht in der Transzendenz, sondern in der Weltimmanenz. Die menschliche Praxis trug ihren Zweck in sich selbst und war nicht bloßes Mittel zur Erreichung der göttlichen Gnade oder der ewigen Seligkeit. Sie ereignete sich vielmehr im Zusammentreffen und -wirken der Bürger. Zwar thronten die anthropomorphen olympischen Götter über dem irdischen Geschehen, doch fühlten sich die Menschen seit Hesiods Tagen und Werken für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Zwar stellt auch Platon – im X. Buch der Politeia – den tugendhaften Bürgern ihren gerechten Lohn im Jenseits in Aussicht, doch handelt es sich dabei nicht um ein Heilsversprechen im Sinne des Christentums. Allenfalls der Schrecken über den Verlust des Lebens und den damit erfolgenden Abstieg in den Hades kann dadurch ein wenig gemildert werden. Der Akzent liegt auch bei ihm – wie später bei Aristoteles – eindeutig auf der innerweltlichen Legitimation des Gerechten durch Zuwachs von Erkenntnis und Anerkenntnis/Prestige. Die Griechen setzten ihre Erwartungen nicht auf die Zukunft, sondern lebten in der Gegenwart und strebten nach einer erfüllten „Jetztzeit“. Sieht man ab von den Weltalter-Spekulationen Hesiods, so haben sie die Geschichte nicht als eine sinnhafte Abfolge von Handlungsabläufen und Ereignisketten begriffen, sondern als ein kontingentes Geschehen.252 Auch noch in den großen Geschichtswerken von Herodot und Thukydides hatte das kriegerische Geschehen kein Telos, keinen Sinn und damit auch kein Ziel. Das geschichtliche Denken entstand nicht bei den Griechen, sondern in der jüdisch-christlichen Tradition.253 Im Unterschied zur neuzeitlichen, individualistisch-privatistischen Lebensauffassung sahen die Griechen und speziell die Philosophen der Polis den weltimmanenten Sinn nicht im Eigennutz, im privaten Wohl des einzelnen, in der Akkumulation von Reichtümern oder Kapital oder gar in der individuellen Konsumtion, sondern im theoretischen Leben (bíos theoretikós) einerseits, in der Praxis andererseits, im Zusammenleben, im kollektiven Handeln, in der Politik, der Aufopferung fürs Allgemeine, dem dialektischen Spiel der Kommunikation und Interaktion auf der agora. Als Ideal des menschlichen Lebens galt nicht das aktive, das tätige, das produktive Leben, sondern das geruhsame, das kontemplative Leben, nicht die vita activa, sondern die vita contemplativa. Als höchste Form der menschlichen Selbstverwirklichung wurde die theoría betrachtet, die aus den 252 Zur Entstehung der Historie bei den Griechen vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen, S. 326 ff. (bes. S. 335 ff.), 360 ff. 253 Vgl. E. Auerbach, Mimesis, S. 16 ff., 35 ff., 41 ff.; K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen; ders., Der Mensch inmitten der Geschichte, S. 115 ff., 223 ff., 339 ff.; J. Taubes, Abendländische Eschatologie; E. Voegelin, Order and History. Bd. 1.

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II. Philosophie und Politik in der Polis

Zwängen der materiellen Reproduktion und der sozialen Interaktion freigestellt ist. Im praktischen Leben sollten nicht die „ökonomischen“, sondern die „politischen“ Belange im Mittelpunkt stehen. Nicht die Arbeit im neuzeitlichen Sinne, nicht die Herstellung von Gütern oder Waren, nicht die Produktion der Dinge des alltäglichen Gebrauchs, nicht die Belange des eigenen Hauses sollten im Mittelpunkt der Handlungsorientierung stehen, sondern die Angelegenheiten der Stadt, die Interessen und das Wohl der ganzen Bürgerschaft. Der einzelne Mensch trägt seinen Zweck, sein Telos, nicht in sich selber, sondern in der Gemeinschaft mit andern. Er findet sich selbst nur im Gespräch und in der Interaktion mit seinesgleichen. Er bezieht sein Selbstbewußtsein und sein Selbstwertgefühl aus der Anerkennung, die er in der Politik erlangt. Den Dienst im Hause hatten die Sklaven, Frauen und Kinder zu verrichten. Der Mann als Hausvorsteher war freigestellt für die Vereinigung und Auseinandersetzung mit seinesgleichen, für das Handeln in der Stadt. Den Orientierungsrahmen, das nicht weiter hinterfragte Paradigma der politischen Theorie und Praxis bildete die Polis, die autark und autonom, nach innen wie außen unabhängig und frei sein sollte. Sie war eine staatsfreie Verbands- und Handlungseinheit, die über den Familien, den Phylen und den Phratrien angesiedelt war und von den freien Bürgern männlichen Geschlechts gebildet wurde. Im Hintergrund der Theorie stand somit die Vorstellung einer konkret erfahrbaren, in der Partizipation erlebbaren, für jedermann überschaubaren Bürgerschaft, an der alle freien Bürger gleichermaßen teilhaben sollten. Die Polis und mit ihr das ihr entsprechende politische Denken steht so zugleich in deutlichem Kontrast sowohl zur traditionalen Herrschaft (Despotismus wie Aristokratie) als auch zur mittelalterlichen Reichs- und zur neuzeitlichen Staatsorganisation und -verwaltung und den ihnen gemäßen Vorstellungen und Theorien.

III. Religion und Politik in den Großreichen Das Politikdenken der Antike erfuhr einen entscheidenden Bruch mit der Entstehung der großen Reiche, die dem griechischen Sonderweg ein Ende setzten und die autarken Städte absorbierten (Alexanderreich, Diadochenreiche, Römisches Reich). Die Bürger fanden sich nunmehr als Glieder großflächiger Einheiten wieder, die sich durch Unterjochung der kleinen Einheiten konstituierten und institutionell konsolidierten. Die „Bürgerschaft“ wurde anonymisiert, in eine mystische Einheit verwandelt. Die Angehörigen dieser Riesenreiche kannten sich nicht länger, waren als Gesamtheit weder durch verwandtschaftliche oder ethnische noch durch politische oder religiös-kultische Beziehungen miteinander verbunden, sondern einer unsichtbaren Macht ausgeliefert, deren Gewalt sie im Akt der Eroberung zu spüren bekommen hatten. Sollten diese Reiche nicht auf blanker Gewalt und ihrer Internalisierung beruhen, so mußte den Untertanen plausibel gemacht werden, daß es irgend etwas gibt, das sie verbindet. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ließ sich nun aber weder empirisch noch mit Hilfe der Prinzipien der klassischen Politischen Philosophie der Griechen begründen, da die so weit auseinanderliegenden Orte außer der gemeinsamen Unterjochung unter die Gewalt der Eroberer und das von ihnen erlassene Recht nur wenig Verbindendes fanden. Neue Prinzipien und Strategien mußten gefunden werden, um die neuen Ordnungsformen zu legitimieren. Neue Politikvorstellungen mußten entstehen, die den Menschen den Sinn und Zweck der neuen Herrschaftsordnungen einsichtig machen konnten. Indes ist hier im Hinblick auf den Politikbegriff zu differenzieren. Was soll verstanden werden unter Politik im Kontext der neuen Herrschaftssysteme? Was konnte dieser Ausdruck seinerzeit noch bedeuten? Die alte Polis, nach deren Vorbild der Begriff gebildet war, hatte aufgehört zu existieren. Die einzelnen Regionen, Städte, Stämme, Gruppen, Schichten und Verbände der Reiche vermochten sich nicht zu autonomisieren. Was also hätte man im Raum der neuen hegemonialen Mächte mit dem Begriff des Politischen bezeichnen sollen? Die Institutionalisierung und Ingangsetzung des bürokratischen Verwaltungsapparates, den die Imperatoren ihren Untertanen überstülpten? Die Instrumentalisierung und Mediatisierung der überkommenen Selbstverwaltungsinstanzen? Das interne Machtgerangel, den Kampf um Ämter, Macht und Posten? Die Bürgerkriege, die von Zeit zu Zeit entflammten? Die Streitigkeiten zwischen den einzelnen Regionen, die schließlich Octavian befriedete? Mußte man den militärischen Imperialismus und kulturellen Kolonialismus der neuen Supermächte als die neue Form des Politischen begreifen? Den Zwang zur Hellenisierung und Romanisierung der

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III. Religion und Politik in den Großreichen

Sitten und Lebensformen? Oder eher das Aufbegehren und den Widerstand der Untertanen gegen die neuen Hegemonen und ihre Satrapen? Ihren Kampf gegen die Zerstörung und Kolonialisierung der eingewurzelten Lebenswelt? Oder hatte jegliche Politik aufgehört? Diese Fragen sollen keine begriffsgeschichtliche Forschung initiieren. Zu untersuchen ist nicht, was die einzelnen Denker im Zeitalter der großen Imperien selbst mit dem Ausdruck „Politik“ bezeichneten (sofern sie ihn überhaupt benutzten). Zu fragen ist nach den neuen Sinn- und Handlungsorientierungen, nach dem neuen Selbstverständnis, nach den neuen Betätigungsformen, die an die freigewordene Stelle der alten Politik treten konnten. Welche Chancen der individuellen und kollektiven Selbstverwirklichung blieben für die Reichsuntertanen? Welche Möglichkeiten des Zusammenlebens wurden theoretisch antizipiert? – Die nachfolgende Untersuchung wird sich in drei Abschnitte gliedern. Der erste versucht die Möglichkeiten der Politik in den großen Reichen und ihr Verhältnis zur Religion theoretisch zu klären (1.). Sodann wird die Entwicklung des Politikdenkens im Hellenismus thematisiert (2.). Im dritten Schritt wird das politische Denken der Römer in seiner Entwicklung von der frühen Republik bis hin zum Großreich in den Blick gerückt (3.).

1. Das Politische in den großen Reichen Legt man den von den alten Griechen geprägten Politikbegriff zugrunde, so findet man in den neuen Herrschaftsgebilden sehr verschiedene Sphären oder Räume des Politischen, unterschiedliche Betätigungsfelder, denen unterschiedliche Institutionen und Handlungsformen entsprechen. Die Organisation und Verwaltung der Imperien und ihrer Provinzen und Städte lag in den Händen der privilegierten Schichten. Für diejenigen, die keinen Zugang in die Reichsverwaltung oder in den Militärapparat fanden, blieb zunächst nur das eigene Haus, die Familie, die durch „Arbeit“, durch Poiesis, zu ernähren war. Der Raum der Polis, d. h. der politischen Praxis, war verschwunden. Die Reiche selbst ließen sich – wie die diesbezüglichen Bemühungen der Stoa zeigen – schwerlich als vergrößerte Polis begreifen. Sie verkörperten einen globalisierten Oikos, der als „das Haus“ der jeweiligen Herrscher verstanden wurde. Sie wurden nicht durch soziale Interaktion und Kooperation konstituiert, sondern „von oben“ koordiniert. Die Beziehung der freien und gleichen Bürger war durch Herrschaftsbeziehungen substituiert (die nach griechischem Verständnis und speziell nach Aristoteles ihren Ort im Oikos haben sollten). Herrschafts- und Knechtschaftsbeziehungen ersetzten die Interaktion der Gleichen. Oikonomik, Hausverwaltung, war an die Stelle der Politik getreten. Strategisch-bürokratische Regierungs- und Verwaltungs-Technik machte die Phronesis der Bürger entbehrlich. Aber die entpolitisierte, aus der Reichsgestaltung und -verwaltung ausgeschlossene Bürgerschaft suchte sich neue Sphären der sozialen Interaktion,

1. Das Politische in den großen Reichen

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Räume der Gemeinschaftsbildung, der „politischen“ Betätigung und Selbstverwirklichung. Sie intensivierte die alten und entwickelte neue Formen der Religion und schuf sich dadurch einen Ersatz für die verlorene oder verweigerte Politik. Die Reichsverdrossenheit wurde in neuen Kooperationen kompensiert. Warum hätte man das Handeln in den religiösen Gemeinden und für die religiösen Gemeinden nicht „Politik“ nennen sollen? War nicht die Versammlung der Mitglieder der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften an die Stelle der Polis getreten? Wurde nicht der alte Begriff der Ekklesia, der die Versammlung der Polisbürgerschaft bezeichnet hatte, für die neuen, insbesondere dann für die christlichen Gemeinden reklamiert?1 – Legt man den altgriechischen Politikbegriff zugrunde, so gewinnt man den Eindruck, als sei gerade die religiöse Ekklesia – und nicht das Reich mit seinen Unterabteilungen – Medium, Raum und Gegenstand von Politik geworden. Mit „Seelenpflege“ hatte Platons Sokrates den Zweck der Politik umschrieben, als Handeln fürs Gemeinwesen, als Selbsthingabe für das allgemeine Wohl, als Selbstverwirklichung in Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen wurde sie in der Politik des Aristoteles definiert. Diese Funktionen waren mittlerweile allesamt in die religiösen Gemeinden abgeschoben worden. Was hatte die cäsaristische Technik des Machterwerbs, was hatte die bürokratische Verwaltung und fiskalische Ausplünderung der einzelnen Regionen, was hatte schließlich der militärische Imperialismus mit Politik zu tun? Oder sollte man nun gerade diese Handlungsformen und Institutionen als „politisch“ apostrophieren? Wurde nicht die klassische Politik durch die Religion ersetzt? Mußte man all das, was die Griechen noch „Politik“ genannt hatten, nunmehr als „Religion“ bezeichnen? Bereits an dieser Stelle ist zu betonen, daß Religion und Politik in sozio- oder politologischer Perspektive keine zwei klar voneinander unterscheidbare Sphären darstellen, die sich problemlos isolieren lassen. Es handelt sich vielmehr um zwei aufs Engste miteinander verzahnte Formen der menschlichen Organisation und Selbstverwirklichung. Schon in den altorientalischen Reichen wurde die Einheit von Herrschaft und Heil beschworen und die weltliche Regentschaft als Repräsentation, als Verkörperung und – mehr oder minder gelingende – Verwirklichung der von den Göttern beschlossenen bzw. über Menschen und Götter gesetzten Ordnung begriffen.2 Gleichgültig, ob man hinsichtlich der alten Reiche von „Politik“ sprechen will oder nicht, entscheidend ist, daß ihre Herrschaftsorganisation zugleich als sakrale Ordnung verstanden wurde, während umgekehrt die Organisation des Gemeinschaftslebens auf das jeweilige Götterbild zurück-

1 Vgl. K. Berger, Volksversammlung und Gemeinde Gottes; A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin. Bd. 1, S. 117 ff., 139 ff.; Bd. 2, S. 6 f.; O. Linton, Art. „Ekklesia“; W. A. Meeks, The First Urban Christians, 3. Kap.; E. Peterson, Theologische Traktate, S. 422 f. 2 Siehe oben die Überlegungen zum Politikbegriff in der Einleitung, S. 41 ff.

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III. Religion und Politik in den Großreichen

wirkte und dieses mitbestimmte oder formte. Lassen sich einerseits zahlreiche politische und juristische Begriffe der modernen Staatsrechtslehre als „säkularisierte theologische Begriffe“ begreifen,3 so kann man umgekehrt konstatieren, daß viele theologische Begriffe der alten Religionen „theologisierte politische Begriffe“ waren.4 Auch in der griechisch-römischen Antike und im christlichen Mittelalter bildeten beide Sphären eine untrennbare Einheit, durchdrangen sich religiöse und politische Vorstellungen und Begriffe. Stets war die politische Gemeinschaft „in den Zusammenhang des Welt- und Gotterlebens eingegliedert“, stets war die Sprache der Politik „durchweht von Erregungen der Religiosität“,5 während sich umgekehrt das soziale und „politische“ Leben in den theologischen Vorstellungen und religiösen Einrichtungen und Erwartungen reflektierte. Allerdings änderte sich im Lauf der Zeit der Charakter und das Gewicht der Religionen und damit zugleich die Zusammensetzung und die konkrete Gestalt der religiös-politischen Einheitswelt. Religion und Theologie bilden in diesem Zusammenhang nicht ideologische Reflexe oder zum Zwecke des „Priesterbetrugs“ entworfene Legitimationsstrategien, sondern konstitutive Elemente des menschlichen Selbstverständnisses und der Gestaltung des Gemeinschaftslebens. In ihnen artikuliert sich einerseits der Schauder, das Entsetzen und Erzittern vor dem „Heiligen“, dem Numinosen,6 d. h. dem furchteinflößenden Fremden und ganz Anderen. Andererseits vergewissern sich die Menschen in ihrer Gottesvorstellung ihrer eigenen Probleme und Nöte und suchen nach adäquaten Lösungen.7 Die Religion ist demzufolge Moment der Selbsterhaltung und Ausdruck kollektiver Rationalität. Sie erscheint als eine spezifische und fortgeschrittene, wenngleich defiziente Form der „Weltbemächtigung“ und zugleich als „Ausdruck“ oder „Dasein eines Mangels“, der nach einer rationalen Lösung verlangt.8 Sie kämpft auf ihre Weise gegen den „Absolutismus der Wirklichkeit“,9 gegen die Gefahren, die dem Menschen von seiten der äußeren und inneren Natur sowie von anderen Menschen inner- und außerhalb seines Volkes oder Kollektivs drohen. Sowohl in poly- als auch in monotheistischen Religionen werden die „weltlichen“ Nöte zu lösen versucht, denen sich die Menschen im Alltagsleben ausgesetzt sehen, die sie jedoch (noch) nicht

3 C. Schmitt, Politische Theologie, S. 49 ff. Zur Kritik des Säkularisierungstheorems H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Zu Carl Schmitt bes. S. 103 ff. 4 J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, S. 35 f. 5 E. Voegelin, Die politischen Religionen, S. 63. Für Voegelin ist dieser Konnex unauflösbar. Seine Zerstörung oder Mißachtung im Zeitalter der „Säkularisation“ sei verantwortlich für die Krisen und Katastrophen der Neuzeit. Vgl. ders., Die neue Wissenschaft der Politik; ders., Wissenschaft, Politik und Gnosis; ders., Das Volk Gottes. 6 Vgl. R. Otto, Das Heilige. 7 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums. 8 Vgl. K. Marx, Zur Judenfrage. In: MEW 1, 347–377; hier: S. 352. 9 Vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9 ff.

1. Das Politische in den großen Reichen

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philosophisch, politisch oder technisch bewältigen können.10 In beiden reflektieren sich nicht nur die Kämpfe der Völker oder Gruppen gegen die Naturgewalten, sondern auch die Probleme der Gemeinschaftsbildung und der Vergesellschaftung. Aus dieser Einsicht läßt sich die Vermutung ableiten, daß theologische und politische Begriffe zum Teil eine analoge Struktur besitzen, d. h. im Verhältnis struktureller Analogie zueinander stehen. Auf diesen Sachverhalt hatte einst schon Carl Schmitt hingewiesen, als er konstatierte: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet“.11 Mit dieser Feststellung wollte er allerdings keine einseitige Determination der Politik durch die Theologie und Metaphysik oder umgekehrt behaupten, sondern vielmehr eine Wechselwirkung und Verwandtschaft, eine Strukturidentität zwischen religiös-metaphysischen und juristisch-politischen Begriffen aufweisen. Die Feststellung einer Strukturidentität implizierte „keine Behauptung . . . über die Herkunft der einen Struktur aus der anderen oder beider aus einer gemeinsamen Vorform“.12 Sie diente stattdessen der Begründung des Programms einer politischen Theologie, die „jenseits der Determinationsschemata einer materialistischen Erklärung geistiger Phänomene oder einer spiritualistischen Erklärung materieller Vorgänge . . . bis zu jener Ebene radikaler Begrifflichkeit durchstoßen [wollte], auf der sich die substantielle Identität juristisch-politischer und metaphysisch-theologischer Begriffe nachweisen ließ“.13 Dieses Projekt einer Soziologie juristischer Begriffe, das auf den ersten Blick schwierig, ja unlösbar scheinen mag, ist leichter zu bewältigen als der prima vista einfache, bei näherem Hinsehen aber äußerst komplizierte Versuch einer Beantwortung der Frage nach der Herkunft der jeweiligen Begriffe aus der einen oder anderen Sphäre. Da sich die beiden zeitweilig bis zur Ununterscheidbarkeit durchdringen, erweist sich eine Einfluß- oder Determinationsforschung als abwegig und aussichtslos. Erfolgversprechender erscheint hier in der Tat ein Ansatz, der auf Strukturanalogien und Korrelationen abzielt. Eine solche Forschung ist insbesondere dort vonnöten, wo sich das politische Denken noch nicht zur philosophischen Klarheit geläutert hat, sondern in vorphilosophischen religiösen Er10 H. Blumenberg hat beide im Anschluß an R. Otto und L. Feuerbach dahingehend unterschieden, daß der Polytheismus seinen Ursprung „nicht im Ureigensten des Menschen, sondern aus dem Urfremden“ fand, während der monotheistische Gott allein der „Feuerbach-Gott“ wäre, in dem sich die Menschen mit ihren Problemen und Nöten an den Himmel projizieren (S. 35). Doch hatte bereits Xenophanes (DK fr. 11/Capelle fr. 22) den anthropomorphen Charakter der griechischen Götter konstatiert und moniert. Die Otto’schen Einsichten lassen sich – wie mir scheint – in die junghegelianische Erklärung des Ursprungs der Religionen aufheben und integrieren. 11 C. Schmitt, Politische Theologie, S. 59 f. 12 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 109. 13 W. Hübener, Carl Schmitt und Hans Blumenberg, S. 57.

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III. Religion und Politik in den Großreichen

wartungen und Hoffnungen kristallisiert. Der Zielsetzung dieser Studie entsprechend wird der Schwerpunkt des Interesses auf den politischen Gehalten liegen, die sich in den religiösen Begriffen und Ideen zum Teil offenbaren, zum Teil gezielt verhüllen. Die religiösen Denotationen der politischen Begrifflichkeit können hingegen vernachlässigt werden. Aufzuweisen sind die politischen Implikationen und Konnotationen der religiösen Vorstellungswelt, während die theologischen Implikate der politischen Begriffe außer Betracht bleiben können. Das Projekt konkretisiert sich damit zur Soziologie theologischer Begriffe, d. h. zur soziologischen Auswertung religiöser Überlieferungen.14 Die von diesem Programm inspirierten Bemühungen scheinen aber lohnender und ergiebiger hinsichtlich der Entwicklung des christlichen Abendlandes bzw. der jüdisch-christlichen Tradition15 als im Hinblick auf die griechische Polis. Hatte sich in dieser doch die politische Semantik weitgehend von der Theologie und von den religiösen Obliegenheiten emanzipiert. Eine soziologische Erklärung dieses Sachverhaltes hat Max Weber geliefert, der darauf verwies, daß es hier den Priestern nicht gelungen war, bestimmenden Einfluß zu erlangen und sich die „weltliche Macht“ zu unterwerfen. Vielmehr war die Priesterschaft vom Kriegeradel mit seinen „rein politisch-weltlichen“ Interessen unterworfen worden.16 Und diese „rein weltlich-politischen“ Interessen blieben auch in der Zeit der Isonomie und Demokratie dominant. Das politische Leben erzeugte seine eigene Symbolwelt, die sich in den Texten der klassischen Politikphilosophie niederschlug. Zwar schwingen auch in ihr religiöse Denotationen mit, zwar haben sich auch in ihr religiöse Erfahrungen und Erwartungen sedimentiert, doch hatte sich deren Gewicht vermindert und ihr Charakter geändert. An die Stelle transzendenter waren weltimmanente, auf die Jetztzeit und den konkreten Erfahrungsraum gerichtete Erwartungen getreten. Philosophie und Politik hatten den Mythos und mit ihm den Glauben an die tragische Verkettung von Schuld und Sühne über die Abfolge der Generationen hinweg zerstört. Die weltlich-politischen Zusammenhänge hatten eine neuartige Selbständigkeit gewonnen. Die auf die Götter bezogenen Hoffnungen waren verblaßt. Die Bürger der Polis hatten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen. Entsprechend werden sich dann zwar theologische Implikationen und Konnotationen der politischen Begrifflichkeit aufweisen lassen, doch dürfte umgekehrt von einer Soziologie theologischer Begriffe bzw. einer „Religionspolitologie“ (Claus E. Bärsch) nur wenig Zugewinn 14 Zu den theoretischen und methodologischen Problemen und Aufgaben der religionssoziologischen Forschung vgl. bes. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, S. 3–76. Zum gegenwärtigen Stand der religionssoziologischen Debatte vgl. H. Tyrell, Religionssoziologie. 15 Vgl. dazu bes. die von J. Taubes herausgegebenen drei Bände über Religionstheorie und Politische Theologie. 16 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Teil, Kap. IX. 7 (Typologie der Städte), bes. S. 779 ff., 795 ff., 804 ff. Dazu J. Deininger, Die politischen Strukturen des mittelmeerisch-vorderorientalischen Altertums in Max Weber Sicht, S. 94 ff.

1. Das Politische in den großen Reichen

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an Erkenntnissen zu erwarten sein. Können diese doch erschöpfend durch die Exegese der klassischen Tragödie, der Geschichtsschreibung und der Politischen Philosophie gewonnen werden. Dagegen bietet sich der beschriebene Ansatz für die Analyse der jüdischchristlichen Tradition und des christlichen Mittelalters unmittelbar an. Blieben hier doch beide in einer unauflöslichen Symbiose. Speziell im Hinblick auf die abendländische Entwicklung seit der Spätantike ist zu konstatieren, daß sich beide nach ihrer Reformation und Wiedergeburt bis zur Ununterscheidbarkeit durchdrangen, daß Religion und Politik nicht nur eineiige, sondern siamesische Zwillinge waren, deren Trennung in der Frühen Neuzeit äußerst schmerzhaft war und eine Menge Blut gekostet hat. Doch nicht nur das christianisierte Imperium Romanum, sondern schon die ihm vorhergehenden, der Polis nachfolgenden und sie verschlingenden Reiche waren religiös-politische Verbände, in denen sich die beiden Komponenten gegenseitig befruchteten und balancierten. Deshalb konnten auch die hellenistischen und römischen Herrscher nicht gleichgültig gegen die in ihrem Machtbereich praktizierten religiösen Kulte bleiben. Die Vielfalt und Konkurrenz der Religionsgemeinschaften und Sekten konnte sowohl integrative wie desintegrative Wirkungen zeitigen. Während sich die assoziativen und dissoziativen Funktionen der unterschiedlichen Kulte und Glaubensverbände in „ruhigen“ Zeiten stabilisierend auf die Herrschaftsstrukturen auswirken konnten, mußten sie in Krisenzeiten die zentrifugalen Kräfte stärken und die Macht der Zentralgewalt schwächen. Sie konnten einerseits den imperialen Universalismus tragen, andererseits den Partikularismus fördern und folglich zum Störfaktor und zur Bedrohung des inneren Friedens werden. Deshalb waren die sozialen und imperialen Bedingungen dem Wachstum und Aufstieg monotheistischer Religionen förderlich. Obgleich Verallgemeinerungen stets die Gefahr der Verzerrung in sich bergen und deshalb nur mit Vorsicht zu wagen sind, wird man doch festhalten dürfen: Während in der griechischen Polis und in der römischen Republik der Polytheismus der anthropomorphen Götter den inneren Pluralismus und den geregelten Streit der Bürger und Faktionen zum Ausdruck brachte und befeuerte, verlangte die hierarchische Ordnung der späteren Kaiserreiche ein ganz anderes Gottesbild. Dieses ließ sich aber nicht per Ukas oktroyieren, da die religiösen Vorstellungen und Institutionen stets im Alltagsleben ihrer Träger verwurzelt waren und eine gewisse Bodenhaftung und Intransigenz aufwiesen. Der Aufstieg des Monotheismus und der spätere Übergang der christlichen Kirche zum Trinitätsdogma mußte daher zu heftigen Reibungen und Konflikten führen, die einem friedlichen Zusammenleben eher im Wege standen. Diese Auseinandersetzungen, das Wechselspiel zwischen religiösen und politischen Vorstellungen und die schließliche „Befriedung“ und „Versöhnung“ im christlichen Reich werden im anschließenden IV. Kapitel betrachtet, das auf die jüdisch-christliche Überlieferung rekurriert, um ihren Einfluß auf das europäische Politikdenken zu ermitteln.

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III. Religion und Politik in den Großreichen

Festzuhalten ist, daß die religiösen Gemeinden und Kulte stets ihre eigenen Ordnungen und Institutionen, Prinzipien und Umgangsformen generieren, denen nicht a priori abzusprechen ist, daß sie einen eminent politischen Charakter haben können. Bilden sie doch ausgezeichnete Orte der Integration und der Gemeinschaftsbildung. Wie immer ihre Genese motiviert sein mag – durch Furcht und Zittern vor dem Numinosen, durch Ablehnung der vorherrschenden Formen des Zusammenlebens und der Weltgestaltung, durch spirituell-mystische Erleuchtung charismatischer Führer usw. –, zu vermuten ist, daß die Konjunktur religiöser Vorstellungen und Einrichtungen abhängig ist vom Vorhandensein oder Fehlen „rein weltlich“ ausgerichteter Instanzen der Weltbemächtigung, der Naturbeherrschung und der Vergesellschaftung. Ihr Aufkommen und Verschwinden, ihr An- oder Abschwellen, ihr steigendes oder sinkendes Gewicht dürfte damit zugleich in negativer Korrelation zum jeweiligen Ausmaß und zur Bedeutung profan-politischer Betätigungsformen und Institutionen stehen. Immer dann, wenn die Freiheits- und Partizipationsspielräume der Menschen eingeengt oder zerstört werden, wenn das politische Engagement erlahmt oder endet, haben unterschiedliche religiöse Bewegungen Konjunktur, ist das religiös-politische Engagement im Wachsen begriffen – et vice versa. Das natürliche Streben der Menschen nach Anerkennung und Kommunikation sucht sich dann Kompensationsmöglichkeiten und befriedigt sich in spirituellen Vereinigungen, die ihrerseits politischen Charakter gewinnen, früher oder später auf die andere Arena zurückstrahlen und zeitweilig das politische Kräftespiel beeinflussen können. Die religiösen Veranstaltungen schaffen so einen Ausgleich für die abhandengekommenen oder verhinderten Möglichkeiten der menschlichen Selbstverwirklichung, der Teilnahme an kollektiven Willensbildungsprozessen und Aktivitäten, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und damit zu einer überindividuellen Form der Rationalität. Zwei Sphären des Politischen können somit in der hellenistischen und römischen Zeit unterschieden werden: einerseits die Politik im Großen, die organisatorische und strategische Ausgestaltung der Reiche, an der die Oberschichten partizipierten, und andererseits die Politik im Kleinen, die Betätigung des ganzen Volkes in den profanen und vor allem in den religiösen Gemeinden, die einen Ersatz für die verweigerte Partizipation an der großen Politik boten. Unterhalb des politisch-administrativen Apparates wurden neue Formen des Zusammenlebens erprobt, wurden neue Handlungsorientierungen gewonnen, wurde eine neue Sphäre kollektiver Rationalität geschaffen, die den eingetretenen Mangel an Erfahrungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten kompensieren und ihre Glieder über den erfahrenen Freiheits- und Sinnverlust hinwegtrösten konnte. Wie schon Max Weber im Kontext seiner religionssoziologischen Forschungen feststellen konnte, sind die vorderasiatischen Erlösungsreligionen „fast ausnahmslos Folgeerscheinung der erzwungenen oder freiwilligen Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung“.17 Dies gilt sowohl für die jüdische und gnostische wie für die christliche und die spätere schiitische Er-

2. Politisches Denken im Hellenismus

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lösungsreligion,18 die allesamt am Postulat einer sinnvollen Welt festhielten und mit seiner Hilfe die real existierenden Ordnungen kritisierten.19 Wie ihre Schwestern ist auch die Religion des Urchristentums unter soziologischer Blickrichtung in ihrem Kern und ihrem Wesen zu verstehen als der Versuch, einen Ersatz für die verlorene oder verweigerte „Politik“ zu finden. Sie ist in prägnantem Sinne Ersatzpolitik. Und zwar eine Form, die selbst politischen Charakter gewinnen und sich in unterschiedlichster Weise auf die jeweilige Herrschaft auswirken konnte, je nachdem, an welchem Paradigma sich die Betroffenen orientierten. Der Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der vorderasiatischen Erlösungsreligionen ist demnach unerläßlich zur Erfassung der Genealogie und Morphologie des Politischen und wird den Politikbegriff weiter spezifizieren. Entscheidend für die abendländische Entwicklung wurde bekanntlich die jüdisch-christliche Tradition. Sie bildet – neben der griechisch-römischen Antike – die zweite große Quelle, aus der sich das europäische Politikdenken speist. Freizulegen ist daher der politische Gehalt ihrer theologischen Begriffe, zu beleuchten sind ihre zum Teil offenbaren, zum Teil verhüllten politischen Implikationen und Konnotationen. Zuvor muß aber die Entwicklung des hellenistischen und römischen Politikdenkens betrachtet werden.

2. Politisches Denken im Hellenismus In den griechischen Poleis war das politische Engagement im Verlauf des vierten Jahrhunderts noch weiter gesunken. „An die Stelle des politischen Interesses war das Streben nach Geld getreten, wirtschaftliche Fragen beherrschten die De17 M. Weber, WuG, 2. Teil, Kap. V.: Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung), 245–381; hier: S. 306 f. Dies gelte für die Erlösungsreligionen mystagogischen wie prophetischen Charakters und ebenso für die vom Laienintellektualismus getragenen orientalischen und hellenistischen, sei es mehr religiösen, sei es mehr philosophischen Erlösungslehren (soweit sie überhaupt sozial privilegierte Schichten erfaßten). 18 Vgl. H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen. Obgleich er der gängigen, von Max Weber beeinflußten Ansicht widerspricht, die antike Stadtherrschaft (Polis) sei bereits zu Beginn des Hellenismus untergegangen (S. 17, 255 ff.), hat Kippenberg die Einsicht Webers in den Zusammenhang von „Entpolitisierung“ und Aufstieg der Erlösungsreligionen zum Leitfaden einer weit ausgreifenden Analyse der Entstehung und Entwicklung der jüdischen, christlichen, gnostischen und schiitischen Erlösungsreligion gemacht, die sich leiten läßt von der These, „daß die vorderasiatischen Erlösungsreligionen ihre pragmatischen Bedeutungen in Zusammenhang mit den Rollen bekommen haben, die ihre Anhänger im Drama von Entstehung und Niedergang der antiken Stadtherrschaft gespielt haben“ (S. 18). Zu Weber vgl. bes. S. 85 ff. 19 Vgl. H. G. Kippenberg, S. 104: „Der Politismus von Untertanen war Ergebnis einer Unterwerfung unter und innerlichen Anpassung an die bürokratische Herrschaft gewesen. Nicht so die Erlösungsreligionen. Sie hielten an dem Postulat einer sinnvollen Welt fest und problematisierten unter Bezug darauf die real existierenden Ordnungen“. Träger dieser Problematisierung waren aktive Intellektuelle in Verbindung mit den städtischen Gewerbeschichten.

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batten der Volksversammlung“.20 Die Demokratie änderte ihre Gestalt: das Politische wurde rationalisiert, juridifiziert und formalisiert, die Gerichte erfuhren eine Aufwertung, während die Volksversammlung an Gewicht verlor.21 Es gelang den Poleis nicht, ihre Beziehungen zueinander auf friedlichem Wege zu regeln: „Ein weiteres halbes Jahrhundert nach dem Peloponnesischen Krieg dominierten Krieg und Verwüstung, Verbannungen, Konfiskationen, Massaker. Der ersehnte, mehrfach beschlossene allgemeine Friede blieb aus. In dieses ohnmächtig gewordene System von Städten und kleinen Städtebünden, gespalten vom Hader der Parteiungen, stieß nun die Macht Philipps, des Königs von Makedonien, mit seinen gut organisierten Reitern und Infanteristen“.22 Auf dem Schlachtfeld von Chaironeia fand die Ära der großen autonomen Poleis 338 v. Chr. ihr Ende. Der Freiheitskampf athenischer Demokraten endete schließlich 322 v. Chr. in einem Debakel. Die alten Poleis wurden ins Alexanderreich und in die nachfolgenden Diadochenreiche integriert.23 „Die Eingliederung in die neuen Reiche erfolgte über die Einbindung der jeweiligen einheimischen Eliten; Demokratien wurden durch Oligarchien ersetzt“.24 Die Masse der Bürger zog sich allmählich aus der Politik zurück, verzichtete freiwillig auf ihr Bürgerrecht und übertrug die städtische Macht den wenigen Reichen. Die Demokratie zerfiel.25 An ihre Stelle trat die Oligarchie der Honoratioren.26 Der resignierten Unterwerfung unter die weit entfernte Macht, die das Reich lenkte, stand zwar ein leidenschaftliches Interesse der Bürger für die Angelegenheiten der eigenen Stadt gegenüber. Die ärmeren Schichten hatten jedoch für ihre Subsistenz zu sorgen und ums Überleben ihrer Familien zu kämpfen. Sie sahen sich auf die Wohltaten, die Großzügigkeit und Freigebigkeit der Reichen verwiesen und verließen sich darauf, daß diese die öffentlichen Angelegenheiten im Sinne des allgemeinen Wohls lenken würden. Der neue Euergetismus ersetzte die Partizipation der Bürger.27 Nietzsches Wunsch wurde erfüllt: „In dieser veränderten Welt waren die sozialen Eliten bei weitem nicht mehr so sehr durch Politik und Kriegführung beansprucht, wie dies in der Ära der autonomen Stadtstaaten der Fall gewesen war“.28 Sie hatten wieder Zeit und Raum zur Rückbesinnung auf das „Tragische“ und „Dionysische“. Der Schwund des Poli20 H. Bengtson, Griechen und Perser, S. 252 – mit Verweis auf Xenophons Schrift „Über die Einkünfte“ (Poroi, ca. 354 v. Chr.). 21 Vgl. M. H. Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. 22 R. Bichler, Politisches Denken im Hellenismus, S. 439 f. 23 Vgl. dazu P. Grimal, Kap. 1. u. 3. In ders. (Hg.), Der Hellenismus und der Aufstieg Roms; H.-J. Gehrke, Geschichte des Hellenismus. 24 W. Nippel, Politische Theorien der griechisch-römischen Antike, S. 33. 25 Vgl. C. Mossé, Der Zerfall der athenischen Demokratie (404–86 v. Chr.). 26 Vgl. P. Veyne, Brot und Spiele, S. 101 ff. 27 Vgl. ebd., S. 107, 176 ff. 28 W. Nippel, Politische Theorien, S. 33.

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tischen wurde kompensiert durch eine „heftige religiöse Aufwallung“, durch den Aufstieg, die Verbreitung und Intensivierung der ,Mysterien-Religionen‘ in den hellenistischen Reichen.29 Allerdings waren die neuen Herrschaftsgebilde keine totalen Machtzentren wie die neuzeitlichen Staaten. Im Hellenismus wie auch später im Römischen Reich behielten die Städte relative, zum Teil weitgehende Autonomie.30 Das Prinzip der Selbstverwaltung blieb erhalten. Die antike Kultur war und blieb eine städtische Kultur. Die imperialen Statthalter waren auf die Mitwirkung der einheimischen Eliten angewiesen. Und diese mußten Rücksicht nehmen auf die Interessen der ärmeren und mittleren Schichten. In der Beurteilung des verbleibenden Freiheitsgrades wie des Bürgerengagements ist sich die Forschungsliteratur nicht einig. Was die Einschätzung der politischen Gestalt und Rolle, des Charakters und der Kompetenzen der griechischen Städte im Hellenismus betrifft, so hat die jüngere Literatur – wie auf den meisten Feldern der Forschung – die Sichtweise der früheren zu revidieren versucht, die ein recht düsteres Bild gezeichnet hatte. Gegen die These vom weitgehenden Freiheitsverlust und von der schwindenden Bürgerbeteiligung hat jüngst Christian Habicht protestiert, der die eindringlichste Untersuchung zur Entwicklung der Stadt Athen in der hellenistischen Zeit vorgelegt hat. Sein Resümee lautet: „Nichts rechtfertigt die in der Literatur gelegentlich begegnende Behauptung, das politische Engagement der Bürger habe in der hellenistischen Zeit nachgelassen“. Auch nach der Niederlage gegen die makedonische Armee sei die Pflege des Rechtswesens und der öffentlichen Kulte, die Versorgung der Stadt, das Finanzwesen und alle anderen Zweige der Verwaltung ausschließlich Sache der Bürger gewesen. „Wenigstens 36 Sitzungen der Volksversammlung gab es in jedem Jahr und tägliche Sitzungen des Rates, ausgenommen die bedeutenderen Festtage. Die alljährlich revidierte Liste der Geschworenen enthielt nach wie vor die Namen von sechstausend Bürgern, aus denen die in den einzelnen Gerichtshöfen tätig werdenden von Fall zu Fall ausgelost wurden, zuweilen mehr als 1500 für ein einziges Gericht. Für verschiedene Beschlüsse des Volkes, darunter die relativ häufige Verleihung des Bürgerrechts an Fremde, war die Anwesenheit von sechstausend Stimmberechtigten erforderlich, und der Befund läßt es als nahezu gewiß erscheinen, daß dieses Quorum in den meisten Versammlungen ohne Schwierigkeiten erreicht wurde“ (Athen, S. 16). „Zwar haben Athen, Sparta und Theben mit dem Emporkommen der makedonischen Monarchie die dominierende Rolle in der großen Politik, zwar hat Theben für zwei Jahrzehnte sogar seine Existenz verloren, aber die besten Kenner der hellenistischen Urkunden, allen voran Louis Robert, haben längst deutlich gemacht, daß die griechi29

Vgl. P. Grimal, Der Hellenismus und der Aufstieg Roms, S. 205 ff. (Zitat S. 211). Zur Stadt in der hellenistischen Welt allgemein: P. Grimal, S. 175 ff. Zu Athen: C. Habicht, Athen. Zu Rom: F. Vittinghoff (Hg.), Stadt und Herrschaft, 14–146 (die Beiträge von W. Dahlheim, H. Galsterer und F. Vittinghoff); W. Dahlheim, An der Wiege Europas; D. Nörr, Imperium und Polis in der hohen Prinzipatszeit. Zur Verfassungsgeschichte insgesamt: A. Demandt, Antike Staatsformen. Zur Lage der Städte in den großen Reichen siehe ebd., S. 281 ff., 306 ff., 426 ff. 30

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schen Städte, die größeren ebenso wie Hunderte von kleineren Gemeinden, weiterhin lebensfähige und vitale politische Gebilde blieben. Für die Mehrzahl der kleineren und mittleren Städte war die Klassische Zeit, in der sie von stärkeren Staaten beherrscht wurden, die traurigste Zeit ihrer Geschichte; mit der hellenistischen Epoche besserte sich ihre Lage“ (S. 362).

Erst mit dem Erscheinen Roms auf der weltpolitischen Bühne habe sich diese Lage geändert. Erst jetzt habe das Pendeln zwischen Freiheit und Unfreiheit ein Ende gefunden. Seitdem im Jahre 228 v. Chr. die erste offizielle römische Gesandtschaft in Athen erschien, sei Athen in den Sog der römischen Expansion geraten. Im Laufe der Jahrzehnte seien die Auswirkungen der römischen Hegemonie immer deutlicher fühlbar geworden, bis schließlich Octavian im Jahre 31 v. Chr. durch seinen Sieg bei Actium die griechischen Städte unterwarf und sie, wie alle anderen Gemeinden und Völker im Bereich des römischen Imperiums, dem Willen des neuen Alleinherrschers unterstellte. Gegen diese Einschätzung hat Karl Christ in einer Rezension eingewandt, Habicht überschätze den Umfang und die Bedeutung der innerstädtischen politischen Aktivitäten, die von ihm ausgewerteten Inschriften dokumentierten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, lediglich politische, diplomatische, administrative und religiöse Vorgänge, deren Radius zumeist eng begrenzt war. „Die Volksbeschlüsse, die Habicht intensiv erörtert, handeln in der Regel von Ehrungen, Gesandtschaften, Bürgerrechtverleihungen, politischen Entscheidungen von nur lokaler Bedeutung, andere Inschriften von Festen und Agonen“.31 Da die literarischen Quellen spärlich fließen, da eine kontinuierliche Geschichtsschreibung vom Range eines Herodot, Thukydides oder Xenophon für die Zeit vom vierten bis zum ersten vorchristlichen Jahrhundert fehle und nahezu die gesamte zeitgenössische Literatur verlorengegangen sei, lasse sich Athens Geschichte in diesen Jahrhunderten nur schwer rekonstruieren. Sie bleibt deshalb, wie auch die besser dokumentierten Entwicklungen und wie die meisten geschichtlichen Ereignisse, grundsätzlich vieldeutig und ambivalent. Dennoch gilt: Obgleich die klassische Zeit durch ihre politische und kulturelle Blüte auch weiterhin alles Vorhergehende und Nachfolgende überstrahlt, wird man die Folgezeit ferner nur noch mit einer Mentalreservation als Phase des Verfalls und Niedergangs betrachten dürfen. Dies gilt bereits für die Zeit unmittelbar nach dem Peloponnesischen Krieg32 und nach den Studien von Habicht auch für die Epoche des Hellenismus. Wie immer die realpolitische Entwicklung seit dem Ende des vierten Jahrhunderts zu bewerten ist, festzustellen ist mit Sicherheit, daß sich das theoretische Interesse der Philosophen zusehends von den Belangen der Stadt abwandte. Wie immer es ums Engagement der unteren und mittleren Schichten bestellt gewesen 31 K. Christ, Der Glanz der Tradition (Rezension von C. Habicht, Athen). In: Die Zeit v. 3. November 1995, S. 16. 32 Vgl. W. Eder (Hg.), Die athenische Demokratie im 4. Jh. v. Chr.; M. H. Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes.

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sein mag, die Intellektuellen jedenfalls zogen sich aus der politischen Arena zurück.33 Sofern sie sich nicht gänzlich auf neuerliche Kosmosspekulationen oder auf die Mathematik, Logik und Naturphilosophie konzentrierten und sich stattdessen weiterhin mit der conditio humana beschäftigten, verlagerte sich ihre Aufmerksamkeit auf die übergreifenden Einheiten einerseits, auf den einzelnen Menschen andererseits, der nicht länger als zoon politikón begriffen wurde, sondern als ein freies, sich selbst genügendes Individuum. Als Voraussetzung eines gelingenden Lebens wurde nicht länger die politische Partizipation betrachtet, sondern die je individuelle Selbsterhaltung und -verwirklichung. Die Erklärungen und Begründungen der Polis-Philosophen griffen nicht mehr. Die ganze klassische Politische Philosophie war mit einem Schlag zur Makulatur geworden. Die Welt hatte sich für die Denker in ihren Grundlagen verändert. Ein Paradigmenwechsel war nötig geworden. Wie konnte man die neue Lage begreifen? Welche Bedürfnisse kamen der neuen Herrschaft entgegen? Welche neuen Politikvorstellungen traten auf den Plan? Die Eingliederung der Poleis in die neuen Großreiche reflektiert sich in der Philosophie in der Hinwendung bedeutender Denker zu den Makedoniern und ihren Nachfolgern einerseits, in kosmopolitischen Spekulationen andererseits und schließlich im Rückzug auf eine individualistisch-eudaimonistische Ethik. Die Bemühungen der politikphilosophischen Klassik um Restitution und Restauration der Polis waren gescheitert. Wie Isokrates, Xenophon u. a. so sympathisierten auch die Schüler Platons (Speusippos, Xenokrates u. a.) und Aristoteles’ (Theophrast u. a.) mit den Makedoniern und suchten die Notwendigkeit und den Sinn der neuen Herrschaftsform zu begründen.34 Sie fanden ihn in der panhellenischen Einigung und in der Stabilisierung der inneren Ordnung sowie in der Verteidigung bzw. in einem möglichen Feldzug gegen die Perser. Die alten Leitunterscheidungen der Klassiker – polis vs. oikos, öffentlich vs. privat, poíesis vs. praxis, téchne vs. phrónesis usw. – waren allesamt obsolet geworden. An die Stelle der gemäßigt demokratischen oder aristokratischen Polis der freien und gleichen Bürger war eine monarchisch-oligarchische Herrschaft und die hierarchische Stratifikation als Ordnungsideal getreten – interpretiert als die adäquate Verwirklichung der von Aristoteles präferierten Mischverfassung.35 Dies dürfte den Peripatetikern leichter gefallen sein als den Akademikern, konnten sie sich doch auf die Metaphysik des Aristoteles berufen, die gegen den platonischen Ideen- und Prinzipien-Pluralismus polemisiert und – im Gegensatz zur Politik – ein deutliches Votum für die Monarchie abgegeben hatte, eine Option, die durch 33 Zum Begriff „Intellektuelle“ vgl. H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 64 ff. 34 Vgl. R. Bichler, Politisches Denken, S. 456; A. Demandt, Der Idealstaat, S. 139 ff.; K. Rosen, Griechenland und Rom, bes. S. 62 ff. 35 Vgl. W. Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität, S. 43 ff.; ders., Politische Theorien, S. 37 ff.

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ein Zitat aus der Ilias (II, 204 f.) untermauert wurde, wonach „Vielherrschaft“ schlecht und stattdessen die Herrschaft eines einzelnen anzustreben sei.36 Die Reaktion in Athen auf diese Kollaboration der Philosophen war, daß ein Antrag in der Volksversammlung eingebracht wurde, der die Zulassung der Philosophenschulen an die Bewilligung von Rat und Volk knüpfen, sie also unter Kuratel stellen und der Zensur unterwerfen wollte. Zwar verließen die Denker in Eile die Stadt, doch konnten sie alsbald zurückkehren, da der Antrag mit großer Mehrheit als gesetzwidrig zurückgewiesen, das Gesetz kassiert und der Antragsteller mit einer Buße belegt wurde.37 Schon zu der Zeit, als Sokrates und seine Schüler den politischen Sinn ihrer Mitbürger wiederzuerwecken und zu stärken suchten, waren skeptische, hedonistische und kynische Positionen auf den Plan getreten, die das politische Engagement als lästig und überflüssig betrachteten. Aristippos (ca. 435–355) hatte den Hedonismus begründet, der die Lust, das Vergnügen in den Mittelpunkt rückte, Antisthenes (ca. 455–ca. 360) und sein Schüler Diogenes (ca. 400–328/23) den antiken Kynismus, der sich auf die natürlichen Bedürfnisse der Menschen zurückbesann und sich kritisch sowohl gegen die Polis wie gegen die essentialistische Philosophie wandte, die beide als der menschlichen Selbsterhaltung und -verwirklichung nicht förderlich, sondern eher hinderlich angesehen wurden.38 Der dadurch eingeleitete Rückzug auf eine individualistisch-eudaimonistische Ethik wurde von Epikur und vom Epikureismus weitergetrieben, der als Ziel des menschlichen Lebens die gänzliche Unabhängigkeit von allen äußeren und inneren Bindungen, die Befreiung von allen materiellen, sozialen und psychischen Zwängen und die Selbstgenügsamkeit und Seelenruhe (ataraxia) des Individuums propagierte.39 „Im ganzen“, schreibt Hegel, „haben diese Schulen denselben Zweck: Freiheit und Selbständigkeit des Individuums“.40 Die ältere Stoa schließlich (Zenon, Kleanthes, Chrysipp) vollzog den Schritt zu kosmo-, d. h. metapolitischen Spekulationen.41 Sie führte die praktische Philosophie nicht nur von der Polis, sondern auch von der Universalmonarchie weg und hin zu abstrakten, 36 Aristoteles, Metaphysik XII. Buch, 1076 a 3 ff. Vgl. dazu E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, bes. S. 49 ff. Peterson stützt sich seinerseits auf W. Jaeger, Aristoteles, bes. S. 233 ff. 37 Diese Anekdote übermittelt C. Habicht, Athen, S. 81 f. 38 Vgl. K. Heinrich, Antike Kyniker und Zynismus in der Gegenwart. In ders., Parmenides und Jona, 129–156; bes. S. 135 ff. 39 Vgl. etwa M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 100 ff.; ders. (Hg.), Antike Glückslehren; R. Bichler, Politisches Denken, S. 462 f.; A. Demandt, Der Idealstaat, S. 165 ff.; P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. 40 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. HW 18, S. 539. Vgl. dazu auch G. H. Sabine, A History of Political Theory, bes. S. 137 ff.; L. Dumont, Individualismus, S. 37 ff. 41 Vgl. R. Bichler, Politisches Denken, S. 458 ff.; G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. HW 3, S. 155 ff.; M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 44 ff.; M. Pohlenz, Die Stoa; W. Weinkauf (Hg.), Die Stoa.

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auf den Kosmos bezogenen Ordnungsvorstellungen. Sie wandte sich ab von den konkreten Verfassungsformen und suchte nach dem ewigen göttlichen Gesetz.42 Als Ideal begründete sie ein affektfreies und leidenschaftsloses Leben und die heroische und heitere Hinnahme des natürlichen Schicksals. Die Menschen sollten die ihnen auferlegten Pflichten erfüllen, wobei sich, wie die mittlere Stoa (Panaitios, Poseidonios) zu zeigen versuchte, der legitime Herrschaftsanspruch der Besseren unmittelbar mit dem Nutzen der Schwachen verbindet.43 Der Alexanderzug hatte die Europäer mit der orientalischen Welt in Berührung gebracht. Infolge der Konfrontation beider Kulturen setzte zum Teil eine „Reorientalisierung“ des religiösen und politischen Denkens ein. Einerseits erlebten die ,Mysterien-Religionen‘ einen gewaltigen Aufschwung und eine ungeheuere Verbreitung. Die orientalischen Gottheiten wurden von den Griechen ins Pantheon eingemeindet. Demeter-, Isis-, Serapis-, Adonis-Kulte usw. blühten auf und erfuhren eine ungeahnte Steigerung. Am weitesten verbreitete sich der orgiastische Dionysos-Kult, der die große Synopse bildete: „Er konnte . . . alle um andere Götter entstandenen religiösen Anschauungen auf sich vereinen“ und war in der hellenistischen Welt so allgemein verbreitet, daß er mitunter die Herrscher und Regenten beschäftigt hat.44 Nicht erst die spätere Gnosis, sondern schon diese frühe Reorientalisierung führte zur Durchbrechung der statischen Ontologie der Griechen: „Was der aus dem Osten herandrängende Erlösermythos bewirkt, ist nicht weniger als eine Sprengung der griechischen Lehre vom zeitlos Seienden durch die Erzählung von wahrheitswesentlichen Ereignissen in der Zeit. Die orientalischen Geschichten von Sturz und Erlösung, von Irre und Erleuchtung setzen den hellenistischen Geist unter Druck, seine statische Ontologie dem Drama zu öffnen“.45 Im hellenistischen Herrschaftsdenken erfuhr andererseits die altorientalische Vorstellungswelt eine Resurrektion, die ihren Kern in der Legitimation der gottgewollten Monarchie und in der Verknüpfung von Herrschaft (Dominat) und Führerschaft (Pastorat) hatte.46 Der König wurde als Beauftragter und Stellvertreter der Götter betrachtet, der das göttliche bzw. über Menschen und Götter gestellte kosmische Gesetz zu vollstrecken hatte.47 Er hatte eine Doppelfunktion zu erfüllen: er sollte den Frieden sichern und zugleich das Menschengeschlecht 42 R. Bichlers These, die ältere Stoa habe die politische Philosophie von der Polis und der Universalmonarchie weg- und hin zum „Staat an sich“ geführt (S. 460), basiert auf einem überabstrakten Staatsbegriff: „Der Staat repräsentiert die gemeinsame Ordnung eines im Prinzip beliebig großen Personenverbandes“ (S. 459). 43 Vgl. Cicero, De re publica, III, 24 (36) [S. 282/283]. Dazu R. Bichler, S. 474 ff. 44 P. Grimal, Der Hellenismus und der Aufstieg Roms, S. 208. 45 P. Sloterdijk, Die wahre Irrlehre, S. 39. 46 Vgl. E. R. Goodenough, Die politische Philosophie des hellenistischen Königtums. 47 Daß der Königskult, die Vergöttlichung des Monarchen, auch griechische Wurzeln hat, betont A. Demandt, Der Idealstaat, S. 152 ff., bes. S. 160.

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zivilisieren und humanisieren. Seine Aufgabe war es, einerseits als unbeschränkter „Herrscher“ (Dominus) Gesetze zu erlassen und ihre Einhaltung zu garantieren und andererseits als „guter Hirte“ (Pastor) seine „Herde“ auf den richtigen Weg und zum Ziel zu führen. Er verkörperte das Reich, das als sein „Haus“ (Oikos) betrachtet wurde.48 Das Königshaus galt als Zentrum der weltlichen Ordnung, der Bestand irdischer Herrschaft hing nicht von der Eintracht und vom geregelten Streit der Bürger ab, sondern von der Qualität des Herrschers.49 Um ihrer Aufgabe nachzukommen, sollten sich die Herrscher um das Wohlergehen ihrer Untertanen kümmern und sich selbst um Tugendhaftigkeit bemühen. Wie schon in den altorientalischen Reichen so wurde nun auch hier der König als Verkörperung des Gesetzes, als nomos empsychos (Ioannes Stobaios) betrachtet, der aber selbst nicht dem Gesetz unterworfen ist.50 Damit sind die entscheidenden politiktheoretischen Neuerungen dieser Zeit benannt. Die Frage kann offen bleiben, ob man das hellenistische Herrschaftsdenken überhaupt politisch nennen soll oder nicht. Vom Standpunkt der klassischen Politischen Philosophie müßte es – wie auch die meisten späteren Formen des Ordnungsdenkens – wohl eher als prä- oder apolitisch bezeichnet werden.51 Vergleicht man seine Ergebnisse mit den bahnbrechenden politischen Innovationen der Griechen speziell der klassischen Zeit, so ist man leicht verleitet, einen „Rückschritt“ oder „Rückfall“ zu konstatieren. Entsprechend würde sich die ganze auf die Blütezeit der Polis folgende Weltgeschichte als ein gigantischer Verfallsprozeß des Politischen darstellen. Diese Sicht- und Redeweise bliebe jedoch – der Umkehr des Vorzeichens zum Trotz – der progressistischen und fortschrittsoptimistischen Geschichtsphilosophie verhaftet, die mittlerweile längst diskreditiert worden ist.52 Fruchtbarer und interessanter scheint es, den Wandel im menschlichen Selbstverständnis zu bezeichnen, der mit den neuen Ordnungen eingetreten ist. Nüchtern wird man festzustellen haben, daß sich die Bedingungen und Formen des Politikdenkens schlicht gewandelt haben. An die Stelle der autonomen Poleis waren einerseits die Großreiche und andererseits die einzelnen Menschen als Orientierungszentrum getreten. Beide Fixpunkte fielen nicht mehr unmittelbar 48

Vgl. R. Bichler, Politisches Denken, S. 446 f., 454 ff. T. Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 189. Vgl. K. Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund des mittelalterlichen Weltbildes, S. 181. 50 Vgl. Bichler, Politisches Denken, S. 447, 457; Demandt, Der Idealstaat, S. 147, 163, 291 f.; K. Rosen, Griechenland und Rom, S. 100 ff. 51 So H. Arendt, Vita activa, S. 27 ff., bes. S. 31 ff. Für Arendt wurde erst in der Amerikanischen und Französischen Revolution wieder „Politik“ nach dem Vorbild der Griechen betrieben. Vgl. dies., Über die Revolution; dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 23 ff. 52 Vgl. dazu unten den Exkurs „Prophetie und moderne Geschichtsphilosophie“ (S. 231 ff.). 49

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zusammen. Politik und Ethik klafften auseinander. Aufgabe der künftigen Politik und damit der Politischen Theorie mußte es werden, ihr gänzliches Auseinanderfallen zu verhindern, d. h. intermediäre Instanzen zu begründen und ihre Vermittlung zu denken – oder aber politische Alternativen zu ergründen, die auf der Basis der neuen Lebensformen eine Verwirklichungschance hatten.53 Die Integration, die herrschaftliche und bürokratische Organisation der Städte und Provinzen war zur entscheidenden Aufgabe der neuen Verwaltung geworden. Der Akzent lag nicht mehr auf der Partizipation, auf dem Engagement der Bürger fürs allgemeine Wohl, sondern auf der Stabilität der Ordnung. Politische Beteiligung galt nicht mehr als conditio sine qua non eines gelingenden Lebens. Herrschafts- und Verwaltungstechniken ersetzten die öffentlich-diskursive Willensbildung. Die Macht lag in den Händen der Imperatoren und ihrer Satrapen und Präfekten, die aber auf die Mitwirkung der heimischen Aristokratie angewiesen blieben. An die Stelle der demokratischen Polis war die Oligarchie der Honoratioren getreten. Die Expansion der Herrschaftsräume, die militärischen Eroberungen mußten alsbald die Frage nach der Legitimität kriegerischer Aktivitäten provozieren. Die Idee der Weltherrschaft kam auf, ein imperiales Denken setzte ein, das schließlich von den Römern auf den Höhepunkt getrieben und vollendet wurde.

3. Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer Verglichen mit dem griechischen Politikdenken der klassischen Zeit blieb das der Römer in der Zeit der Republik auf halbem Wege stecken. Es vermochte sich nicht aus den Fesseln der aristokratischen Herrschaft und von den Selbstverständlichkeiten der Überlieferung, den Sitten der Väter (mores maiorum), zu lösen. Zwar kam es in der Zeit der „Ständekämpfe“ im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert zur Erschütterung der oligarchischen Ordnung, doch gelang es den Plebejern nicht, sie abzuschütteln und den Bann der Tradition zu brechen. Sie mußten sich mit Kompromissen und mit Verbesserungen ihrer rechtlichen Stellung und ihrer materiellen Lage zufriedengeben.54 Eine grundsätzliche Änderung der oligarchischen Verfassung war weder intendiert noch möglich. Das „politische“ Denken der frühen und klassischen Republik erschöpfte sich entsprechend in der Suche nach pragmatischen Lösungen für oligarchische Konflikte und fand diese gewöhnlich in geschichtlichen Exempla, in den vorbildlichen Haltungen und Aktivitäten der Vorfahren und Ahnen. Es kreiste um die aristokratischen Techniken des Machterwerbs, der Machtverteilung, des Machteinsatzes und des Machterhaltes. Die „politischen Ideen“ dieser Zeit reduzieren sich auf „Argumente, mit denen die Oligarchie insgesamt oder einzelne oligarchische Gruppen ihren Herr53 Vgl. Bichler, Politisches Denken, S. 467 ff.; Demandt, Der Idealstaat, Kap. VII: „Kosmopolis und Utopie“ (S. 165–194). 54 Vgl. Th. Mommsen, Römische Geschichte. Bd. 1, S. 257 ff., bes. S. 272 ff., 278 ff.; A. Heuss, Römische Geschichte, S. 21 ff.

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schaftsanspruch realisieren, rechtfertigen oder verdecken“.55 „Politisches Denken in Rom war gleichzusetzen mit dem über Generationen akkumulierten Wissen der Aristokratie um eine Regierungskunst der gehegten inneraristokratischen Konkurrenz und einer mit relativ geringem Aufwand auskommenden Herrschaftstechnik nach außen“.56 Erst in der Krise der Republik setzten theoretische Reflexionen ein, die – animiert und beflügelt durch die Rezeption der griechischen Philosophie – neue Horizonte öffneten. Infolge der Kolonisierung und der gewaltigen Expansion erwies sich das institutionelle Gefüge des alten Stadtstaates als unzureichend zur Integration und Verwaltung des eroberten Territoriums.57 Erst jetzt sah man sich mit einer Vielfalt von Verfassungsordnungen und ihrem möglichen Wandel und Kreislauf konfrontiert.58 Die neue Lage ließ sich mit dem überkommenen begrifflichen Instrumentarium nicht mehr bewältigen. Sie zwang zur Erweiterung des Orientierungsrahmens und nötigte zu Reflexionen, wie sie bereits früher von den Griechen unternommen worden waren. Deren Fortgeschrittenheit und Überlegenheit offenbarte sich anläßlich der neuen Herausforderungen. Viele Römer sahen deshalb in der Hinwendung zur griechischen Kultur den Rettungsanker, den sie begierig ergriffen. Erst dadurch wurde die nötige Distanz gewonnen, um theoretische Überlegungen über Sinn und Zweck, Form und Struktur, Möglichkeit und Notwendigkeit einer politischen Ordnung anzustellen. „Intellektuelle Distanz zur eigenen Ordnung ließ sich erst mit der Übernahme griechischer Bildung seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gewinnen“.59 Erst die Konfrontation der Römer mit dem hellenistischen Osten „zwang zur Schaffung eines neuen Orientierungssystems, das anstelle der unreflektierten, jetzt aber in Frage gestellten Selbstverständlichkeit treten konnte“.60 Angesichts des unaufhaltsamen Aufstiegs Roms zur Weltmacht61 erwiesen sich vor allem die hellenistischen Herrschaftstheorien als adäquater Resonanzboden für die erforderlichen theoretischen Bemühungen. War doch hier längst von der 55 E. Olshausen, Das politische Denken der Römer zur Zeit der Republik, S. 486. Zur unterschiedlichen Entwicklung des griechischen und römischen Politikverständnisses vgl. auch E. Mayer, Vom griechischen und römischen Staatsgedanken. 56 W. Nippel, Macht, Machtkontrolle und Machtentgrenzung, S. 61. 57 Vgl. K. Bringmann, Geschichte der römischen Republik, 3. Kap.; K. Christ, Krise und Untergang der römischen Republik; C. Meier, Res publica amissa. 58 Aus dem früheren Fehlen solcher Erfahrungen läßt sich die Tatsache erklären, daß die Römer vor Cicero und Sallust keine eigene politische Theorie hervorgebracht haben. Vgl. M. I. Finley, Das politische Leben in der antiken Welt, S. 161 ff.: „Die Römer waren nicht mit dem Rätsel einer Mannigfaltigkeit von Verfassungsordnungen konfrontiert, wie sie für die klassische griechische Welt charakteristisch gewesen war“ (S. 163). „Es gab nichts, das Analyse oder Erklärung erfordert hätte“ (ebd.). 59 W. Nippel, Macht, S. 62. 60 E. Olshausen, Das politische Denken der Römer, S. 502. 61 Zum Aufstieg Roms vgl. auch M. Gelzer, Die Anfänge des römischen Weltreichs.

3. Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer

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Existenz autonomer Poleis und vom Engagement der sich selbstbestimmenden Bürgerschaft abstrahiert worden. Nicht die Klassiker des politischen Denkens, sondern ihre Nachfolger gelangten entsprechend zu Einfluß. Insbesondere die ethischen, anthropologischen und kosmopolitischen Spekulationen der mittleren Stoa (Panaitios, Poseidonios) konnten zu einem vertieften Verständnis der allgemeinen menschlichen Lage im entstehenden Imperium Romanum beitragen. Ihre Überlegungen zu den natürlichen und göttlichen Gesetzen, zu Gerechtigkeit und Wohlfahrt, Rechten und Pflichten des Bürgers, ihre Dekadenztheorie und Affektenlehre, ihre Konzeption des gerechten Krieges (bellum iustum) usw. konnten die Selbstverständigung der Römer stimulieren.62 Ferner konnten die geschichtstheoretischen Reflexionen des Polybios helfen, die Probleme der römischen Herrschaftsordnung besser zu verstehen. Seine Analysen zum Aufstieg Roms, seine Thesen zum Verfassungskreislauf, seine Auszeichnung der klassischen Republik als gelungene Verwirklichung einer Mischverfassung konnten bei der Erforschung der Krisenursachen und bei der Suche nach Auswegen aus der desolaten Lage helfen.63 Im Spiegel der griechischen Theorien verlor die römische Überlieferung ihre Selbstverständlichkeit. Sie wurde verfremdet und reflexiv. Traditionsfixierte Römer wie der ältere Cato wehrten sich deshalb vehement gegen die drohende Überfremdung der römischen Kultur.64 Doch auch die Hellenisierer gewannen nicht die erforderliche Distanz zur Tradition und schufen kein wirklich neues Orientierungssystem. Sowohl die Griechen selbst, die (über den „Scipionenkreis“) in Rom wirksam und bedeutsam wurden (Panaitios, Polybios, Poseidonios u. a.),65 als auch die von ihnen inspirierten Römer (Cicero, Sallust) blieben der alten republikanischen Ordnung verhaftet, begriffen sie als Musterbeispiel der von den Peripatetikern ausgezeichneten Mischverfassung,66 stilisierten sie zur besten aller denkbaren Ordnungen, kriti62 Zur mittleren Stoa vgl. M. Pohlenz, Die Stoa I, S. 191 ff.; Bichler, Politisches Denken, S. 474 ff.; M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 94 ff.; Olshausen, Das politische Denken, S. 509 ff.; W. Weinkauf, Einführung zu ders. (Hg.), Die Stoa, S. 21 ff. Zu ihrer Rezeption vgl. auch F. Hampl, „Stoische Staatsethik“. 63 Zu Polybios vgl. Bichler, S. 471 ff.; Demandt, Der Idealstaat, S. 208 ff.; Nippel, Mischverfassungstheorie, S. 142 ff.; Rosen, Griechenland, S. 105 ff.; F. W. Walbank, A Historical Commentary on Polybios. 64 Zu Marcus Porcius Cato (Cato maior) vgl. Plutarch, Von großen Griechen und Römern, S. 251 ff.; Th. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 2, S. 341 ff.; Demandt, Der Idealstaat, S. 198 ff.; Grimal (Hg.), Der Aufbau des Römischen Reiches, S. 46 ff., 86 ff.; Olshausen, Das politische Denken, S. 501 ff.; Rosen, Griechenland und Rom, S. 113 ff. 65 Wie M. I. Finley betont (Das politische Leben in der antiken Welt, S. 162), handelt es sich bei dem in der Literatur stereotyp zitierten Intellektuellen-Kreis um Scipio Aemilianus um eine von Cicero erfundene Fiktion. Dies sei unwiderlegbar gezeigt worden von H. Strasburger, Der „Scipionenkreis“. 66 Polybios, Historien, VI., 11. ff. (S. 23 ff.); Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen. I. u. II. Buch, bes. I, 26–29 (42–45) [S. 134–139]. Vgl. dazu bes. Nippel, Mischverfassungstheorie, S. 142 ff.; ders., Politische Theorien, S. 39 ff.

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sierten die schlechte Gegenwart am Maßstab der glorreichen Vergangenheit und erklärten sie mit Hilfe der Dekadenztheorie als Folge und Konsequenz der nach Karthagos Niederlage einsetzenden moralischen Degeneration, der um sich greifenden Korruption und des damit verknüpften allgemeinen sittlichen Verfallsprozesses.67 Cicero machte das egoistische Bestreben der Stände seit den Gracchen für die Zerstörung des allgemeinen Rechtskonsenses und des gemeinsamen Nutzens (consensus iuris et utilitatis communio) verantwortlich und rief vergeblich zur Eintracht des Aristokratenstandes (concordia ordinum) auf.68 Sallust erblickte die Ursache des Niedergangs in der grassierenden Geldgier und der allgemeinen Sucht nach imperium und potentia,69 im unstillbaren Hunger der Aristokraten nach gloria, dignitas und clientelae.70 Beide orientierten sich dabei an den großen exempla maiorum und verschrieben sich damit der Hagiographie.71 Die Verklärung der klassischen Republik wurde schließlich noch verstärkt in der Untergangsphase der Republik und in der Opposition gegen den Principat, wobei vor allem Livius und Plutarch als „Vermittler der Heroisierung der großen Römer der Republik“ wirkten.72 Doch auch Vergil, Horaz und Ovid ließen sich von Augustus für seine politischen Ziele einspannen und leisteten ihren Beitrag zur literarischen Verklärung der neuen Monarchie, die sich als restaurierte Republik (res publica restituta) ausgab.73 Auch die Kaiserzeit brachte insgesamt keine eigenständige politische Theorie hervor, sondern erschöpfte sich in ethischen Reflexio67 Zur Dekadenztheorie, die von der mittleren Stoa, insbesondere Poseidonios, auf Cicero, Sallust und andere römische Intellektuelle gekommen ist, vgl. Bichler, Politisches Denken, S. 477 ff.; H. Drexler, Die moralische Geschichtsauffassung der Römer; F. Hampl, Römische Politik in republikanischer Zeit; Rosen, Griechenland und Rom, S. 115 ff.; P. Veyne, Brot und Spiele, S. 419 ff. 68 Zu Cicero vgl. etwa Plutarch, Von großen Griechen und Römern, S. 522 ff.; K. Büchner, Einleitung. In: Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, 3–82; Demandt, Der Idealstaat, S. 221 ff.; M. Fuhrmann, Cicero und die Römische Republik; P. Grimal, Cicero; K. H. Gugg, Cicero; C. Habicht, Cicero der Politiker; Olshausen, Das politische Denken, S. 512 ff.; Rosen, Griechenland und Rom, S. 119 ff.; V. Sellin, Art. Politik, S. 798 ff.; P. Weber-Schäfer, Einführung. Bd. 2, S. 108 ff. sowie die Beiträge von Richard Heinze, Friedrich Solmsen, Rudolf Stark, Pierre Boyancé, Chaim Wirszubski und Ulrich Knoche in: R. Klein (Hg.), Das Staatsdenken der Römer, S. 291–426. 69 Sallust, De Catilinae Coniuratione/Die Verschwörung des Catilina, X,1–3; XII,1. Vgl. dazu A. Kamp, Zur Begrifflichkeit von ,Macht/Herrschaft/Regierung‘, S. 46 f.; Olshausen, Das politische Denken, S. 498 f., 505 f.; Rosen, Griechenland und Rom, S. 116 ff. 70 Sallust, Historiae/Zeitgeschichte, 1,12. Vgl. dazu W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 7. Zu Sallust siehe auch die Beiträge von Ronald Syme, Friedrich Oertel, A. D. Leeman, Kriester Hanell und Franz Lämmli in: R. Klein (Hg.), Das Staatsdenken der Römer, 429–551. 71 Zu Ciceros Konzept der historia magistra vitae und zu seinem Verblassen in der Neuzeit vgl. R. Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In ders., Vergangene Zukunft, 38–66; bes. S. 40 ff. 72 K. Christ, Die Römer, S. 248. 73 Vgl. Rilinger, Das politische Denken der Römer, S. 529 ff.

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nen sowie in der Verherrlichung der alten republikanischen Tugenden bzw. des verklärten augusteischen Herrscherideals.74 Die politikphilosophischen Innovationen der Römer hielten sich deshalb in engen Grenzen. Sie kamen über Adaptionen und Akkomodationen, über Anmerkungen und Kommentare zu den Griechen kaum hinaus. Die Rezeption der griechischen Philosophie beschränkte sich dabei auf einen kleinen Kreis, die meisten Römer begnügten sich mit einem dünnen Aufguß popularisierter Vulgata.75 Dem philosophischen Eklektizismus und Pragmatismus entsprach ein religiös-politischer Synkretismus, der aus der Absorption fremder Religionen resultierte, aus der Aufsammlung und Einvernahme aller Götter und Kulte, denen die Römer im Zuge ihrer Eroberungen begegneten.76 Nicht nur die griechische, sondern auch die orientalische Kultur hielt folglich Einzug in Rom. Die Integration und „Romanisierung“ der verschiedenen Gottheiten und ihrer Kulte führte bereits in der späten Republik zur Konjunktur orientalischer Mysterienreligionen (Isis-, MagnaMater-, Mithras-Kulte), die schließlich in der Zeit des Principats ihre Blüte erreichten und ihre Hochzeit feierten. Durch die Monopolisierung der Priesterstellen (Pontifices, Auguren) hatte sich einst die Herrschaft der Aristokraten gefestigt. Die einströmenden Mysterienreligionen begannen hingegen in der Krise der Republik an ihr zu rütteln. Insbesondere der Dionysos-Kult, der breite Resonanz in der Bevölkerung fand, schien die Ständespaltung in Frage zu stellen und die überkommenen Sitten und damit die öffentliche Ordnung zu gefährden, wie das Verbot der Bacchanalien durch den Senat (186 v. Chr.) verdeutlicht. Zwar erschlaffte die integrative Kraft der alten römischen Bauernreligion in der späten Republik, als philosophische Skepsis, Rationalismus und der Glaube an die Astrologie immer weiter um sich griffen, doch führten „die Katastrophen der Bürgerkriege zur Neubelebung der verschütteten religiösen Gefühle. Die Überzeugung war weit verbreitet, daß alle Leiden und Nöte der Gegenwart eine Strafe der Götter waren“.77 Diese Überzeugung wurde zum Ausgangspunkt der religiösen Restauration des Augustus, die aber ohne bleibenden Erfolg war und alsbald überlagert wurde durch den sich verbreitenden Kaiserkult.

74 Vgl. ebd., S. 578 ff.; A. Demandt, Der Idealstaat, S. 277 ff.; K. Rosen, Griechenland und Rom, S. 126 ff. 75 Zu Recht bemerkt Th. Mommsen: „Platon und Aristoteles, um von den vorsokratischen Weisen zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluß auf die römische Bildung geblieben, wenngleich die erlauchten Namen gern genannt, ihre faßlicheren Schriften auch wohl gelesen und übersetzt wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler.“ (Römische Geschichte, II, 412, Bd. 3, S. 425). 76 Vgl. Th. Mommsen, Bd. 3, S. 434 ff.; N. D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat, S. 278 ff., 479 f.; P. Grimal, Der Hellenismus und der Aufstieg Roms, S. 322 ff.; ders., Kap. 1. In ders. (Hg.), Der Aufbau des Römischen Reiches, bes. S. 14 ff. 77 Christ, Die Römer, S. 167 ff. (Zitat S. 171). Zur Religion der Römer vgl. auch C. Koch, Religio; R. Klein, Symmachus, S. 16 ff.; J. Rüpke, Die Religion der Römer.

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Sieht man einmal ab von Cicero, dessen Bedeutung umstritten ist,78 der in jüngerer Zeit gelegentlich überschätzt worden ist,79 so sind den Römern in der Politischen Philosophie keine bahnbrechenden Leistungen gelungen. Dafür wurden aber die Prinzipien und Techniken der oligarchischen Herrschaft verfeinert und stabilisiert. Neue Institutionen wurden kreiert, neue Verwaltungstechniken erfunden,80 die späteren Zeiten als Vorbild dienen konnten. Deshalb blieb die Analyse der römischen Entwicklung stets eine Domäne der Historiker. Philosophen hingegen konnten nur wenig Inspiration aus der Beschäftigung mit dem römischen Denken ziehen. Geblendet vom Glanz griechischer Philosophie und Sittlichkeit erschien ihnen die Entwicklung der Republik und der Beginn des Römischen Reiches als ein Interregnum, als Phase des Niedergangs und der Erstarrung,81 deren Funktion es war, den mit dem Christentum einsetzenden neuen Aufbruch zu ermöglichen. So urteilt beispielsweise Hegel – stellvertretend für viele andere –, die „römische Welt“ sei dazu auserkoren gewesen, „die sittlichen Individuen in Bande zu schlagen sowie alle Götter und alle Geister in das Pantheon der Weltherrschaft zu versammeln, um daraus ein abstrakt Allgemeines zu machen“, das die freie Individualität verschlang und die Menschen in Trauer und Leid versetzte. „Doch nur aus diesem Gefühle konnte der übersinnliche, der freie Geist im Christentum hervorgehen“.82 Das Römische Reich und der in ihm verwirklichte Rechtszustand erscheint ihm insgesamt als „das geistlose Gemeinwesen“, das aufgehört hat, die Substanz der Individuen zu sein. An die Stelle der griechischen Aufgeschlossenheit und Heiterkeit seien Depressionen getreten. Ein starres 78 Schon Th. Mommsen (III, 622; Bd. 5, S. 287) hielt den Grundgedanken von De re publica, „daß die bestehende Verfassung Roms wesentlich die von den Philosophen gesuchte ideale Staatsordnung sei“, für eine „eben so unphilosophische wie unhistorische, übrigens auch nicht einmal dem Verfasser eigentümliche Idee“. 79 M. I. Finley (Das politische Leben, S. 162) pflichtet Mommsen bei, da ihn auch „die nicht enden wollende Flut schmeichelhafter Kommentare“ nicht eines Besseren belehren konnte. Beide politikphilosophischen Hauptwerke Ciceros, De re publica wie De legibus, „enthalten zahlreiche wertvolle Erklärungen zum Funktionieren und zum ,Geist‘ des römischen politischen Systems und besonders zu den Methoden, mit denen man die plebs so völlig im Zau(m) hielt . . . Doch gibt es hier keinerlei ,metanormative‘ Analyse, sondern nur Rhetorik, wozu auch die stoischen Ideen von ,Naturrecht‘ und ,natürlicher Vernunft‘ zählen“. „Als extremes Beispiel für den Unsinn, den Cicero immer noch evoziert“, nennt Finley (S. 206, Anm.17) das Buch von V. Pöschl, Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero. 80 Vgl. neben Th. Mommsen (Bd. 1–3) etwa J. Bleicken, Die Verfassung der römischen Republik; K. Bringmann, Geschichte der römischen Republik; ders., Römische Geschichte; Christ, Die Römer, Kap. II. u. III.; M. Crawford, Die römische Republik; Demandt, Antike Staatsformen, S. 377–408; Grimal, Kap. 1. u. 2. In ders. (Hg.), Der Aufbau des Römischen Reiches; A. Heuss, Römische Geschichte; I. König, Der römische Staat I (alle mit umfassenden Literaturhinweisen). 81 Wobei sich im deutschen Sprachraum selbst die archäologische Forschung lange Zeit durch Graecophilie und Romverachtung auszeichnete. Vgl. S. L. Marchand, Down from Olympus. 82 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 339.

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Adelsregiment habe die Gemeinschaft der freien Bürger ersetzt und unterjocht. Das Allgemeine sei „in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert“ worden, der Geist sei gestorben und ersetzt worden durch eine abstrakte „Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten“.83 Prägnant wird diese Einschätzung der römischen Geschichte in Hegels Rechtsphilosophie formuliert, die daher ausführlich zitiert werden soll:84 „In diesem Reiche vollbringt sich die Unterscheidung zur unendlichen Zerreißung des sittlichen Lebens in die Extreme persönlichen privaten Selbstbewußtseins und abstrakter Allgemeinheit. Die Entgegensetzung, ausgegangen von der substantiellen Anschauung einer Aristokratie gegen das Prinzip freier Persönlichkeit in demokratischer Form, entwickelt sich nach jener Seite zum Aberglauben und zur Behauptung kalter, habsüchtiger Gewalt, nach dieser zur Verdorbenheit eines Pöbels, und die Auflösung des Ganzen endigt sich in das allgemeine Unglück und den Tod des sittlichen Lebens, worin die Völkerindividualitäten in der Einheit eines Pantheons ersterben, alle Einzelnen zu Privatpersonen und zu Gleichen mit formellem Rechte herabsinken, welche hiermit nur eine abstrakte, ins Ungeheure sich treibende Willkür zusammenhält.“ „Aus diesem Verluste seiner selbst und seiner Welt und dem unendlichen Schmerz desselben, als dessen Volk das israelitische bereitgehalten war, erfaßt der in sich zurückgedrängte Geist in dem Extreme seiner absoluten Negativität, dem an und für sich seienden Wendepunkt, die unendliche Positivität dieses seines Innern, das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung als der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven Wahrheit und Freiheit, welche dem nordischen Prinzip der germanischen Völker zu vollführen übertragen wird.“

Es scheint deshalb geraten, die römische Welt zu überspringen und sogleich mit dem Urchristentum zu beginnen. Dies wäre aber ein verhängnisvoller Fehler, ist doch die Römische Republik – ihren theoretischen und politischen Defiziten zum Trotz – für die Entstehung des frühneuzeitlichen Staates und für die Ausbildung des Staatsbegriffs „als Muster wichtiger gewesen als die attische Demokratie“.85 Es ist daher unumgänglich, wenigstens diejenigen ihrer institutionellen Errungenschaften kurz zu betrachten, die für die Genealogie des Staates paradigmatisch wurden. Die Hauptursache für die spätere Bewunderung dürfte in den grandiosen militärischen Erfolgen der römischen Armee zu suchen sein. Diese strahlten ab auf die innere Organisation und verhalfen der Republik zu einer Aureole, die ihre politischen Mängel verdeckte. Da hier aber keine Kriegs- und keine politische Realgeschichte intendiert ist, sondern die Morphologie des Poli-

83 Hegel, Phänomenologie des Geistes. HW 3, S. 355. Ein Individuum als Person bezeichnen, gilt für Hegel als „Ausdruck der Verachtung“ (S. 357). 84 Hegel, Rechtsphilosophie. HW 7, §§ 357 f. 85 Demandt, Antike Staatsformen, S. 406 – mit Verweis auf Cola di Rienzo und Petrarca, Montesquieu und Rousseau, Thomas Jefferson und John Adams, Robespierre und Danton. Nicht zu vergessen wäre natürlich Niccolò Machiavelli.

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tikdenkens zu rekonstruieren versucht wird, können wenige Andeutungen zur Organisation der Politik in der Republik und im Imperium Romanum genügen. In der Zeit der alten Monarchie verkörperte der König die Bürgerschaft (res publica, civitas). Er hatte die oberste Befehlsgewalt inne (imperium) und verkehrte mit den Göttern, deren Willen er – mit Hilfe der von ihm ernannten Priester – zu ergründen hatte (auspicium).86 Seine Macht war – wie Sallust bemerkte – zugleich unbeschränkt und durch die Gesetze gebunden (imperium legitimum).87 Als oberstem Heerführer kam ihm die militärisch-politische Letztentscheidung in Krieg und Frieden zu. Ihm zur Seite stand der Senat, der Adelsrat, d. h. die Versammlung der Familienoberhäupter (patricii) der aristokratischen Geschlechter (gentes). Seine Aufgabe war es, den König zu beraten und im Falle seines Todes einen Nachfolger zu bestimmen. Er besaß keine Amtsgewalt (potestas), aber einen bedeutenden Einfluß aufgrund seines Ansehens (auctoritas). In ihren eigenen Familien herrschten die jeweiligen Vorsteher (patres familias) – wie bei den Griechen – als Despoten, die mit einer formellen Rechtsgewalt (patria potestas) ausgerüstet und nur durch die geltenden Sitten gebunden waren. Das Verhältnis des Geburtsadels zu den ärmeren und schwächeren Schichten der rechtlich freien, ökonomisch und sozial abhängigen Bauern wurde geregelt durch die Institution der Klientel, die auf einem Treueverhältnis (fides) basierte und die eine Seite zu Schutz und Verantwortung, die andere zu Leistung und Gehorsam verpflichtete. Das Volk als ganzes (populus Romanus) war eingeteilt in drei Tribus (Tities, Ramnes, Luceres), die je zehn Kurien stellten (comitia curiata), die ihrerseits je eine Hundertschaft Fußvolk für das Heer aufzubieten hatten. Am Ende der Königszeit wurde durch die servianische Heeresreform das gentilizistische durch ein territoriales Prinzip ersetzt. Nicht mehr die Zugehörigkeit zu Geschlechtern, sondern zu den einzelnen städtischen (Suburana, Palatina, Esquilina, Collina) und ländlichen Bezirken regelte die Tribuszugehörigkeit, während das Vermögen über die Stellung in den einzelnen Abstimmklassen (classis) der Zenturien und Tribus entschied. Die Kurien gelten als politisch bedeutsamste Verbände: „Sie bilden die Grundeinheit, nach der sich anfänglich die Gemeinde konstituierte, sie leisteten den Huldigungseid auf den König und sie übertrugen den Obermagistraten ihre Befehlskompetenz, ihr imperium“.88 86 Den priesterlichen Charakter des Königs und die Einheit von politischer und religiöser Funktion der Herrscher, die auch in der frühen und klassischen Republik erhalten blieb, betont bes. N. D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat, S. 235 ff., 243 ff. Zur römischen Religion und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Stadt und des Reiches vgl. auch ebd., S. 195 ff., 273 ff., 292 ff., 463 ff., passim. 87 Zitiert nach Th. Mommsen, Römische Geschichte. Bd. 1, S. 94. Vgl. ebd., S. 78 ff. 88 Christ, Die Römer, S. 17. Zur Verfassung in der römischen Frühzeit vgl. auch J. Bleicken, Geschichte der römischen Republik, S. 12 ff. (zur Quellen- und Forschungslage: S. 112 ff.); K. Bringmann, Römische Geschichte; A. Heuss, Römische Geschichte, S. 13 ff.; I. König, Der römische Staat I, S. 13 ff.; Th. Mommsen, Römische Geschichte. Bd. 1, S. 71 ff.

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Durch den Sturz des letzten Königs L. Tarquinius Superbus (509 v. Chr.) und die anschließende Vertreibung der Tarquinier aus Rom konstituierte sich die Republik. In stetem Gedenken an diesen Gründungsakt bemühte sich die römische Aristokratie um institutionelle Vorkehrungen, die den Rückfall in monarchische bzw. tyrannische Herrschaftsformen verhindern konnten. Die Macht lag fernerhin beim Senat, der die ehemaligen Kompetenzen des Monarchen bei sich konzentrierte und zugleich kooperativ organisierte. Die in ihm versammelten Patrizier schufen für die Magistratur ein System der checks and balances, das die Erstarkung einzelner Geschlechter oder Sippen verhindern sollte. Sie entwickelten ein Rotationsprinzip, das den jährlichen Wechsel der Amtsinhaber garantierte (Annuität), sowie die Teilung der obersten Jahresmagistratur (Konsulat), d. h. die gleichzeitige Vergabe der Entscheidungsgewalt an zwei Amtsinhaber (Kollegialität), von denen seit 367 v. Chr. einer Plebejer sein durfte, der andere Patrizier sein mußte.89 Die politische Ordnung resultierte aus dem Zusammenspiel von Volksversammlung, Magistrat und Senat. Der Magistrat (Konsuln, Prätoren, Zensoren, Kurulische Ädilen, Quästoren) wurde beraten und beaufsichtigt vom Senat, dessen Ratschläge bindend waren.90 Konsuln und Prätoren verfügten – wie die in Krisenzeiten eingesetzten Diktatoren – über eine unbeschränkte Amtsgewalt (magistratus cum imperio), während die anderen Beamten nur eine beschränkte innehatten (magistratus cum potestate). Das Volk, d. h. die nicht-aristokratischen freien Bürger konnten ihren Willen nur in der Kurienversammlung artikulieren, die von den Patriziern dominiert und kontrolliert wurde. Erst infolge der Ständekämpfe wurden die Mitspracherechte der Plebs erweitert und neue Arten der Volksversammlung institutionalisiert (comitia tributa, comitia centuriata, concilia plebis), wobei die letzteren reine Plebejer-Versammlungen waren, während in den beiden ersteren nach Vermögensklassen abgestimmt wurde.91 Im Gefolge der Ständekämpfe wurde ferner die Vertretung der Plebs durch Volkstribune (494 v. Chr.) institutionalisiert. Durchs Dezemvirat wurde in den Zwölf Tafeln das geltende Gewohnheitsrecht kodifiziert (450 v. Chr.). Durch die licinisch-sextischen Gesetze (367/66 v. Chr.) wurde sodann den Plebejern der Zugang zu allen öffentlichen Ämtern geöffnet. Schließlich wurden durch die lex Hortensia (287 v. Chr.) die Beschlüsse (plebis scita) der nach Wohnbezirken einberufenen Plebejer-Versammlung (concilia plebis) allgemeinverbindlich für den ganzen Populus und damit den von den Zenturiatskomitien verabschiedeten Gesetzen gleichgestellt. Am Ende der zwei Jahrhunderte währenden Auseinander89 Vgl. Bleicken, Geschichte, S. 26 ff. Die Entstehung der Konsulatsverfassung und des Kollegialitätsprinzips ist allerdings umstritten. Viele Forscher datieren sie an den Beginn der Republik. Vgl. ebd., S. 125 f. 90 Vgl. T. R. S. Broughton, The Magistrates of the Roman Republic. 91 Vgl. Bleicken, Geschichte, S. 22 ff., 128 ff.; Christ, Die Römer, S. 33 ff.; Demandt, Antike Staatsformen, S. 394 ff.; König, Der römische Staat I, S. 28 ff., 117 ff., 128 ff.; Mommsen, Bd. 1, S. 260 ff.

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setzungen „steht die volle privatrechtliche Gleichstellung aller Plebejer, die öffentliche Fixierung des geltenden Rechts, eine . . . Umbildung der Verfassung, die in der entwickelten Form der sogenannten Centurienverfassung ihren sinnfälligsten Ausdruck fand, aber auch die Mitwirkung der Plebs bei der Wahl der Magistrate wie bei politischen Strafverfahren, bei der Entscheidung über Krieg und Frieden wie bei der Verabschiedung von Gesetzen vorsah, schließlich der Rechtsschutz gegenüber magistratischer Willkür und die Zuständigkeit des Volksgerichts bei kapitalen Strafen“.92 Dennoch blieb die Macht in den Händen der Aristokratie und die Verfassung der Republik die einer Oligarchie.93 Die Macht kam nach den Ständekämpfen in die Hände der neuentstehenden patrizisch-plebejischen Nobilität.94 Die Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung und Gesetzgebung entpuppte sich als Schein, die politischen Entscheidungen wurden durch Absprachen und Mauscheleien der Nobiles untereinander getroffen.95 „Aufs ganze gesehen kam die Gleichberechtigung zunächst nur den führenden Geschlechtern der plebs zugute. Der Geburtsadel wurde durch einen Amts- oder Leistungsadel abgelöst“.96 In den Volksversammlungen, die nicht den Plebejern vorbehalten waren, hatte das einfache Volk keine Chance zur Eigeninitiative. Sie wurden einberufen von einem Magistrat, der sein Anliegen vortrug und zur Abstimmung stellte. Eine öffentlich-diskursive Willensbildung war nicht vorgesehen. Das Volk übernahm die Rolle des Publikums, das kein Mitspracherecht besaß und nur den Ausführungen der Machthaber lauschte. Trotzdem bildeten die Volksversammlungen „keine bloße Akklamationsinstanz, vielmehr mußte die Nobilität das Gesamtvolk in einem kontinuierlichen Prozeß von der Richtigkeit ihrer Politik überzeugen“.97 Die gemeinschaftlichen Angelegenheiten wurden der aristokratischen Arkansphäre entrissen und in die bürgerliche Öffentlichkeit überführt. Infolge des „Ausgleichs“ zwischen den Ständen kehrte man aber schließlich zu den traditionalen Formen des Denkens und Handelns zurück. Als Ideale wurden weiterhin die altaristokratischen Ehrprinzipien hochgehalten, die sich in den Wertorientierungen 92 Christ, Die Römer, S. 21. Vgl. Bleicken, Geschichte, S. 24 ff.; Mommsen, Bd. 1, S. 284 ff.; M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 779 f. 93 Vgl. P. Veyne, Brot und Spiele, S. 312 ff. 94 Vgl. dazu M. Gelzer, Die Nobilität der römischen Republik; K.-J. Hölkeskamp, Die Entstehung der Nobilität. 95 Bleicken, Geschichte, S. 30. Vgl. Christ, Die Römer, S. 33 ff.; Grimal, Der Aufbau des Römischen Reiches, S. 17 ff.; I. König, Der römische Staat I, S. 62 ff.; Mommsen, Bd. 2, S. 309 ff. 96 Demandt, Antike Staatsformen, S. 392. Daß es mit dem „Leistungsadel“ allerdings nicht weit her war, hat Mommsen (Bd. 2, S. 315 ff.) gezeigt, der mit dem Denken und Wirken des Junkertums sehr gut vertraut war. Sowohl die Bekleidung der Offiziersstellen wie der bürgerlichen Ämter sei „mehr und mehr von Geburt und Anciennetät abhängig gemacht“ worden (S. 316). Vgl. auch ebd., S. 319 f., 340. 97 Christ, Die Römer, S. 38. Vgl. Bleicken, Geschichte, S. 31 f.; Mommsen, Bd. 2, S. 349 ff.

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des römischen Bürgers spiegelten und reproduzierten. Die Leitideen bildeten virtus, libertas, gloria, pietas, fides und dignitas. Bestimmend blieb die Orientierung am Brauchtum der Väter (mos maiorum), das in immer neuen Schüben rechtlich kodifiziert und den sich wandelnden Sachverhalten angepaßt wurde. Die Entwicklung des Römischen Rechts und der Rechtswissenschaft wird gewöhnlich als „die bedeutendste Leistung römischen Geistes und als der wichtigste Beitrag Roms zur Entwicklung der europäischen Kultur“ angesehen.98 Auch Hegel, dessen Kritik am römischen Geistesleben bereits oben zitiert wurde, räumt ein, mit dem positiven Recht, das dem „unfreien, geist- und gemütlosen Verstand der römischen Welt“ zu verdanken ist, sei eine Form gefunden worden, derer sich spätere Zeiten bedienen konnten, „ohne zum Opfer dieses dürren Verstandes zu werden, ohne es für sich als ein Letztes der Weisheit und der Vernunft anzusehen“. Die große Leistung liege in der Erfindung eines Rechtsprinzips, „das äußerlich, d. h. gesinnungslos und gemütlos ist“, das eine Trennung von Recht und Moral, von Äußerlichkeit und Innerlichkeit in die Welt brachte, die zwar defizient, aber ein wichtiger Schritt und durch die Ausbildung des Gegensatzes die Vorbedingung der künftigen Synthese gewesen sei.99 Beginnend mit den Zwölf Tafeln (450 v. Chr.) entwickelte sich das Römische Recht über stete Erweiterungen und Spezifikationen zu einer Komplexität,100 die noch späteren Jahrhunderten Respekt abverlangte und für die Entwicklung der westlichen Rechtstradition vorbildlich wurde.101 Die Rezeption des Römischen Rechts, das unter Justinian im Corpus Iuris Civilis (528–534 n. Chr.) gesammelt und systematisiert wurde, stand an der Wiege der westlichen Rechtswissenschaft, die im 12. Jahrhundert an den europäischen Universitäten, vor allem Bologna, geboren wurde.102 Sie wurde damit zu einem entscheidenden Moment und zum Katalysator der Genealogie des Staates, der Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt wie der Verrechtlichung von Kirche und Staat. Sie bildete zusammen mit dem Kanonischen Recht die Grundlage für die spätere Entwicklung des Konstitutionalismus und der Rechtsstaatlichkeit, d. h. für die rechtliche Begrenzung der Staatsgewalt im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen in Europa.103 Im geschriebenen Recht suchten die Römer die nötige Sicherheit, die das fehlende politische „Könnensbewußtsein“ kompensieren konnte. Allerdings erwies es sich 98

W. Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, S. 94. Hegel, Vorlesungen. HW 12, S. 351. 100 Vgl. M. Bretone, Geschichte des römischen Rechts; H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 51 ff. sowie die Textsammlung Römisches Recht in einem Band. Ferner die Gesamtdarstellung von R. Sohm, Institutionen. 101 Vgl. P. G. Stein, Römisches Recht und Europa; L. Huchthausen, Einleitung zu: Römisches Recht in einem Band, V–XLVIII. 102 Vgl. H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 199 ff., 209 ff., 217 ff.; P. G. Stein, Römisches Recht und Europa, S. 117 ff. 103 Vgl. dazu D. Wyduckel, Princeps legibus solutus. 99

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als ein recht schwacher und ambivalenter Ersatz, der keine feste Basis abgeben konnte. Entfaltet doch das Privat- und Strafrecht seine eigene Dialektik, die der Ausbildung eines freien Selbstbewußtseins nicht gerade förderlich ist. Es kann einerseits die Verhaltens- und Erwartungssicherheit der einzelnen steigern, bildet aber andererseits eine „äußerliche“ Schranke der Freiheit, die immer wieder überwunden und dabei selbst zum Anlaß und Motiv von Gesetzesübertretungen wird, sofern sich die Individuen gegen die in ihm institutionalisierte Bevormundung und Beschränkung ihres freien Willens wehren.104 Es verlangt ferner eine permanente Fortbildung und Spezifikation, die in sich keine Grenzen kennt und letztlich in der Verrechtlichung der sozialen Lebenswelt im ganzen kulminiert. In der Römischen Republik blieb das geschriebene Gesetz insgesamt ein aristokratisches Herrschaftsinstrument. Zwar wurden Plebejer und Patrizier rechtlich gleichgestellt, zwar löste sich das in den Zwölf Tafeln kodifizierte Recht „von der Priesterschaft und wurde der allgemeinen Interpretation zugänglich“,105 doch wurden die darin angelegten Entwicklungsmöglichkeiten nicht genutzt. Die Auslegung der Gesetze wurde nicht „demokratisiert“, so daß sich recht wenig an der allgemeinen Lage änderte.106 Die Interpretation und Überwachung der verbindlichen Rechtsformulare „blieben eine Domäne der pontifices, das heißt der Patrizier“.107 Die Plebejer mußten sich mit der garantierten Rechtssicherheit und dem Schutz vor aristokratischer Willkür begnügen. Zwar wurden mit der Reformbewegung der Gracchen (133–121 v. Chr.) einzelne Gesetze erneut zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, doch führten auch sie nicht zur Sprengung der alten Herrschaftsordnung. Sowohl die Kämpfe zwischen Plebejern und Patriziern wie auch die späteren Auseinandersetzungen zwischen Popularen und Optimaten „fanden grundsätzlich innerhalb der oligarchischen Gesellschaft statt und haben dem einfachen Volk nie die Chance eigener Initiative gelassen. Auf diese Weise hat Demokratie in Rom nie eine echte Aussicht auf Verwirklichung gehabt“.108 Als die Senatsherrschaft im ersten vorchristlichen Jahrhundert infolge äußerer und innerer Wirren (Bundesgenossenkrieg, Bürgerkrieg etc.) durch die populare Politik des Volkstribunats und der Volksversammlung gefährdet war, 104 Die im abstrakten Recht angelegte Dialektik, die aus sich heraus zu steten Gesetzesübertretungen motiviert, hat Hegel in der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 eindringlich analysiert. Vgl. dazu K. Roth, Freiheit und Institutionen, S. 164 ff.; ders., Selbstbehauptung und Anerkennung; ders., Abstraktes Recht und Sittlichkeit, S. 21 ff. 105 Bleicken, Geschichte, S. 25. Zum Zwölf-Tafel-Gesetz vgl. auch die Dokumentation bei I. König, Der römische Staat I, S. 153 ff. Zur Fortbildung: Stein, Römisches Recht, S. 14 ff. 106 Vgl. Finley, Das politische Leben, S. 45, 174 f.: „Solange das Recht zur Auslegung der Gesetze nicht ,demokratisiert‘ worden ist, ändert sich durch die Existenz eines geschriebenen Gesetzeskodex allein nicht viel“ (S. 45). 107 Christ, Die Römer, S. 132. Vgl. auch Grimal, Der Hellenismus und der Aufstieg Roms, S. 322 ff. 108 Olshausen, Das politische Denken, S. 496. Vgl. aber F. Millar, The Crowd in Rome in the Late Republic.

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wurden unter Sulla (Diktatur 82–79 v. Chr.) „die Rechte des Volkstribunen konsequenterweise beschnitten, insbesondere dessen Interzessionsrecht eingeschränkt, die Gesetzgebungsinitiative an die jeweilige Zustimmung des Senats gebunden und dem Mann, der das Volkstribunat bekleidet hatte, die spätere Übernahme höherer Ämter untersagt“.109 Zwar wurden die sullaschen Gesetze während des Konsulats von Pompeius und Crassus (70 v. Chr.) wieder aufgehoben, doch ging die Zeit der Republik allmählich zu Ende. Unter den Generälen des Bürgerkrieges verselbständigte sich die Magistratur und das imperium gegenüber Volk und Senat, die magistratische Gewalt begann als eigenständige Größe aufzutreten.110 Als mit Pompeius, Caesar und Octavian „die Ära der Magnaten begann, in der persönliche Macht ihre Triumphe feierte“, wurde die Politik schließlich zum „Privatunternehmen“.111 Justament in dieser Zeit glorifizierte Cicero im Anschluß an Polybios die klassische Republik als eine gelungene Mischverfassung, in der die Konsuln das monarchische, der Senat das aristokratische und die Volksversammlungen das demokratische Prinzip verkörperten. Das Mit- und Gegeneinander dieser drei Elemente auf der Basis eines allgemeinen Konsenses über das geltende Recht und das gemeine Wohl habe Rom zu seiner Blüte geführt.112 Die egoistischen Bestrebungen der Stände in der Zeit der Gracchen hätten diese ideelle Grundlage jedoch zerstört und damit den Niedergang und Verfall der Republik eingeleitet, die nunmehr durch Bürgerkriege zerrissen war und im Begriff stand, über die Diktatur Caesars (48–44 v. Chr.) zur Monarchie überzugehen. Das Volk war nicht mehr durch die Anerkennung des Gesetzes und durch gemeinsame Interessen verbunden, hatte demnach aufgehört, als Volk im Sinne Ciceros zu existieren.113 Es hatte sich in Parteien und Faktionen aufgelöst, die sich aufs heftigste befehdeten. Die Beschwörung der res publica als res populi, der Aufruf zur Eintracht (concordia) und zum gesteigerten Bürgerengagement, zur Hingabe fürs Gemeinwesen und zur Selbstaufopferung fürs Vaterland (patria), die Idealisierung der aristokratischen „Bürger“-Tugenden, des Patriotismus und der Gerechtigkeit mußte in dieser Situation als anachronistisch erscheinen und ungehört verhallen. Weder in der Stadt Rom noch in den Provinzen fand sich eine Basis dafür. Während hier die gegnerischen Faktionen sich bis aufs Blut bekämpften, herrschte 109 Bleicken, Geschichte, S. 73 f. Vgl. Mommsen, Bd. 3, S. 348 ff.; König, Der römische Staat I, S. 98 ff. 110 Vgl. W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 7, 13 ff. 111 Vgl. P. Veyne, Brot und Spiele, S. 417 ff. (Zitat S. 417). 112 Polybios, Historien, VI, 11. ff.; Cicero, De re publica, I, 26–29 (42–45). Auch Niccolò Machiavelli (Discorsi, I, 4.) erblickt in den Auseinandersetzungen zwischen Volk und Senat die Ursache und Voraussetzung der römischen Freiheit und Macht. Zu seiner Fassung der Mischverfassungstheorie vgl. H. Münkler, Machiavelli, S. 106 ff., 369 ff. 113 Vgl. Ciceros berühmte Definition der res publica und des populus in De re publica, I, 25 (39) [S. 130/131 f.].

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III. Religion und Politik in den Großreichen

dort ein starres militärisch-bürokratisches Regiment. Die Bande zwischen den Regionen und der Stadt drohten zu zerreißen, das Territorium wurde durch blanke Gewalt zusammengehalten. Ganz folgerichtig war die res publica für Caesar „nur noch ein Name ohne Körper und Gestalt“.114 Andererseits ließ sich natürlich auch der spätere Prinzipat des Augustus als Mischverfassung verstehen, erhielt doch der Kaiser als Princeps seine Gewalt vom Senat und war prinzipiell ans geltende Recht gebunden. Es handelt sich folglich um eine „Mischung“ aus Republik und Monarchie, die erst im Übergang zum Dominat aufgelöst wurde. Sowohl Octavian als auch die Senatsaristokratie wollte in ihr „nicht den Beginn einer neuen, sondern die Fortsetzung der alten Ordnung (res publica restituta) sehen“.115 Zwar waren die zwei zum Schutz der Republik eingeführten Grundprinzipien Annuität und Kollegialität mittlerweile preisgegeben worden, die drei anderen Leitideen der Republik – Kontinuität, Orientierung am mos maiorum und Legitimation der Eroberungen mit Hilfe der Theorie des gerechten Krieges (bellum iustum) – wurden aber weiterhin hochgehalten.116 Die Monarchie konnte deshalb als Fortsetzung der Republik mit anderen, adäquateren Mitteln begriffen werden. Sie schuf eine neue Balance der alten antagonistischen Kräfte und Bestrebungen, zwischen dem Wunsch nach Beharrung einerseits (Traditionalismus/Nomismus/Institutionalismus), der Faktizität der Veränderungen andererseits, die aus den ökonomischen und sozialen Entwicklungen im Innern, vor allem aber aus den militärischen Erfolgen und der Errichtung des Imperium Romanum resultierten (Imperialismus/Kolonialismus/ Expansionismus).117 Träger der öffentlichen Gewalt sollte nicht nur der Princeps, sondern auch der Senat sein. Aber schon Tacitus (Annalen) erkannte die Widersprüchlichkeit und Unverträglichkeit der beiden Prinzipien der Diarchie: sie seien res dissociabiles. „Die res publica restituta blieb also formell; die leere Formel verdeckte ästhetisch barmherzig, politisch erbärmlich die Entmachtung des

114 Sueton, Leben Caesars 77,1. [zitiert nach Rilinger, Das politische Denken, S. 523 und Rosen, Griechenland und Rom, S. 127]. Zu Caesar vgl. auch die Beiträge von Lothar Wickert, Hans Volkmann und J. P. V. D. Balsdon in: R. Klein (Hg.), Das Staatsdenken der Römer, 555–622 sowie W. Dahlheim, Julius Caesar. 115 Bleicken, Geschichte, S. 93. Vgl. ders., Augustus; H. Castritius, Der römische Prinzipat als Republik; Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 1 ff.; Demandt, Antike Staatsformen, S. 437 ff.; ders., Der Idealstaat, S. 382 ff.; W. Eck, Augustus und seine Zeit; D. Kienast, Augustus; W. Kuhoff, Antike Grundlagen; R. Rilinger, Das politische Denken, S. 523 ff.; Rosen, Griechenland und Rom, S. 126 ff. 116 Diese fünf Ideen sind es, die laut Olshausen das Politikdenken der Römer in der Zeit der Republik tragen: Annuität, Kollegialität, Kontinuität, Orientierung am Brauchtum der Väter (mos maiorum) und die Idee des gerechten Krieges (bellum iustum). 117 Zur Entwicklung der Kaiserzeit vgl. auch J. Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte der Römischen Kaiserzeit; H. Brandt, Geschichte der römischen Kaiserzeit; K. Christ, Geschichte der römischen Kaiserzeit; A. Heuss, Römische Geschichte, S. 272 ff.; I. König, Der römische Staat II; F. Millar (Hg.), Das Römische Reich und seine Nachbarn; W. Seyfarth, Römische Geschichte.

3. Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer

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Volks, sodann des Senats. Der Senat entledigte sich seiner selbst und der eigenen mitführenden Funktion durch die sagenhafte lex regia. Das Volk, früher oppositioneller Teilträger politischer Entscheidungen (tribunus plebis), begnügte sich damit, kaiserlicher Fürsorgeempfänger zu sein. Die lex regia hatte die genaue Aufgabe, die Autokratie ideologisch in Volksherrschaft umzumünzen“.118 Die Idee des gerechten Krieges bildet die Antwort auf die Frage, die schon in der Zeit der hellenistischen Reiche aufkam und sich infolge der römischen Kolonisation erneut und mit besonderer Dringlichkeit stellte. Es ging um die Legitimität der imperialen Herrschaft, d. h. um das Problem des römischen Imperialismus.119 Wie konnte man die nicht enden wollenden Kriege, die kontinuierliche Expansion und die schließliche Errichtung des Römischen Weltreiches rechtfertigen? Zur Beantwortung dieser Frage bot sich die Theorie des gerechten Krieges an, die von der mittleren Stoa (Panaitios, Poseidonios) entwickelt worden war und von ihr auf Cicero gekommen ist. Ihr zufolge sind nur solche Kriege legitim, die zuvor öffentlich erklärt und die ausschließlich zur Verteidigung geführt wurden, sei es des eigenen Territoriums oder aber der Verbündeten (socii), die von fremden Mächten angegriffen wurden. Indem er diese Konzeption auf die römische Geschichte applizierte, konnte Cicero die Eroberungen Roms und die Aufrichtung der römischen Weltherrschaft aus rein defensiven Bestrebungen erklären.120 Waren doch alle Kriege in diesem Sinne Verteidigungskriege gewesen, da stets irgendwelche Bundesgenossen attackiert worden waren, für deren Sicherheit und Freiheit die Römer zu den Waffen griffen. Virtus und Fortuna sorgten dann dafür, daß diese Selbstverteidigungsstrategie erfolgreich war, daß mit ihrer Hilfe immer neue Gebiete und Völker dem Reich einverleibt wurden. Die res publica erweiterte sich so allmählich zum Imperium Romanum, dessen Verwaltung und Legitimation andere Prinzipien verlangte als die im alten Stadtstaat erfolgreich praktizierten. Meinte imperium einst die Amtsgewalt der obersten Magistrate bzw. die Befehlsgewalt der militärischen Machthaber, so steht der Ausdruck seit Cicero auch für das Reich im territorialen Sinne.121 „Nach Cicero ist auch die Gleichsetzung eines Imperiums dieser Art mit dem Erdkreis und die hohe Würde dieses jetzt zeitlich und räumlich nicht mehr begrenzbaren Gebildes bezeugt. Die ethische Rechtfertigung römischer Herrschaft, mit Ideen von Frieden und Gerechtigkeit zu einem Sendungsbewußtsein gesteigert, ist fortan vom römischen Reichsbegriff 118

J. Agnoli, Von der Pax Romana zur Pax Christiana, S. 90 f. Vgl. dazu Bleicken, Geschichte, S. 155 ff.; Christ, Die Römer, S. 44 ff.; Demandt, Der Idealstaat, S. 245 ff.; E. Olshausen, Das politische Denken, S. 506 ff. 120 Vgl. Cicero, De re publica, III, 35 [S. 283]; ders., De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, II, 26 f. [S. 165 f.]. 121 Vgl. Demandt, Antike Staatsformen, S. 441 – mit Verweis auf Cicero, De prov. 29; Livius, IV 3.13; Tacitus, Annalen II 61. 119

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III. Religion und Politik in den Großreichen

unablösbar“.122 Die Reichsidee hat damit jene Gestalt gewonnen, die vom spätantiken Christentum aufgegriffen, eschatologisch gesteigert und heilsgeschichtlich aufgeladen werden konnte. Mit Vergil erreicht die Rom-Mythologie und die antike Imperium- und Augustus-Theologie ihren ersten Höhepunkt, der zum Ausgangspunkt der christlichen Politiktheologie in der Spätantike werden konnte.123 Zwar wird der Ausdruck Imperialismus heute von den meisten Althistorikern abgelehnt, da er seit dem späten 19. Jahrhundert mit Konnotationen belastet ist, die dem Verständnis der römischen Geschichte nicht dienen. Wie Peter Brown betont, blieb das Römische Reich im Vergleich zu einem modernen Staat „bis zuletzt bemerkenswert unzentralisiert“.124 Was den römischen Expansionismus mit dem späteren Imperialismus verbindet, ist jedoch das Streben nach Hegemonie und der Griff nach der Weltherrschaft. Das Reich verkörpert eine völkerübergreifende Einheit, die durch eine gemeinsame Ideologie oder einen gemeinsamen Glauben – sei es an den Kaiser, sei es an den transzendenten Gott – und durch die Universalisierung des imperialen Rechts und der römischen (bzw. christlichen) Kultur integriert und zusammengehalten wird. Es kennt und anerkennt keine Grenzen und keine anderen politischen Einheiten mehr, die zu gleichberechtigten Verhandlungspartnern werden könnten. Vielmehr wird der ganze Erdkreis zum Objekt der Begierde und zum Rahmen, der durch die hierarchisch geordnete Verwaltung des Reiches und seiner Provinzen ausgestaltet wird.125 Die „politischen Ideen“ der Kaiserzeit in der Entwicklung vom Prinzipat zum Dominat kreisen um die Frage nach der Qualität und Legitimität der monarchischen (Welt-)Herrschaft. Wie Alexander Demandt zeigt,126 wurde das römische Kaisertum auf vierfache Weise legitimiert: „durch die republikanische Tradition (aus ihr stammt der Begriff princeps), durch den Willen des Heeres (daran erinnert der Titel imperator), durch den Ruhm der Vorgänger und Vorfahren (ihn verkörpert der Name Caesar) und durch die göttliche Weltordnung (an sie gemahnt der Beiname Augustus). So universal wie das Reich ist die Theorie, die es trägt“ (S. 292). Octavian, der seine Regentschaft in den Res gestae als Wiederherstellung der Republik ausgab, hatte die römische Welt befriedet. Auch in den Grenz122 Vgl. P. Moraw, Art. Reich, S. 424 ff. (mit weiteren Quellen und Literaturhinweisen) [Zitat S. 426]. 123 Vgl. R. Faber, Die Verkündigung Vergils, bes. S. 13 ff. 124 P. Brown, Die Entstehung des christlichen Europa, S. 26: „selbst in einer streng kontrollierten Provinz wie Ägypten kam auf 10000 Einwohner nur ein kaiserlicher Beamter. Die Tatsache des Imperiums wurde vielmehr vermittelt, und dies auf dauerhafte Weise, durch die ordo, den rechtlich konstituierten Stadtrat jeder Stadt“. 125 Das Reich in diesem Sinne – als eine nicht an Grenzen gebundene Ordnung, die alle mit dem Kaiser in Verbindung stehenden Einheiten umfaßt – wurde in den spätantiken Quellen als imperium bezeichnet, während das Reich als territorial fest umschriebener, unter direkter kaiserlicher Verwaltung stehender Herrschaftsbereich res publica oder politeia genannt wurde. Vgl. J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 59 f. 126 Vgl. Demandt, Der Idealstaat, S. 282 ff. Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

3. Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer

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provinzen war Ruhe eingekehrt. Aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs erfreute sich der Monarch wachsender Beliebtheit und sich steigernder Verehrung. Dennoch sahen sich die Royalisten, wie Rolf Rilinger betont, in der augusteischen Zeit noch lange einer aristokratischen Opposition konfrontiert. „Während Augustus die Wiederherstellung der res publica . . . ins Zentrum seiner propagandistischen Bemühungen rückte, wurden seine republikanischen Gegner nicht müde, in Caesar, dem Gott und Adoptivvater Octavians, den Tyrannen anzuprangern, in Cato das Ideal des stoischen Weisen und Republikaners zu verherrlichen und die eigene Position mit der republikanischen libertas gleichzusetzen. Mit der Niederlage des Pompeius bei Pharsala (48 v. Chr.) und dann endgültig durch den Untergang der Tyrannenmörder, Brutus und Cassius, sah man seit Philippi (42 v. Chr.) die Freiheit verloren“.127 Die Anhänger und Verteidiger der neuen Ordnung (Livius, Vergil, Horaz, Ovid u. a.) unterstützten hingegen die ideologischen Bemühungen des Regenten und verklärten ihn zum wahren Repräsentanten der republikanischen Tugenden, denen sie ein literarisches Standbild errichteten. In der Folgezeit wurden dann vor allem ethische Reflexionen über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Lebens in der neuen Herrschaftsordnung angestellt. Insbesondere die jüngere Stoa (Seneca, Musonius, Epiktet, Marc Aurel) bemühte sich um eine der neuen Zeit entsprechende Moral, die sich sowohl auf das Leben des einzelnen wie auf die Aufgaben und Pflichten eines guten Herrschers erstreckte.128 Die Historiker und Panegyriker der Kaiserzeit (Sueton, Tacitus, Plinius der Jüngere, Aelius Aristides, Cassius Dio) reflektierten über den besten Princeps und stilisierten in ihren „Fürstenspiegeln“ und Hymnen einzelne Herrschergestalten zu geschichtlichen Exempla, an denen sich die künftigen Kaiser orientieren konnten.129 Beide Gattungen – Stoizismus und historische Panegyrik – erfuhren dann im 16. und 17. Jahrhundert eine Renaissance und animierten im Neostoizismus und Tacitismus die frühneuzeitliche Staatsdiskussion.130 Während der Senatoren- und Ritterstand in der Prinzipatszeit wichtige Funktionen behielt und in der Reichsverwaltung sogar neue Aufgaben übernehmen konnte, kam das politische Leben der nicht-aristokratischen Bevölkerung mit der Etablierung und institutionellen Konsolidierung der Monarchie vollständig zum Erliegen. Durch zunehmende Eingriffe der kaiserlichen Reichsaristokratie in die kommunalen Angelegenheiten wurde die städtische Autonomie und Selbstver127

Rilinger, Das politische Denken, S. 527. Zur Stoa der römischen Kaiserzeit vgl. M. Pohlenz, Die Stoa I, S. 277 ff.; M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 98 f.; W. Weinkauf (Hg.), Die Stoa, S. 196 ff. Zu Seneca vgl. ferner A. Demandt, Der Idealstaat, S. 296 ff.; Rilinger, Das politische Denken, S. 539 ff.; Rosen, Griechenland und Rom, S. 132 f. 129 Vgl. Demandt, Idealstaat, S. 298 ff.; Rilinger, Das politische Denken, S. 547 ff. 130 Vgl. dazu G. Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit; H. Münkler, Staatsraison und politische Klugheitslehre, S. 59 ff. 128

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III. Religion und Politik in den Großreichen

waltung unterminiert und ausgehöhlt – bei den Verbündeten (socii) ebenso wie bei den Unterworfenen (dedificii). Hatte der Bürger der Polis, des Munizipiums oder der Kolonie sein Selbstbewußtsein aus der Teilnahme am politischen, militärischen und kultischen Leben bezogen, so ließ das monarchisch regierte Großreich dafür nur noch wenig Raum: „Die Kult- und Opfergemeinschaft . . . verlor in den Großstädten angesichts von Riesenaltären und herrschaftlichen Spektakeln . . . ihre soziale Funktion . . . Die Verteidigung der Heimat übernahmen Berufssoldaten, angeworbene Hilfsvölker und (in steigendem Umfang) die Bewohner der Grenzprovinzen. Die innere Organisation und die Verwaltung besorgten ausschließlich die lokalen Eliten, die getragen von dem Wohlwollen der römischen Administration auf die Legitimation ihrer behördlichen Funktion durch die Wahl der Bürger verzichten konnten“.131 So hat Rom – dem geistigen, politischen und militärischen Widerstand der Gallier, Germanen, Griechen und Juden zum Trotz132 – schließlich überall den Stadtstaat zerstört und selbst die Rudimente der bürgerlichen Selbstverwaltung niedergewalzt und eliminiert.133 Die unterprivilegierte Bevölkerung mußte sich mit „Brot und Spielen“ begnügen und suchte sich Ersatz in neuen Vereinigungen. Sie kompensierte den Entzug der politischen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten durch gesteigerte Religiosität, wobei vor allem die Mysterien-Religionen und das sich verbreitende Christentum wachsenden Zulauf erhielten. So kam es, daß alsbald vor allem der Mithras- und der Jesuskult miteinander konkurrierten.134 Daß es dem letzteren schließlich gelang, seinen Rivalen auszustechen und alle anderen Mitkonkurrenten zu überflügeln, lag – wie Michael Mann zu zeigen sucht – an seiner Fähigkeit, die Aporien und Widersprüche des Römischen Reiches zu lösen: Universalismus vs. Partikularismus, Gleichheit vs. Hierarchie, Dezentralisierung vs. Zentralisierung, Kosmopolitismus vs. Einheitlichkeit, Zivilisierung vs. Militarismus.135 Es lag aber auch am Organisationstalent des Gemeindegründers Paulus, der das nomistische Denken der Römer (und Juden) durchbrach, die konkurrierenden Kulte im Raum des Imperium Romanum aufsammelte und „christiani131 Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 59 f. Vgl. ders., Die Funktion der Stadt im römischen Herrschaftsverband; H. Galsterer, Stadt und Territorium; F. Vittinghoff, Zur Entwicklung der städtischen Selbstverwaltung. 132 Vgl. J. Deininger, Der politische Widerstand gegen Rom in Griechenland 217–86 v. Chr.; Demandt, Der Idealstaat, S. 307 ff. (weitere Literatur: S. 431). 133 Vgl. N. D. Fustel de Coulanges, S. 489 ff. Von der „entpolitisierten Polis“ im Rahmen des Imperiums spricht abwägend D. Nörr, Imperium und Polis in der hohen Prinzipatszeit, S. 117 ff.: Die Polis „wird zur ,römischen‘ Stadt. Ihre ,Entpolitisierung‘ zum ,muncipium‘ oder besser zur civitas der Spätzeit beginnt“ (S. 120). 134 Vgl. Christ, Die Römer, S. 174 ff.: „Jedenfalls wurde der ,Mithraismus‘ und nicht das alte griechisch-römische Pantheon oder etwa der Kaiserkult zum wichtigsten Antipoden des Christentum“ (S. 175). Zur Entstehung und Ausbreitung des Christentums vgl. auch Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 115 ff. (zur Forschungslage und Literatur: S. 147, 281 ff.). 135 Vgl. M. Mann, Geschichte der Macht. Bd. 2, S. 97 ff.

3. Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer

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sierte“,136 ein antibürokratisches Organisations- und Kommunikationsnetz innerhalb und zwischen seinen Gemeinden etablierte und dabei dem Grundprinzip der urchristlichen „Wandercharismatiker“ (Gerd Theißen) – der „Liebe“ – eine institutionelle Form gab.137 Damit bereitete er den Boden für die Entwicklung der christlichen Ekklesia, die sowohl zum Fremdkörper und zum „Vampir des imperium Romanum“,138 zur Rebellion gegen die bestehende Ordnung, als auch zur Kirche und zum ideologischen Kitt des Reiches werden konnte.139 Auch im Römischen Reich erfuhr die altorientalische Vorstellungswelt eine Resurrektion. Auch hier wurde aus der Not eine Tugend gemacht, indem man die Verkörperung von Recht und Gewalt zum Gott stilisierte. Als ideologischen Kitt fand man den Kaiserkult, den alle Herrschaftsunterworfenen zu übernehmen hatten (sofern sie nicht als Mitglieder der jüdischen Synagoge davon befreit waren).140 Weigerten sie sich, den Kaiser als Gott zu verehren, so machte man ihnen den Prozeß und ließ sie auf den Scheiterhaufen oder aber im Zirkus den Löwen zum Fraß vorwerfen. Zwar wurde das Gottkönigtum erst unter Caligula (37–41 n. Chr.) förmlich institutionalisiert, zwar wurde erst Diocletian (284 n. Chr.) zum rechtlich ungebundenen Dominus, doch hatte schon Augustus die Doppel-Funktion zu erfüllen, die nach altorientalischem und hellenistischem Verständnis dem guten Herrscher zukam. Er hatte den Frieden zu sichern und das Menschengeschlecht zu zivilisieren, d. h. als Hirte (Pastor) seine Herde auf den richtigen Weg zu führen. Obgleich sich Octavian gegen die Apotheose sträubte, befriedigte er die mit ihr verknüpften Bedürfnisse. „Er übernahm die in der Republik von Senat und Volk wahrgenommene Aufgabe, das Reich bis an die Grenzen der Erde auszudehnen und die Welt zu beherrschen“.141 Seine Aufgabe war es, an die Stelle der vielen Ethnien mit ihrer Tendenz zur gegenseitigen Abschot136 „Das Christentum als Formel, um die unterirdischen Kulte aller Art, die des Osiris, der großen Mutter, des Mithras zum Beispiel, zu überbieten – und zu summieren: in dieser Einsicht besteht das Genie des Paulus“ [F. Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, Aph. 58. (II, S. 1230)]. Vgl. ebd. 37. (S. 1198); ders., Morgenröte. I. Buch, 68.: Der erste Christ (I, S. 1055 ff.). 137 Vgl. dazu unten den Abschnitt über „Politisches Denken im Urchristentum“. 138 Vgl. Nietzsche, Der Antichrist, 27. und 58. (II, S. 1189, 1229). 139 Für Nietzsche fallen beide Alternativen im Ergebnis allerdings zusammen, da „die kleine aufständische Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird“, mit ihrem „Aufstand gegen ,die Guten und Gerechten‘, gegen ,die Heiligen Israels‘, gegen die Hierarchie der Gesellschaft“ [Der Antichrist, 27., (II, S. 1189)] stets ein Fremdkörper im Römischen Imperium blieb, der auch nach der Etablierung und der Seligsprechung des Reiches letztlich destruierend wirkte: „jene heiligen Anarchisten haben sich eine ,Frömmigkeit‘ daraus gemacht, ,die Welt‘, das heißt das imperium Romanum zu zerstören, bis kein Stein auf dem anderen blieb – bis selbst Germanen und andre Rüpel darüber Herr werden konnten“ (Aph. 58., S. 1229). 140 Zur Entstehung und Entwicklung des Kaiserkultes vgl. M. Clauss, Kaiser und Gott; Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 22 ff., 183 ff.; Veyne, Brot und Spiele, S. 463 ff.; A. Wlososk (Hg.), Römischer Kaiserkult. 141 Rilinger, Das politische Denken, S. 581.

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III. Religion und Politik in den Großreichen

tung die Herrschaft eines einzigen Basileus zu setzen, der den ganzen Weltkreis zusammenhält und befriedet. Dadurch kam er, wie Origenes betonte, dem Interesse des Frühchristentums entgegen,142 das jedoch zunächst noch gegen die römische Herrschaft und das Kaisertum stand und zusammen mit anderen Gruppen und Sekten den römischen Imperialismus bekämpfte. Es trat in seinen Anfängen als Störenfried der römischen Ruhe und Eintracht hervor und entwickelte sich zum Protest- und Widerstandspotential. Dabei konnte es die langjährigen Erfahrungen des israelitisch-jüdischen Volkes im Kampf gegen Okkupation und Fremdherrschaft aktualisieren. Es entfremdete seine Anhänger den herrschenden Sitten und entwickelte alternative Umgangsformen, die dem geltenden Leistungsprinzip entgegenstanden. Erst allmählich paßte es sich den gegebenen Verhältnissen an, wurde zur römischen Reichsreligion und generierte dabei ein neues Paradigma der Politischen Philosophie.

142 Origenes, Contra Celsum, II, 30. Vgl. dazu E. Peterson, Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums, bes. S. 175; ders., Der Monotheismus als politisches Problem, S. 81 ff., bes. S. 83.

IV. Die jüdisch-christliche Tradition Die jüdisch-christliche Tradition bildet neben der griechisch-römischen Antike die zweite große Quelle des europäischen Selbstverständnisses und Politikdenkens. Bereits das antike Judentum mußte sich zumeist in einer als feindlich empfundenen Umwelt behaupten und hat im Zuge seiner Emanzipation aus Fremdherrschaft und Unterdrückung neue Formen des Zusammenlebens und der kollektiven Identitätsbildung hervorgebracht, die dann vom Frühchristentum aufgegriffen, modifiziert und weitergebildet wurden und späteren Zeiten als Paradigma dienen konnten. Es hatte in seiner langen Geschichte zahlreiche Bewährungsproben zu bestehen und innere und äußere Konflikte zu lösen, die immer wieder rivalisierende Gruppierungen auf den Plan riefen und eine Politisierung des Volkes bewirkten. Vor allem aber hat es neue Formen der „Seelenpflege“ und der Menschenführung kreiert, die später in die christliche Reichsidee und durch deren Vermittlung in die neuzeitliche Staatsidee eingeflossen sind. Zu prüfen ist, welche konkreten Muster der politischen Auseinandersetzung und Gemeinschaftsbildung in der Antike erprobt und von dort ins Mittelalter und in die Neuzeit tradiert wurden. War es in früheren Jahrhunderten üblich, die Rivalität zwischen Christentum und Judentum zu betonen, so werden heute von christlichen Theologen und Laien aufgrund der langen Leidensgeschichte des jüdischen Volkes und speziell der Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Religionsgemeinschaften und ihre geschichtliche Zusammengehörigkeit beschworen. Dabei gibt es aber unüberwindbare Differenzen und Gegensätze.1 Während das jüdische Denken und Handeln seine Orientierungsmuster und Exempla in der geschichtlichen Überlieferung und sein geistiges Zentrum im Prinzip des Gesetzes, der Thora, fand und findet, durchbrach das Christentum mit dem Prinzip der Liebe, der Gottes- und der Nächstenliebe, den Nomismus und Ethnozentrismus und öffnete so neue Räume des Politischen, der mit Willen und Bewußtsein unternommenen Gestaltung des Gemeinschaftslebens und der reflexiven Organisation der Verfassung des Volkes. An die Stelle des Tempels und des Gesetzes trat die spirituelle, durch die Liebe verbundene Einheit aller Gläubigen, die christliche Ekklesia, die zugleich als Gegengründung zum Römischen Imperium begriffen werden kann. Die politischen Potentiale beider Religionen werden in diesem Kapitel analysiert.

1

Vgl. J. Taubes, Die Streitfrage zwischen Judentum und Christentum, bes. S. 92 ff.

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

Das christliche Politikdenken durchläuft seinerseits verschiedene Etappen, die der Entwicklung und den missionarischen Erfolgen und Mißerfolgen der neuen Religionsgemeinschaft entsprechen. Das Christentum begann als innerjüdische Reformbewegung, löste sich aber alsbald vom Judentum und verselbständigte sich. Es entstand als kleine und randständige Protestbewegung in der jüdisch-palästinensischen Gesellschaft, verbreitete sich mit großem Erfolg in den hellenistischen Städten des Mittelmeeres und wurde im vierten christlichen Jahrhundert sogar zur dominanten Religion des römischen Weltkreises, die in der Folge das politische Geschehen des ganzen Reiches (mit)bestimmte. Die Jesusbewegung, die einst als Rückzugs-, als Protest- und Widerstandsbewegung im Corpus des Imperium Romanum begonnen hatte, verwandelte sich in eine „Massenbewegung“, entwickelte im Lauf der Zeit eine reichsfreundliche Haltung und wurde schließlich selbst zum ideologischen Kitt des Römischen Reiches. Allerdings ging die Transformation von der Protest- zur Integrationsbewegung nicht ohne Reibungen vonstatten. Sie provozierte immer wieder interne Kritik und immanenten Widerstand. Die Geschicke und Mißgeschicke in der Ausbreitung und Etablierung des Christentums schlugen sich in den politischen Vorstellungen und Erwartungen nieder und hatten gelegentliche Umbrüche und Metamorphosen in den Konzeptionen der politischen Theologie zur Folge. Diesen soll im folgenden die Aufmerksamkeit gelten. Die christliche Reichsidee bildet die Synthese von altorientalischem, insbesondere hebräischem Herrschaftsdenken und griechisch-römischem Polis- und Republikdenken – auf der Basis einer neuen Eschatologie. In ihr sind die Versatzstücke der früheren Politik- und Herrschaftstheorien zu einer großen und großartigen Synthese gebracht. Die Bestandteile dieser Synthese und den durch sie bewirkten Paradigmenwechsel haben wir zu betrachten. Dabei ist – im Gegensatz zur früheren, von der Geschichtsphilosophie inspirierten Forschung – keine (lineare) „Entwicklung“ von Athen über Jerusalem nach Rom zu unterstellen,2 sondern vielmehr ein radikaler Bruch und Neubeginn zu konstatieren, der erst allmählich die Rezeption und Einvernahme der früheren Philosophie und dadurch die Anreicherung und Festigung der eigenen Grundlagen ermöglichte. Die Rezeption des griechischen Denkens beschränkte sich aber zunächst auf Platon und den Neuplatonismus sowie den Epikureismus und Stoizismus. Die praktische Philosophie des Aristoteles hatte für das Politikdenken des Frühchristentums keine unmittelbare Wirkung. Wichtige Teile seines Werkes – einschließlich der Politik – gingen schon frühzeitig verloren und blieben lange Zeit verschollen. Als sie im späten Mittelalter wieder ans Tageslicht traten und über arabische Quellen (Avicenna, Averroës) erschlossen wurden, schlugen sie wie eine Bombe ins

2 Vgl. vor allem Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (HW 12) und über die Geschichte der Philosophie (HW 17, HW 18). Zur Kritik der Geschichtsphilosophie vgl. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen.

1. Politisches Denken im Alten Testament

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christliche Weltbild ein. Ihre Rezeption bahnte den Weg, der das philosophische Denken aus der Umklammerung durch die Theologie befreien und einen erneuten Paradigmenwechsel der Politischen Philosophie vorbereiten sollte. Ziel der nachfolgenden Untersuchung kann nicht die Erörterung theologischer Streitfragen sein, sondern nur die Ermittlung der politischen Potentiale der religiösen Entwicklung und Überlieferung. Zunächst werden die Muster des alttestamentlichen Politikdenkens untersucht, aus dem sich das frühchristliche Denken speist, um sich zugleich davon zu distanzieren (1.). Sodann werden die Anfänge des christlichen Politikdenkens analysiert, das seinen Kern in der Kritik an der jüdischen und römischen Gesetzesapotheose, an der im Reich wie im Tempel etablierten Hierarchie der Aristokraten, Priester und Schriftgelehrten sowie am Ethnozentrismus des jüdischen Volkes hatte (2.). Schließlich wird die christliche Reichsidee rekonstruiert, die aus der hellenistischen Umdeutung der jüdischen Überlieferung und aus der Verschmelzung der verschiedenen Traditionselemente resultierte (3.).

1. Politisches Denken im Alten Testament Weit zurückreichende Erfahrungen mit Okkupation und Fremdherrschaft hatte das israelitisch-jüdische Volk der Antike gesammelt, das in seiner langen Geschichte zumeist unter den ägyptischen, assyrischen, babylonischen, persischen, hellenistischen und schließlich römischen Imperatoren zu leiden hatte. Allen Knechtungen und Schicksalsschlägen zum Trotz hatte es seine Prinzipien und Sitten bewahrt und sich eine Eigenständigkeit und relative Autonomie gesichert. Offen und umstritten bleibt, worin sein Beitrag zur Genealogie des Politischen gelegen ist. Im Anschluß an Max Webers Religionssoziologie, insbesondere seine Studie über das antike Judentum, wurde eine heftige Kontroverse über den politischen oder apolitischen Charakter des jüdischen Volkes geführt,3 die den Leitfaden der nachfolgenden Untersuchung bilden kann, deren Ergebnisse kurz referiert und diskutiert werden sollen. Ein Hauptgrund für Mißverständnisse und für die Aufregung der Weber-Kritiker dürfte – wie gesagt – im ungeklärten und bedeutungsschwangeren Politikbegriff liegen, der schon bei Weber selbst in zahlreichen Facetten schillert. Es soll daher im folgenden versucht werden, ihn ein wenig genauer zu explorieren und einzugrenzen. Stein des Anstoßes war die durch Julius Wellhausen und Eduard Meyer beeinflußte Feststellung Webers, die Juden hätten sich während der Periode des Zweiten Tempels von einem politischen in einen rein konfessionellen Verband und in 3 Vgl. bes. W. Schluchter (Hg.), Max Webers Studie über das antike Judentum – sowie die Beiträge von H. G. Kippenberg, F. Crüsemann, S. Talmon, A. Wasserstein und J. G. Gager in: W. Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des antiken Christentums, 151– 316, 386–403.

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

ein „Pariavolk“ verwandelt.4 Die Kenner der israelitischen Geschichte sind sich einig, daß diese Einschätzung unzutreffend ist und auf einer Verkennung der tatsächlichen Entwicklung basiert. Sie betonen den fortdauernden „politischen“ und „nationalen“ Charakter des nachexilischen Judentums. Im Einklang mit den meisten anderen Kritikern konstatiert Shmuel N. Eisenstadt, die genannte Diagnose sei „ein ganz schwerwiegender Fehler Webers“,5 der den Wahrnehmungen und ideologischen Verzerrungen der zeitgenössischen protestantischen Forschung des 19. Jahrhunderts geschuldet sei. In Wahrheit sei die kollektive Identität des jüdischen Volkes durchgängig durch vier Integrationskräfte gestiftet worden: durch ethnische, genealogische (Abkunft von Abraham, Isaak und Jakob), politische und religiös-kulturelle Faktoren.6 Stets habe das Politische eine ganz zentrale Rolle im Leben und Selbstverständnis des Volkes gespielt. Mag diese These auch zutreffend und richtig sein, sie wird im zitierten Text an keiner Stelle belegt oder untermauert. Der Grund dafür liegt darin, daß Eisenstadt seinen Politikbegriff nicht erläutert. Während die beiden ersten und der vierte Integrationsfaktor unmittelbar einleuchten und keiner weiteren Exposition bedürfen, wird die behauptete politische Dimension nicht transparent. Ungeklärt bleibt, worin der spezifisch politische Gehalt, d. h. der Eigensinn des dritten Moments im Unterschied zu den drei anderen bestehen soll. Der Politikbegriff bleibt zu abstrakt und vage, zu allgemein und unbestimmt. Er wird zu Unrecht als selbstevident unterstellt und gewinnt deshalb keine Konturen. Da dies nicht nur im Falle Eisenstadts, sondern bei den meisten Weber-Kritikern festzustellen ist, ist zu fragen, was im Kontext der israelitisch-jüdischen Geschichte unter Politik verstanden werden kann und soll. Herrschaft und Freund-Feind-Differenzierungen bleiben, wie bereits oben bemerkt wurde (vgl. S. 42 ff.), zu abstrakt und unzureichend, um einen tragfähigen Politikbegriff zu gewinnen. Legt man Carl Schmitts Kriterium zugrunde, so würde das Politische bereits durch die drei anderen von Eisenstadt benannten Komponenten ausgefüllt. Die Assoziation des jüdischen Volkes und seine Dissoziation von den Nachbarn wurde exakt durch ethnische, genealogische und religiös-kulturelle Motive bewirkt. Das Hinzutreten eines vierten Elements namens „Politik“ wäre überflüssig. „Politik“ wäre dann kein eigenes Sachgebiet, sondern die Resultante der drei anderen Faktoren. „Politisch“ wäre die Summe oder Syn-

4 Vgl. J. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte; E. Meyer, Die Entstehung des Judentums; M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 3, S. 281 ff., bes. S. 397 ff.; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 275 ff., 304 ff., 355 ff., 367 ff., passim. 5 S. N. Eisenstadt, Max Webers antikes Judentum, S. 171. Eisenstadt hat eine Liste mit den wichtigsten früheren Arbeiten zu Webers Analyse des antiken Judentums zusammengestellt. Vgl. ebd., S. 176 (Anm. 2). 6 S. N. Eisenstadt, S. 153. Vgl. ders., Max Webers Sicht des frühen Christentums, S. 510 f.

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these dieser drei Identitäten, die sich wechselseitig verschränken und verstärken. „Das Politische“ wäre der durch sie bewirkte Zusammenhalt und die Abgrenzung und Verteidigung der vereinigten Stämme gegen außen. Die Politik könnte demnach niemals enden, solange diese Integration funktioniert. Der Politikbegriff würde fluide und konturenlos. Die Rede vom nicht-politischen Charakter der nachexilischen jüdischen Gemeinde hätte per definitionem jeglichen Sinn verloren. Einer derartigen Inflationierung des Politikbegriffs wollte Max Weber gerade entgegenwirken, als er die Politik als Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung innerhalb von oder zwischen Staaten definierte. Befreit man den Begriff aus der Bindung an die Existenz von Staaten, so kommt man der Sache ein gutes Stück näher. Politik ließe sich dann begreifen als das Streben nach Machtanteil innerhalb von oder zwischen autonomen und autokephalen Verbänden. Dieses Streben läßt sich in der altisraelitischen Geschichte zu verschiedenen Zeiten erkennen. Es kam auch in der Zeit des Zweiten Tempels keineswegs zum Stillstand und zu seinem Ende. Zu untersuchen sind entsprechend die verschiedenen Etappen und Muster dieser Bemühungen. Beginnend mit dem Auszug von Teilen der Stämme unter Moses (nach 1250 v. Chr.) über die Bildung des Zwölfstämmebundes (Amphiktionie, ca. 1200 v. Chr.), die Eroberung Kanaans und die Richterzeit bis hin zur Monarchie Sauls und seiner Nachfolger (seit ca. 1010 v. Chr.), zur Spaltung des Reiches (ca. 926 v. Chr.), zur „babylonischen Gefangenschaft“ (586–538) und zur nachexilischen Zeit ist zu verfolgen, wie sich die Organisation des Zusammenlebens jeweils gestaltete. Dabei ist der Machtbegriff selbst zu spezifizieren. Die Chance, seinen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, ist zu unterscheiden sowohl von ihrer Institutionalisierung in Form von Herrschaft als auch von blanker physischer Gewalt. Sie hat ihren Ursprung und Sitz in der menschlichen Intersubjektivität und verwirklicht sich durch den Einsatz kommunikativer und rhetorischer Fertigkeiten – als kommunikative Macht,7 die in der Organisation familienübergreifender Verbände und ihrer Beziehungen zueinander, im Interessenausgleich und in der Regelung von Konflikten und Streitigkeiten ihren Einsatz und ihre Konkretisierung findet. Zu prüfen ist, welche konkreten Formen in der altisraelitischen Tradition entwickelt wurden. Es wird sich zeigen, daß diese zwar keine öffentliche und diskursive Willensbildung nach dem Vorbild der griechischen Polis kennt, aber mit der Hervorbringung neuartiger Praktiken der Menschenaggregation und -führung gleichwohl einen wichtigen Beitrag zur Genealogie des Politischen leistete, der dann vom Urchristentum aufgegriffen und modifiziert wurde, in die christliche Reichsidee und von dieser in die spätere Staatsidee eingeflossen

7 Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 36 ff.; dies., Über die Revolution, S. 232 ff.; J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht; ders., Faktizität und Geltung, S. 182 ff.

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ist. Betrachten wir die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung ein wenig genauer.8 a) Exodus und Alter Bund Am Beginn steht der Exodus, der Auszug der Israeliten aus Ägypten.9 Davor war das auserwählte Volk noch keine transfamiliale Handlungseinheit. Seine Väter und Repräsentanten (Adam und Eva, Kain und Abel, Noah und Nimrod, Abraham und Isaak, Esau und Jakob, Joseph und seine Brüder usw.) waren jeweils individuelle Akteure, durch die Jahwe seinen Willen erkundete und vollstreckte und seinen Charakter und sein Selbstbewußtsein bildete.10 Er hatte sie erschaffen, um sich in seinem Ebenbild zu spiegeln, um in der Interaktion mit seinen Geschöpfen zur Selbsterkenntnis, zur Einsicht in sein eigenes Wesen, in seine Fähigkeiten und Kompetenzen zu gelangen.11 Obgleich er selbst der Protagonist der biblischen Geschichte(n) blieb, bis er am Ende des Tanach durch Hiob zum Schweigen gebracht wurde (S. 354 ff.), waren schon die vorexilischen Ereignisse geeignet, seinen Antagonisten ein politisches Selbstbewußtsein zu vermitteln. Er hatte sie mit der ihm eigenen Fähigkeit ausgestattet, Menschen nach ihrem (und seinem) Bilde zu erschaffen, zu zeugen und zu gebären, sich zu ver8 Zur Geschichte des Vorderen Orients und des alten Israel vgl. A. Kuhrt, The ancient near east; A. H. J. Gunneweg, Geschichte Israels; J. H. Hayes/J. M. Miller (eds.), Israelite and Judaean History. Zur Frühgeschichte Israels von den Anfängen bis zur Richterzeit: A. Malamat, Syrien-Palästina in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends, bes. S. 203 ff. Zur Folgezeit: O. Eißfeldt, Syrien und Palästina vom Ausgang des 11. bis zum Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr. Ferner die Überblicksdarstellungen von S. Herrmann, Israel; M. Clauss, Das Alte Israel (mit weiterer Literatur: S. 118 f.). 9 Ältere Bilder und funktionale Äquivalente des Exodus (Schlange, Brudermord, Turmbau zu Babel, Nasiräer usw.) erörtert E. Bloch, Atheismus im Christentum, S. 115 ff. Auch Abrahams Lossagung von seiner Sippe könnte als Paradigma des Exodus dienen. Vgl. G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798– 1800). In: HW 1, 274–418; hier: S. 274 ff. 10 Zur Entwicklungsgeschichte Jahwes, der erst in der Abfolge der einzelnen biblischen Geschichten allmählich deutliche Konturen gewinnt und seine Charaktereigenschaften in der Auseinandersetzung mit seinen Geschöpfen ausbildet, vgl. J. Miles, Gott. Eine Biographie. Wie Miles überzeugend herausarbeitet, ist die biblische Erzählung (zumindest) bis zur Josephsgeschichte „so sehr mit Fortpflanzung und dem, was Fortpflanzung bedroht, beschäftigt, daß sie fast alles andere in menschlicher Erfahrung ausschließt“ (S. 113). 11 Durch eine literaturgeschichtliche Analyse der jüdischen Bibel, des Tanach, in dem die einzelnen Bücher anders geordnet sind als in der christlichen Bibel – auf die fünf Bücher Mose folgen die Propheten und dann die Schriften –, gelangt J. Miles zu einer personalistischen Konkretisierung des Programms des Deutschen Idealismus, vor allem Schellings und Hegels, die infolge der spiritualistischen Fassung Gottes als des Absoluten in die Nähe des Pantheismus geführt worden waren. Das Fundament der Welt, die Basis der Natur und den Ausgangspunkt der menschlichen Geschichte bildet aber beidemale das Verlangen Gottes nach Selbsterkenntnis (gnothi seauton). – Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf das Werk von Miles.

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mehren, die Natur zu beherrschen und sich die Erde untertan zu machen. Dabei hatte er nicht von vornherein ausgeschlossen, daß der geregelte Streit seiner Kinder und eine politische Organisation ihres Zusammenlebens zu seinem und ihrem sich ganz allmählich entfaltenden Wesen gehört. Da er „eine Gestalt mit einer multiplen Persönlichkeit“ (S. 92) war, die sich als Schöpfer und Zerstörer (S. 61), Krieger und Gesetzgeber (S. 130, 137), Eroberer und Völkermörder (S. 142), Lehnsherr und Vater (S. 179 ff.), Schiedsrichter und Fürsprecher der Armen (S. 210 ff.) usw. gerierte, kann damit gerechnet werden, daß er diese seine Fertigkeiten auch seinen Ebenbildern zukommen lassen wollte. Der Durchbruch des Politischen lag somit durchaus im Bereich des Möglichen und konnte sich im Lauf der Zeit tatsächlich ereignen. Die Emanzipation aus der ägyptischen Fron und Fremdbestimmung kann diesbezüglich als ein vielversprechendes Fanal gedeutet werden.12 Durch den Exodus wurden grundlegende Erfahrungen gemacht, deren Erinnerung in der Folgezeit die Phasen „revolutionärer Politik“ anregen und steuern konnte.13 Gleichgültig ob die biblische Gestalt Moses authentisch oder aus zwei geschichtlichen Personen zusammengesetzt ist, einer ägyptischen und einer jüdischen, entscheidend ist der Auszug des Volkes in die Wüste, die Abwanderung aus dem Herrschaftsbereich der Pharaonen. Dadurch wurde die schwer lastende fremdländische Tradition abgeschüttelt und eine Neugründung ermöglicht. Doch setzen bereits an dieser Stelle die ersten Zweifel ein. Bekanntlich hat Sigmund Freud die These vertreten, Moses habe den Israeliten die strenge monotheistische Religion vermittelt, die in Ägypten während der 18. Dynastie entstanden und als Kaiser- oder Herrscherkult auf die Person Echnatons (Amenophis IV.) zugeschnitten war, die aber mit dem Ende seiner Herrschaft und mit dem Niedergang seiner Dynastie an den Rand gedrängt bzw. von seinen Nachfolgern hinweggefegt wurde. Als einstiger Priester dieser Religion habe Moses gegen den Verlust seines Ansehens, seiner Stellung und seiner Machtpositionen rebelliert, sich „an die Spitze eines Haufens von eingewanderten, kulturell rückständigen Fremdlingen“ gestellt, um ihnen seine eigene Religion zu übermitteln, die streng monotheistische Atonreligion.14 Er würde so als ein in seiner Eitelkeit gekränkter Intransigent erscheinen, der durch Perseveration geplagt und durch seine halsstarrige Haltung zur Dissidenz und Abwanderung getrieben wurde. Da alle Erwägungen bezüglich der prähistorischen Zeit wie der nicht-dokumentierten Geschichte spekulativ bleiben müssen, sollen sie hier nicht weiterverfolgt werden. Die Charakterstruktur und die psychische Disposition des Mannes 12

Vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3, S. 1450 ff. Vgl. M. Walzer, Exodus und Revolution, S. 17 ff. 14 Vgl. S. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 33 ff.; bes. S. 34, 39 ff. Die Vermutung Freuds erhielt neue Nahrung durch M. Sabbah/R. Sabbah, Les secrets de l’Exode. 13

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Moses15 spielt für die Ermittlung der politischen Potentiale seiner Gründungsleistung nur eine untergeordnete Rolle.16 Mag Moses selbst ein vornehmer Ägypter gewesen sein, der in der Wüste umgebracht und durch einen jüdischen Doppelgänger ersetzt wurde, mag Echnaton auch der Vorläufer des israelitischen Kriegs- und Hirtengottes gewesen sein,17 entscheidend ist der dauernde Eindruck, den der Auszug in die Wüste hinterließ. Man hatte gelernt, daß man sich fremder Herrschaft entziehen und das Joch der Fron und Fremdbestimmung abstreifen konnte. Doch lernte man alsbald auch die negativen Seiten der Freiheit kennen. Da der Weg ins gelobte Land beschwerlich war, sehnte sich das Volk alsbald ins schützende Obdach der alten Knechtschaft zurück und begann in der Wüste gegen Moses und seinen Gott zu murren (2. Mose 14, 11 f.; 15, 24; 16, 2; 17, 2). Als Moses vierzig Tage auf dem Berge Sinai verharrte, um Gottes Ratschluß zu ergründen und seine Gebote zu vernehmen, verbreitete sich Mißtrauen und Unsicherheit unter den Kindern Israels, die nach einem sichtbaren Zeichen ihres Gottes verlangten (2. Mose 32.). Da dieses ausblieb, zankten sie sich und spalteten sich in Fraktionen, von denen eine den Moses-Bruder Aaron drängte, ihnen einen sichtbaren Gott zu schaffen. Nachdem dieser den Goldschmuck des Volkes geschmolzen und zu einem Kalb geformt hatte, beteten sie zu ihm und feierten orgiastische Feste. Als Moses schließlich vom Berg zurückkehrte und den Tanz ums Goldene Kalb gewahrte, mobilisierte er die Leviten und erteilte den Götzenanbetern „eine mit Blut geschriebene Lektion“.18 Im Gegensatz zum Exodus waren diese Erfahrungen kaum dazu geeignet, das politische Bewußtsein der Israeliten zu stärken. Ihr Führer hatte sich als Despot gezeigt, der keine Abweichung von seiner eigenen, einmal gesetzten Linie tolerierte. Ihr Gott hatte sich als eifersüchtiger Tyrann erwiesen, der keine anderen Götter neben sich dulden mochte. Die religiöse Intoleranz war geboren. Nicht undenkbar wäre deshalb, „daß der Religionsstifter Moses in einem Aufstand seines widerspenstigen und halsstarrigen Volkes ein gewaltsames Ende fand“,19 doch sollen hier keine Vermutungen darüber angestellt werden. Entscheidend sind die Konsequenzen der Entstehung und der Durchsetzung der monotheistischen Religion, die allerdings noch lange Zeit umkämpft sein sollte. Durch sie wurde nicht nur jegliche Magie, jeglicher Zauber und jeglicher Mythos ausge15

Zur Geschichte der Moses-Deutungen vgl. J. Assmann, Moses der Ägypter. Zu Moses und seiner Gründungsleistung vgl. die abwägende, die jüngere Literatur berücksichtigende Überblicksdarstellung von W. H. Schmidt, Mose. In: P. Antes (Hg.), Große Religionsstifter, 32–48 (weitere Literatur: S. 212–217). 17 Daß der Gott des alten Israel durch die Verschmelzung zahlreicher Götter entstand, denen das Nomadenvolk auf seinen Wanderungen begegnete, zeigt im einzelnen Miles, Gott, S. 107 ff. Vgl. bes. die Synopse ebd., S. 458 ff. 18 Vgl. M. Walzer, Exodus und Revolution, S. 64 ff. (Zitat S. 68). Walzer nennt den Mord an den Götzenanbetern „die erste revolutionäre Säuberung“ in der Geschichte (ebd.). 19 S. Freud, Der Mann Moses, S. 49. Vgl. ebd., S. 58 ff. 16

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schlossen, es wurde darüber hinaus eine Kluft zwischen Gott, Mensch und Kosmos aufgerissen und der Schauplatz der Religion „von der Natur wegverlegt in die sittlich-religiöse Tat des Menschen und der religiösen Gemeinschaft“. Der Mensch wurde „aus dem träumerischen Stadium jener Einheit von Mensch, Welt und Gott“ herausgerissen, in dem ihn der alte Mythos festgehalten und gebannt hatte.20 Das „archaische Urvertrauen“,21 das die Griechen – Philosophie und Politik zum Trotz – noch über ihre besten Jahre hinweg tragen sollte, wurde zerstört, die Idee vom Eingefügtsein des Menschen in einen wohlgeordneten Kosmos kam abhanden. Ein neues Kapitel der Dialektik der Aufklärung wurde aufgeschlagen. Ein Akt der Weltentzauberung wurde eingeleitet, der die späteren griechischen Entzauberungsleistungen zum Teil in den Schatten stellt. Ob aber ihre spezifisch politischen Gründungsleistungen eingeholt wurden, wird weiterhin zu prüfen sein. Wenden wir uns daher dem nächsten Großereignis zu, das die israelitische Geschichte prägte. Die nächste große und paradigmatische Erfahrung wurde durch den Alten Bund ermöglicht, den Gott am Berge Sinai mit seinen Kindern schloß. Schon vor dem Tanz ums Goldene Kalb hatte er den Stammesältesten durch Vermittlung des Mosis versichert, daß sie ihm „ein priesterliches Königreich und ein heiliges Volk“ sein werden, sofern sie seinen Bund halten und seine Gesetze befolgen (2. Mose 19, 5 f.).22 Nunmehr versprach er, bislang ungesehene Wunder zu tun, seinen Engel auszusenden und die Amoriter, Kananiter, Hethiter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter „auszustoßen“ (34, 10 f.; cf. 33, 2), um zwar nicht seine halsstarrigen Untertanen, aber wenigstens ihre Nachkommen unversehrt ins gelobte Land zu geleiten. Aufgrund dieses Versprechens wählte ihn das Volk zu seinem Anführer und König. Durch die illokutionären Bindekräfte dieser wechselseitigen Verpflichtung wurde ein Königreich Gottes gegründet, das auf der Zustimmung der Untertanen beruhte, „und zwar zu ihrer bürgerlichen Regierung und zur Regelung ihres Betragens nicht nur gegen Gott, ihren König, sondern auch ihres gegenseitigen Betragens, was Fragen der Gerechtigkeit betrifft, und des Betragens gegen andere Völker in Krieg und Frieden. Dies war ein Königreich im eigentlichen Sinne, worin Gott König war, und der Hohepriester nach Moses Tod sein einziger Vizekönig oder Statthalter sein sollte“.23 Welche Rechte und Kompetenzen dem Hohenpriester durch das Übereinkommen übertragen wurden, wird

20 G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 8 f. Vgl. auch E. Voegelin, Order and History. Vol. I: Israel and Revelation. Baton Rouge 1956. 21 Vgl. F. Heer, Hegel, der Philosoph des siebenten Tages, S. 11 ff. 22 Die Bibel wird nach der Übersetzung Martin Luthers zitiert. Zugrunde liegt die im Auftrag der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz durchgesehene 14. Auflage, Stuttgart 1899. 23 T. Hobbes, Leviathan, S. 314 f. Vgl. auch ebd., Kap. 40: „Von den Rechten des Gottesreiches, die Abraham, Mose, die Hohenpriester und die Könige von Juda innehatten“ (359–368).

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gleich zu prüfen sein. Zuvor sollen die möglichen Konsequenzen und Perspektiven des Bundes im allgemeinen erörtert werden. Durch den Vertrag zwischen Jahwe und den vereinigten Familienoberhäuptern ward eine neue Solidarität geboren, die ein neues Selbstbewußtsein zu generieren und zu tragen vermochte. Welche politischen Perspektiven öffnete er? Welche Konsequenzen hatte er für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens? – Jan Assmann hat die These vorgetragen,24 mit dem Bundesschluß erfolge eine „Theologisierung der Politik“ (S. 82): „eine neue Religion wird gestiftet nach dem Modell politischer Bindungen“ (S. 81). Eine Kluft zwischen Herrschaft und Gemeinschaft tue sich auf, das Wohl des Volkes werde nunmehr vom Wohl des Herrschers unterschieden. „Nicht nur ,Jahwe‘, sondern auch ,Israel‘ füllen die Stelle aus, die in der ägyptischen Welt Pharao einnimmt . . . Diese Aufsprengung einer in Ägypten und (soweit ich sehe) überall sonst in der damaligen Welt nur als Einheit denkbaren Verbindung von Herrschaft und Gemeinschaft bildet den eigentlichen Durchbruch Israels“ (S. 76). Der Bundes- oder Vertragsgedanke stehe „am Ursprung einer neuen Form von Religion, einer Religion, die nicht mehr in den politischen Ordnungen und Institutionen repräsentiert wird, sondern als eigenständige Ordnung neben der politischen Ordnung, ja zuweilen ihr kritisch entgegensteht“ (S. 78 f.). Indem Gott selbst die Funktion des Gesetzgebers übernehme, habe der irdische Herrscher diese Position zu räumen (S. 82). Mehrere Punkte in dieser Argumentation sind bedenkenswert. Der Ausdruck „Theologisierung der Politik“ scheint mir mißverständlich und irreführend zu sein. Er resultiert aus Assmanns Gleichsetzung von Politik mit Herrschaft. Gemeint ist aber nicht die Vergöttlichung und ideologische Überwölbung der irdischen Herrschaft, sondern der Gedanke der Theokratie. Dieser zielt auf die Konzentration und Monopolisierung der Herrschaftskompetenzen bei bzw. durch Gott und die damit verknüpfte Relativierung und Entwertung der überkommenen Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen.25 Mit diesem Gedanken öffnen sich in der Tat ganz neue Perspektiven und bislang ungekannte Räume für eine kreative Gestaltung des Gemeinschaftslebens. Zwar wurde der Begriff der Theokratie erst von Flavius Josephus überliefert, doch hatte die damit bezeichnete Idee und Sache eine lange Tradition, die mit dem Bundesschluß am Sinai begann.26 Allerdings verbindet sich mit ihr nicht zwingend ein emanzipatorischer Durchbruch und die Freisetzung des Politischen aus den Banden der Tradition.

24 Vgl. J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, S. 77 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. Vgl. auch ders., Herrschaft und Heil. 25 Vgl. M. Buber, Das Königtum Gottes; J. Taubes (Hg.), Theokratie. 26 Vgl. B. Lang, Theokratie; W. Hübener, Die verlorene Unschuld der Theokratie, S. 38 f.; H. Cancik, Theokratie und Priesterherrschaft; A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 1, S. 136 ff.; J. Assmann, Politische Theologie, S. 33 f., 74 ff.

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Sie kann auch gegenteilige Effekte zeitigen. Zwei gegensätzliche Haltungen werden durch sie ermöglicht: – Einerseits kann die Idee der unmittelbaren Gottesherrschaft zur „Entpolitisierung“ der Theologie und des Volkes führen. Nicht im geregelten Streit (der Götter oder Menschen bzw. zwischen Gott und den Menschen) werden die Gesetze und Regeln des Zusammenlebens gesucht und gefunden, sondern im Ratschluß des einen und einsamen Gottes, der mit seinem „Zorn“ und seiner „Liebe“ die Geschicke des auserwählten Volkes lenkt. Die wechselseitige Verpflichtung von Gott und Volk zur Einhaltung des Vertrages verlangt zwar neue moralische Einstellungen und sittliche Verhaltensweisen im Leben der einzelnen und ihrer Familien und Sippen, wie sie vor allem in den Zehn Geboten festgehalten waren, führt aber per se noch nicht zu neuen politischen Aktivitäten und Institutionen.27 Sie kann im Gegenteil defätistische Haltungen fördern.28 Ein weiteres Moment muß demnach hinzutreten, um eine Politisierung (nach dem Vorbild der alten Griechen) zu ermöglichen. Und dieses war im Vertrags- oder Bundesgedanken in der Tat mit angelegt. – Andererseits kann der Theokratiegedanke tatsächlich zur Politisierung führen und/oder zur Etablierung und Legitimation neuer Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse dienen. Er öffnet die weitere Alternative zwischen einer direkten oder unmittelbaren Theokratie auf der einen Seite, einer – von Moses und Aaron, von den Sippenältesten, Richtern, Königen, Priestern, Propheten, Schriftgelehrten, Weisen usw. getragenen – repräsentativen Theokratie auf der anderen Seite. Offen und umstritten bleibt prinzipiell, wer das Recht zur Interpretation des Gehalts der Vereinbarung und des göttlichen Willens hat, wer also über den Inhalt der Vertragsbestimmungen zu entscheiden hat. Ein Konkurrenzkampf um den direkten Zugang zu Gott und um die wahre Interpretation der Bundesidee kann entbrennen, der die alten Machtverhältnisse erschüttern und zum Einsturz bringen kann. Damit wäre die Chance zur Entfaltung des Politischen gegeben. Gelingt es aber der einen oder anderen Gruppe, das Interpretationsmonopol an sich zu bringen, so wird sich dadurch eine neue Hierarchie etablieren, die ihrerseits das Engagement des Volkes ersticken und die genannte Chance zunichte machen kann. Folgt man der biblischen Erzählung, so wurde der Interpretationsspielraum, der Raum für Streit und Diskussionen, alsbald geschlossen, da Moses dem Volk 27 Die Pflicht zur Einhaltung der Zehn Gebote wird nicht aus den Erfordernissen des Zusammenlebens begründet, sondern aus dem Willen des allmächtigen Gottes, der Dankbarkeit für die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft fordert. Vgl. 2. Mose 20., bes. Vers 2. Es handelt sich folglich um ein traditionalistisches Moralverständnis und um eine heteronome Moral. 28 Vgl. G. Weiler, Jewish Theocracy. Für Weiler ist – im Gegensatz zu den zitierten Autoren – die Idee der Theokratie erst nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer aufgekommen. Sie sei eine im Exil und fürs Exil erdachte Kompensation für den Verlust der politischen Selbständigkeit.

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das Gesetz Gottes mit allen seinen Detailvorschriften übermittelte. Dagegen hat jedoch Julius Wellhausen überzeugend dargetan, daß das Deuteronomium erst in der späten Königszeit unter Josia (639–609 v. Chr.) aufgefunden und dann in der nachexilischen Zeit unter Esra und Nehemia Mitte des 5. Jahrhunderts kanonisiert worden ist.29 Diese Auffassung ist heute allgemein anerkannt.30 Es kann folglich davon ausgegangen werden, daß in der Frühzeit der genannte Konkurrenzkampf tatsächlich möglich gewesen wäre. Da der Pentateuch seine Endredaktion gerade in jener Zeit fand, da in Griechenland die klassische Polis ihre Blüte erlebte und auch in Palästina und in der Diaspora Ansätze zur Polisbildung beobachtet wurden,31 kann vermutet werden, daß diese Erfahrungen auch in den Texten des Alten Testaments ihren Niederschlag fanden. Die Redakteure mußten sensibilisiert gewesen sein für die Chancen und Gefahren einer Politisierung der Bürgerschaft. Denkbar wäre allerdings, daß sie durch ihren eigenen parteipolitischen Standort daran interessiert waren, politische Bestrebungen in der Gemeinde zu unterdrücken bzw. einzugrenzen und folglich auch aus der geschichtlichen Überlieferung zu eskamotieren, um ihnen keine Legitimation durch Berufung auf die Tradition zu ermöglichen. Damit ist aber eine grundsätzliche Schwierigkeit der Exegese berührt. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß bei der Endredaktion der biblischen Geschichten späte Erfahrungen in die Frühzeit zurückprojiziert wurden, daß folglich in der kanonisierten Fassung des Textes die Interessen der Autoren der Spätzeit wirksam sind. In ihr verschmelzen die verschiedenen Zeithorizonte. Diesem Dilemma kann keine Interpretation entrinnen. Da kein anderer Text zur Verfügung steht, wird zu prüfen sein, welche politischen Potentiale in den späten Erzählungen über das frühe Geschehen enthalten sind. Bundesidee und Theokratiegedanke konnten also in alternativer Weise interpretiert und entfaltet werden. Sie konnten einerseits zur Legitimation von Herrschaft dienen, indem sich die Machthaber und Regenten als Repräsentanten und Vollstrecker des Vertrages ausgaben. In diesem Fall wäre die von Assmann konstatierte Trennung von Herrschaft und Gemeinschaft wieder aufgehoben worden. Das Heil des Volkes, die Entscheidung über die geforderten Aktivitäten, über die Pflichten und Wege, wäre in den Händen der Väter und Führer gelegen. Sie konnten aber andererseits befreiend wirken und dazu dienen, jegliche Form von Herrschaft zu diskriminieren oder zu transzendieren.32 Die Vorstellung einer di-

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Vgl. J. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels. Vgl. G. Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur, S. 12 ff. 31 Vgl. H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 17, 119 ff. 32 Nur in diesem Fall, aber nicht a priori, ließe sich sagen: „Die Theokratie ist auf dem anarchischen Seelengrund Israels errichtet. In der Theokratie äußert sich der Trieb des Menschen, von aller menschlich irdischen Bindung frei zu sein und im Bund mit Gott zu stehen.“ (J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 18). Taubes folgt dabei M. Buber, Das Königtum Gottes, S. 142 f. und J. Wellhausen, Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit. 30

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rekten oder unmittelbaren – im Gegensatz zur repräsentativen – Theokratie birgt in sich „demokratische“ und „anarchistische“ Potentiale. Die Idee des einen und einzigen Gottes, der nicht nur Schöpfer und Zerstörer, sondern auch Eroberer und Krieger, Lehnsherr und Vater, Erlöser und Gesetzgeber sein soll, kann zur Kritik und Zurückweisung aller hiero- und autokratischen Elemente in der Organisation des Gemeinschaftslebens führen.33 Die neue Bundestheologie konnte so in Gegensatz und Konkurrenz zu den alten Ordnungen treten. Die religiös-spirituelle Bundesverfassung konnte zum Modell für eine neue politische Ordnung werden. An die Stelle der alten patriarchalischen und tribalistischen Herrschaft hätte die kollektive Interpretation der Verfassungsprinzipien und des göttlichen Willens und damit eine öffentlich-diskursive Willensbildung treten können. Eine Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit tat sich auf, ein Spannungsverhältnis entstand, das die Formen des Zusammenlebens grundlegend hätte verändern und revolutionieren können. Wurde es genutzt? Wurden die neuen Ideen in die Realität umgesetzt? Wurden mit ihrer Hilfe die alten Machtverhältnisse umgestürzt? Oder dienten sie bloß ihrer ideellen Überwölbung und Verfestigung? Zu Mosis Zeiten wurde die repräsentative Variante und der apolitisch-defätistische Weg gewählt. An die alten Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse und die damit verbundenen Sitten gewöhnt, mit den Aufgaben und Chancen der möglich gewordenen Freiheit und Selbstbestimmung nicht vertraut, fühlte sich das Volk überfordert und delegierte alle seine Rechte an Moses. Nachdem die ganze Gemeine34 auf dem Berg das Wort Gottes vernommen hatte (5. Mose 5, 19), erschauderte sie und erstarrte in Todesangst, weshalb die Stammesobersten zu Moses traten, um ihm ihre Kompetenzen zu übertragen (Verse 20 ff.). Sie verzichteten auf ihr Recht, Gott zu befragen und seine Erlasse auszulegen, und übertrugen es ohne Einschränkung auf ihn. „Moses blieb also allein der Geber und Ausleger der göttlichen Gesetze und infolgedessen auch der oberste Richter, den niemand richten konnte und der allein bei den Hebräern die Stelle Gottes, d. h. die höchste Majestät vertrat“.35 Zwar entlastete er sich von der Regelung von Bagatellen und der Schlichtung belangloser Konflikte, indem er auf Anraten seines Schwiegervaters „redliche Leute aus ganz Israel“ erwählte und sie „zu Häuptern über das Volk“ machte – „etliche über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, 33 Daß der Theokratiegedanke nicht automatisch zur individualistisch-anarchistischen Konzeption einer direkten Theokratie führt, räumt J. Taubes an anderer Stelle selber ein. Vgl. ders./N. Bolz, Vorwort. In: J. Taubes (Hg.), Theokratie, S. 5–7. Nachdem er zuvor noch einmal unterstrichen hatte, Theokratie meine „eine unmittelbare Gottesherrschaft, die jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen ausschließt“ (S. 5), kommt er nur wenig später zu einer Unterscheidung und einer politischen Alternative, die durch die vorherige Feststellung a priori ausgeschlossen wäre: „Theokratie von oben vs. Theokratie von unten heißt nun die entscheidende Antithese“ (S. 6). 34 Um der Einheitlichkeit willen wird in diesem Abschnitt gewöhnlich Luthers Ausdruck Gemeine statt Gemeinde verwandt. 35 B. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 255.

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daß sie das Volk allezeit richteten“ –, doch mußten die bedeutenderen Fälle und „schwereren Sachen“ ihm zur Entscheidung vorgelegt werden (2. Mose 18, 25 f.). Alle Versuche der Gemeine, seine absolute Herrschaft zu brechen oder auch nur einzuschränken, wurden als „Empörung wider den Herrn“ betrachtet und gewaltsam unterdrückt. So wurde das Verlangen nach Isonomie, das sich im Aufstand von zweihundertundfünfzig ehrbaren Männern – „Vornehmste in der Gemeine, Ratsherrn und namhafte Leute“ (4. Mose 16, 2) – unter der Führung von Korah, Dathan und Abiram manifestierte,36 von Gott auf äußerst rabiate Weise beendet und mit dem Tod der Aufrührer bestraft. Nachdem er Moses ihre Vernichtung angekündigt hatte, „zerriß die Erde unter ihnen, und tat ihren Mundt auf, und verschlang sie mit ihren Häusern, mit allen Menschen, die bei Korah waren, und mit aller ihrer Habe; und fuhren hinunter lebendig in die Hölle . . . Dazu fuhr das Feuer aus von dem Herrn, und fraß die zwei hundert und fünfzig Männer“ (Vers 31–35). Auch diese Demonstration der göttlichen Macht und Herrlichkeit war wenig geeignet, das politische Selbstbewußtsein der Israeliten zu stärken und ein eigenes „Könnensbewußtsein“ aufkommen zu lassen. b) Eroberung Kanaans und Richterzeit Solange Moses lebte, blieb er der absolute Herrscher, der Beauftragte und Stellvertreter Gottes, dem dieser wie einem Freund begegnete. Geistliche und weltliche Gewalt lagen vereint in seinen Händen. Hätte er gar noch einen Nachfolger ernannt, so wäre – wie Baruch Spinoza bemerkt – bereits in der Frühzeit eine Monarchie etabliert gewesen.37 Da er jedoch darauf verzichtete, hielt er zunächst alle Möglichkeiten offen und hinterließ „seinen Nachfolgern die Regierung so . . ., daß sie weder eine Volksregierung noch eine Aristokratie oder eine Monarchie heißen konnte, sondern nur eine Theokratie“ (S. 257). Über deren konkrete Gestalt sind sich die Erforscher des Alten Testaments nicht einig. Während Thomas Hobbes (Lev., Kap. 40) darauf insistiert, daß auch in der Folgezeit spirituale und temporale Gewalt vereint gewesen seien – nämlich in den Händen 36 „Ihr macht’s zu viel“, sprach die Versammlung zu Moses und Aaron (4. Mose 16, 3). „Denn die ganze Gemeine ist überall heilig, und der Herr ist unter ihnen; warum erhebt ihr euch über die Gemeine des Herrn?“ – Moses aber wandte sich zunächst an die um Korah versammelten Leviten und antwortete ihnen, sie sollten mit ihren eigenen Privilegien zufrieden sein (Vers 9). Der Ablehnung seiner Herrschaftsansprüche durch die anderen Mitglieder der Gemeine (Vers 13) begegnete er durch die Selbstrechtfertigung vor dem Herrn, er habe ihnen keinen Esel genommen und „ihrer keinem nie kein Leid gethan“ (Vers 15). [Die damit erhobene Selbstanklage mag der Übersetzung Luthers geschuldet sein.] 37 Zur Verfassung und Verwaltung des Reiches vgl. B. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 17. Kap., bes. S. 255 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. Spinoza entwickelt hier – wie im ganzen Traktat – eine stillschweigende Kritik am Leviathan des Thomas Hobbes (Kap. 40). Zum Verhältnis beider Denker vgl. Studia Spinozana 3: Spinoza and Hobbes (1987).

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der Söhne und Nachkommen Aarons –, betont Spinoza zu Recht ihre Trennung. Nach Mosis Tod habe niemand mehr alle Befugnisse des Oberbefehlshabers besessen, ehe unter Saul die Theokratie tatsächlich durch eine Monarchie abgelöst wurde (S. 263). Mosis Nachfolger seien zu Verwaltern, nicht zu Herrschern bestellt worden (S. 259). Gott selbst blieb der oberste Richter, er allein wählte – bei Bedarf – einen Oberbefehlshaber des Heeres. Zum Regierungspalast sollte der zu erbauende Tempel werden (S. 263). Um den Machtmißbrauch der Gesetzesausleger wie der Heerführer und Stammeshäuptlinge zu verhindern – oder wenigstens einzuschränken –, wurde eine erste Form der Gewaltenteilung verordnet und institutionalisiert: Das Recht der Gottesbefragung und der Gesetzesinterpretation wurde ausschließlich den Leviten übertragen, die ihrerseits keinen Zugang zu den Regierungsämtern und keinen eigenen Grundbesitz haben durften, weshalb sie von den anderen Stämmen abhängig waren und von ihnen unterhalten werden mußten (4. Mose 1.–4.). Die oberste Befehlsgewalt des Heeres hingegen lag in den Händen der Oberhäupter der anderen Stämme, die nach Mosis Tod Josua zu ihrem Anführer wählten, aber keinen Nachfolger für ihn ernannten und nach der Eroberung Kanaans das Amt des obersten Heerführers wieder abschafften, um zur alten Stammesordnung zurückzukehren. Das Amt des Hohenpriesters war erblich und ging von Aaron auf seinen Sohn Eleasar und von diesem schließlich auf Pinehas über. Die Macht des Amtsinhabers aber blieb beschränkt. Er durfte nur auf Befragung des Feldherrn oder des höchsten Rates die Gesetze auslegen und die Antworten Gottes verkünden. Die Stammeshäupter befehligten auf seinen Rat ihre Heeresabteilungen, gründeten Städte und befestigten sie, setzten Richter in ihnen ein und organisierten entsprechend die Geschäfte des Kriegs und des Friedens (S. 261). Die entscheidende Bewährungsprobe für die vereinigten Stämme bildete die Eroberung Kanaans. Sie wurde mit Bravour bestanden: „Unter Moses Stellvertreter und nunmehrigem Nachfolger Josua überziehen die Israeliten etwa 31 kanaanitische Städte mit einem völkermörderischen Gemetzel, und nur einmal, infolge eines Versprechens, das Josua voreilig gegeben hat, machen sie die Bewohner einer Reihe von zusammengehörigen Städten lediglich zu Sklaven (Josua 9)“.38 Während die Gemeine deshalb gegen ihre Obersten murrte (Josua 9, 18), machte Josua die Gibeoniter aufgrund seines Schwurs „zu Holzhauern und Wasserträgern für die Gemeine und den Altar des Herrn“ (Vers 27). Die verbündeten Stämme errangen in der Folge einen Sieg nach dem anderen, gewannen Schlacht auf Schlacht, rotteten zahlreiche amoritische, kananitische, hethitische und weitere Stämme aus und verteilten ihr Land per Los unter sich (13, 6 ff.). Nachdem die Verheißung erfüllt und das Land eingenommen und verteilt war, kehrte vor-

38 J. Miles, Gott, S. 183 f. Miles hat die vielfältigen Ausdrücke, mit denen in den kanonischen Quellen die Gründlichkeit der Ausrottung bezeichnet wird, zusammengestellt (vgl. S. 184).

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erst Ruhe ein. „Und es fehlte nichts an allem Guten, das der Herr dem Hause Israel verheißen hatte. Es kam alles“ (21,45). Man hätte sich deshalb auf die innere Ordnung und die Regelung des Gemeinschaftslebens konzentrieren und die verfügbaren Energien auf die Bewirtschaftung des Landes lenken können, um so den Dreischritt jeglicher völkerrechtlichen Gründung – Nehmen, Teilen, Weiden – zu vollenden und den dreifachen Ursprungssinn des Gesetzes (Nomos) zu erfüllen.39 Nachdem die Feinde besiegt, ihr Land genommen und verteilt war, konnte man sich auf die inneren Angelegenheiten des Volkes verlegen und die weiterführenden politischen Gehalte der Bundesidee und des Theokratiegedankens zur Entfaltung bringen. Wurden die genannten Möglichkeiten in der Folgezeit realisiert? Nüchtern wird man konstatieren müssen, daß sich die alten patriarchalischgentilistischen Verhältnisse zunächst nicht geändert haben.40 Der Theokratiegedanke fand keinen Niederschlag in neuen Institutionen und Organisationen. „Der religiöse Bundesgedanke wirkt(e) sich in kriegerischer Solidarität aus, ohne durch eine noch so lose gefügte politische Bundesorganisation gestützt zu sein“ (S. 299). Die Einheit und die Herrschaftsordnung der Stämme wurde als eine natürliche empfunden, die durch den Bund zwischen Volk und Gott gefestigt, aber nicht ersetzt oder transzendiert wurde. Die demokratischen und anarchistischen Potentiale kamen in der Frühzeit nicht zur Entfaltung. Sie wurden nirgendwo ernsthaft erwogen. Auch die spätere prophetische Kritik am Königtum vermochte sie nicht zu erwecken und steigerte sich nie zu solcher Radikalität. Keiner der großen Propheten – von Elia über Amos, Hosea und Jesaja bis zu Jeremia und Hesekiel – verließ diesbezüglich den Boden der Tradition. Ihre politischen Bestrebungen und Forderungen blieben gemäßigt. Dennoch blieb die Bundesidee in der Folgezeit der entscheidende Bezugspunkt für alle Innovationsund Restaurationsbemühungen – auch über die Richterzeit hinaus. Selbst während der Königszeit war sie die zentrale Legitimationsformel der Monarchie wie Maßstab der prophetischen Kritik an ihr und der Orientierungsrahmen für die Bemühungen um Wiederherstellung einer gerechten, d. h. der guten alten Ordnung. Alle künftigen Reformbestrebungen orientierten sich an der Bundesverfassung als der gottgewollten Lebensform Israels. Durchgängig bleibt der Bundesschluß „die Form, in der sich alle religiösen Reformbewegungen, wie die Reinigung des Kultes unter Joas, die Annahme des deuteronomischen Gesetzes unter Josia, die Freilassung der Sklaven unter Zedekia, durchsetzen, und in der nachexilischen Zeit gewinnt sie noch einmal unter Nehemia entscheidende Bedeutung für die religiöse Konstituierung des Judentums“ (S. 298). In der Neuzeit schließ39

Vgl. C. Schmitt, Nehmen/Teilen/Weiden; ders., Der Nomos der Erde, S. 36 ff. Zum folgenden vgl. J. Guttmann, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, bes. S. 296 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. Guttmann selbst folgt M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 3, S. 86 ff. 40

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lich lebte die Bundesidee in gewandelter Gestalt wieder auf in der Vertragstheorie von Hobbes, Locke u. a.41 Assmanns These wäre somit dahingehend zu präzisieren, daß nur in der Idee einer direkten Theokratie, die keine Mittler oder Repräsentanten kennt, Herrschaft und Gemeinschaft auseinanderfallen.42 Nur mit ihr könnte sich die Gemeinschaft aus den Fängen der Herrschaft emanzipieren. Doch bleibt auch hier die Möglichkeit der erstgenannten Alternative: der Schritt zum Defätismus und zur „Entpolitisierung“. Indem Jahwe alle Herrschaftstitel bei sich konzentriert, liegt das Wohl und Wehe des Volkes unmittelbar in seiner Hand. Da er sich im Alten Bund verpflichtet hat, sein auserwähltes Volk sicher durch alle Gefahren zu geleiten, sofern es seinen Teil der Abmachung erfüllt, fällt ihm die Aufgabe zu, seine Kinder auf die richtigen Pfade zu lenken. Politisches Engagement wäre demnach überflüssig, müßte als Rebellion und Abfall erscheinen, die Politik könnte sich auf den Gottesdienst beschränken. Der Rest wäre Schicksal und dem Zorn und der Gnade Jahwes anheimgestellt. Eine Trennung von Religion und Politik/Herrschaft würde nicht vollzogen, das ganze Leben wäre Religion.43 Nur dann, wenn Jahwe sein Versprechen bricht und sich als ungerechter Tyrann aufspielt, der – wie im Falle Hiobs – seine ergebensten und treuesten Knechte grundlos schikaniert und martert und damit den Zusammenhang von Schuld und Sühne, Gerechtigkeit und Heil in Frage stellt, wäre die Grenze der Geduld erreicht und Widerstand und Aufruhr angesagt, der aber, wie der Ausgang des Hiobbuches zeigt, nur wenig Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Nach dem Sieg und der Landnahme zerfällt die Stammeseinheit wieder. „Die Armee Josuas spaltet sich in regionale Guerillabanden auf, die unter der Führung verschiedener Häuptlinge (,Richter‘) stehen. Es folgt ein Zustand anscheinend endloser Gefechte“. Die einstige „disziplinierte, geschlossene Invasionsarmee“ ist „zu einer Masse von Guerillabanden oder bestenfalls von Milizen entartet“.44 Neue Kriege und Bürgerkriege entflammen. Das Streben nach Machtanteil wird weiterhin mit Waffen und weniger mit Worten ausgefochten. Der Stamm Benjamin wird von den übrigen Stämmen bekriegt und beinahe vernichtet (Richter 20.). Gelegentliche Verbrüderungen und Bündnisse zwischen den Stämmen erweisen sich als instabil. Es scheint, als wären in der Zeit der Richter tatsächlich

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Vgl. W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Insofern bildet nicht die Theokratie den Gegensatz zur Repräsentation, vielmehr stellt sich im Kontext des Theokratiegedankens die Frage Herrschaft oder Gemeinschaft? Vgl. dagegen W.-D. Hartwich/A. Assmann/J. Assmann, Nachwort. In: J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 143–181; hier: S. 175 f., 178 f. 43 Daß dies bis heute für die jüdische Religion selbstverständlich ist, daß eine Trennung zwischen religiösen und profanen Lebensangelegenheiten nicht vollzogen wird, betont G. Stemberger, Jüdische Religion, S. 7 ff.: „Im jüdischen Leben ist nichts wirklich profan; alles ist religiös“ (S. 7). 44 Vgl. J. Miles, Gott, S. 185 ff. (Zitate S. 186, 187). 42

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anarchische bzw. anomische Zustände eingerissen, da weder Könige noch sonstige Oberhäupter den Zusammenhalt und den Frieden garantierten. Das Buch der Richter bilanziert die Situation in der Zeit zwischen Josua und Saul mit strengem Unterton: „ein jeglicher that, was ihm recht deuchte“ (Richter 17, 6; 21, 25). Die Bindung an die göttlichen Gebote lockerte sich. Nachdem Jahwe seinen Teil des Vertrages erfüllt hatte, schien die Sache tatsächlich abgemacht. Bereits Josua sah sich deshalb kurz vor seinem Tod gehalten, das Volk an seine Pflichten zu erinnern und potentiellen Renegaten für den Fall von Konversionen fürchterliche Strafen anzudrohen (Josua 23, 13). Die Ältesten von Israel, die Häupter, Richter und Amtsleute versicherten ihm zwar ihre Treue (24, 16), doch konnten sie den Trend der Zeit nicht wenden. Da die Alten, die noch an den großen Schlachten und Eroberungen teilgenommen hatten, allmählich starben, „kam nach ihnen ein ander Geschlecht auf, das den Herrn nicht kannte, noch die Werke, die er an Israel gethan hatte. Da thaten die Kinder Israel übel vor dem Herrn, und dieneten den Baalim, . . . und folgeten anderen Göttern nach von den Göttern der Völker, die um sie her wohneten, und beteten sie an, und erzürneten den Herrn“ (Richter 2,10–12). Wie zumeist wurde auch in dieser Zeit den Kindern Israels ihr reges Geschlechtsleben zum Verhängnis. Durch ihre Triebe, durch das unstillbare Verlangen nach sexueller Befriedigung und nach Kindern und Nachkommen geplagt, nahmen sie sich Frauen und Männer aus den benachbarten Sippen und Stämmen und bahnten so dem Synkretismus und dem Verfall der überkommenen Sitten und Bräuche den Weg. Da sie ihre Ehepartner nur selten zur Preisgabe ihres alteingelebten Glaubens überreden konnten, da die fremden Kulte ferner für sie selbst ungeahnte Glücksversprechungen und unwiderstehliche Verlockungen enthielten und folglich eine gewaltige Anziehungskraft auf sie ausstrahlten, waren Abfälle von der strengen Jahwe-Religion und Konversionen zu den weniger restriktiven Religionen der Nachbarn keine Seltenheit. Zwar führten die Vertreter des reinen Jahwismus einen leidenschaftlichen Kampf gegen den orgiastischen, „den alkohol- und insbesondere den sexualorgiastischen Charakter der Baalkulte und der durch sie beeinflußten Religiosität“,45 doch gelang es ihnen nicht, „Mischehen“ mit den Angehörigen anderer Sippen und Religionsgemeinschaften zu unterbinden. Dadurch sicherten sie einerseits das Überleben des Judentums, doch schlichen sich andererseits zwangsläufig synkretistische Elemente ins religiöse Leben, die zur Entfremdung der Jüngeren von den Bräuchen der Väter und zur Übertretung der tradierten Verhaltensvorschriften führten. Dafür wurden sie von Jahwe stets hart bestraft, in die Hände ihrer Feinde gegeben und letztendlich zum größten Teil ausgerottet. 45 M. Weber, Religionssoziologie. Bd. 3, S. 202 u. ff. Zum Kampf zwischen der monolatrischen Jahwe-allein-Bewegung und ihren synkretistischen Kontrahenten vgl. auch M. Smith, Palestinian Parties and Politics that shaped the Old Testament; M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter.

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Nachdem die oberste Befehlsgewalt aufgelöst und die einst in den Händen Josuas konzentrierte Macht in die einzelnen Stämme zurückgekehrt war, lag eine Demokratisierung des Zusammenlebens im Bereich des Möglichen. Sie wurde aber nicht in Angriff genommen. Auch in der Richterzeit wurde die erlangte Freiheit nicht zur politischen Konstitution und Selbstbestimmung genutzt. Jedenfalls schweigen die Quellen über alle denkbaren Formen des Gemeinschaftslebens, soweit sie nicht den Gottesdienst betrafen bzw. der Fortpflanzung und der Kriegführung dienten. Berichtet wird nicht von der Ingangsetzung und Institutionalisierung einer öffentlichen Willensbildung, sondern von Putschversuchen (vgl. Miles 1995, S. 186 f.) und erneuten Übertritten der Israeliten zum Kult des Baal und Astharoth (Richter 2, 13) infolge von „Mischehen“ mit den umliegenden Stämmen, die – gegen den Willen Jahwes – von der Ausrottung verschont geblieben waren (3, 5 f.). Zwar wurde die durch einen Putsch errichtete Tyrannis des Renegaten Abimelech in Sichem nach wenigen Jahren wieder zerschlagen (Richter 9.), doch begann die Nation allmählich „eine andere Religion anzunehmen. Am Ende werden sich lokal begrenzte Fälle von Abtrünnigkeit zu totaler, massenhafter Abtrünnigkeit summieren“ (Miles 1995, S. 186). Dadurch wurde das Interpretationsmonopol der Leviten und des Hohenpriesters gebrochen. Eine je individuelle oder kollektive Ergründung des göttlichen Willens und der Bestimmungen des Alten Bundes kam aber nicht in Gang, da der Vertrag mit dem alten Glauben seine verpflichtende Kraft einbüßte. Folge der Konversion zu anderen Glaubensgemeinschaften und Kulten war die weitere Schwächung und Auflösung der Einheit und die innere Destabilisierung der Stämme. Die zentrifugalen Kräfte nahmen überhand und schwächten die Identität der Israeliten und damit ineins ihre Verteidigungsfähigkeit, weshalb sie in wechselnde Abhängigkeiten und immer neue Knechtschaft gerieten, aus der sie von Zeit zu Zeit durch gottesgläubige Richter wieder herausgeführt wurden. Damit kann eine erste kurze Zwischenbilanz gezogen werden, ehe der Blick auf die Geschichte des Königtums und der Prophetie gelenkt wird. Auch nach dem Einbruch und der Festsetzung der israelitischen Stämme in Kanaan kam das Streben nach Machtanteil somit noch lange nicht zur Ruhe. Die Quellen berichten – neben den religiösen Spaltungen und den durch sie provozierten Auseinandersetzungen – von Konflikten zwischen den nomadisierenden Hirten- und den seßhaften Bauernstämmen sowie den anderen Schichten des Volkes, das sich aus heterogenen Elementen zusammensetzte.46 Festzustellen ist jedoch, daß eine politische Konstitution und Organisation entsprechend der griechischen Polis in vorexilischen Zeiten nicht entstanden ist. Das soziale Leben Israels vor der Entstehung des Königtums war und blieb eine regulierte Anarchie im Sinne Max Webers.47 In ihr griffen traditionale und charismatische Herrschaftsmomente in 46 Vgl. M. Weber, Religionssoziologie. Bd. 3., S. 27 ff., bes. S. 44 ff.; S. N. Eisenstadt, Max Webers antikes Judentum, S. 145 ff. 47 Vgl. C. Schäfer, Stadtherrschaft und Eidgenossenschaft, S. 91 ff.

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eigentümlicher Weise ineinander. Eine antike Stadtherrschaft, wie Weber sie in der Geschichte Athens und Spartas beobachtet und zum Idealtypus stilisiert hat, um sie dann auch in Israel wiederzufinden, hat es jedoch weder in der Richternoch in der Königszeit gegeben. Selbst zum Vorläufer der Polis, zur antiken „Geschlechterstadt“, 48 gab es keinerlei Entsprechungen. Die Organisationsform des israelitischen Stammesverbandes war und blieb die einer Eidgenossenschaft.49 Deren Kennzeichen war „eine Solidarität, die auf ethnischer, sprachlicher und religiöser Gemeinsamkeit beruht(e)“.50 „Eine außerhäusliche Dauergewalt fehlt innerhalb der Eidgenossenschaft. Sippenverfassung und Orientierung an gemeinsamen, das Alltagsleben regulierenden Traditionen gewähren einen lockeren Zusammenhalt und treten in Friedenszeiten an die Stelle des politischen Gemeinschaftshandelns. Außerhäusliches soziales Handeln orientiert sich am Paradigma des Nachbarschaftsverbandes“. „Der Kriegsfall . . . ist die einzige Situation, in der es zu einem politischen Gemeinschaftshandeln kommt“.51 Und dieser ließ nur wenig Raum und Zeit für eine kreative Gestaltung der Sozialbeziehungen. Er absorbierte die dafür erforderlichen Energien und entwickelte seine eigenen Gesetzmäßigkeiten und Zwänge. In Zeiten der Autonomie und Ruhe gab es demnach keine Politik. Nur in Krisenzeiten, in Zeiten der Not, der Unterdrückung und des kollektiven Leidens, erfolgte eine zeitweilige, aber vorübergehende Politisierung des Volkes, die durch die Rückbesinnung auf den Exodus und den Alten Bund animiert und beflügelt wurde. So in der Zeit der großen Richter, als charismatische Führer – Othniel, Debora und Barak, Gideon, Ehud, Jephta und Simson – die Stämme aus zum Teil langewährender und bedrückender Fremdherrschaft befreiten.52 So in der Zeit des Königtums, als die Propheten gegen die Moralverstöße und Gesetzesübertretungen der eigenen Regenten protestierten.53 So in den späteren Reformbewegungen, die zur Säuberung des Kultes und zur Kanonisierung und Verabschiedung des deuteronomischen Gesetzes führten. Man wird daher schwerlich übersehen können, daß von Zeit zu Zeit politische Bestrebungen und Aktivitäten das Geschehen prägten, doch wird man ebensowenig bestreiten können, daß die jeweiligen Politisierungsschübe stets vorübergehend waren und in der Regel zur Zementierung der alten Herrschaftsstrukturen führten.

48 Vgl. M. Weber, WuG, S. 757 ff. und oben den Anfang des Kapitels über „Philosophie und Politik in der Polis“ (II.). 49 Vgl. dazu bes. J. Guttmann, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, S. 304 ff.; C. Schäfer, Stadtherrschaft und Eidgenossenschaft, S. 97 ff. 50 A. Malamat, Charismatische Führung im Buch der Richter, S. 116. 51 C. Schäfer, Stadtherrschaft und Eidgenossenschaft, S. 93. 52 Vgl. A. Malamat, Charismatische Führung, S. 120 ff. 53 Vgl. J. Guttmann, S. 312 ff.; G. Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur, S. 17 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen: S. 234).

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Allerdings lag seinerzeit auch in Griechenland die Polis und mit ihr der Gedanke der Sittlichkeit als Ziel und Zweck des menschlichen Lebens noch in weiter Ferne. Die Herrschaft der Richter währte von ca. 1200 v. Chr. bis ins letzte Viertel des 11. Jahrhunderts, fällt demnach in jene Zeit, da in Griechenland die alten Stammesverbände zersplitterten und überall die Monarchie durch die Aristokratie abgelöst wurde. Auch dort ließ die Erfindung des Politischen noch einige Jahrhunderte auf sich warten. Während aber die Griechen das Königtum durch die Adelsherrschaft ersetzten, ging Israel den umgekehrten Weg. Die oberste Entscheidungs- und herrschaftliche Zwangsgewalt wurde (wieder) in den Händen von Alleinregenten konzentriert. Sie gelangte in die Obhut von einstigen Bandenführern, die sich in den endlosen Kriegen und Bürgerkriegen bewährt und durch gesteigerte Grausamkeit ausgezeichnet hatten.54 Neben bzw. oberhalb der patriarchalischen und richterlichen Herrschaft wurde eine Monarchie etabliert, die gegen Ende des 11. Jahrhunderts durch Saul begründet und durch seine Nachfolger David (ca. 1006–966) und Salomo (ca. 966–926) fortgesetzt wurde. Sie sollte auch die Spaltung des geeinten Reiches überdauern und im Nordreich bis zur Eroberung Israels durch die Assyrer (722 v. Chr.), im Südreich bis zur Zerstörung Jerusalems und zur Unterwerfung Judas durch die Babylonier (587 v. Chr.) Bestand haben. Der Hof des Königs wurde in der Folge anstelle des Tempels zum Regierungspalast und zum zentralen Versammlungsort. Die Freiräume zur lokalen Selbstverwaltung wurden dadurch weiter eingeschränkt. c) Die Zeit der Könige und Propheten Solange der loyale und gerechte Samuel oberster Richter war, lebten die Israeliten in relativer Zufriedenheit. Als er aber alt ward und seine Söhne Joel und Abia zu Richtern über Israel ernannte, nahm das Unheil seinen Lauf. Denn seine Söhne „wandelten nicht in seinem Wege, sondern neigeten sich zum Geiz, und nahmen Geschenke, und beugeten das Recht“ (1. Samuel 8, 1–3). Deshalb versammelten sich die Ältesten in Israel, protestierten gegen die korrupten Richter und verlangten von Samuel die Einsetzung eines Königs nach dem Vorbild der Heiden (Vers 5). Obgleich Jahwe meinte, sie hätten damit ihn selbst verworfen und als König abgesetzt (Vers 7), akzeptierte er den Willen des Volkes und befahl Samuel, den jungen Saul zum Fürsten und König zu salben, damit er sein Volk aus der Hand der Philister erlöse (9, 16; 10.). Zwar lehnten „etliche lose Leute“ diese Ernennung und Erhebung ab, da sie den jungen Schönling verachteten und an seinem Erfolg zweifelten (10, 27), doch wurden sie von ihm und sei54 Zu Recht betont J. Miles (Gott, S. 196), daß David jahrelang Anführer einer besonders brutalen Räuberbande war, „die dem Philister Achisch von Gat ergeben war, welcher die Brutalität von Davids Angriffen gegen sein eigenes Volk bewunderte (es war Davids Gewohnheit, alle Bewohner einer Stadt, die er überfiel, niederzumachen).“ Vgl. dazu 1. Samuel 27, 8 ff.; 29, 5.

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nem Sohn Jonathan bald eines Besseren belehrt. Beide waren nämlich überaus erfolgreich im Krieg gegen die Feinde rings umher (14, 47 ff.). Dennoch blieb die Frage akut, ob und wie sich eine weltliche Monarchie mit dem Gedanken der Gottesherrschaft verträgt. Die Zweifel an ihrer Vereinbarkeit und Verträglichkeit sollten während der gesamten Königszeit nicht wieder verstummen.55 Obgleich Jahwe selbst – wie mancher seiner Chronisten und Interpreten – zunächst der Ansicht war, die Einsetzung eines irdischen Königs stehe prinzipiell im Widerspruch zum Alten Bund und verletzte seine Bestimmungen, ließ er sich auf das Experiment ein und arrangierte sich mit den neuen Regenten. Er überwand seine anfänglichen Skrupel und seine Furcht, die Könige würden seine eigenen Rechte und Kompetenzen beschneiden, und lernte mit der Zeit, daß auch eine von ihm kontrollierte Monarchie durchaus in der Lage war, seine Pläne und Vorstellungen zu realisieren. An sich lassen sich beide Prinzipien und Formen problemlos synthetisieren und miteinander versöhnen. Es muß sich bei der Einsetzung und Krönung von Königen nicht um die Ersetzung der Theokratie durch eine neue Form der Regierung handeln. Sie kann auch als bloßer Formwandel derselben verstanden werden, als Wechsel des göttlichen Stellvertreters sowie als Modifikation seiner Stellung im Rahmen der repräsentativen Theokratie. Saul und seine Nachfolger wollten doch nichts anderes tun, als den Willen Gottes zu exekutieren, soweit er mit ihrem und dem Wohl des Volkes koinzidierte. Ihr Ziel war Gerechtigkeit und die Verwirklichung des Bundesgedankens. Ihre Autorität und königliche Majestät blieb zunächst begrenzt und unterstand den Anweisungen des Herrn, die gewöhnlich von den Propheten übermittelt und erst von David (2. Samuel 5, 19–25) und Salomo (1. Könige 9, 2 ff.) gelegentlich selbst ergründet wurden.56 Anstatt zum Nebenbuhler und Kontrahenten Gottes zu werden, konnten sich die Könige folglich auch als willige Instrumente und Repräsentanten und als ausgezeichnete Vollstrecker seines Willens erweisen. Trotzdem konnte oder wollte Jahwe anfangs seine Eifersucht und seinen Zorn nicht beherrschen. Er forderte bedingungslosen Gehorsam und stellte vor allem den ersten König auf harte Bewährungsproben. Saul bekam keine reelle Chance, seine Herrschaft zu stabilisieren und eine dauerhafte Dynastie zu begründen. Der Zeitpunkt seines Amtsantritts ist nicht bekannt, die Dauer seiner Regentschaft daher unter Althistorikern umstritten. Manche Standardwerke und Überblicksdarstellungen verlegen sie in die Zeit zwi55

Vgl. F. Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum. Zu Sauls Zeiten erschien der Anspruch des Königs auf einen direkten Zugang zu Gott noch als blasphemisch. Als er einmal unter einem „Prophetenhaufen“ weissagte (1. Samuel 10, 10), wunderten sich alle, die ihn von früher kannten, murmelten untereinander und prägten den Satz, der nach dem Zeugnis der Bibel alsbald zum Sprichwort wurde: „Ist Saul auch unter den Propheten?“ (10, 11 f.; cf. 19, 24). 56

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schen 1010–1006 v. Chr. bzw. 1012–1004 v. Chr.57 Dagegen rechnen andere Forscher mit einer längeren Dauer und datieren sie – mit Vorbehalten, aber mit größerer Wahrscheinlichkeit – in die beiden Jahrzehnte zwischen 1025–1006/5 v. Chr.58 Als einer der Gründe seines baldigen Untergangs wird Sauls Zerwürfnis mit der von Samuel geleiteten prophetischen Bewegung und die allmähliche Entfremdung zwischen ihm und den Priestern seines Tempels in Nob vermutet, die dazu führte, daß er durch den Edomiter Doeg fünfundachtzig Priester erschlagen ließ (1. Samuel 22, 18). Die von ihm installierte Regierungsform war „eine ganz patriarchalische . . ., wie sie nur denkbar ist, wenn sich Saul im wesentlichen auf den militärischen Oberbefehl beschränkt und die innere Verwaltung, einschließlich der Rechtspflege und des Kultus weiterhin den Stämmen überlassen hat“ (Eißfeldt 1967, S. 140). Als Mittler zwischen ihm und Jahwe fungierte seinerzeit Samuel, der laut Bibel zum Teil recht eigenwillige und schwer einsehbare Forderungen zu überbringen und im Falle der Mißachtung schwere Strafen zu verkünden hatte. So forderte der Herr Zebaoth, der König solle hinziehn und die Amalekiter schlagen und verbannen „mit allem, das sie haben. Schone ihrer nicht: sondern töte beide, Mann und Weib, Kinder und Säuglinge, Ochsen und Schafe, Kamele und Esel“ (1. Samuel 15, 3). Da Saul jedoch den Auftrag nicht ganz pflichtgemäß ausführte und nach dem tödlichen Gemetzel die Herden seiner Feinde nicht allesamt vernichtete, sondern die guten Stücke mit ins eigene Lager führte, bereute es der Herr, ihn zum König gemacht zu haben (15, 11). Er entriß ihm das Königreich Israel und übergab es seinem Nächsten, von dem er absoluten und bedingungslosen Gehorsam erwartete (15, 28). Doch sollte er sich wieder täuschen. Auch Davids Habitus war nicht vollkommen und entsprach nicht ganz seinen Vorstellungen. Die Geschichte der Königszeit basierte insgesamt „auf dem Zusammenwirken von drei zentralen sozio-religiösen Institutionen: Königtum, Priestertum, Prophetie“.59 Das Wechselspiel zwischen diesen Kräften wurde möglich, weil die königliche Macht bei aller Herrlichkeit durch die der großen Adelsgeschlechter eingeschränkt blieb.60 Die Monarchen mußten sich gegen virtuelle und immer wieder auch gegen reelle Widersacher behaupten und von Zeit zu Zeit Aufstände gewär57 Vgl. H. Kinder/W. Hilgemann, dtv-Atlas zur Weltgeschichte. Bd. 1 (1964). München 197914, S. 37; K.-J. Matz, Wer regierte wann? Regententabellen zur Weltgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (1980). München 19922, S. 25. 58 Vgl. zum folgenden O. Eißfeldt, Syrien und Palästina vom Ausgang des 11. bis zum Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr., S. 140 f. 59 S. Talmon, Jüdische Sektenbildung in der Frühzeit der Periode des Zweiten Tempels, S. 243. 60 „Daß die Propheten in Israel trotz aller Verfolgungen gegen König und Adel auftreten können und selbst zu einem politischen Machtfaktor werden“, schreibt J. Guttmann (S. 313) im Anschluß an Max Weber, „ist nur darum möglich, weil hier die Macht zwischen König und Patriziat geteilt ist und sich immer wieder fromme Patriziergeschlechter finden, an denen sie einen Rückhalt haben“. Vgl. auch M. Weber, Religionssoziologie. Bd. 3, S. 209, 284 f., 293.

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tigen und Putschversuche niederschlagen. So mußte sich zunächst Saul gegen David und seine Räuberbande wehren (1. Samuel 18. ff.; 22, 2 ff.). Sodann fand David, als er sich gegen Saul durchgesetzt hatte, in dessen Sohn Is-Boseth seinen Rivalen und einen Gegenkönig, der über Gilead, die Asuriter, über Jesreel, Ephraim und Benjamin und schließlich zwei Jahre über ganz Israel regierte, derweil es nur Juda mit David hielt (2. Samuel 2, 8–10). Erst nach einem langen Streit zwischen dem Haus Sauls und dem Haus Davids gewann letzteres die Oberhand (3, 1). Ferner wurde David durch einen Aufstand Absaloms zeitweilig in die Flucht geschlagen, ehe er den Rebellen überwältigen konnte und durch seinen Feldhauptmann Joab töten ließ (15.–18.). Schließlich organisierte der Benjaminit Seba einen Aufruhr, der ganz Israel zeitweilig zum Abfall von David führte (20, 2). Als David dann alt und entkräftet war, erhob sich Adonia, der Sohn der Haggith, und strebte anstelle des auserwählten Salomo nach der Krone (1. Könige 1, 5 ff.). Die Königszeit erscheint demnach als eine Epoche endloser Machtkämpfe und dynastischer Streitigkeiten. Nur Salomo scheint aufgrund seiner sprichwörtlichen Weisheit und Gerechtigkeit von inneren Feinden und von Bürgerkriegen verschont geblieben zu sein, nachdem er sich erst einmal gegen Adonia durchgesetzt und sein Amt angetreten hatte. Nach seinem Tod begannen die Rivalitäten jedoch aufs Neue und die Aufstände und Erbfolgekriege nahmen kein Ende. Dennoch stabilisierte sich unter David und seinem Sohn Salomo die Monarchie, die nach und nach die wichtigsten Entscheidungsbefugnisse am königlichen Hof konzentrierte und eine effiziente Verwaltung installierte. Durch ihre Amtsleute – Befehlshaber des Heeres, Kanzler, Rentmeister, Schreiber usw. – kontrollierten die Könige Land und Leute (2. Samuel 8, 15–18; 20, 23–26). Salomo nutzte den von seinem Vater ererbten Regierungsapparat und baute ihn noch weiter aus, indem er neue Ministerämter einführte (1. Könige 4, 1–19) und die Herrschaftsstrukturen und Verwaltungsformen der benachbarten Großreiche adaptierte.61 Die Spannungen zwischen Israel und Jerusalem blieben während seiner rund vierzigjährigen Herrschaft latent, das geeinte Königreich erblühte. Es sicherte sich seine Unabhängigkeit von den Nachbarn und gewann selbst die Gestalt und den Charakter eines Großreiches, das sich mit den umliegenden Imperien messen konnte. Doch nicht nur die Regierungs- und Verwaltungsämter, sondern auch die Priesterstellen wurden alsbald von den Regenten besetzt (1. Könige 2,35), so daß die gesamte Gesetzgebung und Rechtsprechung allmählich in ihre Hände kam.62 Die alte Gewaltenteilung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment wurde dadurch wieder aufgehoben, die Könige emanzipierten sich aus der 61 Zu Davids Reichsverwaltung und Salomos Reformen vgl. O. Eißfeldt, Syrien und Palästina, S. 149, 154 ff. 62 Laut 2. Samuel 8, 18 hatte bereits David seine Söhne zu Priestern gemacht. 1. Chronika 18, 17 urteilt vorsichtiger und nennt sie stattdessen „die ersten zur Hand des Königs“. Allerdings machte David alsbald „Ordnungen unter den Kindern Levi“

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Bevormundung durch die Priester und stellten sich über das göttliche Gesetz, das sie nun selbst auslegten und nach Belieben erweiterten und änderten. Die Nachfolger Salomos setzten diese Machtakkumulation und Kompetenzkonzentration fort und stellten die Präponderanz der weltlichen Herrschaft auf Dauer.63 Die Priester blieben abhängig von ihnen und wurden alsbald in die Zwistigkeiten der streitenden Reiche hineingezogen. Da sie als Gegengewicht zur königlichen Zentralgewalt entfielen, traten als dialektischer Antipart in der Folgezeit nur die Propheten in Erscheinung. Folgt man den biblischen Erzählungen, so scheiterte die Monarchie im geeinten Israel und Juda am ungezügelten Geschlechtsleben vor allem der Regenten. Nur seinem Charisma dürfte es David zu verdanken gehabt haben, daß sein Ehebruch und die von ihm begangene Blutschande (2. Samuel 11.) nicht zu seiner Vernichtung führten. Sein Nachfolger indes wurde für sein ausschweifendes Triebleben zur Rechenschaft gezogen. Darüber berichtet das 1. Buch der Könige: „Aber der König Salomo liebete viel ausländische Weiber, die Tochter Pharaos und moabitische, ammonitische, edomitische, sidonische und hethitische“ (1. Könige 11, 1). „Und er hatte sieben hundert Weiber zu Frauen und drei hundert Kebsweiber; und seine Weiber neigeten sein Herz“ (Vers 3). Nicht die Polygamie an sich war verwerflich, aber Salomo gestattete es seinen Frauen und Weibern, ihren eigenen Glauben zu bewahren und ihre alten Götter zu verehren. Er baute ihnen sogar Höhen und Altäre, damit sie ihren Gottesdienst ungestört verrichten konnten. Deshalb beschloß Jahwe den Untergang seines Königreiches. Doch nicht von ihm, erst von seinem Sohn nahm er die Macht und Herrlichkeit (11, 12 ff.), um sie zu mindern und zu teilen und die Regierungsgeschäfte künftig in die Hände zweier rivalisierender Könige zu legen. Als Salomo schließlich starb und sein Sohn Rehabeam die Nachfolge antrat, fielen zehn Stämme von ihm ab und wählten Jerobeam zum König (12, 1 ff.), so daß die Davididen künftig nur noch in Juda regierten, während Israel unabhängig blieb. Die Folgen sind bekannt und müssen hier nicht im einzelnen nacherzählt und erörtert werden. Ums Jahr 926 v. Chr. zerfiel das einige Königreich und spaltete sich ins Nordreich Israel und ins Südreich Juda. Während Salomo trotz seiner (1. Chronika 23, 6) und bestimmte die Leviten zum Teil zu Tempelvorstehern, zum Teil zu Amtsleuten und Richtern (Vers 4). 63 Spinoza kommentiert diese Entwicklung folgendermaßen: „Die ersten Könige, aus gewöhnlichen Bürgern erwählt, waren mit der Würde zufrieden, zu der sie emporgestiegen waren. Nachdem aber ihre Söhne durch das Erbfolgerecht zur Herrschaft gelangt waren, begannen diese nach und nach alles zu ändern, um das ganze Recht der Regierung allein in die Hand zu bekommen, von dem ihnen der größte Teil noch fehlte, solange das Recht der Gesetze nicht von ihnen abhing, sondern vom Hohepriester, der die Gesetze im Heiligtum bewahrte und sie dem Volke auslegte. Dadurch waren sie sozusagen Untertanen der Gesetze, die sie von Rechts wegen weder abschaffen noch denen sie neue von gleicher Autorität hinzufügen konnten . . .“ (Theologisch-politischer Traktat, S. 273 f.).

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Toleranz und Freizügigkeit die Monolatrie gefördert und den Jahwekult befestigt hatte, flammten unter seinen Nachfolgern die alten Streitigkeiten wieder auf. Die fremden Kulte entfalteten erneut eine große Anziehungskraft und fanden wieder stärkeren Zulauf, weshalb die Verfechter des reinen Jahwismus ihren Kampf gegen den Synkretismus forcierten. Sogar der alte Götzendienst erlebte eine Renaissance. Bereits Jerobeam, der direkte Nachfolger Salomos in Israel und Kontrahent seines Sohnes Rehabeam von Juda, erneuerte ihn und kehrte Jahwe den Rücken. Er „machte zwei güldene Kälber“, baute ihnen „ein Haus der Höhen, und machte Priester aus allem Volk, die nicht von den Kindern Levi waren“ (1. Könige 12, 28–31). Selbst durch die Weissagungen und Mahnungen eines alten Propheten ließ er sich nicht davon abbringen, „sondern machte wieder Priester der Höhen aus allem Volk. Zu wem er Lust hatte, des Hand füllte er, und der ward Priester der Höhen“ (13, 33). Deshalb flohen die Jahwe-Priester und die Leviten aus ganz Israel nach Juda zu Rehabeam, um sich unter seinen Schutz zu begeben (2. Chronika 11, 13 ff.). Doch auch in Juda wurden andere Götter verehrt und „Höhen, Säulen und Ascherabilder auf allen hohen Hügeln und unter allen grünen Bäumen“ gebaut (1. Könige 14, 23). Und es war Krieg zwischen beiden Reichen, solange die beiden Könige lebten (1. Könige 14, 30; 15, 6). Auch unter ihren ersten Nachfolgern wurde der Streit nicht beigelegt (15, 16; 15, 32). Vielmehr verhärtete sich die Rivalität. Erst ein halbes Jahrhundert nach der Reichsteilung begruben die beiden Teilreiche ihr Kriegsbeil und näherten sich aufgrund der Bedrohung durch die Aramäer einander an.64 Während aber in Juda die Dynastie der Davididen bis zum Ende des Reiches fortgeführt wurde, gelang es in Israel nicht, eine Erbmonarchie zu institutionalisieren und eine geregelte Nachfolge zu organisieren. Die Krone war zumeist hart umkämpft, die oberste Entscheidungs- und herrschaftliche Zwangsgewalt geriet in immer neue Hände. Aufstände und gewaltsame Thronwechsel waren die Regel.65 Nur Omri (ca. 878–871 v. Chr.) und Jehu (845–818 v. Chr.) konnten Dynastien begründen, die mehrere Generationen überdauerten, wobei sich diejenige Omris vier, die Jehus zehn Jahrzehnte auf dem Thron behaupten konnte (Eißfeldt 1967, S. 162, 169 ff.). Doch brachte auch diese Phase der Kontinuität keine innere Eintracht und Ruhe. Sie führte stattdessen zur Verrohung der Sitten und zu sozialen Spannungen infolge der Ausschweifung der Machthaber und der Verelendung des Volkes. Die Einführung und Verehrung ausländischer Gottheiten durch die Nachfolger Omris rief den Protest des Propheten Elia auf den Plan, der im Namen des reinen Jahwismus gegen die Omriden kämpfte (1. Könige 17. ff.). Er ließ durch Ahab und seinen Hofmeister Obadja alle 450 Propheten Baals ergreifen, führte sie hinab an den Bach Kison „und schlachtete sie daselbst“ (1. Könige 18, 40). Die Verschwendungssucht der Oberen und die Aus64 65

Vgl. O. Eißfeldt, S. 169 ff.; S. Herrmann, Israel, S. 175 ff. Vgl. dazu insgesamt 1. Könige, 15. ff., 2. Könige und 2. Chronika 13. ff.

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beutung und Erniedrigung des Volkes durch die Erben Jehus motivierte sodann den Widerstand von Amos und Hosea, die den baldigen Untergang Israels verkündeten.66 Das Nordreich wurde schließlich ca. 722 v. Chr. von den Assyrern erobert, die Bevölkerung deportiert und in alle Winde zerstreut, soweit sie sich nicht mit den Neusiedlern, den Samariten, vermischte. Das Südreich wurde 587 v. Chr. vom babylonischen König Nebukadnezar II. unterworfen, Jerusalem wurde zerstört, die Oberschichten wurden für achtundvierzig Jahre in die babylonische Gefangenschaft geführt, die Unterschichten hingegen zu Frondiensten gezwungen, sofern sie nicht das Land verließen und in die Diaspora gingen (vgl. 2. Könige 25.). Die geschichtlichen Ereignisse der Königszeit kreisen – soweit sie in der Bibel greifbar werden – allesamt um die Kette Untreue, Verrat und Fall, um das Motiv der tragischen Verstrickung, um Schuld und Sühne, um die Trias Gesetz – Gesetzesübertretung – Strafe. Im Mittelpunkt des Denkens und Handelns stand erneut die Erinnerung an den Alten Bund und seine illokutionären Bindekräfte,67 an die mit ihm verbundenen Versprechungen und Verpflichtungen, die von den Königen und ihren Amtleuten sowie von den mächtigen Familienoberhäuptern und Aristokraten gelegentlich ignoriert oder vernachlässigt wurden. Die Propheten nutzten ihre Chance zur selbständigen Interpretation des Inhalts der Vertragsbestimmungen und legten diese zumeist im Sinne des niederen Volkes aus. Angeprangert wurden königliche Ungerechtigkeit, aristokratische Habgier und ungerechtfertigte Übergriffe der Richter und Beamten.68 Im Zentrum der prophetischen Kritik stand die Anklage des Volkes und seiner Oberen wegen Ausschweifungen und „Hurerei“, Sittenverfall und Mißachtung des monotheistischen Ausschließlichkeitsgebotes sowie die Verkündigung des nahen Untergangs. Empörung, Reue und Buße wurden gefordert, ein Neubeginn für den Fall der Umkehr in Aussicht gestellt. Der baldige Auftritt eines Messias wurde verkündet, eines Richters und Retters aus dem Geschlecht Davids, der die Stämme aus der Knechtschaft erlösen, von ihrer Zwietracht befreien und in ein wiedervereinigtes Königreich versammeln sollte, um schließlich alle Völker im irdischen Gottesreich zu vereinen und für alle Zeiten zu befrieden.69 Doch das göttliche Gericht wurde zumeist gnadenlos vollstreckt, der erhoffte Erlöser ließ auf sich warten. 66

Vgl. bes. Hosea 4.–7.; Amos 4., 6. u. 9. Die Erinnerung an den Alten und die Hoffnung auf einen Neuen Bund war so übermächtig, daß Jesaja ihrer alsbald überdrüssig wurde und die Bevölkerung ermahnte: „Ihr sollt nicht sagen: Bund. Dies Volk redet von nichts, denn von Bund“ (Jesaja 8, 12). 68 Vgl. etwa Jesaja 1, 21 ff.; 59, 3 f., 14; Jeremia 5, 4 f., 31, 12.; Amos 2, 6 ff., 4. u. 6.; Hesekiel 22, 6 ff., 34.; Micha 3. Zur Entwicklung der Prophetie und ihrer Kritik an den sozialen Verhältnissen vgl. auch K. Koch, Die Propheten. Bd. 2 19882; M. Clauss, Gesellschaft und Staat in Juda und Israel. 69 Zur Idee des Messias und zu den messianischen Stellen bei den Propheten vgl. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Kap. XIII u. XIV, S. 276–343. 67

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Durch den prophetischen Appell ans menschliche Gewissen, durch die Aufrichtung neuer moralischer Forderungen und ihre Internalisierung wurde ein neuer und entscheidender Akt des Zivilisationsprozesses eingeleitet. Ein bislang einmaliges und weltgeschichtlich überaus bedeutsames Geschehen wurde in Gang gebracht, das alle früheren Bemühungen und Muster übertrumpfen und in den Schatten stellen sollte. Ein neues Kapitel der Anthropogenese wurde aufgeschlagen, dessen Folgen noch heute deutlich zu spüren sind: Es begann die Genesis des schlechten Gewissens und der sozialen Angst.70 Mit der Aktualisierung und Verschärfung der Vorschriften und Gebote, mit der Ausweitung der Tabus und Verbote wuchs die Gefahr der Schuldverstrickung und damit die Drohung des göttlichen Zorns. Durch ihren Eifer und ihre Wirkung wurde die Prophetie zur Urheberin oder Geburtshelferin der menschlichen Psychologie. Mit ihr erst begann die Entstehung und die Erkundung der menschlichen Seele.71 Denn mit der von ihr erstrebten und bewirkten „Verinnerlichung des Menschen“, der Verdrängung und Umlenkung seiner Instinkte, Triebe und Leidenschaften ins Innere, „wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ,Seele‘ nennt“.72 Maximen einer asketischen Moral entstanden, Ideale des Menschseins wurden entworfen, hehre Menschenbilder aufgerichtet, denen die Lebenden nacheifern sollten, deren Realisierung aber schwierig oder unmöglich war. Eine zwangsneurotische Atmosphäre entstand. Die Gottesfürchtigen wurden aufgefordert, ihre natürlichen Anlagen und Begierden zu unterdrücken, sich selbst zu transzendieren und andere Menschen zu werden. Alle Grundlagen der damaligen Gesellschaft wurden in Frage gestellt und verworfen, die Neuerschaffung der Welt und ein Neubeginn der Geschichte wurde in Aussicht gestellt. Die Prophetie ist deshalb nicht nur Ausdruck und Reflex pathologischer gesellschaftlicher Zustände und Reaktion auf die sozialen und politischen Wirren ihrer Zeit, sie erweist sich in ihrem Wirken und Wollen vielmehr selbst als eine pathogene Erscheinung, da sie die ohnehin verbreiteten Zukunftsängste und die allgemeine Verunsicherung der Menschen schürte. Sie wurde zum Katalysator und Verstärker des Unbehagens, der virulenten Ohnmachtsgefühle und der grassierenden Sinn- und Orientierungskrise – sowohl Verkünder als auch Moment, Symbol wie Grund der Agonie. In ihr äußert sich – wie Jack Miles bemerkt – die Hybris von Psychopathen, da sich ihre einzelnen Repräsentanten stets als Mund Gottes verstanden. Ihr Auftritt und ihr Bestreben erscheint dem Biographen Gottes insgesamt als „der kontrollierte Wahnsinn“, wobei die drei großen Propheten Jesaja, Jeremia und Hese70 Vgl. dazu S. Freud, Abriß der Psychoanalyse, S. 9 ff., 63 ff.; ders., Die Zukunft einer Illusion; ders., Zwangshandlungen und Religionsübungen. In ders., Der Mann Moses, 7–14. 71 In früheren Zeiten war es Gott vorbehalten, das menschliche Herz zu erkunden. Noch Samuel wurde von ihm daran erinnert, daß er diese Gabe nicht besitze: „Ein Mensch siehet, was vor Augen ist, der Herr aber siehet das Herz an“ (1. Samuel 16, 7). 72 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 321 ff.

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kiel „die manische, die depressive und die psychotische Artikulation der prophetischen Botschaft“ verkörpern.73 Welche politischen Vorstellungen und Innovationen haben die Propheten hervorgebracht? Wie Shmuel N. Eisenstadt betont, waren sie „weit mehr als nur religiöse Visionäre. Ihnen ging es letztlich um den Aufbau einer besonderen religiöspolitischen Gesellschaftsordnung“.74 Deren Gestalt wird im zitierten Text jedoch nicht mal in Umrissen sichtbar. Auch hier bleibt der insinuierte Politikbegriff suggestiv, schwammig und ungeklärt. Insgesamt wird man die Zielsetzung und Stoßrichtung der Prophetie wohl eher als konservativ oder restaurativ bezeichnen müssen. „Die Propheten versuchen, ein Bild der Tradition zu erarbeiten, das auch für die eigenen Zeitgenossen Bedeutung hat und sich mit ihrer Erfahrung verbinden kann“.75 Sie möchten die gute alte Ordnung wiedererrichten, die der SinaiBund gefestigt hatte, die aber durch die königliche Machtkonzentration in Frage gestellt und dann durch die Neuordnung des Reiches unter David gänzlich zerstört worden war. Die alte Geschlechterordnung war durch eine neuartige Provinzialverfassung ersetzt oder überwölbt worden. An die Stelle der ethnisch-tribalistischen waren „territoriale“ Prinzipien der Reichsverwaltung getreten. Eine neue Beamten- und Offiziersaristokratie war entstanden, unter der die ärmere Bevölkerung arg zu leiden hatte. Dagegen richtete sich der Protest der Propheten, die zur alten Einteilung des Volkes in Familien, Sippen und Stämme zurückstrebten.76 Zwar waren sie – wie Max Weber betont – zumeist „mitten hineingerissen in einen Strudel von Parteigegensätzen und Interessenkonflikten“,77 die im Kontext der Verteidigungskämpfe gegen die assyrische, die ägyptische und die babylonische 73 J. Miles, Gott, S. 232. „Ruhige, vernünftige, maßvolle Versionen der Prophetie gibt es praktisch nicht (. . .) Das Klischee, daß der Wahnsinnige denkt, er sei Gott, kommt für diese wahnsinnigen Propheten der Wahrheit näher als für alle anderen Autoren in der gesamten Weltliteratur. Die Propheten ,spielen‘ die alten Themen der israelitischen Geschichte und Theologie in einer wahnsinnigen und gehetzten neuen Form“ (ebd.). Miles folgert daraus, daß nicht nur die Nation, sondern auch Gott selbst seinerzeit eine „Krise“ in seinem Leben durchmacht (S. 230, 237), „daß sich Gott in einer Zwickmühle befindet“ (S. 236), daß er „in einem Kampf auf Leben und Tod steht, in dem Kampf darum, sich in der Verschmelzung zusammenzuhalten“, um die Explosion seiner multiplen Persönlichkeit und das Auseinanderfallen seiner unterschiedlichen Charaktere zu verhindern (S. 231). 74 S. N. Eisenstadt, Max Webers antikes Judentum, S. 156. In Abwehr von Ernest Renans These vom „politischen Prophetentum“ hatte André Neher einst das direkte Gegenteil festgestellt: „Im Prophetentum war die Politik niemals Ursache oder Beweggrund, sondern lediglich Anlaß“. Vgl. A. Neher, Amos, S. 157 [zitiert nach der zustimmenden Zitation von F. Raphaël, Die Juden als Gastvolk im Werk Max Webers, S. 239]. 75 M. Walzer, Der Prophet als Gesellschaftskritiker. In ders., Kritik und Gemeinsinn, 81–108; hier: S. 97. 76 Vgl. R. Bultmann, Das Urchristentum, S. 48. 77 Vgl. M. Weber, Religionssoziologie. Bd. 3, S. 281 ff.; hier: S. 287. Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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Großmacht aufbrachen, doch blieben ihre „realpolitischen“ Vorschläge mehr als problematisch: So hat Jeremia „unablässig die Unterwerfung unter die Macht Nebukadnezars gepredigt bis zu einem Verhalten, welches wir heute Landesverrat nennen würden“ (S. 288); und Jesajas Mahnung zum Ausharren gegen die Angriffe Sanheribs „schlug jeder realpolitischen Wahrscheinlichkeit ins Gesicht“ (S. 289). Weber kommt deshalb nach einer gründlichen Prüfung des prophetischen Schrifttums zu dem ernüchternden Schluß, daß die vorexilischen Propheten – von Elia über Amos und Hosea bis zu Jesaja und Jeremia – „zwar der Art ihres Wirkens nach objektiv politische, und zwar vor allem weltpolitische, Demagogen und Publizisten waren, aber subjektiv nicht politische Parteigänger. Sie waren überhaupt nicht primär an politischen Interessen orientiert“ (S. 288 f.). Dennoch ist mit der Prophetie etwas ganz Neues entstanden, das für die mögliche Gestaltung des Politischen überaus bedeutsam war. Ihr Resultat war die Radikalisierung der Pflichtenethik sowie die Verschärfung und Fixierung und die schließliche Kanonisierung und Verabschiedung des mosaischen Gesetzes, des Pentateuch, als Thora. Dadurch wurden der Politik restringierende Bedingungen und Grenzen geschaffen, deren Überwindung schwierig wurde. Der einstige Vergeltungs- und Rachegedanke („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) wurde konkretisiert und spezifiziert in der Idee der Gerechtigkeit, die in der Ausdifferenzierung und schriftlichen Fixierung des Gesetzes kulminierte. Die Zeit der Könige und Propheten ist somit in ihrem Ergebnis die Zeit der Aufrichtung einer neuen moralischen und rechtlichen Instanz. Wie schon erwähnt, wurde gegen Ende des 7. Jahrhunderts unter König Josia das Deuteronomium aufgefunden (2. Könige 22, 8; 2. Chronika 34, 15), das zur Umgestaltung des religiösen Lebens diente. Der Tempel wurde gesäubert, die anderen Heiligtümer wurden zerstört. Die monolatrische Jahwe-allein-Bewegung hatte einen ersten Sieg gegen ihre synkretistische Opposition errungen.78 Der Monotheismus des eifersüchtigen Gottes hatte sich durchgesetzt. Die Toleranz gegen andere Götter und Kulte endete. Mit dem Rechtsbewußtsein änderte sich die ethische Orientierung. Das schlechte Gewissen wurde zum Signum der Epoche. Es wurde geformt und genährt von den Propheten, die – wie im Streit zwischen Amos und dem Priester Amazja – darauf abzielten, „Erinnerung, Wiedererkennen, Empörung, Reue hervorzurufen“.79 Sie wollten das Schuldbewußtsein der Menschen wecken und stärken. Resultat der Mißachtung oder Übertretung der aus dem Sinaibund resultierenden Pflichten war stets eine geharnischte Strafpredigt und in der Folge eine weitere Verschärfung des Gesetzes, das in der nachexilischen Zeit unter Esra und Nehemia kanonisiert wurde und seine endgültige Fassung erhielt. Mittler der Verschärfung wa-

78 Vgl. M. Smith, Palestinian Parties; J. Assmann, Die Katastrophe des Vergessens, S. 348 f. 79 M. Walzer, Der Prophet als Gesellschaftskritiker, S. 89.

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ren in der Zeit der Königreiche die Propheten, ihre Vollstrecker und Profiteure aber waren in der Folgezeit die Priester.80 Im potentiellen Widerspruch zum entstehenden Nomismus stand der von den Propheten begründete Messianismus, die von ihnen geweckte und sich alsbald verbreitende Hoffnung auf einen Erlöser aus dem Geschlecht Davids, der die beiden Teilreiche wiedervereinen, die sozialen und religiösen Wirren beenden und schließlich die ganze Menschheit in Frieden und Eintracht zu einer gottesgläubigen und gesetzestreuen Oikumene zusammenführen sollte.81 Nach dem göttlichen Strafgericht sollte der Alte Bund erneuert werden, der kommende Messias sollte ein für allemal Ordnung schaffen und für ewige Ruhe sorgen – und so den letzten Willen Gottes vollstrecken. Diese Vorstellung eröffnete ganz neue Perspektiven – sowohl für die Theorie wie für die Praxis. Sie barg einen Sprengsatz und konnte zu einer radikalen Umgestaltung des Denkens und Handelns führen, da sie eine neuartige Erfahrung, eine bislang unbekannte Sicht des menschlichen Lebens und damit eine andere Gestaltung des Gemeinschaftslebens ermöglichte. Beide Aspekte gehören unmittelbar zusammen, müssen im folgenden aber analytisch getrennt und gesondert betrachtet werden. Mit dem Messianismus als Kulminationspunkt des Monotheismus entstand das geschichtliche Denken, das den alten Griechen fremd bleiben sollte. Nicht nur die zurückliegenden Geschehnisse wurden zu einer kohärenten Ereigniskette gefügt und als sinnvolle und sinnstiftende Entwicklung betrachtet, sondern der Blick richtete sich nunmehr auch nach vorne. Die Gegenwart erschien nun als ein bloßes Durchgangsstadium auf dem Weg in die künftige Zeit. Auf diesen Durchbruch und Perspektivenwechsel hat Hermann Cohen aufmerksam gemacht, der zugleich die prinzipielle Differenz zwischen messianischer Diesseits- und eschatologischer Jenseitshoffnung betonte: „Alle Völker verlegen das goldene Zeitalter in die Vergangenheit, in die Urzeit; das jüdische Volk allein erhofft die Entwicklung der Menschheit von der Zukunft“.82 Die Erwartungen richteten sich aber nicht auf das Leben nach dem Tode und auf das Ende aller Dinge, sondern auf das irdische Endgeschick, auf ein besseres Leben in dieser Welt, die sich nach ihrem Fall und Untergang erneuern und restabilisieren sollte. Die Kluft zwischen prophetischer Diesseitserwartung und apokalyptischer Jenseitsspekulation hat Cohen zu einer scharfen Abgrenzung des Messianismus von der Eschatologie veranlaßt, deren kontradiktorische Stellung und gegenläufige Wirkung er akzentuierte.83 Dagegen hat Jacob Taubes zu zeigen versucht, daß der Messianismus 80 Vgl. J. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte; F. Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. II., S. 1161–1235; bes. 25. ff. (S. 1185 ff.). 81 Vgl. dazu auch H. G. Kippenberg, Das Gentilcharisma der Davididen in der jüdischen, frühchristlichen und gnostischen Religionsgeschichte Palästinas, S. 130 ff. 82 H. Cohen, Religion der Vernunft, S. 337. 83 Vgl. H. Cohen, S. 57, 336 ff., 357 ff., 505 f. Den Gegensatz zwischen der prophetischen Diesseits- und ihrer späteren Sublimierung zur Jenseitshoffnung betont auch

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Teil der Eschatologie und in ihr aufgehoben ist: „Das Eschaton ist das Einst im doppelten Sinn: das Einst der Schöpfung: Axiologie, und das Einst der Erlösung: Teleologie“.84 Das Interesse des prophetischen Messianismus konzentrierte sich jedoch ausnahmslos auf den zweiten Aspekt, auf die Neugründung der Gemeinde, in der die alten Heilserwartungen ihre Erfüllung finden sollten. Darin liegt seine entscheidende Neuerung. Der Sinn und Zweck des Lebens wurde nun nicht mehr in der Vergangenheit und Gegenwart und auch nicht in seinem faktischen Ende gesucht, sondern in der Zukunft, in einer ganz anderen und besseren, einer nahe bevorstehenden Welt, die für die Leiden und Entbehrungen in der Vergangenheit sowie im Hier und Heute entschädigen würde. Die Zeit wurde so anstelle des Raums zur eigentlichen Sphäre der Erfahrung und Erwartung. Nicht auf die Jetztzeit, sondern auf den kommenden Äon richtete sich das Hoffen und Bangen. Man wartete auf den kommenden Messias und übte sich in Geduld oder war bestrebt, seine Ankunft zu beschleunigen. Alles würde sich ändern und verbessern, wenn erst das momentane Jammertal durchlaufen war. Ein sinnerfülltes und glückliches Leben war in der Gegenwart nicht möglich. Dazu mußten erst die Hindernisse abgetragen und die Grundlagen für ein neues Menschentum geschaffen werden. Ganz anders das Selbstverständnis der Griechen, die nur selten – und wenn, dann stets mit Skepsis – in die Zukunft blickten und von ihr keinerlei Fortschritt und Verbesserung, sondern allenfalls Niedergang und Verfall erwarteten. Ihr Lebenssinn sollte sich in der Jetztzeit erfüllen, ihre Hoffnungen und Bestrebungen richteten sich nicht auf kommende Zeiten, sondern auf das dialektische Spiel der Kommunikation und Interaktion auf der agora.85 Mit der messianischen Umorientierung, mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit und der Konzentration der Energien auf den Eintritt und die mögliche Gestaltung der Zukunft entstand zugleich die Idee einer künftigen Weltgeschichte, die Vorstellung von der Zusammenführung und Versöhnung der Völker und der Verschmelzung der vielen „nationalen“ Geschichten zu einer einheitlichen Menschheitsgeschichte im Singular. Auch dieser Gedanke blieb den Griechen unbekannt. Für sie bildeten die einzelnen Geschehnisse keine sinnvolle Abfolge von Ereigniszusammenhängen, keine Bruchstücke, die sich zu einer ein- und ganzheitlichen Entwicklung der Hellenen, geschweige denn der Menschheit zuE. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Bd. 2, S. 580. Bloch erblickt in der Prophetie den Durchbruch der „diesseitigen Utopie“. 84 J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 12. Max Weber (WuG, S. 315) sprach deshalb von „messianischen Eschatologien“. 85 Zum Unterschied zwischen jüdisch-christlichem und griechischem Geschichtsverständnis vgl. neben H. Cohen (S. 291 ff., 305 ff.) auch R. Bultmann, Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum. In: L. Reinisch (Hg.), Der Sinn der Geschichte. München 19673, 50–65; H. U. v. Balthasar, Vom Sinn der Geschichte in der Bibel. Ebd., 117–131; K. Löwith, Der Mensch inmitten der Geschichte, bes. S. 115 ff., 223 ff., 305 ff., 339 ff.

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sammenfügen (werden), sondern ein jeweils in sich abgeschlossenes und im ganzen gesehen ein kontingentes Geschehen. Die von den Propheten stimulierte Idee einer künftigen Weltgeschichte und die von ihnen geweckte Fortschrittserwartung und Zukunftshoffnung fanden ihren Niederschlag und ihre Zuspitzung im radikalen Chiliasmus der Apokalyptik und wurden später vom Christentum aufgegriffen und zu einer systematischen Geschichtstheologie ausgestaltet. Von dort aus sind sie schließlich in die säkulare Geschichtsphilosophie der Neuzeit eingeflossen,86 die lange Zeit den Erwartungshorizont und Erfahrungsraum der Moderne aufspannte,87 die aber heute allseits kritisiert und verabschiedet wird.88 Die von der Prophetie eröffnete geschichtstheologische Perspektive ermöglichte eine neue Orientierung im menschlichen Handeln. Sie versprach eine Belohnung für das tugendhafte und gottgerechte Leben und die Versöhnung für erfahrenes Unrecht nach dem jüngsten Gericht. Das menschliche Selbstverständnis änderte sich. Die Anhänger des Messianismus definierten sich ferner nicht nur durch ihren Bezug auf den transzendenten Gott, sondern auch im Hinblick auf das irdische Endgeschick. Die Gegenwart wurde als bloßes Durchgangsstadium betrachtet, als Vorstufe oder Etappe zum Gottesreich, in dem alle Grenzen beseitigt, die Konflikte und Kriege der Völker beendet und alle Menschen in einem weltumspannenden, „multinationalen“ Reich verbunden sein sollten.89 Mit dem Vordringen des Messianismus wurde zugleich die im alten Theokratiegedanken angelegte Spannung wieder akut. Die lange Zeit vergessenen und stillgestellten Potentiale wurden reaktiviert. Die von der messianischen Hoffnung Ergriffenen sahen sich erneut vor die Wahl einer alternativen Verwirklichung der Bundesidee und der Ausgestaltung der Theokratie gestellt. Die Erwartung des bevorstehenden Gottesreichs konnte im Falle ihrer Aktualisierung einerseits zum Fatalismus und zur völligen Gleichgültigkeit gegen die gegenwärtige Welt führen. Sie konnte aber andererseits die (Re-)Politisierung der Bevölkerung bewirken und den Widerstand des einfachen Volkes gegen die Obrigkeit schüren. Die Bibelforscher und Experten der jüdischen Religionsgeschichte sind sich hinsichtlich der tatsächlichen Wirkung des Messianismus nicht einig. Während 86 Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen; J. Taubes, Abendländische Eschatologie. 87 Vgl. dazu R. Koselleck, Kritik und Krise, S. 105 ff.; ders., Vergangene Zukunft, bes. S. 17 ff., 315 ff., 349 ff.; J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 9 ff.; E. Angehrn, Geschichtsphilosophie; A. Steil, Krisen-Semantik. 88 Vgl. dazu den folgenden Exkurs über „Prophetie und moderne Geschichtsphilosophie“ (S. 231 ff.). 89 Wie J. Miles (Gott, S. 247) betont, war die Idee eines weltumspannenden Reiches zuerst in Assur entstanden, die Vorstellung eines integrierten, multinationalen Reiches, in dem alle Grenzen beseitigt sind. Sie wurde dann von den späteren Hegemonen, den Nachfolgern der Assyrer, wiederbelebt und verwirklicht. „Die Assyrer selbst wurden besiegt, aber ihr Reichsmodell lebte in einer nahöstlichen Ökumene fort, über die der Reihe nach Babylonier, Perser und Griechen herrschten. Wichtiger noch, die Idee eines Weltreichs ging, nachdem sie einmal geboren war, nie wieder zugrunde.“

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Gershom Scholem – stellvertretend für viele – die Auffassung vertrat, er habe in Richtung der erstgenannten Alternative gewirkt und den Ausstieg aus der Geschichte und Politik motiviert und legitimiert, hat sein einstiger Schüler Jacob Taubes heftig widersprochen und die Gegenthese formuliert. Für Scholem geriet das irdische Leben mit dem Vordringen des Messianismus insgesamt unter eschatologischen Vorbehalt. Es sei zusehends als bloßes Provisorium betrachtet worden, während sich die Hoffnungen auf ein vom Messias herbeigeführtes baldiges Ende der Geschichte richteten.90 Für Taubes hingegen muß der Messianismus nicht zwingend zum passiven Warten und Hoffen führen, er kann im Gegenteil die antagonistischen Kräfte bündeln und die Weltablehnung zur revolutionären Aktion steigern. Erst seine Stillstellung in der späteren rabbinischen Tradition habe zum Rückzug aus der Geschichte geführt. Im direkten Gegensatz zu Scholem kommt Taubes zu dem Schluß: „Es stimmt einfach nicht, daß die messianische Phantasie und die Gestaltung der geschichtlichen Wirklichkeit an entgegengesetzten Polen stehen (. . .) Der Rückzug aus der Geschichte ist vielmehr die rabbinische Position, der Standpunkt, der sich gegen jede messianische Laienbewegung stellte und jede messianische Entladung a priori mit dem Stigma des ,Pseudo-Messianischen‘ versah“.91 Der Streit der Exegeten kann nicht a priori geschlichtet oder entschieden werden, sondern nur durch historisch-empirische Forschung. Die Wahrheit wird wohl irgendwo zwischen beiden Extremen zu finden sein. Vielleicht haben aber auch beide recht. Möglich wurden nämlich wieder beide Haltungen. Der Messianismus hat die uralte Spannung und die politische Alternative wiederhergestellt, die der Alte Bund eröffnet hatte. Prinzipiell standen nun wieder alle Wege offen. Möglich wurden gegensätzliche Entscheidungen. Wie schon der alte, so konnte auch der vom Messianismus erneuerte Bundes- und Theokratiegedanke in beide Richtungen wirken. Er konnte zur Entpolitisierung und zur resignierten Abwendung von der Geschichte und Gegenwart führen oder aber den politischen Elan des Volkes stimulieren. Erneut stellte sich die alte Frage, wer direkten Zugang zu Gott, d. h. das Recht zur Auslegung des göttlichen Willens und damit die Entscheidungskompetenz in die Hände bekam. Wieder hieß die entscheidende Antithese „Theokratie von oben versus Theokratie von unten“ bzw. „Theologie der Herrschaft“ versus „Theologie der Gemeinschaft“.92 Nicht erst im Christentum, sondern bereits im Judentum stellte sich „das unvermeidliche Quis interpretabi90 Vgl. G. Scholem, The Messianic Ideas in Judaism. Ähnlich bereits M. Weber, Religionssoziologie. Bd. 3, S. 336 ff. und J. Guttmann, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, S. 325 f. 91 J. Taubes, Der Messianismus und sein Preis (1983). In ders., Vom Kult zur Kultur, 43–49; hier: S. 49. Vgl. ders., Nachman Krochmal und der moderne Historismus (1963). Ebd., 68–84; bes. S. 72, 77 f. 92 Vgl. J. Taubes/N. Bolz, Vorwort. In: Taubes (Hg.), Theokratie, S. 5–7; hier: S. 6; W.-D. Hartwich/A. Assmann/J. Assmann, Nachwort. In: J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 143–181; hier: S. 179.

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tur? und das unaufhörliche Quis judicabit?“,93 d. h. die moralisch anspruchsvolle Entscheidung, was wahres Judentum, welches der wirkliche Wille Gottes und wie er zu erkennen ist. Solange der Messianismus noch nicht durch die Priester adaptiert und stillgestellt, solange die Interpretationskompetenz noch nicht von ihnen monopolisiert war, konnte sich die erfahrene Enttäuschung und die aufgestaute Wut des Volkes tatsächlich im Widerstand gegen die Obrigkeit und in revolutionären Aktionen entladen. Allerdings schweigt die Bibel von eventuellen Volkserhebungen, die von den Propheten selbst noch in der Königszeit angestachelt worden wären. Dafür berichtet sie von zahlreichen Aufständen und Schismen in der nachexilischen Zeit, die sich gegen die sich verfestigende Priesterherrschaft wandten und von ihr provoziert wurden. Bevor diese aber zum Thema werden, soll kurz das Fortleben des Messianismus in der modernen Geschichtsphilosophie und deren Schicksal erörtert werden. d) Exkurs: Prophetie und moderne Geschichtsphilosophie Der von den Propheten inspirierte Messianismus fand – wie schon erwähnt – seine Zuspitzung im radikalen Chiliasmus der Apokalyptik (von Daniel bis Johannes) und wurde reaktiviert vom Urchristentum. Er lebte nach der Verfestigung der Kirche in einzelnen Sekten fort und fand eine rasante Erneuerung in der Geschichtstheologie Joachims von Fiore und der Spiritualen sowie in der späteren Revolutionstheologie Thomas Müntzers. Von dort aus floß er schließlich – in profaner und entsakralisierter Gestalt – in die moderne Geschichtsphilosophie ein, kann folglich als deren Vorläufer oder Ursprung betrachtet, diese entsprechend als Palimpsest gelesen werden. Nicht die Gnosis,94 sondern der Prophetismus und der apokalyptische Chiliasmus bildet demnach die Grundlage des modernen Weltverständnisses und die Signatur nicht der Neuzeit im ganzen, sondern jener Epoche, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa formiert. Die (säkularisierte) Gnosis hingegen wird sich eher als dessen Testamentsvollstreckerin und als mögliche Erbin der Weltreligionen erweisen.95 Der Blick auf die Wirkungsgeschichte und auf die späten Konkretisierungsformen des messianischen Denkens kann deshalb helfen, das Verständnis der frühen Prophe93

C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 122. Vgl. hingegen E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 158 ff.; ders., Wissenschaft, Politik und Gnosis. Zur Kritik an Voegelin vgl. H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 143 ff. Zur Metakritik beider Positionen siehe W. Hübener, Neuzeit und Handlung. In ders., Zum Geist der Prämoderne, 9–24, bes. S. 12 ff. 95 Vgl. P. Sloterdijk, Die wahre Irrlehre: „Gnosis ist ein möglicher Name für die Zukunft dessen, was an den Religionen mehr sein mag als Illusion“ (S. 27). Allerdings könne auch die Gnosis – als „Versprechen des ganz Anderen“ (S. 19), als Schutz des Lebens „vor der Versuchung der Anpassung an das, was kein Leben mehr wäre“ (S. 24) – zur Geschichtsphilosophie führen, denn diese entstehe „durch die täuschende Übertragung gnostischer Weg-Logiken auf den Prozeß der Weltmächte“ (S. 43). Als Beispiel dafür kann Hegels Philosophie der Weltgeschichte dienen. 94

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tie zu vertiefen. Vom Ende her fällt ein grelles Licht auf die Anfänge. Die moderne Geschichtsphilosophie kann demnach als Schlüssel zum Verständnis des Prophetismus dienen. In und mit ihr erreicht jener seinen Kulminationspunkt und zugleich sein Ende. Zwar wird es weiterhin Priester und Propheten sowie historische und utopische Spekulationen geben, doch hat sich ihre kreative Funktion zumindest vorerst erschöpft. Sie können über erfahrenes Leid und Unglück, über Entbehrungen und Versagungen in Vergangenheit und Gegenwart nicht länger hinwegtrösten. Was aber ist Geschichtsphilosophie? – Max Horkheimer beschreibt „das Wesen aller echten Geschichtsphilosophie“ folgendermaßen: „Wenn die Versuche versagen, die Gegenwart für alle glücklich zu gestalten, wenn die Utopie, in welcher der Zufall ausgelöscht ist, sich nicht verwirklichen läßt, muß eine Geschichtsphilosophie entstehen, die hinter der erfahrenen Wirrnis von Leben und Tod eine verborgene gütige Absicht zu erkennen meint, in deren Plänen das einzelne, scheinbar unbegreifliche und sinnlose Faktum seinen ganz bestimmten Stellenwert hat, ohne selbst darum zu wissen“.96 Diese Charakterisierung gilt in ihren zentralen Stücken auch für die jüdische Prophetie. Auch diese suchte nach einem Sinnzusammenhang hinter dem geschichtlichen Geschehen, nach einem göttlichen Plan, der dem Erfahrungschaos Struktur und Ordnung vermitteln, den sozialen Wirren und dem erfahrenen Unheil Signifikanz und Relevanz verleihen und die bitteren, aus sich selbst nicht zu begreifenden Widerfahrnisse rechtfertigen konnte. Hinter dem „Wimmeln von Willkür“ (Hegel) wurde eine gütige Absicht vermutet, eine „unsichtbare Hand“ (Adam Smith), die das Ganze lenkt, die den einzelnen Erscheinungen ihre Berechtigung und Notwendigkeit, ihren Sinn und ihre Stelle im Gang der Gesamtentwicklung zuweist und das irdische Geschick letztlich zum Guten wendet. Auch das erlittene Elend und Leid, selbst die unerfreulichsten Ereignisse gewannen so eine unverzichtbare Funktion für den Fortgang der Geschichte, die unaufhaltsam auf das von Gott vorherbestimmte Ziel (telos) zusteuert. Der Gedanke der Prädestination keimte auf. Nicht (nur) das individuelle Seelenheil, sondern das Schicksal und die endgültige Form der Gesellschaft als Ganzer war vorherbestimmt. Die einzelnen Schicksalsschläge erschienen als notwendige Etappen auf dem Weg zum Heil. Der Fortschrittsgedanke brach sich Bahn. Die meisten Momente, die „das Wesen aller echten Geschichtsphilosophie“ ausmachen, waren demnach ansatzweise bereits in der Prophetie versammelt. Die moderne Geschichtsphilosophie entstand im Kontext der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Zwar wurde der Begriff erst von Voltaire geprägt, doch war der erste wirkliche Geschichtsphilosoph der Neuzeit Giambattista Vico (1668–1744). Denn er hat in seinem Hauptwerk Scienza Nuova von 1744 – wie Horkheimer (a. a. O.) betont – erstmals zu zeigen versucht, „daß die Vorsehung in der mensch96

M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S. 252.

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lichen Geschichte walte und ihre Ziele durch die Handlungen der Menschen verwirkliche, ohne daß diese selbst schon ein klares Bewußtsein besäßen oder besitzen müßten“. Zwar lassen sich Vorläufer ermitteln,97 doch beginnt die Tradition der modernen Geschichtsphilosophie folglich mit Vico. Sie führt von ihm über die französische Aufklärung – Turgot (1727–1781) und Condorcet (1743–1794) – bis hin zu Kant und Fichte, Herder und Hegel sowie zu den Gründungsvätern der Soziologie (Karl Marx, Auguste Comte und Herbert Spencer).98 Auch die letzteren verbleiben im Rahmen der Geschichtsphilosophie, beginnen aber, diese in Richtung einer Theorie sozialer Evolution zu transformieren. Das Soziale wird als eigenständige Sphäre des menschlichen Lebens sichtbar gemacht, die Gesellschaft, die alle einzelnen Momente determiniert.99 Alle diese Autoren konzipieren eine einheitliche Geschichte der Menschheit, die sich – zyklisch oder linear – vom Niederen zum Höheren, vom Unentwickelten zum Entwickelten, vom undifferenzierten Homogenen zum differenzierten Heterogenen bzw. vom Schlechten zum Guten entwickelt. Sie alle werden getragen von der progressivistischen Vorstellung einer Aufwärtsbewegung der Menschheit als Ganzer, die unaufhaltsam in eine (vorher-)bestimmte Richtung voranschreitet, bis sie alle ihre Energien freigesetzt und ihre produktiven Kräfte zur Entfaltung gebracht und dadurch ihr Selbstbewußtsein gebildet, d. h. ein Wissen von sich, von ihren Fähigkeiten und Kompetenzen erlangt hat. Zwar erfolgt diese Entwicklung in einzelnen Weltregionen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit zeitlichen Abständen, aber doch zwangsläufig und mit unabwendbarer Notwendigkeit – gemäß den erkennbaren Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Im Zentrum dieses Denkens steht somit die Fortschrittsidee.100 Die Aufklärungsphilosophie ist in ihrem Kern Fortschrittsphilosophie.101 Ihr Grundaxiom ist die unendliche Perfektibilität des Menschen in der Realisierung seiner Vernunft, einer Vernunft, die sich selbst aus allen Banden und Zwängen der Tradition emanzipiert. Die Grundprämisse des geschichtsphilosophischen Denkens lautet infolgedessen: Die Geschichte besteht nicht aus isolierten Ereignissen oder aus einer kontingenten Abfolge von Ereignisketten, sie beschreibt vielmehr einen Prozeß, der einen übergreifenden bzw. ihm innewohnenden Sinn realisiert. Daraus lassen sich 97 Als Vorläufer und Grundlage des geschichtsphilosophischen Denkens thematisiert Horkheimer „die psychologische Geschichtsauffassung“ Machiavellis (S. 181 ff.), die Naturrechtstheorie von Thomas Hobbes (S. 205 ff.) sowie die frühneuzeitlichen Utopien (S. 237 ff.). 98 Vgl. den Überblick von E. Angehrn, Geschichtsphilosophie, S. 57 ff. 99 Zur Genealogie des soziologischen Denkens vgl. Arnhelm Neusüss, Niklas Luhmann oder die dritte Gründung der Gesellschaftstheorie. Zur allmählichen Emanzipation der Soziologie aus dem Rahmen der modernen Geschichtsphilosophie vgl. auch H. Korte, Einführung in die Geschichte der Soziologie. Opladen 1992, S. 16 ff. 100 Vgl. dazu R. Koselleck, Art. Fortschritt; G. Marramao, Macht und Säkularisierung, S. 82 ff. 101 Vgl. O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 14 ff.

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weitere Merkmale und konstitutive Prinzipien ableiten, die erst in ihrer Verknüpfung die neue Denkungsart als solche charakterisieren: Die Geschichtsphilosophie ist zu verstehen 1. als ein Versuch, das menschliche Zusammenleben mit seinen Regeln und Formen, Institutionen und Normen aus seinem Gewordensein zu erklären. Sie bemüht sich um eine historisch-genetische Erklärung der sozialen Erscheinungen und der gesellschaftlichen Verhältnisse im ganzen. Sie basiert 2. auf einer Weltanschauung, die davon ausgeht bzw. zum Ergebnis führt, daß es „die“ Geschichte im Singular gibt. Diese Auffassung entstand, wie wir durch Reinhart Kosellecks Untersuchungen zur „Sattelzeit“ wissen, in der Zeit zwischen 1750 und 1789. In dieser Phase erst wurden die vielen Geschichten in den Kollektivsingular Geschichte zusammengefaßt, während davor nur eine Pluralität in sich abgeschlossener und unzusammenhängender Geschichten existierte.102 Damit zusammen hängt 3. der Gedanke einer einheitlichen Weltgeschichte, die Vorstellung, daß sich die gesamte Menschheit in einer bestimmten und bestimmbaren Richtung entwickelt. Vorausgesetzt und zugrundegelegt wird ein einheitliches Handlungs- oder Referenzsubjekt (Menschheit, Gesellschaften), auf die die einzelnen Phänomene zurückgeführt werden. Die Geschichte beschreibt demzufolge einen zusammenhängenden Prozeß, an dem alle Völker partizipieren, zu dem sie ihren je spezifischen Beitrag leisten. Diese Menschheitsentwicklung hat 4. einen Motor und insbesondere ein Ziel. Sie unterliegt einem unaufhaltsamen Fortschritt, der vom Niederen zum Höheren etc. führt. Dabei durchläuft sie 5. bestimmte Stadien oder Etappen, die von allen Völkern früher oder später erreicht und wieder verlassen werden. Die richtige Erkenntnis der jeweiligen Lage wie des Ziels ermöglicht 6. gezielte Eingriffe und die bewußte Steuerung des ganzen Prozesses, so daß die Weltgeschichte an ihrem Ende planbar und machbar geworden ist. Fast alle diese Punkte, die zusammengenommen das geschichtsphilosophische Denken charakterisieren, waren bereits in der alten Prophetie ansatzweise entwikkelt. Nur die Idee der Machbarkeit, der Plan- und Steuerbarkeit der Geschichte durch bewußte menschliche Tat stand noch aus.103 Diese konnte erst im Kontext der Erfolge der neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihrer Übertragung auf die Gesellschaft aufkommen. Dennoch reproduziert sich in diesem Denken der alte Messianismus. Zwar ist das religiöse Weltbild in der Neuzeit in sich zusammengebrochen und durch das wissenschaftlich-technische ersetzt worden, doch blieb die Struktur der Erwartung in ihrer Säkularisierung erhalten. Zu konstatieren ist, daß sich im Zuge des Traditionsbruchs zwar die Form der Erwartung änderte, aber nicht das eschatologische Motiv. Dieses erfuhr vielmehr eine radikale Zu-

102

Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, bes. S. 50 ff., 130 ff., 352 ff. Zur Entstehung des technischen Verständnisses von Gesellschaft und Politik vgl. J. Habermas, Die klassische Lehre der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie; ders., Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung. 103

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spitzung, weil nunmehr der Fortschritt allein zurückblieb, ohne die göttlichen Heilsgewißheiten. Die Vorsehung wurde ersetzt durch den Fortschritt. Erwartet wurde eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen und die unaufhaltsame Perfektionierung der menschlichen Anlagen und Fertigkeiten. Die Geschichtsphilosophie läßt sich so begreifen als Versuch einer neuen Antwort auf die alte Frage der Theodizee. In und mit ihr vollzieht sich die allmähliche Soziologisierung einer ursprünglich theologischen Fragestellung. Nicht mehr Gott soll gerechtfertigt werden für die vielen Übel und das große Leid, das die Welt durchherrscht. Vielmehr sollen die innergesellschaftlichen Ursachen des Elends erkannt und durch die Antizipation des Ziels der Geschichte gerechtfertigt und in der Zukunft praktisch bewältigt und gewendet werden. Die theologische Hülle wird abgestreift, die Teleologie wird beibehalten. Das Theodizeeproblem wird geschichtlich-empirisch und soziologisch gewendet. Das geschichtsphilosophische Denken war überaus erfolg- und folgenreich und hat die Gesellschaften des Westens lange Zeit beflügelt und zu immer neuen Höhenflügen animiert. Es bildete die ideologische Grundlage für die Industrialisierung und Kapitalisierung großer Teile der Welt, den motivationalen Hintergrund für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, für die fortschreitende Naturbeherrschung und für den damit verknüpften Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde. Auf der Strecke blieben indes die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Produktions- und Lebensverhältnisse, die den Fortschritten in der Entfaltung der materiellen Produktivkräfte geopfert wurden. Anstatt einem wahrhaft befreiten und versöhnten Zustand entgegenzugehen, unterwarf sich die Menschheit ihren eigenen Produkten und geriet – vermittelt über den allgewaltigen Apparat, das Instrumentarium ihrer Naturbeherrschung – immer weiter unter die Herrschaft der Natur, die sie doch unterwerfen wollte.104 Die industrielle Gesellschaft machte sich an die Arbeit, „das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll“.105 Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Die Kritik ließ nicht allzu lange auf sich warten. Der Stern der Geschichtsphilosophie erreichte seinen Zenit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und begann bereits unmittelbar danach zu sinken und zu verblassen. Die Zweifel am Sinn und an der Haltbarkeit des aufklärerischen Progressivismus erreichten ihrerseits einen ersten Höhepunkt im (deutschen) Kulturpessimismus des späten 19. Jahrhunderts und fanden ihre prägnanteste Artikula104 105

Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. M. Weber, Gesammelte politische Schriften, S. 332.

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tion in Nietzsches Diktum von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“.106 Die genannten Grundprämissen der Geschichtsphilosophie haben sich allesamt als unhaltbare Fiktionen erwiesen. Eine unvoreingenommene Betrachtung zeigt, daß es keine einheitliche Menschheitsentwicklung gibt, daß es sich bei den konstatierten Entwicklungen und angeblichen Gesetzmäßigkeiten um die Verallgemeinerung spezifisch „abendländischer“ Erfahrungen handelt. Jüngere ethnologische Forschungen haben gezeigt, daß die sog. „primitiven Gesellschaften“ einer ganz anderen Entwicklungslogik folgen und sich dabei weniger „wild“ und „primitiv“ verhalten als ihnen von den alten Kolonialherren unterstellt und angedichtet wurde. Obgleich sich die Anomalien jedoch im Lauf der Dezennien akkumulierten und die Zweifel am Sinn der Geschichtsphilosophie mehrten, haben sich die alten heilsgeschichtlichen Erwartungen in entsakralisierter und säkularisierter Gestalt lange Zeit in zahllosen Köpfen erhalten. Allerdings schlugen sie gelegentlich in ihr Gegenteil um. An die Stelle der freudigen Hoffnung auf eine stete Verbesserung der Produktions- und Lebensverhältnisse traten immer wieder – wie auch heute – skeptische und pessimistische Vorstellungen. Untergangsstimmungen entstanden, Zukunftsängste grassierten, Sinn- und Orientierungskrisen, die provoziert und genährt wurden durch die überkommenen geschichtsphilosophischen Illusionen. Dabei wurde die Geschichtsphilosophie bereits von den Klassikern der Soziologie in Frage gestellt und dekonstruiert. Schon Georg Simmel, Max Weber und Emile Durkheim haben gezeigt, daß die Vorstellung einer einheitlichen Menschheitsgeschichte, die sich vom Niederen zum Höheren bewegt, auf einer unzulässigen Pauschalisierung okzidentaler Entwicklungen basiert. Ihre Forschungen haben deutlich gemacht, daß es die menschliche Geschichte im Singular nicht gibt. Es gibt kein einheitliches Subjekt der Geschichte, weder ein Handlungs- noch ein Referenzsubjekt der Historie, auf das die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen zurückgeführt werden können. Vielmehr zersplittert sich die Menschheit in eine Pluralität divergierender Vergesellschaftungsformen, die jeweils ihre eigene Entwicklungslogik und -dynamik entfalten, die deshalb keinen identischen Sinn realisieren und keine unilineare Geschichte haben. Es gibt ferner auch keine allgemeinen „Gesetzmäßigkeiten“, die den Gang der jeweiligen Entwicklung bestimmen. Viele Faktoren wirken zusammen und greifen in unterschiedlicher Weise ineinander. Während Durkheim und seine Schüler durch ethnologische Forschung die ganz anders gearteten Vergesellschaftungsmodi der sogenannten „Primitiven“ in den Blick rückten, haben Simmel und Weber – im Anschluß an Nietzsche – die aufklärerische Fortschrittsideologie insgesamt kritisiert, die un106 Vgl. dazu K. Löwith, Nietzsches Wiederholung der Lehre von der ewigen Wiederkehr. In ders., Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 196–205 (Anhang II); ders., Nietzsche nach sechzig Jahren. In ders., Der Mensch inmitten der Geschichte, 285–304; ders., Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges. Ebd., 49–114.

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terschiedlichen Entwicklungspfade der einzelnen Gesellschaften und Völker betont und auf den okzidentalen Sonderweg verwiesen, für den es in anderen Weltregionen keine Entsprechung gibt,107 der aber von der modernen Geschichtsphilosophie gewaltsam zum Paradigma für die gesamte Menschheit stilisiert worden ist. Zwar fand die Geschichtsphilosophie im 20. Jahrhundert ihre liberalistische und marxistische Erneuerung und Wiederbelebung in Gestalt ökonomistischtechnokratischer und revolutionstheoretischer Phantasien, doch erschöpfte sich deren utopische und praxisstimulierende Energie schon bald. Sie wurden bereits früh als schlechte Ideologie entlarvt. Aufgrund der Erfahrung von Faschismus und Stalinismus kam die frühe Frankfurter Schule schon zu Beginn der vierziger Jahre zu einer radikalen Kritik am Fortschrittsoptimismus, den die Arbeiterbewegung vom Bürgertum übernommen hatte.108 Konnte diese Kritik lange Zeit ignoriert und mit Argwohn oder gar Spott bedacht werden, so hat sich diese Ignoranz mittlerweile gerächt. Überall sind nunmehr Skepsis und Resignation an die Stelle der alten Hoffnungen und Erwartungen getreten. Die von der Aufklärung geweckten Zukunftshoffnungen sind verblaßt und in ihr Gegenteil umgeschlagen. Zurück blieb ein Sinnvakuum und die Erfahrung einer allgemeinen Enttäuschung und Ernüchterung.109 Stattdessen erleben negative Geschichtsphilosophien eine Renaissance. Verfallsgeschichtliche Spekulationen nehmen – wieder einmal – die vakante Stelle der messianischen Hoffnung ein, politische Apokalypsen, wie sie bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf seiten der „Konservativen Revolution“ entstanden und sich in den großen Katastrophen des Jahrhunderts entluden.110 Wieder einmal versehen die „Apokalyptiker der Gegenrevolution“111 die Moderne insgesamt mit dem Stigma der Halt- und Bodenlosigkeit und fordern die Rückkehr in den Horizont von Heilsgeschichte und Kosmologie.112 Erneut 107 Die Frage nach den Ursachen und Formen des okzidentalen Sonderwegs stand im Zentrum vor allem der Soziologie Max Webers, die sich bemühte, die Gründe aufzuweisen, weshalb es nur hier und nirgends sonst den modernen Rationalismus, den modernen Kapitalismus, den modernen Staat, das moderne Recht und die moderne Kultur gab. Ergebnis dieser Untersuchungen war, daß es keine einfache Antwort auf diese Frage gibt, da stets die Gesamtheit aller konstitutiven Faktoren des jeweiligen gesellschaftlichen Lebens in ihrer Komplexität und Wechselwirkung zu berücksichtigen ist. 108 Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, bes. Thesen 8–14; Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung; Adorno, Stichworte, S. 29 ff. 109 Zu den Gründen und Ursachen sowie zur möglichen Bewältigung der heute grassierenden Orientierungs- und Sinnkrise vgl. J. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates. 110 Vgl. bes. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes; C. Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen. 111 Vgl. J. Taubes, Carl Schmitt – ein Apokalyptiker der Gegenrevolution. In ders., Ad Carl Schmitt, 7–30. 112 Vgl. J. Habermas, Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf englisch. In ders., Eine Art Schadensabwicklung, 101–114; hier: S. 111.

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bilden sie die vertraute Reaktion auf Enttäuschungserfahrungen und das negative Pendant des aufklärerischen Optimismus. Doch scheint auch ihre antiutopische und gegenaufklärerische Energie mittlerweile verbraucht. Anstatt weiterhin der – optimistischen oder negativistischen – Geschichtsphilosophie anzuhängen, empfiehlt es sich, nach neuen Fundamenten zu suchen, um einen Ausweg aus den heute sichtbar werdenden geschichtlichen Engpässen zu bahnen. Der Messianismus eignet sich dazu nicht. Er war schon in seinen Anfängen außerstande, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie die sozialen Probleme und Nöte bekämpft und gelöst werden sollten. Bereits die Propheten, die ersten radikalen Geschichtsphilosophen,113 begnügten sich mit allgemeinen Horrorszenarien und mit dem Versprechen einer alsbaldigen Wiedergeburt und einer neuen Blüte des wiedervereinigten Reiches. Das vielgerühmte geschichtliche Denken hat sich insgesamt als historische Sackgasse erwiesen. Was noch vor Jahren als großer Durchbruch und als Entdeckung eines neuen Kontinents der menschlichen Erfahrung und Erkenntnis gefeiert werden konnte, wird heute zusehends als epochale Illusion und als grandioser Irrtum begriffen. Die Geschichtsphilosophie wird allseits attackiert, verhöhnt und verworfen.114 Nicht nur der – utopische oder technokratische – Glaube an die Plan- und Machbarkeit der menschlichen Geschichte, sondern auch der gleichsam harmlose Versuch, in der Retrospektive eine sinnvolle oder gar gesetzmäßige Abfolge von Ereignissen und Strukturen zu konstruieren, gilt heute als verfehlt. „Kaum jemand geht heute noch ernsthaft davon aus, daß hinter den Geschehnisabläufen und Entwicklungen der Zeiten eine einheitliche Geschichte als sinnhaltiger und sinnvermittelnder Prozeß wirksam und zugleich erkennbar sei“, bemerkte der scheidende Vorsitzende des Deutschen Historikerverbandes im Abschlußvortrag zum 41. Deutschen Historikertag im Herbst 1996 in München lapidar.115 Das einstmals wegen seiner sinnstiftenden und hoffnungspendenden Funktion gefeierte „geschichtliche Denken“ mit seiner heils- oder weltgeschichtlichen Fortschrittserwartung hat sich als eine Erkenntnisbarriere und in seinen praktischen Wirkungen als Verhängnis und als Ursache zahlreicher Katastrophen erwiesen. Sehr drastisch wurde dieser Sachver-

113 Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 178: „Innerhalb der biblischen Überlieferung waren nur die jüdischen Propheten radikale ,Geschichtsphilosophen‘, weil sie statt einer Philosophie einen unerschütterlichen Glauben an Gottes providentielle Absichten in bezug auf sein auserwähltes Volk hatten, das er für Ungehorsam bestrafte und für Gehorsam belohnte“. 114 Vgl. O. Marquard, Schwierigkeiten; ders., Apologie des Zufälligen; L. Niethammer, Posthistoire, bes. S. 154 ff. 115 Vgl. L. Gall, Anthropologie als Argument. Wo bleibt der Zusammenhang der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie? Eine theoretische Erwägung in praktischer Absicht. In: FAZ v. Fr., 27.9.1996, S. 42. Anstatt den Ausweg aus der geschichtsphilosophischen Sackgasse – wie O. Marquard (1973, 1986) und L. Gall – in der Rückkehr zur historischen Anthropologie zu suchen, wäre den Historikern und Philosophen eine eingehende Beschäftigung mit dem soziologischen Denken anzuraten.

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halt im Herbst 1995 von Robert Menasse in einer Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse formuliert:116 „Vielleicht war ,Geschichte‘ der größte historische Irrtum der Menschheit. Erst der Glaube, daß es eine Geschichte gebe, die ein sinnvoller Prozeß sei, der ein Ziel habe, das man erkennen und auf das man schließlich bewußt hinarbeiten könne, hat aus dem Kreislauf simplen biologischen und sozialen Lebens von Menschen auf diesem Planeten jene Abfolge von Greuel in immer neuer Qualität gemacht, die wir als ,Geschichte‘ studieren und gleichzeitig verdrängen.“ „Geschichte ist so oder so ein sehr zweifelhaftes Konstrukt, die Annahme, daß sie einen immanenten Sinn und ein Ziel hat, ist reiner Glaube, und daß es Techniken gibt, sinnvoll in sie einzugreifen, das ist schon religiöser Irrsinn. Alle großen Menschheitsverbrechen wurden und werden immer von geschichtsbewußten Menschen begangen, immer mit dem Gefühl, ,im Auftrag der Geschichte‘ zu handeln, und dieses Gefühl macht skrupellos . . . Wenn es einen ,Misthaufen der Geschichte‘ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.“

*** Die Propheten, die sich in der Königszeit gegen die Reichsteilung, gegen die Machtanmaßungen der königlichen Verwaltung sowie gegen Ausschweifungen und synkretistische Tendenzen in Juda und Israel wandten, konnten die Nachwirkungen und Spätfolgen ihres Tuns und Wollens natürlich noch nicht vorausahnen. Man wird ihre Leistung – wie die aller bedeutenden Denker und Aktivisten – im Kontext ihrer Zeit würdigen müssen. Dort sind ihnen wichtige Durchbrüche und Neuerungen gelungen, die kurz noch einmal zusammengefaßt werden sollen. Sie waren – wie sich zeigte – die Erfinder und Entdecker der Psychologie, Urheber der Psychogenese und erste Ergründer des menschlichen Seelenlebens. Als wichtigstes Resultat ihres Wirkens hat sich die Verschärfung der Pflichtenethik erwiesen, die schließlich zur Endredaktion des Pentateuch unter Esra und Nehemia führte. Dadurch wurde der Nomismus auf den Weg gebracht, der künftig das Denken und Handeln des jüdischen Volkes bestimmte. Er wurde zwar durch die Verkündigung des kommenden Reiches und durch die Aussicht auf die endgültige Erlösung von allen Übeln in Frage gestellt, trug aber letztlich doch den Sieg über den Messianismus davon. Nur von einzelnen häretischen Bewegungen, die den Anbruch des messianischen Zeitalters durch Gesetzesverstöße beschleunigen wollten, wurde der Nomismus von Zeit zu Zeit durchbrochen.117 Die Propheten 116 R. Menasse, „Geschichte“ – der größte historische Irrtum. Über die von Menschen betriebene Befreiung der Welt von den Menschen. In: Die Zeit v. 13.10.1995, S. 80. 117 Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik; ders., Sabbatai Zwi. Dazu J. Habermas, In der Geschichte das Andere der Geschichte aufspüren. Zu Gershom Scholems „Sabbatai Zwi“. In ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, 73–83.

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schürten einerseits das schlechte Gewissen und die soziale Angst. Sie weckten andererseits durch ihre Messiasspekulationen Hoffnungen auf ein besseres Leben. Ihr wichtigstes Anliegen war die alleinige Verehrung Jahwes und die Unterdrückung der anderen Religionen und Kulte. Ihre politische Zielsetzung indes war eher konservativ oder restaurativ. „Keiner von ihnen ist Demokrat in dem Sinne, daß er die Volksherrschaft verlangt oder das Volk verherrlichte. Sie halten es für selbstverständlich, daß das Volk der Leitung bedarf und machen den Großen nur den Mißbrauch ihrer Macht zum Vorwurf. Sie vertreten keine sozialpolitischen Programme, sondern verlangen nur Gerechtigkeit und Menschlichkeit gegenüber den Machtlosen“.118 Sie strebten zu den alten Lebens- und Herrschaftsformen zurück und prangerten die monarchische Machtkonzentration, die Verschwendungssucht der Reichen und die Ausbeutung der Armen an. Infolge ihrer antiroyalistischen Agitation und der Erhebung über die Priester und Leviten stellten sie aber virtuell das alte Spannungsverhältnis wieder her und erneuerten die im Bundes- und Theokratiegedanken angelegte Alternative zwischen Entund Repolitisierung des Volkes. Zwischen diesen Polen schwanken die späteren Geschichten des Alten Testaments. Die vom prophetischen Messianismus ohne klares Bewußtsein betriebene Wiederherstellung von Offenheit ist dann das erklärte Ziel der Apokalyptik. „Sinn der apokalyptischen Aufklärung ist es, durch Aufweis von Alternativen die Zukunft wieder zu öffnen, aus der scheinbaren Zwangsläufigkeit und Eigengesetzlichkeit der Sachzwänge zu befreien. Darauf aufmerksam zu machen, daß es mindestens zwei Optionen gibt“.119 So hat Daniel, als er gezwungen wurde, einen Traum Nebukadnezars zu deuten, den baldigen Niedergang seiner Macht und die Ablösung des güldenen babylonischen Reiches durch das eherne Reich der Meder und Perser prophezeit, dem zwei weitere eiserne Reiche folgen sollten, ehe der Gott des Himmels alle diese Königreiche verstören und zermalmen würde, um sein ewiges Reich auf Erden zu errichten (Daniel 2, 39–44). Sein eigenes „Traumgesicht“ bestärkte ihn in der Vision von vier einander ablösenden Weltreichen, denen dann das Gottesreich nachfolgen sollte (7, 17 ff.; 8, 20 ff., 11.). Die Entstehung der Danielapokalypse wird heute in die Makkabäerzeit datiert.120 Sie konnte dort als Fanal und als Aufruf zum Widerstand gegen die auswärtigen Machthaber gedeutet werden. Sie konnte der Durchbrechung der resignierten Ergebung ins Schicksal der Fremdherrschaft dienen. Bangen und Hoffen, Furcht vor dem baldigen Auftritt des Antichrist und freudige Erwartung des künftigen Heils flossen zusammen und erzeugten eine ambivalente Endzeitstimmung, die dann vor allem den Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont des Urchristentums bestimmte, aber auch noch in späteren Zeiten das christliche Weltbild 118

J. Guttmann, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, S. 319. K. Berger, Tausendjähriges Reich und himmlisches Jerusalem. Vier Anmerkungen zur Apokalypse. In: FAZ-Magazin v. Fr., 20.5.1994, 18–22; hier: S. 20. 120 Vgl. K. Koch, Das Buch Daniel. 119

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prägte. Die Danielapokalypse hat, wie Jacob Taubes im Anschluß an Paul Volz bemerkt, „allen späteren Apokalypsen als Richtschnur gedient“.121 Die Vier-Reiche-Lehre wurde zum Grunddogma des christlichen Mittelalters und beherrschte selbst noch das Staatsrechtsdenken im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.122 Nach dem Fall von Juda und Jerusalem erfolgte insgesamt der Niedergang der Prophetie.123 Sie erfuhr zwar durch Haggai, Sacharja und Maleachi ein kurzes Wiederaufleben, doch trat nun „eine neue Klasse von geistigen Führungsgestalten“ auf den Plan: die Schriftgelehrten und die Weisen. „Deren Autorität gründete in der sachkundigen Interpretation der geheiligten Tradition mit Hilfe hermeneutischer Regeln, die, anders als die Inspiration der Propheten, objektiver Nachprüfung zugänglich war“ (S. 247). „Gleichzeitig mit diesen sozialstrukturellen und religiösen Verschiebungen löste sich die vorherige geographische Geschlossenheit Israels auf. Es begann die Periode des Multizentrismus; Vielfalt trat an die Stelle von Uniformität; Heterogenität trat an die Stelle von Homogenität“ (ebd.). Sowohl in Babylon als auch in Ägypten entstanden neue Zentren des Judentums, in denen sich spezifische Verständnisse des biblischen Monotheismus und damit neue Lebensformen herausbildeten, die sich untereinander wie von denen der Daheimgebliebenen unterschieden: „die verschiedenen jüdischen Gemeinschaften zeigen dem Beobachter ganz unterschiedliche soziale und spirituelle, kurz, existentielle Profile“ (S. 250). Die Daheimgebliebenen brauchten an den eingewöhnten Sitten und Bräuchen nicht viel zu ändern. Während aber die babylonische Gemeinde „eine inbrünstige messianische Hoffnung auf eine unmittelbare Rückkehr in ihre Heimat“ hegte (S. 248), fand sich die ägyptische Judenheit mit ihrer Diaspora-Existenz ab und paßte sich den Lebensformen der Umgebung an. Als letzter großer Prophet trat in der Zeit des babylonischen Exils (586–538 v. Chr.) Hesekiel hervor, der das Schicksal des Einzelmenschen aus der Schuldverstrickung der Geschlechter, Sippen und Stämme befreite. Mit seinem Aufruf zur „Umkehr“, zur „Reue“ und „Buße“ (Hesekiel, 18.) wird, wie Jacob Taubes im Anschluß an Hermann Cohen bemerkt, der mythische Nexus von Schuld und Sühne gebrochen, der durch die Kette der Geschlechter bislang die Klammer bildete, „die in Stämmen und Völkern die Logik des Geschehens zwischen Göttern und Menschen zusammenhält“. Der mythische Bann wird gebrochen, der Mensch 121 J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 43. Vgl. P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde. Zur Datierung und Deutung der Danielapokalypse sowie zu ihrer Fortwirkung im Christentum von Johannes, Jesus und Paulus über Augustinus bis hin zu Joachim von Fiore vgl. Taubes, S. 43 ff. 122 Vgl. G. Lübbe-Wolff, Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des Römisch-Deutschen Reichs. 123 Vgl. S. Talmon, Jüdische Sektenbildung, S. 246 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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erobert sich die Machtbefugnis, „sich selbst ein neues Herz und einen neuen Geist zu schaffen“. Erst damit wachse wirklich „an den Menschen heran, was wir seit Hesekiel ,Seele‘ nennen: sein Ich“.124 Nicht mehr die Väter und Stammesältesten, nicht mehr Könige, Propheten oder Priester geben den Ausschlag, jeder einzelne ist nun für sein Verhältnis zu Gott und damit für sein Schicksal selbst verantwortlich.125 Er emanzipiert sich aus der Sippenhaftung und aus den Fesseln der Tradition. Diese direkttheokratische, individualistisch-anarchistische Konzeption konnte zwar über die Schmach des Exils und der Fremdherrschaft hinwegtrösten und für das erfahrene Leid und die erlittenen Schmerzen entschädigen, vermochte sich aber in der nachexilischen Zeit nicht zu behaupten. Es begann stattdessen die Herrschaft der Priester und mit ihr die Institutionalisierung einer neuen Ordnung, die den politischen Elan der Gemeinde neutralisierte und absorbierte, die aber – wie sich zeigen wird – gelegentliche Ausbrüche und Rebellionen und damit erneute Politisierungsschübe provozierte. Ein wenig süffisant zwar, aber dennoch treffend, faßt Sigmund Freud das Ergebnis der Gesamtentwicklung der Prophetie wie der altisraelitisch-jüdischen Geschichte bis zum Ende des Exils zusammen, indem er das Verhalten der Israeliten mit dem Fetischismus und den ganz anders gearteten Einstellungen der sogenannten Wilden kontrastiert:126 „Das Volk Israel hatte sich für Gottes bevorzugtes Kind gehalten, und als der große Vater Unglück nach Unglück über dies sein Volk hereinbrechen ließ, wurde es nicht etwa irre an dieser Beziehung oder zweifelte an Gottes Macht und Gerechtigkeit, sondern erzeugte die Propheten, die ihm seine Sündhaftigkeit vorhielten, und schuf aus seinem Schuldbewußtsein die überstrengen Vorschriften seiner Priesterreligion. Es ist merkwürdig, wie anders sich der Primitive benimmt! Wenn er Unglück gehabt hat, gibt er nicht sich die Schuld, sondern dem Fetisch, der offenbar seine Schuldigkeit nicht getan hat, und verprügelt ihn, anstatt sich selbst zu bestrafen“.

e) Politische Bestrebungen in der nachexilischen Zeit Anno 539 v. Chr. geschah, was Daniel (2, 39; 4, 28; 5, 28) Nebukadnezar prophezeit hatte: Babylonien wurde von den Persern erobert (vgl. 6, 1 ff.). Juda wurde dadurch zur persischen Provinz. Kyros II. ermöglichte den Gefangenen die Rückkehr in ihre alte Heimat. Sein Nachfolger Artaxerxes I. erlaubte den 124 J. Taubes, Zur Konjunktur des Polytheismus. In ders., Vom Kult zur Kultur, 340– 351; hier: S. 343 f. Vgl. H. Cohen, Religion der Vernunft, bes. S. 25, 226, 327. 125 Diesen Aspekt übersieht Heinz Kittsteiner, wenn er bemerkt, die jüdische Tradition kenne das Gewissen nur als „auditives Phänomen“: „der Gott spricht, der Mensch soll hören“. Vgl. H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 20. Zu Recht weist Kittsteiner aber darauf hin, daß die „Verinnerlichung“ des Menschen, die zur Entstehung des Gewissens führt, in den frühgriechischen Quellen (Homer) keine Entsprechung findet. Vgl. ebd., S. 19. 126 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In ders., Abriß der Psychoanalyse/Das Unbehagen in der Kultur, 63–129; hier: S. 113 f.

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Wiederaufbau der zerstörten Stadtmauern Jerusalems und die Errichtung eines neuen Tempels. In der Folgezeit hat sich das Judentum nach Max Weber von einem politischen in einen rein konfessionellen Verband, d. h. in eine nicht-politische religiöse „Gemeinde“ verwandelt. Die jüdische „Gemeindereligiosität“ der nachexilischen Zeit sei gekennzeichnet durch die Vernichtung des „politischen Verbandes“ und den Fortbestand der religiösen Anhängerschaft an den Verbandsgott und seine Priester.127 Durch die Einbindung in die einander ablösenden Reiche (Persien, Ptolemäer-, Seleukidenreich, Imperium Romanum) und durch die Festigung der Priesterherrschaft im Innern der Gemeinde sei die Politik stillgestellt oder eliminiert und durch eine neuartige „Gesetzesreligiosität“ substituiert worden. Das Vertrauen auf den schützenden Arm der fremden Herrschaft sei an die Stelle der Wehrhaftigkeit der Bürgerschaft getreten. Loyalität zu den Imperatoren und zu den Gesetzen habe das politische Engagement ersetzt. Kongenial faßt Wolfgang Schluchter die Ergebnisse Webers zusammen, um sie noch einmal – im direkten Gegensatz zum Duktus der von ihm herausgegebenen Kritiken – durch seine eigenen Forschungen zu untermauern: „Durch die wachsende Priesterherrschaft, die im Laufe der Zeit sowohl die Konkurrenz der Prophetie wie die der Politik ausschaltet, wird eine rationale, von Magie freie ,religiöse Ethik des innerweltlichen Handelns‘ weiter gefördert. Nur: Dieser ethische Rationalismus bleibt der einer Gesetzesreligiosität“. „Die Dialektik von ,Gesetz‘ und prophetischer Verkündigung verschwindet und mit ihr die Dialektik von Tradition und ,Revolution‘“.128 Wie verhält es sich damit? Sind diese Diagnosen irrig und der Verblendung der protestantischen Bibel-Kritik des 19. Jahrhunderts geschuldet? – Die jüngere Forschung ist – wie schon erwähnt – gegen Webers Thesen Sturm gelaufen und hat den fortwährenden politischen Charakter des jüdischen Volkes in Palästina wie in der Diaspora betont. Sie hat darauf verwiesen, daß vor wie nach dem Bau des Zweiten Tempels Spaltungen und Sektengründungen erfolgten, die zu heftigen Spannungen und zur Politisierung der Bevölkerung führten. Bereits Baruch Spinoza hatte festgestellt, daß just im Kontext der sich verfestigenden Priesterherrschaft Schismen das Erscheinungsbild des Judentums prägten, und fand es „bemerkenswert, daß es keinerlei religiöse Sekten gab, ehe nicht die Priester im zweiten Reich die Befugnis erhielten, Entscheidungen zu treffen und die Regierungsgeschäfte zu führen, und um diese Befugnisse zu einer dauernden zu machen, das Herrscherrecht für sich in Anspruch nahmen und schließlich sogar den Königstitel begehrten“.129 Gerade in der nachexilischen Zeit gewannen demnach 127

M. Weber, WuG, S. 277; cf. 356 f., 367 ff. W. Schluchter, Altisraelitische religiöse Ethik und okzidentaler Rationalismus, S. 49, 50. 129 B. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 277. „Der Grund liegt auf der Hand“, fährt Spinoza erläuternd fort. „Im ersten Reiche konnten keine Entscheide im Namen der Hohepriester ausgehen, denn sie hatten nicht das Recht, Entscheidungen zu 128

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politische Bestrebungen breiteren Raum, erfuhr das Politische einen bislang unbekannten Aufschwung. Jüngere Untersuchungen haben diesen Eindruck bestätigt und die innerjüdischen Konflikte genauer betrachtet, die immer wieder zu heftigen Machtkämpfen und gelegentlich zu Zerreißproben führten: So hat Morton Smith gezeigt, daß nach der Rückkehr der Exilanten die alten Kämpfe zwischen der von ihnen getragenen monolatrischen Jahwe-allein-Bewegung und den bis dahin dominierenden synkretistischen Richtungen der Daheimgebliebenen neu entflammten und auf ihren Höhepunkt zutrieben.130 Frank Crüsemann hat eine Reihe überzeugender Argumente vorgetragen, die belegen, daß die persische Provinz Juda in der Zeit Esras und Nehemias „ein höchst politisches Gebilde“ war, das einerseits von heftigen inneren Konflikten erschüttert wurde und andererseits eine weitreichende Autonomie genoß und seine vielfältigen Selbstverwaltungsmöglichkeiten recht geschickt nutzte.131 Shemaryahu Talmon hat darauf verwiesen, daß unmittelbar nach dem Exil scharfe Kontroversen zwischen den Rückkehrern und den Daheimgebliebenen entflammten, die sich wechselseitig ihre Gesetzestreue absprachen: beide Gruppen machten die Thora zur Grundlage ihres Glaubens, „und jede bemühte sich, die jeweils andere an Gesetzestreue zu übertreffen“.132 Darüber hinaus hat Talmon das Samaritanische Schisma, die Abspaltung der Samarier oder Samaritaner von der Gemeinde in Jerusalem, sowie die spätere Separation der Qumran-Gemeinde analysiert.133 Günter Stemberger hat geltend gemacht, daß das spätere Rabbinat nicht, wie von Weber behauptet, ausschließlich von den Pharisäern, sondern zugleich von konkurrierenden Gruppen getragen wurde.134 John G. Gager hat aus der Pluralität der jüdischen Gruppen und Sekten der nachexilischen Zeit die allgemeine Folgerung abgeleitet, daß der von Weber bei seiner Einschätzung des Judentums zugrundegelegte jüdische Kanon und speziell der Mischna nicht das Ganze, son-

treffen, sondern nur, auf Befragen der Oberhäupter oder der Ratsversammlungen, die Antworten Gottes zu erteilen. Darum konnte sie gar nicht die Lust anwandeln, Neues anzuordnen; es konnte ihnen nur daran gelegen sein, das Gewohnte und Herkömmliche durchzuführen und aufrechtzuerhalten . . .“ (ebd.). „Wie dem auch sei, daran können wir keinesfalls zweifeln, daß die Liebedienerei der Hohepriester, ihre Fälschung der Religion und der Gesetze und die unglaubliche Vermehrung der letzteren sehr starken und häufigen Anlaß zu Zwist und Zank gegeben haben, der niemals wieder beigelegt werden konnte“ (S. 278). 130 Vgl. M. Smith, Das Judentum in Palästina während der Perserzeit; ders., Palestinian Parties and Politics that shaped the Old Testament. 131 Vgl. F. Crüsemann, Israel in der Perserzeit, S. 209 ff. (Zitat S. 211). 132 Vgl. S. Talmon, Jüdische Sektenbildung, S. 257. 133 Zum Samaritanischen Schisma vgl. S. Talmon, S. 254 ff. Zur Qumran-Gemeinde vgl. ebd., S. 261 ff. (jeweils mit zahlreichen Literaturhinweisen). 134 Vgl. G. Stemberger, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max Webers. In seiner „Geschichte der jüdischen Literatur“ (S. 28) bestätigt Stemberger hingegen, daß die rabbinische Bewegung aus der Partei der Pharisäer hervorgegangen ist. Zu Webers Sicht des Rabbinats vgl. auch A. Wasserstein, Die Hellenisierung des Frühjudentums.

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dern nur die Ansichten einer oder mehrerer Gruppen innerhalb des Judentums widerspiegelt und „in seiner vorliegenden Form eindeutig eine ideologische Konstruktion darstellt“, die eine gründlichere wissenssoziologische Analyse verlangt.135 Hans G. Kippenberg schließlich hat Webers Studie insgesamt einer kritischen Revision unterzogen und zu zeigen versucht, daß die jüdische Religion in der persischen, hellenistischen und römischen Zeit „Ansprüche auf die Bildung autonomer Bürgergemeinden“ nicht nur nicht ausschloß, sondern geradezu förderte. Fast zur selben Zeit, als in Griechenland die autonomen Poleis erblühten, seien in Palästina und in der Diaspora ähnlich geartete politische Gebilde entstanden, in denen der exklusive Monotheismus zur Legitimation der Ideen der Bürgerfreiheit und der Demokratie herangezogen wurde.136 Alle diese Argumentationen sind überzeugend und machen deutlich, daß zahlreiche Einzelbefunde Webers wie seine Gesamtsicht der nachexilischen Entwicklung problematisch und durch die neuere Forschung korrigiert worden sind. Viele seiner Einschätzungen und Bewertungen haben sich als unhaltbar erwiesen und waren dem damaligen, mittlerweile überholten Forschungsstand geschuldet.137 Zwar war Juda in der nachexilischen Zeit eingebunden in den umfassenden Herrschaftsverbund und wurde kontrolliert und ausgebeutet von der persischen Zentralgewalt.138 Dennoch konnte das jüdische Volk an den Prinzipien seiner Religion festhalten und sich so eine relative Autonomie bewahren. Eine prinzipielle Entpolitisierung hat nicht stattgefunden. Die Rivalitäten, die Kämpfe um Machtanteil oder um Beeinflussung der Machtverteilung wurden nicht ausgeschaltet. Der neue Tempel rief Trauer bei den alten Priestern, Leviten und Patriziern hervor, die noch den alten gesehen hatten (Esra 3, 12 f.). Der Bau konnte nur gegen den Widerstand der nicht-jüdischen Bevölkerung erfolgen, die zunächst mit Hand anlegen wollte, jedoch zurückgewiesen wurde und deshalb die Arbeit zu behindern suchte (4.). Auch Esra sah sich zum Kampf gegen synkretistische Neigungen, zur Unterbindung von Mischehen und zur „Aussonderung fremder Weiber aus Israel“ (9. u. 10.) genötigt. Zwar ging der Bau des Tempels ungeachtet des Spottes und des Widerstandes fort (Nehemia 4.), doch wurde Nehemia, der einstige Mundschenk des Königs (1, 11), alsbald von den Armen angeklagt, die sich gegen die schleichende Verelendung und die galoppierende Verschuldung im Lande wehrten (5.). Ferner hatte er den Nachstellungen seiner Feinde auszuweichen, die die lückenlose Schließung der Stadtmauern verhindern wollten (6.). 135

J. G. Gager, Paulus und das antike Judentum, S. 386 ff. Vgl. H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 17, 119 ff. Zur Entpolitisierungsthese und zur Kritik an Weber vgl. auch ebd., S. 22 ff., 85 ff., 218 ff., 489 ff.; ders., Agrarverhältnisse im antiken Vorderasien, S. 151 ff. 137 Zum literarischen Umfeld der „Judenbewertung“ in der Tradition der protestantischen Bibelkritik vgl. Eugéne Fleischmann, Max Weber, die Juden und das Ressentiment. In: W. Schluchter (Hg.), Max Webers Studie über das antike Judentum, 263–285; bes. S. 267 ff. 138 Vgl. F. Crüsemann, Israel in der Perserzeit, S. 210 ff.; hier: S. 211. 136

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Schließlich mußte auch er mit großem Eifer verschiedene Mißbräuche abstellen und die Einhaltung der Sabbatruhe mit Gewalt erzwingen (13.). Die Konflikte zur Zeit Esras und Nehemias kulminierten in der Kanonisierung des Pentateuch (Nehemia 8. u. 10.), der von den Persern anerkannt und abgesegnet wurde.139 Der Akt der Spezifikation und Ausdifferenzierung wie der Verabschiedung und schriftlichen Fixierung des mosaischen Gesetzes war an sich ein höchst politischer Akt. Dadurch wurden zukunftsweisende Entscheidungen getroffen, die kaum ohne Querelen und heftige Debatten herbeizuführen waren. Leider schweigen die Quellen über diese Vorgänge. Sie beschränken sich auf die Überhöhung und die Feier des Gesetzes als Objektivation des göttlichen Willens. Die neugewonnene zentrale Stellung der Thora wird deutlich in einigen späteren Psalmen (bes. Psalm 119), in denen das Gesetz als Trostspender (Vers 92), als Lustobjekt (Vers 24), als Gegenstand der Liebe (Vers 97) und der höchsten Begierde (40, 72) bejubelt wird. Wie Jack Miles zu zeigen vermag,140 legitimiert der Psalter insgesamt den neuen Geist. Er inszeniert eine „Romanze des Gesetzes“ (S. 327) und ineins damit eine „Romanze der Familie“ (S. 328). Beide verschmelzen dann in den Sprüchen zu einer einzigen Romanze (ebd.). Nach der Vollendung des Tempels und der Etablierung des Gesetzes verlagert sich das Interesse der biblischen Schriften insgesamt von den allgemeinen Angelegenheiten, von den Schlachten und den großen Weissagungen auf das persönliche und familiale Wohlergehen. Die Weisheitsschriften (Weisheit Salomos, Sirach usw.) preisen allesamt die Klugheit und Gerechtigkeit und geben Ratschläge für das richtige Verhalten, moralische Regeln und sittliche Gebote für das Alltagsleben. Sie spielen mit den Traditionen und entfalten „eine schöpferische Souveränität, frei, fremde Motive und Sprachtraditionen aufzunehmen, zu integrieren und neu zu formulieren“.141 Jahwe selbst zog sich – nach seiner Demütigung durch Hiob (vgl. Miles 1995, S. 349 ff.) – aus der Geschichte und aus den Angelegenheiten des Volkes zurück. Von ihm wurde ferner nicht mehr erwartet, daß er für das Funktionieren der rechtlichen und moralischen Ordnung sorgt (S. 335). Die Menschen waren nun auf sich selbst gestellt. Sie wurden an seiner Stelle zu den Protagonisten des Geschehens (S. 337). Er hatte sich blamiert, als er – veranlaßt durch den Satan – jegliche menschliche Nutzenerwägung aus der Moral verbannen und eine strikt antiutilitaristische, auf Altruismus und Masochismus, auf freiwilliger und bedingungsloser Knechtschaft basierende Ethik einführen und durchsetzen wollte (Hiob 1, 9 ff.). Wer wäre in der Lage, die Prinzipien einer solchen Moral zu be139 Siehe dazu auch H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 127 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen); W. Schluchter, Altisraelitische religiöse Ethik und okzidentaler Rationalismus, S. 42 ff. 140 Vgl. J. Miles, Gott, S. 315 ff. Seitenzahlen in den beiden nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 141 Vgl. D. Georgi, Das Wesen der Weisheit nach der „Weisheit Salomos“, S. 79.

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folgen und ihre Vorschriften vorbehaltlos zu erfüllen? Ohne triftigen Grund hatte sich Gott auf eine Wette mit dem Teufel eingelassen, seinen treuen Knecht Hiob auf harte Proben gestellt und grauenvoll gequält. Er hatte den Satan gewähren lassen, der Hiobs Familie ermorden ließ, ihm Haus und Hof nahm, sein Land zerstörte, seine Herden vernichtete und schließlich gar noch seinen ganzen Körper mit Schwären überzog (2, 7). Als Hiob, der sich geduldig in sein Schicksal fügte, Jahwe bat, er möge ihn von seinen Leiden erlösen, da er nicht mehr zu leben begehre (7, 16), wurde er nicht erhört. Als er endlich klagte und von Gott verlangte, er möge sein Tun und Lassen begründen und seine Gerechtigkeit demonstrieren, fand dieser keine angemessene Antwort und konnte nur auf seine Macht verweisen, die er in einer harschen und unbarmherzigen Strafpredigt durch den Hinweis auf Behemoth und Leviathan allegorisierte, auf die von ihm erschaffenen Land- und Seeungeheuer, denen keine Macht auf Erden an Kraft und Stärke ebenbürtig war.142 Damit hatte er sich selbst als amoralischen Tyrannen entlarvt, als Hort der Ungerechtigkeit und der Gewaltsamkeit. Man konnte sich ferner nicht mehr auf seine Integrität verlassen, er war zu einer unberechenbaren Größe geworden, in der das Böse und das Gute zu einer Einheit verschmolzen war (S. 376). „Hiob hat gewonnen. Der Herr hat verloren“, folgert Miles (S. 374). „Hiob hat den Herrn zum Schweigen gebracht“ (S. 379). Er trat in der Folge nicht mehr in Erscheinung, er redete und handelte nicht mehr, man sprach ferner nur noch über ihn.143 Zwar wurde mit der Verabschiedung der Thora die künftige Herrschaft der Leviten und der Hohenpriester fundiert, doch wird man den Pentateuch selbst noch nicht als eindeutige Festschreibung der Priesterherrschaft deuten können, sondern als einen Kompromiß beschreiben müssen, da er nebeneinander Rechte und Gesetze enthält, die einerseits „ausgesprochen priesterliche“, andererseits die Interessen der freien Bauernschaft schützen.144 Zwar war der Spielraum für alternative Lebensformen durch die Präzisierung der Ritual- und Sozialgesetze stark eingeschränkt worden, doch blieb das Gesetz selbst ein möglicher Gegenstand des Streites und des Interessenkonflikts. Seine Interpretation blieb prinzipiell und stets umstritten und damit möglicher Gegenstand von Politik. Die unterschied142 Die Allegorie der beiden Ungeheuer wurde in der Frühen Neuzeit von Hobbes aufgegriffen, um die absolute Gewalt des Staates und den fortdauernden Kampf zwischen Staat und Revolution (Bürgerkrieg) zu illustrieren. Vgl. Leviathan (1651); Behemoth oder Das Lange Parlament (posthum 1682). Dazu auch D. Braun, Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth. 143 Vgl. auch E. Bloch, Atheismus im Christentum, S. 148 ff. Für Bloch ist das Hiobbuch in seinem nicht-entstellten Zustand ein „Ketzerbuch“, das nur um den Preis von Streichungen und Interpolationen in den Kanon kam (S. 107). Hiobs Leiden und seine Zweifel und Fragen, die zum Ausgangspunkt der Theodizee wurden, bleiben für ihn unerledigt (S. 159 ff.). Gerade sie bilden aber, wie Miles (S. 349 ff.) betont, den sinnvollen Abschluß der alttestamentlichen Geschichte, da sie Gott zum Schweigen bringen und seinen Rückzug aus der Geschichte erzwingen. 144 Vgl. F. Crüsemann, Israel in der Perserzeit, S. 215 ff.; hier: S. 215.

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lichsten Gruppen und Sekten stritten sich in der Folge über den Inhalt, die Reichweite und die erforderliche Strenge der Anwendung und Einhaltung, d. h. über Faktizität und Geltung des Gesetzes. Allerdings wurden diese Konflikte nicht in den Kanon des Alten Testaments aufgenommen. Vielmehr verschwand jetzt „endgültig das Murren der Kinder aus dem offiziellen Text; interpoliert wurde stattdessen ein Hochgewicht von Kultur, Sühne, untertänigster Steigerung göttlicher Transzendenz“.145 Das offizielle Judentum paßte sich nun seinem Status als Minderheit in der Diaspora und als politisches Vasallentum in der Heimat an (Miles 1995, S. 439). Die Dissidenten verschwanden in der Versenkung, ihre Aktivitäten wurden verschwiegen, ihre Kritik an der „herrschenden Meinung“ verdrängt. Man wird ihren Einsatz und ihre Bedeutung nicht durch Exegese der Bibel ermitteln können, sondern nur durch sozialgeschichtliche und religionssoziologische Forschung. Zahlreiche Schismen, Faktionsbildungen und Abwanderungen bezeugen den fortdauernden politischen Charakter des nachexilischen Judentums. Anstatt von Stillstand wird man eher vom Neuerwachen oder von einer Potenzierung des politischen Engagements reden müssen. Verschiedene Gruppen und Sekten, die gegen die sich etablierende Priesterherrschaft rebellierten, sich gegen die dominanten Kräfte und ihre Interpretation stellten und eine eigene Auslegung der Thora praktizierten, erinnerten sich an den Exodus, zogen sich aus der Gemeinde zurück und organisierten ihr Gemeinschaftsleben anhand von eigenen Prinzipien. Sie machten sich zumeist eine rigorose Lesart des Gesetzes zu eigen und orientierten ihr Leben an strengen Verhaltensvorschriften und Regeln (Samaritaner, Essener, Qumran-Gemeinde). Sie entzogen sich damit zwar der „großen“ oder „weltlichen Politik“, der Organisation der Reiche, Städte und Provinzen, kümmerten sich dafür aber um so mehr um die Belange der eigenen Kommunen, die einen Ersatz für die verweigerten, von den Priestern und Aristokraten monopolisierten Partizipationsmöglichkeiten boten. Allerdings wurden die im Gedanken der direkten Theokratie angelegten „demokratischen“ Potentiale nirgends entfaltet und realisiert. Die von den WeberKritikern angesprochenen sozialen und politischen Reibungen und Konflikte führten nicht zur Institutionalisierung von öffentlich-diskursiven Willensbildungsprozessen und zur Konstituierung von Bürgerschaften, die sich im geregelten Streit über die Interessen des Gemeinwesens und die Forderungen des Gesetzes verständigten und dadurch selbstbestimmten und -verwalteten. Sie führten stattdessen zur Weltabwendung und zum gesteigerten Ritualismus und Nomozentrismus bzw. zur Etablierung von neuen oder zur Zementierung der alten Herrschaftsstrukturen.146 Sieht man von den genannten Sekten einmal ab, so wird 145

E. Bloch, Atheismus, S. 102. Man wird deshalb schwerlich das antike Judentum zum Erfinder der Demokratie, geschweige denn des liberalen Rechtsstaates erklären können. Vgl. dagegen H. Stein, 146

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man in Palästina wie in der Diaspora grosso modo doch die Verhärtung der Herrschaft der Priester und Aristokraten, der Leviten und Schriftgelehrten und schließlich dann der Hohenpriester und Rabbinen konstatieren müssen, durch die das politische Engagement des gemeinen Volkes und der einfachen Gemeindemitglieder gewöhnlich unterdrückt oder erstickt wurde. Politik und politische Ideen, wie sie im archaischen und klassischen Griechenland entwickelt und praktiziert wurden, wird man auch in der Zeit des Zweiten Tempels zumeist vergeblich suchen. Das politische Denken des Judentums blieb insgesamt rudimentär. Michael Walzer kommt deshalb – aufgrund eindringlicher, sowohl eigener als auch fremder Studien zum Alten Testament und zu den nicht aufgenommenen Zeugnissen – zu dem ernüchternden Ergebnis,147 die Religion Israels sei nicht nur grundsätzlich a-, sondern „in ihrem Ursprung wirklich antipolitisch im Wortsinne. Sie ist gegen die menschliche Tätigkeit des Miteinanderauskommens gerichtet“ (S. 121 f.). Diesen Befund bestätigt ihm auch noch die weitere Geschichte, so daß Walzer nach der Sichtung der einschlägigen Quellen und der Lektüre zahlreicher gelehrter Schriften eingestehen muß, er kenne „keinen einzigen jüdischen Schriftgelehrten – bis zur Neuzeit –, der diesen Angelegenheiten Wert beimäße“ (S. 134). Die Idee einer politischen Gemeinschaft „scheint der jüdischen Tradition unbekannt“ (S. 135). Dabei vertritt Walzer einen relativ abstrakten und ausreichend allgemeinen Politikbegriff. Unter Politik versteht er „die Bemühungen, Konflikte zu lösen, Interessen auszugleichen, Unterschieden Rechnung zu tragen, Mächte zu verteilen und zu begrenzen sowie die soziale Ordnung zu erhalten“ (S. 121). Solche Bemühungen spielen in den geheiligten Texten in der Tat nur eine untergeordnete bzw. gar keine Rolle. Sie wurden in der Regel nur von „Ketzern“, von „bösen Leuten“, von Abweichlern von der reinen Lehre unternommen. „Was die Bindung zwischen den Juden stiftet, ist einzig die aus dem Bund resultierende Verpflichtung und der Gehorsam gegenüber dem religiösen Gesetz“ (S. 135). In der israelitischen Geschichte fehlt durchgängig „die politische Versammlung, in welcher Bürger bzw. ihre Vertreter oder Repräsentanten über politische Belange beraten“ (S. 133). Stattdessen wurden traditionale Formen der Herrschaft gehegt und militärisch-kriegerische Aktivitäten gepflegt, die mit der Eroberung und Unterjochung durch die Babylonier und Perser jedoch vorerst ihr Ende fanden. Die Stelle der Politik nahmen – seit dem Exodus – spezifische Praktiken der Menschenführung ein, die eine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten geradezu verboten. Das ganze Leben der

Moses und die Offenbarung der Demokratie. Stein versteht den Bundesgedanken als Basis des „freien Individuums“ und des „Rechtsstaates“ und möchte den Geburtsort der „Demokratie“ nicht in Athen, sondern am Sinai und in den weiteren Geschichten des Alten Testaments erblicken. Die vorstehenden und nachfolgenden Analysen können zugleich als Kritik dieser Thesen gelesen werden. 147 Vgl. M. Walzer, Politik und Religion in der jüdischen Tradition. Seitenzahlen im folgenden Ansatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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einzelnen, Familien und Gruppen wurde verrechtlicht und für den alltäglichen Gottesdienst in Anspruch genommen. Im Jahr 332 v. Chr. wurde Palästina von Alexander dem Großen erobert und in die hellenistische Welt eingebunden. Im Gefolge der Diadochenkämpfe wurde es zunächst von den Ptolemäern und seit ca. 200 v. Chr. von den Seleukiden beherrscht. In der Zeit Alexanders trennten sich die Samarier oder Ephraimiten – nunmehr Samaritaner genannt – endgültig von der Gemeinde in Jerusalem und etablierten sich „als eine selbständige sozio-religiöse Einheit. Unter Ablehnung jeglicher Zugehörigkeit zum Tempel von Jerusalem errichteten sie ein Konkurrenzheiligtum auf dem Berg Garizim“ (Talmon 1985, S. 256). Sie konzentrierten sich auf die Regulierung des Alltagslebens durch die Thora und praktizierten einen extremen Nomismus. „Die rigorose Ausrichtung ausschließlich an der Tora (Pentateuch) führte zu einer gänzlich ritualistischen Religiosität, der die innere Spannung, die durch das Element der Prophetie in das Judentum hineingetragen wurde, fehlt“ (S. 259). Doch auch der Muttergemeinde war die von den Propheten erzeugte messianische Spannung abhanden gekommen. Auch sie konzentrierte sich künftig auf die Einhaltung und die Verteidigung des Gesetzes gegen seine Widersacher. Die lange „Periode der Beständigkeit“ unter den Ptolemäern „begründete das Ansehen des Pentateuch, des geschriebenen kultischen Gesetzes von Jerusalem und Gerizim“ und zugleich „das Ansehen der erblichen Würde eines Hohenpriesters“, um dessen Patenschaft sich später verschiedene Gruppen heftig stritten (Makkabäer, Pharisäer).148 Heftige politische Eruptionen gab es dann wieder im Kontext des Seleukidenreichs der Antiochen, als sich große Teile der jüdischen Gemeinde gegen die von den Machthabern betriebene Hellenisierung wehrten (vgl. 1. Makkabäer 1, 12; 2. Makkabäer 4.) und sich die Chassidim von den zum Hellenismus neigenden Priestern und Oberschichtsrepräsentanten abspalteten, um sich erneut auf die Thora zurückzuziehen,149 die dadurch eine erneute Verschärfung erfuhr. Der Streit kulminierte im Makkabäeraufstand (168 v. Chr.), der zur Dynastie der Hasmonäer und damit zur vorübergehenden Unabhängigkeit führte.150 Der gesetzestreue Mattathias zog mit seinen Söhnen in die Wüste, sammelte weitere fromme Leute um sich und führte sie in den Kampf gegen Antiochus Epiphanes (1. Makkabäer 2.). Sein Sohn Judas Makkabäus trat sein Erbe an, schlug die Heiden rings umher (2. Makkabäer 10. ff.) und sicherte durch einen Pakt mit Rom (1. Makkabäer 8.) 148

M. Smith, Das Judentum in Palästina in der hellenistischen Zeit, S. 255. Vgl. dazu M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Prägnante Überblicke bieten M. Smith, Das Judentum in Palästina in der hellenistischen Zeit, S. 256 ff. und G. Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur, S. 26 ff.; G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus, S. 129 ff. 150 Zu den Auseinandersetzungen in der Makkabäerzeit vgl. auch K. Bringmann, Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa. 149

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die Religionsfreiheit und eine relative Autonomie. Er führte den traditionellen Gottesdienst und die alten Sitten wieder ein und strafte und verbrannte die Abtrünnigen und Gottlosen im Lande (3, 5). Als er im Kampf gegen die Syrer starb (9, 18), trat sein Bruder Jonathan seine Nachfolge an. Er wurde Hoherpriester und Landpfleger (10.) und stabilisierte die neuerrichtete Herrschaft. Er erneuerte den Bund mit Rom und schrieb auch den Spartanern (12.), die später ihren Freundschaftsbund mit seinem Bruder und Nachfolger Simon bestätigten (14, 20). „Da kam das Land Juda zu Ruhe, und blieb guter Friede, solange Simon lebte. Und Simon regierte sehr wohl, und that dem Lande viel Gutes, daß sie ihn gerne zum Herrn hatten sein Leben lang“ (14, 4). „Die Ältesten saßen im Regiment unverhindert, und hielten gute Ordnung; und die Bürger besserten sich sehr an ihrer Nahrung, und schaffeten Waffen und Vorrat zum Krieg“ (14, 9). Auch in dieser Zeit brachen jedoch neue Konflikte auf, als sich mit den Sadduzäern und Pharisäern und schließlich mit den Essenern gegensätzliche Faktionen herausbildeten, die unterschiedliche Auslegungen der Thora und divergierende Vorstellungen vom Zusammenleben und der Gemeindeorganisation entwickelten.151 Die Sadduzäer kamen hauptsächlich aus der Oberschicht der Priester und Reichen und leugneten im Gegensatz zu den Pharisäern die bindende Kraft von Überlieferungen außerhalb der geschriebenen Gesetze.152 Sie waren „realpolitisch orientiert, neigten dem Hellenismus zu, dessen Siegeszug der Kampf der Makkabäer nicht hatte beenden können, lehnten jedoch Entwicklungen im religiösen Leben ab“.153 Die Pharisäer hingegen kämpften gegen die Machtkonzentration der Hasmonäer, meldeten Ansprüche auf das Amt des Hohenpriesters an und entwickelten neue Formen der Solidarität untereinander. Während die Sadduzäer das Prinzip der Willensfreiheit vertraten und das Schicksal und die göttliche Determination des menschlichen Handelns leugneten, machten die Pharisäer „alles vom Gott und dem Schicksal abhängig“ und lehrten, „daß Recht- und Unrechttun zwar größtenteils den Menschen freistehe, daß aber bei jeder Handlung auch das Schicksal mitwirke“.154 Die Essener schließlich sonderten sich vom öffentlichen Leben und vom Tempel ab und praktizierten eine rigorose Form der Gesetzesreligion, indem sie in strenger Abgeschiedenheit und strikter Askese auf das Eintreffen des Messias warteten.155 Dabei wandelte sich die Qumran-Gemeinde allmählich von einer anfänglich anarchistischen Gruppierung in einen 151

Vgl. F. Josephus, Geschichte des Judäischen Krieges, II, 8, 2 ff. (S. 158 ff.). M. Smith, Das Judentum in Palästina in der hellenistischen Zeit, S. 267. 153 G. Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur, S. 27. Vgl. ders., Pharisäer, Sadduzäer, Essener. 154 F. Josephus, Geschichte des Judäischen Krieges, II, 8, 14 (S. 164). 155 Die Literatur zu den Essenern ist seit dem Auffinden der Qumran-Rollen in den Höhlen entlang der Küste des Toten Meeres im Jahre 1947 ins Uferlose angeschwollen. Vgl. die Textausgabe von R. Eisenmann/M. Wise, Jesus und die Urchristen. Zur Interpretation vgl. etwa K. Berger, Qumran. 152

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

hypernomistischen Verband.156 Hatte der millenaristische Geist in den Gründern des Neuen Bundes eine anti-institutionelle Haltung erzeugt (S. 263), so führte die Verzögerung der Epiphanie allmählich zu einem strikten Institutionalismus. „Die einstmalige Dissidentengruppe entwickelte sich so zu einem institutionalisierten sozio-religiösen Establishment, das sehr bald die Muttergemeinde, von der sie sich getrennt hatte, an sozialer Rigidität und legalistischer Exaktheit übertraf“ (S. 268). Anno 63 v. Chr. eroberte Pompeius Jerusalem und gliederte Judäa als Teil der neugegründeten Provinz Syrien in den römischen Herrschaftsbereich ein. Auch diese Entwicklung ging nicht reibungslos vonstatten. Die Einbindung Palästinas ins Römische Reich provozierte Widerspruch und Rebellion. Neue Protest- und Widerstandsbewegungen traten auf den Plan, die im bewaffneten Aufstand der Zeloten und Sikarier ihren sinnfälligsten Ausdruck fanden. Judäa selbst konnte sich weiterhin eine relative Autonomie bewahren, zunächst noch unter den Hasmonäern, sodann unter seinem neuen König Herodes (37–4 v. Chr.). Erst infolge der Erbfolgestreitigkeiten unter den Söhnen des Herodes unterstellte es Augustus im Jahre 6 n. Chr. mit einem Prokurator an der Spitze der Provinz Syrien. In dieser Zeit trat dann als innerjüdische Reformbewegung die Jesusbewegung in Erscheinung, die wiederum neue Formen des Zusammenlebens, des Rückzugs und des Protestes erprobte und durch ihre erfolgreiche Missionstätigkeit und durch immer neue Gemeindegründungen die Ruhe und Eintracht im Imperium Romanum störte. Ihre politischen Vorstellungen werden im nachfolgenden Abschnitt zu analysieren sein. Infolge der Integration spaltete sich die jüdische Bevölkerung somit erneut in gegensätzliche Parteien. Vier unterschiedliche Haltungen oder Stellungen zu Rom wurden möglich: Die einen paßten sich der veränderten Lebenssituation an, nahmen die neue Ordnung freiwillig oder gar emphatisch an und betrachteten Rom als Instrument des göttlichen Heilsplanes (Philo von Alexandrien, Flavius Josephus). Die anderen gingen auf Distanz und zogen sich aus der Gesellschaft in abgelegene Winkel zurück, um sich die Eigenständigkeit zu bewahren und ein Leben nach dem Gesetz zu führen (Essener). Die dritten wandten sich resigniert von der offiziellen Politik ab und konzentrierten sich auf das private und religiöse Leben in den Familien und Gemeinden (Pharisäer). Die vierten schließlich leisteten offenen Widerstand und traten den neuen Machthabern mit Waffen entgegen (Zeloten). Die Provokationen und Kämpfe der letzteren erlebten ihren Höhepunkt im Jüdischen oder Judäischen Krieg (66–70 n. Chr.), den Titus mit der Eroberung und Zerstörung Jerusalems beendete.157 Damit fand die jüdische Selb-

156 Vgl. dazu S. Talmon, Jüdische Sektenbildung, S. 261 ff.; bes. S. 265. Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 157 Vgl. F. Josephus, Geschichte des Judäischen Krieges, VI, 7 ff. (S. 453 ff.).

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ständigkeit ihr Ende.158 Mit Ausnahme der Pharisäer hörten die Parteien auf zu existieren. Bis dahin aber wird man dem Judentum kaum Apolitismus attestieren können. Gerade die Pluralität und Rivalität der unterschiedlichen Gruppen und Sekten wird neben dem Ethnozentrismus und der Bindung an die Tradition von Kennern der jüdischen und römischen Geschichte verantwortlich gemacht für die Schwächung und schließliche Isolierung des Judentums im Römischen Reich: „Der Versuch, die kulturelle-religiöse Identität durch Betonung und Verschärfung des Gesetzes zu wahren, führte so gerade zum Verlust dieser Identität: Es gab nun mehrere Gruppen, die alle beanspruchten, allein das wahre Israel darzustellen“.159 „Ein lähmender Faktor der jüdischen Religion war neben den ungewöhnlich starken ethnischen Bindungen und Traditionen jedoch ihre Zerrissenheit in Sekten, vor allem in die großen Gruppen der Pharisäer, der rigorosen Verfechter des gewachsenen religiösen Rechts, der Sadduzäer, der extremen Gesetzesanhänger, zurückgezogener Gemeinschaften wie der Essener, aber auch fanatische Aktivisten wie die Zeloten. Die wiederholten jüdischen Aufstände, vor allem der Bar-Kochba-Aufstand, führten dann jedoch zu einer weitgehenden Isolierung der Juden im Imperium“.160

f) Rückblick und Schluß Damit kann der Durchgang durchs Alte Testament und durch die an Max Weber anknüpfende religionssoziologische Diskussion abgeschlossen, kann ein Fazit gezogen, können die Ergebnisse dieser Zwischenbetrachtung zum alttestamentlichen Politikdenken zusammengefaßt werden. Das antike Judentum hat in seiner langen Geschichte immer wieder neue Formen der Organisation des Zusammenlebens hervorgebracht und dadurch dem Politikdenken wichtige Impulse gegeben und bedeutende Orientierungsmuster hinterlassen. Entscheidende Neuerungen waren: 1. der Exodus als Paradigma einer emanzipatorischen oder „revolutionären Politik“; 2. der Bundesgedanke, der eine neue Solidarität unter Fremden zu stiften erlaubte; 3. die Idee der Theokratie, die einer alternativen Auslegung offenstand und dadurch Medium des geregelten Streits werden konnte; 4. die Organisation transfamilialer, sippen- und stammesübergreifender Sozialverbände und die damit verknüpfte Kreation politischer Institutionen, die der Integration der einzelnen und Gruppen und dem Erhalt des inner- und intergentilistischen Zusammenhaltes dienten: Versammlung der Familien- und Stammesoberhäupter, Ältestenrat, Wahl des obersten Heerführers und Hohenpriesters, Gewaltenteilung durch Konzentration der geistlichen Autorität bei den besitz- und machtlosen Leviten, Einsetzung von Richtern und Königen, die über die innere Ordnung zu

158 Zur weiteren Entwicklung des Judentums vgl. den Überblick von M. Brocke, Judentum. 159 G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, S. 207. 160 K. Christ, Die Römer, S. 175.

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

wachen und die Sicherheit gegen außen zu garantieren hatten; 5. der Gedanke des verheißenen Landes, der die Eroberung als kriegerische Form der Selbstbehauptung und der Gewinnung einer künftigen Heimat durch Verdrängung oder Ausrottung anderer Völker legitimieren konnte; 6. Eschatologie und Messianismus als Ursprung des Entwicklungs- und Fortschrittsgedankens; 7. die von den Propheten erzeugte neue Moral, die neuartige Erwartungen und zugleich neue Restriktionen hervorbrachte und zum Ursprung der Psychologie und des menschlichen Gewissens wurde; 8. die Orientierung am göttlichen Gesetz, das den einzelnen Verhaltens- und Erwartungssicherheit zu vermitteln vermochte; 9. neue Muster und Formen der Religion und der Menschenführung, die nicht nur das außerhäusliche Leben betrafen, sondern den ganzen Menschen in Anspruch nahmen. Alle diese Momente blieben jedoch eingebunden in den alles überwölbenden Ethnozentrismus und wurden seit der späten Königszeit und insbesondere in der Zeit des Zweiten Tempels dominiert vom alles durchdringenden Nomismus. Diese beiden Prinzipien setzten dem Politikdenken unüberwindbare Schranken. Dennoch wird man dem antiken Judentum keinen prinzipiellen Apolitismus unterstellen können, sondern eine immer wieder auflebende politische Erregung attestieren müssen. Versteht man Politik als das Streben nach Machtanteil bzw. als Freund-Feind-Unterscheidung innerhalb von oder zwischen autonomen und autokephalen Verbänden, dann war die altisraelitisch-jüdische Geschichte von ihren Anfängen bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels eine eminent politische Geschichte. Vom Auszug der Israeliten aus Ägypten über das Murren in der Wüste und die Eroberung Kanaans, von den Guerillakämpfen in der Richterzeit über die Rivalitäten und Machtkämpfe in der Königszeit bis hin zur Prophetie und zu den postprophetischen Schismen und Sektengründungen zeugen die immer neuen Protest-, Rückzugs- und Widerstandsbewegungen von einer fast durchgängigen Spannung und von gegensätzlichen Vorstellungen über die Organisation des Kultes und des Gemeinschaftslebens. Schon Moses sah in der Wüste seine religiös-politische Stellung als Alleinherrscher durch Renegaten bedroht. Die religiösen Kulte, denen die Israeliten auf der Wanderung begegneten, entfalteten eine ungeheuere Anziehungskraft und führten immer wieder zur Durchbrechung des monolatrischen Ausschließlichkeitsgebotes. Vor allem die orgiastischen Baalkulte stellten die Anhänger des jahwitischen Keuschheitskultes auf eine harte Bewährungsprobe und hielten synkretistische Neigungen wach. Doch nicht nur der Glaube und der Ritus, auch die oberste Entscheidungsgewalt war nicht selten umkämpft. Bereits in der Zeit des Exodus gab es Rebellionen gegen Moses, der zusammen mit seinem Bruder Aaron eine absolute und unumschränkte Herrschaft ausübte. Sie wurden aber zumeist gewaltsam unterdrückt. Als er den Tanz ums Goldene Kalb gewahrte, ließ Moses durch die Leviten ein Blutbad unter den Abtrünnigen anrichten. Als zweihundertundfünfzig ehrbare Männer unter der Führung von Korah, Dathan und Abiram nach Isonomie verlangten und sich gegen die Machtanballung in Händen der bei-

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den Brüder auflehnten, wurden sie von Gott mitsamt ihren Familien in die Hölle befördert (4. Mose 16.). Unter Josua wurde eine erste Form der Gewaltenteilung institutionalisiert, indem die oberste Heeresleitung von der Priesterschaft getrennt und das Recht der Gottesbefragung und der Gesetzesauslegung in die Obhut des Hohenpriesters gelegt wurde, der aber nur auf Anfrage des weltlichen Herrschers und des Ältestenrates tätig werden durfte. Nach der Landnahme zerfiel der Stämmebund wieder. Die Macht kehrte in die Hände der Patriarchen und Stammesältesten zurück. Die Stämme führten unter der Leitung von Bandenführern (Richtern) gelegentlich Kriege gegeneinander. Nur die Bedrohung durch äußere Feinde schweißte sie immer wieder zusammen. Mit Saul begann die Zeit der königlichen Machtkonzentration. Unter David und Salomo dehnte das geeinigte Israel und Juda seinen Machtbereich gewaltig aus und wurde zu einem Großreich, das sich mit den umliegenden Reichen messen konnte. Im Inneren wurde ein straffer Verwaltungsapparat institutionalisiert, die Regierungsformen der benachbarten Reiche wurden adaptiert. Ca. 926 v. Chr. zerfiel das geeinte Königreich, die beiden Teilreiche befehdeten sich und führten Kriege gegeneinander. Gegen den monarchischaristokratischen Machtmißbrauch, gegen die Verschwendungssucht der Reichen und den damit verbundenen Sittenverfall protestierten die Propheten, die das Gesetz verschärften und zum Urheber der Psychologie und des schlechten Gewissens wurden. Israel wurde ca. 722 v. Chr. von den Assyrern, Juda 587 v. Chr. durch die Babylonier erobert. Seit der babylonischen Gefangenschaft blieb Juda in den Herrschaftsbereich fremder Hegemonialmächte eingegliedert. Es wurde zu einer Provinz der aufeinanderfolgenden Großreiche. Die Entwicklung der nachexilischen Zeit wurde deshalb von Max Weber im Anschluß an Julius Wellhausen, Eduard Meyer und Friedrich Nietzsche161 als fortschreitende „Entpolitisierung“ des Volkes gedeutet. Diese Interpretation war aber zu guten Teilen der zeitbedingten Fixierung der genannten Autoren auf die neuzeitliche Gestalt des Politischen, auf die Form Staat, geschuldet, deren Vorläufer in der Antike insgesamt – und nicht nur in der altisraelitischen Geschichte – vergeblich gesucht werden. Löst man den Politikbegriff aus der Bindung an den Staat, so gewinnt man ein differenzierteres Bild. Die Provinz Juda vermochte eine relative Autonomie im Kontext der Großreiche zu bewahren und nutzte seine Spielräume zur Selbstverwaltung, wobei der Kampf um die Bewahrung der Eigenart und die spezifische Organisation des religiösen Kultes im Zentrum stand und den Ausschlag für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens gab. Die Orientierung am Alten Bund und an der Thora ermöglichte darüber hinaus die Identitätsbewahrung in der Diaspora. Sie vermittelte den Zusammenhalt und die Sozialintegration und wurde so zur Grundlage und zugleich zur Schranke der 161 Daß Nietzsches Sicht des antiken Judentums ihrerseits von Wellhausen beeinflußt ist, betont W.-D. Hartwich, Die Erfindung des Judentums.

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

politischen Selbstbestimmung. Der Glaube an den einen mächtigen Gott, der sowohl Schöpfer als auch Erlöser, Kriegsherr und Gesetzgeber sein sollte, die mit der Internalisierung des Gesetzes erreichte Verhaltens- und Erwartungssicherheit sowie die von den Propheten erweckte Hoffnung auf Erlösung ersetzten das „archaische Urvertrauen“ (Friedrich Heer), das die alten Griechen auch noch in der postmythologischen Zeit der Polis und der Philosophie inspirierte. Die zu erstrebende Ordnung war zwar durch die Tradition des Bundesschlusses und/oder durchs mosaische Gesetz prinzipiell festgelegt und geregelt, doch ließen beide einen ausreichenden Spielraum für alternative Interpretationen. Der Theokratiegedanke stand einer hierokratischen wie einer anarchisch-demokratischen Deutung offen. Er konnte im Sinne einer repräsentativen Theokratie verstanden werden und der Legitimation divergierender Herrschafts- und Regierungsformen dienen – oder aber als direkte Theokratie jegliche Herrschaft diskriminieren. Die Einhaltung der Vertragsbestimmungen und der göttlichen Gebote war faktisch nie gesichert, sondern in der Regel hart umkämpft. Die Auslegung, d. h. die Entscheidung über Form und Inhalt der Bundesverfassung sowie über den Gehalt und die erforderliche Strenge der Anwendung der einzelnen Ritualund Sozialgesetze war zumeist umstritten und damit Gegenstand von Politik. Doch wurde der dadurch eröffnete Raum für Streit und Diskussionen nach dem kanonischen Text nie zu einer demokratischen Willensbildung genutzt und mit der Zeit zusehends verengt. Veranlaßt durch den prophetischen und postprophetischen Protest gegen Moralverstöße und gegen untreue Herrscher und Regenten, wurde das Gesetz spezifiziert und immer weiter ausdifferenziert, bis schließlich das ganze Leben reglementiert und von Vorschriften überzogen war, deren Einhaltung und Auslegung von den Priestern überwacht und getragen wurde. Diese Entwicklung begann mit der Annahme des deuteronomischen Gesetzes unter Josia gegen Ende des 7. Jahrhunderts und kulminierte in der endgültigen Festlegung und Kanonisierung der Bestimmungen des Pentateuch in der Zeit Esras und Nehemias um die Mitte des 5. Jahrhunderts. Dadurch wurde der Machtwille domestiziert und der Politik eine rechtliche Schranke gesetzt. Der von den Persern autorisierte Pentateuch wurde zur Thora, die Beurteilung strittiger Fälle wurde durchs Deuteronomium in die Hände der levitischen Priester und der „Richter“ gelegt (5. Mose 17, 18 f.), wobei die Funktion der letzteren in der hellenistischen Zeit vermutlich durch die Hohenpriester übernommen wurde.162 Die in der Folge praktizierte, von den Priestern kontrollierte „Gesetzesreligiosität“ ließ innerhalb der Gemeinde nur noch wenig Raum für Politik. Sie wurde durch Verwaltungs-, Erziehungs- und Pastoraltechniken ersetzt. Dennoch kam der Streit während der Zeit des Zweiten Tempels nicht zur Ruhe. Gegen die Priesterherrschaft rebellierten immer wieder die verschiedensten Gruppen und Sekten, die sich von der Gemeinde in Jerusalem abspalteten und eigene Gemeinden grün162

Vgl. M. Smith, Das Judentum in Palästina in der hellenistischen Zeit, S. 267.

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deten. Sie machten sich in der Regel eine rigorose Lesart des Gesetzes zu eigen und zeichneten sich durch die Einhaltung noch strengerer Kultus- und Verhaltensvorschriften aus. Die Dialektik von Gesetz und Politik, von Tradition und Revolution war demnach keineswegs erloschen. Man wird die Webersche Entpolitisierungsthese daher revidieren müssen. Trotzdem wird man insgesamt konstatieren dürfen: Gemessen an den politischen Innovationen der alten Griechen blieb das politische Engagement und Denken des antiken Judentums fragmentarisch und in Ansätzen stecken. Abgesehen von den – zumeist kurzen – Phasen „revolutionärer Politik“ (M. Walzer) blieb das alttestamentliche Denken präbzw. antipolitisch, da es auf dem Standpunkt des Ethnozentrismus und Nomismus verharrte. Die Fixierung auf die Abstammungsgemeinschaft und ihre Traditionen (Nachkommenschaft Abrahams) und/oder auf das unveränderliche Gesetz (Nomos, Thora) bedeutet den Verzicht auf reflexive Gestaltung des Gemeinschaftslebens und der Verfassung des Volkes. Erst die Durchbrechung des Ethnozentrismus und der Gesetzesfixierung ermöglicht die Freisetzung des Politischen als eines eigenständigen, relativ autonomen Handlungsfeldes. Dieser Bruch bahnte sich in der israelitisch-jüdischen Geschichte zwar gelegentlich an, wurde aber erst vom Frühchristentum vollzogen, das – wenn man den jüngeren Interpreten und Exegeten des Neuen Testaments glauben darf – sich (und den anderen) dadurch dauerhafte Freiräume des politischen Handelns erschloß.163 Es wird zu prüfen sein, wie es sich diesbezüglich tatsächlich verhält. Legt man den von den Griechen geprägten Politikbegriff zugrunde, reduziert man das Politische auf die in der Polis realisierten Formen der Kommunikation und Interaktion freier und gleicher Bürger, so wird man in der israelitisch-jüdischen Gesellschaft der Antike – ebenso wie in den altorientalischen Reichen – zumeist vergeblich nach politischen Aktivitäten und Institutionen suchen. Eine freie, mit Willen und Bewußtsein unternommene Organisation des öffentlichen Lebens durch eine sich selbst konstituierende und bestimmende Bürgerschaft wird man in ihr schwerlich beobachten können.164 Das Zusammenleben wurde in ruhigen Zeiten durch Formen traditionaler Herrschaft geordnet, die gelegentlich durch charismatische Führer durchbrochen, letztendlich aber nur gefestigt wurden. Die Macht lag in den Händen der Familienoberhäupter, der Sippenältesten, der Aristokraten, Richter, Könige, Leviten und schließlich der Rabbinen. Nur in 163 Es ist bezeichnend, daß die von J. Taubes herausgegebenen drei Bände „Religionstheorie und Politische Theologie“ kaum Beiträge zur altisraelitischen Tradition enthalten und gewöhnlich erst mit dem Frühchristentum bzw. der Gnosis einsetzen. 164 Selbst die restringierten Formen der Selbstverwaltung der hellenistischen Stadtrepubliken gab es im jüdischen Palästina nur selten. Vgl. G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, S. 65 f.: „Ein hellenistischer Versuch, auch Jerusalem in das wirtschaftliche und kulturelle Netz dieser Stadtrepubliken einzufügen, war im 2. Jh. v. Chr. am Widerstand der konservativen Landbevölkerung gescheitert. Er führte im Gegenschlag zur Diskreditierung des Polisgedankens und – im Laufe der makkabäischen Expansionpolitik – zur Unterwerfung der umliegenden Stadtstaaten mit Ausnahme Askalons.“

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

Krisenzeiten erfolgte eine zeitweilige, aber vorübergehende (Re-)Politisierung des Volkes, die in der Regel zur Zementierung der Herrschaft und zur Verschärfung des Gesetzes führte. Die Leitideen, die das Zusammenleben in Friedenszeiten lenkten, blieben insgesamt gesehen präpolitisch. Sie fügten sich ein in den Kontext der altorientalischen Dominats- und Pastoratsvorstellungen, die zwar im Sinne des Monotheismus umgeformt und modifiziert, aber nicht prinzipiell transzendiert wurden. Vergleicht man die altisraelitischen Erfahrungen und Errungenschaften mit denen der Griechen, so kommt man nicht umhin, gravierende Unterschiede und einen alternativen Entwicklungspfad der Menschheit zu konstatieren. An die Stelle der vielen Götter war der eine, eifernde Gott getreten, der in sich eine Vielfalt von Eigenschaften und Charakterstrukturen ausbildete und zu einer „multiplen Persönlichkeit“ (Jack Miles) wurde, die in ihrem auserwählten Volk keine anderen Götter neben sich dulden mochte. Dadurch war die religiöse Intoleranz geboren. Sie wurde zwar von Zeit zu Zeit in Frage gestellt und durch synkretistische Neigungen durchbrochen, doch setzten sich am Ende die Anhänger des reinen Jahwismus durch. Monolatrie und Monotheismus, Ethnozentrismus und Traditionalismus sowie schließlich ein rigoroser Nomismus bildeten die Klammer und leisteten die soziale Integration. Damit verlor jene Sphäre an Relevanz, die bei den Griechen der klassischen Zeit im Mittelpunkt des Interesses lag: die Politik, das Miteinander-Reden und -Handeln, der öffentliche Streit über die allgemeinen Angelegenheiten, fand keine Resonanz und kein Interesse. Nicht nach den richtigen und zuträglichen Formen des geregelten Streits der Bürger über die öffentlichen Angelegenheiten wurde Ausschau gehalten, sondern nach den von Jahwe geforderten Formen des Umgangs und der Menschenführung. Anstelle von Politik wurden Pastoraltechnologien erprobt.165 Die Vorsteher der unterschiedlichen Einheiten – Familien, Stämme, geeinte oder geteilte Reiche, Städte, Gemeinden, Provinzen und Sekten – hatten jeweils die Rolle des „guten Hirten“ zu übernehmen, der seine „Herde“ im Namen Gottes auf die Weide führt und auf den richtigen Weg geleitet. Als Repräsentanten Jahwes beanspruchten sie das ganze Leben der Menschen, das von ihnen reglementiert und beaufsichtigt wurde. Eine Trennung des Öffentlichen vom Privaten wurde nicht vollzogen. Die Menschen wurden nicht in ihrer Eigenschaft als Bürger und Rechtssubjekte, sondern als lebende Individuen angerufen. Auch ihre Privatsphäre wurde in Anspruch genommen und in den immerwährenden Gottesdienst einbezogen. Orientiert man sich an den Erfindern des Politischen im alten Griechenland, so wird man konstatieren müssen, daß politische Haltungen und Aktivitäten schon in der 165 Vgl. zum folgenden M. Foucault, Omnes et singulatim, bes. S. 68 ff., 75 ff., 84 ff. Foucault umschreibt den Unterschied zwischen Politik und Pastorat folgendermaßen: „das politische Problem ist das des Verhältnisses zwischen dem Einen und den Vielen im Rahmen der Stadt und ihrer Bürger. Das Pastoralproblem betrifft das Leben von Individuen“ (S. 74).

2. Politisches Denken im Urchristentum

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vorexilischen Zeit nicht zu den Wesensmerkmalen und Eigentümlichkeiten der vereinigten Stämme gehörten und stets nur rudimentär zur Entfaltung kamen. Die von den Hebräern entwickelten „Pastoraltechnologien“ wurden indes vom Christentum übernommen und ausgebaut und sind über diese Vermittlung in die moderne Staatsidee eingeflossen.

2. Politisches Denken im Urchristentum „Das Urchristentum kennt kein Programm der Weltgestaltung und hat keine Vorschläge zur Reform der politischen und sozialen Verhältnisse“, schrieb Rudolf Bultmann 1949 in Übereinstimmung mit der älteren, vornehmlich protestantischen Forschung des 19. Jahrhunderts.166 Diese Feststellung ist in den letzten Jahren zusehends in Frage gestellt worden. Unter dem Eindruck der neuerlichen Ablösung des Politischen vom Staat sowie der feministischen Parole, wonach gerade das Private eminent politisch ist, hat sich die jüngere Exegese bemüht, das direkte Gegenteil zu beweisen und die „politische Ladung“ des Neuen Testaments und der urchristlichen Theologie herauszuarbeiten. Dabei wurde vor allem der Apostel Paulus als politisches Talent, als raffinierter Gemeindegründer und -organisator gewürdigt, der im verdeckten oder offenen Kampf gegen die Cäsaren stand und Jesus an deren Stelle als den wirklichen Kaiser zu inthronisieren suchte.167 Die nachfolgende Untersuchung wird einige zentrale Argumente dieser jüngeren Debatte aufgreifen und das Für und Wider beider Positionen prüfen. Ihr Ziel kann auch hier nicht die Diskussion theologischer Streitfragen sein, sondern nur, den Paradigmenwechsel im menschlichen Selbstverständnis zu verdeutlichen, der mit dem Urchristentum eingetreten ist. Ihr Anliegen ist nicht die Rekonstruktion der Worte und Taten des historischen Jesus,168 sondern die Erörterung der politischen Relevanz der Jesusbewegung. Die Quellen sind danach zu befragen, welche politischen Perspektiven sie eröffnen, d. h. welche Orientierungshilfen für das Zusammenleben und das Handeln in den religiösen Gemeinden und in den Städten und Provinzen des Römischen Reiches sie vermitteln. Die prinzipiellen Alternativen für die theoretische und praktische Orientierung der Christen wurden bereits in den Schriften des Neuen Testaments grundgelegt. 166 R. Bultmann, Das Urchristentum, S. 257. Vgl. auch ebd., S. 219 ff., 236 ff. sowie E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen I, S. 16 ff., 25 ff., 45 ff., passim. 167 Vgl. bes. J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 23 ff.; D. Georgi, Gott auf den Kopf stellen. Ähnlich bereits B. Bauer, Christus und die Caesaren (1877). 168 Zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung vgl. G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus, bes. S. 21–31 (mit umfassenden Literaturhinweisen). Immer noch wichtig und erhellend: A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Siehe auch P. Antes, Jesus. In ders. (Hg.), Große Religionsstifter, 49–71; J. D. Crossan, Der historische Jesus; J. Miles, Jesus.

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In ihnen sind die möglichen Haltungen artikuliert, die nach der Vorstellung Jesu, der Apostel und der Evangelisten vom Urchristentum bezüglich der Politik eingenommen werden sollten. Sie spannen den allgemeinen Rahmen auf und entwikkeln unterschiedliche, teils gegensätzliche Offerten für ein politisches Engagement innerhalb und außerhalb der religiösen Gemeinden. Eindeutige Aussagen sind allerdings schwer zu finden und müssen aus dem Gesamtkorpus des neutestamentlichen Schrifttums extrapoliert werden.169 Sie lassen sich am besten durch den Vergleich mit anderen Positionen jener Zeit ermitteln und konturieren. Der Ausdruck Urchristentum steht hierbei – im Unterschied zum allgemeineren Begriff Frühchristentum, mit dem sowohl das antike wie das mittelalterliche Christentum bezeichnet wird – nicht nur für die Urgemeinde der Jesusanhänger, sondern für die Entwicklung des Christentums bis in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.170 Es handelt sich um „die Periode vor der institutionellen Festigung des antiken Christentums durch Kanon, Bischofsamt und regula fidei und vor der Transformation der hellenistisch-römischen Kultur durch die Krise des 3. Jh. n. Chr., also etwa die Zeit bis zum Ausgang der aufgeklärten Monarchie der Antoninen“.171 Die Schriften des Neuen Testaments werden im folgenden nicht als göttliche Offenbarung ewiger Wahrheiten, sondern – entsprechend der Methode dieser Untersuchung – als Antworten auf konkrete Konfliktlagen interpretiert. Ermittelt werden die von ihnen empfohlenen Stellungen zur Politik und die von ihnen entwickelten Ratschläge für die praktische Lebensgestaltung.172 Die Vor- und Frühgeschichte der Kirche, die Mission und Ausbreitung des Christentums müssen hier nicht eigens nachgezeichnet werden.173 Zu skizzieren 169 Wie schon bei den kanonischen Texten des Alten Testaments steht auch hier die Exegese vor dem unlösbaren Problem, daß die Evangelien einer späteren Zeit entstammen und spezifische Erfahrungen der Evangelisten in die Frühgeschichte zurückprojizieren. Folgt man den jüngeren Interpreten, so entstand das Markusevangelium ca. 70 n. Chr., das Matthäusevangelium in den 80er, spätestens in den 90er Jahren, das Lukasevangelium zwischen 70 und 140/150 n. Chr. und das Johannesevangelium um die erste Jahrhundertwende. Vgl. Theißen/Merz, Der historische Jesus, S. 42 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen sowie Erwägungen über die soziale und geographische Verortung der Evangelisten und den „Sitz im Leben“). Da keine anderen Texte verfügbar sind, wird auch hier zu prüfen sein, welche politischen Potentiale in den späteren Erzählungen über das frühe Geschehen enthalten sind. 170 Vgl. etwa K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, § 1: Begriff und Abgrenzung; H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums; W. A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums; W. Schmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums; W. Schneemelcher, Das Urchristentum. 171 G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, S. 36. Vgl. ders., Soziologie der Jesusbewegung. 172 Für die beiden Abschnitte über das politische Denken im Frühchristentum bin ich dem verstorbenen Prof. Dr. Alexander Schwan zu Dank verpflichtet. Durch seine harsche Kritik an einer früheren Skizze im Rahmen meiner Dissertation über Hegel und Marx (1986) veranlaßte er mich zu einem erneuten und vertieften Studium der christlichen Soziallehre und der Politischen Theologie.

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ist nur die Entstehung und Entwicklung und die Spezifik des neuen Paradigmas, das aus der Suche nach alternativen Lebensformen erwuchs und später dann, bei den Kirchenvätern, in der Christianisierung, der heilsgeschichtlichen Verortung, Modifikation und Uminterpretation der römischen Herrschaftsideologie kulminierte. Die unbesetzte Stelle der Polis wurde zunächst von der religiösen Ekklesia ausgefüllt, die erst im vierten Jahrhundert durch das christliche Reich substituiert wurde. Dadurch wurden die ursprünglichen Impulse umgewendet und die emanzipatorischen Bestrebungen der Jesusbewegung in ihr Gegenteil verkehrt. Gleichgültig, ob man das Urchristentum eher als eine revolutionäre oder als eine – sei’s quietistische, sei’s aktivistische – Rückzugsbewegung betrachtet, entscheidend ist der von ihm bewirkte Umbruch im menschlichen Selbstverständnis, die von ihm eingeleitete und vollzogene „Wertrevolution“.174 Es dürfte kaum ernsthaften Zweifel geben, daß eine Bewegung, die sich – angewidert von den vorfindlichen Lebensverhältnissen in Reich, Provinz, Stadt, Tempel und Familie – von der sozialen und politischen Realität abwandte, ihre Hoffnungen auf ein „Jenseits“, auf ein kommendes „Gottesreich“ setzte und dabei neue Formen der Gemeinschaftsbildung produzierte, daß diese Bewegung ihren Antrieb und ihre entscheidende Motivation aus negativen Erfahrungen im Alltagsleben und einer radikalen Kritik am Verfall der Sitten gewonnen hatte und daher als Protest- und Widerstandspotential zu verstehen ist. Der Auszug aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Suche nach alternativen Orientierungen und Umgangsformen hatte ihren Grund in der Ablehnung eben der vorherrschenden Muster der Vergesellschaftung.175 Das Urchristentum entwickelte eine radikale Institutionenkritik, eine Kritik am nomistischen und ethnozentrischen Denken der Römer und Juden, an der Fixierung auf das Gesetz und die Abstammungsgemeinschaft sowie an den im Imperium Romanum und im Tempel restituierten Formen altorientalischer Herrschaft.176 Gegen die jüdische und römische Apotheose des Gesetzes wurde die Liebe gesetzt, die Gottes- und die Nächstenliebe, die das bestehende Wertege173 Vgl. dazu C. Andresen/A. M. Ritter, Geschichte des Christentums. Bd. 1; J. Becker u. a., Die Anfänge des Christentums; K. Berger, Theologiegeschichte; E. Dassmann, Kirchengeschichte I; A. v. Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung; ders., Die Mission und Ausbreitung des Christentums; H. Kraft, Die Entstehung des Christentums; H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche. Bd. 1; J. McManners (Hg.), Geschichte des Christentums; E. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums; F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums; F. Winkelmann, Geschichte des frühen Christentums. 174 Vgl. G. Theißen, Mythos und Wertrevolution im Urchristentum. 175 Theißen, Studien, S. 47: „Die Erwartung einer neuen Welt und eines göttlichen Königreiches ist zweifellos Widerstand gegen diese Welt und ihre Königreiche“. 176 Zur Lage in Rom und seinen Provinzen vgl. etwa W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 115 ff. (mit Forschungsbericht und weiteren Literaturhinweisen: S. 141 ff.; 249 ff.); A. Heuss, Römische Geschichte, S. 361 ff.; F. Millar, Das Römische Reich und seine Nachbarn, Kap. 1–13.

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füge transzendierte. Basis dieser Kritik war die Überzeugung der jüngeren Stoa (Seneca), daß der Mensch allen Ordnungen und Institutionen überlegen ist.177 Infolge dieser Überzeugung wurden neue Formen des Umgangs und des Zusammenlebens praktiziert, durch die sich die neuen Gemeinden den herrschenden Sitten und Werten ihrer Umgebung entfremdeten. Entscheidend hierfür wurde Paulus von Tarsus, der im Rahmen der von ihm betriebenen Heidenmission und der Organisation der von ihm gegründeten Gemeinden die Kritik am Nomismus und Ethnozentrismus radikalisierte. Während Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien prinzipiell innerhalb des jüdischen Volkes verblieb und an den zentralen Bestimmungen der Thora festhalten wollte, verließ Paulus den von ihnen aufgespannten Rahmen. Mit ihm begann eine neue Orientierung der christlichen Gemeinden im Römischen Reich. Mit ihm verlagerte sich der Schwerpunkt des Urchristentums von den ländlichen Gebieten Palästinas in die hellenistischen Städte.178 Mit ihm drang – wie Max Weber betonte – das Schriftgelehrtentum und der dadurch gepflegte Kleinbürgerintellektualismus aus dem Judentum nun auch ins Frühchristentum ein.179 Manche Autoren kommen deshalb zu dem Schluß, das Christentum habe „seinen Ursprung nicht eigentlich in Jesus, sondern in Paulus“.180 Mag diese These auch überzogen sein,181 so enthält sie doch einen wahren Kern. Ohne die Missionstätigkeit des Apostels und seiner Gehilfen hätte sich das Christentum nie etablieren und in solchem Maße verbreiten können. Andererseits wäre die Wirksamkeit Pauli undenkbar ohne die vorgängigen Bemühungen der jesuanischen Bewegung. Ohne sie hätte der Pharisäer Saulus keinen Grund gehabt, die ersten Christen zu verfolgen und nach seinem Damaskus-Erlebnis zum Christentum zu konvertieren, d. h. zu seinen einstigen Feinden überzulaufen. Seinen durchschlagenden Erfolg verdankte das Christentum somit einer doppelten Leistung, einer geistig-pneumatologischen und einer praktisch-organisatorischen: der von Jesus vollzogenen Okkupierung und Instrumentalisierung der prophetisch-jüdischen Religion und den Gemeindegründungen und -vernetzungen des Paulus. 177 Vgl. J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 58; Troeltsch, Soziallehren I, S. 52 ff.; L. Dumont, Individualismus, S. 37 ff. 178 Vgl. W. A. Meeks, The First Urban Christians; E. W. Stegemann/W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. 179 M. Weber, WuG, S. 310. Vgl. dazu auch W. Schluchter, Einleitung, S. 15 ff. 180 J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 57. Schon Hermann Samuel Reimarus hatte festgestellt, Jesus sei eine jüdische prophetisch-apokalyptische Gestalt, das sich vom Judentum lösende Christentum hingegen eine Neuschöpfung der Apostel. Vgl. Theißen/Merz, Der historische Jesus S. 23. 181 Wie K. Berger in einer Rezension der Paulus-Vorlesungen von J. Taubes kritisch notierte, übernahm letzterer „den angeblich schroffen Gegensatz zwischen Jesus und Paulus und den alten Schnack von Paulus als dem Stifter des Christentums“ unbewußt von der konfessionell-lutherischen bzw. der liberalen Exegese. Vgl. K. Berger, Der Mann Paulus und die politische Theologie. Keine lutherischen Geschäfte mit dem Römerbrief: Die letzten Vorlesungen von Jacob Taubes. In: FAZ v. Mo., 26.6.1993, S. 25.

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Wie schon Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) zeigte und wie die spätere Leben-Jesu-Forschung noch einmal unterstrich, ist Jesus nicht Anfänger eines Neuen, sondern Moment einer breiten apokalyptischen Welle in Israel. Er fügt sich ein in die lange Reihe eschatologischer Wanderprediger, von denen Celsus berichtet hat.182 Wie die anderen innerjüdischen Protestbewegungen bemühte auch er sich um die Wiederherstellung und Erneuerung des jüdischen Volkes. Dennoch wurde er zum Begründer einer neuen religiös-politischen Bewegung, die zwar als innerjüdische Reformbewegung begann, sich aber alsbald verselbständigte und vom Judentum löste. Ihre Besonderheit, ihr Ursprung und ihr Zentrum sowie die Ursache ihrer Dissidenz liegt in einer Grundüberzeugung, aus der alles weitere sich gleichsam von selbst ergibt: im Glauben, Jesus von Nazareth sei der Christus, d. h. der von den Propheten und von Johannes dem Täufer verkündete Messias, der nicht nur – wie die Gnostiker – einen speziellen Zugang und einen besonders intensiven Verkehr mit Jahwe hat, sondern dessen leibhaftiger Sohn sei, gesandt von seinem Vater, um das auserwählte Volk aus seiner Erstarrung zu wecken und auf das unmittelbar bevorstehende Gottesreich vorzubereiten. Seine Anhänger wurden auf diesen einen Glaubenssatz verpflichtet. Durch ihn unterschieden sie sich vom traditionellen Judentum wie von allen anderen innerjüdischen Erneuerungsbewegungen.183 Primäres Ziel aller Evangelien und sonstigen christlichen Quellen war es, diesen Satz zu plausibilisieren und die Wahrheit der aus ihm resultierenden Lehre zu beweisen.184 Wer ihn akzeptierte und sich zu eigen machte, wurde dadurch zum Mitglied der Gemeinde, die ihm einerseits Sicherheit und Geborgenheit versprach, andererseits verschiedene Pflichten auferlegte und spezifische Leistungen abverlangte. Als Lohn für den Glauben an den „Menschensohn“, der zugleich Sohn und Gesandter des alleinigen jüdischen Gottes und der Heiland sein sollte, winkte die Erlösung und das ewige Leben. Nur wer ihm folgte, konnte beim jüngsten Gericht auf Sündenvergebung und auf den Eintritt ins Himmelreich hoffen. Wer sich ihm verweigerte, mußte mit ewiger Verdammnis und Höllenqualen rechnen. Damit der Glaube an ihn entstehen und sich verbreiten konnte, mußte Jesus ungeheuerliche Taten und Wunder vollbringen, die in der Aufeinanderfolge der einzelnen biblischen Quellen immer phantastischer wurden:185 er ging übers Wasser, heilte Aussätzige und Blinde, ließ Tote wiederauferstehen, verwandelte

182 Vgl. dazu Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 48 ff.; Theißen/Merz, Der historische Jesus, S. 22 ff. 183 Vgl. K. Berger, Theologiegeschichte, S. 19: „Die Differenz zwischen (nichtchristlichem) Judentum und Christentum ist auf die Aussage ,Jesus ist der Messias‘ (bzw. der ,letzte‘ Bote Gottes) vollständig und zureichend zurückzuführen“. 184 Vgl. dazu T. Hobbes, Leviathan, Kap. 42 u. 43; bes. S. 420, 450 ff. (mit den entscheidenden Belegen aus den kanonischen Quellen). 185 Vgl. D. F. Strauß, Das Leben Jesu.

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Wasser in Wein, speiste ein ganzes Volk mit wenigen Laibern Brot usw.186 Im Zentrum seiner Ethik stand das Gebot der Liebe, die sich in Gestalt der Gottesund der Nächstenliebe verwirklichen sollte. Aus diesem doppelten Liebesgebot resultierten alle weiteren von ihm erhobenen ethischen Maximen.187 Durch die ungetrübte Gottes- und Nächstenliebe sollten sich die Christen über die herrschenden Sitten und Normen des Römischen Reiches wie über die starren Vorschriften des jüdischen Gesetzes und die Riten innerhalb des Tempels erheben. Da Jesus aber zu guter Letzt von den Römern ans Kreuz geschlagen und ermordet wurde, schien seine Mission gescheitert, die Kernthese seiner Botschaft widerlegt und sein Programm insgesamt erledigt. Alle Bemühungen der Apostel und Evangelisten richten sich deshalb darauf, sie – gegen jegliche Evidenz – zu verteidigen und gegen mögliche Zweifel zu erhärten. Den Rettungsanker bot ihnen die dreieinige Idee von der Auferstehung, der Himmelfahrt und der für später in Aussicht gestellten Wiederkunft Jesu Christi als Weltenrichter und Friedensstifter. Bis dahin sollten seine Jünger und Apostel sein begonnenes Werk vollenden, die er an seiner Statt zu den „verlorenen Schafen“ des jüdischen Volkes und schließlich zu allen Völkern der Erde schickte. In der Entwicklung und Ausbreitung der frühen Jesusbewegung lassen sich, wie Gerd Theißen betonte, zwei alternative Formen der Aktion und der Agitation unterscheiden, die gelegentlich in Konflikt miteinander gerieten: Im Gegensatz zu den späteren Gemeindegründern und -organisatoren (Paulus, Barnabas u. a.) hat sich die von Jesus inspirierte Gruppe der Wandercharismatiker nicht um eine institutionelle Verankerung der neuen Religion bemüht. Während die paulinische Bewegung seit Mitte der vierziger Jahre den Weg „von den Juden zu den Heiden“ ging und durch die Einsammlung und Missionierung der im Reich verbreiteten Mysterienreligionen neue Gemeinden gründete und organisatorisch vernetzte, hat Jesus nicht primär Ortsgemeinden gegründet, „sondern eine Bewegung vagabundierender Charismatiker ins Leben gerufen“.188 Seine Jünger verließen ihre Familien, gaben ihre Berufe und ihr Eigentum auf und zogen sich aus der Gesellschaft zurück, um als Bettler durch die Lande zu ziehen und ferner nur noch ihrem Meister und einander zu dienen und seine Worte und Taten zu verkünden. Ihr Ziel war die Aufrüttlung und Bekehrung der Juden und ihre Vorbereitung auf das unmittelbar bevorstehende Gottesreich. Jesus wollte nicht „die Heiden“ missionieren, sondern nur die Juden: „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlornen Schafen von dem Hause Israel“ (Matthäus 15, 24).189 Auch seine Jünger 186

Siehe auch J. Miles, Jesus, S. 93 ff. „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“, faßt Paulus seine Botschaft kongenial zusammen; „aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13, 13). 188 Theißen, Soziologie, S. 14. Vgl. ders., Studien, S. 14 ff., 83 ff., 201 ff. Den Begriff des Charismas entlehnt Theißen Max Weber, WuG, S. 140 ff., 654 ff., passim. Vgl. dazu auch R. Bendix, Umbildungen des persönlichen Charismas. 187

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sandte er zunächst nicht zu den Heiden und in die Städte der Samariter, sondern nur „zu den verlornen Schafen aus dem Hause Israel“ (10, 5 f.). Erst nach seiner Wiederauferstehung forderte er sie auf, sie sollten „alle Völker“ lehren und sie taufen „im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes“ (28, 19). „Gehet hin in alle Welt, und prediget das Evangelium aller Kreatur“, befahl er ihnen (Markus 16, 15). Die Heidenmission wurde indes zur Domäne des Paulus, der im Unterschied zu den anderen Aposteln überaus erfolgreich war und dadurch dem Christentum zum Durchbruch und zu weltgeschichtlicher Relevanz verhalf. Während die Mission und Ausbreitung der Jesusbewegung in Palästina scheiterte, war sie in den hellenistischen Regionen von unverhofftem Erfolg gekrönt, was dem Organisationsgenie des Paulus zu verdanken war, dem es gelang, die Vielzahl der klein- und vorderasiatischen sowie der griechischen Religionsgemeinschaften und Kulte einzusammeln, zu bekehren und ins Christentum zu integrieren.190 Bereits Johannes der Täufer hatte verkündet: „Thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Matthäus 3, 2). Diese frohe Botschaft wurde vom Gottessohn, der sich von Johannes hatte taufen lassen, aufgegriffen und wiederholt (4, 17). „Die Zeit ist erfüllet, und das Reich Gottes ist herbeigekommen“, verkündete er frohgemut (Markus 1, 15). Während die Juden, die sich nicht zum neuen Glauben bekehren ließen, weiterhin auf den Erlöser warteten (und noch immer warten), war dieser für die Christen bereits eingetroffen. Mit dem Erscheinen Jesu hatte sich die Zeit erfüllt und der große Umbruch ereignet. Zwar war er nach dem Kreuzestod und nach der Wiederauferstehung zunächst einmal gen Himmel aufgefahren, doch stand seine Wiederkunft nach Ansicht seiner Jünger unmittelbar bevor. Da sich die Parusie jedoch wider Erwarten verzögerte, mußten die Apostel ihren Anhängern Gründe für den Aufschub nennen. Sie fanden sie in der Notwendigkeit einer noch weitergehenden Missionstätigkeit, d. h. der Bekehrung weiterer Gruppen und Völker. Schon Jesus selbst hatte nach dem Zeugnis der Evangelien Zweifel an der von ihm einst geschürten Naherwartung gestreut und seinen Jüngern prophezeit: „Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommet“ (Matthäus 10, 23). „Aber das Ende ist noch nicht da“ (Markus 13, 7; cf. Lukas 21, 9). „Und das Evangelium muß zuvor verkündiget werden unter alle Völker“ (Markus 13, 10). Auch Paulus, demzufolge das Gottesreich mit dem ersten Erscheinen Jesu bereits begonnen hatte, sah sich alsbald genötigt, die Mit189 Auch das Neue Testament wird nach der Übersetzung Martin Luthers zitiert. Zugrunde liegt weiterhin die im Auftrag der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz durchgesehene 14. Auflage der „Heiligen Schrift“, Stuttgart 1899. 190 Treffend bemerkt deshalb Nietzsche, Morgenröte (1881). Erstes Buch, Aph. 68. (I, S. 1055): Ohne die Geschichte des Apostels Paulus „gäbe es keine Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Sekte erfahren haben, deren Meister am Kreuz starb“. Vgl. ders., Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Aph. 58. (II, S. 1228 ff.); Aph. 37. (S. 1198).

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glieder seiner Gemeinden zu vertrösten: „Lasset euch niemand verführen in keinerlei Weise; denn er kommt nicht, es sei denn daß zuvor der Abfall komme und offenbaret werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens, der da ist der Widersacher, und sich überhebet über alles, das Gott oder Gottesdienst heißet“ (2. Thessalonicher 2, 3 f.). Die Synoptiker schließlich griffen diesen Faden auf und prophezeiten schwere irdische Katastrophen, Kriege und Bürgerkriege, Teuerungen und eine Zeit der Schrecken, die der Erlösung vorausgehen und erst das ersehnte Ende ankündigen sollten (Markus 13, 8 ff.; Matthäus 24, 6 ff.; Lukas 21, 10 ff.).191 Obgleich die jüngeren Exegeten immer wieder vor der Überbetonung der Parusieverzögerung warnen, ist diese Erfahrung für das Urchristentum hinsichtlich der politischen Orientierungen entscheidend geworden. Solange man darauf vertrauen konnte, daß das Ende dieser Welt unmittelbar bevorstand, mußte man sich nicht lange den Kopf über die Organisation des irdischen Lebens zerbrechen. Die Zeit schien zu kurz, um sich mit sozialen und politischen Angelegenheiten zu befassen. Man mußte sich von den Dingen und Zwängen des Alltags befreien und innerlich auf das Ende vorbereiten. Entscheidend wurde die Bereitschaft zur Buße und die damit verknüpfte Abkehr von der Welt. Rückte die Zeit des Gerichts und der Erlösung jedoch in die Ferne, so war man genötigt, sich Gedanken über die Ordnung der verbleibenden Jahre und über die Organisation des Zusammenlebens – innerhalb wie außerhalb der Gemeinde – zu machen. Man mußte sich möglicherweise für längere Zeit in der ungeliebten Umgebung einrichten und Strategien des Überlebens entwickeln. Zwischen diesen beiden Polen pendeln alle Schriften des Neuen Testaments. Sie alle halten die Spannung zwischen ihnen aufrecht und bleiben folglich in sich widersprüchlich. Sie lassen sich nicht auf die eine oder andere Position festlegen und entsprechend systematisieren. Vielmehr finden sich in ihnen Anweisungen und moralische Regeln für alle Fälle. Sie predigen einerseits den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, schließen aber andererseits die Einmischung und ein Engagement nicht a priori aus. Entsprechend schwierig wird es, eindeutige Aussagen bezüglich des Politischen aus ihnen zu extrahieren. Haben sie doch eben darin ihre Stärke, daß sie zumeist pragmatisch argumentieren und prinzipiell alle Wege offenhalten. Jeder konnte in ihnen – auch noch in späteren Zeiten – eine bestimmte Stelle finden, die seinen jeweiligen Interessen entgegenkam. Eindeutigkeit herrscht nur in einem Punkt: dem unbedingten Glauben an den „Menschensohn“ Jesus Christus, der von Gott gesandt worden war, um sein auserwähltes Volk bzw. alle, die an ihn glauben, zu erlösen von den Übeln dieser Welt. Dieser Glaube aber verpflich191 Diese Stellen wurden zu den Ausgangs- und Bezugspunkten der hoch- und spätmittelalterlichen Endzeit-Erwartungen und Antichrist-Vorstellungen. Vor allem die paulinische Ankündigung eines „Widersachers“ wurde im Kampf zwischen Papst- und Kaisertum zur Verdammung des jeweiligen Gegners eingesetzt. Vgl. dazu unten die Kapitel V. 1. u. 2.

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tete die Gläubigen zunächst nur zur Gottes- und zur Nächstenliebe, aus der sich dann für die jeweiligen Situationen und Belange weitere Pflichten ableiten ließen. Welche politischen Konsequenzen hatte der Glaube an die Erlöserkraft Jesu Christi? Welche politischen Perspektiven wurden durch die Jesusbewegung eröffnet? – Drei Dimensionen lassen sich unterscheiden: a) ihre Stellung zum Imperium Romanum (Reich, Städte und Provinzen); b) ihre Stellung zum Judentum (Tempel und Gesetz); c) die Organisationsstrukturen der urchristlichen Gemeinden selbst. a) Die Jesusbewegung im Römischen Reich Idealtypisch waren im ersten christlichen Jahrhundert – wie sich bereits am Ende des Abschnittes über das alttestamentliche Politikdenken ergab – vier Stellungen der Nicht-Römer im und zum Imperium Romanum möglich: (a) aktiver Widerstand und bewaffneter Kampf – gemäß den Bemühungen der Zeloten und der revolutionären Widerstandsgruppen;192 (b) die Hinwendung zu den Römern, die Anfreundung und Aussöhnung mit dem Reich und seiner Kultur – nach dem Vorbild einzelner privilegierter Juden (Philo von Alexandrien, Flavius Josephus u. a.); (c) der Rückzug aus der Gesellschaft und die Entwicklung alternativer Lebensformen außerhalb des bestehenden politischen Systems – analog zu den Bestrebungen der Essener;193 (d) Gleichgültigkeit und resignierte Abwendung von der offiziellen Politik, die Konzentration auf das private und familiale bzw. das Leben in den religiösen Gemeinden – entsprechend der Haltung der Pharisäer im 1. Jahrhundert n. Chr.194 Welchen Weg wählte die Jesusbewegung? (a) Der Kampf mit Waffen und der aktive Widerstand schieden grundsätzlich aus. Zwar hatte Jesus angedeutet, er sei „nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“ (Matthäus 10, 34). Das Schwert wollte er aber nicht gegen die Machthaber und Regenten erheben, sondern zur Auflösung der eingewurzelten Familienbande seiner Anhänger nutzen, die er zu durchbrechen und zu zerschmettern gedachte. Von seinen Jüngern verlangte er, daß sie ihre Familien verlassen und ihre Väter, Mütter, Weiber, Kinder, Brüder und Schwestern hassen.195 192

Vgl. dazu M. Hengel, Die Zeloten. Vgl. etwa H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. 194 Gegen die These von J. Neusner (From Politics to Piety), die Pharisäer hätten sich aus einer politischen Oppositionspartei in der Hasmonäerzeit im Laufe des 1. Jhs. in eine reine Frömmigkeitspartei verwandelt, haben Theißen und Merz (S. 137) geltend gemacht, daß von ihnen durchaus Widerstand ausging und die Frage des Verhältnisses zu den Heiden heftig diskutiert und erbittert ausgefochten wurde. Allerdings räumen auch sie ein, daß sich die einstmals offensive in „eine defensive Strategie zur Bewahrung jüdischer Identität gegenüber der politischen und kulturellen Übermacht der Fremden“ (S. 210 f.) verwandelte. Vgl. auch G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener. 195 „So jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein“ 193

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Nicht Frieden und Eintracht, sondern Unruhe und Zwietracht wollte er in ihren Familien stiften (Lukas 12, 51 ff.). Erstere sollten sie nur außerhalb der unmittelbaren Abstammungsgemeinschaft, im Vertrauen auf Gott und seinen eingeborenen Sohn suchen und finden. An die Stelle der Blutsbande sollte die durch den Glauben an seine Messianität gestiftete pneumatische Einheit treten. Er wollte seine Anhänger nicht gegen die Römer mobilisieren, sondern sie stattdessen gegeneinander aufbringen und untereinander entzweien, damit sie sich aus ihrer familialen Selbstverkapselung lösen und seiner Verkündigung und Offenbarung öffnen. Er selbst wandte sich ab von seinen leiblichen Verwandten und betrachtete seine Jüngerschar als seine Familie (Markus 3, 31–35; Matthäus 12, 46–50; Lukas 8, 19–21). Seine Jünger ermahnte er zur Friedfertigkeit und verpflichtete sie zur Liebe (Johannes 13, 34; 15, 12 ff.), zur Gottes- und zur Nächstenliebe, die auch die Feindesliebe umfaßte (Matthäus 5, 44; Lukas 6, 27 ff.). Diese Maximen vertrugen sich nicht mit dem bewaffneten Kampf. Zwar bat er kurz vor seiner Festnahme die um ihn Versammelten, ein wirkliches Schwert zu kaufen (Lukas 22, 36),196 doch als dann einer von ihnen damit dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr abschlug, bereute er den Vorfall und unterband jede weitere Gewaltsamkeit (Vers 50 f.). Entsprechend friedfertig blieb die Urgemeinde nach dem Zeugnis der Synoptiker. Sie fügte sich den fremden Machthabern und wartete (un)geduldig auf den Anbruch des Gottesreiches. Die eschatologische Naherwartung motivierte zur Passivität und führte zur distanzierten Gleichgültigkeit gegenüber der irdischen Herrschaft. Selbst Verfolgungen wurden in Demut ertragen. Gewaltverzicht und Feindesliebe blieben aber auch bei den Evangelisten und in den späteren Gemeinden des Urchristentums die dominante Haltung, mögen sie auch in den einzelnen Regionen und sozialen Schichten unterschiedlich motiviert gewesen sein.197 Al(Lukas 14, 26). – An anderer Stelle (15, 4) erinnerte er sich aber an das Gebot, das Moses seinem Volk übermittelt hatte, wonach derjenige, der Vater und Mutter fluchet, des Todes sterben soll (2. Mose 21, 17). 196 Die Tatsache, daß seine Jünger gleich zwei Schwerter erwarben (vgl. Lukas 22, 38), sollte im europäischen Hochmittelalter die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt legitimieren und den Kampf zwischen Sacerdotium und Imperium stimulieren. Vgl. dazu unten Kap. V.1: Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter (bes. S. 400 ff.). 197 Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund von Gewaltverzicht und Feindesliebe vgl. Theißen, Studien, S. 160 ff. Theißen unterscheidet vier Motivgruppen zur Feindesliebe in den urchristlichen Texten: „1. ein Imitationsmotiv, die Nachahmung Gottes, 2. ein Abhebungsmotiv, das die Überlegenheit über andere Gruppen hervorhebt, 3. ein Gegenseitigkeitsmotiv, das prinzipiell an der Reversibilität menschlichen Verhaltens festhält und 4. ein eschatologisches Lohnmotiv“ (S. 161). – Die entscheidende Differenz zwischen matthäischer und lukanischer Tradition erblickt Theißen in gegensätzlichen sozialen Verankerungen (vgl. S. 174 ff.): Matthäus verarbeitet aus der Sicht der judenchristlichen Gemeinden die Erfahrungen des jüdischen Krieges und der Nachkriegszeit, also die Situation eines unterworfenen und gedemütigten Volkes (S. 179). Lukas hingegen spricht für ein Christentum, „das auch in die höheren Schichten hineinreicht und deswegen der Umwelt mit dem Anspruch prinzipieller Gleichwertigkeit gegenübertreten

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lenfalls der Brief des Apostels Paulus an die Epheser, dessen Autorschaft umstritten ist, sowie das Johannes-Evangelium und die Johannes-Apokalypse enthalten einzelne Ansatzpunkte für aktiven Widerstand. Der Apostel ermahnte die Epheser, sie sollten „den Harnisch Gottes“ anziehen, um zu bestehen „gegen die listigen Anläufe des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herrn der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen . . . Um deswillen, so ergreifet den Harnisch Gottes, auf daß ihr an dem bösen Tage Widerstand thun und alles wohl ausrichten und das Feld behalten möget“ (Epheser 6, 11–13). Noch schärfer prophezeite der letzte Evangelist das bevorstehende Gericht und den Ausstoß des Fürsten dieser Welt (Johannes 12, 31; 16, 11). Die Johannes-Apokalypse schließlich antwortet auf die Erfahrungen der Christenverfolgung, identifiziert Rom mit Babel als Gegenmacht der Gemeinde und verkündet den gewaltsamen Niedergang und die Zerstörung der „Hure Babylon“ (Offenbarung 17. ff.). Doch riefen auch diese Zeugnisse nicht wirklich zur Diastase und zur Rebellion auf. Der Verfasser des Epheser-Briefes meinte mit dem „Harnisch Gottes“ nicht tatsächliche Waffen, sondern die geistigen Waffen des neuen Glaubens: „So stehet nun, umgürtet eure Lenden mit Wahrheit und angezogen mit dem Panzer der Gerechtigkeit, und an den Beinen gestiefelt, als fertig zu treiben das Evangelium des Friedens. Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens . . . und nehmet den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes“ (Epheser 6, 14–17). Laut Johannes-Evangelium ist Jesus ferner gar nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern zu erlösen und selig zu machen (Johannes 12, 47). Und die Johannes-Apokalypse erhoffte das Heil und das Ende dieser Welt nicht von den kämpfenden Christen, sondern von den himmlischen Heerscharen des streitbaren Gottes, der die Feinde der Gerechten ohne deren Mitwirkung richtet und vernichtet (Offenbarung 18. ff.). So wird man – bei aller Vagheit und Widersprüchlichkeit der Quellen – insgesamt vergeblich nach aktivistisch-politischen Widerstandspotentialen suchen. (b) Auch die Aussöhnung mit den Lebensbedingungen und -formen im Imperium Romanum, die Anerkennung der römischen Herrschaft und die Anfreundung mit der römischen Politik und Kultur kam nicht in Frage. Der Monotheismus des einzigen Gottes vertrug sich nicht mit der polytheistischen römischen Welt. Schon Jesus hatte bekanntlich verlautbart, sein Reich sei „nicht von dieser Welt“ (Johannes 18, 36), wobei zunächst offen blieb, ob mit „dieser Welt“ das irdische Sein schlechthin oder nur die spezifisch römische Welt gemeint war. Die heutige Exegese tendiert grosso modo in Richtung auf die zweite Antwort.198 Wie die anderen jüdischen Protestbewegungen – Pharisäer, Essener, Zeloten – kann“ (S. 183). Die Erfahrungsgrundlage des ersten sei die orientalische Monarchie, die des zweiten die hellenistische Republik (S. 174). 198 Vgl. L. Schottroff, „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, bes. S. 103 ff.

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und die ländlichen Widerstandsgruppen – Galiläer, Judäer, Tempelzeloten, Idumäer – wandte sich auch die Jesusbewegung gegen die städtischen Ausgleichsversuche mit den Römern.199 Sie wollte – wie jene – die Identität des jüdischen Volkes sichern und entwickelte entsprechende Strategien zur Selbstbehauptung in einer als feindlich und bedrohlich empfundenen Welt. Sie hielt sich bedeckt und zog sich aus den lokalen, den städtischen und kommunalen Selbstverwaltungsinstanzen zurück.200 Sie partizipierte nicht an der politischen Organisation des Reiches und seiner Unterabteilungen. Im Monotheismus und dem durch ihn bewirkten Rückzug und der religiösen Selbstabkapselung der Christen erblickten ihre Gegner, wie später Celsus, nicht ohne Grund ein revolutionäres Ferment und „die Stimme des Aufruhrs, die Stimme derer, die sich selbst absperren und losreißen von den übrigen Menschen“.201 Stein des Anstoßes und wichtigster Distanzierungsgrund war der im Reich praktizierte Kaiserkult. Seine Ablehnung bildete den entscheidenden Stachel zur Absonderung und das zentrale einheitsstiftende Element in allen jüdischen Gruppierungen und Richtungen und folglich auch in der Jesusbewegung die unüberwindbare Hürde in der Einlassung auf die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Als – selbsternannter oder von Jahwe erkorener – König der Juden (Markus 15, 2; Matthäus 27, 11; Lukas 23, 3; Johannes 18, 37) war Jesus der natürliche Rivale und Feind des Kaisers (Johannes 19, 12). Mit gutem Grund wurde er von dessen Statthaltern mit Mißtrauen betrachtet, zur Darlegung seiner Einstellung zu Rom gezwungen und schließlich zur Rechenschaft gezogen. Hatte er doch seine Geringschätzung der Machthaber wie der herrschenden Moral und der geltenden Gesetze kaum verhehlt. Anstatt die imperiale Herrschaft zu bejubeln und ihr seine Achtung zu erweisen, hatte er ihr mit dem Gleichnis vom Zinsgroschen seine Mißachtung deutlich zum Ausdruck gebracht: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Markus 12, 17; Matthäus 22, 21; Lukas 20, 25). Dem Kaiser sollten Steuern und Zölle abgeführt werden, Verehrung und Liebe waren hingegen Gott vorbehalten, der den Gegenpart der momentanen weltlichen Herrschaft spielte und als deren Richter und Nachfolger betrachtet wurde. Zentrale praktische Prinzipien der neuen Bewegung waren die Gottes- und die Nächstenliebe. „Es ist kein ander größer Gebot denn diese“ (Markus 12, 31). Durch die Einhaltung und Befolgung dieser Gebote entfremdete sich das Urchristentum den herrschenden Sitten, dem römischen Recht und der im Reich verankerten Moral, dem Willen zur Macht und dem Leistungsprinzip.202 Zwar fügte 199

Vgl. Theißen, Studien, S. 150 f.; ders., Soziologie, S. 33 ff. Vgl. dazu H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 297 ff. (Kap. 7: „Die christliche Abkehr von den väterlichen Gesetzen der Stadtgemeinden“). 201 E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, S. 79. 202 Vgl. insgesamt W. A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums. 200

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sich der von ihm praktizierte „Liebeskommunismus“ (E. Troeltsch) oder „Liebespatriarchalismus“ (G. Theißen) ein in den verbreiteten Euergetismus der Spätantike, in die hellenistisch-römische Wohlfahrts- und Fürsorgepraxis,203 doch radikalisierte er das allgemeine Paradigma und stand im Gegensatz zur bürgerlichen Gleichberechtigung und zur politischen Partizipation in den griechischrömischen Städten.204 Die aus den beiden Grundprinzipien abgeleiteten Orientierungsmuster waren dementsprechend zumeist antirömisch. Nicht freiwillige Spenden der Reichen für die Armen waren gefordert, sondern gegenseitige Unterstützung der Glaubensgenossen wurde zur Pflicht. In der verbleibenden, ohnehin recht knapp bemessenen Zeit auf Erden sollte ein unauffälliges und bescheidenes, auf innerchristlicher Eintracht und Solidarität basiertes Leben geführt werden. Folglich blieb das Urchristentum nicht nur infolge des Monotheismus, sondern auch der aus ihm deduzierten ethischen Gebote in gehöriger Distanz zum Imperium Romanum. Durch das Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe wurde das geltende Wertesystem transzendiert und außer Kraft gesetzt. So konnte alsbald Paulus konstatieren, „daß die Menschheit seit Jesus nicht mehr durch Wettbewerb und Leistung, Überlegenheit und Unterlegenheit, Überordnung und Unterordnung, konstituiert und bestimmt sei, sondern durch die Solidarität des aus dem gemeinsamen Tode geborenen Lebens füreinander“.205 In dieser antirömischen und zugleich antipolitischen Haltung erblickt die jüngere Exegese gerade das politische Potential des Urchristentums und speziell der paulinischen Theologie und Praxis. Da Jesus von den Römern gekreuzigt und auch viele seiner Apostel von ihnen umgebracht wurden, waren Mißtrauen und Furcht in den ersten Christen tief verwurzelt und Ablehnung und Distanz bereits vor den großen Christenverfolgungen programmiert. Die wichtigsten antirömischen Stellen in den Paulusbriefen, im Johannes-Evangelium und in der Johannes-Apokalypse wurden bereits im vorigen Abschnitt (a) zitiert. Selbst das Lukas-Evangelium, das – im Gegensatz zum Matthäus-Evangelium – insgesamt ein eher affirmatives Verhältnis zum Römischen Reich entwickelte und sich später zu seiner theologischen Rechtfertigung und Untermauerung gebrauchen ließ,206 verkündete seine schließliche Zerstörung und Kriege und Empörungen als Vorboten des kommenden Gottesreiches: „denn solches muß zuvor geschehen“ (Lukas 21, 9). „Ein Volk wird sich erheben über das andre und ein Reich über das andre; und werden geschehen große Erdbeben hin und wieder, teure Zeit und Pestilenz; auch werden Schrecknisse und große Zeichen vom Himmel geschehen“ (10 f.). Allerdings sollte sich all dies 203

Vgl. H. Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege; P. Veyne, Brot und Spiele. Vgl. Troeltsch, Soziallehren I, S. 67 ff.; Theißen, Studien, bes. S. 268 ff. Zur Stellung der Städte im Römischen Reich vgl. F. Millar, Das Römische Reich und seine Nachbarn, S. 85 ff. 205 D. Georgi, Gott auf den Kopf stellen, S. 187. 206 Vgl. E. Peterson, Kaiser Augustus im Urteil der antiken Christen, S. 174 f. 204

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noch nicht gar zu bald ereignen, denn „das Ende ist noch nicht so bald da“ (Vers 9). Deshalb mußte man sich für die verbleibende Zeit auf andere Weise arrangieren, in den gesellschaftlichen Verhältnissen einrichten oder aber alternative Lebens- und Umgangsformen kreieren und etablieren. (c) Der Rückzug aus der Gesellschaft wurde von Jesus und seinen Jüngern praktiziert. Sie zogen zwar nicht in die Wüste oder in die Berge, um sich in Höhlen zu verstecken, begaben sich aber auf die Wanderung durch die Städte und Gemeinden Palästinas. Sie gaben alles auf und verließen ihre Heimat und ihre Familien, um sich ohne Besitz und Eigentum als Bettler zu verdingen. Dadurch durchbrachen sie die herrschende Moral und die im Reich verankerten Sitten. Der dort übliche Euergetismus, die Fürsorge der Reichen und Mächtigen für die Bedürftigen, bezog sich gewöhnlich auf solche Individuen und Gruppen, die ohne Absicht und eigenes Verschulden in Not und Elend geraten waren. Die Armut der Urgemeinde hingegen war freiwillig und selbstgewählt. Zwar waren die Wandercharismatiker auf Spenden und materielle Unterstützung durch die Wohlhabenden angewiesen, doch verachteten sie diese nicht nur im Stillen und behielten ein distanziertes und ablehnendes Verhältnis zu Reichtum und Besitz bei. Sie lebten in Armut und Demut und waren überzeugt, daß Reiche nur schwer bzw. gar nicht ins Himmelreich gelangen würden.207 Als Jesus seine Jünger aussandte, gebot er ihnen, sie sollten keine Schätze sammeln auf Erden (Matthäus 6, 19 ff.), sondern sich aufmachen ohne Vorräte, „daß sie nichts bei sich trügen auf dem Wege denn allein einen Stab, keine Tasche, kein Brot, kein Geld im Gürtel“ (Markus 6, 8; cf. Matthäus 10, 9 ff.; Lukas 9, 3 ff.; 10, 4). Sie sollten auf die Gastfreundschaft der Gläubigen vertrauen und sich von ihnen verköstigen lassen. Anstelle des essenischen „Produktionskommunismus“ entwickelten sie „einen auf Spenden basierenden ungrundsätzlichen Konsumkommunismus“.208 Sie lebten in Besitzlosigkeit und priesen die Gütergemeinschaft als gottgewollt, profitierten jedoch vom Privateigentum und Wohlstand ihrer Gönner.209 Der von ihnen propagierte und praktizierte „religiöse Liebeskommunismus“ (Troeltsch) war in Wirklichkeit eher ein „Liebespatriarchalismus“ (Theißen). Er betrachtete „die Gemeinsamkeit der Güter als Beweis der Liebe und des religiösen Opfersinnes“, war aber „lediglich ein Kommunismus der Konsumtion“ und hatte den fortdauernden privaten Erwerb – als Bedingung der Möglichkeit von Schenkung und Opfer – zur Voraussetzung.210 207 „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme“, lautet die Botschaft Jesu nach allen Synoptikern gleichermaßen. Vgl. Markus 10, 25; Matthäus 19, 24; Lukas 18, 25. 208 G. Theißen, „Wir haben alles verlassen“ (Mc. X. 28). Nachfolge und soziale Entwurzelung in der jüdisch-palästinischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts n. Ch. In ders., Studien, 106–141; hier: S. 122. 209 Zu diesem Widerspruch und der entsprechend ambivalenten Haltung zu Reichtum und Besitz vgl. Theißen, Studien, S. 39. 210 Troeltsch, Soziallehren I, S. 49.

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Die von Jesus postulierten und von seinen Jüngern gelebten ethischen Prinzipien eigneten sich jedoch nur für die kleine Gruppe der Wandercharismatiker selbst, nicht für die Gesamtgesellschaft oder auch nur die wachsende Zahl der Jesusanhänger.211 Diese benötigten andere Orientierungsmuster, wie sie dann vor allem von Paulus begründet wurden. Zwar versichert die Apostelgeschichte des Lukas, alle, die von Petrus missioniert und gläubig geworden waren, hätten alle Dinge miteinander geteilt und ihre Güter und Habe verkauft, um sie unter die Bedürftigen zu verteilen (Apostelgeschichte 2, 44 f.), doch dürfte sich auch diese Feststellung wohl nur auf die kleine und überschaubare Gruppe seiner ersten Anhänger beziehen. Und die Invektive des Petrus gegen Simon den Zauberer – „daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, daß du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlanget!“ (8, 20) – bezog sich auf dessen Versuch, sein Seelenheil durch Geld zu erkaufen (wofür später – in Anlehnung an diese Episode – der Ausdruck „Simonie“ gebräuchlich wurde). Mit der Ausbreitung des Urchristentums und der Parusieverzögerung wurde eine Arbeits- und Funktionsteilung auch innerhalb der urchristlichen Gemeinde unumgänglich. Um die Apostel und die ärmeren Schichten unterstützen zu können, mußten die aus der Mittel- und Oberschicht stammenden Christen auch weiterhin ihre gewohnten Rollen spielen. Paulus befahl deshalb den Mitgliedern seiner Gemeinden: „Ein jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist“ (1. Korinther 7, 20). Als Glieder des Leibes Christi (ebd. 12.; Römer 12, 4 f.; Epheser 4, 16) sollten sie einander ergänzen und gegenseitig stützen und die ihnen zukommenden Aufgaben ihren Anlagen und Fertigkeiten sowie ihrer Schicht- und Standeszugehörigkeit entsprechend erfüllen.212 Nur in Glaubensfragen blieb auch Paulus unerbittlich: „Ziehet nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen“ (2. Korinther 6, 14). „Darum gehet aus von ihnen, und sondert euch ab“ (Vers 17). Diese Distanzierung betraf nur die Reinheit der Lehre und die Erfordernisse des Kultes. Sie zielte auf die Konkurrenten des Apostels in seinen Gemeinden und wollte das Verhältnis zwischen den Judenund Heidenchristen klären. Davon nicht betroffen waren die Angelegenheiten des alltäglichen Lebens. Zur Sicherung der Subsistenz und der materiellen Reproduktion sollten die Gläubigen bis zur Wiederkunft Christi in ihren angestammten Rollen und Berufen verharren. Spätestens seit Paulus stand der gänzliche und rigorose Rückzug der Christen aus der Gesellschaft somit nicht mehr auf dem Plan. Während Petrus die von Jesus ausgesandte Jüngerschar noch als „Fremdlinge und Pilgrime“ (1. Petrus 2, 11; cf. 1, 1) betrachtete, konnte der Verfasser des Epheserbriefes den Mitgliedern 211 Diese Einsicht hatte bereits der junge Hegel im Kontext seiner frühen Fragmente über Volksreligion und Christentum (1793–94) und über Die Positivität der christlichen Religion (1795/96) gewonnen. Vgl. HW 1, 9–229; bes. S. 60 ff., 139 ff. 212 Zu den einzelnen von Paulus aufgestellten Verhaltensregeln und -normen vgl. E. P. Sanders, Paulus, S. 132 ff. Zur sozialen Schichtung der urchristlichen Gemeinden siehe auch E. W. Stegemann/W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte (1995).

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seiner Gemeinde frohgemut verkünden: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2, 19). Waren sie als „Gäste und Fremdlinge in dieser Welt“ noch „weit entfernt, sich auf eine bestimmte politische oder soziale Ordnung festzulegen“,213 so mußten sie als Bürger und Hausgenossen des Gottesreichs schon konkretere Vorstellungen entwickeln. Diese Konkretisierung wurde aber nur hinsichtlich des Verhältnisses zum Judentum sowie der Organisation der urchristlichen Gemeinden wirklich geleistet [s. u. b) u. c)]. Bezüglich der Rückzugsperspektive kann man zusammenfassend konstatieren: Im Unterschied zu anderen prophetischen Bewegungen orientierte sich die Jesusbewegung nicht am Exodus als Modell der Befreiung von Fremdherrschaft, sie bezog ihre Zukunftsvision „aus dem innerjüdischen Bereich: Der Tempelbau wird zum Typos des Neuen. Das deutet auf innere Erneuerung. So wird die Empörung über brutale Unterdrückung durch die Römer zurückgewiesen und zur Frage nach der eigenen Umkehrbereitschaft umformuliert“.214 (d) Die resignierte Anpassung an die vorgefundenen Verhältnisse wurde hingegen jederzeit möglich. Sie wurde zur dominanten Haltung des Urchristentums und fand Anhaltspunkte und Legitimationsmuster in den meisten Schriften des Neuen Testaments. Nicht nur in der Eschatologie des Paulus, sondern auch in den eschatologischen und apokalyptischen Partien der Evangelien bewirkt die Naherwartung des Gottesreiches eine indifferente Loyalität gegenüber den weltlichen Herrschern bzw. dem Römischen Reich.215 Die ersten Christen lebten im Gefühl der unmittelbar anbrechenden neuen Zeit. Wichtiger als alle Abgrenzungsversuche und Aufstände erschien ihnen daher ein stilles und geruhsames Leben, das der Vorbereitung auf das jüngste Gericht und den neuen Äon dienen und folglich auch die schweigende Duldung der weltlichen Herrschaft und der von ihr ausgehenden Repressionen rechtfertigen konnte. Das schon erwähnte Gleichnis vom Zinsgroschen verdeutlicht die aus innerer Distanz und Gleichgültigkeit resultierende Hinnahme der Machthaber und ihrer Anordnungen durch Jesus. Nicht nur Paulus, sondern auch andere Apostel riefen die Jesusanhänger entsprechend zur willigen Unterordnung unter die Obrigkeit und zur Befolgung ihrer Anordnungen und der geltenden Gesetze auf, soweit sie den neuen Glauben nicht beeinträchtigten. So forderte Petrus: „Seid unterthan aller menschlicher Ordnung um des Herrn willen, es sei dem Könige, als dem Obersten, oder den Hauptleuten, als die von ihm gesandt sind zur Rache über die Übelthäter und zu Lobe der Frommen“ (1. Petrus 2, 13 f.). „Ehret den König“ (Vers 17). „Ihr 213

R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 601. Theißen, Soziologie, S. 61 (mit Verweis auf Lukas 13, 1 ff.). 215 Vgl. F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 70 f.; Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 65 ff.; ders., Die politische Theologie des Paulus, S. 74 f. 214

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Knechte, seid unterthan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen“ (Vers 18). Paulus selbst schrieb an seine Schüler Timotheus und Titus: „So ermahne ich nun, daß man vor allen Dingen zuerst thue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, auf daß wir ein geruhig und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit“ (1. Timotheus 2, 1 f.). „Erinnere sie, daß sie den Fürsten und der Obrigkeit unterthan und gehorsam seien, zu allem guten Werk bereit seien, niemand lästern, nicht hadern, gelinde seien, alle Sanftmütigkeit beweisen gegen alle Menschen“ (Titus 3, 1 f.). Am weitesten ging er indes in der berühmten Passage des Römerbriefes, worin er absoluten Gehorsam gegen die weltlichen Regenten verlangte: „Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet“ (Römer 13, 1). Allerdings bedeutete Untertansein nicht Verehrung, sondern nur die Befolgung der Gesetze in äußerlichen Gesten. Inneres und Äußeres, Moralität und Legalität traten auseinander. Man mußte sich den Machthabern beugen. Herz und Seele gehörten hingegen Gott und den Brüdern. Allein der Glaube zählte. Die Übernahme des Kaiserkultes durch die Christen stand zu keiner Zeit auf dem Programm. Angesichts der äußerst knappen Zeit – „die Zeit ist kurz“ (1. Korinther 7, 29), „das Wesen dieser Welt vergeht“ (Vers 31), das Ende der Welt ist gekommen (10, 11) – gab es allenthalben „Wichtigeres“ zu tun als sich mit den Herrschern und Regenten anzulegen. Beflügelt vom heilsgeschichtlichen Optimismus, verpufft die „politische Ladung“ der paulinischen Theologie folglich im politischen Defätismus.216 Damit können die Ergebnisse des ersten Abschnittes zusammengefaßt werden. Nicht erst das spätantike und mittelalterliche Christentum,217 sondern schon die kanonischen Quellen schwanken in ihrer Stellung zum Imperium Romanum zwischen vier gegensätzlichen Positionen. Das Spektrum reicht von der Perhorreszierung des Reiches als Satansbrut und Gegenmacht der Gemeinde bis hin zur positiven Wertung der ungläubigen und feindlichen Obrigkeit als gottgewollt. Zwischen diesen beiden Extremen blieb als Kompromißlösung die Distanzierung vom konkreten politischen Gemeinwesen bei Anerkennung oder Ablehnung der Obrigkeit bzw. die völlige Indifferenz und passive Duldung der fremden Gewalt. Für all diese Standpunkte finden sich Anhaltspunkte und Legitimationsmuster schon in den Schriften des Neuen Testaments. Die Entscheidung der einzelnen und Gruppen für die eine oder andere Haltung dürfte in der Regel maßgeblich durch ihre jeweilige Stellung innerhalb des Sozialgefüges, d. h. durch soziale Faktoren bestimmt worden sein. Die Mitglieder der Oberschichten und die Gebildeten dürften ein anderes Verhältnis zum Reich entwickelt haben als die Ungebil-

216

Vgl. dazu auch Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 73 ff. Vgl. dazu M. Weber, WuG, S. 359 f. sowie Troeltsch, Soziallehren I, S. 148 ff., 238 ff. 217

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deten und die Angehörigen der Unterschichten. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land wird sich hier ebenso ausgewirkt haben wie die unterschiedliche Schichtzugehörigkeit. Eindeutige Vorschläge und Anweisungen für alle christlichen Gruppen wird man in den kanonischen wie nicht-kanonischen Quellen daher vergeblich suchen. Die Partizipation an der bürgerlichen Selbstverwaltung in den Provinzen und Städten stand hingegen nirgendwo und zu keiner Zeit auf dem Programm.218 Im Gegensatz zur griechischen Polis und zur römischen Republik wurde im Urchristentum nicht um gleiche bürgerliche Rechte gestritten, „wohl aber um eine durch Rücksicht, Fürsorge und Verantwortungsbewußtsein charakterisierte Gestaltung der Beziehungen zwischen den Mitgliedern verschiedener Schichten“.219 „Das Ethos, das die christliche Literatur vor Konstantin durchzieht, ist nicht das des ,Bürgers‘, sondern das des Metöken“.220 Die Gemeindemitglieder sollten sich der politischen Betätigung im Reich wie in den Städten und Provinzen enthalten und sich auf das Binnenleben der religiösen Gemeinde konzentrieren. Deren Selbstbehauptung und innere Einheit in einer fremden und feindlichen Umgebung wurde zur obersten Maxime der urchristlichen Politik. An erster Stelle im Kanon der ethischen Forderungen standen daher die Prinzipien der Gastfreundschaft, der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung, der Solidarität und Subsidiarität – allesamt abgeleitet vom Fundamentalprinzip Liebe. Gelegentlich auftretender Streit über die richtige, d. h. gottgemäße Lehre wurde nicht als befruchtendes Element betrachtet, sondern als Störung der inneren Eintracht und Ruhe. Er wurde nicht institutionalisiert, sondern von den Aposteln unterbunden und nach Möglichkeit erstickt. Innere Spaltungen wurden als Abfall einzelner oder Gruppen vom wahren Glauben gebrandmarkt und von den Gemeindemitgliedern und ihren Häuptern unterdrückt. Sie sollten in der weiteren Entwicklung sogar zum Anlaß und Movens der Einführung hierarchischer und autoritärer Ordnungen werden. Nicht der geregelte Streit der Gruppen und Faktionen über die richtige Gestaltung des Gemeinschaftslebens, sondern die gegenseitige Fürsorge und Liebe sollten das Zusammenleben regeln.221 Kein Wunder, daß politische Probleme in den Theologiegeschichten des Urchristentums gewöhnlich nur en pas218 In der Apostelgeschichte (bes. 19, 23 ff. und passim) ist die bürgerliche Selbstverwaltung – deren Errungenschaften und Formen Lukas an anderer Stelle exakt in die Urgemeinde hinein- bzw. zurückprojiziert (vgl. ebd., 1, 12 ff., passim) – geradezu Gegenstand der Verachtung und des Hasses. Der städtische Demos, die Versammlung des Volkes (ekklesia), erscheint als Zusammenrottung des Pöbels. Vgl. dazu A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin. Bd. 2, S. 6 f. 219 Theißen, Studien, S. 271. 220 W. A. Meeks, Die Rolle des paulinischen Christentums, S. 367. 221 Die Prinzipien der „Fürsorge“ und der „Liebe“ werden heute von feministischen Theoretikerinnen als Merkmale einer spezifisch „weiblichen Moral“ begriffen, die sich von der auf „Gleichheit“ und „Gerechtigkeit“ spezialisierten „männlichen Moral“ unterscheide. Vgl. C. Gilligan, Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. G. Nunner-Winkler, Gibt es eine weibliche Moral?

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sant erörtert werden oder ganz im Hintergrund bleiben, während Fragen des Heils, der Sakramente, der Taufe, des Abendmahls, der Totenauferstehung, der Wunder usw. sowie der Christologie, Soteriologie und Pneumatologie im Vordergrund stehen. b) Das Verhältnis der Jesusbewegung zum Judentum Ähnlich ambivalent und widersprüchlich wie die zum Imperium Romanum war die Stellung des Urchristentums zum bzw. im Judentum. Zunächst eine innerjüdische Erneuerungsbewegung neben anderen, verselbständigte es sich ganz allmählich und wurde zu einem Kontrahenten. Das Verhältnis wurde aber erst infolge der erfolgreichen Heidenmission des Paulus und des alsbald eskalierenden Konflikts zwischen Juden- und Heidenchristen prekär. Jesus und seine Jünger hatten nie beabsichtigt, das Judentum zu verlassen. Vielmehr wollten sie es restaurieren. Dieses Bestreben bestimmte ihre Stellung zu seinen beiden Zentren, zum Tempel und zur Thora. Jesus „reinigte“ den Tempel und verschärfte auf seine Weise das Gesetz, indem er es auf einige Zentralgebote reduzierte, diesen aber unbedingte Geltung zusprach. Wie die früheren Protestbewegungen in der israelitisch-jüdischen Geschichte forderte auch er die Rückbesinnung auf den richtigen Glauben. Wie in den anderen radikaltheokratischen Bewegungen richtete sich sein Protest zugleich gegen die Herrschaft der Priester und Aristokraten. Wieder diente der Theokratiegedanke der Kritik an den verkrusteten Strukturen – im Tempel wie im Reich. Jesus attackierte die Priester und Schriftgelehrten und wollte seine Anhänger ihrem Einfluß entziehen. Mit diesem Anliegen stand er seinerzeit nicht allein. Alle innerjüdischen Erneuerungsbewegungen blieben prinzipiell auf Distanz zu den hellenistischen Städten und entwickelten ein kritisches Verhältnis zu Jerusalem. Sie aktualisierten den im Alten Bund angelegten Gedanken der Gottesherrschaft und interpretierten ihn im Sinne der direkten Theokratie, die keine Mittler oder Repräsentanten zwischen Gott und den Menschen vorsah. „Die Spannung zwischen beanspruchter Theokratie und faktischer Aristokratie wurde zum Nährboden radikaltheokratischer Bewegungen, in denen die Theokratie Jahwes gegen ihre theokratischen Vermittler und deren Verbündete, also gegen Priester und Römer, ausgespielt wurde“.222 Vorrangiges Ziel Jesu war die Wiederherstellung des Tempels, den er aus einer „Mördergrube“ in ein Bethaus zurückverwandeln wollte. Im Zuge dieser Bemühungen entwickelte er ein ungeahntes Aggressionspotential, das seiner Natur und seinen sonstigen Aktivitäten und Predigten überhaupt nicht entsprach. In JerusaSiehe zu dieser Kontroverse ferner Detlef Horster (Hg.), Weibliche Moral – ein Mythos? Frankfurt/M 1998 (mit weiteren Literaturhinweisen, S. 28 ff., 117 ff., passim). 222 Theißen, Soziologie, S. 57. Vgl. ders., Studien, S. 152. Für Theißen bildet die Jesusbewegung den „quietistischen Flügel“ der radikaltheokratischen Bewegungen (Studien, S. 203).

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lem angekommen, ging er in den Tempel, „fing an und trieb aus die Verkäufer und Käufer in dem Tempel; und die Tische der Wechsler und die Stühle der Taubenkrämer stieß er um; und ließ nicht zu, daß jemand etwas durch den Tempel trüge“ (Markus 11, 15 f.; cf. Matthäus 21, 12; Lukas 19,45; Johannes 2, 14–16). Dadurch brachte er die Schriftgelehrten und Hohenpriester gegen sich auf, die ihm nach dem Leben trachteten, sich aber vor ihm fürchteten und vor der Tat zurückschreckten, da sich das Volk von seinen Reden überaus beeindruckt zeigte (Markus 11, 18; Matthäus 21, 46; Lukas 19, 47 f.). Er nutzte sein Charisma aber nicht zur Mobilisierung der Massen gegen die Machthaber, sondern schwor seine Anhänger auf die Erlösungshoffnung und die genannten ethischen Prinzipien der Gottes- und Nächstenliebe ein. Dem Tempel prophezeite er die baldige Zerstörung (Markus 13, 2; Matthäus 24, 2; Lukas 21, 6) und die schließliche Erneuerung als „Tempel seines Leibes“ (Johannes 2, 19–21).223 Im Mittelpunkt der praktischen Bestrebungen Jesu stand somit die Reinigung und Erneuerung des Tempels. Sein Verhältnis zur Thora indes (wie auch zum römischen Recht) war ambivalent. Einerseits hielt er am Buchstaben des mosaischen Gesetzes fest und erinnerte an die illokutionären Bindekräfte des Alten Bundes. Andererseits reduzierte er das Gesetz auf wenige Prinzipien, in denen alles Weitere enthalten sein sollte. „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen“, teilte er seinen Jüngern mit; „ich bin nicht kommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetze, bis daß es alles geschehe“ (Matthäus 5, 17 f.; cf. Lukas 16, 17). Er erinnerte sodann an alle entscheidenden Ge- und Verbote, die Moses seinem Volk übermittelt hatte – vom Tötungsverbot über die Pflicht zur Bruderliebe und zur Elternverehrung bis hin zum Ehebruchs-, zum Scheidungsbzw. Wiederverheiratungs- und zum Schwurverbot. Schließlich aber reduzierte er ihren gesamten Gehalt auf einen einzigen Satz: „Alles nun, das ihr wollet, das euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7, 12). Auf die Frage eines Schriftgelehrten, welches denn nun das vornehmste Gebot im Gesetze sei, antwortete er: „,Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.‘ Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andre aber ist dem gleich: ,Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.‘ In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten“ (22, 37–40; cf. Markus 12, 29–31). Auf die Dialektik von Thoraverschärfung und -entschärfung bei Jesus haben vor allem Gerd Theißen und Annette Merz hingewiesen.224 „Das Geheimnis der 223 Zur Tempelweissagung Jesu vgl. Theißen, Studien, S. 142 ff. Nach Theißen äußert sich darin das Spannungsverhältnis von Stadt und Land. 224 Vgl. Theißen/Merz, Der historische Jesus, bes. S. 321 ff. Seitenzahlen in den beiden nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. Siehe auch Theißen, Soziologie, S. 74 ff.

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Ethik Jesu“, schreiben sie, „liegt im Nebeneinander thoraverschärfender und -entschärfender Tendenzen“ (S. 330). Während Jesus an den soeben genannten Geboten festhielt und sie besonders betonte, verwarf er zentrale rituelle Bestimmungen der Thora: vom Sabbatgebot über das Zehnt- und Opfer- bis hin zum Reinheitsgebot (S. 325 ff.). „Der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbaths willen“, ließ er seine Ankläger wissen (Markus 2, 27). Und als einige Schriftgelehrte und Pharisäer zu ihm traten, um ihm vorzuhalten, seine Jünger verletzten die alten Satzungen und Bräuche und äßen das Brot mit ungewaschenen Händen, nannte er sie „Heuchler“, die nur auf Äußerlichkeiten achten, in ihrem Inneren aber verstockt und seiner Botschaft verschlossen seien (Markus 7, 5 ff.). „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer“, fauchte er sie an, „ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig reinlich haltet, inwendig aber ist’s voll Raubes und Fraßes! Du blinder Pharisäer, reinige zum ersten das Inwendige an Becher und Schüssel, auf daß auch das Auswendige rein werde“ (Matthäus 23, 25 f.). „Normverschärfung“, so fassen Theißen und Merz die Ergebnisse ihrer Studien zusammen, „bezieht sich bei Jesus auf ethische Gebote im engeren Sinne, Normentschärfung dagegen auf rituelle und kultische Normen (. . .) Beide Tendenzen seiner Ethik dienen dazu, jüdische Identität zu wahren und jüdisches Leben zu ermöglichen“ (S. 331). „Jesus verschärfte ethische Normen (allen voran das Liebesgebot), in denen eine Tendenz zu einem universalen Ethos deutlich ist. Er relativierte rituelle Normen (allen voran das Reinheitsgebot), durch die das Judentum vom Heidentum getrennt wird – ohne diese Normen allerdings grundsätzlich aufzuheben“ (S. 323). Das grundsätzliche Ziel der Ethik Jesu war, jüdische Identität im Verhältnis zur heidnischen Umwelt zu wahren und im Innern die Integration marginaler Gruppen zu ermöglichen (S. 332). „Sie will auf der einen Seite jüdische Identität durch Verschärfung der Thoranormen nach außen hin sichern, auf der anderen Seite nach innen hin durch Thoraentschärfung deklassierte und marginalisierte Gruppen integrieren“ (S. 350). Im Gegensatz zu früheren christlichen Interpretationen, die unter dem Eindruck verbreiteter antisemitischer Tendenzen einen radikalen Bruch zwischen Jesus und dem Judentum konstatierten, kommen Theißen/Merz – mit E. P. Sanders225 – zu dem Ergebnis: „Jesus ist Gründer einer ,innerjüdischen Erneuerungsbewegung‘, deren Intensivierung von Thora und Eschatologie formal anderen ,radikaltheokratischen‘ Bewegungen entspricht. Inhaltlich ist die Verkündigung Jesu ,Restaurationstheologie‘: Sie zielt auf Wiederherstellung des jüdischen Volkes“ (S. 29). Dennoch blieb das Verhältnis gespannt, ließ sich der Bruch nicht vermeiden. Die Rivalität, die letztlich zur Spaltung führen sollte, war bereits im christlichen Grunddogma angelegt, im Glauben, Jesus sei der Christus, d. h. der von Jahwe gesandte, von den Propheten und dem Täufer verkündete Messias und König aus 225

E. P. Sanders, Jesus and Judaism.

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dem Hause Davids. Diese Auffassung mußte den gläubigen Juden, die sich nicht zur neuen Lehre bekehrten, als Häresie erscheinen. Durch die Epiphanie Jesu Christu war für die Christen der große Umbruch und der Beginn der neuen Zeit eingeleitet. Gott hatte seinen eingeborenen Sohn gesandt, um die verdorbene Menschheit zu erlösen von allen Übeln dieser Welt. Er selbst war durch ihn Mensch geworden und hatte sie von ihren Sünden befreit, indem er sie auf seine Schulter lud und durch seinen Kreuzestod sühnte. Der Glaube an die Erlösungstat des göttlichen „Menschensohns“ wurde zum Movens und zum organisierenden Zentrum der nachösterlichen Erfahrung und Erwartung. Er einte die entstehende Christenheit, bewirkte aber ihre Separierung vom Judentum, denn: „aus jüdischer Perspektive spaltet die Teilung der Göttlichkeit in ,Vater‘ und ,Sohn‘ das göttliche Wesen; sie wurde und wird von der Synagoge ganz einfach als Gotteslästerung verstanden“.226 Dies gilt auch dann, wenn das Vater-Sohn-Verhältnis nur metaphorisch und nicht physisch gemeint ist. Daraus erklärt sich der schon zu Lebzeiten Jesu einsetzende Konflikt, der auch in der Folgezeit keine Lösung finden sollte und konnte. Er wurde durch die paulinische Heidenmission und die Vereinnahmung und Instrumentalisierung der jüdischen Bibel durch die Evangelisten, die sie zum Alten Testament herabstuften, noch weiter geschürt. Bei aller Verwandtschaft mit den Pharisäern, denen die Jesusbewegung von allen jüdischen Gruppen am nächsten stand,227 dürften der von den Evangelien überlieferte Spott und die Vorwürfe gegen Jesus und seine Jünger von seiten der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht den – zweifellos vorhandenen – antisemitischen Vorurteilen der Evangelisten entsprungen sein. Sie folgten zwingend aus der Logik der Sache. Da sie die Messianität Jesu bestritten, konnten sie in ihm nur einen Ketzer und Scharlatan erblicken, der sich – geplagt von einer Paranoia – selbst erhöhte und zum Heiland stilisierte. Seine Reden und Taten blieben folglich für das (nicht-christliche) Judentum insgesamt religiös bedeutungslos. Sie störten allenfalls den Frieden und den Alltagsbetrieb innerhalb wie außerhalb des Tempels. Solange er sich mit seinen Jüngern in den ländlichen Regionen Palästinas aufhielt, fielen seine Bemühungen vermutlich nicht sonderlich auf und ins Gewicht. Man konnte ihn einfach ignorieren. Sobald er jedoch nach Jerusalem kam, um die Menschen aufzurütteln und den Tempel zu reorganisieren, mußten seine Aktivitäten bei der dort ansäßigen Bevölkerung und speziell bei den Priestern und Aristokraten Anstoß erregen. Kritisierte er doch ihren Lebenswandel und ihre eingewurzelten Sitten und Bräuche. Seine Attacken gegen ihre Macht und ihren Reichtum und seine Hinwendung zu den Unterschichten und den marginalisierten Gruppen, den Zöllnern und Sündern, mußte ihren Argwohn wecken. Vor allem aber wurden sie durch seine Auftritte im Tempel und seine Reduktion der Thora auf das doppelte Liebesgebot aufgestachelt. Hatte er doch damit an 226 227

J. Taubes, Die Streitfrage zwischen Judentum und Christentum, S. 88. Vgl. Theißen/Merz, Der historische Jesus, S. 138, 208 ff.

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den beiden Säulen der jüdischen Identität gerüttelt. Seine Tempelweissagung und seine Relativierung der Ritualgesetze standen im Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis und ihren Erwartungen. Wollten sie ihre Orientierung nicht verlieren, mußten sie sich gegen seine Agitation wehren. Doch waren es nicht die Juden, sondern die Römer, die den Prozeß gegen Jesu führten und seinen Tod herbeiführten.228 Jesus und seine Jünger durchbrachen jedoch nicht den jüdischen Nomismus und Ethnozentrismus. Beide wurden letztlich erst von Paulus tatsächlich aufgehoben, d. h. zerstört und transzendiert. Dies war allerdings nicht seine Absicht und sein Ziel gewesen. Es war eher eine unbeabsichtigte Folge seiner erfolgreichen Missionstätigkeit und der durch sie hervorgerufenen innerchristlichen Konflikte. Auch Paulus war nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.229 Als einstiger Pharisäer und römischer Bürger war er ein vehementer Verfechter, ein Eiferer des Gesetzes gewesen, der die frühen Christen verfolgt und aufgerieben hatte, ehe er in Damaskus von ihnen bekehrt wurde.230 Er war beschnitten und hatte sich redlich bemüht, alle Gebote der Thora zu befolgen. Dabei hatte er aber erkennen müssen, daß er außer Stande war, sie allesamt zu erfüllen. Die persönlichen Motive seiner Konversion und seines späteren Wirkens hat Friedrich Nietzsche sehr scharf erkannt und treffend beschrieben: „Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher: an einer fixen, stets gegenwärtigen, nie zur Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetze habe? und zwar mit der Erfüllung dieses Gesetzes? In seiner Jugend hatte er ihm selber genugtun wollen . . . Und nun erfuhr er an sich, daß er . . . das Gesetz selber nicht erfüllen konnte“.231 Zu streng waren seine einzelnen Bestimmungen, zu vielfältig die Vorschriften und Verbote. Hans Blumenberg vergleicht diese Erfahrung des Paulus mit der des Thales von Milet. Hatte jener seinerzeit festgestellt, alles sei voll von Göttern, so kam dieser zu der deprimierenden Einsicht, alles sei voll von Gesetzen. „Deren Beachtung machte ihre Achtung zunichte; das ist das Problem des Pharisäers Paulus im Römerbrief“.232 Und nicht nur im Römerbrief, 228 Daß der Gerichtsprozeß und die Ermordung Jesu nicht – wie von den Evangelien und von der älteren christlichen Exegese insinuiert – von den Juden, sondern von den Römern angestrengt und vollzogen wurde, betont zu Recht Ch. Cohn, Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht. 229 Zur Stellung des Paulus zur Thora vgl. bes. K. Berger, Theologiegeschichte, S. 503 ff.; E. P. Sanders, Paulus, S. 110 ff. Zu den einzelnen theologischen Positionen des Paulus vgl. den Überblick von K. Berger, S. 470 ff. 230 Vgl. Apostelgeschichte 8. ff., 26,4 ff.; Galater 1, 13 ff. Zur Biographie des Paulus vgl. J. Becker, Paulus; E. Biser, Paulus; G. Bornkamm, Paulus; M. Dibelius/W. G. Kümmel, Paulus; J. Gnilka, Paulus von Tarsus; W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, S. 217 ff.; H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche. Bd. 1, S. 102 ff.; E. Lohse, Paulus. 231 F. Nietzsche, Morgenröte (1881). Erstes Buch, Aph. 68. (Der erste Christ). I, S. 1055 f. 232 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 35.

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auch in seinen anderen Briefen suchte er nach Lösungen für dieses Zentralproblem. Er fand sie schließlich in der Verabschiedung des Gesetzes, das in seinen Augen seine historische Funktion bereits erfüllt hatte und ferner nicht mehr nötig war. Auch nach seiner Konversion verstand sich Paulus weiterhin als Jude, der die von Jesus begonnene Reform weitertreiben wollte. Auch er wollte, wie die jüngere Paulus-Forschung betont,233 innerhalb des Judentums verbleiben und diesem neue Kräfte zuführen, unverdorbene, doch unbeschnittene Menschen, die nicht nach den mosaischen Gesetzen lebten. Sein Ziel war die Missionierung der Heiden – von Kleinasien über Griechenland bis ins Herz des Römischen Reiches und schließlich gar bis nach Spanien. Er sammelte die im Reich verbreiteten Mysterienkulte auf und bekehrte ihre Anhänger zum alleinigen Gott Israels. Um sie für Jahwe zu gewinnen, mußte er ihnen Konzessionen machen und weitere Abstriche von der Thora billigen, die über die von Jesus vollzogene Entschärfung bei weitem hinausgingen. Er legte dar, daß die Beschneidung nicht erforderlich sei (Römer 2, 15; Galater 5.; passim), daß der Mensch nicht durch des Gesetzes Werke, sondern nur durch den Glauben gerecht werde (Römer 3, 28; 9, 12; Galater 2, 16; passim), daß Gott nicht nur der Juden, sondern auch der Heiden Gott sei (Römer 3, 29) usw. Er wollte nicht die Juden von der Einhaltung der Gesetze abhalten – im Gegenteil: er forderte sie auf, alle seine Bestimmungen zu beachten und zu erfüllen, anstatt sich nur auf einige wenige zu berufen –, doch wollte er auch jenen, die nicht an sie gebunden waren, den Weg zu Jesus Christus und ins Himmelreich ebnen. Weder durch Geburt (ethnos) noch durch die Befolgung des Gesetzes (nomos), sondern nur durch den Glauben (pistis) an den Erlöser Jesus Christus sollte man dorthin gelangen und Teil des auserwählten Volkes werden. Vor dem Hintergrund des jesuanischen Liebesgebotes nahmen sich alle anderen Gesetze klein und bedeutungslos aus. Ihre Relativierung wurde Paulus erleichtert dadurch, daß er just zu dem von ihm einst bekämpften damaszenischen Christentum bekehrt wurde, das außerhalb der Synagoge lebte und vermutlich schon gesetzesfrei und -kritisch, da universalistisch orientiert war.234 Paulus wollte zeigen, daß nicht der Nomos, sondern der durch den Nomos ans Kreuz Geschlagene der Imperator ist, daß weder Physis noch Nomos gemeinschaftsstiftende Kraft haben, daß diese Kraft vielmehr durch die Pistis Jesu Christu gegeben ist.235 Damit verwarf er die Thora. Zwar versicherte er dem Land233 Vgl. Taubes, Die politische Theologie des Paulus. Ähnlich D. Georgi, Gott auf den Kopf stellen, S. 160: „Paulus und andere Jesusanhänger praktizieren nicht Auswanderung aus dem Judentum, sondern Binnenwanderung im Judentum.“ Bereits früher wurde Paulus aus dem jüdischen Kontext interpretiert von W. D. Davies, Paul and Rabbinic Judaism. 234 Vgl. W. Schmithals, Theologiegeschichte, S. 78 ff., 90 ff., 110 ff., 225 ff. 235 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 38; D. Georgi, Gott auf den Kopf stellen, S. 167.

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pfleger Portius Festus, der ihn anläßlich einer Anklage durch die jüdische Gemeinde Jerusalems vor den Richterstuhl zitiert hatte: „Ich habe weder an der Juden Gesetz noch an dem Tempel noch am Kaiser mich versündiget“ (Apostelgeschichte 25, 8). Doch wollten ihm seine Ankläger mit gutem Grund keinen Glauben schenken. Hatte er doch Jesus als Gegenkaiser inthronisiert236 und unzweifelhaft verkündet, das Gesetz habe seine geschichtliche Aufgabe bereits erfüllt, sei mit dem Anbruch der neuen Zeit daher überflüssig geworden. „Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubet, der ist gerecht“ (Römer 10, 4). „Es ist hie kein Unterschied unter Juden und Griechen“ (Vers 12). Und schlimmer noch: „Die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit getrachtet, haben die Gerechtigkeit erlanget“, die „Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Israel aber hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgetrachtet, und hat das Gesetz der Gerechtigkeit nicht erreicht. Warum das? Darum, daß sie es nicht aus dem Glauben, sondern aus den Werken des Gesetzes suchen“ (9, 30–32). „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. Sintemal es ist ein einiger Gott, der da gerecht machet die Beschneidung aus dem Glauben und die Vorhaut durch den Glauben. Wie? heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf“ (Römer 3, 28–31). Alle Gebote aber, so versichert Paulus wie einst Jesus, sind „in diesem Wort zusammengefasset: ,Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘“ (13, 9; cf. 3. Mose 19, 18). „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (13, 10). Hatte Jesus die familialen Bande innerhalb des jüdischen Volkes relativiert und für ihre Auflösung oder Ignorierung gekämpft [s. o. 2 a), (a)], so ersetzte Paulus die Abstammungsgemeinschaft insgesamt durch die pneumatische Gemeinschaft der Gläubigen. „Denn es sind nicht alle Israeliter, die von Israel sind“; „nicht sind das Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind, sondern die Kinder der Verheißung werden für Samen gerechnet“ (Römer 9, 6–8). Das christliche Glaubensbekenntnis trat an die Stelle des mosaischen Gesetzes und ersetzte die Bindekräfte des Alten Bundes. Nicht durch die Abstammung und die Beschneidung, sondern allein durch den Glauben, daß Jesus der Christus sei, wurde man Mitglied des auserwählten Volkes. Nicht die Vorschriften der Thora, sondern die Gebote der Nächstenliebe gaben den Ausschlag, denn „wer den andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet“ (13, 8). Jesus trat an die Stelle, die einst Moses innegehabt hatte.237 Durch seine Gnade „sind wir vom Gesetz los und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, also daß wir dienen sollen im neuen Wesen des Geistes, 236 Zur Substituierung des Kaisers durch Christus vgl. auch E. Peterson, Christus als Imperator. In ders., Theologische Traktate, S. 149 ff.; A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 2, S. 26 ff. 237 Vgl. dazu auch den Brief an die Ebräer 3., der noch über Paulus hinausgeht und Jesus über Moses stellt: „Dieser aber ist größrer Ehre wert denn Mose“ (3, 3). – „Denn

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und nicht im alten Wesen des Buchstabens“ (7, 6). Diese Lehre schloß auch die gelegentliche, ja grundsätzliche Mißachtung des geltenden Rechts mit ein, soweit es den Anforderungen des Kultes und des Gemeindelebens entgegenstand. Zwar sollten die Gesetze nicht übertreten oder gar umgestürzt werden, doch empfahl Paulus ihnen gegenüber Indifferenz bzw. Ignoranz.238 Die gläubig Verbundenen sollten keine Rechtsgeschäfte miteinander treiben (1. Korinther 6.). Die hartnäkkig und zielstrebig verfolgte Strategie der Heidenmission brachte Paulus zwangsläufig in Distanz und Rivalität und führte letztlich zum Auszug aus dem Judentum. Die Binnenwanderung hatte zur Gründung einer neuen Ekklesia geführt, deren Mitglieder mehrheitlich gesetzesfrei lebten und andere Umgangsformen pflegten. Nicht der Tempel oder die Synagoge, sondern die Neuorganisation des Gemeindelebens unter dem Vorzeichen der Nächstenliebe wurde entscheidend für das Seelenheil der Heidenchristen. So hat Paulus tatsächlich und wider Willen die Trennung des Christentums vom Judentum eingeleitet, die mit der Niederlage der Zeloten und Widerstandsgruppen im jüdischen Aufstand (66–70 n. Chr.) gegen die Römer besiegelt wurde. Nach dem Ende des jüdischen Krieges und der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. spitzte sich die Lage für die jüdische Bevölkerung aufs äußerste zu. Von den einstigen Parteien waren nur die Pharisäer übriggeblieben, die fernerhin das Sagen hatten, die Rabbinen stellten und durch sie die Geschicke des jüdischen Volkes im Rahmen des Römischen Reiches bestimmten. Sie hatten sich gegen ihre sadduzäische Konkurrenz behauptet und den gegebenen Lebensbedingungen angepaßt, indem sie das Abstammungs- durch das Bildungsprinzip und die religiöse Positions- durch „eine religiöse Qualitäts- und Leistungsaristokratie“ ersetzten.239 Die eine tragende Säule der jüdischen Identität war mit dem Tempel weggebrochen. Es blieb nur noch die Thora als integratives und einheitsstiftendes Element. Folglich konnten sich die Erneuerungsbemühungen in der Nachkriegszeit nur auf diese stützten. Sie mußten zu einer weiteren Verschärfung des Gesetzes führen, das im Talmud ergänzt und neu kanonisiert wurde. Die Folge war, daß die Judenchristen endgültig aus der Synagoge ausgeschlossen wurden.240 Sie standen ferner nicht mehr unter ihrem Schutz und genossen nicht länger ihre Privilegien, waren vielmehr den offenen Anfeindungen und Verfolgungen durch die Römer ausgesetzt. Dadurch wiederum wurde innerhalb der

das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christ worden“, bemerkt das Johannes-Evangelium (1, 17). 238 „So ihr denn nun abgestorben seid mit Christo den Satzungen der Welt, was lasset ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebet ihr noch in der Welt?“, lautet die Botschaft in einem pseudopaulinischen Brief (Kolosser 2, 20). 239 W. Schluchter, Einleitung, S. 12 – im Anschluß an M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 3, S. 407 f. 240 Zum Aposynagogos und seinen Folgen vgl. W. Schmithals, Theologiegeschichte, S. 230 ff.

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christlichen Gemeinden der Konflikt zwischen den Juden- und Heidenchristen verschärft, der alsbald eskalieren sollte. Erstere waren mittlerweile gegenüber den gesetzesfreien Gruppen in die Minderheit geraten und sahen folglich ihre Identität in doppelter Weise bedroht. Sie gehörten nicht mehr zum jüdischen Volk, sondern zum Christentum, das sich mehrheitlich nicht länger an die Vorschriften und Gebote der Thora hielt. So verloren sie ihren Halt und mußten sich assimilieren, sofern sie ihr Heil nicht wieder einmal im Exodus und in der Diaspora suchen wollten. Das Judenchristentum wurde marginalisiert und hörte auf, ein bestimmender Faktor innerhalb des Christentums zu sein. Erst im 7. Jahrhundert n. Chr. erlebte es einen neuen Aufschwung im syrisch-arabischen Raum, als Mohammed im Koran das „wahre“, nämlich gesetzestreue Christentum predigte und damit den Islam ins Leben rief.241 c) Die Organisation der urchristlichen Gemeinden Mit der Preisgabe der Thora durch die paulinischen Gemeinden war einerseits ein gewaltiger Freiheitsgewinn verknüpft, der aber andererseits verbunden war mit einer wachsenden Eigenverantwortung und einer daraus resultierenden Verhaltensunsicherheit. Nachdem das Gesetz seine orientierungsleitende Funktion eingebüßt hatte und das Netz an Vorschriften eingezogen war, sah sich jeder einzelne auf sich selbst zurückgeworfen. Ein Prozeß der Individualisierung begann, der erstmals in der Geschichte den „modernen“ Gedanken der Individualität entstehen ließ und im weiteren Gang das außerweltliche zum innerweltlichen Individuum transformieren sollte.242 Als Stütze blieb den einzelnen, die sich von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und der griechisch-römischen Kultur distanzierten und von der offiziellen Politik fernhielten, nur die eigene Familie und die religiöse Gemeinde, die auf das doppelte Liebesgebot verpflichtet war. Infolge der rapiden Ausbreitung des Christentums konnte dieses allerdings schon bald seine Integrationsfunktion nicht mehr erfüllen. Stabile Institutionen und weitergehende Verhaltensvorschriften wurden erforderlich, um den Massen der Gläubigen Halt und Orientierung zu vermitteln, Anweisungen und Regeln, die an die freigewordene Stelle des Gesetzes treten konnten. Die Ordnung der urchrist241 Vgl. den Hinweis von J. Taubes (Paulus, S. 35) auf die Forschungen von Salomon Pines und seine resümierende Feststellung: „Mohammed hat also nicht in seinem heißen Koppe jüdische und christliche Traditionen zusammengeworfen . . ., sondern er hat ganz präzise judenchristliche Traditionen eingesogen und im Koran wiedergegeben.“ 242 Vgl. L. Dumont, Individualismus, S. 33 ff. (Kap. I: „Vom außerweltlichen zum innerweltlichen Individuum“). Den Begriff des „außerweltlichen Individuums“ hat Dumont anhand des indischen Entsagenden gebildet und dann auf die Geschichte des Christentums appliziert. Vgl. auch ders., Gesellschaft in Indien. Wien 1976 (Anhang B: „Der Weltverzicht in den Religionen Indiens“). Zum absoluten, unbedingten und unbegrenzten Individualismus des Urchristentums, der in der Lage war, einen „starken Gemeinschaftsgedanken“ zu tragen, und der sich in einen ebenso absoluten, religiös begründeten Universalismus wandelte, siehe auch Troeltsch, Soziallehren I, S. 39 ff.

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lichen Gemeinden wurde deshalb seit der Mitte des 2. Jahrhunderts abgelöst durch die christliche Kirche, die eine straffe Organisationsstruktur ausbildete und sich durch feststehende Ämter und eine hierarchische Ordnung stabilisierte. Der Prozeß der Institutionalisierung der christlichen Kirche hatte aber eine lange Vorgeschichte, die seit Anbeginn von theoretischen Begründungs- und Legitimationsversuchen begleitet und vorangetrieben wurde.243 Die christliche Institutionenbildung begann bereits zu Lebzeiten Jesu und wurde eingeleitet vom Gottessohn. Schon dieser lehrte seine Jünger, wie sie sich bei Tisch und anderswo zu benehmen hatten. Nicht erst die hellenistischen Christen, sondern schon die hebräische Urgemeinde benötigte Vorschriften und Regeln zur Eingewöhnung ins Alltagsleben. Die von Jesus begründeten Institutionen blieben aber insgesamt relativ liberal. Im Unterschied zur straffen Organisationsstruktur und zur rigiden Liturgie der essenischen blieb die der christlichen Urgemeinde verhältnismäßig locker. Ihre Binnenordnung basierte auf dem „religiösen Liebeskommunismus“, der ein „Konsumkommunismus“ bzw. ein „Liebespatriarchalismus“ war. Zu Grundprinzipien der Urgemeinde hatte Jesus die Gütergemeinschaft, die freiwillige Besitzlosigkeit und Armut, die Verachtung von Wohlstand und Reichtum (s. o.) sowie die Gleichheit und absolute Herrschaftsfreiheit unter den Jüngern erhoben.244 Sie erhielten keinerlei Autorität übertragen, sondern nur den Auftrag, zu predigen und zu dienen.245 Jesus selbst wusch ihnen die Füße, um ihnen ein Exempel zu geben, wie sie sich untereinander verhalten sollten (Johannes 13, 5–15). Als Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, eine privilegierte Stellung in der Urgemeinde erstrebten, erregten sie den Zorn der zehn anderen und provozierten Zank. „Aber Jesus rief ihnen und sprach zu ihnen: Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herrschen, und die Mächtigen unter ihnen haben Gewalt. Aber so soll es unter euch nicht sein, sondern welcher will groß werden unter euch, der soll euer Diener sein; und welcher unter euch will der Vornehmste werden, der soll aller Knecht sein“ (Markus 10, 42–44; cf. Matthäus 20, 25–28; Lukas 22, 24 ff.). „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander lieb habet“ (Johannes 13, 34; cf. 15, 12 f.). Dennoch führte er selbst eine erste Rangstufung in seine Urgemeinde ein, indem 243 Zur Institutionenbildung und -begründung sowie zur Entstehungs- und Frühgeschichte der christlichen Kirche vgl. B. Altaner/A. Stuiber, Patrologie; H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche 1, S. 145 ff. Siehe auch unten das folgende Kapitel über die christliche Reichsidee (IV.3). 244 Troeltsch (Soziallehren I, S. 49) irrt daher, wenn er bemerkt, dem „religiösen Liebeskommunismus“ der Urgemeinde fehle „jede Gleichheitsidee“. Desgleichen scheint Harnack seine eigenen, zeitgebundenen Vorstellungen in die Vergangenheit zurückzuprojizieren, wenn er feststellt, die judenchristliche Urgemeinde habe ein straffes Regiment entwickelt, die Zwölf unter Führung des Petrus hätten Autorität besessen, die allmählich zu einer förmlichen richterlichen Gewalt geworden sei. Vgl. A. v. Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, S. 5–30; bes. S. 16. 245 Vgl. Th. Hobbes, Leviathan, S. 384.

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er Petrus aus dem Kreis der Zwölf privilegierte und zu seinem Stellvertreter erkor. Aus dieser – dem Charisma Petri geschuldeten – Bevorzugung leiteten später die römischen Bischöfe ihren Suprematieanspruch ab, indem sie sich als „Erbfolger Petri“ deklarierten. Von Erbschaft, Eigentum, Herrschaft usw. hatte Jesus allerdings nicht gesprochen.246 Vielmehr hatte er das Gegenteil gepredigt: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget, und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet“ (Matthäus 23, 11 f.; cf. Lukas 14, 11; 18, 14). Herrschaftsfreiheit und Gleichheit, gegenseitige Liebe und Fürsorge sollten demnach das Verhalten der Gemeindemitglieder untereinander bestimmen. Wechselseitige Aufopferung füreinander und fürs Kollektiv war gefordert. Weitere Verhaltensregeln konnten zunächst der Thora entnommen werden, deren wesentliche Sozialgesetze weiterhin in Kraft blieben und absolute Geltung beanspruchten. Hinzu kamen neue Vorschriften für den Umgang miteinander sowie für die Missionstätigkeit, die sich aus dem doppelten Liebesgebot deduzieren ließen. Das Verhältnis der Apostel zu den Anhängern und Sympathisanten sollte ein wechselseitiges Geben und Nehmen sein, das weniger an den modernen Äquivalententausch, als vielmehr an die wechselseitige Überhäufung mit Geschenken und den von einigen sogenannten „primitiven Völkern“ praktizierten „Potlatsch“ erinnert.247 Allerdings sollte sich daraus kein allgemeiner Kampf um Anerkennung entwickeln. Die jeweilige Gabe sollte nicht durch das Verlangen nach persönlicher Achtung und Respekt, sondern vielmehr durch altruistische Neigungen motiviert sein. Die Apostel sollten sich von den Anhängern verköstigen lassen und ihnen dafür Heilung bringen und Trost spenden, indem sie nach dem Vorbild ihres Gemeindegründers Kranke wieder genesen lassen und allen die Taten und Worte ihres Herrn Jesu Christi verkünden. Dadurch vermittelten sie ihnen Orientierung und einen neuen Lebenssinn und erzeugten so einen „Wärmestrom“ (Ernst Bloch) im Ozean der eiskalten Geschichte. Die Urgemeinde war weder anarchisch noch hierarchisch, weder demokratisch noch monarchisch, sie war vielmehr gar nicht organisiert. Die Gemeindeleitung war weder autoritär noch kollegial, „von Gemeindeleitung war nirgends die Rede“.248 Der radikaltheokra-

246 Vgl. A. v. Harnack, Kirchenverfassung, S. 6 sowie S. 121–186: „Urchristentum und Katholizismus (,Geist‘ und ,Recht‘). Kritik der Abhandlung Rudolf Sohm’s ,Wesen und Ursprung des Katholizismus‘“. 247 Vgl. dazu M. Mauss, Die Gabe. Zur Wirkung und Funktion des Gebens und Nehmens vgl. auch F. Stentzler, Versuch über den Tausch. Zur Kritik des Strukturalismus. Berlin 1979. 248 Theißen, Soziologie, S. 15. Bereits Lukas projizierte deshalb – Theißen zufolge – „sein Ideal einer kollegial geleiteten Ortsgemeinde in die Vergangenheit“ (ebd.), als er die Ernennung des Matthias zum Apostel anstelle des ausgeschiedenen Judas zu einem demokratischen Wahlakt stilisierte (vgl. Apostelgeschichte 1, 12 ff.; bes. Vers 26). Wie Markus (3, 13 ff.) zeige, ging es in der Urgemeinde nicht um Gemeindeleitung und -organisation, sondern um Mission und Heilung.

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tische Gedanke einer unmittelbaren Gottesherrschaft, die keine Mittler oder Repräsentanten kennt, schloß die Entstehung und die Legitimation von Zwang und Herrschaft prinzipiell aus. Der unorganisierte „Wanderradikalismus“ und „Liebespatriarchalismus“ ließ sich aber nur realisieren, solange die Gruppe der Apostel klein und in sich einig, die Jesusbewegung im ganzen relativ geschlossen und überschaubar war. Mit der Ausbreitung des Christentums, der Parusieverzögerung und der Preisgabe der Thora durch die hellenistischen Gemeinden wurden hingegen alternative Orientierungen und präzisere Vorgaben nötig. Paulus begründete diese in Reaktion auf die in seinen Gemeinden aufbrechenden Rivalitäten und Handlungskonflikte. Er ersetzte die anti-politische Konzeption der Apokalyptik – Ende aller irdischen Reiche, Kommen des Menschensohns – „durch die Konzentration auf die Gemeinde als eine politische Größe“.249 Er organisierte und vernetzte seine Gemeinden und erinnerte sie an die von Jesus postulierten Prinzipien der Demut und der Nächstenliebe, der Friedfertigkeit und Barmherzigkeit.250 Er lehrte unermüdlich, daß nicht nur gesetzestreue Juden, sondern auch unbeschnittene und gesetzesfreie Heiden ins Gottesreich gelangen werden, solange sie den rechten Glauben pflegen. Diese Lehre stand im Zentrum aller seiner Briefe. Sie wurde provoziert durch permanente Streitigkeiten, die zwischen den beschnittenen Jesusanhängern und ihren unbeschnittenen Brüdern entstanden, da erstere die Reinheit und Auserwähltheit der letzteren immer wieder bezweifelten. Doch nicht nur die Versöhnung zwischen Juden- und Heidenchristen, sondern auch die innere Organisation und die Verknüpfung der von ihm gegründeten Gemeinden stand im Mittelpunkt seines Bemühens. „Vermutlich besteht die entscheidende organisatorische Leistung von Paulus neben der Verselbständigung der christlichen Gemeinde gegenüber der jüdischen darin, daß er ein interlokales Kommunikationsnetz zwischen seinen Gemeinden aufbaute, in erster Linie durch ein ausgeklügeltes System wiederkehrender Besuche, sei es durch ihn selber, sei es durch Sendboten, sowie durch Briefe“.251 Sein organisatorisches Talent zeigte Paulus nicht nur im Aufbau und in der Vernetzung der neuen Ekklesia, sondern auch in den Konflikten mit den anderen Aposteln und in der Reaktion auf Rivalitäten und Spaltungen in den von ihm gegründeten Gemeinden. Auf dem Apostelkonzil 48/49 in Jerusalem hatte man sich zunächst auf eine Arbeitsteilung geeinigt: Petrus übernahm „das Evangelium an die Beschneidung“, Paulus hingegen „das Evangelium an die Vorhaut“ (Galater

249

K. Berger, Theologiegeschichte, S. 455. Vgl. J. Becker, Paulus und seine Gemeinden. In ders. u. a., Die Anfänge des Christentums, 102–159. 251 W. Schluchter, Einleitung, S. 34. Ob man seine sporadischen, zumeist durch Konflikte provozierten Besuche und die gelegentliche Entsendung von Boten gleich „ein ausgeklügeltes System“ nennen kann, mag dahingestellt bleiben. 250

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2, 7). Petrus, der einst selbst den Weg zu den Heiden gegangen war (Apostelgeschichte 10. f.), war somit künftig für die Judenmission, Paulus mit seinen Gehilfen für die Heidenmission zuständig (vgl. 15.; Galater 2.). Doch kam es alsbald in Antiochien zum offenen Konflikt und zur Spaltung, da sich Petrus vom „Herrenbruder“ Jakobus und den um ihn versammelten Judenchristen zur Absonderung von den Unbeschnittenen bewegen ließ (Galater 2, 11 ff.). Auch Barnabas ließ sich verführen, „mit ihnen zu heucheln“ (Vers 13), weshalb sich Paulus von ihm wie von den anderen Aposteln trennte, um ferner seine eigenen Wege zu gehen (Apostelgeschichte 15, 39 ff.). Er gründete immer neue Gemeinden und setzte Propheten und Lehrer ein, die nach seinem Weggang an seiner Statt die Gottesdienste leiten und die Gemeindemitglieder im rechten Glauben unterweisen sollten. Die von ihm organisierte Ekklesia stand im Kontrast zum Römischen Reich und befreite sich von der ethnischen wie von der Bindung ans Gesetz. Sie war jedoch keine institutionalisierte Kirche, sondern die Versammlung und Gemeinschaft aller durch den Glauben verbundenen Individuen. Als solche lag sie den einzelnen voraus. Schon der Begriff Ekklesia signalisiert die Distanz zur jüdischen Synagoge. Wie Walter Schmithals zeigt, ist Ekklesia (Volksversammlung, Synagoge) ursprünglich eine Selbstbezeichnung der von Saulus verfolgten damaszenischen Christen, die Paulus nach seiner Bekehrung für die von ihm gegründeten gesetzesfreien Gemeinden übernommen oder beibehalten hat.252 Der Begriff entstammt jedoch der Welt der griechischen Polis und wurde von der Versammlung der Bürgerschaft auf die der religiösen Gemeinde übertragen.253 Es handelte sich dabei um eine Einrichtung sui generis, die sich sowohl von der Familie wie von den griechisch-römischen „Vereinen“ unterschied.254 Ihre kleinste Zelle bildete der private Haushalt (oikos). Die einzelnen Haushalte waren durch den gemeinsamen Glauben und die von ihm geforderte Liebe und gegenseitige Fürsorge miteinander zu Nachbarschaftsverbänden und Ortsgemeinden verknüpft, die gemeinsame Gottesdienste abhielten und sich regelmäßig zu Gast- bzw. Herrenmahlen trafen.255 Die von Jesus geforderte Gleichheit und Herrschaftsfreiheit blieb erhalten. Zwar wurde die soziale Schichtung und Rangabstufung im irdischen Alltagsleben nicht angetastet, doch spielte sie in der paulinischen Ekklesia keine Rolle. Sie wurde schlichtweg ignoriert. Jeder einzelne – ob reich, ob arm – war allen andern gleichgestellt. Die Gleichheit vor Gott galt ohne Ansehen der Person 252

W. Schmithals, Theologiegeschichte, S. 170. Zur Entstehung und Entwicklung der frühchristlichen Ekklesia-Konzeption vgl. bes. K. Berger, Volksversammlung und Gemeinde Gottes; A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 1, S. 117 ff., 139 ff.; Bd. 2 (1959), S. 6 f.; O. Linton, Art. Ekklesia; W. A. Meeks, The First Urban Christians, 3. Kap.; E. Peterson, Theologische Traktate, S. 422 f. 254 Vgl. Meeks, The First Urban Christians, S. 84; W. Schluchter, Einleitung, S. 29. 255 Zum christlichen Haus vgl. R. Sennett, Fleisch und Stein, S. 172 ff. 253

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(Römer 2, 11).256 Nur Frauen waren – wie in der gesamten Antike üblich – unterprivilegiert und ihren Männern subordiniert. Sie durften zwar an den Gottesdiensten teilnehmen, mußten aber – im Unterschied zu den Männern – ihre Häupter bedecken (1. Korinther 11, 4 f.) und hatten keinerlei Rechte in den Gemeinden: „Wie in allen Gemeinen der Heiligen lasset eure Weiber schweigen unter der Gemeine; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sollen unterthan sein, wie auch das Gesetz saget. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es stehet den Weibern übel an, unter der Gemeine reden“ (14, 34 f.).257 Herr-Knecht-Beziehungen sollten nicht angefochten und abgeschafft werden, die Knechte wurden vielmehr zum Gehorsam gegen ihre Herren ermahnt.258 Jeder sollte seine angestammte Rolle spielen und seinen erlernten Beruf ausüben, in den er berufen worden war. „Bist du ein Knecht berufen, sorge dir nicht; doch kannst du frei werden, so brauche des viel lieber“ (1. Korinther 7, 21). Noch schärfer heißt es im pseudopaulinischen Brief an die Kolosser: „Ihr Weiber, seid unterthan euren Männern in dem Herrn, wie sich’s gebühret. Ihr Männer, liebet eure Weiber, und seid nicht bitter gegen sie. Ihr Kinder, seid gehorsam den Eltern in allen Dingen; denn das ist dem Herrn gefällig. Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden. Ihr Knechte, seid gehorsam in allen Dingen euren leiblichen Herrn“ (Kolosser 3, 18–22). Die soziale und patriarchale Herrschaft sollte akzeptiert werden. Für Revolutionen war die Zeit zu kurz. Darüber hinaus war eine Arbeitsteilung in der Gemeinde nötig, die Paulus insgesamt mit einem großen Organismus verglich: „Denn auch der Leib ist nicht Ein Glied, sondern viele“ (1. Korinther 12, 14); „die Glieder des Leibes, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten“ (Vers 22). „Ihr seid aber der Leib Christi und Glieder, ein jeglicher nach seinem Teil. Und Gott hat gesetzet in der Gemeine aufs erste die Apostel, aufs andre die Propheten, aufs dritte die Lehrer, darnach die Wunderthäter, darnach die Gaben, gesund zu machen, Helfer, Regierer, mancherlei Sprachen“ (Verse 27 f.). Damit deutete sich eine erste Rangabstufung an, die aber durch die Betonung der Notwendigkeit und der unverzichtbaren Leistungen gerade der schwächeren Glieder wieder relativiert und aufgehoben wurde.

256 Das Gleichheitsprinzip galt natürlich nicht nur in den paulinischen, sondern auch in den anderen urchristlichen Gemeinden. Auch Petrus versicherte, „daß Gott die Person nicht ansiehet, sondern in allerlei Volk, wer ihn fürchtet, der ist ihm angenehm“ (Apostelgeschichte 10,34 f.; cf. 1. Petrus 1, 17). 257 Zur untergeordneten Stellung der Frauen vgl. auch 1. Petrus 3, 1 ff.; Epheser 5, 22 ff.; Kolosser 3, 18 ff. 258 Besonders allerdings in jenen Paulus-Briefen, deren Autorschaft heute umstritten ist. Vgl. bes. 1. Timotheus 6.: „Die Knechte, so unter dem Joch sind, sollen ihre Herren aller Ehre wert halten, auf daß nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde“ (Vers 1).

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Bereits Thomas Hobbes hat darauf hingewiesen,259 daß mit dem Amt des Lehrers keinerlei Autorität und Zwangsgewalt verbunden war und „daß zur Zeit der Apostel Bischof, Priester, Ältester, Kirchengelehrter, das heißt Lehrer, nur viele verschiedene Namen desselben Amtes waren. Denn es gab damals keine Herrschaft durch Zwang, sondern nur durch die Lehre und durch Überzeugungen“ (S. 404). Wie schon die Jünger, so erhielten auch die späteren „Lehrer“ nur den Auftrag, zu predigen, zu weissagen und zu dienen. Ferner hat Hobbes zu zeigen versucht, daß Presbyter und Priester vom Volk, d. h. von den versammelten Gemeindemitgliedern gewählt wurden: „die Apostel waren nur die Vorsitzenden der Versammlung, um die Mitglieder zu dieser Wahl zusammenzurufen“ (S. 405). Auch ihre Machtbefugnisse waren demnach gering. Auch ihnen blieben nur die Mittel der Eristik, um ihre Anhänger von der Richtigkeit und Angemessenheit ihrer Vorstellungen und Wünsche zu überzeugen. Zu Hilfe kamen ihnen dabei ihre rhetorischen Fertigkeiten und ihr persönliches Charisma. Natürlich kann es sich hierbei erneut um eine Wunschvorstellung des Lukas handeln, der sein eigenes Ideal einer kollegialen Gemeindeorganisation in die Vergangenheit zurückprojizierte, doch ist – wie Hobbes zu Recht bemerkt (S. 406) – die Wahrscheinlichkeit gering, daß die zum Christentum bekehrten Bewohner der griechischen Städte, die sich nach ihrer Konversion zwar von den weltlich-politischen Belangen distanzierten, sich damit auch von den gewohnten Formen der „Beamtenrekrutierung“ abgewandt haben. Zum Beleg seiner These verweist Hobbes (S. 405) auf den Originaltext der Apostelgeschichte (14, 23), wonach nicht – wie in der Übersetzung Martin Luthers – die Apostel ihnen „hin und her“ Älteste in den Gemeinen „ordneten“, sondern „Älteste durch Händeaufheben in jeder Gemeinde“ gewählt wurden. Da aber hinlänglich bekannt sei, „daß in allen diesen Städten die Wahl der obrigkeitlichen Beamten und sonstigen Amtsträger durch Stimmenmehrheit erfolgte“, sei klar, daß dies auch in den urchristlichen Gemeinden der Fall gewesen sein müsse.260 Innerhalb der paulinischen Ekklesia galt die soziale Stellung somit nichts, lebten die männlichen Mitglieder in herrschaftsfreier Kommunikation. Entscheidend war allein die Stärke des Glaubens. Freie und Sklaven, Ober- und Unterschichtsangehörige waren prinzipiell gleichberechtigt. Sie sollten ihre Speisen teilen und wurden aufgefordert, miteinander zu reden und zu beten. Dabei sollte jeglicher Zank und jede Fraktionierung verhindert werden. Gefordert waren Friede, Freude und Eintracht sowie Einkehr und Buße. Als oberste Prinzipien fungierten Glaube, 259 Vgl. T. Hobbes, Leviathan (1651), 42. Kapitel (S. 376 ff.). Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 260 Zwar scheint mir diese Beweisführung nicht gerade zwingend, doch spricht insgesamt mehr für die demokratische als für eine hierokratische Ordnung in den hellenistischen Gemeinden. Nur so ermöglichte die christliche Erlösungsreligion die Kompensation der mit dem Untergang und der Vereinnahmung der Poleis durch die großen Reiche verbundenen Freiheiten und Selbstbestimmungs- und -verwirklichungsmöglichkeiten.

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Liebe und Hoffnung, wobei die Liebe den Primat besaß (1. Korinther 13, 13). An erster Stelle der praktischen Gebote standen altruistische Neigungen und die stete Bereitschaft, den anderen und der gesamten Ekklesia zu dienen. Obgleich sich Paulus als Gemeindeorganisator gerierte und auf das religiöse Zusammenleben konzentrierte, kann deshalb mit W. Schluchter festgehalten werden: „Verglichen mit den griechischen oder römischen ,Vereinen‘, kennen die paulinischen Gemeinden trotz dieser Reglementierungs- und Veralltäglichungstendenzen keine ausgeprägte religiöse Rollendifferenzierung oder gar eine Institutionalisierung von Ämtern mit fixierten Zugangsregeln . . . Obgleich in der paulinischen Mission im Vergleich zur Jesusbewegung intellektualistische, lehrhafte und rhetorische Komponenten in den Vordergrund treten, obgleich die stimmungsmäßige durch die rational-ethische Orientierung überlagert wird . . ., bleiben . . . charismatische und emotionale Vergemeinschaftung die entscheidenden Züge“.261 In Abwandlung der Körpersymbolik der Stoa verstand Paulus die Ekklesia als corpus christi mit Christus als Haupt. Sie war keine Polis, sondern ein vergrößerter Oikos, allerdings ohne die Herrschaftsbefugnisse eines despotischen Hauspatrons. Die griechische Trennung des Öffentlichen vom Privaten war in der religiösen Gemeinde aufgehoben. Gerade das Private, das jeweils individuelle Seelenheil, avancierte zum wichtigsten Gegenstand der Politik. „Seelenpflege“ im Sinne des platonischen Sokrates wurde nicht in den unterschiedlichen Verwaltungseinheiten des Reiches und seiner Provinzen, sondern in gemeinsamen Gastund Abendmahlen und in der Sorge für die Kranken und Schwachen betrieben. Ähnlich wie in der Polis waren die einzelnen in der Ekklesia gleichberechtigt. Im Unterschied zur Polis waren Frauen zugelassen, wenngleich sie in den Versammlungen zu schweigen hatten. Es herrschte der „Primat der Gemeinde vor den einzelnen Christen“: „Die Gemeinde [war] kein ,Verein‘, kein freier Zusammenschluß religiöser Personen, sondern eine allem menschlichen Tun vorausliegende göttliche Stiftung“,262 die – ähnlich wie die Polis – jeden einzelnen vollauf in ihre Dienste nahm. Sie verpflichtete ihn zu spezifischen Leistungen, zur Gastfreundschaft und zur Verköstigung der Apostel, zur Offenbarung und Weissagung, zur Erkenntnis und Lehre des richtigen Glaubens (1. Korinther 14, 6). Nicht der geregelte Streit um die allgemeinen und öffentlichen Angelegenheiten, sondern gegenseitige Fürsorge und Liebe und der gemeinsame Gottesdienst standen im Mittelpunkt. Die Gläubigen sollten nicht „mit Zungen reden“,263 weniger die Rhetorik und den philosophischen Streit pflegen, sondern lieber „weissagen“, weil Weissagungen eher als weisheitliche Spekulationen den Menschen „zur Besserung und zur Ermahnung und zur Tröstung“ dienen konnten (14, 3). 261

W. Schluchter, Einleitung, S. 33. Schmithals, Theologiegeschichte, S. 161. Zur paulinischen Lehre vom mystischen Leib vgl. auch Dempf, Sacrum Imperium, S. 82 ff. 263 Zur „Zungenrede“, die von den Interpreten zumeist als „Rede mit Engelszungen“ verstanden wird, vgl. Berger, Theologiegeschichte, S. 367 ff. 262

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Wie Dieter Georgi betont, hat Paulus das Motiv des überpersönlichen Leibes nicht nur in Richtung auf übergreifende mythologische Einheit modifiziert, „sondern auch im Sinne aktiven kollektiven Gemeinschaftsbewußtseins, aber in Form pluralistischer Verantwortung und Partizipation“. Er hat die Gemeinde als Volksversammlung begriffen, die in Konkurrenz trat zur örtlichen politischen Volksversammlung. Dabei fehlte jede hierarchische Komponente.264 Durch ihren radikaltheokratischen und demokratisch-anarchischen Charakter konterkarierte die paulinische Ekklesia die Herrschaftsstrukturen und das Wertgefüge im Römischen Reich. Jacob Taubes interpretiert daher den Römerbrief „als Legitimation und Formation eines neuen gesellschaftlichen (Ver-)Bundes, der werdenden Ekklesia gegenüber dem Römischen Imperium einerseits und andererseits der ethnischen Einheit des jüdischen Volkes“.265 Bei diesem neuen (Ver-)Bund handelt es sich weder um eine vom Nomos noch vom Ethnos gestiftete, sondern vielmehr um eine pneumatische Einheit. Taubes faßt ihre Merkmale wie folgt zusammen:266 „In der paulinischen Gemeinde schließen sich Menschen zusammen, die sich von allen natürlich organischen Gebundenheiten, von Natur, Kunst, Kult und Staat gelöst haben und bei denen entsprechend die Leerheit und Entfremdung von der Welt und die Entzweiung mit der Weltlichkeit einen hohen Grad erreicht hat . . . Im Gegensatz zu den alten, gewachsenen Gebundenheiten ist die christliche Gemeinde ein unorganisches, nachträgliches ,pneumatisches‘ Zusammensein lauter Einzelner. In der christlichen Gemeinde löscht der spätantike Mensch sein Ich zu Gunsten jenes ÜberIch aus, das vom Jenseits kommend sich auf den Menschen herabsenkt. In allen Gliedern der Gemeinde ist jenes Über-Ich ein und dasselbe, so daß die Gemeinde das pneumatische Wir darstellt.“

Die von Paulus geforderte Ruhe und Harmonie, das gesellige und fürsorgliche Miteinander der einzelnen wurde aber nicht zu allen Zeiten realisiert. Immer wieder gab es Reibungen und Konflikte, Zank und Streitereien unter den Mitgliedern, die er zu schlichten hatte. Seine – durch persönliches Charisma und durch die Gründungsleistung erlangte – Stellung in seinen Gemeinden war nicht ein für allemal gesichert, sondern von Zeit zu Zeit umstritten. Vor allem in Korinth, aber auch in den anderen paulinischen Gemeinden, traten Gegenspieler auf den Plan, die ihm seinen Rang streitig machen wollten und eine abweichende Lehre verkündeten. Gewöhnlich waren es Judenchristen, die ihre Mitbrüder zur Beschneidung aufforderten. So war in Galatien Verwirrung eingetreten, als einige Gemeindemitglieder die unbedingte Beachtung und Einhaltung der Thora verlangten. Hierauf reagierte Paulus verbittert und forderte in strengem Ton: „So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen. Siehe, ich Paulus sage euch: Wo ihr euch 264 265 266

Georgi, Gott auf den Kopf stellen, S. 180, 179. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 146. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 64.

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beschneiden lasset, so nützet euch Christus nichts“ (Galater 5, 1 f.). In Korinth hatte sich die Gemeinde sogar in vier Gruppen gespalten, die Paulus polemisch „paulisch“, „apollisch“, „kephisch“ und „christisch“ nannte (1. Korinther 1, 11; 3, 3 ff.). Der Streit kreiste um die Reinheit der Lehre und um soziale Fragen, um das Geschlechtsleben und das Herrenmahl sowie um die Beziehung zwischen Armen und Reichen, Angehörigen der Ober- und der Unterschicht.267 Der Streit sollte unterbunden, die Spaltung der Gemeinde überwunden, die Überheblichkeit der Reichen gegenüber den Mittellosen abgestellt werden. Materielle und sexuelle Ausschweifungen sollten verhindert, egoistische Neigungen und Selbstgefälligkeiten abgewendet werden: „Ich ermahne euch aber, lieben Brüder, durch den Namen unsers Herrn Jesu Christi, daß ihr allzumal einerlei Rede führet und lasset nicht Spaltungen unter euch sein, sondern haltet fest an einander in Einem Sinne und in einerlei Meinung. Denn mir ist vorkommen . . ., daß Zank unter euch sei. . . . Wie? Ist Christus nun zertrennet?“ (1. Korinther 1, 10–13). „Es geht eine gemeine Rede, daß Hurerei unter euch ist“ (5, 1). „Und ihr seid aufgeblasen“ (Vers 2). „Wisset ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig den ganzen Teig versäuert? Darum feget den alten Sauerteig aus“ (Verse 6 f.). „Ich habe euch geschrieben in dem Briefe, daß ihr nichts sollt zu schaffen haben mit den Hurern“ (Vers 9), „mit demselbigen sollt ihr auch nicht essen“ (Vers 11). Dabei meinte er nicht nur den wirklichen „Hurer“, sondern auch denjenigen, der sich den anderen überlegen dünkte und mit seinem Wohlstand prahlte. Er erinnerte an seine frühere Lehre und rief sie auf zur Solidarität: „Niemand suche das Seine, sondern ein jeglicher, was des andern ist“ (10, 24). Nachdem er seine und die Rolle der anderen Apostel als Diener Gottes unterstrichen hatte, forderte er sie schließlich auf, nicht länger den falschen Propheten zu folgen: „Darum ermahne ich euch, seid meine Nachfolger“ (4, 16); „denn ich habe euch gezeuget in Christo Jesu durchs Evangelium“ (Vers 15). Doch fruchtete auch dieser Lehr- und Ermahnungsbrief nicht allzu viel, weshalb Paulus bald in einem zweiten gegen seine Widersacher in Korinth anschreiben und erneut zur Eintracht aufrufen mußte.268 Auch die Christen in Rom, deren Gemeinde er nicht selbst gegründet hatte, rief der Apostel auf zum geduldigen Warten, zu Harmonie und Solidarität. Er forderte Loyalität gegenüber der weltlichen Obrigkeit (Römer 13, 1), wies die Judenchristen in ihre Schranken und postulierte die Gleichberechtigung der Heidenchristen. „Ich ermahne aber euch, lieben Brüder, daß ihr aufsehet auf die, die da Zertrennung und Ärgernis anrichten neben der Lehre, die ihr gelernt habt, und weichet von denselbigen“ (16, 17). Die Starken sollten die Schwachen schützen und ihre Gebrechen tragen, anstatt Gefallen an sich selbst zu finden (15, 1). 267 Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund des Konflikts und zu den Gegnern des Paulus in Korinth vgl. Theißen, Studien, S. 214 ff., 231 ff., 272 ff. 268 Vgl. D. Georgi, The Opponents of Paul in 2. Corinthians.

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Rechtshändel sollten vermieden, das Römische Recht insgesamt umgangen werden. „Darum lasset uns nicht mehr einer den andern richten; sondern das richtet vielmehr, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis darstelle“ (14, 13). „So aber dein Bruder über deiner Speise betrübet wird, so wandelst du schon nicht nach der Liebe. Verderbe den nicht mit deiner Speise, um welches willen Christus gestorben ist. Darum schaffet, daß euer Schatz nicht verlästert werde. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste. Wer darinnen Christo dienet, der ist Gott gefällig und den Menschen wert. Darum lasset uns dem nachstreben, das zum Frieden dienet, und was zur Besserung unter einander dienet“ (14, 15–19). *** Damit können die Ergebnisse dieser Lektüre des Neuen Testaments und der jüngeren religionssoziologischen Forschung zum Urchristentum zusammengefaßt werden. Die Jesusbewegung begann als eine innerjüdische Erneuerungsbewegung neben anderen. Wie diese kämpfte sie für den Erhalt bzw. die Wiedergewinnung der jüdischen Identität in einer als feindlich und bedrohlich empfundenen Umwelt. Sie wandte sich gegen Romanisierungs- und Hellenisierungstendenzen innerhalb des Judentums und protestierte gegen die Erschlaffung und den sich abzeichnenden Verfall der Sitten, den Verschleiß der religiösen Traditionsbestände infolge der Anpassung an die Umgebung. Während Jesus und seine Jünger als vagabundierende „Wandercharismatiker“ (G. Theißen) durch die Lande zogen und für die Rekonstruktion des jüdischen Volkes kämpften, haben sich Paulus, Barnabas u. a. der Heidenmission verschrieben und vornehmlich der Gemeindegründung und -organisation gewidmet. Während sich Jesus vor allem an die ärmeren Schichten, an „Sünder“ und marginalisierte Gruppen wandte und die Besitzanhäufung und die Ausschweifungen der Reichen im Römischen Reich anprangerte, haben seine Apostel auch Angehörige der mittleren und oberen Schichten für das Christentum gewonnen und sie auf die neuartige „Sorge um sich“ (Foucault), auf die Fürsorge für die Armen und Schwachen verpflichtet. Während der Gründer der neuen Religion den Reichtum und den mit ihm verbundenen Sittenverfall kritisierte und – wie die anderen radikaltheokratischen Bewegungen – den verknöcherten Machtverhältnissen in der jüdischen Synagoge die Idee einer direkten Gottesherrschaft entgegenstellte, hat sich sein Apostel Paulus von der Synagoge abgewandt und mit den Macht- und Herrschaftsstrukturen und der Klassenspaltung im Imperium abgefunden. Die von ihm bekehrten Christen lebten außerhalb der Synagoge und orientierten sich nicht an den Vorschriften der Thora. In der von ihm gegründeten Ekklesia, die zahlreiche Familien und Freundeskreise durch den gemeinsamen Glauben an die Messianität Jesu Christi miteinander verknüpfte, sollten die Standesdifferenzen und Einkommensdiskrepanzen aber keine Rolle spielen. In ihr sollte die von Jesus propa-

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gierte und in seinem Jüngerkreis praktizierte Gleichheit und Herrschaftsfreiheit realisiert werden. Die Mitglieder der Gemeinden lebten daher – ähnlich wie die Griechen in der klassischen Polis – in zwei vollkommen verschiedenen Welten, wobei die soziale und politische Welt des Imperium Romanum für das Seelenheil keine Relevanz besaß und als vergänglich betrachtet wurde. Durch die Konzentration der Christen auf das religiöse Leben sollte sie ihre Macht und ihren Einfluß verlieren. Das Doppelleben sollte tendenziell in ein einheitliches religiöspolitisches Gemeindeleben münden, das selbst nur der Vorbereitung auf das nahegekommene bzw. bereits angebrochene und in Kraft stehende Gottesreich diente. Das Leben Jesu wurde zum Ausgangspunkt und zur Grundlage einer „Wertrevolution“, eines Wertewandels, „der die Verteilung von Lebenschancen zwischen Herrschenden und Beherrschten in Frage stellt“. Im Urchristentum werden „Einstellungen und Normen der Oberschicht durch kleine Leute angeeignet. Aristokratische Tugenden im Umgang mit Macht, Besitz und Bildung werden so umformuliert, daß sie allen zugänglich werden“.269 Die praktische Konsequenz dieses Umbruchs und dieser Umorientierung war: Nicht das Sich-Hervortun, das Sich-Auszeichnen vor den anderen, sondern Demut und Barmherzigkeit, freiwillige Unterwerfung und Selbstaufopferung sollten zur dominanten Haltung werden. Im Gegensatz zu den alten Griechen suchten die ersten Christen den Sinn des Lebens nicht in der Gegenwart, sondern – wie die jüdischen Propheten – in der Zukunft, im kommenden Gottesreich. Sie verstanden sich eschatologisch, im Hinblick auf den transzendenten Gott und das von ihm bewirkte Endgeschick. Anstelle des Raums bildete die Zeit das entscheidende Medium des Erfahrens und Erwartens. Das irdische Leben in der Jetztzeit wurde als bloßes Durchgangsstadium betrachtet und verlor jegliche heilsgeschichtliche Relevanz. Es sollte der Läuterung und Vorbereitung auf das Endgericht dienen. Gefordert waren keine Aktivitäten außerhalb der Ekklesia, keine besonderen Leistungen und Werke, sondern Buße und Abwendung von der Welt. Dadurch wurden dem Römischen Reich – wie schon Voltaire und Gibbon erkannten – wichtige Lebensenergien entzogen und in die Gemeinschaft der Gläubigen umgeleitet.270 In religionssoziologischer oder -politologischer Blickrichtung erscheinen die urchristlichen Gemeinden somit als Gegengründungen zum Imperium Romanum 269

Theißen, Mythos und Wertrevolution im Urchristentum, S. 64. Zum schließlichen Erfolg dieser Bemühungen vgl. Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Aph. 58. (Werke. Bd. II, S. 1229): „Das, was aere perennius dastand, das imperium Romanum, die großartigste Organisations-Form unter schwierigen Bedingungen, die bisher erreicht worden ist, . . . – jene heiligen Anarchisten haben sich eine ,Frömmigkeit‘ daraus gemacht, ,die Welt‘, das heißt das imperium Romanum zu zerstören, bis kein Stein auf dem andern blieb – bis selbst Germanen und andre Rüpel darüber Herr werden konnten . . . Das Christentum war der Vampir des imperium Romanum . . ., diese feige, feministische und zuckersüße Bande hat Schritt für Schritt die ,Seelen‘ diesem ungeheuren Bau entfremdet.“ 270

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und seinen Städten und Provinzen. In ihnen versammelten sich Menschen, die zwar nicht allesamt sozial entwurzelt, die aber den sozialen und politischen Verhältnissen entfremdet waren, die den wirtschaftlichen und rechtlichen, religiösen und kulturellen Ereignissen im Imperium distanziert gegenüberstanden und die politischen Geschehnisse in der Umgebung mit Argwohn betrachteten. Sie schlossen sich zu einer neuartigen Glaubensgemeinschaft zusammen und entwikkelten darin neue Verhaltensorientierungen und neue Muster des Umgangs und der Geselligkeit. Dadurch kompensierten sie den Freiheits- und Sinnverlust, der mit dem Niedergang und der Instrumentalisierung der Poleis durch die Großreiche eingetreten war. Wie schon früher erwähnt, ist die urchristliche Religion – wie fast alle vorderasiatischen Erlösungsreligionen – eine „Folgeerscheinung der erzwungenen oder freiwilligen Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung“.271 Der Dienst in der Ekklesia bot einen ausreichenden Ersatz für die verlorene oder verweigerte Partizipation an der Selbstverwaltung der Stadtgemeinden. Die religiöse Kommunikation und Kooperation erzeugte neue Muster der Gemeinschaftsbildung und der sozialen Interaktion. Entsprechend wäre die eingangs zitierte These Bultmanns zu korrigieren: Das Urchristentum kennt sehr wohl ein Programm der Weltgestaltung und hat ganz präzise Vorschläge zur Reform der politischen und sozialen Verhältnisse. Es wollte die jüdische, die römische, ja schließlich die gesamte Welt mit Hilfe der von Jesus verkündeten moralischen Prinzipien umgestalten und neu organisieren. Während die apokalyptischen und eschatologischen Stellen des Neuen Testaments die vorgefundene Welt schlicht verdammen, finden sich in den ethischpolitischen und pneumatologisch-organisatorischen Partien konstruktive Vorschläge. Schon Jesus, insbesondere aber Paulus wollte ein ganz anderes Leben auf Erden begründen. Spätestens seit Antiochien konzentrierte sich die Energie des Apostels auf die Organisation und die Binnenmoral der religiösen Gemeinden. Zwar blieben manche seiner ethischen Postulate vage und in sich widersprüchlich,272 doch war das Gebot der Nächstenliebe eindeutig und klar. Die Binnenmoral der Ekklesia ließ sich zwar nicht verallgemeinern und auf die Gesamtgesellschaft übertragen, da in dieser andere Umgangsformen herrschten und andere Orientierungsmuster nötig waren. Dennoch wurde bereits vom Urchristentum wie auch von späteren christlichen Bewegungen und Gruppen im Laufe der weiteren Geschichte immer wieder versucht, die von Jesus gepriesenen und vor271 M. Weber, WuG, S. 306 f. Vgl. dazu H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, bes. S. 85 ff., 297 ff. 272 Vgl. M. Weber, WuG, S. 348 ff. Nach Weber zeigen schon die Paulusbriefe, „ebenso wie gewisse Widersprüche in den überlieferten Äußerungen von Jesus, die große Schwierigkeit, eine auf ,Glauben‘ . . . ruhende, eigentliche ,Erlösungs‘-Religiosität mit bestimmten ethischen Anforderungen in eindeutige Beziehung zu setzen“ (S. 344).

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gelebten Prinzipien zu universalisieren, d. h. in allgemeingültige Maximen zu verwandeln. Darin liegt einerseits der große Reiz und die Anziehungskraft der christlichen Ethik. Darin liegt aber zugleich ihre Crux und die Unerfüllbarkeit ihrer Gebote. Die Attraktivität der neuen Lehre liegt im Charme der gelebten Normen und der durch sie bewirkten Inklusion und Exklusion, der Integration der Gemeinde und ihrer Absonderung von den anderen. Ihr Dilemma liegt im uneinlösbaren Versprechen, sie seien letztlich universalisierbar und somit Maßstab für die Einrichtung der gesamten Welt. In anderen Worten: „Das Paradoxon der christlichen Ethik liegt genau darin, daß sie immer versucht hat, einen Verhaltenskodex für eine Gesellschaft im ganzen aus Äußerungen herzuleiten, die an Individuen oder kleine Gemeinschaften gerichtet waren, damit sie sich vom Rest der Gesellschaft absondern konnten“.273 Die ersten Christen lebten in der Naherwartung des anbrechenden Gottesreiches. Sie kehrten der Gesellschaft angewidert den Rücken und erprobten eine alternative Lebensweise. Die Zeit schien zu kurz, um sich mit den Dingen des alltäglichen Lebens zu befassen. Infolge der Parusieverzögerung mußte man sich aber mit der feindlichen Welt arrangieren und sich im gesellschaftlichen Leben einrichten. Das Verhältnis der Ekklesia und ihrer Glieder zur Umwelt blieb allerdings prekär und in der Schwebe. Wie die Paulusbriefe so waren auch die anderen Schriften des Neuen Testaments in ihrem direkten Bezug auf das Imperium Romanum zumeist schwankend und unentschieden. Hinsichtlich der Organisation des Reiches und seiner Städte und Provinzen pendeln sie zwischen vier Extremen: 1. dem Haß auf die Machthaber und Unterdrücker, 2. der völligen Abstinenz und Gleichgültigkeit, 3. der bedingungslosen Bejahung der Obrigkeit als gottgewollt und 4. der Ablehnung, aber passiven Duldung der feindlichen Macht und der Regenten. Eine Ermunterung zur Betätigung in den weltlichen Institutionen findet sich nirgendwo. Offener Widerstand wurde durch das Gebot der Feindesliebe und die von Jesus geforderte Friedfertigkeit verhindert. Nur in der Ablehnung des Kaiserkultes und im Beharren auf dem monotheistischen Ausschließlichkeitsgebot waren die Urchristen – wie die Juden – unerbittlich. Dem Appell zur Distanzierung von der „weltlichen“ Politik entsprach zumeist der Aufruf zum persönlichen Engagement in den religiösen Gemeinden und die Ermahnung an die damit verknüpften Pflichten. Die Energie sollte sich folglich auf das Binnenleben der neugegründeten Ekklesia konzentrieren. Das Verhältnis des Urchristentums zum Judentum war gleichfalls ambivalent. Zunächst eine innerjüdische Reformbewegung, die nicht daran dachte, eine neue Religionsgemeinschaft außerhalb der Synagoge zu gründen, verselbständigte es sich infolge der erfolgreichen Heidenmission und wurde zu einer eigenständigen 273 A. MacIntyre, Geschichte der Ethik im Überblick, S. 111. Vgl. dazu auch Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798–1900). In: HW 1, 274–418; bes. S. 362 ff.

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Größe. Es übernahm die hebräische Bibel, fügte ihr aber die Evangelien, die Geschichte und die Briefe der Apostel sowie die Offenbarung des Johannes als Neues Testament hinzu. Der Glaube, Jesus von Nazareth sei der erwartete Messias, der eingeborene Sohn Gottes und der Christus, mußte denjenigen, die im jüdischen Glauben verharrten, als Blasphemie erscheinen. Sein Auftreten und seine Verkündigung erschien als Selbstüberhebung und Größenwahn. Die Mißachtung einzelner Bestimmungen der Thora mußte ihn in Konflikt mit den Pharisäern und Schriftgelehrten bringen. Die gänzliche Preisgabe des Gesetzes durch die paulinischen Gemeinden mußte diese dem Judentum vollends entfremden. Jesus hatte einst den Tempel „gereinigt“ und seine baldige Zerstörung und spätere Neuerbauung prophezeit. Der erste Teil dieser Weissagung ging im Jahr 70 n. Chr. in Erfüllung, als die römische Armee unter Titus Jerusalem eroberte und zerstörte. Im Gefolge des jüdischen Krieges und der Restaurationsbemühungen der pharisäischen Rabbinen wurden die Judenchristen aus der Synagoge ausgeschlossen und in der Folge gezwungen, die – von Paulus legitimierte – Mißachtung der Thora durch ihre heidenchristlichen Brüder zu akzeptieren – oder aber zu emigrieren. Damit war die endgültige Trennung beider Religionsgemeinschaften vollzogen und das Christentum auf seine eigene Bahn gebracht. An die Stelle der Abstammungsgemeinschaft und des Gesetzes – der Thora wie des Römischen Rechts – trat der Glaube an Jesus Christus sowie die Gottes- und Nächstenliebe als zentraler Integrationsfaktor der neugegründeten Ekklesia. Den Kern der urchristlichen „Politik“ bildete die gegenseitige Fürsorge, die Sorge um den Nächsten, um die Gemeindemitglieder – und gelegentlich sogar um die Ungläubigen und Gegner. Die von den Hebräern entwickelten Pastoraltechnologien und der in der Antike übliche Euergetismus wurden intensiviert und weiter ausgebaut. Die hierarchische Ordnung der Synagoge hingegen wurde abgelehnt. Die im Theokratiegedanken angelegten demokratischen und anarchischen Potentiale kamen zur Entfaltung. Es gab keine Herrschaft und keine institutionalisierten Ämter, die Apostel und Lehrer der Ekklesia wurden von der Gemeindeversammlung eingesetzt. Sie übten keine Zwangsgewalt aus, sondern mußten auf den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) vertrauen. Zwar blieben die Frauen ohne Mitspracherechte und ihren Männern untergeordnet, doch durften sie am Gemeindeleben und an den Gottesdiensten partizipieren. Die soziale Stellung der einzelnen spielte keine Rolle, alle Männer galten als gleich – sowohl vor Gott als auch untereinander. Die Reichen hatten für die Armen zu sorgen, die Starken die Gebrechlichen zu unterstützen, die Mächtigen die Schwachen zu schützen. Allein die Stärke des Glaubens, die jeweilige Fähigkeit zur Predigt, zur „Weissagung“ und Tröstung der Glaubensbrüder, hob einzelne charismatische Führer aus dem Kreis der anderen heraus. Der Versuch einzelner, sich hervorzutun und zu Leitern und Oberhirten aufzuschwingen, führte zu Spaltungen und rief erregte Invektiven von seiten der Apostel auf den Plan. Vor allem Paulus erinnerte unermüdlich an Jesus Chri-

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stus, der seinen Lebenssinn im Dienst für die anderen gesucht und gefunden hatte, der sich selbst für seine Anhänger und für die ganze Menschheit aufgeopfert hatte. So brachte die religiöse Gemeinschaft neue Formen der Betätigung, der Orientierung und der Selbstverwirklichung hervor. Unterhalb bzw. jenseits der Institutionen des Reiches, der Städte und Provinzen wurden alternative Formen des Zusammenlebens und der kollektiven Rationalität erprobt. Sie dienten der Integration, der Sozialisation und der kulturellen Reproduktion, d.h. der Ausbildung eines kollektiven Gedächtnisses. Allerdings wurde auch diese Quelle neuer Sinnfindung alsbald ausgetrocknet. Mit der institutionellen Stabilisierung der christlichen Kirche seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde auch in ihrem Inneren der Raum für die intersubjektive Selbstverwirklichung eingeschränkt und schließlich ganz beseitigt. Die Kirche, die sich stets als Gotteshaus, als Oikos, definierte, brachte auch in ihrem Innenraum Herrschaftsstrukturen hervor, die das soziale und politische Leben der Gemeinden korrumpierten und einen hierarchischen Herrschaftsapparat installierten, der nach und nach die Aktivität und Spontaneität der Gemeindemitglieder im Keim erstickte. Und diese Entwicklung nimmt nicht wunder, denn: „es ist eine unverbrüchliche Regel der Verfassungsgeschichte jeder neu aufstrebenden und sich universal entwickelnden öffentlichen Gemeinschaft, daß sie nicht nur nicht indifferent bleiben kann gegenüber den Gemeinschaften, die sie vorfindet, sondern daß sie auch, latent oder offen, mit ihnen rivalisierend, ihnen ein Element nach dem anderen nachbildet und damit zugleich zu entziehen sucht“.274 So geschah es auch mit der christlichen Kirche: sie adaptierte nach und nach alle im Römischen Reich vorfindlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen. Sie kreierte neue Ämter (Priester, Presbyter, Diakone) und etablierte eine neue Hierarchie. Sie fand im Papsttum schließlich die dem Reich entsprechende institutionelle Form, die das Mittelalter überdauern konnte. Gegen die Verknöcherung der Ekklesia rebellierten jedoch von Zeit zu Zeit die unterschiedlichsten Gruppen und Sekten, die aber stets als „Häretiker“ gebrandmarkt und als Abweichler von der reinen Lehre ausgegrenzt und verfolgt wurden. Das begann bereits im Christentum der Spätantike und wiederholte sich in der Geschichte immer wieder, bis die Universalkirche dann in der Frühen Neuzeit zerbrach.

3. Die christliche Reichsidee Kreiste das politische Denken der Christen des ersten Jahrhunderts um die Liebe und die gegenseitige Fürsorge, so das der späteren Generationen um die Macht und ihre Institutionalisierung als Herrschaft. Die neuartige Sorge um sich und die Anderen führte zu festen Einrichtungen, in denen sich der neue Glaube 274

Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, S. 32.

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materialisieren und entfalten konnte. Die christlichen Gemeinden konsolidierten sich, entwickelten sich zu einem institutionell stabilisierten und in sich vernetzten Reich im Reich, das seinen Gliedern vielfältige Möglichkeiten der Betätigung und der Selbstverwirklichung bot. Die werdende Kirche adaptierte jedoch die Machtstrukturen des Imperium Romanum und entwickelte ganz allmählich eine affirmative Haltung zum Reich. Sie stellte sich auf Dauer durch Ämter und feststehende Institutionen und reproduzierte in ihrem Inneren die äußere Hierarchie. Was einst als radikale Institutionenkritik begonnen hatte, verkehrte sich im Lauf der Jahrhunderte in sein direktes Gegenteil. Einst revolutionäres Ferment, wurde das Frühchristentum im 4. Jahrhundert zum herrschaftsstabilisierenden Element und letztlich zum ideologischen Kitt des Römerreiches, das schon früh, schon unter Konstantin dem Großen heiliggesprochen wurde. Der Weg von der innerjüdischen Erneuerungsbewegung und vom antirömischen Protest- und Rückzugspotential bis hin zur römischen Reichsreligion war allerdings lang und beschwerlich. Argwohn und Verunglimpfungen, Hohn und Spott von seiten der Andersgläubigen, Diskriminierungen und Verfolgungen durch die imperialen Machthaber und ihre Satrapen waren zu gewärtigen. Der Glaube an den Gekreuzigten und seine Auferstehung, die aus seinen Worten und Taten abgeleiteten ethischen Maximen, der auf Barmherzigkeit und Güte zielende Lebenswandel, der nicht-öffentliche, hinter verschlossenen Türen praktizierte Kultus, die Verweigerung des Kriegsdienstes und der Mitarbeit an der bürgerlichen Selbstverwaltung – alle diese Faktoren mußten das Mißtrauen der anderen erregen. Anklagen und Verleumdungen gegen die Verfechter des neuen Glaubens standen auf der Tagesordnung und provozierten Rechtfertigungen und Verteidigungsschriften von seiten der frühen Apologeten, die darzulegen suchten, daß die Christen keine heimlichen Kannibalen und Kinderschänder seien, daß sich ihr Glaube mit der menschlichen Vernunft und ihren logischen Prinzipien, daß sich ihre Religion insgesamt mit den gegebenen sozialen und politischen Verhältnissen im Imperium Romanum reibungslos in Einklang bringen ließ, da sie keine Diastase erzwang, sondern die Beteiligung am wirtschaftlichen und sozialen Leben und die Mitarbeit in den Selbstverwaltungsinstanzen der Städte und Provinzen erlaubte und keinen Aufruhr, sondern vielmehr Ruhe und Eintracht förderte. Beginnend mit Bittschreiben eines sonst wenig bekannten Quadratus an Hadrian, von Aristides an Antonius Pius (ca. 140 n. Chr.) sowie von Melito von Sardes an Marc Aurel (ca. 172 n. Chr.) wurden bis zu Tertullian (ca. 160–220) und Laktanz (ca. 260–320) immer neue Versuche unternommen, die Verträglichkeit und die gegenseitige Zuordnung und Stützung von christlicher Religion und römischer Politik zu erweisen.275 Diese Bemühungen blieben jedoch zunächst 275 Vgl. B. Altaner/A. Stuiber, Patrologie, S. 58 ff.; H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche. Bd. 2, S. 172 ff.; E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, bes. S. 85 ff.; A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin. Bd. 2, S. 45 ff.; R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 602 ff.

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erfolglos. Die Zeit der Konfrontation währte bis 311 n. Chr. Sie wurde erst im Jahre 312 im Westen, seit 324 auch im Osten durch die Kooperation der Kirchenrepräsentanten mit den Regenten abgelöst.276 Zu den äußeren Anfeindungen gesellten sich innere Spannungen, innerchristliche Rivalitäten und Schismen, Streitigkeiten über den wahren Inhalt des Glaubens, den richtigen Weg der Erlösung sowie die gottgemäße Gestalt und Organisation der zu erbauenden Kirche. Der christliche Glaube geriet in den Sog und Bannkreis der griechischen Philosophie277 und der aus ihr entspringenden Gnosis, die einen neuen Weg der Erlösung von dieser Welt und ihren Zwängen durch göttliche Erleuchtung versprach. Mit ihrer Absage an das irdische Sein, ihrer Negation des eschatologischen Vorbehaltes, ihrem Dualismus zwischen Geist und Materie, ihrer Begeisterung für die freie und unreglementierte Erkenntnis des transzendenten Gottes, ihrem demokratisch-anarchistischen Schwung, mit ihrer Freude über die neu gefundene Heimat jenseits der Wirklichkeit und über die Wege und Möglichkeiten der menschlichen Selbsterlösung wurde sie zum Ferment und Widersacher, zum Katalysator des entstehenden Katholizismus, der – nach einem Wort von Adolf Harnack – gegen die Gnosis und speziell gegen Marcion errichtet wurde.278 Angestachelt durch die gnostische Herausforderung wurde die werdende Kirche zu theoretischen Klärungen und praktischen Entscheidungen genötigt und schließlich zur dogmatischen Verhärtung und institutionellen Verkapselung provoziert. Sie setzte sich ab von den verschiedenen gnostischen Bewegungen und grenzte diese als häretisch aus. Der Glaubensinhalt wurde kanonisiert, die Gotteserkenntnis der gemeinen Glieder reglementiert. Die Autorität der Kirchenleiter verdrängte das individuelle Engagement. Die schwerste Belastungsprobe stellten indes die Pogrome von seiten der Mächtigen und Herrschenden dar, die durch den Tod der Märtyrer und durch den Abfall der weniger Standhaften immer wieder zur Schrumpfung der Gemeinden führten. Beginnend mit Nero (64 n. Chr.), Domitian (81–96) und Trajan (98–117) fanden bis 249 n. Chr. zumeist spontane und planlose, zeitlich und räumlich begrenzte und vereinzelte Nachstellungen statt, die seit Decius jedoch in systema276 Zur Einschätzung und Behandlung der Christen durch das Imperium Romanum in der Zeit der Konfrontation (bis 311 n. Chr.) vgl. die Quellensammlung von W.-D. Hauschild (Hg.), Der römische Staat und die frühe Kirche. Dazu R. L. Wilken, Die frühen Christen. Zu den christlichen Stellungnahmen zu Rom vgl. H. Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum; W. Schultz, Die Kirche im Römischen Reich vor Konstantin; R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat. 277 Zur Entwicklung und zum Stand der Philosophie in der ausgehenden Antike vgl. den Überblick von W. L. Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, bes. S. 230 ff.: „Die Anfänge der Philosophie bei den Christen“. Zur Rezeption und Entwicklung der Philosophie im Christentum vgl. Fr. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie. Zweiter Teil, S. 11 ff. 278 A. v. Harnack, Marcion, S. V. Zur Rolle der Gnosis bei der Entstehung des Altkatholizismus vgl. auch ders., Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 1.

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tisch betriebene, gezielt und umfassend ansetzende Verfolgungen übergingen, die unter Valerian (257–58) und Diocletian (303–311) ihren traurigen Höhepunkt fanden.279 Erst in der Folge änderte sich die Lage. Mit dem Toleranzedikt des Galerius, das 313 von Konstantin erneuert wurde, sah sich das Christentum als legitime Religionsgemeinschaft neben den anderen anerkannt und konnte sich nunmehr ungehemmt entfalten. Es wurde schließlich unter den christlichen Kaisern seit Theodosius (379–395) zur alleinigen Religion des Imperiums, während die anderen Kulte verboten wurden. Allen Hindernissen und Gefährdungen zum Trotz wuchs die Zahl der Gläubigen kontinuierlich, breitete sich das Christentum von Palästina aus ganz allmählich, aber stetig über Syrien, Kleinasien, Makedonien und schließlich über das ganze Imperium Romanum bis nach Nordafrika aus.280 Dabei mußte sich der Charakter der religiösen Gemeinden im Lauf der Zeit zwangsläufig ändern. Veranlaßt durch das stete Wachstum der Mitgliederzahlen sowie durch unausbleibliche Generationenkonflikte entstanden neue Orientierungsmuster und Organisationsstrukturen, neue Formen von Theorie und Praxis. Die jüngeren Mitglieder aus den nachwachsenden Generationen kannten weder Jesus noch die Apostel. Sie waren auf die Erzählungen der Älteren angewiesen, die dadurch zu Mittlern und zu Geheimnisträgern wurden. Das Bedürfnis nach Theologie entstand, die ersten Kirchenväter traten auf den Plan, die den Inhalt der frohen Botschaft systematisch zu erläutern und zu deuten begannen.281 Charismatische Gestalten erlangten eine herausgehobene Stellung, doch setzte zugleich eine „Veralltäglichung des Charisma“282 ein. Die Texte des Neuen Testaments wurden kanonisiert, nicht genehme und apokryphe Schriften ausgesondert. Die Fundamente einer tragfähigen Ordnung wurden gelegt. Das religiöse Erzittern und Erschaudern vor dem Numinosen, der Enthusiasmus und die Ekstase wurden institutionell gebannt. Seit der ersten Jahrhundertwende wurden stabile Organisationsstrukturen geschaffen, feststehende Ämter institutionalisiert (Bischöfe, Presbyter, Diakone), die Macht der autonomen Gemeinden konzentriert – bis schließlich im 4. Jahrhundert mit dem Papsttum eine übergreifende und vereinheitlichende Zentralgewalt entstand, die alle entscheidenden innerkirchlichen Machtbefugnisse monopolisierte und sich nach außen als eigenständiger Machtkreis profilieren

279 Vgl. W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 128 ff.; E. Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 95 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen, S. 95); R. Klein/ P. Guyot, Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen; J. McManners (Hg.), Geschichte des Christentums; F. Millar (Hg.), Das Römische Reich und seine Nachbarn, S. 104 f., 157 ff.; F. Winkelmann, Geschichte des frühen Christentums, S. 86 ff. 280 Vgl. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums; Lietzmann, Geschichte der alten Kirche. Bd. 2, S. 145 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 260 ff. 281 Vgl. H. Frh. v. Campenhausen, Griechische Kirchenväter; ders., Lateinische Kirchenväter. 282 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142 ff., 661 ff.

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konnte.283 Damit waren letztlich alle wichtigen Herrschaftsformen des Römischen Reiches kopiert, so daß die römischen Regenten in der Kirche ein Ebenbild und eine Stütze des Imperiums erkennen konnten, das zur Legitimation und Stabilisierung ihrer eigenen Machtpositionen dienen konnte. Der Aufstieg des Christentums vom zweiten bis vierten Jahrhundert hatte soziale, politische und wirtschaftliche Gründe.284 Er basierte – wie Peter Brown betont – auf der Auflösung der alten Netzwerke von traditionalen Gegenseitigkeiten, der Lösung des einzelnen aus alten Gruppenbanden und -solidaritäten, auf der Ablösung eines auf Ausgleich basierenden Lebensstils durch einen auf Ambition gerichteten. Das Christentum schlüpfte in die Lücke, die der gesellschaftliche Umbruch gerissen hatte: „Es bot eine Gemeinschaft, die in symbolischer Form den Zusammenbruch jenes Gleichgewichts akzeptierte, auf dem die traditionelle heidnische Gemeinschaft geruht hatte. Ihre Initiation sollte Menschen hervorbringen, die die Komplexitäten ihrer irdischen Identität abgelegt hatten. Ihr Ethos ging von einer mehr atomistischen Auffassung des Menschen aus, der nun weniger als früher durch verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und regionale Bande gebunden war. Gleichzeitig schuf sie in der Einstellung zu ihren Leitern en miniature eine Welt, in der dauerhafte Loyalitätsbande zu einer streng hierarchischen Klasse von ,Gottesfreunden‘ akzeptiert wurden“.285 Der christliche Gottesglaube und das aus ihm deduzierte System ethischer Prinzipien und Maximen füllte das Sinnvakuum, das der verblassende Kaiserkult hinterließ. An die Stelle der pax Augusta sollte die pax Christiana als ihre Erbin und Vollstrekkerin treten. Vor allem in der Krise des 3. Jahrhunderts wurden die Bedingungen für die Missionierung optimal. In der Bevölkerung des Reiches wuchs das Bedürfnis nach neuem Sinn und neuen Orientierungen, die den wirtschaftlichen Niedergang und die politische Zerrüttung zu kompensieren erlaubten und über die erfahrenen Verluste und die neu entstehenden Unsicherheiten und Ängste hinwegtrösten konnten. Erlebten zunächst die altorientalischen Kulte und Mysterienreligionen erneut einen ungeheuren Aufschwung,286 so wurden sie schließlich eingesammelt, d. h. bekehrt und ins Christentum aufgehoben, das neue Hoffnun283 Zur Institutionalisierung der frühen Kirche vgl. auch E. Herrmann, Ecclesia in Re Publica. 284 Vgl. F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 29 ff.; J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, bes. S. 109 ff. (mit Forschungsbericht und weiterer Literatur: S. 147 ff., 250 ff.); ders./B. Quint (Hg.), Christentum und antike Gesellschaft. Zur Geschichte des Römischen Reiches in der Spätantike siehe ferner H. Brandt, Geschichte der römischen Kaiserzeit; A. Demandt, Die Spätantike; A. H. M. Jones, The Later Roman Empire 284–602; I. König, Der römische Staat II, S. 199 ff. 285 P. Brown, Die letzten Heiden, S. 106. Vgl. auch ders., Die Entstehung des christlichen Europa, S. 31 ff.; ders., Macht und Rhetorik in der Spätantike. 286 Zur Erschlaffung der alten religiösen Bindungen und des Kaiserkultes, zur Blüte der hellenistisch-orientalischen Kulte und ihrer schließlichen Überbietung durch das Christentum vgl. auch R. Klein, Symmachus, S. 16 ff. Ferner Lietzmann, Geschichte. Bd. 2, S. 21 ff.

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gen und den endgültigen Sieg über die Kräfte des Bösen und die Dämonen versprach. Im folgenden sollen nicht die einzelnen Etappen der Entstehung und Entwicklung der Kirche und des christlichen Reiches nachgezeichnet werden.287 Zu untersuchen sind nur die entscheidenden Schritte in der Genese und die Konturen der christlichen Reichsidee, der Idee der Civitas bzw. Respublica Christiana. Zwei aufeinanderfolgende bzw. parallele Entwicklungen in der Zeit vom zweiten bis zum vierten christlichen Jahrhundert lassen sich dabei unterscheiden: Zum einen die innerkirchliche Organisation und ihre Legitimation, die Verselbständigung und Hierarchisierung von Ämtern und die Monopolisierung von machtverleihenden Institutionen durch einzelne Personen. Zum andern die allmähliche Hinwendung der Christen zu Rom und seinen Machthabern und Regenten. Die Frage nach der Politik zerlegt sich innerhalb des christlichen Paradigmas entsprechend in zwei Unterfragen. Zum einen geht es um die Organisationsstrukturen der Kirche, zum andern um die der „äußeren“ Hülle des umfassenden Reiches. Schließlich geht es um die Wechselbeziehung dieser beiden Institutions-Institutionen, um das Verhältnis von Sacerdotium und Imperium. a) Von der pneumatischen Einheit zur hierarchischen Anstalt – Entstehung und Legitimation der katholischen Kirche Die Entstehung und institutionelle Verfestigung der Kirche, die Ur- und Frühgeschichte der christlichen Institutionenbildung und -begründung ist dokumentiert in der großen Patrologie Berthold Altaners.288 Die früheste Quelle ist der erste Brief des Römers Klemens an die Korinther (ca. 96 n. Chr.), der erstmals die Organisationsprobleme der werdenden Kirche thematisiert (S. 45 ff.). Es folgen die Briefe des Ignatius von Antiochien, der Brief des Polykarp von Smyrna an die Philipper, die erhaltenen Fragmente des Papias von Hierapolis, der Barnabasbrief sowie der Hirt des Hermas. Ferner die griechischen Apologeten des 2. Jahrhunderts (Quadratus, Ariston, Miltiades, Appolinaris, Melito, Aristides, Justinus der Märtyrer, Tatianus, Athenagoras, Theophilus von Antiochien, der Brief an Diognet, Hermias und Sextussprüche) (S. 58 ff.) und die „Schriften aus dem Gemeindeleben des 2. und 3. Jahrhunderts“ (S. 79 ff.). Besonders bedeutsam aus der letzteren Rubrik ist die Didache, eine kleine, im Altertum hochgeschätzte Schrift, die zu Beginn des 2. Jahrhunderts entstand und die Lehre der zwölf Apostel enthält, ihre Ratschläge bezüglich der Bedürfnisse und Institutionen, der moralischen, rituellen und rechtlichen Vorschriften für das Zusammenleben einer

287 Die wichtigste historische Quelle dafür bildet Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte. Vgl. ferner das Standardwerk von R. Sohm, Kirchengeschichte im Grundriß. 288 Altaner/Stuiber, Patrologie. Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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jungen Gemeinde.289 Diese Schrift diente dann als Vorlage für spätere liturgische und kirchenrechtliche Entwürfe. Sodann wird die apostolische Überlieferung und die Kirchenordnung Hippolyts von Rom erwähnt sowie die Didaskalie, in der die mittlerweile geltenden Ordnungen und Verordnungen auf die Autorität der Apostel zurückgeführt werden. Weiter werden alte Taufsymbole, älteste Homilien, Märtyrerberichte, Dichtungen usw. angeführt, in denen die Nöte der werdenden Kirche sichtbar werden, aus denen sich aber auch ihr wachsendes Selbstbewußtsein ablesen läßt. Den Höhepunkt markieren schließlich die Kirchenväter des 3. und 4. Jahrhunderts (S. 145 ff.) und die an sie anknüpfende spätere patristische Literatur. Alle diese Schriften dokumentieren – neben anderem – die frühchristliche Suche nach adäquaten Handlungsregeln. In ihnen spiegelt sich der allgemeine, in allen Epochen zu beobachtende praxisphilosophische Prozeß, der stets von der Kritik der in der Gesellschaft vorgefundenen Institutionen zur Suche nach neuen Institutionen führt. Zugleich reflektiert sich in ihnen ein grundlegendes Spannungsverhältnis, das die gesamte weitere Verfassungsgeschichte des Christentums durchzieht: der Konflikt zwischen Zentral- und Lokalorganisation sowie zwischen „Geist“ und „Amt“, Vorstehern und gemeinen Gliedern.290 Das früheste Dokument dieses Konflikts bildet der Erste Klemensbrief an die Korinther, der daher kurz betrachtet werden soll. Anlaß des Ersten Klemensbriefes waren Wirren in der Christengemeinde zu Korinth. Einige jüngere Gemeindemitglieder hatten sich gegen die Presbyter erhoben und sie aus ihrer Stellung verdrängt. Die Institutionalisierung der ersten kirchlichen Ämter scheint damals schon im Gang, d. h. relativ fortgeschritten und selbstverständlich gewesen zu sein.291 Um die erste Jahrhundertwende war in Antiochia und einigen größeren Städten Kleinasiens die Kollegialität abgeschafft und die gesamte Macht auf einen einzigen Episkopos übertragen worden. Diese Entwicklung illustrieren die Briefe des Ignatius von Antiochien, die zugleich die klassische Legitimation des monarchischen Episkopats enthalten.292 Die autonomen Einzelgemeinden wurden künftig geleitet von einem dreifach abgestuften Klerus: „An der Spitze steht ein Bischof, unter ihm das Kollegium der Presbyter, während die Diakonen an dritter Stelle erscheinen. In dem Bischof verkörpert sich die Einheit der Gemeinde, er ist an Gottes Statt“ (I, S. 264). „Das Kollegium der Presbyter wurde zu einer beratenden, aber doch ihm untergeordneten Behörde, und auch die Diakonen blieben als eine Mehrzahl bestehen“ (II, S. 48). Diese Ordnung wurde von den anderen Gemeinden übernommen und alsbald zur festen Einrichtung.293 Der Erste Klemensbrief zeigt jedoch, daß diese Machtkon289

Vgl. Didache, Traditio Apostolica; K. Wengst, Didache. Vgl. dazu Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, S. 32 ff. 291 Vgl. H. Frh. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht. 292 Vgl. Lietzmann, Geschichte. Bd. 1, S. 251 ff.; Bd. 2, S. 47 ff. Seitenzahlen im folgenden Absatz mit bloßen Bandangaben beziehen sich auf dieses Werk. 290

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zentration nicht von allen als selbstverständlich betrachtet wurde und nicht ohne Widerstand erfolgte. Einzelne Gemeindemitglieder bezweifelten, daß diese Ordnung richtig war, dem Willen Gottes entsprach und mit der Apostolischen Tradition übereinstimmte. Wie schon zu Zeiten des Apostels Paulus taten sich zunächst erneut vor allem die Korinther in Sachen Liberalität und Eigenständigkeit hervor. Der Streit kreiste somit um die Frage, wer die Geschicke der einzelnen Gemeinden bestimmen sollte, ob die Bischöfe oder die Gemeinden selbst. Es ging dabei sowohl um die Organisationsformen des Gottesdienstes, um Liturgie und Inhalt des Glaubens, wie um die äußere Verwaltung der Kirchengemeinden. Nach einigen allgemeinen Ermahnungen thematisiert Klemens die anstehenden Konflikte und fordert – unter Hinweis auf die Gliederung eines Heeres und des menschlichen Leibes sowie auf die alttestamentliche Hierarchie – von den Aufständischen die bedingungslose Unterordnung unter den von den Aposteln und ihren Nachfolgern eingesetzten kirchlichen Vorsteher. Die Presbyter, so seine Conclusio, können und dürfen von der Gemeinde nicht abgesetzt werden, weil sie ihre Gewalt nicht von dieser haben, sondern von den Aposteln, die ihrerseits den Weisungen Jesu Christi folgen. Mit der Hoffnung auf baldige Nachricht von der Wiederherstellung des innerkirchlichen Friedens beendet Klemens seinen Brief.294 Dieser Vorgang ist lehrreich, da sich in der Begründung des Römers das neue Selbstverständnis der Bischöfe spiegelt. Kollektive Gestaltung des Gemeindelebens war nicht mehr erwünscht. Das Bedürfnis der Gemeindemitglieder nach politischer Betätigung, nach Selbst- und Mitbestimmung bei den die Gemeinde betreffenden Angelegenheiten sollte unterdrückt, die Machtbefugnisse sollten in den Händen der Leiter konzentriert werden. Politik im klassischen Sinne war nicht mehr zugelassen. An ihre Stelle war die Herrschaft Gottes und seiner Stellvertreter getreten, politische Praxis war durch Autorität ersetzt.295 Der Gedanke 293 Vgl. Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 161 ff.: „Knapp zwei Generationen nach Jesus und den Aposteln, spätestens aber in der 2. Hälfte des 2. Jhs. ist die Ausbildung des dreigestuften Amtes im wesentlichen abgeschlossen. Um diese Zeit besaß die Gemeinde jeder Stadt – im römischen Sinne einer selbständigen Verwaltungseinheit – einen einzigen Bischof, daneben Presbyter und Diakone“ (S. 162). 294 Vgl. auch Altaner/Stuiber, Patrologie, S. 45 ff.; Lietzmann, Geschichte. Bd. 1, S. 201 ff.; Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 2, S. 55 ff. 295 R. Sohm (Kirchenrecht I, S. 160) erblickte im Ersten Klemensbrief daher den großen Sündenfall der Entstehung des Kirchenrechts. Harnack (Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, S. 69) hält dies jedoch für Übertreibung. „Aber richtig ist: die Lokalgemeinde, eine bisher der pneumatischen Gesamtgemeinde enhypostatisch eingefügte Größe, wird nun erst eine auf sich selber, oder vielmehr auf ihrem Kultusbeamten ruhende Größe, und nun erst gibt es ein Kirchenrecht im eigentlichen Sinne, weil der pneumatische Faktor und die Gesamtekklesia faktisch . . . ausgeschaltet ist“. Vgl. auch ders., Urchristentum und Katholizismus (,Geist‘ und ,Recht‘). Kritik der Abhandlung Rudolph Sohm’s ,Wesen und Ursprung des Katholizismus‘ (ebd., S. 121–186). Zur

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der apostolischen Sukzession brach sich Bahn, der schließlich der Legitimation des Papsttums dienen konnte.296 Wie im Reich so wurde auch in der Kirche das soziale Handeln, die Kommunikation und Interaktion in starre Formen und Regeln gezwängt und herrschaftlich koordiniert. Schon in der Zeit der autonomen Lokalgemeinden wurden die Aktivitäten von Institutionen und Ritualen, von Liturgie und Gesetzen fremdbestimmt, von Einrichtungen, die sich weniger aus den Erfordernissen des Zusammenlebens und des Kultes als aus der Imitation des Römerreiches und aus dem Machtbegehren einzelner Presbyter ableiteten, die dieses Streben mit Verweis auf Gottes Willen und Gebote kaschierten. An die Stelle der alten pneumatischen Einheit der paulinischen Ekklesia trat die episkopale Sakraments- und Traditionskirche. Dadurch wurde der ursprüngliche Gedanke eines absoluten religiösen Individualismus und Universalismus weiter verengt: „Die religiöse Gemeinschaft ist nun nicht mehr bloß an die Christusanbetung, die Taufe und das Herrnmahl gebunden, sondern an die Gemeinde, den Bischof, die Tradition und die vom rechtmäßigen Bischof ausgeübte sakramentale Gnadenmitteilung“.297 Gegen die institutionelle Verfestigung und gegen die Okkupation und Konzentration der Macht wandten sich jedoch bereits im 2. Jahrhundert unterschiedliche Bewegungen und Gruppen.298 Märtyrer und Bekenner, Asketen und Mönche konkurrierten mit den geistlichen Würdenträgern um die Repräsentation des wahren Christentums. Nach den Jungen von Korinth äußerte sich der Protest und Widerstand gegen die institutionelle Verkrustung vor allem in der Gnosis, die das demokratisch-anarchistische Potential des Theokratiegedankens reaktualisierte.299 Sie wurde deshalb zur entscheidenden Widersacherin der sich etablierenden Kirche, die sich gegen den gnostischen Liberalismus und Libertinismus formierte. Dabei spielten Irenäus von Lyon und Hippolyt von Rom den entscheiden-

unterschiedlichen Wertung des „Frühkatholizismus“ vgl. H.-J. Schmitz, Frühkatholizismus bei Adolf von Harnack, Rudolph Sohm und Ernst Käsemann. 296 Vgl. G. Denzler, Das Papsttum, S. 13 ff.; H. Zimmermann, Das Papsttum im Mittelalter, S. 11 ff. Zu Titel, Legitimation und Gestalt des Papsttums siehe auch H. Fuhrmann, Die Päpste, 25 ff. 297 E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen I, S. 86. Für Troeltsch ist die damit eingeleitete Herausbildung des Frühkatholizismus die zweite große Fortbildung des Evangeliums nach dem Paulinismus (S. 85). Der Episkopat ersetzte das Pneuma durch Autorität und Amt. „Das ist die eigentliche Verweltlichung der Kirche, die Materialisierung und Veräußerlichung des religiösen Zentralpunktes, die Selbstauslieferung an die Bedingungen weltlicher Organisationskunst“ (S. 87). 298 Zur Situation und Entwicklung im 2. Jahrhundert vgl. auch K.-W. Tröger, Das Christentum im zweiten Jahrhundert. 299 Vgl. Die Gnosis; H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist; ders., Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes; G. Quispel, Gnosis als Weltreligion; K. Rudolph, Die Gnosis; ders. (Hg.), Gnosis und Gnostizismus; E. Pagels, Versuchung durch Erkenntnis; J. Taubes (Hg.), Gnosis und Politik; P. Sloterdijk/T. H. Macho (Hg.), Weltrevolution der Seele; M. Brumlik, Die Gnostiker.

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den Part, indem sie sich der „Entlarvung und Widerlegung der falschen Gnosis“ (adversus haereses) bzw. „aller Häresien“ widmeten. Ihr ganzes Streben zielte darauf, „gegen die Flut des gnostischen Anarchismus . . . die Kirche Christi auf Erden“ zu begründen.300 Auf den von ihnen errichteten Fundamenten konnten die späteren Apologeten und Kirchenväter weiterbauen. Die Gnostiker entwickelten keine politischen Ambitionen im Sinne des aktiven Kampfes und der Weltgestaltung.301 Sie wandten sich im Gegenteil ab von der Welt und kehrten der Gesellschaft angewidert den Rücken. Sie wollten keine alternative politische Ordnung errichten, wurden aber zum Anstoß einer erneuten „Wertrevolution“.302 Ihr Ziel war die Abkehr von der Welt im ganzen und die Rückbesinnung auf die inneren Werte des Menschen. Diesem primären Anliegen korrespondierte in der Praxis der Auszug aus der bestehenden Gesellschaft, der sie sich entfremdet hatten.303 Der politische Charakter der Gnosis offenbart sich in ihrer anti-politischen Stoßrichtung. Ihre Repräsentanten und Anhänger verweigerten prinzipiell die Partizipation an der bürgerlichen Selbstverwaltung und lehnten jegliche institutionalisierte Herrschaft ab. Sie suchten und fanden ihr Heil jenseits der gesellschaftlichen Realität – in ihrem Inneren, ihrer Seele oder ihrem Ich. Nur die vom göttlichen Geist entflammte Seele kann sich nach ihrer Auffassung von den Mächten des Bösen emanzipieren und Licht in die herrschende Finsternis bringen. Eine „herrliche Fremde“ (Harnack) tat sich auf und wurde den Gnostikern zur neuen Heimat. Der Jubel, die grenzenlose Freude über

300 Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 2, S. 94. Vgl. auch Altaner/Stuiber, Patrologie, S. 110 ff., 164 ff.; Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 26 ff.; Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 1; ders., Marcion, bes. S. 196 ff. 301 Vgl. B. Aland, Was ist Gnosis? Wie wurde sie überwunden? Versuch einer Kurzdefinition: „Ein Interesse an der Welt im praktisch-politischen, sozialen Sinn o. ä. kann es für den Gnostiker nicht geben und daher auch keine Verbindung zwischen ,Gnosis und Politik‘“ (S. 57). 302 In welchem Sinne die Gnosis als „revolutionär“ zu verstehen ist, hat H. Jonas (Gnosis und spätantiker Geist) treffend umschrieben: „Versteht man darunter eine Haltung, die an die Stelle gegebener Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens andere, ebenso objektive setzen, also die Welt nach einem Zielbild . . . kämpferisch umgestalten will und hierzu auch die entsprechenden Anstalten trifft – so ist freilich nach diesem modernen und politischen Begriff die Gnosis alles andere als revolutionär. Denn sie hat gerade nicht die Welt zum Ziel, weder gegen noch um eine soziale Herrschaftsordnung geht es ihr (. . .) Versteht man aber unter ,revolutionär‘, ganz allgemein oder per analogiam, eine Haltung, die eine überkommene Wertordnung, gegen deren Herrschaft sie aufsteht, von einer neuen Sinngebung her aus den Angeln hebt und durch eine ebenso totale andere ersetzt . . . – dann ist die Gnosis in eminentem Maße revolutionär . . . Die Welt ist dabei nur negatives, nicht auch positives Objekt ihrer Ausrichtung“ [zit. nach P. Sloterdijk/Th. H. Macho (Hg.), Weltrevolution der Seele, S. 15]. 303 Vgl. auch H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 369 ff. (Kap. 9: Die gnostische Ablehnung eines öffentlichen Bekenntnisses der Gläubigen); ders., Intellektualismus und antike Gnosis.

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diese neue Erfahrung entfremdete sie der Welt und führte sie zum Exodus aus dem „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“.304 Der strahlende Kosmos der Antike hat sich in ein „nur noch blendende(s) Gehäuse der Heillosigkeit“ verwandelt.305 Für die Gnostiker liegt die ganze Welt im Argen. Sie wird beherrscht von den Mächten der Finsternis, die über die des Lichtes triumphieren, solange sie nicht durch den göttlichen Geist bezwungen werden. Rettung kann der Mensch allein in seinem Inneren finden, in seinem Ich, das potentieller Träger der erlösenden Erkenntnis (gnosis) ist. Gott ist dem Menschen unbekannt, doch ergeht sein Ruf an ihn, den er vernehmen kann, wenn er sich ihm bedingungslos öffnet. Vernimmt er ihn und folgt er seinen Imperativen, so kann er sich befreien aus den Fesseln und Zwängen des Bösen. Doch währt der Kampf der beiden Mächte bis zum Ende aller Tage. Erst dann wird die Finsternis für immer besiegt. Zwar weichen die einzelnen Gnosen hinsichtlich der spekulativen Erkenntnis des Ursprungs und der Bestimmung des Erlösungsweges zum Teil beträchtlich voneinander ab, doch gibt es auch Gemeinsamkeiten, die ihre Zusammenfassung unter dem Sammeletikett „Gnosis“ legitimieren.306 Fünf Grundzüge charakterisieren nach Werner Foerster die unterschiedlichen Varianten und Strömungen und verbinden sie miteinander:307 „1. Zwischen dieser Welt und dem unserem Denken unfaßbaren Gott, dem ,Urgrund‘, ist ein unüberbrückbarer Gegensatz. 2. Das ,Selbst‘, das ,Ich‘ des Gnostikers, sein ,Geist‘ oder seine Seele, ist unveränderlich göttlich. 3. Dieses Ich aber ist in die Welt geraten und von ihr gefangen und betäubt worden und kann sich nicht selbst daraus befreien. 4. Erst ein göttlicher ,Ruf‘ aus der Welt des Lichtes löst die Bande der Gefangenschaft. 5. Aber erst am Ende dieser Welt kehrt das Göttliche in den Menschen zu seiner Heimat zurück“. Die Gnosis war eine geschichtliche, eine theoretische und praktische Alternative zum entstehenden Katholizismus. Sie blieb für diesen eine dauernde Herausforderung, die zu allen Zeiten wiederaufleben konnte.308 In ihr manifestiert sich 304 Vgl. J. Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einst und heute. Einleitung zu ders. (Hg.), Gnosis und Politik, 9–15. 305 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 209. 306 Vgl. Fr. Ueberweg, Grundriß II, S. 26 ff.: „Fast allen gnostischen Systemen ist gemeinsam der Dualismus zwischen Gott und Materie, die Überbrückung der Kluft zwischen beiden durch eine Reihe von Mittelwesen, der Gedanke ihrer Emanation in abnehmenden Seinsstufen und ihrer Rückkehr zum Ursprung auf dem Wege der Erlösung“ (S. 26). 307 W. Foerster, Einleitung zu: Die Gnosis, S. 17. Vgl. auch H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft, S. 69 ff.; P. Pokorny, Die gnostische Soteriologie in theologischer und soziologischer Sicht. 308 Vgl. dazu den Streit zwischen H. Blumenberg und E. Voegelin über die ge- bzw. mißlungene Überwindung der Gnosis in der Neuzeit: E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 158 ff.; ders., Wissenschaft, Politik und Gnosis. Dagegen H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 143 ff. Zur Metakritik beider Positionen vgl. W. Hübener, Zum Geist der Prämoderne, S. 12 ff.; ders., Das „gnostische

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der Protest gegen die institutionelle und dogmatische Verhärtung und Verkrustung der Kirche, während der Dogmatismus der werdenden Großkirche umgekehrt durch seinen expliziten Antignostizismus grundiert und ausgezeichnet ist. „Gnosis ist eine Philosophie des Als-Ob-Nicht“, faßt Peter Sloterdijk die Ergebnisse seiner Studien zusammen.309 Sie hat sowohl gnoseologische als auch politische Konsequenzen: „Erst seit die Seele sich als eine der Welt gegenüberstehende . . . Wesenheit versteht, kann die ,Welt‘ wie ein Super-Objekt insgesamt weggerückt und aufgezeigt werden.“ (S. 30 f.). „Die Gnosis ist die erste Ereignisphilosophie. Sie zwingt die hellenisierenden Ontotheologen, zu metaphysischen Katastrophentheoretikern zu werden . . . Es gilt nunmehr, im Sein selbst mindestens drei prinzipielle Katastrophenstellen anzunehmen und theoretisch auszuleuchten . . .: die Primärkatastrophe Schöpfung, die Sekundärkatastrophe Sündenfall und die Tertiärkatastrophe bzw. Epistrophe Erlösung . . . Die Wege der Gnosis und des Katholizismus trennen sich im Streit um den ,Fall‘ . . . Die große Häresie lehrt, daß die beiden ersten Katastrophen, Schöpfung und Fall, im Grunde identisch sind. Einsicht in diese Identität ist die Quintessenz von Gnosis“ (S. 39). – „Die Negation der ,Welt‘ entspringt aus dem Entsetzen vor den Weltmächten . . . Welt – das sind vor allem die Herren Roms, die antoninischen Kaiser, die Provinzgouverneure, die Steuereinnehmer, die Juristen – Pontius Pilatus und Kollegen, mit ihren Huren, ihren Lobrednern, ihren Astrologen“ (S. 32). „Die Weltherren freilich sind von jetzt an als Marionetten böser Kräfte durchschaut“ (S. 33). In diesen emanzipatorisch-kritischen Einsichten erblickt Sloterdijk – mit Ernst Bloch, Jacob Taubes u. a., jedoch im Gegensatz zu konservativen Denkern wie Eric Voegelin u. a. – die bleibende Leistung und die unverminderte Anziehungskraft der Gnosis.310 Die Gnosis entstand in den großen Städten des Reiches (Antiochia, Alexandria, Rom)311, beschränkte ihren Einfluß aber nicht auf diese, sondern erfaßte Rezidiv“ oder wie Hans Blumenberg der spätmittelalterlichen Theologie den Puls fühlt. In: J. Taubes (Hg.), Gnosis und Politik, 37–53; R. Faber, Eric Voegelin. Gnosis-Verdacht als polit(olog)isches Strategem. Ebd., 230–248. 309 P. Sloterdijk, Die wahre Irrlehre, S. 31. Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 310 Im Namen Nag Hammadi, resümiert Sloterdijk (S. 19), „schillert das Versprechen des ganz Anderen – des Ungewordenen und Nie-Versuchten. Er scheint unverwirklichte Möglichkeiten des ,westlichen Geistes‘ zu symbolisieren. Er steht für die vernichteten Chancen und die unterdrückten Alternativen des eigentlich-weltgeschichtlichen Kontinents“. Das Auftauchen der gnostischen Bibliothek aus Oberägypten „kooperiert mit dem Bedürfnis nach der fundamentalen Revision einer Kultur, die sich in ihrem Zwang zum Weltkrieg manifestiert und demaskiert hat“. „Die ,Vollkommenen‘ der Wüste hatten den Weltungehorsam bis zum Ende erprobt – bis zum Bruch mit allem, was ans Gegebene und Bestehende bindet“. 311 Vgl. Lietzmann, Geschichte. Bd. 2, S. 244 ff.; H. G. Kippenberg, Soziologische Verortung des antiken Gnostizismus. Zu Rom speziell H. Cancik, Gnostiker in Rom. Zu den Schwierigkeiten einer sozialen Verortung der Gnosis vgl. K. Rudolph, Das Problem einer Soziologie und ,sozialen Verortung‘ der Gnosis; P. Pokorny, Die gnostische Sote-

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mit der Zeit auch die ländlichen Regionen. Sie fand wachsenden Zulauf und wurde zur Konkurrentin der werdenden Kirche und zum Drohpotential innerhalb des Römischen Reiches, indem sie alternative Formen des Lebens und der Gemeinschaftsbildung entwickelte. Die Gnostiker lebten nicht als Eremiten, sondern schlossen sich zu Gemeinschaften zusammen.312 Sie entwickelten natürlich keine straffe Kirchenorganisation und keine Vorstellungen einer alternativen Reichsgestaltung, durchbrachen aber die im Reich verwurzelten Selbstverständlichkeiten: „Die antike Gnosis stellte jenen Gebieten, die zu einer Unterwerfung unter eine bürokratische Zentrale nicht bereit waren und dazu nicht gezwungen werden konnten, ein höchst einfaches und äußerst effektives Konzept religiöser Würde zur Verfügung. Es erlaubte den Bauern und Hirten von Rückzugsgebieten, gegenüber den Unterwerfungsversuchen der Zentralinstanz eine Widerstandsfront zu formieren und sich intern in einer die Dörfer übergreifenden Sozialform zu organisieren“.313 Damit entpuppt sich der jüngere Streit über den politischen oder apolitischen Charakter der Gnosis als Scheingefecht, das aus der mangelnden Klarheit und Einigkeit über den Politikbegriff resultiert. Schon die Gründung neuer Religionsgemeinschaften muß als Protest und Widerstand gegen die verhärteten gesellschaftlichen, religiösen und politischen Verhältnisse und damit als politischer Akt gewertet werden. Wie schon für das Urchristentum so gilt auch hier: eine Bewegung, die sich – angeekelt von den vorgefundenen sozialen und politischen Verhältnissen – von der Welt abwendet und ihr Heil im Exodus sucht, kann nicht als unpolitisch, sondern muß als antipolitisch und damit als eminent politisch betrachtet werden. Es ging erneut um eine Veränderung des geltenden Wertegefüges im ganzen. Im Gegensatz zur werdenden katholischen Kirche probten die Gnostiker den Auszug aus der Gesellschaft und wiederholten damit den einstigen Protest der Jesusbewegung. Im Unterschied zu dieser brachen sie jegliche Verbindung zum Judentum und zur altisraelitischen Tradition ab. Durch eine wörtliche, nicht-allegorische Lektüre der Bibel gelangten Marcion und seine Nachfolger zu der Einsicht, daß der Demiurg, der herrische und launenhafte Schöpfergott des Alten Testaments, nicht der Erlösergott des Neuen Testaments sein kann, von dem Jesus und insbesondere Paulus gepredigt hatten. Er wurde stattdessen als Dämon und Urheber aller weltlichen Übel betrachtet, der durch den in Christus geoffenbarten, am Ende der Zeiten kommenden Gott endlich und endgültig bezwungen wird. Christus selbst erschien nicht länger als ein Mensch, als wirkliches Wesen von Fleisch und Blut, sondern als Bote Gottes und reines Geistwesen. riologie in theologischer und soziologischer Sicht, S. 154 ff.; ders., Der soziale Hintergrund der Gnosis. 312 Diesen Aspekt betont zu Recht W. Foerster, Einleitung zu: Die Gnosis, S. 15: „Die Gnostiker existieren nicht als einzelne, sondern als Gemeinschaft, die sich jeweils um einen zusammenschließt, der den ,Ruf‘ empfangen hat und ihn weitergibt“. 313 H. G. Kippenberg, Gnostiker zweiten Ranges, S. 140.

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Aufgerüttelt durch die Gnosis formierte sich die katholische Gegenmacht, die in dieser Auseinandersetzung ihre konkrete Gestalt gewann. Im Kampf gegen und im schließlichen Sieg über den Gnostizismus begann die christliche „Entzauberung der Welt“.314 Die Grundsteine legten Irenäus und sein Schüler Hippolyt. Ihre Kritik richtete sich weniger gegen die totale Weltablehnung als vielmehr gegen das gnostische Menschenbild und die Auslassung des eschatologischen Vorbehaltes.315 Gegen die emanzipatorische Selbstaufwertung des Menschen betonten sie seine Schwäche und Sündhaftigkeit, die den bedingungslosen Gehorsam gegen Gott – und damit gegen seine Stellvertreter auf Erden – erzwinge. Anstelle der gnostischen Emphase sollte christliche Demut und Barmherzigkeit gepflegt werden. Nur Gott allein, nicht aber der Mensch kann Gnade spenden und die erhoffte Erlösung bringen. Die Einheit des Alten und Neuen Testaments wurde betont. Der Monotheismus sollte gerettet werden. Gott sollte ineins der Schöpfer der Welt und der Erlöser der Menschheit sein. Kein Riß durfte durch seine identische Natur gehen. Jesus aber galt als der leibhaftige Sohn seines Vaters, der durch ihn Mensch geworden und für die ganze Menschheit gestorben ist. Folge dieser Auseinandersetzung war die Präzisierung des Glaubensinhaltes, die Festlegung des Kanons heiliger Schriften, die Geltendmachung der Tradition gegen das gnostische Pathos, die Idee der apostolischen Sukzession (Liste der römischen Bischöfe seit Petrus), die Stärkung des kirchlichen Amtes sowie die Festlegung der verbindlichen ethischen Normen.316 In Anlehnung an die römische Jurisprudenz entwickelten Irenäus und Hippolyt ferner ihre Lehre vom Gesetz gegen den Antinomismus der Karpokratianer und anderer Sekten, die – ähnlich wie die griechischen Sophisten – in allem Recht nichts weiter sahen als bloße menschliche Konvention.317 Recht und Gesetz wurden als göttliche Stiftung betrachtet. Das mosaische Gesetz sei durch Jesus nicht aufgehoben, sondern erfüllt worden. Der Neue Bund führe den Alten bruchlos fort. Erst im Zuge dieser Entwicklungen wandelte sich die Priesterherrschaft zur Kirche im vollen Wortsinne, die, wie Max Weber betonte, die Verselbständigung des Klerikerstandes, die Erhebung universalistischer Herrschaftsansprüche, die Rationalisierung des Dogmas und des Kultus sowie die Loslösung des Charisma von der Person des Geistlichen und seine Verknüpfung mit dem Amt zur Voraussetzung hat:318 „Zur ,Kirche‘ entwickelt sich die Hierokratie, wenn: 1. ein besonderer, nach Gehalt, Avancement, Berufspflichten, spezifischem (außerberuflichem) Lebenswandel reglementierter und von der ,Welt‘ ausgesonderter Berufspriesterstand entstanden ist, – 314

Vgl. G. G. Stroumsa, Die Gnosis und die christliche ,Entzauberung der Welt‘. Vgl. B. Aland, Was ist Gnosis?, S. 61 ff.; Altaner/Stuiber, S. 110 ff., 164 ff. 316 Vgl. Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 26 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 145 ff.; Lietzmann, Geschichte. Bd. 2, S. 37 ff. 317 Vgl. Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 2, S. 99, 113. 318 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 692. 315

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2. die Hierokratie ,universalistische‘ Herrschaftsansprüche erhebt, d. h. mindestens die Gebundenheit an Haus, Sippe, Stamm überwunden hat . . ., – 3. wenn Dogma und Kultus rationalisiert, in heiligen Schriften niedergelegt, kommentiert und systematisch, nicht nur nach Art einer technischen Fertigkeit, Gegenstand des Unterrichts sind, – 4. wenn dies alles sich in einer anstaltsartigen Gemeinschaft vollzieht. Denn der alles entscheidende Punkt . . . ist die Loslösung des Charisma von der Person und seine Verknüpfung mit der Institution und speziell: mit dem Amt.“

Die Auseinandersetzung mit der Gnosis war grundlegend für die werdende Kirche. Sie war aber nur ein erster Schritt in der Herbeiführung allgemeinverbindlicher Entscheidungen. Marcion wurde 144 in Rom exkommuniziert, die anderen Gnostiker in der Folgezeit an den Rand bzw. aus der Kirche gedrängt. Nachdem die Wesensidentität des Schöpfer- und Erlösergottes autoritativ festgestellt war, mußte zwangsläufig das Verhältnis der drei Naturen dieses Einen Gottes zum Problem werden und eine Klärung und Entscheidung erzwingen. War Jesus der Sohn und damit bloßes Geschöpf seines Vaters? Oder war er Gottvater selbst, der sich in ihm selbst gezeugt und inkarniert hatte? Und schließlich der dritte im Bunde, der Heilige Geist? War er der Geist des zweieinigen Vater-Sohnes und daher bloßes Attribut oder Akzidens einer umfassenderen Substanz? Oder ging Gottes Wesen gänzlich in ihm auf? Diese und weitere Fragen sollten das Christentum in den folgenden Jahrhunderten beschäftigen. Sie führten zu tiefen Rissen, zu Spaltungen, Feindschaften und heftigen Kämpfen, die stets mit der Verdammung und dem Ausschluß der Unterlegenen endeten. Erst im 4. Jahrhundert wurde die orthodoxe Version der Trinitätslehre endgültig festgeschrieben. Erst in der Folge waren die Christen genötigt, sich ihren Gott als lebendige Triplizität von Vater, Sohn und Heiligem Geist zu imaginieren, eine Einheit, die in allen ihren Momenten vollständig präsent und mit sich identisch ist. Bis dahin sollte es noch zahlreiche Streitigkeiten und Schismen geben, in denen sie sich gegenseitig aufrieben. Im Zuge dieser Kontroversen bildete und festigte sich aber die Identität der Kirche. Die innerkirchlichen Machtpositionen und Herrschaftsverhältnisse wurden indes bereits im Lauf des 2. Jahrhunderts zementiert, der Widerstand gegen die Amtsinhaber durch Exkommunikation der Renegaten gebrochen. Die Hierarchie setzte sich gegen die anarchischen und demokratischen Bestrebungen durch. Die Bischöfe bestimmten ferner die Geschicke ihrer Gemeinden, bürokratische Apparate erstickten das emanzipatorische Verlangen der gemeinen Glieder. Der Bischof von Rom erhob bereits einen Suprematieanspruch. Zwar wurde das Papsttum erst mit Damasus I. (366–384) und Siricius (384–399) mit Hinweis auf die Nachfolge Petri legitimiert, die von Irenäus erstellte Liste der römischen Bischöfe ließ jedoch bereits erahnen, daß das Oberhaupt der römischen Gemeinde sich ferner nicht nur als Primus inter Pares verstehen würde. Ende des 2. Jahrhunderts versuchte Viktor von Rom im Streit um das Osterfest, den anderen Kirchen die Annahme seiner Entscheidung zu oktroyieren. Er konnte sich damit zwar nicht durchsetzen, doch wies sein Bemühen den Nachfolgern den Weg.

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„Alle Elemente der späteren Kirchenverfassung“, folgert Harnack, „waren am Ende des 2. Jahrhunderts, ja schon früher, bereits vorhanden. Neue Faktoren sind später nicht mehr aufgetreten außer dem christlichen Kaiser“.319 Dies scheint ein wenig überzogen, da von einem über die römische Kirchenprovinz hinausgehenden Jurisdiktionsprimat des Papstes als Nachfolger Petri seinerzeit noch nichts bekannt war. Er wurde erst im 4. Jahrhundert eingeführt.320 Dennoch waren die organisatorischen und ideologischen Fundamente gelegt, auf denen die späteren Päpste aufbauen konnten.321 Krisen und Konflikte bildeten – wie stets – Knotenpunkte in der Entwicklung und Etablierung auch der Kirche. Sie waren mit der Abwehr der Gnosis noch längst nicht überwunden. Vor allem im kleinasiatischen Raum blieb der Widerstand gegen die Machtkonzentration lebendig: „Während die Kirche in ihrer Gesamtheit sich innerlich festigte, durch Amt, Kanon und Bekenntnis Sicherungen gegen gnostische Spekulationen und enthusiastische Willkür schuf und in ihrer ganzen Lebenshaltung einen Frieden mit der umgebenden Welt anstrebte, blieben die Triebkräfte der Vorzeit in der Einsamkeit kleinasiatischer Bergtäler lebendig und schufen bald nach der Mitte des 2. Jahrhunderts die Bewegung der ,Neuen Prophetie‘, der man in späteren Zeiten den Ketzernamen des Montanismus gegeben hat“.322 In der Erwartung des baldigen Weltendes, das sich durch Kriege und Aufstände ankündigte, wandten sich Montanus und seine Anhänger erneut ab von der Welt und propagierten die Vorbereitung auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi. Im 3. Jahrhundert schließlich breitete sich von Persien und Indien aus der Manichäismus aus, der im Anschluß an Mani (ca. 216–276) das dualistische Weltbild der Gnosis erneuerte und die Kräfte des Guten von denen des Bösen, das Reich des Lichts vom Reich der Finsternis unterschied.323 „Der Manichäismus hat die diffusen gnostischen Strömungen zu einer Art Kirche geformt, die Mission trieb und sich rasch ausbreitete“.324 In der Abwehr und Ausgrenzung dieser und anderer „häretischer“ Positionen schritt die Festigung der kirchlichen Macht immer weiter voran. Synoden, auf denen die strittigen Fragen

319 Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, S. 119. Erst die Reformation, meint Harnack, habe den notwendigen Bruch mit dieser verhängnisvollen Entwicklung vollzogen (S. 120). 320 Vgl. G. Denzler, Das Papsttum, S. 17; R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 621 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 156 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen S. 156 f.). 321 Zum Suprematieanspruch der römischen Bischöfe in der vorkonstantinischen Zeit vgl. auch K. Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche. 322 Lietzmann, Geschichte 2, S. 195. Vgl. auch Altaner/Stuiber, S. 107 f.; Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 126 ff. 323 Vgl. Lietzmann, Geschichte 2, S. 276 ff.; Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, S. 156 ff.; H. Jonas, Gnosis (1958), S. 248 ff.; G. Stroumsa, König und Schwein. 324 K. Flasch, Augustin, S. 28. Vgl. auch G. Widengren, Mani und der Manichäismus; ders. (Hg.), Der Manichäismus; A. Böhlig, Die Gnosis 3: Der Manichäismus.

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erörtert wurden, führten zur Verständigung zwischen den autonomen Gemeinden und förderten ihren Zusammenschluß.325 Die Kirchenväter leisteten ihren Beitrag zu dieser Entwicklung. Sie lieferten das theoretische Rüstzeug zur Legitimation der Machtkonzentration. Allerdings zeigten ihre intellektuell bedeutendsten Vertreter, Clemens von Alexandrien (ca. 150–214) und Origenes (ca. 185–254), nur geringes Interesse für die Organisationsfrage. Im Unterschied zu den Lateinern konzentrierten sich die Griechen stattdessen auf die philosophische Grundlegung der Theologie und die Vermittlung und Synthese von Glauben und Wissen. Clemens wurde zum Begründer der patristischen Literatur und zum „Schöpfer einer wissenschaftlichen Theologie der werdenden Kirche (. . .) Mit der Aneignung des griechischen Logos-Begriffes und seiner Übertragung auf Christus, aber auch mit einer allegorischen Auslegung der Bibel hat Clemens den Weg eröffnet, das aristotelisch-stoische Ordnungsprinzip einer lenkenden Vernunft auch im Staatsdenken zu übernehmen. Wahrer König könne nur der sein, so erklärt er, der seine Herrschaft vernunftgemäß, den Gesetzen folgend, über freiwillig gehorchende Untertanen innehabe“.326 Bis dieser Gedanke seine Wirkung entfalten konnte, mußte aber noch eine lange Zeit verstreichen. Von der Kirchenorganisation ist bei Clemens hingegen kaum die Rede, die Amtsträger waren für ihn ohne Interesse. Von Campenhausen nennt den Alexandriner den „unkirchlichsten“ unter allen Kirchenvätern, da er der organisierten Kirche gegenüber völlig gleichgültig war.327 Sein Schüler Origenes, der berühmteste und „fruchtbarste Gelehrte des christlichen Altertums“,328 geriet gar in Konflikt mit einem Kirchenoberen, dem alexandrinischen Bischof Demetrios, der bestrebt war, seinen Herrschaftsbereich über ganz Ägypten auszudehnen und folglich auch die von Origenes geleitete Katechetenschule seiner unmittelbaren Aufsicht zu unterstellen, wobei er auf Widerstand stieß, da sich Origenes keiner Zensur beugen wollte. Er unterlag jedoch der geballten Macht seines Gegners und mußte nach Caesarea emigrieren, wo seine Schule neu errichtet wurde. „Der ,Fall Origenes‘“, schreibt v. Campenhausen, „ist das erste berühmte Beispiel einer 325 Vgl. Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, S. 110 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 177 ff.; J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 129 f. (Literaturhinweise S. 294 f.). 326 R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 602 f. (mit Verweis auf Clemens von Alexandrien, Stromata 1, 24). Zu Justin, Clemens von Alexandrien und Origenes vgl. auch R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters. Zu den beiden letzteren ferner W. L. Gombocz, Die Philosophie, S. 249 ff.; P. Nautin, Origène. 327 Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 40, 42. 328 Altaner/Stuiber, S. 197. „Schon zu seinen Lebzeiten sah man in O. den bedeutendsten Theologen der griechischen Kirche. Seinem Einfluß konnte sich niemand entziehen, weder in Freundschaft noch in Feindschaft. Kein Name war im christlichen Altertum umstrittener als der seine, keiner wurde mit so großer Begeisterung und Entrüstung genannt“ (S. 198).

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Rivalität und eines Konflikts zwischen der freien, nicht amtlichen Vollmacht eines unabhängigen ,Lehrers‘ mit der Autorität der über ihm stehenden kirchlichen Behörde“.329 Er war ein weiteres Exempel für den nicht auszuschaltenden Kampf zwischen Geist und Amt. Zwar wurde Origenes von einer alexandrinischen Presbytersynode nachträglich mit dem Bann belegt, doch ließ sich seine Lehre nicht dauerhaft unterdrücken. Sie wurde bahnbrechend und setzte sich vor allem im Osten durch. Während im Westen die Genese einer straffen Kirchenorganisation und des monarchischen Episkopats zügig voranschritt, trug Origenes durch seinen nachhaltigen Einfluß bei zur Verzögerung dieser Entwicklung im Osten. In seiner Auseinandersetzung mit Celsus, der die kenntnisreichste, aber zugleich heftigste Attacke von seiten der „Heiden“ gegen das Christentum geführt hatte,330 suchte Origenes – wie einst schon die frühen Apologeten – die Verträglichkeit des christlichen Glaubens mit den im Reich herrschenden Sitten zu erweisen und den Monotheismus gegen den Vorwurf der Reichsfeindschaft zu verteidigen.331 Erik Peterson hat darauf aufmerksam gemacht, daß es letztlich politische Überlegungen waren, die Celsus zu seinen Stellungnahmen gegen den christlichen Monotheismus veranlaßt hatten: „Er fürchtet die Zerstörung des Imperiums“. „Der Monotheismus wäre diskutabel, wenn es gelingen könnte, die nationalen Besonderheiten zu überwinden, aber niemals werden sich die verschiedenen Völker in diesem Sinne auf ein einziges ,Gesetz‘ einigen, und darum kann die Wirkung des jüdisch-christlichen Monotheismus auf das politische Leben im Grunde immer nur destruktiv sein“.332 Dagegen vertrat Origenes die Überzeugung, daß es dem göttlichen Logos gelingen werde, die verschiedenen Völker auf einen gemeinsamen Nomos zu einigen. Voraussetzung dafür wäre die Konversion der Heiden und vor allem der Regenten zum christlichen Monotheismus. Wie vor ihm Hippolyt von Rom und Melito von Sardes und nach ihm Eusebios von Caesarea so verwies auch Origenes auf die Koexistenz von Augustus und Christus. Die Geburt Jesu in der Zeit des Friedens und der Weltherrschaft des Augustus sei im Ratschluß Gottes gelegen und habe die vereinigten Völker auf die Verkündigung und Verbreitung seiner Botschaft vorbereitet. Origenes verschmolz biblischchristliche mit gnostischen und neuplatonischen Elementen und schuf so ein theologisches System, das auch die Philosophen anzusprechen vermochte. Nomos und Logos seien in Jesus inkarniert, erklärte er, beide seien durch ihn verwirklicht worden und im Glauben an ihn aufgehoben.

329 Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 55. Vgl. auch Lietzmann, Geschichte 2, S. 283 ff. 330 Vgl. Celsus, On the True Doctrine. Zu Celsus vgl. C. Andresen, Logos und Nomos. 331 Vgl. Origenes, Contra Celsum. 332 E. Peterson, Der Monotheismus, S. 80, 81.

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Während Tertullian im Westen die Kluft zwischen Jerusalem und Athen, Kirche und Akademie, Glauben und Wissen betonte,333 wollten die griechischen Kirchenväter seit Justin dem Märtyrer gerade die Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zwischen Christentum und griechischer Philosophie beweisen. Doch gab es auch Einvernehmen zwischen den Griechen und Lateinern. Wie vor ihm Justin und Athenagoras, wie Theophil und Hippolyt, wie Tertullian und später Arius so faßte auch Origenes das Verhältnis der drei Personen in Gott subordinatianisch: „Obgleich er die Ewigkeit des Sohnes Gottes betont und ihn ümooýsioò nennt, ist nur der Vater aýtüeoò, der Logos ist deýteroò eüò, er ist nicht wie der Vater Üplwò agaüò, sondern eÍkwn agaüthtoò (Cels. 5,39; princ. 1, 2, 13). Der Heilige Geist ist geringer als der Sohn (princ. Praef. 4) . . . Der Logos hat einen wahren Leib angenommen und ist Gottmensch (eÜnrwpoò)“.334 Damit legte Origenes die Grundlagen für den künftigen östlichen „Sonderweg“, für die Ablehnung der orthodoxen Trinitätslehre durch den Arianismus. Die himmlische Kirche metamorphosierte bei ihm zur platonischen Idee, deren irdische Erscheinung als unvollkommene Nachbildung erscheinen mußte. Klar, daß die späteren Vikare und Repräsentanten Gottes den Alexandriner nicht heilig sprechen konnten. Wie die Kirchenlehre so prallte auch die von den Griechen entwickelte LogosChristologie auf den Widerstand der Nicht- bzw. Antiphilosophen, die sich gegen die Spiritualisierung des göttlichen Wesens wandten, wobei sich vor allem die Monarchianer hervortaten, die in Christus kein Geistwesen, sondern einen „wirklichen“, d. h. „bloßen Menschen“ (Adoptianer) bzw. eine Erscheinungsweise Gottes (Modalisten) erblickten, der in Gestalt des Sohnes für die Menschheit gelitten hatte. Der von den Kleinasiaten ausgelöste Streit sorgte bereits gegen Ende des 2. Jahrhunderts für Unruhe in der römischen Gemeinde und drängte den Bischof zu einer Entscheidung. Wieder wurden die Abweichler exkommuniziert. Die Streitfrage war damit aber nicht gelöst. Der Konflikt schwelte weiter und bedrohte die Einheit des Christentums.335 Er führte zur Spaltung zwi333 Tertullian, De praescriptione haereticorum 7, 9–13; ders., Apologeticum, 46, 18. Zum spannungsreichen Verhältnis zwischen Christentum und Philosophie vgl. auch K. Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 50 ff. 334 Altaner/Stuiber, S. 207. 335 Vgl. Lietzmann, Geschichte 2, S. 180 ff., 190 ff.: „Die Kleinasiaten sind es jedenfalls gewesen, die eine theologische Bewegung in der römischen Kirche hervorgerufen haben. Justin hatte die Logoschristologie vertreten. Theodot lehrte Adoptianismus, Noët und Praxeas waren Monarchianer: die Gegensätze rührten die Gemeinde auf und zwangen den Bischof endlich, eine Entscheidung zu treffen. Die erste war rein negativ: die bereits erwähnte Exkommunikation des Theodot durch Viktor (. . .) Die monarchianische Lehre des Noët und seines Schülers Kleomenes erschien lange Zeit unanstößig und galt als der zutreffende Ausdruck der Gemeindefrömmigkeit, bis die Vertreter der Logostheologie ihre Ansprüche anmeldeten . . . Endlich entschloß sich Zephyrin, eine Entscheidung zu fällen, um dem Streit ein Ende zu machen. Er erließ eine amtliche Erklärung: ,Ich kenne nur einen Gott, Christus Jesus, und außer ihm keinen anderen: und der

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schen West und Ost und wurde erst im 4. Jahrhundert autoritativ entschieden, als Konstantin dem Konzil von Nicaea (325) die Homoousios-Formel verordnete. Bis dahin gingen die Kontroversen zwischen den Verfechtern der Subordinationstheologie und ihren monarchianistisch-adoptianistischen Gegnern weiter. Und auch danach sollte der Streit noch lange nicht zur Ruhe kommen. Im Gegensatz zu den philosophierenden Griechen waren die Apologeten und Kirchenväter des Westens eher pragmatisch orientiert. Sie konzentrierten sich auf die Organisationsstrukturen der Kirche. Entscheidend für die „Latinisierung“ der römischen Kirche und ihre Absetzung vom Osten wurden Tertullian (ca. 160– 220) und Cyprian (ca. 200–258), die beide in Nordafrika wirkten. Sie entwickelten eine juristische Kirchentheorie und kreierten die Rechtsgestalt der irdischen Kirche als Sacerdotium. Etwa gleichzeitig mit dem apologetischen Dialog „Octavius“ von Minucius Felix336 entstand Tertullians „Apologeticum“ (197 n. Chr.). Auch der erste lateinische Theologe verurteilte die griechische Logos-Spekulation und die Philosophie überhaupt. Für ihn ist Gott kein ideelles Wesen, sondern der tatsächliche Regent des Weltenlaufes.337 Im Mittelpunkt seines Interesses stand das Verhältnis der irdischen zur himmlischen Kirche, wobei sich das Augenmerk auf die irdische richtete.338 Tertullian wollte diese als militia Christi konzipieren, als ekklesia militans, die im Krieg steht mit der Welt (S. 150). Er imaginierte angesichts der imperialen Verfolgungen „revolutionäre Kampfgruppen, denen er eine raison d’être und einen modus vivendi zu geben unternahm“ (S. 142). „Ihm lag daran, das christliche Leben als Leben im Dienst Christi verstehen zu lehren“ (S. 145). Diese Idee brachte ihn in Konflikt mit den römischen Bischöfen und ihren Behörden, die seine geballte Verachtung und seinen überschäumenden Zorn auf sich zogen. Er entwickelte eine gewaltige Aversion gegen die Bürokratisierung der Kirche und das entsprechende autoritäre Gehabe ihrer Leiter, die sich gegenüber den eigenen Kampfgefährten als tapfer und hart gerierten, in der Auseinandersetzung mit den weltlichen Machthabern und Regenten hingegen als korrupt und ängstlich erwiesen. Zwar trat diese seine Abneigung gegen den werdenden Klerus erst nach seinem Übertritt zum Montanismus

ist geboren und hat gelitten‘ (. . .) Der Kampf ging weiter, und als nach Zephyrins Tode Kallist Bischof wurde, kam es zur Spaltung der Gemeinde . . .“ (S. 248 f.). Zum Monarchianismus vgl. auch Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 153 ff. 336 Vgl. Altaner/Stuiber, S. 146 ff.; W. L. Gombocz, Die Philosophie, S. 244 ff.; Lietzmann, Geschichte 2, S. 188 f., 222 ff.; Fr. Ueberweg, Grundriß II, S. 47 ff. 337 Vgl. Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 13: „Die Botschaft von dem einen, schaffenden und gebietenden Gott, der kein Gedankenwesen ist, sondern den ganzen Weltlauf regiert, der die Dämonen durch Christus um ihre Macht gebracht hat und jetzt alle Menschen zur Entscheidung ruft, ist Tertullian zum bestimmenden Erlebnis geworden. Dagegen gehalten enthüllt sich die gebildete Theorie und Weisheit der Philosophen als ein nichtiges, unwirksamen Geschwätz.“ 338 Vgl. zum folgenden Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 2, S. 134 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weiter Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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deutlicher hervor, „aber von Anfang an sah er die irdische Kirche immer nur als kämpfende, militärische und nicht als Verwaltungsorganisation. Der Sohn des römischen Centurio hatte offenbar die Abneigung des kämpfenden Soldaten gegen ,Kammer‘ und Intendantur geerbt“ (S. 152). In seinem Kampf gegen die marcionitisch-gnostische Emphase sowie gegen den Pazifismus und Phlegmatismus der Kirchenleiter wurde Tertullian zu einem moralischen Rigorismus und Puritanismus und zu einem extremen Nomismus getrieben, der ihn über die orthodoxe Lehre hinausführte und ca. 206/207 zum Bruch mit der Kirche und zum Anschluß an den Montanismus veranlaßte. Doch hatte er bereits in seiner Apologie von 197 in Umrissen die Vision eines christlichen Reiches entwickelt, das schon auf Erden beginnen sollte. Richard Klein kommt deshalb zu dem Ergebnis, „daß bereits der erste lateinische Apologet ein Römisches Reich christlicher Prägung in der Zukunft erhoffte, das unter der tatkräftigen und machtvollen Regierung eines christlichen Universalherrschers stehen sollte“. Darin liege zugleich eine Bestätigung der Tatsache, „wie sehr bei den westlichen Christen trotz aller Rigorosität im täglichen Streit ein Reichsbewußtsein lebendig war, das die eschatologische Blickrichtung der frühen Gemeinden immer mehr abzulösen begann“.339 Dieses Reichsbewußtsein konnte sich seinerzeit allerdings nicht auf das bestehende Imperium beziehen und an den römischen Regenten orientieren, sondern mußte sich aus der Distanz und Entgegensetzung formieren. Tertullian wehrte sich deshalb vehement gegen die Akkomodation der Kirche ans Reich.340 Das von Tertullian begonnene Werk fand seine Fortsetzung und Vollendung durch Cyprian, der die afrikanische Kirche durch die Stürme der Verfolgungen unter Decius und Valerian führte. Er schuf eine streng juristische Organisation und formierte die Kirche zu einer Rechtsanstalt, zu einer hierarchisch organisierten und äußerlich sichtbaren Heilsanstalt.341 Sie gewann nun einen Doppelcharakter: blieb sie einerseits die pneumatische Einheit der Ekklesia, so manifestierte sie sich andererseits gegen außen als Sacerdotium. „Mit Cyprian beginnt die Reihe der ,kurialen‘ Bischöfe, die ihren geistigen Auftrag im magistratischen Stil der Konsuln und Prokonsuln zu erfüllen suchen . . . Das ist, am griechischen Osten gemessen, ein neuartiger, spezifisch abendländischer Typus katholischer Geistlichkeit“ (S. 38). „So wird die Einheit der katholischen Kirche zu einer 339

R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 605, 606. Vgl. F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 72: „Für ihn ist wie für die Apokalypse Rom ein Herrschaftsgebilde menschlichen Hochmuts, ein Feind der Heiligen Gottes. In schroffer Kritik an der römischen Staatsethik predigt er die völlige Sezession der Christen vom Staat seiner Zeit.“ Belege für diese Haltung und Einschätzung finden sich in Tertullians „De pallio“. Vgl. dazu D. v. Berchem, Tertullians ,De Pallio‘ und der Konflikt des Christentums mit dem Imperium Romanum. 341 Vgl. zum folgenden Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, S. 37 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 340

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greifbaren, festen, rechtlichen und kirchenpolitischen Wirklichkeit, die die Ordnung der westlichen Kirche bis nach Spanien und Gallien hinein bestimmt“ (S. 47). Allerdings wollte Cyprian die Leitung der Gesamtkirche nicht zentralisieren und in die Hände eines einzelnen legen, vielmehr sollte sie von den Bischöfen kollegial ausgeübt werden. Diese Auffassung brachte ihn in Konflikt mit Papst Stephan I. von Rom (254–257), der unter Berufung auf das Felsenwort Jesu an Petrus (Matthäus 16, 18) einen Suprematieanspruch erhob. „In Stephan und Cyprian treten zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen vom Wesen der katholischen Hierarchie und Kirche erstmals einander entgegen. Stephan ist mit seiner ,monarchischen‘ Auffassung der Gesamtkirche sozusagen der erste Papst; dagegen ist Cyprian mit der Vorstellung eines festen, aber freien Liebesbundes der gleichberechtigten Bischöfe der klassische Vertreter des ,Episkopalismus‘“ (S. 51).342 Bereits das Urchristentum hatte den Kaiser und das Reich entsakralisiert und die weltliche Macht auf ihre profanen Funktionen reduziert. Es hatte Christus als Gegenkaiser und als den wahren Imperator inthronisiert. Das Heilige hatte sich für die Jesusbewegung nicht in den Institutionen des Reiches oder in der Person des Kaisers inkarniert, sondern allein in der Gestalt Jesu Christi. Die nachapostolische Zeit hatte diese Position unter dem Eindruck der andauernden Verfolgungen radikalisiert. Infolge der Reichskrise des 3. Jahrhunderts343 und des Verfalls der kaiserlichen Macht344 wurde sie schließlich auf die Spitze getrieben. Für Cyprian war das Imperium Romanum insgesamt nicht mehr aktuell: „Die Wehen der Zeit, da der Antichrist kommen würde, hatten begonnen“ (S. 160). „Das Weltende war da, die irdische politische Gewalt hatte ihre Rolle ausgespielt“ (S. 179). Sie hatte das Feld geräumt und konnte keine Verehrung mehr erwarten. Die sich formierende Kirche besetzte den von ihr freigegebenen politischen Raum. „Die pax ecclesia, die die pax Christi war, stand anstelle der pax Romana“ (S. 180). Mit seinem Grundsatz extra ecclesiam nulla salus sprach Cyprian dem Reich 342 Zu Cyprians Zurückweisung der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt vgl. auch Altaner/Stuiber, S. 179 f.; Lietzmann, Geschichte 2, S. 236 ff. 343 Vgl. allerdings die Kritik an der traditionellen Krisensemantik und die Korrekturen an den gängigen Krisendiagnosen des 3. Jahrhunderts durch P. Brown, Die letzten Heiden, S. 77: „Im dritten Jahrhundert ist das Leben der oberen Schichten der römischen Welt nicht unter äußerem Druck zusammengebrochen: Es ist explodiert“. Brown verweist auf das Überhandnehmen von Fehden und auf die Konkurrenzkämpfe zwischen Städten und Provinzaristokratien. „Die Militarisierung des Reiches“, so seine Conclusio, „war also kein isolierter Vorgang; sie war Teil einer entfesselten Ellbogengesellschaft.“ 344 „Im Innern fielen die Kaiser einer nach dem andern der Willkür unbotmäßiger Generäle und meuternder Armeen zum Opfer. In West und Ost machten sich ganze Provinzen auf Jahrzehnte hinaus selbständig. Die Währung verfiel und die Pest raffte die Menschen zu Tausenden dahin“ (Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 2, S. 159). Vgl. zum folgenden ebd., S.159 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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jegliche Heilsbedeutung ab. Damit war die religiös-politische Einheitswelt der Antike zerrissen. „So waren Cyprians Wort, extra ecclesiam nulla salus und sein Werk der festen juristischen Organisation der Kirche die Mittel der Befreiung des Menschengeschlechts von der Lüge der politischen Metaphysik der Antike“ (S. 166). Allerdings sollte alsbald eine neue „Lüge“ in die freigewordene Stelle treten: die spätantike und mittelalterliche Mär vom christlichen Reich und dem von ihm garantierten ewigen Weltfrieden. Dadurch wurde ein alter Menschheitstraum durch eine noch trügerische Hoffnung ersetzt. Während nämlich die pax Romana in der Zeit des Augustus wenigstens teilweise wirksam wurde, blieb die pax Christiana „immer nur eine bloße Idee“; sie überwölbte ideell und ideologisch den nicht enden wollenden Kriegszustand und war „lediglich die Philosophie der nicht vorhandenen Institutionen“.345 b) Auf dem Weg zum christlichen Reich Die Organisation der westlichen Kirche und die Macht ihrer Amtsträger festigte sich im Laufe des 3. Jahrhunderts. Die äußeren Anfeindungen nahmen jedoch kein Ende. Erst im folgenden Jahrhundert sollte eine neue Zeit für das Christentum beginnen. Der große Umbruch ereignete sich zwischen 303 und 380 n. Chr. Nach den langwierigen und aufreibenden Verfolgungen durch die Truppen Diocletians kehrte endlich Ruhe und Frieden ein. Mit dem Toleranzedikt des Galerius (311) endete die Epoche der Konfrontation. Es begann die Zeit der Kooperation. Mit dem Sieg Konstantins über Maxentius begann jene Entwicklung, die unter dem Namen Konstantinische Wende in die Geschichtsbücher eingegangen ist.346 Das Reich wurde reformiert, das System der Tetrarchie aufgehoben.347 Das Christentum wurde im Edikt von Mailand (313) als legitime Religionsgemeinschaft neben den anderen anerkannt und konnte sich nunmehr frei von Repressionen entfalten.348 Unter den christlichen Kaisern seit Theodosius I. (379–395) wurde es schließlich sogar zur alleinigen Reichsreligion, wäh345

J. Agnoli, Von der Pax Romana zur Pax Christiana, S. 96. Zum Ereignis wie zur historischen und theologischen Kritik vgl. Dassmann, Kirchengeschichte II/1 (mit umfassenden Literaturangaben); J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 10 ff. Zu Problemen und Tendenzen der Forschung vgl. ebd., S. 152 ff. (Literaturhinweise S. 253 ff.). 347 Zu den Reformen Konstantins (Münzreform, Steuerreform, Militärreform, Kanzleireform, Senatsreform u. a.) vgl. I. König, Der römische Staat II, S. 233 ff. Zur Reichsorganisation unter Diocletian und Konstantin vgl. auch K. Christ, Die Römer, S. 190 ff.; W. Herwig, Das Reich und die Germanen, S. 96 ff.; A. Heuss, Römische Geschichte, S. 434 ff. Zur leitenden Reichsidee siehe A. v. Stauffenberg, Der Reichsgedanke Konstantins. 348 Zum neuen Selbstverständnis des Christentums vgl. die Textsammlung von G. Ruhbach (Hg.), Die Kirche angesichts der konstantinischen Wende. Zu den Konsequenzen der institutionellen Umstrukturierung vgl. E. Herrmann, Ecclesia in Re Publica, S. 205 ff. 346

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rend die anderen Kulte 391 n. Chr. verboten und unterdrückt wurden. Dies mußte sich zwangsläufig im Selbstbewußtsein der Kirche niederschlagen und ihre Stellung zum Reich radikal verändern: „Aus einer kleinen, verachteten Schar galiläischer Juden war eine im ganzen Imperium Romanum verbreitete Kirche geworden“.349 „Noch zu Beginn des 4. Jahrhunderts war das Christentum nur eine unter zahlreichen konkurrierenden orientalischen Erlösungsreligionen. Um die Mitte des Jahrhunderts aber war die Kirche durch ihren geistigen Einfluß auf die Reichsbevölkerung wie durch ihre wirtschaftliche und soziale Position eine der bewegenden Kräfte des Zeitalters geworden, die Gesellschaft und Politik, Kunst und Kultur nachhaltig beeinflußte“.350 „Weit davon entfernt, ein revolutionäres Element darzustellen, wird die christliche Kirche noch vor ihrer Anerkennung durch das Imperium entschieden reichsfreundlich.“ „Seit Konstantin wird auch das Imperium ,heilig‘ gesprochen“.351

Das Christentum wurde selbst zum ideologischen Kitt des Reiches, der christliche Gottesglaube ersetzte den schal gewordenen Kaiserkult. Die christliche Religion wurde zur Reichsreligion. Dieser Umbruch fand seinen literarischen Niederschlag in den Schriften der Kirchenväter des 4. Jahrhunderts und seinen schließlichen Höhepunkt in der Verklärung der christlichen Kaiser als Stellvertreter Gottes auf Erden und des Imperium Romanum als gottgewollter Heils- und Friedensanstalt. Der alte Haß auf die Regenten und zumal den Kaiser wandelte sich in eine tiefe Zuneigung und Verehrung. Der Übergang in die neue Zeit reflektiert sich im Werk von Laktanz (ca. 260–320), der zunächst die Verfolgungen erleben mußte und dann den Umbruch feiern durfte. Sein Buch Über die Todesarten der Verfolger gilt als einschlägiges „Dokument des werdenden politischen Bewußtseins einer zur Herrschaft berufenen Kirche“.352 Hatte Tertullian noch verkündet, keine Angelegenheit sei den Christen fremder als eine öffentliche (nulla est necessitas coetus nec ulla magis res aliena quam publica),353 so versichert Laktanz nach der Wende, selbstverständlich seien die Christen bereit zur Mitarbeit in den sozialen und politischen Institutionen. Der siegreiche Kaiser gar wird ihm „zum gottbestellten Retter von Ordnung und Gerechtigkeit“.354 Doch erst Eusebios von Caesarea (ca. 260–339) verhalf – als konstantinischer Hoftheologe – dem Reichsmythos zu seinem klassischen Ausdruck. In seiner Kirchengeschichtsschreibung und vor allem in seiner Jubelrede auf Konstantin den Großen kam jene Entwicklung zu ihrem Höhepunkt und ihrem Abschluß, die mit den 349

W. Schneemelcher, Kirche und Staat im 4. Jahrhundert, S. 124. F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 41. 351 J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 76. 352 Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, S. 73. 353 Tertullian, Apologeticum 38,3. Zitiert nach W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 123 und R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 604. 354 R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 607. 350

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frühen Apologeten begonnen hatte. Schon lange vor ihm hatte es Versuche gegeben, zwischen Augustus und dem Evangelium eine Verbindung herzustellen. Von Hippolyt über Melito und Tertullian bis zu Origenes reicht die Liste derer, die dem Reich heilsgeschichtliche Bedeutung beimaßen. Diese Bemühungen wurden animiert durch die Rezeption der in der jüdischen Tradition (Philo von Alexandrien, Flavius Josephus u. a.) entwickelten Theorie der göttlichen Monarchie.355 Hatten die christlichen Versuche in der vorkonstantinischen Zeit noch rein oder jedenfalls vorwiegend defensiven Charakter, so konnte die Reichstheologie nun in die Offensive gehen. Eusebios, von Carl Schmitt als „Prototyp Politischer Theologie“ diskutiert und mit seiner Rolle auf dem Konzil von Nicaea als Beleg dafür angeführt, „daß es unmöglich ist, in der geschichtlichen Wirklichkeit religiöse und politische Motive und Ziele als zwei inhaltlich bestimmbare Bereiche sauber zu trennen“,356 formulierte „jene uneschatologische, optimistische ,politische‘ Theologie, die die Mittelpunktstellung des Imperium Romanum im Heilsplan verfestigte und auf Konstantin zuspitzte“.357 Konstantins Monarchie erschien als das irdische Abbild der göttlichen Weltregierung. Ihre Aufgabe sollte es sein, den Polytheismus zu widerlegen und die Herrschaft des Logos auf Erden gegen den Widerstand der Barbaren und Dämonen zu sichern.358 Der Kaiser als vicarius Christi avancierte zum Schutzherrn der universalen Ekklesia. Er erschien als der Dominus (Herrscher), der im Einklang mit den bischöflichen Pastoren (Hirten) seine Herde zum richtigen, zum gottgewollten Ziel führen sollte. Imperium und Sacerdotium verschmolzen zu einer untrennbaren Einheit, in der die beiden Funktionen und Ämter völlig ungeschieden waren nach „weltlich“ und „geistlich“. „Die religiöse Eschatologie wandelt sich bei Eusebios in eine politische Utopie, die nicht mehr in der Zukunft erwartet wird, sondern seit der Herrschaft des Augustus im Imperium Romanum schon Wirklichkeit geworden ist“. „Die politische Theologie Eusebs und seiner Nachfolger hat den Sinn, die Alleinherrschaft der Römer und die Kontinuität des Imperium Romanum theologisch zu begründen“.359 Sie gab dem Kaisertum die Möglichkeit, den Monotheismus zur Grundlage des christlichen Imperiums zu machen und den Kaiser als Stellvertreter Gottes (vicarius Dei oder Christi) auf Erden zu legitimieren. Ferner schuf sie die Voraussetzungen für die Übernahme der Roma-aeterna-Idee durch die Christen.360 Das Römerreich 355

Vgl. E. Peterson, Der Monotheismus, bes. S. 85 ff. C. Schmitt, Politische Theologie II, S. 68 ff. (Zitat S. 72 f.). 357 P. Moraw, Art. Reich, S. 428. Vgl. auch Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 61 ff. 358 Vgl. Lietzmann, Geschichte. Bd. 3, S. 161. 359 E. Peterson, Kaiser Augustus im Urteil der antiken Christen, S. 177, 178. 360 Vgl. J. Agnoli, Von der Pax Romana zur Pax Christiana, S. 96 ff.; R. Faber, Die Verkündigung Vergils, S. 13 ff.; M. Fuhrmann, Die Romidee der Spätantike; R. Rilinger, Das politische Denken der Römer, S. 567. 356

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wurde nicht länger als Vorbote oder Ausdruck, sondern nunmehr als Aufhalter (kat-echon) des Antichrist begriffen. Es metamorphosierte zum Bollwerk gegen den drohenden Untergang und galt als letztes der vier Daniels-Reiche, das nicht länger als gottwidrige Macht erschien, die vor dem Anbruch des Gottesreiches vernichtet werden mußte, sondern als jene Heilsinstanz, die eine Galgenfrist gewähren und einen Aufschub des jüngsten Gerichts für die weitere Missionierung verschaffen konnte. Damit war der antirömische Affekt der frühen Christen erledigt und die einstige politische Haltung in ihr direktes Gegenteil verkehrt. Auf dem von Eusebios geebneten Weg schritten die späteren Kirchenväter bei aller Ernüchterung fort.361 Die Vier-Reiche-Lehre362 diente als Orientierungsrahmen und wurde schließlich von Hieronymus (ca. 348–420) in seinem Danielkommentar zum allgemeinen Paradigma verfestigt, das die künftigen Reichsspekulationen im christlichen Mittelalter und selbst noch in der Neuzeit inspirieren und lenken sollte.363 Das Imperium Romanum galt als endgültig letztes Reich, das dem Ansturm des Bösen zu trotzen hatte.364 Damit wurde zugleich die Idee der „translatio imperii“ nahe- und grundgelegt, die später die Übertragung der Macht auf die Franken und ihre Nachfolger rechtfertigen sollte und künftigen Päpsten im Heiligen Römischen Reich zur Legitimation ihres Anspruchs auf Entscheidung der Königswahl dienen konnte.365 Wie schon bei Paulus wurde Rom als Kat-echon, als hemmende Instanz, betrachtet, die allein noch das Ende der Zeiten und die Heraufkunft des Antichrist aufzuhalten vermochte366 – eine Auffassung, die in den Reichsspekulationen der „Konservativen Revolution“ ihre späte Wiedererweckung fand367 und einem politischen Romantiker noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Kern und tiefster Sinn des katholischen Glaubens erscheinen368 und als Richtschnur für das eigene politische Denken und Handeln 361 Zur Rezeption durch die Kirchenväter und zur geschichtlichen Wirkung der Eusebschen Gedanken vgl. E. Peterson, Der Monotheismus, S. 93 ff. 362 Vgl. dazu K. Koch, Das Buch Daniel, bes. S. 182 ff. 363 Vgl. K. Koch, Europa, Rom und der Kaiser; G. Lübbe-Wolff, Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des Römisch-Deutschen Reichs. 364 Vgl. R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 612; P. Moraw, Art. Reich, S. 429. Zu Hieronymus siehe auch Altaner/Stuiber, 394–404; Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, 109–150. 365 Zur Entwicklung der Translationsidee und ihrer Verknüpfung mit der Vier-Reiche-Lehre, die beide unabhängig voneinander entstanden, vgl. W. Goez, Translatio imperii, bes. S. 4 ff., 366 ff. Ferner P. van den Baar, Die kirchliche Lehre von der Translatio imperii Romani bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. 366 Zur Tradition der Antichrist-Vorstellung vgl. W. Bousset, Der Antichrist. 367 Vgl. dazu R. Faber, Roma aeterna; A. Koenen, Visionen vom ,Reich‘; H. Münkler, Reich, Nation, Europa, S. 11 ff. 368 Vgl. C. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 29 f.: „Ich glaube nicht, daß für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Kat-echon überhaupt möglich ist. Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kai-

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dienen konnte.369 Allerdings sollte sich das damit erhoffte und geschmiedete Band zwischen Religion und Politik noch als problematisch und verhängnisvoll erweisen. Ins Zentrum des christlichen Politikdenkens rückte im Gefolge der Konstantinischen Wende die Frage nach den Chancen der Festigung und Aufdauerstellung der erlangten kirchlichen Macht sowie der möglichen Einflußnahme auf die Gestaltung des sozialen, politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Lebens. Der Schwerpunkt des theologischen Nachdenkens verlagerte sich auf christologische Fragen, der des praktisch-politischen auf die Kooperation von Bischöfen und Kaisertum. Darüber geriet auch der altehrwürdige Gedanke der Nächstenliebe und der gegenseitigen Fürsorge nicht gänzlich in Vergessenheit.370 So betonte Johannes Chrysostomos (ca. 344–407) den christlichen Karitasgedanken und erinnerte die Reichen und Mächtigen an ihre Verantwortung gegenüber den Armen und Schwachen.371 Er legitimierte die weltliche Herrschaft, indem er sie zurückführte auf die menschliche Sünde. „Erst durch sündhafte Leidenschaften und Frevel seien Gesetze nötig geworden, welche die bedrohte Sicherheit und Ordnung schützten“ (S. 609). „Die christlichen Kaiser seiner Zeit erfüllten jedoch in seinen Augen das Ideal der guten Herrscher; denn ihre Gewalt leitete sich vom Willen Gottes ab, der allen Menschen die Freiheit zur Sünde ließ, aber dennoch für die auf ihr Heil hoffenden Menschen sorgte“ (ebd.).372 Auch Ambrosius von Mailand (ca. 334–397) beschwor die schicksalhafte Verbundenheit von Imperium und Sacerdotium. Die imperiale Herrschaft erschien

sertums der germanischen Könige führt“. „Die politischen oder juristischen Konstruktionen . . . sind schon Abfall und Entartung von der Frömmigkeit zum gelebten Mythos“. 369 Vgl. L. Berthold, Wer hält zur Zeit den Satan auf? Zur Selbstglossierung Carl Schmitts. In: Leviathan 21 (1993), 285–299; H. Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Stuttgart, Weimar 1994; B. Rüthers, Retter vor dem Antichrist? Carl Schmitt als politischer Theologe. In: FAZ v. Fr., 28.11.1997, S. 14. 370 Zur christlichen Armenfürsorge vgl. P. Brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike, S. 117 ff. Diese wurde nach Brown geradezu zum Medium des sozialen Aufstiegs der Bischöfe. Da sie – im Unterschied zum herkömmlichen Euergetismus – nicht nur an die Mitglieder der Bürgerschaft, sondern an alle Menschen und damit auch an die Obdachlosen und Fremden adressiert war, transzendierte sie zugleich die traditionelle Ordnung der antiken Bürgerschaft, die damit außer Kraft gesetzt wurde. 371 „Das Bestreben dieses Bischofs war vor allem darauf gerichtet, durch steten Einsatz für Arme und Kranke, Sklaven und Entrechtete Welt und Gesellschaft in christlichem Geist umzugestalten. Unermüdlich ermahnte er die Wohlhabenden, ihr egoistisches Streben nach Reichtum und Macht aufzugeben und sich ihrer Verantwortung für das Heil des Nächsten bewußt zu werden; denn ein christlicher Staat könne so lange nicht entstehen, wie im Innern Gleichheit und Brüderlichkeit nicht lebendig seien“ (R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 608 f.). Seitenzahlen in den beiden nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 372 Zu Johannes Chrysostomos vgl. ferner Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 137 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 201 ff.

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ihm aber nicht als Folge des Sündenfalls (J. Chrysostomos), sondern als „Ergebnis einer naturgesetzlichen sozialen Entwicklung“ (S. 610). Infolge seiner Auseinandersetzungen mit Theodosius und des erstarkenden bischöflichen Selbstbewußtseins brach sich ferner der Gedanke einer Trennung der geistlichen von der weltlichen Macht bei ihm Bahn. Ambrosius wollte „das Göttliche“ und die innerkirchlichen Angelegenheiten dem Zugriff des Kaisers entziehen und in die Hände der Kirchenleiter legen. Der Kaiser, so ließ er den jungen Valentinian wissen, habe „für die Verbreitung des wahren Glaubens das Schwert zu führen, im Konfliktfall aber sich mit einer dienenden Rolle gegenüber Religion und Kirche zu begnügen“ (ebd.). Er habe nicht das Recht, in sie hineinzuregieren, er selbst sei vielmehr moralisch und rechtlich an das Urteil der ekklesia christiana gebunden (S. 611). Damit schuf der Mailänder Bischof die geistige Grundlage für den späteren Kampf um die Freiheit der Kirche im Westen und für die Entwicklung des päpstlichen Machtanspruchs auch gegenüber dem Kaiser und dem Reich.373 Die theologischen Streitigkeiten waren mit der Anerkennung des Christentums durch Konstantin und seine Nachfolger natürlich nicht beendet. Sie dauerten unvermindert fort. Anstatt die neu gewonnenen Machtpositionen zur inneren Befriedung und Einigung zu nutzen, läuteten die Kirchenoberen eine neue Runde im Ringen um die Kirchen- und die Trinitätslehre ein. Eusebios selbst wurde – als Verbündeter des Arius – hineingezogen ins arianische Schisma (318–381), das die Geister für lange Jahrzehnte beschäftigte und die Glaubensbrüder untereinander aufrieb. Die Christen waren sich – wie zumeist – wieder mal nicht einig. Die alten Kontroversen lebten wieder auf, neue kamen hinzu. War Christus nun Gottes Geschöpf oder war er ihm wesensgleich? Diese uralte Frage drängte endlich auf eine Entscheidung. Während Arius und seine Anhänger in der Nachfolge des Origenes den Subordinationsgedanken weiterentwickelten, setzte ihnen Athanasios (ca. 295–373) die Lehre von der Homoousie entgegen. Vater und Sohn galten als wesensgleich. „Der Sohn Gottes könne darum nicht ein Geschöpf des Vaters genannt werden“, lehrte er, „er habe mit ihm die ganze Fülle der Gottheit gemeinsam (1, 16; 3, 6). Die Zeugung sei bei Gott aber nicht einer menschlichen gleich; denn Gott sei als Geist unteilbar. Seine Zeugung sei also zu denken wie das Ausstrahlen des Lichts aus der Sonne und das Hervorgehen des Gedankens aus der Seele; der Sohn sei daher ewig wie der Vater (3, 62. 66 f.).“374 373 Zu Ambrosius vgl. auch Altaner/Stuiber, S. 378 ff.; Campenhausen, Ambrosius von Mailand als Kirchenpolitiker; ders., Lateinische Kirchenväter, S. 77 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 78 ff.; H. J. Diesner, Kirche und Staat im ausgehenden vierten Jahrhundert: Ambrosius von Mailand. In: R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, 415–454 (= ders., Kirche und Staat im spätrömischen Reich, 22–45); Lietzmann, Bd. 3, S. 59 ff.; Bd. 4, S. 47 ff., 59 ff.; F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 53 ff., 64 ff. 374 Altaner/Stuiber, S. 278. Die Verweise beziehen sich auf Athanasios, Orationes contra Arianos (ca. 335 oder 356 ff.). Zum arianischen Streit vgl. auch Lietzmann, Bd. 3, S. 80 ff.; F. G. Maier, Die Verwandlung, S. 56 ff., 104 ff.; Dassmann, Kirchenge-

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Diese Auffassung wurde während der Alleinherrschaft Konstantins des Großen (324–337) zur herrschenden Meinung und zur verbindlichen Glaubensmaxime für die Christen. Der Kaiser und sein Berater Hosius von Cordoba setzten auf dem Konzil von Nicaea (325) das neue Glaubensbekenntnis durch. Der Arianismus wurde verdammt. Es galt als abgemacht, daß Vater und Sohn nicht nur „wesensähnlich“ (homoios) im Sinne des Arius, sondern „wesensgleich“ (homoousios) seien, wie Athanasios postuliert hatte. Damit wurde jene Position für den Kaiser frei, die Arius dem Gottessohn zugedacht hatte: da die Identität zwischen Christus und Gott festgestellt war, konnte Konstantin das Attribut der Gottähnlichkeit (homoios) für seine eigene Person in Anspruch nehmen.375 Er selbst erschien den Theologen als Geschöpf und Ebenbild Gottes, aber zugleich als Untertan, der seinem Schöpfer den ihm gebührenden Gehorsam schuldete. „Konstantin d. Gr. war der erste Kaiser, der als Abbild des christlichen Gottes, als Vertreter Gottes, als Auserwählter Gottes und als Gott ähnlich, aber Gott untertan definiert wurde und der in der Ordnung von Himmel und Erde seinen Rang gleich nach Gott und vor allen Menschen einnahm“ (S. 44). Dieses Kaiserbild wurde zur Grundlage des künftigen byzantinischen Denkens. „Die von den frühesten Experten bewerkstelligte Legitimation der Kaiserherrschaft durch Gottes Willen wurde zum nie mehr angefochtenen Credo der byzantinischen Gesellschaft“ (S. 44 f.). Daran änderten auch die späteren Diadochenkämpfe und Machtverschiebungen und die mit ihnen einhergehenden ideologischen Umschwünge nichts. Die ersten ökumenischen Beschlüsse und kaiserlichen Erlasse führten aber nicht zu Ruhe und Eintracht unter den Christen. Die Argumente der Gegner des Athanasios waren damit ja nicht widerlegt, sie waren nur verboten worden und hatten doch die philosophische Vernunft und ihre Logik auf ihrer Seite. Folglich blieb die arianische Lehre virulent. Vor allem im Ostteil des Reiches fand sie weiterhin ihre Verfechter, die unter den Nachfolgern Konstantins sogar kaiserlichen Beistand erhielten. Während der Regentschaft des Constantius II. (337– 361) verkehrte sich die Lage. Der Arianismus gewann die Oberhand über seinen Rivalen und wurde für die Gesamtkirche verbindlich. Julian Apostata (361–363), der den innerchristlichen Streitereien wenig abzugewinnen vermochte und das Streben der Kirchenoberen nach Macht und Einfluß mit Argwohn betrachtete, unternahm gar den Versuch einer Erneuerung der paganen Religion und bemühte sich, den gewachsenen Einfluß der Christen zurückzudrängen. Dieser Restitutionsversuch blieb allerdings eine kurze und vorübergehende Episode. Der christschichte II/1, S. 71 ff.; H. v. Campenhausen, Die ersten Konflikte zwischen Kirche und Staat und ihre bleibende Bedeutung (1954). In: G. Ruhbach (Hg.), Die Kirche angesichts der konstantinischen Wende, 14–21. Zu Athanasios vgl. ders., Griechische Kirchenväter, S. 72 ff. 375 Vgl. M. T. Fögen, Das politische Denken der Byzantiner, S. 43 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben verweisen auf diesen Text.

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liche Drang an die Macht war nicht aufzuhalten. Er hatte bereits unter Konstantins Sohn Constantius II. zu gewaltsamen Ausschreitungen, zur Heidenverfolgung und zur Zerstörung ihrer Tempel geführt. Während im lateinischen Westen in der Zeit Valentinians I. (367–375) die Homoousios-Lehre nach den Vorgaben des ersten ökumenischen Konzils zur kaum noch angefochtenen Grundlage des Glaubensbekenntnisses wurde, machte sich Valens (364–378) im Osten erneut die Position des Arianismus zu eigen, so daß alsbald ein arianischer Osten dem athanasischen Westen gegenüberstand.376 Die Spaltung wurde schließlich per Dekret von Theodosius I. beendet, der im Edikt von Thessalonike (380) den Arianismus im Osten verbot, so daß der Athanasianismus zur Reichsreligion wurde. In der Zwischenzeit wurden neue Fragen akut, neue Kontroversen vom Zaun gebrochen. Während im Osten vornehmlich um die Trinitätslehre und die Christologie gestritten wurde (Arianismus, Nestorianismus, Monophysitismus), ging es im Westen vor allem um die Kirchen- und Gnadenlehre (Donatismus, Pelagianismus). Strittig blieb besonders das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Die Versuche Konstantins und seiner Nachfolger, die Entwicklung der Kirche zu bestimmen und massiven Einfluß auf ihre Organisation und die Glaubenskämpfe auszuüben, stießen immer wieder auf Protest und Widerstand. So im Streit zwischen Caecilianern und Donatisten, der sich an der Gnadenlehre und an der Begünstigung des Caecilianus durch den Kaiser entzündete und zur Abspaltung einer Sonderkirche in Nordafrika führte.377 Es ging dabei um die Gültigkeit der von einem Abtrünnigen (lapsus, traditor) gespendeten Sakramente und um die Rückgabe des während der diocletianischen Verfolgungen konfiszierten Kirchenvermögens, insbesondere von Grundstücken und Gebäuden. Zahlreiche Bischöfe hatten dem karthagischen Bischof Caecilianus die Gefolgschaft verweigert und seine Weihe für ungültig erklärt, da er von Bischof Felix von Aptungi geweiht worden war, einem Traditor, der sich in der Verfolgungszeit als Feigling und Verräter erwiesen hatte. Die Numidier weihten an seiner Stelle Majorinus zum Bischof von Karthago, dessen Nachfolger Donatus wurde (313 n. Chr.). Als nun das erbeutete Eigentum zurückerstattet und Wiedergutmachung von den kaiserlichen Behörden geleistet werden sollte, standen sich zwei Fraktionen gegenüber, die sich beide als rechtmäßige Empfänger der Zuwendungen erklärten. Die Donatisten forderten von Konstantin ein Schiedsgericht gallischer Bischöfe, das dieser zwar einberief, aber so zusammensetzte, daß eine Entscheidung zugunsten der Caecilianer getroffen wurde. Ihre Rivalen wurden alsbald 376 Vgl. dazu auch W. Enßlin, Die Religionspolitik des Kaisers Theodosius des Großen, bes. S. 90 ff.; ders., Staat und Kirche von Konstantin dem Großen bis Theodosius dem Großen. 377 Zum Donatismus und zum sog. Donatistenstreit vgl. W. H. C. Frend, The Donatist Church; H. Lietzmann, Die Anfänge des Problems Kirche und Staat, S. 2–6; ders., Geschichte. Bd. 3, S. 68 ff.; H. v. Soden, Urkunden zur Entstehungsgeschichte des Donatismus; Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 29 ff.; J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 14 ff.

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durch eine nach Arles einberufene Synode (314 n. Chr.) formell verurteilt, wodurch jedoch der Streit nicht beigelegt, sondern die Spaltung besiegelt war, die erst 411 n. Chr. durch Augustinus (354–430) gewaltsam beendet wurde.378 Dieser rief die kaiserliche Macht zu Hilfe und trug sich durch seine unglückliche Rolle bei der Donatistenverfolgung den Ruf ein, er sei „Urbild eines mittelalterlichen Ketzerverfolgers“ und zu einem „bluttriefenden Henker“ geworden, der späteren Jahrhunderten den ideologischen Unterbau zur Legitimation ihrer Morde geliefert habe.379 Augustinus hatte 386 in Mailand sein Bekehrungserlebnis gehabt und war unter dem Einfluß von Ambrosius vom Manichäismus zum Katholizismus übergewechselt.380 Im Streit mit den Donatisten entwickelte er 397 seine berühmtberüchtigte Gnadenlehre, die er in seiner Auseinandersetzung mit Pelagius seit 412 noch schärfer konturierte. Ihr zufolge hat das menschliche Wollen und Handeln keinerlei Einfluß auf die Gnadenwahl und das künftige Schicksal der Seele, vielmehr wähle Gott nach eigenem Ermessen und Gutdünken zur Errettung oder Verdammung aus, wen er wolle.381 Konnte der einzelne Mensch nach Ansicht der Donatisten durch sittlich korrektes und gottgefälliges Leben Einfluß auf sein Seelenheil nehmen, so bestritt der Bischof von Hippo diese Möglichkeit.382 Selbst neugeborene, noch ungetaufte Kinder, die Pelagius alsbald aus der allgemeinen adamitischen Schuldverstrickung ausklammern wollte, waren in seinen Augen grundsätzlich sündhaft und schuldbeladen.383 Der Mensch erschien als von Natur aus verdorben und böse, jegliche Willensfreiheit wurde negiert. Damit war die Grundlage des menschlichen Selbstverständnisses der Antike zerstört und der 378 Zur Rolle Augustins in diesem Streit vgl. Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, S. 185 ff.; H. Cancik, Augustin als constantinischer Theologe, S. 141 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 124 ff.; K. Flasch, Augustin, S. 158 ff. 379 Vgl. K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 3, S. 92; W. Nigg, Das Buch der Ketzer. Zürich 1949, S. 122; K. Deschner, Abermals krähte der Hahn. Stuttgart 19683, S. 477 (alle zitiert nach Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 124). 380 Vgl. dazu P. Brown, Augustinus von Hippo; Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, S. 156 ff. (Hinweise auf ältere Literatur zur Bekehrung Augustins ebd., S. 221); K. Flasch, Augustin, S. 41 ff.; F. G. Maier, Augustin und das antike Rom, S. 21 ff.; H. Maier, Augustin, S. 89 f.; A. Schindler, Augustin/Augustinismus (mit ausführlicher Bibliographie). 381 Vgl. Logik des Schreckens; K. Flasch, Augustin, S. 172 ff.; ders., Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 36 ff.; ders. (Hg.), Mittelalter, S. 66 ff.; J. Kreuzer, Augustinus, S. 42 ff.; Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, S. 203 ff. Weitere Literatur zur Gnadenlehre von 397 und zur Theorieentwicklung Augustins verzeichnet Flasch im Anhang zu Logik des Schreckens, S. 299 ff. 382 Daß die augustinsche Ur- und Erbsündenlehre sich bereits 388 in seinem Traktat „Über den freien Willen“ vorbereitete und aus der Abwehr der Gnosis resultierte, betont H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 221: „Es war der dualistische Grundmythos vom Demiurgen und seinen Folgen für die Verderbnis der Welt, dessen Abwehr die Konzeption einer Ursünde des Menschen erzwang . . . Das Erbsündendogma war die ,Umbesetzung‘ der Funktionsstelle des Demiurgen, des Gegenprinzips zum fremden oder guten Gott.“

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Weg ins Mittelalter gebahnt. „Augustin entwickelte eine neue Gesamtsicht des Menschen, seiner Moral und seiner Geschichte: Alle Kinder Adams sind beladen mit Schuld, nicht also nur mit den Folgen einer Schuld. Alle Menschen haben die ewige Hinrichtung verdient“ (S. 11). „All das, was man in der spätantiken Welt als richtiges Handeln oder als gutes Leben ansah, hatte seit 397 für das endgültige, das jenseitige Schicksal des Menschen keine Bedeutung mehr“ (S. 25; cf. S. 46). Diese Auffassung spiegelte den Niedergang der antiken Kultur und die mentale Lage der Menschen in der Spätantike wider. Sie wurde aufgrund des gewaltigen Einflusses von Augustinus in der Folge zur herrschenden Lehre und bestimmte das Denken der Katholiken im Mittelalter.384 Sie fand ihre Konsequenzen und ihren traurigen Höhepunkt in den blutigen Exzessen gegen Andersgläubige und in der Verbrennung angeblicher Häretiker. „So wurde Augustinus zum Klassiker der religiösen Intoleranz“ (S. 14). Die weiteren theologischen Hauptkonflikte des spätantiken Christentums wurden auf den von den Kaisern einberufenen ökumenischen Konzilen ausgefochten:385 War in Nicaea (325) durch Konstantins Machtspruch die Gottheit Christi festgelegt worden, so wurde in Konstantinopel (381) unter der Leitung von Theodosius die Gottheit des Heiligen Geistes beschlossen. In Ephesos (431) ging es unter Theodosius II. um den Rang Marias. War sie Gottesmutter oder bloße Christusmutter? Nestorius von Konstantinopel hatte die Auffassung vertreten, sie sei beides zugleich, da Gott- und Menschheit Christi nebeneinander existierten, verbunden durch die willentliche Liebe. Diese These wurde in Ephesos verhandelt und schließlich von der Mehrheit zurückgewiesen. Obgleich die Wesensidentität von Vater und Sohn längst amtlich festgestellt war, galt nun als abgemacht, daß Maria nur Christus-(christotokos), nicht aber Gottesmutter (theotokos) sei. Die antiochenische Lehre wurde als Häresie verurteilt, ihr Wortführer Nestorius 436 verbannt. Aber die syrischen Bischöfe gaben ihren Kampf gegen die alexandrinische Lehre nicht auf. Die nestorianischen Argumente waren damit ja nicht erledigt, die ihnen zugrundeliegenden Ideen blieben in den Köpfen lebendig. In der Folgezeit mußte zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur Christi wieder akut werden. Da Maria laut Konzilsbeschluß nur Christus, nicht aber Gott geboren hatte, war die Wesensidentität beider wieder in Frage gestellt. Weitere Auseinandersetzungen und neue Kontroversen waren zu gewärtigen. Nach dem Nestorianismus versuchte der Monophysitismus eine Lösung der heiklen christologischen Frage. Er zog die logischen Konsequenzen aus dem vorhergegangenen Beschluß. Euty383 Vgl. zum folgenden die Einleitung und den Kommentar von K. Flasch zu „Logik des Schreckens“. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich darauf. 384 Zur Wirkungsgeschichte Augustins vgl. bes. A. Schindler, Augustin/Augustinismus; G. Leff, Augustinismus im Mittelalter. 385 Zu den ersten vier Konzilien vgl. H. Dallmayr, Die großen vier Konzilien.

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ches, der alexandrinische Archimandrit (Gesandter des Patriarchen), vertrat die These, im Moment der Inkarnation sei aus beiden Naturen Christi eine göttliche Natur (monon physis) geworden, das Fleisch des Logos sei daher dem menschlichen nicht wesensgleich.386 Diese Lehre wurde auf dem vierten ökumenischen Konzil in Chalkedon (451) zusammen mit dem Nestorianismus verdammt. Die menschliche und göttliche Natur in Christus mußte in der Folge als „unvermischt und ungewandelt“ betrachtet werden. Ergebnis dieser orthodoxen Festlegungen war aber keine Versöhnung, sondern die Spaltung der Gesamtkirche in rivalisierende Volkskirchen. In Syrien, Ägypten und Armenien entstanden monophysitische Kirchen, die noch heute existieren. Die ostsyrische Kirche wurde 486 n. Chr. offiziell nestorianisch. Für unsere Fragestellung sind die Einzelheiten all dieser und weiterer Kontroversen387 und der durch sie provozierten Entscheidungen nicht relevant. Interessant ist die große Linie, die zur Etablierung der Kirche als politischer Entscheidungsinstanz und zur weiteren Konkretisierung der christlichen Reichsidee führte. Wichtig ist die durch die christologischen und kirchenrechtlichen Fragen bewirkte Politisierung des spätantiken Christentum und die Herausbildung neuartiger Formen der Verflechtung von Religion und Politik. Neue Muster des geregelten Streits, der öffentlich-diskursiven Willensbildung und Konfliktregelung entstanden, die von Ferne an die alten Erfahrungen und Einrichtungen im klassischen Griechenland erinnern. Die Gegenstände und Anlässe der Auseinandersetzungen waren nicht ganz so profan wie bei den Griechen, sie waren eher spiritualistisch und esoterisch, aber die Intensität der Debatten ließ kaum zu wünschen übrig. Die Gläubigen lernten sich zu behaupten und gegen ihre Opponenten zur Wehr zu setzen. Die endlosen Kontroversen und Schismen haben zwar zahlreiche menschliche Opfer gefordert, haben aber dem Christentum insgesamt nicht geschadet, sondern vielmehr seinen Aufstieg befördert. Wie Peter Brown bemerkt, haben die häufigen Spaltungen der Christenheit im 4. Jahrhundert paradoxerweise mehr zur Selbstbehauptung der Kirche in der städtischen Gesellschaft beigetragen als die kaiserliche Gunst oder das kaiserliche Einverständnis mit einzelnen gewalttätigen Vorgehensweisen gegen Heiden, Häretiker und Juden:388 „In spätrömischen Städten herrschte massive Unterbeschäftigung. Die vielen Phasen des Arianischen Streites im Osten und des Donatistischen Schismas in Nordafrika gaben den Einwohnern dieser Städte Gelegenheit zu endlosen Diskussionen und Streitereien [. . .] Christliche Streitigkeiten mobilisierten einzelne Glaubensgemein-

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Vgl. F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 152 ff. Auf dem von Justinian nach Konstantinopel einberufenen fünften ökumenischen Konzil (553) ging es um den „Drei-Kapitel-Streit“. Wieder in Konstantinopel (680/81) wurde der Monotheletismus verdammt, der in Christus zwei Naturen, aber nur einen göttlichen Willen wirken sah. Schließlich traf man sich wieder in Nicaea (787), um den Bilderstreit zu beenden. 388 P. Brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike, S. 118. 387

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schaften in den Städten und führten zu größeren Unruhen und zu häufigen Prozessionen und Gegenprozessionen. Im gesamten Imperium bewirkte das christliche Parteiwesen ein merkliches Anwachsen der gewalttätigen Atmosphäre [. . .] Rivalisierende Kirchen warben um die Gunst der Bevölkerung, indem sie die Sozialleistungen ihrer Gegner kopierten. So wurde die Kontrolle der Bischöfe über das Almosenwesen zu einer heiß umstrittenen Angelegenheit . . .“

Resultat der Debatten und Kämpfe des 4. Jahrhunderts war die dogmatische Fixierung der Lehre, die rechtliche Normierung des Ethos und die liturgische Uniformierung des Gottesdienstes.389 Die Kirche hat jedoch zu keiner Zeit versucht, die sozialen und politischen Verhältnisse in Frage zu stellen und ihren Einfluß für Reformen oder gar revolutionäre Umgestaltungen zu nutzen. Darin liegt – bei allen Differenzen – eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen West und Ost: „Nahezu alle Richtungen im spätrömischen und byzantinischen Christentum haben die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung hingenommen und grundsätzlich akzeptiert . . . Nach Konstantin hat die Kirche aus theologischen wie aus pragmatischen Motiven die Bewahrung des Bestehenden unterstützt . . . Kritik und Wirken der Christen beschränkten sich auf Beseitigung von Mißständen oder Verbesserung einzelner Elemente; eine durchgreifende Reform von Staat und Gesellschaft wurde nicht angestrebt“.390 Trotz oder wegen des innerkirchlichen Streites festigte sich im Innern zugleich die Macht der Bischöfe, die sich immer neue Privilegien erkämpften. Zwar gab es auch künftig Wellen des Protests gegen die organisatorisch-institutionelle Verfestigung der Ekklesia zu einer von beamteten Klerikern nach rechtlichen Normen geleiteten Anstalt,391 doch war die entstehende Bürokratie zu mächtig, als daß die Basis hätte Einfluß nehmen und den Zug der Zeit aufhalten oder umlenken können. Umstritten blieb indes das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt sowie der Primat des römischen Bischofs. Schon Athanasios, der die Entscheidung Konstantins und des Konzils von Nicaea natürlich begrüßte, wehrte sich gegen die kaiserlichen Einflußnahmen auf die Belange der Kirche. Er nahm in seiner Kirchenprovinz die Einsetzung und Ordination der Bischöfe in die eigene Hand. Zwar entwickelte er insgesamt eine affirmative Haltung zum Kaisertum, doch sollten die religiösen Angelegenheiten von der Kirche selbst und von den Vorstehern in Rom und Alexandria geregelt werden.392 „Mische dich nicht in die kirchlichen Angelegenheiten und gib uns dafür keine Befehle“, ermahnte er den Kaiser,393 „lerne darüber lieber von uns! 389

Vgl. Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 145. F. G. Maier, Einleitung: Byzanz als historisches Problem, S. 33. 391 Zu den an die Bischöfe vergebenen Privilegien und zur Entstehung des Klerikerstandes vgl. auch Troeltsch, Die Soziallehren I, S. 139 ff. 392 Vgl. K. F. Hagel, Die Lehre des Athanasios, S. 262 ff. 393 Historia Arianorum cap. 44. Patrologiae cursus completus, serie graeca, ed. J. P. Migne. Paris 1857 ff. 25, 745 D. Zitiert nach M. T. Fögen, Das politische Denken 390

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Dir hat Gott die Kaiserherrschaft übertragen, uns die Kirche anvertraut“. Der folgende Konflikt war damit programmiert. Arius wurde im Zuge der konstantinischen Friedenspolitik rehabilitiert, Athanasios 335 aus Alexandria verbannt, wohin er erst nach Konstantins Tod (337) zurückkehren durfte, um in der Folgezeit pausenlos gegen Constantius, diesen „Patron der Gottlosigkeit und Kaiser der Ketzerei“,394 zu opponieren. Als nach Konstantins Tod die Epigonen an seine Stelle traten, verstanden es die Bischöfe, die imperiale Macht zu ihren Gunsten zu beeinflussen und zu instrumentalisieren. Sie hatten Blut geleckt und begnügten sich nicht mehr mit Gunstbezeugungen und mit der Abwehr kaiserlicher Interventionen. Die Kirchenrepräsentanten hatten gelernt, herrschaftliche Gewalt für ihre eigenen Belange und zur Unterdrückung ihrer außer- und innerkirchlichen Gegner einzusetzen. Schon unter Constantius wurden in der griechischen Kirche des Ostens „die theologischen Gegensätze in der Form politischer Parteikämpfe ausgetragen“.395 Dies sollte sich auch in der Folgezeit nicht ändern. Dennoch blieb das Verhältnis der beiden Gewalten prekär. Sollte der Kaiser neben den weltlichen Dingen auch die geistlichen wenigstens mitgestalten? Oder sollte er sich jeglicher Einflußnahme enthalten? Oder sollten gar die Bischöfe in die weltliche Politik eingreifen und die Geschicke des Reiches mitbestimmen oder selber lenken? Oder ließ sich eine Arbeitsteilung zwischen beiden Machtkreisen institutionalisieren? Dies waren die Fragen, die das christliche Politikdenken in der nächsten Zukunft beherrschten. Klar war, daß sich die Lage gegenüber den zurückliegenden Jahrhunderten radikal verändert hatte. Die durch die eschatologische Naherwartung des Gottesreiches bewirkte Indifferenz der frühen Jesusbewegung gegenüber den weltlichen Herrschern bzw. dem Römischen Reich war endgültig passé. Der Haß der frühen Kirchenväter, die unter den Verfolgungen zu leiden hatten, war einer offenen Sympathie gewichen. Gleichgültigkeit und resignierte Abwendung waren unmöglich geworden, die Religion war unweigerlich in die politischen Belange verstrickt. Unter dem Einfluß des Ambrosius hatte bereits Gratian 376 im praeceptum Gratiani verfügt, daß Kleriker nur bei Straftatbeständen von weltlichen Gerichten abgeurteilt werden sollten, während in Glaubensfragen Synoden zuständig

der Byzantiner, S. 59. Vgl. auch die dort (S. 60) zitierten weiteren byzantinischen Stimmen, die sich für die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt stark machten. 394 Historia Arianorum 45,4. Zitiert nach Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 79. Nach Campenhausen hat Athanasios die „Kirchenfreiheit“ gesichert und „die Kirche aus den Verwicklungen der kultürlichen Fortschrittsidee und aus den Verstrickungen der politischen Gewalt gelöst. Bei ihm ist sie wieder zur Heilsanstalt, d. h. zur Kirche im strengen Sinne geworden, und die Christuspredigt erscheint als ihr eigentlicher und entscheidender Inhalt“ (S. 82). Zu den weiteren Konflikten um Athanasios vgl. auch I. König, Der römische Staat II, S. 232, 242 ff. 395 Lietzmann, Die Anfänge des Problems Kirche und Staat, S. 12.

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seien.396 Da sich aber Synodalbeschlüsse schwerlich ohne den Beistand der weltlichen Gewalt vollstrecken ließen, mußte schon der damalige Bischof von Rom, Damasus I. (366–384), im Auftrag einer Synode den Kaiser um Hilfe bei der Durchsetzung der päpstlichen Jurisdiktion bitten (S. 273 f.). Während Damasus und sein Nachfolger Siricius (384–399) gegen andere Bischöfe mit einem bis dahin ungewohnten autoritären Ton auftraten und den Anspruch erhoben, Inhaber der cathedra Romana zu sein und als Nachfolger Petri zu gelten,397 blieben sie gegenüber dem Kaiser in der Rolle von Bittstellern. Sie verstanden es aber, die weltliche Gewalt durch ihre Bittgesuche für ihre eigenen Interessen zu mobilisieren. Christliche Religion und Politik blieben demnach in enger Verflechtung und ungeschieden. Die anderen Religionen wurden hingegen zurückgedrängt. 379 legte Gratian den Titel des pontifex maximus nieder (S. 274). Er „entzog den stadtrömischen Kulten alle Unterstützung und hob die Immunität für die heidnischen Priesterschaften (auch für die Vestalinnen) auf“ (S. 275). Theodosius seinerseits erließ 380 das Edikt Cunctos populos, in dem das Christentum zur alleinigen Reichsreligion erklärt, die nicaeische Trinität allgemein verbindlich und die rechte Glaubensform als katholisch, alle anderen dagegen als häretisch definiert wurden. Ferner setzte es die Autoritäten fest, indem es zuerst den Bischof von Rom (Damasus) und dann den Patriarchen von Alexandria (Petrus) nannte (S. 274). Der Kaiser selbst band sich an den Glauben, der durch die beiden Kirchenoberhäupter garantiert werden sollte. Als Ambrosius aber 381 auf einem westlichen Konzil in Aquileia die freie Besetzung der Bischofsstühle forderte, wies Theodosius dies als Affront zurück (S. 275). Er selbst fungierte folglich zwar nicht mehr als Herr des Glaubens,398 doch behielt er sich die Letztentscheidung über die Investitur der Stellvertreter Gottes vor. Der religiöse Pluralismus fiel seit dem späten vierten Jahrhundert der christlichen Intoleranz zum Opfer. Juden und Heiden wurden unterdrückt. Der Neuplatonismus als theoretischer Hauptrivale nach der Konstantinischen Wende wurde besiegt.399 Sein Versuch, hinter den erfahrbaren Dingen den Ideenhimmel zu entdecken, war gescheitert. Als letzter bedeutender Repräsentant der heidnischen Opposition stemmte sich Symmachus (ca. 340–402) im Kampf um den Altar der 396 Zum folgenden vgl. König, Der römische Staat II, S. 273 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 397 Vgl. G. Denzler, Das Papsttum, S. 18 ff.: „An die Stelle von Rat und Bitte traten jetzt häufig Weisung und Befehl. Und die Bezeichnung sedes apostolica, früher auf alle apostolischen Kirchengründungen ausgedehnt, blieb immer mehr dem römischen Bischofsstuhl reserviert und gewann zudem eine betont rechtliche Bedeutung“ (S. 19). „Weil Damasus und Siricius auf Respektierung ihrer Autorität über die römische Kirchenprovinz hinaus drangen, ja ihre lehrmäßige Kompetenz auch in den Kirchen des Ostens geltend machten und durchzusetzen suchten, kann man sie mit Recht als die ersten ,Päpste‘ bezeichnen“ (S. 20). 398 Vgl. Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 161. 399 Vgl. Ehrhardt, Politische Metaphysik. Bd. 3: Civitas Dei, 1–25 („Die Besiegten“).

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Victoria in der Senatskurie (382–84) vergeblich gegen den dominierenden christlichen Klerus. Der unter Julian Apostata wiedererrichtete Altar wurde auf Drängen des Ambrosius entfernt.400 391 n. Chr. wurden die heidnischen Religionen offiziell verboten. Die letzte Schlacht zwischen Christen und Paganen fand schließlich 394 an der Wippach statt. Die Truppen Jupiters und Herkules’ wurden von den durch Theodosius befehligten Heerscharen Christi vernichtend geschlagen, wodurch das Heidentum politisch ausgeschaltet war. Das christliche Reich schien damit endgültig Wirklichkeit geworden. Imperium und Sacerdotium befanden sich – allen inneren Reibungen zum Trotz – im Einklang. Der christliche Glaube bestimmte die weltliche Politik, der Kaiser garantierte die Sicherheit der Kirche, forcierte ihre Missionstätigkeit und überwachte zugleich die Reinheit der Lehre. Beide Sphären, Religion und Reichsverwaltung, wurden synchronisiert. Die Differenz zwischen beiden Herrschaftssphären wurde eingeebnet. Es wurde überflüssig, zwischen zwei Politikfeldern und -begriffen zu unterscheiden. Kaiser und Bischöfe, weltliche und geistliche Gewalt vollstreckten mit- und gegeneinander den Willen des dreieinigen Gottes. Dies änderte sich auch nach der Reichsteilung zunächst nicht, als die beiden Söhne des Theodosius, die nach dem Willen ihres Vaters die Regierungsgeschäfte gemeinsam führen sollten, gegeneinander zu agieren begannen, so daß Ost und West künftig getrennte Wege gingen. Während Arcadius (395–408) den Osten übernahm, wurde Honorius (395–423) zum Herrscher im Westen. Die Ruhe dauerte jedoch nicht allzu lange. Das Römische Reich geriet in den Strudel der Völkerwanderung und sah sich durch den Einfall germanischer Stämme alsbald in seiner Substanz bedroht. Das Bündnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt schien aber vorerst zu halten und dem Ansturm des Antichrist trotzen zu können. Die anfänglichen Siege der heiligen Truppen konnten die Einheit von Sacerdotium und Imperium festigen und legitimieren, hatte doch der dreieinige Christengott höchstpersönlich sein Reich beschützt. Vor allem die Hauptstadt des westlichen Reichsteils schien ihrem Ruf als eherne Trutzburg (Roma aeterna) gerecht zu werden. Kein Wunder, daß die Kirche arg in Bedrängnis geriet, als 410 die Westgoten unter Alarich die scheinbar uneinnehmbare Festung Rom eroberten und die geheiligten Bezirke des Reiches plünderten.401 Als man noch den alten Göttern gehuldigt hatte, war so ein Vorfall nicht eingetreten. Seitdem Augustus die Streitigkeiten zwischen den einzelnen Regionen stillgestellt hatte, war die Metropole relativ sicher gewesen, war Rom zum Mittelpunkt der Welt avanciert, war keine 400 Vgl. dazu H. Berkhof, Kirche und Kaiser, S. 147 ff.; Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 111 ff.; R. Klein, Symmachus; Lietzmann, Geschichte. Bd. 4, S. 67 ff.; J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 115 ff.; R. Rilinger, Das politische Denken der Römer, S. 574 ff.; E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 126 ff. 401 Vgl. dazu F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. I. Buch, 4. Kap. (Bd. I, 1, S. 70 ff.).

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Macht im Himmel und auf Erden denkbar, die diesen Weltkreis noch bedrohen konnte. Und nun war das Christentum kaum 20 Jahre Reichsreligion, schon lag die feste Burg in Scherben. Mußte man da nicht an die Rache der aus dem Pantheon verdrängten Götter glauben und die Schuld bei den Christen vermuten? Und die Christen selbst, mußten sie nicht an der Güte und Allmacht ihres einzigen Gottes zweifeln? Wie konnte man ihn rechtfertigen für das große Übel, das über die Welt gekommen war? Diese Fragen wurden zum Ausgangspunkt einer neuen paradigmatischen Konstruktion. Aurelius Augustinus unternahm in De civitate dei (413–427) den großangelegten Versuch, Antworten auf diese Fragen zu begründen, das Christentum gegen die Anklagen von seiten der Heiden zu verteidigen und von jeglicher Schuld reinzuwaschen. Er löste das christliche Denken wieder aus der Verknüpfung mit dem römischen Reichsdenken und erneuerte die alte Trennung zwischen Religion und Politik, die zur Legitimation der Entpolitisierung in beiden Reichen dienen konnte, im Sacerdotium wie im Imperium.402 Gleich im I. Buch wendet sich Augustin „gegen die Lästerungen der Heiden“, die das Christentum für den Fall Roms und die Plünderungen und Vergewaltigungen durch die Invasoren verantwortlich gemacht hatten. Nicht sie, sondern der allgemeine Sittenverfall im Imperium trage die Schuld. Dieser sei von den heidnischen Göttern und ihren Anhängern nicht aufgehalten, sondern im Gegenteil herbeigeführt und forciert worden, wie das II. Buch zu zeigen sucht. Auch äußere Schicksalsschläge seien von den heidnischen Göttern nicht verhindert worden (III). Die Größe Roms sei nicht ihnen zu verdanken (IV), es sei vielmehr der einzige Gott der Christen gewesen, der Rom groß gemacht habe (V). Die anderen Götter hätten sich insgesamt als ohnmächtig erwiesen. Weder die römischen Reichsgötter (VI, VII) noch die Götter und Dämonen der Platoniker (VIII) können nach Augustin ewiges Leben verleihen. Dämonen seien keine geeigneten Mittler (IX). Nur die wahre, auf Liebe und Gerechtigkeit basierte Religion der Christen hätte ein Bollwerk gegen das anrückende Elend bilden können, sie sei aber von ihren Gegnern unterwandert und durch Verstrickung in die weltlichen Angelegenheiten daran gehindert worden. Erforderlich sei daher die Rückbesinnung auf die von Jesus verkündeten und praktizierten Prinzipien und die Distanzierung von den im Reich verankerten Sitten und Gebräuchen. Zwar können die einzelnen gemäß der Gnaden- und Prädestinationslehre Augustins keinen Einfluß nehmen auf ihr Seelenheil, da Gott beim jüngsten Gericht nach freiem Gutdünken auswählt, wen er will, doch könne die richtige Religion bewirken, daß die verbleibende Frist auf Erden weniger demütigend und schändlich ist und das allgemeine Elend abgemildert wird. Dies wird gezeigt in den letzten zwölf Büchern (XI–XXII), die sich mit der Genealogie des Gottesvolkes im Kampf mit seinen Gegnern befassen. 402 De civitate Dei wird nach der Übersetzung von W. Thimme zitiert: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat. 2 Bde. München, Zürich 1977/1978.

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Bei Augustinus – als einstigem Manichäer – teilt sich die Menschheit insgesamt in zwei gegensätzliche Gruppierungen, in das Volk Gottes und seine Feinde, die civitas Dei und die civitas terrena. Es handelt sich dabei nicht um zwei miteinander rivalisierende und sich bekriegende „Staaten“, wie die deutsche Übersetzung mit „Gottes-“ versus „Erdenstaat“ nahelegt. Vielmehr geht es um die Differenz zweier religiöser und ethischer Einheiten, die „nicht nach Menschen und Geistern, sondern nach Willensrichtungen geschieden“ sind.403 Beide Civitates haben ihren Ursprung in der Engelwelt (XI), die Spaltung resultiert aus dem Engelfall (XII) und setzt sich nach der Erschaffung des Menschen fort. Mit dem Abfall des Menschen (XIII) und dem Aufruhr des Fleisches (XIV) ist die Trennung und das Schicksal der irdischen wie der himmlischen Pilgerschaft besiegelt. Aufgrund der unterschiedlichen Stärke des Glaubens und der daraus resultierenden gegensätzlichen ethischen und religiösen Orientierungen spaltet sich die Menschheit unmittelbar nach ihrer Erschaffung in zwei konkurrierende spirituelle Einheiten, in die Bürgerschaft Gottes und die weltliche Bürgerschaft, die Auserwählten und die Verdammten, die seit Anbeginn im Kampf gegeneinander stehen und dabei unterschiedliche Verbindungen miteinander eingehen, bis sie schließlich am Ende der Tage voneinander gesondert werden.404 Diese Geschichte beginnt mit dem Sündenfall Adams und Evas im Paradies (XIII, XIV). Kain eröffnet sodann den Weg der Bösen, Abel bzw. Seth – weil Abel von seinem Bruder erschlagen wurde – die Geschichte der Guten (XV). Das Gottesvolk erlebt sein Knabenalter in der Entwicklung von Noah bis Abraham, sein Jünglingsalter in der Zeit von Abraham bis David (XVI) und tritt schließlich mit Davids Sohn Christus in sein Mannesalter ein. Ihm entgegen stehen die aufeinander folgenden Reiche der Assyrer, der Sykonier und Argiver sowie der Athener und Römer, von denen vor allem das erste und das letzte größte Macht und größten Ruhm erlangten (XVIII). Ziel der Geschichte ist die schließliche Trennung der miteinander vermischten Bürgerschaften und die endgültige „Ruhe der Ordnung“, die jedem das Seine zukommen läßt und den ihm gebührenden Platz zuweist (Bd. 2, S. 552). Am Ende steht das jüngste Gericht (XX), das der im rechten Glauben vereinten Bürgerschaft Gottes ewigen Frieden und ewiges Leben 403 K. Flasch, Augustin, S. 384. Wie Flasch betont, ist civitas bei Augustin die Übersetzung für polis, d. h. für Stadt. „Aber nicht so sehr im lokalen als im rechtlichen Sinn. Civitas ist das Bürgerrecht, auch die Bürgerschaft, die Bürgergemeinde. Civitas bedeutet die Rechtsgemeinschaft. Aufgrund der antiken Verflechtung von Kult und Politik bedeutet es auch die Kultgemeinschaft“ (S. 385). Die Civitas Dei ist folglich kein „Staat“, sondern die Bürgerschaft Gottes. Und die civitas terrena „ist nicht der Staat, sondern die Gemeinschaft derer, die die falschen Götter, also die Dämonen verehren und nach deren Wertsystem leben“ (ebd.). Trotz dieser Einsicht verwendet Flasch durchgängig den Begriff des Staates, um Augustins Konzeption zu verdeutlichen. 404 Vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat, I. Buch, 35. Kap. (Bd. 1, S. 57): „Denn ineinandergeschoben sind die beiden Staaten in dieser Weltzeit und miteinander verwirrt, bis sie beim letzten Gericht getrennt werden“. Vgl. auch XIX. Buch, 17. Kap. (Bd. 2, S. 561).

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(XIX, XXII), ihren Feinden hingegen ewige Verdammnis und Höllenstrafen bescheren wird (XXI). De civitate dei, das politiktheologische Hauptwerk Augustins, enthält demnach keine Philosophie der Politik, sondern eine dualistische Geschichtstheologie. Es beschreibt die Entstehung, den Weg und das Ende zweier großer mystischer Kongregationen, der Gemeinschaft der von Gott Erwählten und jener der Verworfenen. Das große Thema ist die Konfrontation und der Konflikt dieser spirituellen Vereinigungen vom Sündenfall bis zur Eroberung Roms durch die Westgoten und zum noch ausstehenden Endsieg der Guten über die Bösen, der Christen über ihre Gegner. Dieser Kampf wird nicht von den Erdenbürgern mit Waffen entschieden, sondern durch den ewigen Ratschluß Gottes zu seinem glücklichen Ende geführt. Der rechte Glaube und die aus ihm resultierende Ethik ersetzt das politische Engagement. Er tritt an die Stelle der überkommenen Politik. Die Christen müssen sich nicht für die öffentlichen Angelegenheiten interessieren. Die politischen Probleme werden sich durch den richtigen Gottesdienst von selbst lösen. Politische Beteiligung ist nicht erforderlich. Sie dient nicht der menschlichen Selbstvervollkommnung und hat keinerlei Einfluß auf das künftige Seelenheil. Die von Augustin begründete neue „Politik“ ist eine „eschatologische“ und damit keine „Politik“, die von ihm verherrlichte civitas Dei ist „eine Polis ohne Politik“.405 Sie zieht sich zurück aus den alltäglichen Verstrickungen und kehrt den irdischen Angelegenheiten den Rücken. Sie wendet sich ab von allen sozialen und politischen Belangen und konzentriert sich auf das bevorstehende Ende aller Dinge, das zwar ersehnt, aber durch menschliches Wollen und Handeln nicht beeinflußt oder beschleunigt werden kann. Nicht das Imperium Romanum, sondern die katholische Kirche ist Telos der Weltgeschichte und wird nach langer Leidenszeit von Gott erlöst und endlich über ihren Widersacher triumphieren. Mit dieser Konstruktion hat Augustin die Reichsidee, die seit Laktanz und Eusebios auch das christliche Politikdenken beherrschte, zerpflückt und letztendlich zerstört. Er hat sie in ihre Elemente zerlegt, die er sodann allesamt dekonstruierte, als Fehlkonstrukte bloßzustellen versuchte. Das Imperium Romanum wird insgesamt als Werk der Gewalt entlarvt und als ursprünglich böse denunziert. Ihm wird die seit Vergil erhoffte ewige Dauer und mit ihr jegliche Heilsbedeutung abgesprochen. Anstatt ein Hort des Friedens und der Gerechtigkeit zu sein, erscheint es als Ausgeburt der Zwietracht und des Schreckens. Da ihm seit jeher die Gerechtigkeit fehlte, die nach Cicero das Wesen einer res publica ausmache, müsse ihm der Anspruch, „Sache des Volkes“ zu sein, grundsätzlich bestritten werden. Es habe zu keiner Zeit den Interessen des Volkes gedient, sondern nur denen seiner Unterdrücker. Die von ihm beherrschten Menschenmassen bildeten 405 Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, S. 312. Dennoch hat Augustin nach Sternberger eine neue „Wurzel“ der Politik begründet. Vgl. insgesamt den IV. Teil: „Augustinus oder die Eschatologik“, ebd., 309–380.

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ihrerseits kein Volk, weil „Volk“ eine Gemeinschaft vieler Menschen bezeichne, die durch Rechtsgleichheit und Interessengemeinschaft verbunden sei, während diese beiden Merkmale dem römischen Imperium gerade fehlten.406 Schon seine schiere Größe hindere das Reich, diesen beiden Ansprüchen gerecht zu werden. Augustin löste folglich die Religion wieder von der Politik des Reiches und brachte beide in einen Gegensatz. Speziell im 6. Buch von De civitate dei, in seiner Auseinandersetzung mit Marcus Terentius Varro,407 dem berühmten römischen Ziviltheologen, bemühte er sich, der politischen oder Ziviltheologie (genus civile) grundsätzlich den Boden zu entziehen, indem er nachzuweisen suchte, daß die „Bürgerschaft Gottes“ auf irdische Reiche nicht angewiesen sei.408 Eine irdische Gewaltinstanz ist nur vonnöten, um die von Natur sündhaften Menschen auf den Pfad der Tugend zurückzuzwingen, den sie aufgrund der ihnen von Gott eingeräumten Willensfreiheit immer wieder verlassen.409 Augustin hat demnach alle wichtigen Grundsätze und Annahmen, aus denen sich das seitherige christliche Reichsdenken aufgebaut hatte, zurückgewiesen:410 Die Kirche wird bei ihm wieder zur Ekklesia, sie erscheint als pneumatische Gemeinde, nicht als hierarchische Institution. „Sie ist wirkliche Repräsentation und Bild der wahren Kirche“ (S. 388), Verkörperung der heiligen civitas Dei.411 Zwar nutzte der Bischof von Hippo in seinem Kampf gegen die Donatisten und gegen Pelagius die Macht des Kaisers ebenso wie die herausgehobene Stellung des römischen Bischofs, den er für seine Sache zu gewinnen suchte, doch blieb er selbst mißtrauisch gegen die irdische Gewalt und ein Anhänger des Episkopalismus in der Tradition Cyprians. Er insistierte auf der Unterscheidung zwischen Kirche und Reich und wollte beide wieder auf Distanz zueinander bringen. Im Innern der Kirche präferierte er das Kollegialitätsprinzip und setzte sich ein für den freien Liebesbund der Bischöfe. Die gemeinen Glieder hatten auch bei ihm nicht das Sagen und keinen Einfluß auf die Ordnung der Gemeinden und den Kultus. Entscheidend war für Augustin aber nicht die äußere Erscheinung und die Organisationsstruktur der Kirche als Sacerdotium, sondern die innere Ver-

406 Augustinus, Vom Gottesstaat, XIX. Buch, 21. Kap. (Bd. 2, S. 566 ff.). Vgl. auch I. Buch, 15. Kap. (Bd. 1, S. 29); II. Buch, 21. Kap. (Bd. 1, S. 90 ff.). 407 Vgl. dazu auch H. Cancik, Augustin als constantinischer Theologe, S. 136 ff.; E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 122 ff. 408 Hobbes (Leviathan, 4. Buch) hat diesen Gedanken dann später umgekehrt, indem er zeigte, daß die neuzeitliche „civitas terrena“, der Staat, auf die von Gott Auserwählten, d. h. auf Päpste, Bischöfe, Priester, Mönche usw., nicht angewiesen ist. 409 Zur Frage der verbleibenden Willensfreiheit im Rahmen der Prädestination und des göttlichen Vorherwissens vgl. Augustins Polemik gegen Cicero: Vom Gottesstaat, V. Buch, 9. Kap. (Bd. 1, S. 234 ff.). 410 Vgl. zum folgenden K. Flasch, Augustin, S. 368 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 411 Ähnlich J. Kreuzer, Augustinus, S. 128: Die civitas dei ist „das ,Seelenleben der Gemeinde‘, kein institutionelles Gebilde“.

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bundenheit der Gemeindemitglieder im rechten Glauben. Dem Imperium Romanum hingegen bestritt er jegliche Relevanz für das Seelenheil. Es ist ausgezeichnet durch Gewalttätigkeit und Unvernunft (S. 392) und hat schon deshalb keinen Anspruch auf Ewigkeit. Eine Vielzahl kleinerer Reiche entspreche im übrigen besser der natürlichen Ordnung und sei eher zur Verwirklichung von Gerechtigkeit geeignet als ein unüberschaubares Riesenreich, das schon aufgrund seiner Ausdehnung keine Einigkeit verbürge und vielfachen Anlaß zu Aufständen und Bürgerkriegen biete.412 Die Partizipation der Christen an der Reichsverwaltung erscheint für sie selbst als völlig überflüssig. Die Politik dient nicht der Beförderung der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit und hat keinen Einfluß auf das Schicksal der Seele. Damit hat Augustin die zentralen Wertetafeln der Antike zerstört (S. 390) und den Weg ins Mittelalter geebnet.413 Allerdings waren die praktisch-politischen Konsequenzen dieser Lehre nicht ohne Weiteres klar. Zwar hat Augustin die eschatologische Hoffnung, die sich seit der Johannes-Apokalypse als Chiliasmus geäußert und seit der Konstantinischen Wende aufs Römische Reich konzentriert hatte, in die Kirche umgeleitet. Eine Rückwendung vom Allgemeinen aufs Besondere, von der Politik aufs Individuum war damit aber nicht zwingend verknüpft.414 Politische Beteiligung diente zwar nicht der eigenen Vervollkommnung, war aber nicht prinzipiell untersagt. Ungeklärt blieb deshalb, wie sich die Christenheit in der Folge im Römerreich und zu seiner Politik verhalten sollte. Eindeutig war zunächst nur der apologetische Charakter von De civitate dei. Das Christentum sollte von den Vorwürfen der Heiden reingewaschen und von der Schuld an den Erschütterungen im Imperium freigesprochen werden. Die antipolitische Stoßrichtung der Argumentation resultierte aus diesem Bestreben. Die Unterscheidung der beiden Civitates ermöglichte jedoch gegensätzliche Entscheidungen. Obgleich damit der Bruch zwischen Religion und Politik, Sacerdotium und Imperium besiegelt schien, blieb in Wirklichkeit alles offen. Man konnte daraus ableiten, daß sich die Christen grundsätzlich aus der weltlichen Politik heraushalten sollten, weil ihr Seelenheil nicht davon abhängig war. Man konnte aber auch folgern, daß sie alles daran setzen mußten, die Macht im Reich zu beeinflussen oder gar zu erobern, um endlich der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und die Poli412 Vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat, IV. Buch, 15. Kap. Dazu Ehrhardt: Politische Metaphysik 3, S. 41. 413 Vgl. dazu Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, bes. S. 44. 414 Diese Folgerung zieht Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 79 f.: Indem Augustinus die eschatologische Energie in das System der Kirche bannte, habe er die Hoffnung auf das tausendjährige Reich endgültig aus der Kirche verdrängt. Sie werde fortan die Sache von Sekten. „An die Stelle der allgemeinen Eschatologie tritt die individuelle Eschatologie. In der Mitte steht jetzt das Schicksal der Seele, und die Endzeit ist verdrängt vom letzten Tag des menschlichen Lebens . . . Die allgemeine Eschatologie, die in sich die Hoffnung auf das Reich trägt, tritt im christlichen Raum von nun an als Häresie auf“ (S. 80).

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tik desselben auszurichten nach dem göttlichen Heilsplan. Augustinus hielt diese Alternative offen. Der Duktus seiner Argumentation ging zwar in Richtung Distanzierung, schloß aber ein Engagement nicht prinzipiell aus. Er selbst war seinerzeit eng verflochten in die Politik. Der Streit mit den Donatisten und mit Pelagius über die Gnadenlehre war noch nicht ausgestanden und abgeschlossen, er strebte gerade seinem Höhepunkt zu. Kurt Flasch beschreibt die damalige Situation des afrikanischen Bischofs wie folgt:415 „Verwaltungsgeschäfte, Richterfunktionen, pastorale Notwendigkeiten und literarische Gefechte um seine Gnadentheologie nahmen ihn voll in Anspruch. Augustin trieb Kirchenpolitik, und er wußte, daß die Macht, die er dafür in Anspruch nahm, Blut an den Händen hatte. Um die Menschen zur Wahrheit zu bringen, scheute er vor Gewalt nicht zurück.“

Hätte Augustin eindeutig den Rückzug aus der Politik postuliert und theologisch zweifelsfrei begründet, hätte er den späteren Päpsten schwerlich als heilige Autorität erscheinen und zur Legitimation ihres Wirkens dienen können. Auch seine Stellung zum Imperium Romanum blieb insgesamt ambivalent. Seit jeher war die Augustin-Forschung gespalten, ob er als radikaler Rom-Kritiker oder aber als „großer Römer“ zu verstehen sei, der römisches Wesen und Christentum vermitteln und synthetisieren wollte.416 Eindeutig war zunächst nur seine Zurückweisung des Kaiserkultes und der Gladiatorenkämpfe, in denen er eine große Gefahr für die Menschheit erblickte. Alle anderen Momente blieben in der Schwebe. Der Bischof von Hippo blieb insgesamt unentschieden. Er rühmte Konstantin und Theodosius als gute Herrscher, die sich angenehm von den unchristlichen und ungerechten Kaisern unterschieden (V, 25. f.). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der weltlichen Macht bildete für ihn die Frage, ob die Regenten ihre Untertanen zu gottlosen und ungerechten Taten zwangen oder ob sie ihnen die Freiheit für den rechten Glauben ließen und ihre Bemühungen um Gerechtigkeit und Frömmigkeit förderten. Alles andere erschien daneben relativ bedeutungslos, denn: „Was liegt viel daran, unter wessen Herrschaft der dem Tode entgegengehende Mensch lebt, wenn ihn nur die Herrscher nicht zu gottlosen und ungerechten Taten zwingen?“417 Die bahnbrechende Leistung Augustins für das politische Denken des Abendlandes dürfte deshalb weniger in der „Entpolitisierung“ und ethischen Engführung des Christentums als vielmehr in der Destruktion der seit Konstantin gewonnenen Sicherheiten und eingelebten Selbstverständlichkeiten und in der damit einhergehenden Neuformulierung der alten Fragen zu sehen sein, die nun415 K. Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 70. Vgl. auch den Brief Augustins an Vincentius (Ep. 93), ebd., 98–106. 416 Vgl. F. G. Maier, Augustin und das antike Rom, S. 13 ff. 417 Augustinus, Vom Gottesstaat, V. Buch, 17. Kap., Bd. 1, S. 256. Vgl. auch Buch XIX, Kap. 15 u. 16, Bd. 2, S. 557 ff.

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mehr neue Antworten verlangten. Sie dürfte ihren Kern darin haben, daß der Bischof von Hippo die drückende materielle und mentale Lage der Menschen in der ausgehenden Spätantike auf den Begriff zu bringen und seine Folgerungen daraus zu ziehen wußte. Schon mit seiner Gnadenlehre von 397 hatte er, wie Kurt Flasch bemerkt, den wunden Punkt getroffen und die Perspektiven für die neue Zeit umschrieben:418 „Augustins Gnadenlehre gab dem Zusammenbruch des antik-politischen Selbstverständnisses eine theoretische Fassung, die mit der damals noch nachvollziehbaren Bedeutung des philosophischen Lebensideals nicht völlig brach. Sie sprach in jenseitsbezogener Form die Erfahrung von Menschen aus, denen die soziale und ökonomische Entwicklung der Spätantike die wirtschaftliche und rechtliche Basis zur Selbstbestimmung genommen hatte. In ähnlich jenseitiger Form hielt sie die Herrschaft und Menschenbezogenheit des Logos fest. Sie beseitigte die zur Illusion gewordenen Überreste des antik-philosophischen Freiheitsbewußtseins. Insofern spiegelte sie den weltgeschichtlichen Übergang von der Antike zum Mittelalter ebenso wie sie ihn betrieb. Daher konnte sie die konzeptuelle Form der tatsächlichen menschlichen Erfahrung der kommenden Jahrhunderte werden. Ihre Schlüsselfunktion begann sie erst zu verlieren, als mit der Neugründung des europäischen Städtelebens im 11. und 12. Jahrhundert eine der antiken Poliskultur vergleichbare Erfahrung individueller Selbständigkeit und eine ihr korrespondierende Objektivierung der Natur erneut möglich wurde“.

Offen blieb, welche Gestalt das politische Engagement der Kirchenführer künftig annehmen sollte, ob sie sich enthalten oder engagieren, welche Energie sie für die Organisation des Reiches und seiner Provinzen und Städte aufbringen würden. Offen blieb auch, welchen Raum ihnen die Kaiser zubilligen würden. Ungeklärt blieb, wie sich das Verhältnis von Imperium und Sacerdotium in der nächsten Zukunft gestalten würde. In der weiteren Geschichte wurden unterschiedliche Varianten durchgespielt, je nachdem, welche Chancen für die Christenheit bestanden, an der weltlichen Politik zu partizipieren und sie zu ihren Gunsten zu modifizieren. Augustin selbst hatte mit seiner Unterscheidung der zwei Civitates den Grund gelegt für die künftigen Bemühungen um eine Synthese: „Die metaphysische Entmächtigung der irdischen Gewalt, die sich in seinem Werk vollzieht, mußte den Versuch, politische und religiöse Herrschaft in einer Theokratie zusammenzuzwingen, geradezu herausfordern“.419 Noch unentschieden war indes, welche Gestalt diese „Theokratie“ annehmen würde.

418 Flasch, Augustin, S. 424. Zu den politischen Konsequenzen der augustinschen Gnadenlehre vgl. ders., Logik des Schreckens. In: Logik des Schreckens, 19–138; bes. S. 113 ff. Zu den jüngeren Kontroversen darüber vgl. ders., Streitfragen. Ebd., 240–297. 419 H. Maier, Augustin, S. 112. Maier übernimmt diese Feststellung von Peterson, Theologische Traktate, S. 217.

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c) Hierokratie, Cäsaropapismus oder Gewaltenteilung? Das Verhältnis von Imperium und Sacerdotium Idealtypisch lassen sich drei extreme Haltungen unterscheiden, zwischen denen die Repräsentanten des Reiches und die einzelnen Bischöfe und Kirchenväter mitsamt ihren Anhängern wählen konnten: möglich wurde einerseits die freiwillige oder erzwungene Unterordnung der Religion unter die weltliche Politik und den Kaiser; denkbar wurde andererseits die bewußte Einflußnahme der Kirchenführer und ihr Versuch, die Geschicke des Reiches entscheidend mitzubestimmen oder gar selbst in die Hand zu nehmen; einen dritten Weg bildete die Gewaltenteilung zwischen weltlichen und geistlichen Oberhäuptern, zwischen Imperium und Sacerdotium. Alle drei Möglichkeiten wurden ausprobiert und ansatzweise durchexerziert. Für alle drei Positionen finden sich zahlreiche geschichtliche Ereignisse und markante Gestalten als Belege. Zunächst wurden die beiden ersten Wege beschritten, ehe sich schließlich im Westen ein relatives Gleichgewicht und eine Arbeitsteilung zwischen beiden Machtkreisen einpendelte. Nach Hendrik Berkhof reflektiert sich in den beiden ersten Varianten der tatsächliche Unterschied zwischen Ost und West, den er mit dem Gegensatzpaar Byzantinismus versus Theokratie zu erfassen suchte. Dabei soll „Byzantinismus“ die willige Hinnahme und Segnung des Bestehenden durch die Kirchenrepräsentanten bedeuten, während „Theokratie“ auf das Gegenteil zielt, auf ihren Eingriff in die Politik bzw. ihren Kampf um die Macht im Reich.420 Während im „Byzantinismus“ die Kirche im Dienst des Reiches steht, hat in der „Theokratie“ das Reich und die Politik dem göttlichen Heilsplan und damit der Kirche zu dienen. Als Beispiele für die „theokratische“ Haltung erörtert Berkhof die Verfechter des Athanasianismus, den Heidenhasser Julius Firmicus Maternus sowie Ambrosius von Mailand in seinem Verhältnis zu Theodosius. Den „Byzantinismus“ hingegen sieht er in Eusebios von Caesarea und in der origenistisch-arianischen Gruppe verkörpert, die Athanasios hatte vernichten wollen.421 Jede arianische und semi-arianische Theologie habe eine wesensmäßige Tendenz zum Byzantinismus, während die athanasische und westliche Theologie in Richtung Theokratie tendiere. Diese Thesen Berkhofs und seine strikte Kontrastierung Ost- und Westroms sind allerdings umstritten, weil sich in der Regel bei den meisten Kirchenvätern tendenziell beide Haltungen finden, je nach gegebenem Anlaß und abhängig von der historischen Situation. So konnte Kurt Aland zeigen, daß sich einerseits viele byzantinische Theologen und selbst Eusebios von Zeit zu Zeit gegen kaiserliche 420

Vgl. H. Berkhof, Kirche und Kaiser. Vgl. auch Berkhof, Die Kirche auf dem Wege zum Byzantinismus. Byzantinismus meint demnach „die unkritische, gehorsame und segnende Haltung, welche im Ostreich, dem von Byzanz oder Konstantinopel, und seither in Osteuropa, das wichtigste Kennzeichen der Haltung der Kirche dem Staat gegenüber geblieben ist“ (S. 23). 421

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Einmischungen in kirchliche Angelegenheiten stemmten, während umgekehrt die Repräsentanten der Westkirche den Kaiser immer wieder um Unterstützung baten und zu Entscheidungen bei innerkirchlichen Konflikten drängten. Aland bezweifelt deshalb die große Kluft zwischen West und Ost und stellt in Frage, daß der Westen prinzipiell „den Bezirk des Kaisers von dem der Kirche sorgfältig scheidet, Übergriffe verurteilt und überhaupt der Staatsgewalt kritisch gegenübersteht, während für den Osten genau das Gegenteil gilt“.422 Zum Beleg erörtert er die Stellungnahmen von Hosius von Cordoba, Lucifer von Cagliari, Hilarius von Poitiers, Eusebios von Caesarea, Donatus dem Großen u. a., aus denen insgesamt eine ambivalente und schwankende Haltung spricht. Wann immer sie den eigenen Absichten und Interessen entgegenkamen, wurden kaiserliche Aktivitäten – in West wie Ost – gerne in Anspruch genommen. Wurden sie aber von ihnen durchkreuzt, so wurden sie zumeist mit Inbrunst zurückgewiesen. Vorherrschend blieb daher ein gewisser Opportunismus und Pragmatismus, der den Theologen jeweils die Gunst der Stunde zu nutzen erlaubte.423 Dennoch bleibt die von Berkhof getroffene Unterscheidung sinnvoll, da sie eine Klassifizierung der unterschiedlichen Haltungen und Stellungen ermöglicht. Versteht man die beiden Extrempositionen als Idealtypen im Sinne Max Webers, so versteht sich von selbst, daß die von ihnen erfaßten Realtypen keine lupenreine Verkörperung darstellen, sondern in der Regel Mischformen bilden. Anstelle des Begriffs „Byzantinismus“ hatte Weber selbst jedoch den Begriff Cäsaropapismus vorgeschlagen,424 der weniger mißverständlich ist und sich besser eignet, die Besonderheit der östlichen Entwicklung und ihren zentralen Unterschied zur westlichen zu markieren. Den Gegensatz zum Cäsaropapismus bildet ferner nicht die Theokratie, sondern die Hierokratie, d. i. die Herrschaft der Priester, die sich über den innerkirchlichen Bereich hinaus auch auf profane Angelegenheiten erstreckt. Wie sich schon in den vorhergehenden Abschnitten über das antike Judentum und die frühe Jesusbewegung zeigte, bleibt der Begriff der Theokratie ambivalent. Er kann im demokratisch-anarchistischen Sinne einer unmittelbaren Gottesherrschaft zur Ablehnung und Zurückweisung jeglicher irdischer Herrschaft dienen, während er im Sinne einer „repräsentativen Theokratie“ zur Legitimation der unterschiedlichsten Herrschaftsformen (Despotie, Oligarchie, Monarchie usw.) eingesetzt werden kann. Diese Differenzierung wird verschliffen, wenn man ihn synchronisiert mit Hierokratie und damit reserviert für ein „Pfaffenregiment“. 422 Vgl. K. Aland, Kaiser und Kirche von Konstantin bis Byzanz, S. 50 ff. (Zitat S. 55). 423 Zur Diskussion über die Unterdrückung der Kirchenfreiheit seit Constantius und den Widerstand gegen die kaiserliche Kirchengewalt vgl. den Literaturbericht von J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 218 f. 424 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 688 ff. Seitenzahlen in den beiden nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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Dem Ausdruck Byzantinismus hingegen haftet gewöhnlich ein pejorativer Beigeschmack an, der durch nichts als westlich-katholische Vorurteile gerechtfertigt ist. Er ist einerseits zu konkretistisch, andererseits aber wieder zu allgemein und unbestimmt, weshalb Weber den Begriff des Cäsaropapismus in Anschlag brachte, um „die völlige Unterordnung der priesterlichen unter die weltliche Gewalt“ zu erfassen, die „historisch in ganz reiner Form streng genommen nicht nachweisbar“ ist (S. 690), die aber in China, Rußland, Persien etc. und eben auch im byzantinischen Reich ansatzweise verwirklicht wurde. Wie überall, so fand auch in Byzanz die weltliche Gewalt eine Schranke an der relativen Selbständigkeit eines „kirchlichen Charisma“ (ebd.). Sie war jedoch in weit höherem Maße als ihr westliches Pendant in der Lage, sich gegen diesen Konkurrenten zu behaupten. Hier ist es den Kirchenrepräsentanten zu keiner Zeit gelungen, die weltliche Gewalt für ihre eigenen Zwecke und Interessen zu instrumentalisieren. Die „Kirchenfreiheit“ blieb stets eingeschränkt. Mag dies für einen Katholiken auch bedauerlich sein und einem Verfechter der Religionsfreiheit bzw. der Hierokratie als verwerflich erscheinen, so ist von einem neutralen Standpunkt aus zu konstatieren, daß dies zur Stabilität des Ostreichs beigetragen hat und somit seiner Selbsterhaltung dienlich war. Während das Westreich 476 zerfiel und sich in eine Vielzahl germanischer Nachfolgereiche auflöste, konnte sich Byzanz bis 1453 halten.425 Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist der unterschiedliche Weg, den beide Reiche in der Gestaltung des Zusammenhangs von Religion und Politik einschlugen. Entscheidend für die hier verfolgte Fragestellung sind jedoch nicht realgeschichtliche Details, sondern die großen Linien der Entwicklung und die sie reflektierenden und inspirierenden Theorien. Was die beiden „reinen“ Typen anbelangt, so läßt sich die Differenz mit Weber dahingehend beschreiben: Während die Hierokratie in der „priesterlichen“ oder „priesteramtlichen“ Okkupation der weltlichen Gewalt kulminiert (S. 689), tendiert der Cäsaropapismus in die entgegengesetzte Richtung. Die weltlichen Herrscher bemühen sich um die Letztentscheidung in religiösen Fragen und schwingen sich zu Vorstehern der Kirche auf. Während das hierokratische Regiment die weltlichen Angelegenheiten als Momente und Bestandteile der Kirchenorganisation betrachtet, behandelt das cäsaropapistische die kirchlichen Angelegenheiten „einfach als Provinzen der politischen Verwaltung“ (S. 691).426

425

Vgl. auch A. Ducellier, Byzanz; J. Haldon, Das byzantinische Reich. Die Eigenschaften und Folgen der beiden konträren Regierungsformen beschreibt Max Weber folgendermaßen: „Wo der Cäsaropapismus in diesem Sinne hemmungslos herrscht, ist eine Stereotypisierung des inneren Gehalts der Religion auf der Stufe der rein technischen ritualistischen Beeinflussung der übersinnlichen Gewalten, [eine] Hemmung jeder Entwicklung zur ,Erlösungsreligion‘, die unvermeidliche Folge. Wo umgekehrt das hierokratische Charisma das stärkere ist oder wird, sucht es die politische Gewalt und Ordnung, wo sie diese sich nicht geradezu selbst zueignete, zu degradieren.“ (WuG, S. 692) 426

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Der Begriff des Cäsaropapismus war zwar lange Zeit umstritten und bei den Experten der byzantinischen und Kirchengeschichte in Verruf geraten,427 wird aber von der jüngeren Forschung wieder aufgegriffen und rehabilitiert, da sich die von Weber benannten typischen Erscheinungen in Byzanz mühelos beobachten lassen: „die Bereitstellung der Zwangsapparate durch den weltlichen Herrscher zugunsten der kirchlichen Interessen, die Sicherung der Legitimität des weltlichen Herrschers durch die Kirche, die Domestikation der Untertanen durch religiöse Mittel. Entscheidend bleibt, daß sich neben der weltlichen Herrschaft kein von dieser unabhängiges, autonom agierendes System herausgebildet hat“.428 Die Byzantiner haben weder die Macht des Kaisers und die des Patriarchen als gleichgewichtig konzipiert noch ist es ihnen gelungen, die Religion dem Zugriff des Imperators zu entziehen. Anders im Westen, wo die Bischöfe sich immer wieder erfolgreich gegen kaiserliche Interventionen wehrten,429 sofern sie nicht in ihrem eigenen Interesse lagen. Hier war die Chance für die Etablierung einer Hierokratie eher gegeben. Sie drängte sich geradezu auf als die kaiserliche Macht erlahmte und zu schwinden begann und dadurch eine Lücke hinterließ, in die die Bischöfe und Päpste schlüpfen konnten, um das entstehende Machtvakuum auszufüllen. Bei aller Vorsicht und unter Beachtung der erforderlichen Differenzierungen läßt sich doch konstatieren, daß Ost und West verschiedene Wege gingen. Nach dem Tode des Theodosius (395 n. Chr.) wurde das Reich endgültig geteilt.430 Der Osten tendierte unter Arcadius (395–408) und seinen Nachfolgern in Richtung Cäsaropapismus, während im Westen seit Honorius (395–423) ein Spannungsverhältnis und ein relatives Gleichgewicht zwischen geistlicher und weltlicher Macht entstand, das im Laufe des 5. Jahrhunderts hierokratische Bestrebungen provozierte, die nach der Absetzung des Romulus Augustus und dem damit besiegelten Ende des Weströmischen Reiches (476)431 von teilweisem Erfolg gekrönt waren. Während in Byzanz folglich die von Eusebios konzipierte Reichs427 Vgl. etwa F. G. Maier, Einleitung. In ders. (Hg.), Byzanz, S. 35, 63. Zur Diskussion ferner W. Enßlin, Staat und Kirche von Konstantin dem Großen bis Theodosius dem Großen (zum Begriff „Cäsaropapismus“ bes. S. 81 f.); W. Schneemelcher, Kirche und Staat im 4. Jahrhundert. 428 Vgl. M. T. Fögen, Das politische Denken der Byzantiner, S. 64 ff.; hier: S. 66. Auch Dassmann (II/1, S. 208 ff.) rekurriert auf den Begriff des Cäsaropapismus. 429 Vgl. auch I. König, Der römische Staat II, S. 280: „Wahrend aber der Osten an das massive Eingreifen des Kaisers seit Constantin, Constantius II. und Valens gewöhnt war, der Patriarch von Constantinopel zum Sprachrohr kaiserlicher Kirchenpolitik wurde, wurde im Westen die Einmischung des Kaisers in Kirchen- oder – noch deutlicher – in Glaubensfragen scharf verurteilt: der Kaiser zählte lediglich inter fideles“. 430 Zur Krise und zum Zerfall des Reiches vgl. A. Heuss, Römische Geschichte, S. 482 ff. 431 Zur Frage nach dem Ende oder der Fortdauer des Römischen Reiches vgl. W. Herwig, Das Reich und die Germanen, S. 271 ff.; F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 141 ff.

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idee weiterleben und das religiös-politische Denken stimulieren konnte, mußte der Westen neue Vorstellungen entwickeln und das Gewicht und das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt neu tarieren. Den Ausgangspunkt für die weitere Begriffsarbeit konnte Augustins Unterscheidung zwischen civitas Dei und civitas terrena bilden, die zunächst einmal eine klare Trennung zwischen beiden Sphären artikuliert hatte, an der die künftige Verhältnisbestimmung ansetzen konnte.432 Da der Cäsaropapismus im Westen zunächst keine Durchsetzungschance hatte, blieb nur die Wahl zwischen Hierokratie und Gewaltenteilung. Der Zug der Zeit ging zwar letzten Endes eher in Richtung der letzteren, da die hierokratischen Bestrebungen der Kirchenrepräsentanten zumeist auf den Widerstand der weltlichen Herrscher stießen, doch hielten jene unbekümmert an der Idee des ungeteilten, unter kirchlicher Obhut stehenden orbis christianus fest. Während sich in der Realität eine Art Arbeitsteilung und ein rudimentäres System der checks and balances etablierte, avancierte der Hierokratie-Gedanke zur Leitidee und zur Basisideologie des Westens. Das Problem wurde besonders akut mit dem Aufstieg und dem Erstarken des Papsttums, das die Lücke auszufüllen suchte, die der Niedergang der kaiserlichen Macht im Westen hinterließ.433 Noch vor dem Ende des westlichen Kaisertums hatte Valentinian III. (424–455) zugunsten Leos I. (440–461) auf seine „reichskirchenrechtliche Vorrangstellung“ verzichtet.434 Seit Leo versuchten die Päpste gar, das Kaisertum auf den Dienst an der Kirche festzulegen. Aufgabe des weltlichen Regenten sollte es sein, Unrecht zu sühnen und auszurotten. Was Unrecht war, sollte aber der Papst entscheiden, der damit einen Suprematieanspruch nicht nur gegenüber den anderen Bischöfen, sondern auch gegenüber den weltlichen Regenten erhob. Die Entwicklung des Selbstbewußtseins der Päpste hing zusammen mit der juristischen Fundierung ihres Machtanspruchs.435 Schon seit dem Ende des 4. Jahrhunderts bemühten sich die römischen Bischöfe, ihre herausgehobene Stellung mit Hilfe des römischen Rechts zu legitimieren. Bereits Hieronymus (ca. 347–420) hatte in seiner Bibel-Übersetzung, der Vulgata, starke Anleihen beim römischen Recht gemacht, um die nomokratischen Begriffe des Alten Testaments in ein den Zeitgenossen verständliches Latein zu übertragen (S. 212). 432 Vgl. E. Bernheim, Politische Begriffe des Mittelalters im Lichte der Anschauungen Augustins. Noch die von Gregor VII. formulierte papale Theorie vom Wesen der päpstlichen Oberherrschaft ist, wie Bernheim betont, „in eigentümlicher Weise aus dem Gedankenkreis Augustins durch Vermittlung Gregors des Großen hervorgegangen“ (S. 72). Zur Wirkung Augustins auf das mittelalterliche Denken vgl. auch K. Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund des mittelalterlichen Weltbildes. 433 Vgl. E. Caspar, Geschichte des Papsttums; J. Haller, Das Papsttum. Bd. 1: Die Grundlagen. Weitere Literatur bei G. Denzler, Das Papsttum, S. 121. 434 Vgl. J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 104, 134. 435 Vgl. W. Ullmann, Grundfragen des mittelalterlichen Papsttums, S. 223. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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Die lateinische Bibel hatte dann den Boden bereitet für die spätere Rezeption und Adaption des römischen Rechts durch die Kirche in der Entwicklung von Innozenz I. (401–417) bis zu Leo dem Großen. Letzterer begründete mit seiner Hilfe expressis verbis den Jurisdiktionsprimat des römischen Bischofs. Der Papst als Rechtsnachfolger Petri gehört ihm zufolge nicht der Kirche an, er steht über ihr und hat die Superiorität inne (S. 221). Seine Entscheidungsbefugnisse, die ihm von Petrus – und damit letztlich von Christus selbst – übertragen waren, sollten sich nicht auf den innerkirchlichen Bereich beschränken, sondern auf alle relevanten Fragen des sozialen Lebens erstrecken. Eine Trennung der Temporalia und Spiritualia war nicht vorgesehen. Sie wurde durch den „mittelalterlichen“ Ganzheitsgrundsatz436 verhindert, der keine Sonderung von Religion, Moral, Politik, Recht usw. erlaubte.437 Das Recht war nicht auf einen abgezirkelten Bereich des gesellschaftlichen Verkehrs zugeschnitten, es erfaßte alle Lebensbereiche und -gebiete (S. 226). Unter Leo I. erreichte das Ringen um den römischen Primat seinen ersten Höhepunkt.438 Durch ihn wurde die Trennung von Amt und Person endgültig vollzogen, die sich schon unter seinen Vorgängern abgezeichnet hatte: „Die Aneignung und Weiterbildung des römischen Rechts führte dazu, daß sich das Papsttum bereits an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert als eine Institution zu verstehen gab, deren Machtausübung auf einer unantastbaren juristischen Grundlage ruhte“ (S. 621). Zwar lehnten die östlichen Patriarchen den römischen Suprematieanspruch ab, wobei vor allem das Oberhaupt von Konstantinopel leidenschaftlichen Widerstand leistete, doch fand er im Westen wachsende Zustimmung: „Der Anspruch, gegenüber anderen Kirchen als Oberherr aufzutreten und diese durch strikte Anordnungen zu führen, ließ sich im Westen, in Italien, Nordafrika, Spanien und schließlich auch gegen Hilarius von Arles . . ., ohne Schwierigkeiten durchführen. Es gelang Leo vor allem deswegen, weil hier der schützende Arm des Kaisertums erlahmte und jeder Rahmen geordneter sozialer Verhältnisse zusammengebrochen war. Angesichts des Einbruchs heidnischer und arianischer Völkerscharen in Italien bildete das Papsttum die einzige wirksame Stütze für die römisch-katholische 436

Vgl. dazu auch Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 3, S. 514 ff. Wie Ullmann (Grundfragen, S. 225) betont, hing diese Entwicklung ab vom gänzlichen Fehlen des Staatsbegriffs, der erst im Gefolge der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts entstand: „Vorher gab es Fürsten, vorher gab es nur Personen, auf die biblische und päpstliche Aussprüche Anwendung finden sollten, aber einen Staat im Sinne einer menschlich geordneten Gesellschaft, als eines Rechtsbegriffs, als eines Naturprodukts, das auf seinen eigenen Füßen stand . . ., das mit einem Wort ein autonomes Gebilde war, das gab es im frühen und hohen Mittelalter ebensowenig wie die Dampfmaschine und die Elektrizität.“ „Eben weil der Staatsbegriff fehlte, waren die päpstlichen Grundsätze zeitgenössisch und sinnvoll“ (ebd.). Vgl. auch T. Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 190 ff. 438 Vgl. zum folgenden R. Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 621 ff. Seitenzahlen in den beiden nachfolgenden Absätzen beziehen sich auf diesen Text. 437

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Bevölkerung, aber auch in den Provinzen galt es als die letzte Klammer, um Religion und Kultur zu bewahren. So war man im westlichen Reichsteil am ehesten bereit, dem Nachfolger des Petrus das geistliche und weltliche Heil anzuvertrauen. Vor allem durch sein furchtloses Auftreten gegen den Hunnenkönig Attila und den Vandalenherrscher Geiserich war Leo in den Augen der notleidenden Bevölkerung zum Schutzherrn Italiens geworden“ (S. 622 f.).

Auf dem von Leo eingeschlagenen Weg schritten die späteren Päpste fort. Der Konflikt mit dem Osten dauerte an, im Westen hingegen festigte sich die päpstliche Macht. Während das Weströmische Reich im späten 5. Jahrhundert zerstückelt wurde und in die Hände germanischer Könige fiel, die ganz andere Ordnungsprinzipien praktizierten,439 bildete die christliche Religion infolge der Missionierung der Germanen die einzige potentielle Klammer und das zentrale identitätsstiftende Element.440 Klar, daß sich die politischen Hoffnungen des Klerus und seiner Gefolgschaft in der Folgezeit auf die katholische Kirche fixierten. Mit dem Zerfall des Westreiches und seiner Auflösung in eine Vielzahl germanischer Königreiche verstummten die alten Reichsspekulationen.441 Die geistige Energie konzentrierte sich auf die von der Kirche als Civitas Dei zu garantierende Einheit und auf das Verhältnis und das Zusammenspiel der beiden Machtkreise oder Gewalten. Erst in den karolingischen Fürstenspiegeln des 9. Jahrhunderts sollten theologisch-politische Konzeptionen wiederaufleben, die im Gefolge

439 Zu den politischen Vorstellungen der Germanen (Stamm, Haus, Sippe, Gefolgschaft, Stammesführung usw.) vgl. A. Schwarcz, Die politische Vorstellungswelt der Germanen. 440 Zur Frage nach dem Zerfall des Westens und seinen Gründen vgl. F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, S. 141 ff. Zum Verhältnis von Kaisertum und germanischen Königen und zum Wandel der Reichsidee infolge der Auflösung des Reiches vgl. J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, S. 104 ff. (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung S. 203 f.; Literatur S. 284 f.); A. Dempf, Sacrum Imperium, S. 133 ff. Zur Etablierung der Kirche in den germanischen Reichen vgl. Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 149 ff. (Literatur S. 147). Zur Wirkung des Christentums auf das germanische Rechtswesen und -verständnis vgl. H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 105 ff. 441 Dies, und nicht die Tatsache, daß sich Trinitätsdogma und monarchische Repräsentation wechselseitig ausschlossen, dürfte verantwortlich dafür sein, daß die Politische Theologie als Theorie der göttlichen Monarchie im Westen vorübergehend zum Erliegen kam. Vgl. hingegen Peterson, Der Monotheismus, bes. S. 73, 102 ff. Peterson hat die These vorgetragen, die Übertragung des säkularen Monarchiebegriffs der heidnischen Tradition auf die Trinität habe zwangsläufig scheitern müssen, eine Politische Theologie sei zwar auf dem Boden des Heiden- und Judentums möglich, nicht aber auf der Basis des trinitarischen Bekenntnisses. Diese These basiert – wie die gesamte Beweisführung – auf einem negativ besetzten Politikbegriff, der die Politische Theologie insgesamt als bloße Legitimationsideologie der monarchischen Herrschaft begreift, andere Formen der Politik aber gar nicht erst in Betracht zieht. Zur Kontroverse zwischen Peterson, Carl Schmitt u. a. um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Politischen Theologie und über die These vom Ende jeglicher Politischer Theologie auf dem Boden der Trinitätslehre vgl. auch A. Schindler (Hg.), Monotheismus als politisches Problem? J. Taubes (Hg.), Der Fürst dieser Welt.

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der translatio imperii ihre Hoffnung auf das neue Reich richten und sich um Christianisierung und Zivilisierung der Regenten bemühen konnten.442 Doch selbst dann noch blieb die Kirche „die universale Ordnung, in die der Herrscher wie die priesterlichen Amtsträger gleichermaßen eingefügt waren“.443 Ein hierokratisches Denken wurde somit durch die politische Lage im Westen gleichsam erzwungen. Alles wurde in die Farbe der Theologie getaucht. Recht und Moral, Wirtschaft und Politik, Macht und Herrschaft wurden als Momente und Instrumente der Vollstreckung des göttlichen Heilsplanes betrachtet. Sie dienten der Friedenssicherung und der Vorbereitung auf das Gottesreich, auf die Wiederkunft Christi und das Ende aller Tage. Weltliche wie geistliche Herrscher galten als bloße Glieder und Amtsträger der einen und ungeteilten Ordnung, in der sie unterschiedliche Funktionen wahrzunehmen hatten. Sie konnten ihr Denken und Handeln in der Folge an der Zweigewaltenlehre orientieren, die durch die faktischen Verhältnisse nahegelegt und alsbald von Papst Gelasius I. (492–496) formuliert wurde. Diese versprach eine praktikable Lösung der Machtfrage und des Herrschaftsproblems, indem sie eine Arbeitsteilung und die wechselseitige Zuordnung und Ergänzung beider Instanzen begründete. In einem berühmt gewordenen Schreiben an Kaiser Anastasios aus dem Jahre 494 behauptete Gelasius die Identität des Identischen und Nicht-Identischen und artikulierte die Grundsätze der Gewaltenteilung, die in Wahrheit auf eine hierokratische Gewaltenverzahnung oder -verschränkung zielten und das künftige christliche Politikdenken im Mittelalter anleiten und beflügeln konnten:444 „Es sind zwei, ehrwürdiger Kaiser, von denen diese Welt prinzipiell regiert wird: die heilige Autorität der Päpste und die königliche Gewalt (auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas). Unter diesen beiden haben die Priester ein um so größeres Gewicht, als sie auch für die Könige unter den Menschen bei der göttlichen Prüfung Rechenschaft ablegen müssen. Denn Du weißt, mildtätiger Sohn, daß Du, obwohl Du aufgrund Deiner Würde dem Menschengeschlecht vorstehst, dennoch den Verwaltern des Göttlichen demütig den Nacken beugst und von ihnen die Urgründe Deines Heils erwartest und daß Du beim Genuß der himmlischen Sakramente Dich der Ordnung der Religion (religionis ordine) eher unterwerfen mußt, als ihr Vorschriften zu machen und daß Du insofern von ihrem Urteil abhängig bist und nicht jene von Dir“. 442

Vgl. H. M. Klinkenberg, Über karolingische Fürstenspiegel. J. Miethke, Politische Theorien im Mittelalter, S. 51. 444 Zitiert nach der Übersetzung von Denzler, Das Papsttum, S. 34. Eine ähnliche Übersetzung bietet J. Miethke, Politische Theorien im Mittelalter, S. 49. Miethke seinerseits verweist auf die Editionen und Übersetzungen von Eduard Schwarz (Hg.), Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung. Neue Folge 10. München 1934, S. 20; Heinrich Denzinger (Hg.), Enchiridium symbolorum. Bearbeitet von Adolf Schönmetzer. Freiburg 196332, Nr. 347; Carl Mirbt (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums. Bearbeitet von Kurt Aland. Tübingen 19676, S. 222 f. (Nr. 462). Eine wiederum leicht modifizierte Übersetzung gibt Dassmann (II/1, S. 187 f.), der diese übernimmt von H. Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, S. 257 ff. (Ep. 8). 443

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Strittig bleibt, ob damit die Eigendignität und eine relative Selbständigkeit des Reiches gegenüber der Kirche, der weltlichen gegenüber der geistlichen Gewalt anerkannt wurde oder ob Gelasius nicht vielmehr von vornherein auf eine Rangabstufung, d. h. auf hierarchische Stratifizierung zielte.445 Johannes Agnoli hat die Auffassung vertreten, er habe damit festgelegt, daß das Sacerdotium in spiritualibus höher stehe als das Regnum, daß aber in temporalibus das Regnum vom Sacerdotium unabhängig und unmittelbar von Gott sei. Die zwei Gewalten seien politisch unabhängig voneinander konzipiert und nur religiös und moralisch einander über- und untergeordnet. Zunächst sei eine Parallelität zwischen ihnen statuiert worden, die dann durch die „religiöse und moralische Unterwerfung der kaiserlichen unter die päpstliche Gewalt“ allerdings „widersprüchlich aufgehoben“ worden sei.446 Dem steht die schon erwähnte Auffassung entgegen, wonach der Spätantike und dem frühen Mittelalter der Gedanke einer faktischen Trennung beider Instanzen noch unbekannt war und infolge des religiös-politischen Einheits- und Totalitätsdenkens auch äußerst fern gelegen habe. Es scheint, als projiziere Agnoli spätere Erfahrungen und jene päpstlichen Positionen in die Frühzeit zurück, die erst in den Kämpfen zwischen Kaiser und Papst seit der Zeit des Investiturstreites aufkamen. Gelasius und seine unmittelbaren Nachfolger kannten noch keine wirkliche Unterscheidung beider Sphären. Die zwei Gewalten sollten nicht politisch unabhängig voneinander sein, beide waren von Anfang an als sich ergänzende, aber hierarchisch gestaffelte Komponenten innerhalb der einen und untrennbaren religiös-politischen Einheit der weltumspannenden Ekklesia gedacht. Das Motiv des Gelasius war zunächst rein defensiv gewesen.447 Es ging um die Abwehr der von Byzanz ausgehenden cäsaropapistischen Bestrebungen. Um die Freiheit der Kirche zu sichern, betonte der Papst die Funktion ihrer Repräsentanten als Spender der heiligen Sakramente. Das Konzept konnte aber auch offensiv interpretiert werden, hatte es doch einen Vorrang und eine übergeordnete Stellung der priesterlichen Gewalt insinuiert. Es konnte späteren Generationen als Richtschnur und Orientierungsmuster dienen, da es zwar die Notwendigkeit beider Instanzen begründet, aber ihr Verhältnis relativ unbestimmt und damit den künftigen Regenten und Päpsten ausreichend Interpretationsspielraum gelassen hatte. Es hatte die Kompetenzen der geistlichen Gewalt fixiert und ihre Präponderanz über ihr weltliches Pendant postuliert. Beide, Kaiser und Papst, erschienen als Amtsinhaber innerhalb der einen Ekklesia. Ihre Aufgabe war es, den Willen 445 Zur Interpretation und zur Wirkungsgeschichte vgl. L. Knabe, Die gelasianische Zweigewaltentheorie bis zum Ende des Investiturstreits. 446 Vgl. J. Agnoli, Von der Pax Romana zur Pax Christiana, S. 97 ff. Eine dualistische Interpretation präferiert ferner W. Enßlin, Auctoritas et potestas. Dagegen argumentiert Caspar, Geschichte des Papsttums. Bd. 1, S. 65 ff., 753 ff. 447 Zu diesem Papst vgl. auch W. Ullmann, Gelasius I. (492–496); Caspar, Geschichte des Papsttums. Bd. 1, S. 65 ff., 753 ff.

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Gottes zu vollstrecken, die Welt zu missionieren, den Frieden zu erkämpfen und die Seelen auf das Weltende vorzubereiten. Erstrebt war ein relatives Gleichgewicht und ein harmonisches Miteinander, das aber im Konfliktfall zugunsten der Geistlichkeit aufgehoben und durch ihre Superiorität entschieden würde. Die Konzeption zielte auf das friedliche Zusammenwirken und die wechselseitige Ergänzung und Unterstützung beider Instanzen. Durch die Prävalenz der päpstlichen auctoritas gegenüber der kaiserlichen potestas war aber zugleich unzweideutig eine Rangabstufung eingeführt,448 die den Zündstoff für spätere Auseinandersetzungen in sich barg und im Ernstfall zu neuen Machtkämpfen führen mußte, sofern sich die Könige dem Druck und Diktat der Päpste nicht beugen wollten. „So entsteht zwar das Idealbild der zwei Gewalten, durch deren friedliches Zusammenwirken die Welt regiert werden soll, im religiösen Konfliktfall aber ergibt sich die Überordnung des Petrusnachfolgers als vicarius Christi über den weltlichen Repräsentanten“.449 Daß diese Positionszuteilung von den Inhabern der weltlichen Gewalt nicht ohne weiteres akzeptiert werden würde, war schon zu Zeiten des Gelasius abzusehen. Künftiger Streit war so von Anfang an programmiert.450 Doch bildet gerade der Kampf – als Einheit der Gegensätze – das dynamische Zentrum jeder lebendigen Gemeinschaft. Er ist – wie einst schon Heraklit erkannte – der Beweggrund oder „Vater aller Dinge“, der allerdings – wie dann Empedokles betonte – als Gegenpol und als Pendant die Liebe und die Freundschaft benötigt. Wie sich oben bei der Analyse der Polis zeigte, stand der geregelte Streit im Zentrum der klassischen Politik, die von den alten Griechen entdeckt bzw. erfunden wurde. Infolge des virtuellen und reellen Spannungsverhältnisses zwischen den Repräsentanten der Kirche und des Reiches entstand prinzipiell die Möglichkeit ihrer Wiederbelebung. So war unter neuem Vorzeichen die Chance gegeben, daß 448 C. Schmitt zufolge handelt es sich bei der Unterscheidung von auctoritas und potestas um den alten Dualismus von römischem Senat und römischem Volk, von Patres conscripti und populus (versammelte Bürgerschaft), den Gelasius auf das Verhältnis von römischer Kirche und christlichem Kaiser übertrage. Vgl. Politische Theologie II, S. 60. 449 Klein, Das politische Denken des Christentums, S. 624. Wie Klein betont, hat die mit der Zwei-Gewalten-Lehre legitimierte päpstliche Haltung zur weiteren Trennung der östlichen Welt von der westlichen geführt (S. 625). 450 Vgl. dazu Agnoli, Von der Pax Romana, S. 99: Daß diese Konzeption zweideutig war, „daß ihre friedenstiftende Eindeutigkeit stand und fiel mit der Eindeutigkeit eines politisch-ökonomischen Gefälles, das sich nur noch ideologisch als Trennung von Spiritualien und Temporalien ausgeben konnte“, zeigte sich nach Agnoli im Zuge des Aufstiegs der Kirche und der Ausbreitung ihrer wirtschaftlichen Basis, als „der Kampf der zwei Mächte sich zunehmend als Kampf zweier Reichtümer (und nicht zweier Reiche) entfaltete“ (ebd.). Schon „im ersten Akt der institutionalisierten translatio imperii“, bei der Kaiserkrönung Karls des Großen zu Weihnachten 800, habe der Spaltpilz zu wirken begonnen (S. 101), der später dann – im Hochmittelalter – zur Trennung und zum institutionalisierten Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium führte (vgl. auch ebd., S. 104 ff.). Karl nämlich wurde just von jenem Leo III. zum Kaiser gekrönt, den er zuvor selbst gegen seinen Rivalen zum Papst erhoben hatte.

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sie eine neue Form und einen ausreichenden Raum erhalten und folglich eine Renaissance erleben könnte. Im Mit- und Gegeneinander der Vertreter der geistlichen und weltlichen Gewalt mußte sich künftig die Politik des christlichen Reiches realisieren.451 Politik mußte nicht länger bloße Herrschaft und pastorale Menschenführung bleiben, sie konnte ihren klassischen Sinn zurückgewinnen und sich zu neuen institutionellen Arrangements entschließen. Neben die alten, aus der altorientalischen und jüdischen Tradition ererbten Pastoraltechnologien hätte eine öffentlich-diskursive Willensbildung und die institutionalisierte Auseinandersetzung um die Belange und Notwendigkeiten des Gemeinwesens treten können. Doch stand die religiös-politische Einheitswelt in den Augen der Kirchenleute wieder unter eschatologischem Vorbehalt. Ferner stand die Autorität Augustins einem gesteigerten politischen Engagement im Wege. Dennoch sollte das Machtgerangel zwischen Königen und Päpsten in der Folgezeit die Geschicke des Abendlandes entscheidend bestimmen. Die Zwei-Schwerter-Lehre452 war somit flexibel genug, um als Paradigma in unterschiedlichen Konstellationen wirken zu können. Dies dürfte ihren nachhaltigen Erfolg erklären. Sie diente insbesondere den künftigen Päpsten als maßgebliches Orientierungsmuster bei der Verfolgung ihrer eigenen Ambitionen und der Behauptung ihrer Machtpositionen. Zwar hatte sie die Problematik nicht ein für allemal gelöst, sondern nur auf den Begriff gebracht, doch konnte auf ihrer Grundlage in den nächsten Jahrhunderten weitergedacht werden.453 Die Konkurrenz der beiden „Gewalten“ innerhalb der einen „Weltkirche“ war damit gleichsam institutionalisiert. Damit war noch keine ausdrückliche Sonderung der Spiritualia von den Temporalia begründet, doch ließ sich im Zweifelsfalle schließlich auch diese daraus deduzieren. Allerdings sollte diese Idee erst im Hochmittelalter aufkommen und in den Kämpfen zwischen Sacerdotium und Imperium im Gefolge der „Papstrevolution“ ihre Brisanz gewinnen. Sie führte zur Krise der christlichen Reichsidee, aus der schließlich der Staat als neue Leitidee des Politikdenkens und neue Form der politischen Ordnung entstand. Auch in der Zwischenzeit gab es immer wieder heftige Eruptionen und von Zeit zu Zeit ernst451 Zum Kampf (agon) als Strukturprinzip des werdenden Europa, der aber erst im 12. Jahrhundert seine volle Entfaltung fand, vgl. F. Heer, Aufgang Europas, S. 15 ff. 452 Von „Schwertern“ wurde seinerzeit noch nicht gesprochen. Die Zwei-SchwerterLehre kam erst im hohen Mittelalter auf, als sich die Kontrahenten des Kampfes zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt auf die im vorigen Abschnitt zitierte Stelle des Lukas-Evangeliums zurückbesannen, in der die Jünger zu ihrem Meister sagten: „Herr, siehe, hie sind zwei Schwerter“ (Lukas 22, 38). „Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug“ (ebd.). 453 Vgl. L. Knabe, Die gelasianische Zweigewaltentheorie – sowie unten, das Kapitel über den „Kampf ums Reich im Hochmittelalter“ (Kap. V.1). Zur frühmittelalterlichen Königsideologie im allgemeinen siehe E. Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter. Zur Entwicklung des Verhältnisses von Papsttum und Kaisertum im Früh- und Hochmittelalter vgl. den Forschungsbericht von T. Mayer, Papsttum und Kaisertum im hohen Mittelalter.

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hafte Gefährdungen und bedrohliche Konfliktlagen, doch hielt sich das System bis dahin im großen und ganzen in einem relativen Gleichgewicht. Deshalb kann insgesamt festgehalten werden: „Wenn König Theoderich 526 den Papst Johannes I. wegen vermeintlichen Hochverrats verhaften läßt, oder wenn Papst Nikolaus 862 den König Lothar II. wegen Ehebruchs mit Exkommunikation bedroht, dann sind diese wie hundert andere Konflikte noch keine Anzeichen für einen Gegensatz zwischen Staat und Kirche. Wie unter Konstantin dem Großen standen sich noch lange weltliche und geistliche Macht nicht als abgegrenzte Institutionen gegenüber, sondern wirkten ungeschieden in derselben Gemeinschaft.“ Erst Gregor VII. „bedrohte die glückliche Verbindung der Schwerter seit 1075“.454

Ähnlich wie Gelasius, aber mit umgekehrter Rangordnung, hatte 535 n. Chr. im Osten Justinian (527–565) in der 6. Novelle seines Gesetzbuches, des Corpus Juris Civilis, eine „Arbeitsteilung“ zwischen Sacerdotium und Imperium formuliert:455 „Die größten Gaben, die Gottes Güte den Menschen verlieh, sind Priestertum und Kaisertum. Das eine dient den göttlichen Dingen; das andere herrscht über die Menschen und nimmt sich ihrer an. Aus einem gemeinsamen Ursprung stammend, ordnen beide in ihrer Weise das menschliche Leben“. Allem Cäsaropapismus zum Trotz war somit auch in Byzanz eine Art Gewaltenteilung vorgesehen. Während aber nach den westlichen Vorstellungen die einstmals im Kaiser vereinten Funktionen des Dominus und des Pastors an unterschiedliche Personen verteilt und unter der Oberaufsicht des Papstes bleiben sollten, behielt der byzantinische Kaiser beide Schwerter in seinen Händen. Die Priester sollten sich um die himmlischen Gefilde kümmern, d. h. die Leute bei der Stange halten und ihre Seelen auf das Leben nach dem Tode vorbereiten.456 Die tatsächliche Herrschaft und die Lenkung der Menschheit blieb hingegen alleinige Aufgabe des Kaisers, der die Kirche bei treuen Diensten und bei Wahrung der Reinheit der Lehre reichlich zu beschenken versprach. Dennoch soll Justinians Festlegung – wie Franz Georg Maier betont – bereits vorausweisen auf jene Position, die dann im 9. Jahrhundert im Gefolge des Bilderstreits offiziell festgelegt wurde: 454 A. Borst, Der Streit um das weltliche und das geistliche Schwert, S. 99, 102. Vgl. auch K. Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund des mittelalterlichen Weltbildes, S. 181 ff.; H. Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, S. 121 ff.; J. Miethke, Der Gegenstand in der Forschung. Eine Einführung. In: ders./A. Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, 13–59; bes. S. 16 ff. 455 Zitiert nach F. G. Maier, Einleitung, S. 35. Eine ähnliche, nur leicht abweichende Übersetzung bietet H. Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, S. 299. Sie wird zitiert von Dassmann, Kirchengeschichte II/1, S. 207 f. 456 Diese Funktionsteilung wird noch deutlicher in einer Formulierung des späteren Kaisers Johannes I. Tzimiskes (969–976): „In diesem Leben und auf dieser Erde kenne ich zwei Ämter: das Priestertum (hierosyne) und das Kaisertum (basileia). Dem einen hat der Schöpfer der Welt die Sorge um die Seelen, dem anderen die Herrschaft über die Leiber anvertraut, damit keiner dieser Teile Schaden erleide, sondern heil und unversehrt erhalten bleibe“ (Leon Diakonos, MPG 107, Sp. 805). Zitiert nach D. Mertens, Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, S. 145.

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auf die Theorie „vom weltlichen und geistlichen Amt als zwei unabhängigen, sich überschneidenden und doch harmonisch verbundenen Wirkungsformen der grundsätzlich gleichen und einen Gewalt, die vom göttlichen Willen ausgeht. Bischof und Kaiser verkörpern zwei Aspekte einer Aufgabe in einer Welt“.457 Damit schienen sich Ost und West nach der völligen politischen Entfremdung wenigstens ideell einander wieder anzunähern und ähnliche Leitvorstellungen für die Gestaltung des Verhältnisses von Religion und Politik zu entwickeln. Wie stets, so berühren sich eben auch in Religion und Politik die Extreme. Cäsaropapismus und Hierokratie erweisen sich dergestalt als Kinder derselben Mutter und als eineiige Zwillinge, die zwar getrennte Wege gingen, aber letzten Endes dem selben Ziel zustrebten und in Gedanken stets beieinander und miteinander verbunden blieben. Das Mittelalter konnte nun beginnen, das theoretische Rüstzeug war vorhanden, mit dessen Hilfe sich Kontingenz reduzieren und Orientierung im alltäglichen Erfahrungschaos gewinnen ließ.458 Die Kirche bildete die umfassende Einheit, die sich über die gesamte Welt auszudehnen gedachte. Sie war das eigentliche Reich, das die Vielzahl der miteinander rivalisierenden Teil-Regna überwölbte. Während sich der Erdkreis faktisch in eine Menge von Reichen gliederte, erhob die Kirche einen Anspruch auf Universalität und Globalität. Der von ihr gestiftete Glaube sollte die ideelle Klammer bilden, ihre innere Organisation sollte die göttliche Weltregierung und damit die Ordnung des Kosmos widerspiegeln. Die Politik erlangte kein Eigengewicht und hatte keine Eigenbedeutung, sie sollte vielmehr in den Dienst der Kirche treten, wurde demzufolge als „Magd der Theologie“ verstanden. Obgleich sich im frühen Mittelalter ein reges Mit- und Gegeneinander der beiden Machtkreise entwickelte, kam es nicht zur Ingangsetzung eines diskursiven Willensbildungsprozesses, an dem die Untertanen beteiligt gewesen wären. Theologisch-politische Fragen wurden vom Klerus und den Königen autoritativ entschieden. Die sonstigen „Laien“ hatten kein Mitspracherecht. Die Erinnerung an die anarchisch-demokratische Emphase der Gnosis und 457 F. G. Maier, Einleitung, S. 35. Maier möchte mit dieser Feststellung Byzanz vor der Etikettierung als „cäsaropapistisch“ bewahren und prinzipiell gegen den Begriff des Cäsaropapismus polemisieren, betont aber im gleichen Atemzug, daß gerade Justinian wie kaum ein zweiter byzantinischer Herrscher eine „unbestrittene Herrschaft über die Kirche“ gewann und nach Belieben „Patriarchen absetzte und dogmatische Entscheidungen durch Verordnungen traf“ (ebd.). 458 Zur Entwicklung des Christentums im Frühmittelalter vgl. insgesamt A. Angenendt, Das Frühmittelalter; ders., Geschichte der Religiosität im Mittelalter, bes. Kap. 2; A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 1–3. Zur Entwicklung von Kaisertum und Reich im Mittelalter siehe H. K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 3: Kaiser und Reich. Zur frühmittelalterlichen Reichsidee vgl. G. Tellenbach, Römischer und christlicher Reichsgedanke in der Liturgie des frühen Mittelalters. Zum Geschichtsbild des frühen Mittelalters vgl. H. Löwe, Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen. Das Werden des Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters. In ders., Von Cassiodor zu Dante, 33–74.

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anderer „Häresien“ schreckte ab und beförderte den starken Institutionalismus der römisch-katholischen Kirche. Die vielversprechenden Ansätze und Möglichkeiten zur Erneuerung der klassischen Politik wurden im Keim erstickt, die weitertreibenden Impulse vom bestehenden Herrschaftsgefüge absorbiert, die emanzipatorischen Energien verpufften. Das Politische gewann keine Eigenwürde und keine relative Autonomie. Es blieb eingebunden in die hierarchische Organisation von Imperium und Sacerdotium und ein untergeordnetes Moment des Kultus und der von Gott gewollten Hierarchie. Die hehren Ideale eines gottgemäßen Regiments wurden allerdings von Zeit zu Zeit durch die schlechte Wirklichkeit konterkariert. Schon früh und immer wieder gab es Klagen über den Verfall der Sitten, der auch vor den Pforten des Klerus nicht Halt machte. So bezeugt ein Brief des Angelsachsen Winfrid-Bonifatius an Papst Zacharias aus dem Jahre 742, daß selbst die Inhaber von Bischofstühlen gelegentlich die christlichen Grundsätze vergessen hatten und die Nächstenliebe und Fürsorge auf ihre unmittelbaren „Nächsten“, nämlich auf sich selbst und ihre Familien, begrenzten: „Augenblicklich“, klagt Bonifatius, der seit 719 im Auftrag des Papstes in Hessen, Thüringen und Baiern missionierte,459 „sind die Sitze in den Bischofstädten größtenteils habgierigen Laien und eingedrungenen, der Unzucht oder dem Gelderwerb frönenden Klerikern lediglich zum weltlichen Genuß ausgeliefert“. Es gebe Leute, die sich Diakonen nennen, die aber „von Jugend an in Unzucht, Ehebruch und jeglichem Schmutz lebten“, die „4, 5 und mehr Beischläferinnen im Bett haben, dabei aber nicht erröten noch sich scheuen, das Evangelium zu lesen“. „Dann wieder gibt es unter ihnen Bischöfe, die zwar behaupten, keine Hurer und Ehebrecher zu sein, die aber Trinker, Zänker oder Jäger sind, gewappnet im Aufgebot zu Felde ziehen und mit eigener Hand Menschenblut, gleichgiltig ob von Heiden oder Christen, vergießen“.460 Karlmann, Herzog und Fürst der Franken, der nach dem Tode seines Vaters Karl Martell (741) die von Bonifatius missionierten Gebiete östlich des Rheins erhalten hatte,461 strebte deshalb nach einer Kirchenreform und berief aufgrund 459 Zur Mission und Bistumsorganisation vgl. M. Borgolte, Die mittelalterliche Kirche, S. 3 ff. (zu Bonifatius: S. 9 f.; zu Tendenzen der Forschung: S. 76 ff.; weitere Literatur: S. 128 ff.); R. Schneider, Das Frankenreich, S. 82 ff. (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung: S. 139 ff.; Literatur: S. 180 ff.). Ferner Th. Schieffer, WinfridBonifatius und die christliche Grundlegung Europas; H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen, S. 107 ff. 460 Vgl. Winfrid-Bonifatius, Brief an Papst Zacharias (742). In: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 25 f. 461 Zur Geschichte des Frankenreichs vgl. E. Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich; J. Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, S. 73 ff.; H. Löwe, Deutschland im fränkischen Reich, S. 38 ff.; P. Riché, Die Karolinger; R. Schieffer, Die Karolinger (mit umfassenden Literaturhinweisen: S. 230 ff.); R. Schneider, Das Frankenreich; H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen, bes. S. 101 ff. Zur Entwicklung der Kirche im Frankenreich vgl. bes. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 2; Troeltsch, Die Soziallehren I, S. 195 ff.

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der pastoralen Ausschweifungen im Jahr 742 eine Synode ein, das Concilium Germanicum, um mit den Bischöfen und Priestern seines Reiches zu beratschlagen, „wie das Gesetz Gottes und die kirchliche Ordnung, die unter den früheren Fürsten der Auflösung und dem Zusammenbruch verfielen, wieder herzustellen sei und wie das christliche Volk zum Seelenheil gelangen könne und nicht, von falschen Priestern verführt, zugrunde gehe“. Resultat dieses Konzils war die Straffung der kirchlichen Hierarchie. Es wurde verordnet, „daß jeder Priester innerhalb der Diözese dem Bischof, in dessen Sprengel er sich aufhält, untertan sein“ soll und daß „jeder Bischof in seiner Diözese unter der Beihilfe des Grafen, welcher der Schützer der Kirche ist, Sorge tragen soll, daß das Volk Gottes nichts Heidnisches treibe, sondern allen Unflat des Heidentums abstreife und verabscheue“.462 Dadurch wurde das kirchliche Machtgefüge gefestigt und die Hierarchie zementiert. Nach dem Bruch zwischen Rom und Byzanz wegen des Bilderstreits wandte sich das Papsttum den fränkischen Herrschern zu. Seit Pippin dem Jüngeren (741–768) wurden die fränkischen Könige von der Kirche gesalbt,463 um den sakralen Charakter des Königtums zu betonen. Als Karl der Große (768–814) schließlich das Langobardenreich erobert und die Sachsen unterworfen hatte, als er seinen Machtbereich gewaltig ausgedehnt und dafür 800 n. Chr. von Papst Leo III. (795–816) – zu seiner eigenen Überraschung464 – die Kaiserkrone erhalten hatte, schien das Ziel der katholischen Weltkirche ein gutes Stück näher gerückt. Zwar standen dem christlich-fränkischen Reich mit Byzanz und der arabisch-islamischen Welt nunmehr zwei fremde Kulturkreise und feindliche Mächte gegenüber,465 doch war das westliche Imperium wiedererstanden466 und konnte nun 462 Vgl. das Kapitular des Hausmeiers Karlmann. In: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 28–30 (Zitate S. 28, 29). 463 Zum sakralen Amtsgedanken vgl. F. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter, bes. S. 46 ff. Zur Verschmelzung der sakralen und säkularen Grundlagen des Königtums siehe auch R. Bendix, Könige oder Volk. Bd. 1, S. 41 ff. 464 Vgl. Einhard, Vita Karoli Magni/Das Leben Karls des Großen, S. 53: „Seine letzte Reise nach Rom hatte mehrere Gründe. Die Römer hatten Papst Leo schwer mißhandelt, ihm die Augen ausgestochen und die Zunge ausgerissen, so daß er sich gezwungen sah, den König um Schutz zu bitten. Daher begab sich Karl nach Rom, um die verworrenen Zustände der Kirche zu ordnen. Das dauerte den ganzen Winter. Bei dieser Gelegenheit erhielt er den Kaiser- und Augustus-Titel, der ihm anfangs so zuwider war . . .“ Siehe auch W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 56 ff. Die jüngere Forschung äußert allerdings Zweifel an der Überrumpelung Karls des Großen durch den Papst. Vgl. etwa H. Beumann, Studien zur Kaiseridee Karls des Großen, S. 86 ff.; H. Fuhrmann, Die Päpste, S. 103; ders., Einladung ins Mittelalter, S. 72 f.; R. Schieffer, Die Karolinger, S. 103; H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen, S. 188 ff. 465 Zum Aufstieg des islamischen „Weltreiches“ vgl. etwa R. Paret, Das islamische Weltreich. Zum politischen Denken vgl. B. Tibi, Politisches Denken im klassischen und mittelalterlichen Islam. 466 Vgl. H. Fichtenau, Das karolingische Imperium. Daß Karl der Große allerdings nicht über den ganzen Westen gebot, betont R. Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke

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den Anspruch erheben, aufgrund der translatio imperii der wahre Fortsetzer des Römischen, d. h. des vierten Daniel-Reiches zu sein.467 Die Kirche fand im Kaiser einen idealen Förderer und allmächtigen Schutzherrn, der ihr bei der Erfüllung ihres Auftrags zur Hand gehen konnte. Allerdings war sich Karl seines Gewichts und Ansehens bewußt.468 Er wollte sich folglich nicht für fremde Zwecke mißbrauchen und vom Papst die Handhabung seiner Macht diktieren lassen. Vielmehr wollte er diesen auf seine angestammte Funktion als Leiter des Gottesdienstes und Spender der Sakramente beschränken. Eine wirkliche Gewaltenteilung war innerhalb des sich etablierenden Feudalsystems nicht vorgesehen. Die Suzeränität sollte in den Händen des Kaisers bleiben, der Papst die kaiserlichen Aktivitäten in Kirche und Reich durch seine Gebete unterstützen.469 Jeglicher Streit über die Führung der weltlich-geistlichen Einheit sollte unterbleiben. Als guter Christ wußte der Imperator selbst, was nötig war, um die Sicherheit des Reiches und den inneren Frieden zu bewahren. Er selbst verfügte als rector et defensor ecclesiae über die kirchlichen Machtmittel und gebot den klerikalen Amtsinhabern.470 Die karolingischen Fürstenspiegel (Alkuin, Smaragd von St. Mihiel, Jonas von Orléans, Sedulius Scottus, Hinkmar von Reims u. a.) konzentrierten sich folglich darauf, die Herrscher auf das christliche Ethos zu verpflichten und die königliche Gewalt an das göttliche Gesetz zu binden.471 Ihr Ziel war die Bändigung der des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten: „Es fehlten namentlich die angelsächsischen Königreiche und in Spanien das Königreich Asturien“ (S. 251). Zur Einschätzung des Karolingerreiches durch die christliche Umwelt (England, Asturien) und das ehemals langobardische Italien vgl. auch H. Löwe, Von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit, S. 210 ff. 467 Zur Translationsvorstellung im Kontext der Kaiserkrönung Karls des Großen vgl. W. Goez, Translatio imperii, S. 62 ff. Für Samuel Pufendorf handelt es sich bei der Translatio-imperii-Theorie um einen „kindischen“ Irrtum der Deutschen. Vgl. Die Verfassung des deutschen Reiches (1667), Kap. 1, § 14 (S. 23). Zur karolingischen Reichsidee siehe auch A. Dopsch, Der Reichsgedanke zur Zeit der Karolinger. 468 Vgl. die jüngeren Biographien von M. Becker, Karl der Große; D. Hägermann, Karl der Große. Zu den vielfältigen Karlsbildern siehe M. Kerner, Karl der Große. 469 Diese Form der Arbeitsteilung hatte Alkuin bereits vor der Kaiserkrönung in einer im Namen Karls des Großen verfaßten Gruß- und Glückwunschadresse an Papst Leo III. von 796 (ep. 93) postuliert. Vgl. T. Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 193. Zu Alkuin vgl. auch Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 2, S. 129 ff. Zum Verhältnis Karls des Großen zu den Päpsten ferner Haller, Das Papsttum. Bd. 2: „Der Aufbau“, S. 1 ff. 470 Vgl. P. Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz; J. Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 46 ff. Weitere Literatur zu Karl dem Großen und zur Karolingerzeit bei R. Schieffer, Die Karolinger, S. 236 ff. und R. Schneider, Das Frankenreich, S. 163 ff.; E. E. Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen zur Geschichte des Kaisergedankens im Mittelalter, S. 31 ff.; G. Wolf (Hg.), Zum Kaisertum Karls des Großen. 471 Vgl. H.-H. Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit; A. Dempf, Sacrum Imperium, S. 152 ff.; H. M. Klinkenberg, Über karolingische Fürstenspiegel, S. 194 ff.; D. Mertens, Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, S. 188 ff.; J. Miethke, Politische Theorien im Mittelalter, S. 50 ff.; T. Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 192 ff.

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Herrschergewalt durch die Normen der christlichen Ethik (Billigkeit, Gerechtigkeit). Sie wollten die drohende Verselbständigung der Politik gegenüber der Religion, des Regnum gegenüber dem Sacerdotium keinesfalls forcieren, sondern im Gegenteil verhindern. Wie die anderen Quellen der Karolingerzeit konzentrierten sie sich auf die jeweiligen Herrschergestalten und ihre Pflichten und Funktionen (Friedenssicherung, innere Ordnung). Die Könige und Kaiser galten auch weiterhin als Verkörperung ihrer Regna bzw. des Imperiums, die folglich nicht abstrakt, als unpersönliche Ämter und ihre Träger überdauernde Institutionen erfaßt wurden.472 Es ging den Verfassern von Fürstenspiegeln und den Geschichtsschreibern seinerzeit nicht um die Ausbildung einer von der Person des Herrschers abgelösten „transpersonalen Staatsvorstellung“,473 sondern ausschließlich um das rechte, d. h. gottgemäße Regiment.474 Wie bei den Kirchenvätern wurde die irdische Herrschaft als Folge des Sündenfalls verstanden. Allerdings wurde sie nicht rein negativ – als bloße Strafe und Zuchtrute Gottes – gedacht: „Unter dem Einfluß Gregors des Großen (um 540–604) wurde dieselbe vielmehr als Hilfsmittel betrachtet, die in Sünde verstrickte Menschheit vom Bösen abzuhalten

472 Eine allmähliche Verselbständigung des Reiches als Regnum in den Quellen der Karolingerzeit – von den Annales regni Francorum und den Annales qui dicuntur Einhardi, Einhards Vita Karoli usw. über die Fuldaer Annalen bis hin zu hagiographischen Werken und Gesten – beobachtet hingegen H.-W. Goetz, Regnum. Aus dieser Beobachtung folgert er, es könne keinen Zweifel mehr darüber geben, daß es bereits in karolingischer Zeit einen „Staat“ gegeben habe (S. 188). Es handele sich zwar nicht um den Beginn des „modernen Staates“, doch habe dieser „auf einer bereits vorhandenen Staatstheorie aufbauen“ können (S. 189). Diese These basiert auf einem recht abstrakten Staatsbegriff, der ganz allgemein auf die beginnende „Objektivierung“ von Herrschaft zielt: „dieser Staat . . . ist Herrschaft, allerdings nicht nur Sache des Herrn, sondern, zumindest in Ansätzen, auch der Beherrschten, vorab der Großen und Getreuen des Königs“ (S. 188). 473 Vgl. dazu allgemein H. Beumann, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen. Nach Beumann entstehen „transpersonale“ Ordnungsvorstellungen (erst) in der ottonischen und frühsalischen Zeit. Schon in der Karolingerzeit beobachtet solche hingegen T. Mayer, Staatsauffassung in der Karolingerzeit. Kritisch dazu: J. Fried, Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jahrhundert; ders., Gens und regnum (zur Kritik an H.-W. Goetz vgl. S. 92 ff.). 474 Auch Struve (Regnum, S. 192) spricht – im Anschluß an H. M. Klinkenberg (1956) – von der „Ausbildung einer von der Person des Herrschers losgelösten transpersonalen Staatsvorstellung“ in den karolingischen Fürstenspiegeln, die dadurch „einen ersten Schritt in Richtung auf die abstrakte Erfassung der politischen und gesellschaftlichen Beziehungen“ markierten. „Der irdisch-staatlichen Sphäre wurde damit freilich kein eigener, allein in ihr selbst begründeter Zweck zuerkannt. Sie war vielmehr einbezogen in die umfassende Heilsordnung der Ecclesia, von der allein sie ihre Legitimation erhielt. Der weltlichen Obrigkeit fiel hierbei eine fest umrissene, den Normen der christlichen Ethik verpflichtete Funktion zu: die Zurechtweisung (correctio) der ihr anvertrauten Menschen. Die irdische Herrschaft erhielt dieser Auffassung zufolge den Charakter eines Amtes (ministerium). Der König erschien als Beauftragter Gottes (minister Dei), der demselben für seine Amtsführung Rechenschaft abzulegen hatte“ (S. 191). Ähnlich in ders., Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, S. 87 ff.

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und zur göttlichen Ordnung zurückzuführen“ (Struve, Regnum, S. 191). Sie sollte keine Selbständigkeit erlangen, sondern – unter der Obhut des kaiserlichen vicarius Dei und des päpstlichen vicarius Petri bzw. servus servorum Dei (Gregor der Große) – mit der geistlichen Gewalt kooperieren. „Reich und Kirche wurden unter Karl dem Großen vielmehr als eine Einheit angesehen“ (ebd., S. 193). Als möglicher Streitpunkt blieb allenfalls die Rollenverteilung und die Frage, wem die Letztentscheidung im Falle von Meinungsverschiedenheiten zustehen sollte. In der Zeit Karls des Großen wurde diese Frage aber nicht akut. Zwar waren die Päpste und Bischöfe bestrebt, in diesen Angelegenheiten mitzubestimmen und die unbeschränkte Kirchenhoheit des fränkischen Herrschers einzudämmen und zu zügeln, doch entschied der Kaiser als Schutzherr der Kirche selbst, wie dieser Schutz zu gewähren war.475 Dabei bemühte er sich allerdings, dem in den Fürstenspiegeln entworfenen Bild des „guten Herrschers“ und den Prinzipien der christlichen Ethik zu entsprechen. Er kümmerte sich um den Schutz der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen und um die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung. Er setzte Königsboten (missi dominici) ein, um die Grafen zu kontrollieren, um eventuelle Klagen der Schwachen entgegenzunehmen und ihr erlittenes Unrecht zu sühnen. „Es darf nicht geschehen“, vermerkte er in seinen Kapitularien, „daß Speichelleckerei, Bestechung, Vetternwirtschaft oder Furcht vor mächtigen Menschen die Justiz auf ihrem Wege aufhält“.476 Kirche und Reich waren somit unter kaiserlicher Oberhoheit vereint. Der Unterschied zum östlichen Cäsaropapismus schwand dahin. Allenfalls durch sein Charisma sowie durch seine Großzügigkeit und Milde hob sich Karl von den byzantinischen Herrschern ab. Es gelang ihm, die Königsherrschaft im Innern zu intensivieren und die Rivalität und Eifersucht der östlichen Nachbarn in Akzeptanz zu verwandeln.477 Durch strenge Kontrolle der Kirche versuchte er, die korrumpierenden Einflüsse der Adels- und Lokalpolitik einzudämmen. Das Frankenreich wurde aber nicht durch eine alles erfassende Bürokratie regiert, es basierte ausschließlich auf der Macht und Autorität des Herrschers. „Das Imperium war kein geographisches Gebilde, sondern eine militärische und geistliche Autorität“. Der Kaiser „regierte, indem er Hof hielt. Er war zuallererst der Richter seines

475 Vgl. J. Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 82 ff.: „Faktisch leitete die Kaiserkrönung des Jahres 800 eine Zeit ein, in der die weltliche Gewalt des Papstes zur Bedeutungslosigkeit herabsank. Karl der Große übte seine Macht aus, ohne sie zu teilen, und sie war so groß, daß der Papst ihm untergeordnet war“ (S. 83 f.). Zum Kirchenregiment Karls des Großen vgl. auch Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 2, S. 206 ff. 476 W. Lautemann (Hg.), Geschichte in Quellen: Mittelalter, S. 74. Hier zitiert nach W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 60. 477 Zum Problem des Doppelkaisertums und zur Beziehung zwischen West und Ost vgl. W. Ohnsorge, Das Zweikaiserproblem im frühen Mittelalter; ders., Ost-Rom und der Westen, bes. S. 1 ff.

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Volkes“.478 Sein Bemühen, den Einfluß der „Großen“ zu beschneiden und die Sippen- und Stammesfehden einzudämmen, hatte aber keinen nachhaltigem Erfolg. Die Schwäche bzw. das gänzliche Fehlen einer institutionalisierten Zentralgewalt, das durch lehnsrechtliche Bindungen nur unzureichend kompensiert wurde,479 sollte dem Reich nach dem Ableben Karls zum Verhängnis werden. Während die Aristokraten und Stammesfürsten sich alsbald gegenüber der königlichen Macht verselbständigten und ihre Fundamente untergruben, führten die karolingischen Reformen jedoch zur Stabilisierung der hierokratischen Kirchenordnung: „In der kirchlichen Organisation selbst legten die karolingischen Reformen den Grund für die Erneuerung einer auf die bischöfliche Kollegialität gegründeten hierarchischen Struktur: in der Wiedereinführung der Metropolitanverfassung, der Wiederbelebung der Provinzialsynoden und der Stärkung der bischöflichen Aufsicht, durch Regeln für das gemeinsame Leben des Weltklerus, für die rechtliche Stellung der Domkapitel, für Ausbildung und Tätigkeit der Landgeistlichen. Auch wenn manches davon bald wieder vom Verfall bedroht war, blieben die in karolingischer Zeit aufgerichteten Normen der Bezugspunkt späterer Reformen und wirkten dadurch fort“.480 Imperium und Sacerdotium bildeten also in der Zeit der „karolingischen Renaissance“ bzw. der „karolingischen Spätantike“481 tatsächlich eine ungetrennte Einheit, in der die Hierokratie dem Cäsaropapismus einverleibt bzw. mit ihm verschmolzen war, die folglich eine Art „Mischverfassung“ realisierte. Erst in der Krise des Karolingerreiches nach dem Tode Karls des Großen wuchsen die Chancen für die Emanzipation und Festigung der geistlichen Gewalt.482 Das Frankenreich wurde 814 aufgrund des weiterhin geltenden Geblütsrechts483 unter die 478 H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 153: „Im Unterschied zum Caesar regierten Karl der Große und seine Nachfolger ihre Untertanen nicht mit Hilfe einer kaiserlichen Bürokratie . . . In einer fast ausschließlich lokalen Wirtschaft und einer politischen Struktur, bei der die höchste Gewalt bei den Stammes- und Regionalführern lag, hatte der Kaiser einmal die militärische Aufgabe, ein Bündnis von Stammesheeren aufrechtzuerhalten, um das Reich gegen äußere Feinde zu verteidigen, und zum anderen die geistliche Aufgabe, den christlichen Glauben des Reiches vor einem Rückfall ins Heidentum zu bewahren“. Zur Stellung und Rolle des Kaisertums vgl. auch F. Kempf, Das mittelalterliche Kaisertum. 479 Zur Entwicklung und Organisation des Reiches und speziell zum Lehnswesen vgl. H. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters; H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, S. 25 ff., S. 71 ff. (weitere Literatur: S. 92). Zur Entstehung und Ausbreitung des Lehnswesen ferner J. Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, S. 106 ff. 480 H. Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont, S. 38 f. 481 Vgl. K. Bosl, Reformorden, S. 245: „Anstatt [von] karolingischer ,Renaissance‘ spreche ich lieber von ,karolingischer Spätantike‘, da das Frankenreich auf der Basis und den vielfachen Resten und Rudimenten des spätrömischen Kaiserreiches im Westen aufbaute, Europa aber beileibe nicht umfaßte.“ 482 Zur Auflösung der karolingischen Reichskirche vgl. Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 2, S. 487 ff.; Haller, Das Papsttum. Bd. 2, S. 117 ff.

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Söhne Karls geteilt, die nach den Wünschen und Vorstellungen ihres Vaters seine Einheit wahren sollten,484 stattdessen aber den allmächtigen Gott für die Legitimation ihrer partikularen Herrschaftsinteressen instrumentalisierten.485 „Unter den Nachfolgern Karls des Großen wurde dem Kaisertum mehr und mehr die Aufgabe einer verbindenden Klammer für das infolge häufiger Reichsteilungen zerrissene fränkische Reich zuteil. Doch vermochte es dessen Zerfall letztlich nicht aufzuhalten“.486 Der Versuch von 817, durch eine ordinatio die Einheit unter dem ältesten Sohn Ludwigs des Frommen zu sichern, „dieser letzte Höhepunkt des Kaiser-Reichs als Klammer eines sich de facto in seinen Teilstrukturen konzentrierenden Gebildes erwies sich als Illusion. Das Kaisertum stieg rasch ab zum Ehrenvorrang und dann zum Annex eines Teilreiches“.487 In dieser Situation witterten die Kirchenleute Morgenluft und unternahmen erste Versuche, sich aus der Umklammerung durch die weltlichen Herrscher zu lösen. Während die Reichsorganisation mehr und mehr zerfiel, gewann die Kirche schon unter Ludwig dem Frommen (814–840) ein neues Selbstbewußtsein, das sich unter seinen Nachfolgern noch steigern sollte. Die Bischöfe schwangen sich zu Mitregenten auf und bemühten sich, dem Sacerdotium eine relative Autonomie und Eigenwürde zu sichern und die Kaiser der kirchlichen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.488 Der „Versuch einer begrifflich klaren Abgrenzung“ beider Sphären (Struve, Regnum, S. 195), der auf dem Pariser Konzil von 829 unter483 Zur Entstehung und Entwicklung des germanischen Geblütsrechts vgl. F. Kern, Gottesgnadentum, S. 13 ff.; J. Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, S. 35 ff. (Literatur: S. 226 f.). 484 Vgl. die Nachfolgeregelungen Karls des Großen im Reichsteilungsgesetz (divisio regnorum) von 806. Abgedruckt in: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 74 ff. Dazu Beumann, Studien zur Kaiseridee Karls des Großen, S. 105 ff.; W. Schlesinger, Kaisertum und Reichsteilung. 485 Vgl. K. Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 1: 800–1197, S. 54 ff. Zu den Prinzipien der karolingischen Thronfolge vgl. auch G. Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge. 486 Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 201. Zum Zerfall der Reichseinheit siehe auch Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 65 ff.; Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, S. 104 ff., 124 ff.; E. Hlawitschka, Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft; H. Löwe, Deutschland im fränkischen Reich, S. 171 ff.; F. Prinz, Grundlagen und Anfänge, bes. S. 113 ff.; R. Schieffer, Die Karolinger, S. 112 ff.; W. Schlesinger, Die Auflösung des Karlsreiches; H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen, S. 307 ff.; K. F. Werner, Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs. 487 P. Moraw, Art. Reich, S. 433. Zum Text der in der ordinatio imperii von 817 fixierten Nachfolgeordnung Ludwigs des Frommen vgl. die Auszüge in: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 82–86. 488 Vgl. F. Kern, Gottesgnadentum, S. 191 ff.: „Die Regierungen Ludwigs des Frommen und seiner Söhne haben das Königtum vor der Kirche so tief gebeugt, wie kein Jahrhundert vorher“ (S. 193). „Ludwig der Fromme wie sein Sohn Karl der Kahle haben feierlich ihre Unterwerfung unter die kirchliche Gerichtsbarkeit anerkannt und damit der Macht des kirchlichen Widerstandsrechts wesentlichen Vorschub geleistet“ (S. 195).

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nommen wurde, brachte aber keine prinzipielle Klärung und keine Neuerungen. Er führte unmittelbar zur klassischen Position des Gelasius zurück: Dem Bereich weltlicher Herrschaftsausübung wurde jeglicher Eigenwert abgesprochen. „Die königliche Herrschaft wurde als ein von Gott verliehenes ,Amt‘ (ministerium) verstanden, welches um Gottes – und nicht um der Menschen – willen ausgeübt wird“ (ebd., S. 195 f.). Zwar äußert sich in den Reformprogrammen, die Wala von Corbie und Jonas von Orléans formulierten, ein gewachsenes Selbstbewußtsein des Reichsepiskopats, doch war der Versuch, die Kirche als eigenständige Herrschaftsinstanz jenseits der irdischen Machtsphäre zu etablieren, praktisch zum Scheitern verurteilt.489 Die Religion blieb in die politischen Ereignisse verflochten. Durch den Vertrag von Verdun (843) wurde dann offenbar, daß das Imperium eher eine Ideologie denn Wirklichkeit war, daß die Teil-Regna „die konkreten politischen Einheiten [waren], das Gesamtreich eine Summe von Regna“.490 Dem römischen trat im politischen Bewußtsein der Westfranken ein fränkisches Imperium gegenüber, in dem der rex Francorum als Imperator herrschte.491 Das Karolingerreich hatte sich in Teilreiche aufgegliedert, die sich schließlich in Territorialfürstentümer, Herzogtümer und Grafschaften verwandelten.492 Der erstarkende Adel übernahm die Rolle des Gegenparts zu den Königen und schränkte ihren Herrschaftsradius zusehends ein – eine Entwicklung, die in der 908 verfaßten Weltchronik Reginos von Prüm ihren beredten Ausdruck fand.493 Nach dem Tod Kaiser Lothars I. (855) wurde sein Reichsteil noch weiter geteilt: sein ältester Sohn, Ludwig II., bekam das Kaisertum übertragen, herrschte aber nur noch in Italien. Mit dem Sturz Karls III. des Dicken (887), der durch den frühen Tod seiner Brüder unverhofft noch einmal das ostfränkische Reich vereinigen konnte, zerbrach die alte Vorstellung der Unitas imperii ein für alle-

489 Vgl. auch J. Miethke, Politische Theorien, S. 53 ff.; D. Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 192 ff. Für A. Dempf (Sacrum Imperium, S. 155) handelt es sich bei den Reformbemühungen, die in der Pariser Synode von 829 kulminierten, um den „ersten Investiturstreit“. 490 Moraw, Art. Reich, S. 433. Zu den Reichsteilungen nach dem Tode Ludwigs des Frommen in den Verträgen von Straßburg (842), Verdun (843) und Meersen (870) sowie den weiteren Dokumenten vgl. W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 97 ff., 103 ff. Erst der Vertrag von Ribemont (880) zog dann endgültig die Grenzen für die späteren Teilstaaten Frankreich, Deutschland, Burgund und Italien. 491 Vgl. K. F. Werner, Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs, S. 14 ff.: „In den Grenzen des regnum war der rex Francorum rechtlich der alleinige Nachfolger der fränkischen Kaiser, er regierte im Imperium Francorum und hatte folglich augustalen Rang“ (S. 16). 492 Vgl. J. Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 70, 76 ff., 87 ff.; G. Tellenbach, Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand; K. S. Bader, Volk, Stamm, Territorium; K. Bosl, Frühformen, S. 32 ff. 493 Vgl. dazu H. Löwe, Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit (1952). In ders., Von Cassiodor zu Dante, 149–179.

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mal: „Das Imperium war jetzt auf den Herrschaftsbereich des ostfränkischen Regnums eingeschrumpft“, „das politische Leben hatte sich in die Regna zurückgezogen“,494 die ihrerseits durch innere Kämpfe und Fehden erschüttert wurden.495 Partikularistische Bestrebungen nahmen überhand und durchkreuzten den Universalitätsanspruch des Imperiums. Deshalb fiel dem Papsttum in der Folgezeit wieder die Integrationsfunktion zu. Im Zuge der Normannen- und Sarazeneneinfälle, die seit der Mitte des 9. Jahrhunderts an Häufigkeit und Intensität zunahmen, wurde die Schwäche der königlichen Gewalt und damit die Labilität des Reiches offenbar: „Die Unfähigkeit der Zentralgewalt zu wirksamem Schutz schwächte deren Ansehen und begünstigte den Aufstieg regionaler Gewalten“.496 Zu diesen zählte auch die regionale Geistlichkeit, die erneut das entstandene Machtvakuum auszufüllen strebte und in die Lücke zu schlüpfen trachtete, die sich durch das Schwinden der monarchischen Gewalt aufgetan hatte. Gegen den klerikalen Partikularismus stemmten sich jedoch mit anfänglichem Erfolg die römischen Bischöfe. Vor allem Nikolaus I. (858–867) bemühte sich, das System der Landeskirchen durch eine römische Zentralverwaltung zu ersetzen. Er „ließ keinen Zweifel daran, daß der Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden die ,volle Gewalt‘ (plenitudo potestatis) über die Kirche besitze“.497 Das Papsttum übernahm für kurze Zeit wieder die Aufgabe, die christliche Reichsidee am Leben zu erhalten. „Während also die fränkischen Imperiumvorstellungen zerfielen, behaupteten und formten sich die päpstlichen“.498 Allerdings währte dieser Glanz des Heiligen Stuhles nicht allzu lange.

494 Fleckenstein, Grundlagen, S. 129, 130. Zur Entwicklung des Westfrankenreiches seit 843 vgl. auch J. Ehlers, Geschichte Frankreichs im Mittelalter; P. E. Schramm, Der König von Frankreich; B. Schneidmüller, Die Entstehung Frankreichs (mit weiteren Literaturhinweisen: S. 60 ff.). Zum Verhältnis von West- und Ostreich ferner W. Kienast, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit. Bd. 1, S. 1 ff. 495 Dies spiegelt sich in der Chronik Reginos von Prüm (ca. 840–915), die den Grund des Niedergangs im ungezügelten Machtstreben des Adels erblickte: „Angesichts des zu einem käuflichen Titel (Chron. 877) herabgesunkenen Kaisertums Karls III. sprach er demselben jede heilsgeschichtliche Bedeutung ab . . . Die Einheit des Christentums wurde für ihn vielmehr durch das Papsttum verkörpert“ (Struve, Regnum, S. 201). 496 U. Dirlmeier, Früh- und Hochmittelalter, S. 29. 497 Denzler, Das Papsttum, S. 37. „Selbst im ökumenischen Konzil sah Nikolaus ein Organ, das die päpstlichen Entscheidungen als letztgültig zu akzeptieren und zu propagieren hatte . . . Den Synoden auf Provinzebene sprach der Papst jegliche Autorität ab und forderte für sich das letzte Entscheidungsrecht“ (ebd.). Zu Nikolaus I. vgl. auch Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 2, S. 549 ff. 498 Moraw, Art. Reich, S. 433. Vgl. auch Dempf, Sacrum Imperium, S. 166 f.: „Im Verfall des Frankenreichs in Teilstaaten und in den Kämpfen der Vasallen gegen den Amts- und Dienstgedanken wurde das Papsttum zur völkerrechtlichen Auktorität der abendländischen Christenheit, es wurde, wie die constitutio Constantini es wider Willen und symbolisch ausgesprochen hatte, Nachfolger der kaiserlichen Autorität. Aber diese ideelle Nachfolgerschaft reichte nicht aus zur Bewahrung der Reichseinheit“.

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Bereits Nikolaus I. mußte sein Haupt wieder unter die weltliche Gewalt beugen und ihre Hilfe gegen die anstürmenden Moslems erflehen.499 Anstatt die Ideale der Reichsidee hochzuhalten und den Prinzipien der christlichen Ethik zu entsprechen, geriet der römische Bischofsstuhl alsbald selbst in den Strudel des Niedergangs und des Sittenverfalls. Auf die kurzen Jahre des Ruhms folgte das lange „dunkle Jahrhundert“, in dem das Papsttum sein gewachsenes Ansehen infolge von Ausschweifungen und Verbrechen seiner Amtsinhaber wieder einbüßte. Es begann das „Zeitalter der Pornokratie“ (Johannes Haller) und des papalistischen „Weiber- und Hurenregiments“, in dem der Vatikan zeitweilig „einem riesigen Bordell“ glich.500 Am Anfang stand der Mord an Papst Johannes VIII. (882), den Höhe- und Schlußpunkt bildete die Absetzung dreier konkurrierender Päpste (Gregor VI., Benedikt IX. und Silvester III.) durch Kaiser Heinrich III. auf der Synode in Sutri (1046). Der Klerus erwies sich in dieser langen Phase als ungeeigneter Exponent und Repräsentant des christlichen Reiches, die Päpste wurden vielmehr zu Marionetten der weltlichen Machthaber.501 Dieser Zustand änderte sich kaum in der Zeit der Ottonen, in der die karolingische Reichsidee durch die deutschen Könige erneuert wurde. Vielmehr nutzten diese die entstandene Lage, um ihre Macht zu festigen und ihren Suprematieanspruch zu legitimieren. Sie gewannen die Repräsentanten der Kirche für sich, indem sie solche Aspiranten in die geistlichen Ämter hievten, die ihnen wohlgesinnt und familial oder freundschaftlich verbunden waren. Wieder entstand ein cäsaropapistisches Regiment, das die innerkirchliche Hierokratie für sich zu nutzen verstand.502 Durch die Krönung Ottos des Großen (936–973) erfuhr das Reich, das seit langem darniederlag, 962 eine Wiedergeburt. Zwar entzog sich ganz Westeuropa 499 Vgl. Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 84: „Doch der Glanz, den dieser Papst dem Heiligen Stuhl verlieh, währte nicht lange. Die Moslems ergriffen wieder die Offensive gegen Italien, und Papst Nikolaus I., dessen Staat bedroht war, sah sich gezwungen, die Hilfe der weltlichen Macht zu erflehen. Ohne zu murren, mußte er die Befehle Ludwigs II. ausführen. Der Nachfolger dieses Papstes war Hadrian II. (867–872), ein willfähriger Diener des Kaisers“. 500 Vgl. Denzler, Das Papsttum, S. 38 ff.; Dempf, Sacrum Imperium, S. 168; Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 235 ff. 501 Vgl. H. Zimmermann, Das dunkle Jahrhundert, S. 76 f.: „Die Papstgeschichte tritt in den Hintergrund. Die nach Johannes X. regierenden Päpste waren kaum mehr als Marionetten, ihre Pontifikate gewöhnlich nur kurz und ohne größere Bedeutung.“ Vgl. auch ders., Papstabsetzungen des Mittelalters; K. A. Fink, Papsttum und Kirche im abendländischen Mittelalter, S. 28. 502 Zum Aufstieg der Ottonen und zur Geschichte des Ottonenreiches vgl. G. Althoff, Die Ottonen (mit umfassenden Literaturhinweisen: S. 248–271); H. Beumann, Die Ottonen (Literatur: S. 177 ff.); J. Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, S. 140 ff.; ders., Das Reich der Ottonen im 10. Jahrhundert, S. 13 ff.; J. Fried, Die Formierung Europas; H. K. Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 133 ff. Zum Begründer der Dynastie siehe auch H. Zimmermann (Hg.), Otto der Große. Zur Königsund Kaiserkrönung der Ottonen vgl. P. E. Schramm, Kaiser, Könige und Päpste. Bd. III, S. 33 ff.

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der Herrschaft (potestas) des deutschen Kaisers,503 doch blieb der Weltherrschaftsgedanke lebendig.504 Zwar konnte Otto den anderen Königen keine Befehle erteilen, doch stellte er das Ansehen und die Würde (auctoritas) des Kaisertums als defensor ecclesiae wieder her. Zu seiner wichtigsten Stütze wurde die neuartige, von ihm selbst geschaffene und von seinen Nachfolgern ausgebaute Reichskirche.505 Der Kaiser hielt beide Schwerter in seinen Händen und vereinigte die weltliche und geistliche Amtsgewalt in seiner Person. Er setzte nach Belieben Bischöfe ein, von denen er Loyalität erwarten konnte, verlieh ihnen Grafenrechte und schenkte ihnen Grundbesitz.506 Er räumte den Kirchenführern Privilegien ein, zog sie zu Verwaltungsgeschäften in den Stammesherzogtümern heran und forcierte so den innerkirchlichen Feudalisierungsprozeß. Seine Nachfolger schritten auf den von ihm eingeschlagenen Wegen fort und intensivierten das Reichskirchensystem. Die Geistlichen dankten ihnen ihre neue Stellung, indem sie die monarchische Gewalt als gottgewollt legitimierten und in ihrem Kampf gegen ihre aristokratischen Widersacher unterstützten. Auch in der Folgezeit stand die „politische“ Ethik und die Korrelation zwischen Imperium und Sacerdotium innerhalb der religiös-politischen Einheit im Zentrum der Politischen Theorien.507 Die Geschichtsschreiber und Verfasser von Fürstenspiegeln beschworen das harmonische Zusammenspiel von geistlicher und weltlicher Gewalt innerhalb der einen Ekklesia. Neue Perspektiven wurden nicht eröffnet. Das politische Denken vermochte sich auch ferner nicht aus dem Bann der Religion und der Kirche zu lösen. Es erschöpfte sich im Bemühen, die tradierten Ideen mit der schlechten Wirklichkeit in Einklang zu bringen. So bei Atto von Vercelli, der in seinem „Tyrannenspiegel“ Polypticum eine schonungslose 503 Vgl. R. Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten, S. 252: „Ihm fehlten nicht nur die kleinen christlichen Königreiche Spaniens, deren Zahl sich inzwischen vermehrt hatte; ihm fehlte Frankreich, d. h. das ganze breite westliche Drittel des ehemaligen Karolingerreiches, ihm fehlte das jetzt geeinte und mächtige Königreich England, ihm fehlte Schottland, das im Reiche Alban ebenfalls eine Zusammenfassung erlebte, und anderes mehr.“ Hätte Otto aber den Anspruch auf Weltherrschaft aufgegeben, dann wäre, wie Holtzmann zu Recht konstatiert, sein kaiserlicher Titel „ein Widerspruch in sich selbst, ein Anachronismus, eine des Inhalts entleerte Form gewesen“. 504 Vgl. etwa G. Althoff/H. Keller (Hg.), Heinrich I. und Otto der Große; H. Keller, Das Kaisertum Ottos des Großen im Verständnis seiner Zeit. 505 Vgl. dazu Denzler, Das Papsttum, S. 39 ff.; Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 200 ff.; Fink, Papsttum und Kirche, S. 29 f., 103 ff.; J. Fleckenstein, Problematik und Gestalt der ottonisch-salischen Reichskirche; ders., Grundlagen, S. 148 ff.; J. Fried, Die Formierung Europas, S. 165 ff. (Literatur: S. 243 ff.); W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 185 ff.; Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 3, S. 226 ff.; O. Köhler, Die Ottonische Reichskirche; L. Santifaller, Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems. 506 Zur Verleihung von Grafenrechten an Bischöfe vgl. die Urkunden Ottos II. und Ottos III. in W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 205 ff. 507 Vgl. Miethke, Politische Theorien, S. 55 ff.; Struve, Regnum, S. 200 ff.

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

Analyse der Techniken des Machterwerbs durch Usurpation und des Machterhalts durch Schreckensherrschaft unternahm, in scharfer Form die laikale Adelsherrschaft über die Kirche kritisierte und sich bei seinen konzeptionellen Entwürfen „streng an die trübe Wirklichkeit Oberitaliens in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts“ hielt.508 So bei Widukind von Korvei, der dem Führungsanspruch der Kirche „das unmittelbare Gottesgnadentum der sächsisch-ottonischen Herrscher“ gegenüberstellte.509 So bei dem Mönch Ruotger, der ein „Idealbild des einträchtigen Zusammenwirkens der höchsten Repräsentanten von weltlicher und geistlicher Gewalt“ entwarf (Struve, S. 205). Oder bei Liutprand von Cremona, der den „römischen Charakter des Kaisertums betonte“ (S. 206). Die Politik blieb im Verständnis der Politiktheologen bloßes Instrument der Exekution des göttlichen Willens. Während die Religion de facto zum Spielball der imperialen Machthaber wurde, erschienen diese als wahre Stellvertreter Christi auf Erden, die als Beschützer der römischen Kirche das irdische Endreich bis zur Wiederkunft Christi zu lenken hatten.510 Die von Otto III. (983–1002) angestrebte Renovatio imperii Romanorum511 scheiterte am Widerstand der stadtrömischen Bevölkerung, die 1001 den Aufstand probte.512 Das alte Reich mit der Hauptstadt Rom ließ sich nicht restituieren.513 Theorie und Wirklichkeit klafften auseinander. Die Kaiser hatten zu viel 508 Miethke, Politische Theorien, S. 58. Vgl. auch P. E. Schramm, Ein „Weltspiegel“ des 10. Jahrhunderts: Das „Polypticum“ des Bischofs Atto von Vercelli. In ders., Kaiser, Könige und Päpste. Bd. III, 17–29. Schramm betrachtet den Traktat Attos, der den Geist der Reform Clunys atme (S. 25 ff.), „in manchem als frühen Vorläufer der Schrift Machiavellis“ (S. 29). Das „Polypticum“ stelle „vielleicht die eindrücklichste Illustration des 10. Jahrhunderts zu der Lehre vom Rex iustus und vom Tyrannus“ dar (ebd.). 509 Struve, Regnum, S. 204. Vgl. dazu auch H. Beumann, Das imperiale Königtum im 10. Jahrhundert; E. E. Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen, S. 56 ff. 510 Vgl. C. Erdmann, Das ottonische Reich als Imperium Romanum. Zur Beurteilung des Kaisertums in den Gebieten außerhalb des Reiches vgl. H. Löwe, Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit (1963). In ders., Von Cassiodor zu Dante, 231–259. 511 Vgl. die berühmte Urkunde Ottos III. von 1001 in: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 196–200 [nach: Die Urkunden Ottos III. Hgg. v. Theodor Sickel. Hannover 1893 (MGH III,4: Diplomata regum et imperatorum Germaniae. O III.), Nr. 389, S. 819 f.]. Zu Otto III. siehe G. Althoff, Otto III.; ders., Die Ottonen, S. 153 ff.; E. Eickhoff, Kaiser Otto III. Zur Entwicklung der Romidee ferner F. Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter; P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. 512 Vgl. Beumann, Die Ottonen, S. 143 ff., 152 ff.; Dirlmeier, Früh- und Hochmittelalter, S. 45; Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 212 ff.; Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 296 ff.; Struve, Regnum, S. 207 ff. 513 Einem heutigen deutschen Historiker erscheint die „Renovatio“-Idee und der Imperialismus Ottos III. hingegen als zukunftsweisende Perspektive und als mögliches Paradigma der künftigen europäischen Einigung. Vgl. M. Salewski, Deutschland. Bd. 1, S. 23: „Im Zeichen eines neu werdenden Europa des 3. Jahrtausends wird Otto III. zu einem frühen Ahn der europäischen Idee. Vielleicht war er seiner Zeit wirklich um tausend Jahre voraus“.

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Verstand, um ihre Autorität gegenüber den anderen Fürsten geltend zu machen.514 Die Instrumentalisierung der Geistlichkeit für machtpolitische Zwecke, die Einbindung der Kirchenführer ins imperiale Herrschaftssystem erwies sich jedoch als genialer Schachzug und als tragfähige Lösung. Sie gab dem deutschen Reich Stabilität und ermöglichte ihm eine Dauer, die dem Karolingerreich verwehrt war. Allerdings legte sie zugleich den Grund für die Konflikte des 11. Jahrhunderts und für die spätere „Rückständigkeit“ der Deutschen gegenüber ihren französischen und englischen Nachbarn.515 Während diese sich schon früh zu Staaten konstituierten, versperrte das Reichskirchensystem und der von ihm gestützte Feudalismus für lange Zeit diesen Weg. Auch unter den Nachfolgern der Ottonen blieb die religiös-politische Einheit gewahrt. Der Klerus erwies sich als bedeutende Stütze des politischen Systems. Die Spitzen der beiden Machtkreise übten sich in gegenseitiger Toleranz: „Die politischen Beziehungen zwischen den Kaisern und den Päpsten waren in der Zeit von Heinrich II. über Konrad II. bis zu Heinrich III. durch den Grundsatz bestimmt, einander gewähren zu lassen“.516 Erst in der Folgezeit entstanden Spannungen und Konflikte, die letztlich zum Zerfall des christlichen Reiches führten und die Staatsidee generierten. *** Damit sind die Konturen der christlichen Reichsidee umrissen und ihre wichtigsten Elemente benannt. Es handelt sich um die Vorstellung einer von Kaiser und Papst, Imperium und Sacerdotium gemeinsam geführten Universal- oder Weltmonarchie, die sich geschichtstheologisch legitimierte und ihr Wesen in ihrem imperialen oder imperialistischen Charakter hatte. Sie akzeptierte keine anderen Reiche oder „Staaten“ als gleichberechtigte Partner, sondern war bestrebt, alle Völker zu christianisieren. Ihr Ziel und Zweck (telos) war die Ausbreitung des Christentum und die Missionierung der Welt. Auf diese Aufgabe waren alle Glieder und Amtsinhaber verpflichtet. Das christliche Reich konnte sich cäsaropapistisch, hierokratisch, gewaltenteilig oder aber als Mischgebilde aus allen drei Formen und Komponenten gestalten, entscheidend war die Hinordnung auf dieses übergreifende Ziel. Religion und Politik bildeten eine untrennbare Einheit. Die Kirche sollte den umfassenden Rahmen abgeben, in den alle sozialen und politi514 Vgl. dazu Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 465: „Es war der Theorie nach unbestritten, daß der Römische Kaiser das Oberhaupt der Christenheit sei, daß er das dominium mundi besitze, daß . . . alle Fürsten ihm in ziemlichen und billigen Dingen untergeben sein sollen. Sowenig die Kaiser selbst an dieser Autorität zweifelten, so hatten sie doch zu viel Verstand, sie ernsthaft geltend zu machen; aber die leere Würde eines Römischen Kaisers galt ihnen doch genug, um alle ihre Kräfte daran zu setzen, sie in Italien zu gewinnen und zu behaupten“. 515 Zur Lage in Europa vgl. auch den Katalog von A. Wieczorek/H.-M. Hinz (Hg.), Europas Mitte um 1000; bes. Bd. 1+2: Beiträge zur Geschichte und Archäologie. 516 P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio, S. 226. Vgl. auch ebd., S. 188 ff.

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schen Einrichtungen und Aktivitäten gleichermaßen eingeordnet waren. Während die ersten Christen noch das Gottesreich und mit ihm das Ende aller Tage herbeigesehnt hatten, hoffte das spätantike und mittelalterliche Christentum auf einen Aufschub und auf die Vertagung des jüngsten Gerichts. Das Reich wurde verstanden als Kat-echon, als Aufhalter des Antichrist. Es hatte den göttlichen Willen zu vollstrecken, trug seinen Zweck somit nicht in sich selbst. Als innerweltliches Ziel der religiös-politischen Ordnung galt die Wahrung des Friedens und die Verwirklichung von Gerechtigkeit. Was als „gerecht“ und damit gottgefällig zu gelten hatte, wurde von den Regenten und/oder ihren Theologen bestimmt. Zutreffend und überaus prägnant hat Ernst-Wolfgang Böckenförde die Kernbestandteile der christlich-mittelalterlichen Leitidee und ihren Zusammenhang beschrieben. In seinen Ausführungen verdichten sich die Resultate der oben rekonstruierten Gesamtentwicklung. Sie können folglich als Synopse der Ergebnisse dieses Kapitels gelesen und sollen deshalb ausführlich zitiert werden:517 „Diese Ordnung war nicht nur ,christlich‘ bestimmt in der Weise, daß das Christentum anerkannte Grundlage der politischen Ordnung war, sie war in sich selbst, in ihrer Substanz, sakral und religiös geformt, eine heilige Ordnung, die alle Lebensbereiche umfaßte, noch ganz ungeschieden nach ,geistlich‘ und ,weltlich‘, ,Kirche‘ und ,Staat‘. Das ,Reich‘ lebte nicht aus römischem Kaisererbe, wenngleich es daran anknüpfte, sondern aus christlicher Geschichtstheologie und Endzeiterwartung, es war das Reich des populus christianus, Erscheinungsform der ecclesia, und als solches ganz einbezogen in den Auftrag, das ,regnum Dei‘ auf Erden zu verwirklichen und den Ansturm des Bösen im gegenwärtigen Äon aufzuhalten (kat-echon). Kaiser und Papst waren nicht Repräsentanten einerseits der geistlichen, andererseits der weltlichen Ordnung, beide standen vielmehr innerhalb der einen ecclesia als Inhaber verschiedener Ämter (ordines), der Kaiser als Vogt und Schirmherr der Christenheit ebenso eine geweihte, geheiligte Person (Novus Salomon) wie der Papst: in beiden lebte die res publica christiana als religiös-politische Einheit. Das politische Geschehen war so von vornherein eingebunden in das christliche Geschichtsbild, erhielt von ihm aus seine Richtung und seine Legitimation.“

Die Idee der Civitas oder Respublica Christiana basiert auf den im Vorhergehenden gesondert thematisierten Entwicklungen: zum einen auf der Entstehung einer hierarchisch geordneten Anstaltskirche, die an die Stelle der pneumatischen Einheit der jesuanisch-paulinischen Ekklesia trat; zum anderen auf der Hinwendung der Christen zum Imperium Romanum infolge der Konstantinischen Wende. Zwar kam es immer wieder zu Schismen, zwar gab es permanente Streitigkeiten über die richtige Lehre und die jeweiligen Kompetenzen der kaiserlichen und priesterlichen Amtsinhaber innerhalb der alles umspannenden Kirche, doch kam es vor dem 11. Jahrhundert nie zu einem wirklichen Bruch zwischen Imperium und Sacerdotium. Die augustinsche Unterscheidung der civitas Dei von der civitas terrena, die das künftige Denken lenkte, führte zu keiner Trennung 517

E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 44 f.

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zwischen geistlich und weltlich. Sie spornte nur zu immer neuen moralischen Belehrungen und Ermahnungen der Mächtigen an. Erst am Ende aller Tage sollte Bilanz gezogen und die Gemeinschaft der Auserwählten von jener der Verdammten gesondert werden. Bis dahin waren alle Christenmenschen zur Demut und zur willigen Vollstreckung des göttlichen Auftrags aufgerufen. Eine Mitarbeit in der politischen Verwaltung, eine Beteiligung an den „öffentlichen Angelegenheiten“ der religiös-politischen Einheitswelt war weder gefordert noch verboten. Sie diente nicht dem eigenen Seelenheil und der Vervollkommnung des Menschen, konnte ihm allerdings auch nicht schaden, sofern sie sich nur stets am Willen des dreieinigen Gottes orientierte, den die Kirchenväter und die Bischöfe verbindlich interpretierten. Das christliche Reich, das keine Trennung zwischen Religion und Politik erlaubte, sollte die Grundlagen schaffen für die Befriedung des gesamten Erdkreises, für die Verwirklichung von Gerechtigkeit und für die Vorbereitung der Menschheit auf das Himmelreich. Die christliche Reichsidee verschmilzt die Elemente des alttestamentalischorientalischen und des hellenistisch-römischen Denkens auf der Basis der neuen Eschatologie. In ihr sind die Versatzstücke der früheren Politik- und Herrschaftstheorien in eine große Synthese gebracht. Faßt man die Neuerungen ins Auge, die durch sie im Vergleich zum griechischen Politikdenken in die Welt gekommen sind, so scheinen folgende Punkte besonders wichtig: 1. Der erste prinzipielle Umbruch betrifft die Ordnungsvorstellung als solche, die Hinwendung von der Polis zum Großreich, d. h. zu einer transpersonalen, völkerübergreifenden Einheit, deren Ordnung über den Köpfen der einzelnen hing, die aber dennoch personalisiert, mit der Gestalt des jeweiligen Herrschers identifiziert wurde. Wie schon im altorientalischen und im hellenistisch-römischen so avancierte auch im christlichen Reichsdenken der Kaiser zum Repräsentanten des Göttlichen (vicarius Dei) auf Erden. Zusammen mit dem Papst und den Bischöfen hatte er die Doppelfunktion des Dominus und des Pastors auszuüben. Die Politik des Reiches ereignete sich nicht in der herrschaftsfreien Interaktion der sich versammelnden Bürgerschaft, sondern wurde von den Machthabern herrschaftlich durchgesetzt. Das Reich war folglich keine vergrößerte Polis, sondern ein Riesen-Oikos. Es wurde verstanden als „Haus“ des Kaisers, in dem dieser die Rolle eines „Familienvaters“ zu spielen hatte, der – in Kooperation mit den Kirchenrepräsentanten – seine Kinder und Untertanen auf den Pfad der Tugend lenkt und ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit Sorge trägt. Seine Regierung sollte Abbild der göttlichen Weltregierung sein und sich folglich den herrschenden Sitten bzw. den Maximen der christlichen Ethik unterwerfen. Die mystische Einheit des Reiches wurde legitimiert durch den Glauben an den dreieinigen Gott. 2. Mit der politischen Ordnungsvorstellung wandelte sich das Weltbild insgesamt. Die griechische Kosmos-Vorstellung war in sich zusammengebrochen, das mit ihr verknüpfte „Urvertrauen“ (Friedrich Heer) verlorengegangen. Eine Kluft zwischen Gott und Welt, Mensch und Natur hatte sich aufgetan, die durch neue

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

Mittler überbrückt werden mußte. Den Kräften des Guten standen die des Bösen und die Dämonen gegenüber, die von den Göttern bzw. dem einen jüdisch-christlichen Schöpfer- und Erlösergott und seinen irdischen Stellvertretern bekämpft und schließlich bezwungen werden sollten. Infolgedessen änderte sich zugleich das menschliche Selbstverständnis. Die Stellung des Menschen in der Welt war unsicher und prekär geworden. Die „schöne glückliche Freiheit der Griechen“ (Hegel) war vorüber und einer allgemeinen Unfreiheit gewichen. Wie einst die jüdischen Propheten so machten auch die christlichen Kirchenväter die Menschheit selbst für ihr Unglück verantwortlich, indem sie einzelne Schicksalsschläge und das allgemeine Elend auf den Sündenfall und die zwiespältige menschliche Natur zurückführten. Dadurch wurde das schlechte Gewissen weiter geschürt. Während im antiken Judentum der Glaube ans göttliche Gesetz und die Verheißung des gelobten Landes für die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs durch die Unwägbarkeiten des alltäglichen Lebens geleiten konnte, während im Römischen Imperium das abstrakte Recht an die Stelle der griechischen Sittlichkeit trat, durchbrach das Christentum mit dem Prinzip der Gottes- und der Nächstenliebe den Ethnozentrismus und den Nomismus, die Fixierung auf die Abstammungsgemeinschaft und die Apotheose des Gesetzes. Es radikalisierte den antiken Euergetismus und entwickelte ethische Grundsätze, die universale Geltung beanspruchten. Der Gedanke der gegenseitigen Fürsorge ging auch im Zuge der Christianisierung des Reiches nicht verloren. Er fand immer wieder Fürsprecher und Aktivisten, die bereit waren, sich für ihn aufzuopfern. 3. Hatten die alten Griechen ihre Erwartungen auf den unveränderlichen Kosmos gerichtet und ihren Lebenssinn in der jeweiligen Gegenwart gesucht, so konzentrierten sich die Hoffnungen des Juden- und Christentums auf die Geschichte und die Zukunft. Mit dem Erfahrungsraum verschob sich der Erwartungshorizont: die Zeit wurde anstelle des Raums zum zentralen Medium der Erfahrung und Erwartung. Die Menschen definierten sich ferner im Hinblick auf den transzendenten Gott und auf das irdische Endgeschick, d. h. eschatologisch. Die Gegenwart wurde betrachtet als bloßes Durchgangsstadium, als Vorstufe oder Etappe zum Gottesreich. Dadurch wurde eine geschichtstheologische Perspektive gewonnen, die den alten Griechen gänzlich fremd geblieben war. Abgesehen von den Weltalter-Spekulationen Hesiods, hatten sie die Geschichte nicht als sinnhafte Abfolge von Handlungsabläufen und Ereignisketten begriffen, sondern als ein kontingentes Geschehen. Sie hatte kein Telos, d. h. keinen Sinn und insbesondere kein Ziel. Dies änderte sich abrupt in der jüdisch-christlichen Tradition. Das irdische Leben in der Gegenwart wurde einerseits entwertet, indem es zur Leidensstrecke auf dem Weg zum Gottesreichs erklärt und ausschließlich hinsichtlich seiner Leistungen für die entsprechende Vorbereitung beurteilt wurde. Es erfuhr andererseits eine Aufwertung, indem es eingeordnet wurde in ein weltgeschichtliches Heilsgeschehen, das einem Endziel zustrebt und den einzelnen Ereignissen Signifikanz und Relevanz und eine höhere Rationalität vermitteln

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konnte. Es erhielt seinen Sinn nicht aus der Gegenwart, sondern von der Zukunft her, die für das gestern und heute erfahrene Leid entschädigen sollte. Der einzelne Mensch erschien nicht länger als bloßes Individuum, sondern als Glied einer umfassenden Gemeinschaft, die seinem Dasein Sinn und Wert vermitteln konnte. Er partizipierte an der göttlichen Ratio, die das gesamte Kollektiv und damit auch ihn selbst durchströmte. Dadurch wurde den einzelnen der Blick in eine überpersonale Sphäre geöffnet, die wesenhafter, sinnerfüllter und substantieller sein sollte als ihr je eigenes Dasein. Sie konnten sich als Momente einer Totalität begreifen, die ihrer Existenz Rang und Würde verlieh.518 Während im Judentum die gemeinsame Abstammung von Abraham, Isaak und Jacob und die Orientierung an der Thora diese Einheit stiftete, trat im Christentum die Glaubensgemeinschaft an ihre Stelle. War diese Gemeinschaft im Urchristentum zunächst auf die einzelnen Gemeinden beschränkt und eine rein spirituelle Einheit, so wurde sie im Gefolge der Konstantinischen Wende im christlichen Reich zu einer konkret erfahrbaren Realität. Ziel der christlichen Botschaft und Theologie war es entsprechend, die ausgebeuteten und geknechteten Menschen über ihr irdisches Schicksal hinwegzutrösten. 4. Dieser Geschichtsauffassung entsprach ein anderes Verständnis der Praxis. Das menschliche Handeln trug seinen Zweck nicht länger in sich selbst, sondern wurde zum bloßen Mittel zur Erreichung der göttlichen Gnade und der ewigen Seligkeit. Es wurde herabgestuft zu einem Instrument der Exekution des göttlichen Willens und der Vorbereitung auf das Gottesreich, gewann somit poietischen oder technischen Charakter. Selbst dieser Sinn wurde ihm noch abgesprochen durch die Gnadenlehre Augustins, derzufolge Gottes Wahl und Ratschluß durch menschliche Aktivitäten nicht beeinflußt werden kann. Die grundsätzliche Entwertung der Praxis schloß die der Politik mit ein. Der Maßstab der Politik lag nicht mehr in ihr selbst, sondern in der Transzendenz, d. h. in einem transpolitischen Ort. Sie sollte der Verbreitung des Christentums und damit missionarischen Aufgaben dienen. Die Religion legitimierte so den imperialistischen Charakter, den das Römische Reich ohnehin bereits hatte. Das Politische spaltete sich auf und gewann einen Doppelcharakter: während die Oberschichten an der Reichsverwaltung partizipierten, sahen sich die Angehörigen der unteren und mittleren Schichten auf sich selbst zurückgeworfen. Sie konnten ihr Selbstwertgefühl im Rahmen der imperialen Ordnung nicht aus der Partizipation an öffentlich-diskursiven Willensbildungsprozessen beziehen, sahen sich deshalb genötigt, einen Er518 Die christliche Verkündigung und Theologie erfüllte damit jene Aufgabe, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Philosophie des Deutschen Idealismus und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die aus dem Neukantianismus hervorgehende Sozialphilosophie übernahm: Sie kam „der Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung des in seinem individuellen Glücksstreben gehemmten Lebens entgegen“ und bemühte sich, „die aussichtslose Einzelexistenz wieder einzusenken in den Schoß oder – um mit Sombart zu reden – in den ,Goldgrund‘ sinnvoller Totalitäten“ (M. Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, S. 38).

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IV. Die jüdisch-christliche Tradition

satz für die politische Beteiligung zu suchen und neue Formen der Gemeinschaftsbildung zu kreieren. Sie kompensierten ihren – freiwilligen oder erzwungenen – Ausschluß durch die Entwicklung neuer, religiös inspirierter Muster der Kommunikation und Interaktion. 5. Die religiösen Gemeinden rückten in die freigewordene Stelle der alten Polis und übernahmen ihre Integrations- und Sozialisations-Funktionen. Mit der Ausbreitung und Etablierung des Christentums wandelte sich die pneumatische Einheit jedoch zur kirchlichen Anstalt, die den politischen Elan der gemeinen Glieder absorbierte. Die Kirchenführer schwangen sich zu Oberhirten auf und monopolisierten die entstehenden Machtpositionen. Sie legten die Glaubensinhalte verbindlich fest, beanspruchten die Leitung der Gottesdienste und erstrebten Einfluß auf die Reichspolitik. Politische Beteiligung und Mitbestimmung der „Laien“ schien dagegen entbehrlich und wurde folglich nicht länger als Voraussetzung eines geglückten Lebens betrachtet. Eine neue, individualistische bzw. personalistische Ethik trat an die Stelle der klassischen Politik. Infolge der politischen Abstinenz der einfachen Glaubensbrüder festigte sich die Macht ihrer Oberhäupter, was wiederum ihre politischen Ambitionen animierte. Eine Trennung zwischen Mensch und Bürger war nicht vorgesehen. Der ganze Mensch wurde von den Inhabern der Machtpositionen in Anspruch genommen.519 Während das Urchristentum einst den Rückzug aus der Politik propagiert und vollzogen hatte, bemühte sich das spätantike und mittelalterliche Christentum um eine Christianisierung der Politik durch gesteigertes Engagement der Bischöfe und Päpste. Die Vorstellung einer von Kaiser und Papst gemeinsam geführten Universal- oder Weltmonarchie leitete das „politische“ Denken des frühen und hohen Mittelalters. Sie wurde erst im 11. Jahrhundert erschüttert und geriet schließlich in eine schwere Krise, die zu unlösbaren Anomalien und zu heftigen Konflikten führte, die in der Folgezeit neue Ordnungsvorstellungen provozierten.

519 Der „Anspruch auf den ganzen Menschen“ und die „Orientierung am Ziel des neuen Menschen“ macht laut H. A. Winkler (Schlagt nach bei Marx. In: FAZ v. 19.6. 1998, S. 43) das Wesen des „Totalitarismus“ und die entscheidende Übereinstimmung zwischen faschistischer und kommunistischer Diktatur aus, die es rechtfertige, beide unter das Adjektiv „totalitär“ zu subsumieren. Da dieser Anspruch aber bereits im spätantiken und mittelalterlichen Christentum leitend wurde, hat H. Ebeling (Die beschädigte Nation, bes. S. 11 ff.) schon früher darauf insistiert, das Christentum als dritte, in Europa als einzige noch existierende Gestalt des „Totalitarismus“ zu begreifen und zu bekämpfen.

V. Der Drang zum Staat Die Morgendämmerung des Staates beginnt mit der Papstrevolution des späten 11. Jahrhunderts. Sie wurde ausgelöst durch den Rückzug der Kirche aus dem umfassenden Herrschaftsverband des christlichen Reiches. Dadurch wurde die überkommene Vorstellungswelt des Mittelalters zerstört und die neuzeitliche Staatsidee auf den Weg gebracht. Indem die Kirche aus der universalen, die einzelnen Königreiche (Regna) übergreifenden Einheit der Ekklesia ausbrach, verlor das Reich (Imperium) seine Schutzfunktion und hörte auf, Universalmonarchie und integrierende Instanz Europas zu sein. Die kaiserliche Macht und Autorität begann zu wanken. Die auseinanderstrebenden Territorien verselbständigten sich, die Entstehung und Konsolidierung von Staaten war eingeleitet. Daß der ehemalige Mönch Hildebrand wußte oder ahnte, welch folgenreiche Entwicklung er in Gang setzte, als er – nunmehr Papst Gregor VII. – 1075 den Dictatus Papae redigierte und 1076 den Bann über Heinrich IV. verhängte, darf ausgeschlossen werden. Er zerstörte den mittelalterlichen Kosmos, die Einheitswelt des orbis christianus. Dies war keineswegs seine Absicht gewesen. Sein Ziel war die Reform der Kirche, die Eindämmung der feudalen und lokalen Einflüsse und der mit ihnen verknüpften Korruption. Die Reform, die sich zur Revolution steigerte, zielte zunächst nur auf die Beseitigung der Simonie und des Nikolaitismus, des Ämterschachers und der Priesterehe, d. h. der katholischen Pfründen- und Vetternwirtschaft. Führend hierbei waren die Reformer aus dem Kloster in Cluny, die sich bereits im 10. Jahrhundert gegen die verderblichen Folgen der „Säkularisierung“ und „Instrumentalisierung“ der Religion für ökonomische Zwecke gewandt hatten und nunmehr mit Gregor/Hildebrand den Schutzherrn der Ekklesia selbst attackierten. Folge der Zurückdrängung des weltlichen Einflusses auf die inneren Angelegenheiten der Kirche war die Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt und die Verselbständigung der Kirche zu einem eigenständigen Apparat mit eigener Jurisdiktion. Dadurch wurde die überkommene religiös-politische Einheitswelt gesprengt und die politische Gewalt aus der geistlichen Umklammerung und Bevormundung freigesetzt. „Die päpstliche Revolution ließ den modernen westlichen Staat entstehen – und dessen erstes Beispiel war paradoxerweise die Kirche selbst“, schreibt H. J. Berman treffend. „Die päpstliche Revolution schuf zum erstenmal einen selbständigen, autonomen kirchlichen Staat und einen selbständigen, autonomen Korpus des kirchlichen Rechts . . . Und eben dadurch schuf sie zum erstenmal politische Gebilde ohne kirchliche Funktionen und nichtkirchliche Rechtsordnun-

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V. Der Drang zum Staat

gen“.1 Und E.-W. Böckenförde konstatiert: „Die Träger des geistlichen Amtes beanspruchten alles Geistliche, Sakrale, Heilige für sich und die von ihnen gebildete ,ecclesia‘. Diese ecclesia löste sich als eigene, sich juristisch verfassende, sakramentalhierarchische Institution aus der umfassenden Einheit des orbis christianus – der alten ecclesia“.2 Sie beanspruchte, das religiös-politische Ganze zu sein und brachte dadurch die auf ihre Eigenrechte und Kompetenzen pochende weltliche Herrschaft auf ihre eigene Bahn. Durch den gregorianischen ,Radikalismus‘ „wurde die weltliche Herrschaft erstmals selbstbewußt und eigenständig und begann sich, gerade auch nach kirchlichem Modell, zum rationalen Staat, zum institutionellen Flächenstaat unter dem ,kältenden nüchternden Hauch der Staatsräson‘ umzuwandeln“.3 Die Staatsidee bildet das Resultat des Scheiterns der katholischen Erwartung, daß durch das harmonische Mit- und Gegeneinander von Kaiser und Papst, Imperium und Sacerdotium – als Glieder/Ordines der universalen Ekklesia – die ganze Menschheit zum christlichen Glauben bekehrt, die Welt befriedet und eine „gute“, d. h. gottgerechte Ordnung errichtet werden könne. Diese Vorstellung zerbrach nicht erst mit der Reformation des 16. Jahrhunderts,4 sondern bereits mit der Papstrevolution. Die Reformation hat nur vollendet, was mit dem „Investiturstreit“ begonnen wurde. Sie hat „weder Bruch noch Zäsur in Europas Gesellschaft und Kultur hervorgerufen, sondern nur zu Ende geführt, was schon seit dem 11. Jahrhundert die Menschen stark und in großer Zahl bewegte und was, nach der Meinung Niccolò Machiavellis, um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert dem Bruch in der Kirche entgegentrieb“.5 Die Enttäuschungsverarbeitung auf seiten der entsakralisierten weltlichen Gewalt und der sich aus religiösem Dogmatismus emanzipierenden Philosophie und Jurisprudenz bestand im allmählichen Rückzug auf den Staat als einer aus ihrer Heilsfunktion und ihrer historischen Mission entlassenen Institution, die nun anstelle des heiligen Reiches die Selbsterhaltung der europäischen Völker sichern und für Gerechtigkeit sorgen sollte. Gleichwohl blieb diese Option noch lange Zeit umstritten. Die Staatswerdung der europäischen Gesellschaften war nur eine von mehreren Alternativen. Bedeutende Denker hielten noch lange Zeit am Gedanken einer Universalmonarchie fest, die unter der Regie des Kaisers (Dante Alighieri) oder aber des Papstes (Aegidius Romanus) die alte Reichsidee verwirklichen sollte. Andere votierten für die Autonomie der Städte und Kommunen (Postglossatoren, Bartolus von Sassoferrato). Dennoch setzte sich letztlich die 1

H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 190, 439. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 45. 3 K. Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund des mittelalterlichen Weltbildes, S. 182. Vgl. ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, S. 388 ff. 4 So C. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 30, 97, passim. 5 Bosl, Reformorden, Ketzer und religiöse Bewegungen, S. 243. 2

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter

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Form Staat politisch durch. Folge dieser Entwicklung war die Entzauberung der politischen Welt als Moment der allgemeinen „Rationalisierung“ und „Entzauberung der Welt“ (Max Weber), die in der Neuzeit jedoch zahlreiche Versuche einer Wiederverzauberung provozierte. Aufgabe dieses Kapitels ist die Rekonstruktion dieser Desillusionierung, der abendländischen Enttäuschungserfahrung und -verarbeitung. Im ersten Schritt wird der hochmittelalterliche Kampf ums Reich rekonstruiert (1). Sodann werden die Krisensymptome des christlichen Reiches und der Niedergang der Reichsidee im Spätmittelalter thematisiert (2). Schließlich wird die Lösung der Konflikte im entstehenden europäischen Staatensystem und die Genese der klassischen Staatstheorie in ihrer Entwicklung von Machiavelli über Hobbes bis hin zu Hegel untersucht (3).

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter Das Christentum war längst die unangefochtene Religion des Abendlandes. Aus der kleinen Schar galiläischer Juden war eine die Welt umspannende Gemeinschaft geworden. Weitere Missionen und Ausbreitungen nach Norden und Osten und die Rückeroberung der vom Islam beherrschten Gebiete auf der iberischen Halbinsel (Reconquista) sowie in Vorderasien und Nordafrika (Kreuzzüge) standen an.6 Streit gab es nicht mehr um den Glauben an den Gekreuzigten und seine Auferstehung, sondern allenfalls um die daraus folgende richtige Lehre und die ihr gemäße Gestalt der Kirche. Auch der Islam erhob seit dem 7. Jahrhundert den Anspruch, das „wahre Christentum“ zu sein,7 und rivalisierte mit den abendländischen Christen und den Juden8 hinsichtlich der adäquaten Vollstreckung der Bestimmungen des Alten Testaments.9 Die das westliche Denken leitende Idee 6 Vgl. H. Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter, S. 2: „Nach dem Zusammenbruch der kurzfristigen Großmachtbildungen Knuts d. Gr. von Dänemark (y 1035), Boleslaws des Tapferen von Polen (y 1025) und insbesondere Almanzors (y 1002) im Kalifat von Córdoba wurde die Glaubensausbreitung noch einmal zu einem Ferment neuer Staatenbildung.“ Zur Mission und Bistumsgründung vgl. auch M. Borgolte, Die mittelalterliche Kirche, S. 12 ff. (Literatur S. 129 ff.). Zur Heidenmission siehe auch H. Beumann (Hg.), Heidenmission und Kreuzzugsgedanke. Zur weiteren Ausbreitung seit der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts ferner J. Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 125 ff. 7 Zur Entstehung und Entwicklung des Islams und seiner politischen Ideen vgl. P. Antes, Muhammad; ders., Islam; C. Cahen, Der Islam I; G. E. v. Grunebaum (Hg.), Der Islam II; D. Mertens, Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, S. 151 ff.; B. Tibi, Politisches Denken im klassischen und mittelalterlichen Islam. 8 Zur Entwicklung des Judentums im bzw. zum „jüdischen Mittelalter“ vgl. den Überblick von G. Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur, S. 104 ff. (weitere Literatur: S. 242 ff.). 9 Da die islamische Welt keine „Papstrevolution“ und folglich keine Trennung von Religion und Politik erlebte, konnte in ihr auch kein Staat entstehen (diese Form wurde erst sehr spät ansatzweise von Europa übernommen). Deshalb muß die außereuropäische Entwicklung hier nicht nachgezeichnet werden.

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V. Der Drang zum Staat

der von Kaiser und Papst gemeinsam geführten Weltmonarchie geriet im hohen Mittelalter10 jedoch in eine harte Bewährungsprobe. Sowohl der Gedanke der Universalmonarchie wie die Hoffnung auf eine christliche Bestimmung derselben wurde erschüttert durch die Anomalien und Konflikte, die im alten Paradigma nicht mehr zu lösen waren.11 Das Reich selbst schlitterte in eine schwere und lange währende Krise, die schließlich den Staat als neue Ordnungsform und Gestalt des Politischen entstehen ließ. Der Grund für diese Entwicklungen lag in den von den Karolingern und Ottonen geschaffenen Strukturen und Verhältnissen. Dem gewachsenen Selbstverständnis zum Trotz waren die Päpste und Bischöfe im 10. Jahrhundert zum Spielball kaiserlicher und fürstlicher Machtpolitik geworden. Manche geistliche Würdenträger waren „zu Befehlsempfängern von Grafen herabgesunken, das Sozialprestige des Weltklerus bildete keine gesicherte Größe“.12 Verantwortlich für diese Situation war der Feudalisierungsprozeß, der mittlerweile alle sozialen Einrichtungen und damit auch die Kirche ergriffen und in seinen Bann gezogen hatte. Auslöser der Erschütterung war die unübersehbare Diskrepanz zwischen den überkommenen Ideen und der schlechten Wirklichkeit des christlichen Reiches. Das alte Ordo-Ideal13 wurde durch die tatsächlichen Verhältnisse konterkariert. Gegen die Verfilzung von Religion und Politik und die Verkrustung der feudalen Herrschaftsverhältnisse erhoben sich im 11. Jahrhundert neue Protest- und Rückzugsbewegungen, die sich auf die urchristlichen Werte zurückbesannen, ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit, Bescheidenheit und Armut, in Gottes- und Nächstenliebe propagierten und durch ihre nachhaltige Wirkung auf breite Bevölkerungskreise eine neuerliche Wertrevolution provozierten.

10 Zum Begriff, zur unterschiedlichen nationalen Periodisierung und zu den Problemen der zeitlichen Begrenzung des „Hochmittelalters“ vgl. etwa M. Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt, S. 337 ff.; H. Fuhrmann, Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter, S. 28 f. Von den deutschen Mediävisten der Gegenwart wird der Begriff Hochmittelalter zumeist reserviert für die Zeit von der Mitte des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts bzw. bis zum Ende der Stauferherrschaft in der Mitte des 13. Jahrhunderts. In der vorliegenden Untersuchung wird das letzte Aufbäumen des imperialen Denkens unter Friedrich II. als Auftakt des Spätmittelalters betrachtet, ohne daß damit eine absolute Zäsur behauptet wird. Vielmehr wird jegliche historische Epocheneinteilung als bloßes heuristisches Mittel betrachtet, das der Schaffung von Übersichtlichkeit dient. 11 Zur Entwicklung des Politikdenkens im Hochmittelalter vgl. generell R. W. Carlyle/A. J. Carlyle, A History of mediaeval political Theory in the West. Bd. 3: Political Theory from the tenth Century to the thirteenth; Bd. 4: The Theories of the Relation of the Empire and the Papacy from the tenth Century to the twelfth. 12 H. Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts, S. 15. Zur Lage der Kirche im 11. Jahrhundert vgl. auch A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 3, bes. S. 387 ff.; F. Kempf, Die Kirche im Zeitalter der Gregorianischen Reform; G. Tellenbach, Libertas; ders., Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert. 13 Vgl. dazu Bosl, Reformorden, S. 247 ff.; ders., Der theologisch-theozentrische Grund, bes. S. 181 ff.; Fichtenau, Lebensordnungen, bes. S. 11 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen).

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter

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Den religiös-politischen und geistigen Entwicklungen lagen ökonomisch-technische und soziale Veränderungen zugrunde.14 Hatte das Frühmittelalter noch mit den Tücken einer übermächtigen Natur zu kämpfen, so war im Hochmittelalter die Natur „halbwegs gebändigt“.15 Das „zweite Feudalzeitalter“ begann.16 Ein starkes Bevölkerungswachstum setzte ein. Fortschritte in der Kolonisation und der landwirtschaftlichen Produktion (neue Rodungen, Ausdehnung der Dreifelderwirtschaft, verbesserte Werkzeuge etc.) wurden erzielt.17 Der Handel erfuhr eine Neubelebung, der Aufstieg der Städte schuf neue Freiheitsräume und setzte der feudalen Vasallentreue die auf rechtlicher Gleichheit basierende kommunale Schwurverbrüderung entgegen.18 Die Feudalordnung erfuhr eine entscheidende Transformation. In Frankreich und Italien fächerte sie sich auf in Vasallitäten (capitanei, valvassores) und Bürger, in Deutschland entstanden die neuen „Stände“ der Ministerialen, des Bürgertums und der (Frei-)Bauern.19 Zwar blieb die Lebenswelt der einfachen Menschen armselig und ihre Technik unzulänglich, zwar wurden die Frauen wie schon in der Antike und im Frühen Mittelalter unterdrückt,20 14 Vgl. die jüngeren Gesamtdarstellungen von G. Barraclough, History in a changing world; Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt; Bosl, Europa im Aufbruch; ders., Staat, Gesellschaft, Wirtschaft; Fuhrmann, Deutsche Geschichte; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 33 ff.; A. Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung; Jakobs, Kirchenreform, bes. S. 3 ff., 87 ff.; K. Jordan, Investiturstreit und frühe Stauferzeit; H. Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont, bes. S. 257 ff.; R. I. Moore, Die erste europäische Revolution, bes. S. 59 ff.; F. Seibt, Die Begründung Europas; T. Schieder (Hg.), Handbuch. Bd. 2; R. W. Southern, Gestaltende Kräfte des Mittelalters; ders., Kirche und Gesellschaft im Abendland des Mittelalters; R. Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter. 15 A. Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, S. 11. 16 Vgl. M. Bloch, Die Feudalgesellschaft, bes. (Bd. 1), S. 81 ff.; G. Duby, La société aux XIe et XIIe siècles dans la région mâconnaise; ders., Die drei Ordnungen, S. 219 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 14 ff. Kritisch zur These vom „zweiten Feudalzeitalter“ äußert sich Fichtenau, Lebensordnungen, S. 567 ff. Vgl. auch die jüngere Debatte um den Topos „feudale Revolution“: D. Barthélemy, La mutation féodale a-telle eu lieu? Note critique; T. N. Bisson, The ,Feudal Revolution‘; S. D. White, Debate: The ,Feudal Revolution‘. 17 Vgl. W. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur; J. Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Bd. 1: Das Mittelalter; H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Bd. 1, S. 119 ff.; W. Roesener, Bauern im Mittelalter, S. 119 ff. 18 Vgl. dazu L. Benevolo, Die Stadt, S. 45 ff.; Berman, Recht und Revolution, S. 562 ff.; G. Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee der mittelalterlichen Stadt; E. Engel, Die deutsche Stadt des Mittelalters; E. Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, S. 51 ff.; C. Haase (Hg.), Die Stadt des Mittelalters; L. Mumford, The City in History; H. Pirenne, Medieval Cities. 19 Zur Ständedifferenzierung und zum Aufstieg der Ministerialen vgl. Bosl, Reformorden, S. 244 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 62 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 6, 115 ff., 128 f., 140 (weitere Literatur: S. 196 ff.); Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 126 ff., 270 ff. (Literatur: S. 527 f.). 20 Zu ihrer Lage vgl. E. Ennen, Frauen im Mittelalter; C. Klapisch-Zuber (Hg.): Mittelalter; G. Koch, Frauenfrage und Ketzertum im Mittelalter.

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V. Der Drang zum Staat

zwar gab es weiterhin Plagen und Ängste, doch führten diese Faktoren in der Mitte des 11. Jahrhunderts vorübergehend zum Rückgang der Hungersnöte und zu einem allgemeinen materiellen Aufschwung im Westen. Die geistige Energie konnte sich deshalb verstärkt auf die religiös-politischen und zwischenmenschlichen Angelegenheiten konzentrieren, die ziemlich im Argen lagen. Das Gemenge von weltlich-geistlicher Herrschaft hatte zu einer neuen Unübersichtlichkeit geführt, die nach Aufklärung verlangte. Fehden unter den mächtigen Adelsfamilien standen auf der Tagesordnung und bedrohten das Leben auch der kleinen Leute.21 Kritische Stimmen erhoben sich. Eine allgemeine Aufbruchsstimmung entstand. Innerhalb des Christentums tauchten wieder revolutionäre Kräfte auf, die das eingerostete Ordnungsgefüge zu durchbrechen versuchten. Von Frankreich ausgehend entwickelte sich eine mächtige Friedensbewegung, die schließlich auch in Deutschland Fuß fassen konnte.22 Sie zwang die Könige, die zwischen den Großen ihrer Reiche zu vermitteln und für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen hatten, zum Eingreifen und zum aktiven Handeln. Religiöse Volksbewegungen, Armutsbewegungen, monastische Reformorden und neue Häresien rieben sich an den verknöcherten Herrschaftsverhältnissen im Reich, in der Kirche und in den einzelnen Territorien.23 Die unterschiedlichen Widerstandspotentiale und Reformbestrebungen schaukelten sich gegenseitig hoch und steigerten sich zur Revolution.24 Die westliche Rechtstradition wurde geboren und

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Zu den mittelalterlichen Fehden vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft, S. 1 ff.; G. Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Brunner vgl. H. Mitteis, Land und Herrschaft, S. 26 ff.; G. Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren. 22 Zur Entstehung der Gottesfriedensbewegung vgl. C. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 51 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 5 f., 18 (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung: S. 101 f.; Literatur: S. 188); Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 59 f., 69 f., passim. 23 Zur Entstehung und Entwicklung der religiösen Armuts- und Protestbewegungen und der neuen Häresien vgl. Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, S. 199 ff.; Bosl, Reformorden, S. 250 ff.; K. A. Fink, Papsttum und Kirche im abendländischen Mittelalter, S. 92 ff., 193 ff.; J. Fearns (Hg.), Ketzer und Ketzerbekämpfung im Hochmittelalter; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 146 ff.; H. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter; ders., Ketzergeschichte des Mittelalters; W. Hartmann, Der Investiturstreit, S. 56 ff.; Jakobs, Kirchenreform, bes. S. 100 ff. (Literatur: S. 185 ff.); M. Lambert, Häresien im Mittelalte; E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen I, S. 383 ff.; E. Werner, Häresie und Gesellschaft im 11. Jahrhundert; ders., Pauperes Christi. 24 Zum revolutionären Charakter der Entwicklung vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 168 ff. Er äußert sich nach Berman in vier Faktoren: 1. in der Totalität der Umwandlung, die alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens erfaßte; 2. in der Schnelligkeit, mit der die durchgreifenden Veränderungen stattfanden; 3. in ihrer Gewaltsamkeit, die sich sowohl in Bürgerkriegen als auch in Expansionskriegen äußerte; 4. in ihrer generationenübergreifenden Dauer. Berman folgt bei seiner Charakterisierung E. Rosenstock-Huessy, The Driving Power of Western Civilization und R. W. Southern, Western Society and the Church in the Middle Ages.

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter

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mit ihr der Staat. Karl Bosl faßt die wichtigsten Trends der damaligen Zeit wie folgt zusammen:25 „Der ,Aufbruch‘ Europas seit dem 11. Jahrhundert war getragen von einem starken Wachstum der Bevölkerung, einer Steigerung der Produktion nach der Befreiung des Handwerks aus dem grundherrschaftlichen Verband, einer Ausweitung von Handel, Verkehr und Geldumlauf, von einem Wachstum des Lebensniveaus, der Lebensbedürfnisse und der Lebensqualität bei Ober- und Unterschichten. Die Menschen bewegten sich über weite Strecken, begannen zu wandern, ihr Erfahrungshorizont erweiterte sich und eine neue europäische Öffentlichkeit (Höfe, Klöster, Universitäten, Baubewegung) entstand . . . In Philosophie und Theologie tauchte eine neue ,Rationalität‘ auf, die erste Aufklärung erhellte religiös und intellektuell die Kleriker und Geister Europas“.

Ein erster Schub in Richtung funktionaler Differenzierung setzte ein, der zwar die Grundlagen der hierarchisch stratifizierten Gesellschaft nicht aus den Angeln heben konnte, der aber doch zu gehörigen Reibungen führte und die Wege für die künftige Entwicklung ebnete. Allerdings kam der besagte Aufschwung nicht allen Schichten gleichermaßen zugute. Die Leibeigenen spürten nur wenig davon.26 Er war ferner nicht von allzu langer Dauer und wurde durch das rapide Bevölkerungswachstum bald wieder eingeholt und zunichte gemacht. Schon gegen Ende des 11. Jahrhunderts war die Landwirtschaft nicht mehr in der Lage, den gewachsenen Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken. Eine neue Armut entstand, die in schroffem Kontrast stand zum üppigen Leben der Ritter und Aristokraten.27 Sie bildete die Kehrseite der neuen Mobilität und führte in weiten Teilen Deutschlands und Reichsitaliens zu Unsicherheit und Verelendung, zu Zusammenrottungen vagabundierender Armer und letztlich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Erst gegen Ende der Regentschaft Friedrich Barbarossas (1152– 1190) gelang die Zurückdrängung der Hungersnöte und eine dauerhafte Stabilisierung. Erst dann begann eine allgemeine „Blütezeit“ (1180–1270), die durch landwirtschaftlichen Wohlstand, soziales Gleichgewicht, den Glanz der Fürstentümer und Königreiche, den Triumph der Kirche und den Aufschwung „lichtvoller Geistigkeit“ ausgezeichnet war.28 Bis dahin war noch eine lange Durststrecke zu durchlaufen. Noch lange Zeit blieb das Leben und die Subsistenz vor 25 Bosl, Reformorden, S. 251. Vgl. ders., Frühformen der Gesellschaft, S. 377 ff. Ferner die prägnante Skizze von F. Prinz, Grundlagen und Anfänge, S. 317 ff. 26 Vgl. P. Dollinger, Der bayerische Bauernstand, S. 245 ff.; H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Bd. 1, S. 129 ff. 27 Vgl. A. J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, S. 282 ff.; ders., Mittelalterliche Volkskultur, S. 125 ff.; ders., Das Individuum im europäischen Mittelalter, S. 219 ff. Ferner Bosl, Potens und Pauper; R. I. Moore, Die erste europäische Revolution, S. 59 ff. 28 Vgl. Le Goff, Das Hochmittelalter, 187–275. Die genannten Stichworte wurden den einzelnen Kapitelüberschriften Le Goffs entlehnt. Zur Entwicklung des 12. Jahrhunderts siehe auch M. Clagett u. a. (eds.), Twelfth Century Europe and the Foundation of Modern Society.

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V. Der Drang zum Staat

allem der ärmeren Schichten ungesichert. Horst Fuhrmann beschreibt die Lage am Ende des 11. Jahrhunderts wie folgt:29 „Seit der Mitte der siebziger Jahre des 11. Jahrhunderts herrschten in weiten Teilen Deutschlands und Reichsitaliens über Jahrzehnte bürgerkriegsähnliche Zustände, und in der Unruhe der hin- und herwogenden Kämpfe dürften Unfreie in nicht geringer Zahl ihren Dinghof verlassen haben oder durch Not und Gewalt vertrieben worden sein. Zunehmend hören wir in den Quellen von Zusammenrottungen umherziehender Armer, die vor Kloster- und Kirchenpforten lagerten, Nahrung heischend und Unruhe stiftend. Als man 1096 zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbrach, rotteten sich unter der Führung des Einsiedlers Peter von Amiens Zehntausende ,Nichtseßhafter‘ zusammen, um ihren Beitrag zum Heiligen Kampf zu leisten. Not war es häufig, die die Leute zum Aufbruch trieb, zumal in weiten Teilen Westeuropas gerade auf das Ende des 11. Jahrhunderts zu Hunger herrschte.“

Allen Veränderungen zum Trotz war und blieb die europäische Gesellschaft insgesamt gesehen bis zum Ende der Frühen Neuzeit eine Agrargesellschaft. Sie gliederte sich in die drei Stände der Krieger (bellatores), der Geistlichen (oratores) und der Bauern (laboratores).30 Noch im 16. und 17. Jahrhundert waren 80 bis 90 % der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, die verbleibenden 10 bis 20 % verteilten sich auf Handel und Gewerbe.31 Das fundamentale Element der Agrarverfassung und der gesamten bäuerlichen Lebensordnung bildete seit dem Frühmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – in manchen Regionen Europas sogar bis zum 19. Jahrhundert – die Grundherrschaft.32 Die Wirtschaft im Mittelalter war die traditionelle Hausökonomie. Sie war auf die Deckung des Eigenbedarfs angelegt. Und sie war eingebunden in die Herrschaftsordnung des Feudalismus. Die gesamte Gesellschaft war eingespannt in das System der Feudalität, deren Hauptzug die enge Verknüpfung der persönlichen Bande mit den Sachwerten, der Vasallität mit dem Lehen war.33 Herren und 29 H. Fuhrmann, Papst Gregor VII., „Gregorianische Reform“ und Investiturstreit. In ders., Einladung ins Mittelalter, 77–99; hier: S. 79. Vgl. ders., Deutsche Geschichte, S. 113. 30 Vgl. G. Duby, Krieger und Bauern; ders., Die drei Ordnungen; Le Goff, Für ein anderes Mittelalter, S. 43 ff.; ders., Das Hochmittelalter, S. 27 ff.; ders., Bemerkungen zur dreigeteilten Gesellschaft; O. G. Oexle, Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft. 31 Für die Frühe Neuzeit vgl. R. v. Dülmen, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa, S. 40 ff. Für das Mittelalter insgesamt siehe G. Duby, L’économie rurale et la vie des campagnes. Für die deutschen Verhältnisse im Hochmittelalter vgl. Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 35 ff., 44 ff., 112 ff. (weitere Literatur: S. 213, 238). 32 Vgl. dazu W. Roesener u. a., Art. Grundherrschaft. 33 Vgl. P. Anderson, Von der Antike zum Feudalismus, S. 175 ff.; H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, S. 71 ff. (weitere Literatur: S. 92); Bosl, Reformorden, S. 262 ff.; O. Brunner, Land und Herrschaft, S. 240 ff.; J. Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, S. 48 ff., 106 ff.; J. Fried, Die Formierung Europas, S. 35 ff. (zu Problemen und Tendenzen der Forschung: S. 141 ff.; Literatur: S. 219 ff.); H.-W. Goetz, Leben im Mittelalter, S. 116 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter,

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Knechte waren durch Herrschaftsverträge miteinander verknüpft, in denen der Herr dem Knecht Schutz und dieser jenem Treue schwor. Zu dieser „Treue“ gehörten natürlich auch und vor allem finanzielle Abgaben. Die Grundherrschaft war zugleich ein ökonomischer, ein politischer und ein sozialer Verband. Sie bildete ein soziales Abhängigkeitsverhältnis und gründete, wie schon der Name sagt, auf Herrschaft, also auf der „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Max Weber). Die ärmeren Schichten mußten ihrem Grundherrn Treue schwören und Abgaben entrichten, der Grundherr garantierte ihnen dafür Schutz. Das Verhältnis von Schutz und Treue bzw. Schutz und Gehorsam bildete die Achse, um die der mittelalterliche Herrschaftszusammenhang kreiste, der aber durch die neuen städtischen Formen der Korporation und des Genossenschaftswesens ergänzt und zugleich konterkariert wurde.34 Er war ferner durch die anhaltenden Fehden der mächtigen Familien bedroht und in Frage gestellt. Der Protest der neuen Frömmigkeitsbewegungen richtete sich nicht gegen den Feudalismus als solchen, sondern gegen das System der Reichskirche, gegen die Verflechtung und Verfilzung von laikaler Adelsherrschaft und geistlichen Amtsinhabern, die zu Aktivposten in der Verwaltung der Stammesherzogtümer und der Reiche geworden waren. Dadurch war ihre Lebensführung zwangsläufig beeinträchtigt worden. Wieder einmal hatten Egoismus und Nepotismus überhand genommen, wie aus den einschlägigen Quellen erhellt. Die geistlichen Ämter waren käuflich geworden,35 ein allgemeiner Schacher um Pfründen hatte sich verbreitet. Zahlreiche Priester und Bischöfe benutzten ihre kirchliche Stellung und die mit ihr verbundene Macht zur persönlichen Bereicherung. Ihr ganzes Bestreben ging darin auf, das eigene Vermögen und das ihrer Familien und Freunde zu vermehren. „Manches Bistum war am Anfang des 10. Jahrhunderts schon zu einem weltlichen Fürstentum geworden, das von einem Bischof regiert wurde“.36

S. 66 ff.; H. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, bes. S. 172 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 202 ff.; W. Roesener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter; W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft; H. K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 1: Stammesverband, Gefolgschaft, Lehnswesen, Grundherrschaft; H. Vollrath, Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterlicher Rechtsbeziehungen. 34 Vgl. dazu auch O. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 153 ff.; Bd. 3, S. 186 ff.; O. Brunner, Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte. In ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 213–224; Jakobs, Kirchenreform, S. 112 ff. (neuere Literatur: S. 192 ff.); Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 330 ff. (Literatur: S. 532 f.). 35 Selbst Päpste hatten sich ihr Amt erkauft. Vgl. G. Denzler, Das Papsttum, S. 41: „Papst Gregor VI. (1045–1046) erkaufte sich die päpstliche Würde von seinem Patenkind, dem Tusculanerpapst Benedikt IX., der gegen eine beträchtliche Abfindung auf sein Amt verzichtete . . .“ 36 J. Dhont, Das frühe Mittelalter, S. 49.

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V. Der Drang zum Staat

Diese Situation hatte sich im 11. Jahrhundert noch verhärtet. Auch die einfachen Kleriker wurden von irdischen Begierden geplagt und versuchten emsig ihr persönliches Hab und Gut zu vermehren. Der Klerikerstand rekrutierte sich zumeist aus Unfreien, denen ein Grundbesitzer ihre Pfarrei zugewiesen hatte. Er blieb folglich in Abhängigkeit von den Großen des Reiches, die ihre Macht und ihren Einfluß hemmungslos zur Geltung brachten. Was Karl der Große einst in seinen Kapitularien als zu verhinderndes Übel angeprangert hatte (s. o. S. 361), war zur Selbstverständlichkeit geworden und prägte das Leben im späten Früh- und im beginnenden Hochmittelalter: Speichelleckerei, Bestechung, Vetternwirtschaft und Furcht vor mächtigen Menschen beherrschten den Alltag und hielten die Justiz auf ihrem Wege auf. Geistliche, die sich, wie der Bischof Johannes von Cesena, mit diesen Zuständen nicht abfinden wollten, waren deshalb bestrebt, die Lebensweise der Kleriker ihres Bistums „reformierend zu verbessern“ und „die schlechte Sitte, die bis dahin in unserer Kirche vorherrschte, mit der Wurzel auszureißen; denn in unserer Kirche wucherte eine so schlechte Gewohnheit, daß die Priester, Diakone und übrigen kirchlichen Stände ihre Einkünfte und die Obligationen der Kirche nicht gemeinsam besaßen und sie nicht für fromme Dinge verwendeten, sondern sie stattdessen – dem Gewinne der schändlichen Habsucht frönend – untereinander wie eine Beute aufteilten und in ihre einzelnen Häuser wegschleppten, wo sie ihre Anteile auf höchst verächtliche Weise zusammen mit ihren Hausgenossen und – was schlimmer ist – zusammen mit Frauen verbrauchten“.37 Papst Benedikt VIII. (1012–24) hatte diese Erfahrung schon zwanzig Jahre früher gemacht und bereits 1022 auf der zusammen mit Kaiser Heinrich II. (1002–24) einberufenen Synode in Pavia konstatieren müssen: Alle, vor allem aber diejenigen, die zu Leitern berufen waren, hätten der Kirche Hab und Gut entrissen, „und wie Hamster raffen sie ohne Verstand alles für die Söhne zusammen“. „Sogar Kleriker, die aus dem Hörigenstand der Kirche stammen . . ., erzeugen mit freien Frauen Kinder . . . Und weil sie sonst nichts haben, bringen diese üblen Väter für ihre ebenso üblen Kinder immer mehr Güter, immer mehr Patrimonien und alles, was sie vom Kirchenbesitz an sich reißen können, auf die Seite“.38 In einem Dekret, das durch ein kaiserliches Edikt untermauert wurde, postulierte der Papst deshalb unumwunden: „Kein Priester, Diakon oder Subdiakon, kein Kleriker überhaupt, darf

37 Urkunde des Bischofs Johannes von Cesena aus dem Jahre 1042 (Auszug). In: J. Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 14–19; hier: S. 17 f. Gegen die Unzucht und Sittenlosigkeit des Klerus wandte sich ferner Petrus Damiani, Liber Gomorrhianus (1049). In: Die Briefe des Petrus Damiani. Hgg. v. Kurt Reindel (MGH. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit IV, 1). München 1983, Nr. 31. 38 Vorrede des Papstes Benedikt VIII. auf der Synode in Pavia (1022). In: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 215–217; hier: S. 216 [nach: MGH. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 1. Hgg. v. L. Weiland. Hannover 1893, S. 71 f.].

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eine Frau oder Konkubine haben“.39 Bis diese Forderung dann schließlich durchgesetzt werden konnte, sollte aber noch eine lange Zeit vergehen. Die Bemühungen der Fürstenspiegel und der christlichen Sozialethiker hatten nicht gefruchtet. Anstelle von Billigkeit und Recht und Freiheit herrschten Eigennutz, Ämterkauf und Unterdrückung. Das Lehnswesen hatte auch die Kirche durchdrungen. Egoistische Hausmachtpolitik war an die Stelle der Barmherzigkeit und Nächstenliebe getreten. Gegen die allgemeine Verrohung und Verwahrlosung der Sitten innerhalb wie außerhalb der Kirche wandte sich seit dem 10. Jahrhundert die Reformbewegung, die von den Klöstern Cluny und Gorze ihren Ausgang nahm, sich auf die alten Werte der christlichen Urgemeinde zurückbesann und eine grundsätzliche Änderung des christlichen Lebenswandels propagierte.40 Sie löste jenen Epochenkonflikt aus, der gewöhnlich unter dem harmlosen Namen Investiturstreit zusammengefaßt wird,41 der aber einen Bruch mit der seitherigen Geschichte bewirkte und den „Aufgang Europas“ einleitete. 42 Die cluniazensische Bewegung erlangte eine politische Bedeutung, die weit über den innerkirchlichen Bereich hinausreichte. Sie war es, die überhaupt erst die Trennung zwischen weltlich und geistlich und damit den Bruch zwischen Reich und Kirche herbeiführte. Ihr Kampf für die „Freiheit der Kirche“, für die Zurückdrängung des laikalen Einflusses bei der Investitur der Bischöfe und Priester, mündete im Programm der Ersetzung des feudalistisch-cäsaropapistischen Regimes durch ein hierokratisch-papalistisches Regiment. Dadurch mußte sie den Widerstand der Mächtigen im Reich, in der Kirche und in den einzelnen Territorien provozieren, die ihre eigene Autorität und Herrschaft bedroht sahen. Sowohl die Könige und Fürsten als auch die von der Reichs- und Feudalkirche profitierenden Bischöfe und Priester sahen sich zur Verteidigung ihrer Machtpositionen und Privilegien herausgefordert, so daß eine Politisierung auf breiter Front erfolgte. Hinzu 39 Dekret des Herrn Papstes Benedikt. Ebd., 217–220; hier: S. 217. Vgl. das Edikt des Kaisers. Ebd., 221–223. Zu Heinrich II. und seinen politischen Bestrebungen und Kämpfen vgl. G. Althoff, Die Ottonen; S. Weinfurter, Heinrich II. 40 Zur Entstehung und Entwicklung der Reformbewegung und zur Frühzeit des Reformpapsttums vgl. auch Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 60 ff., 107 ff.; Fink, Papsttum und Kirche, S. 30 ff.; Haller, Das Papsttum. Bd. 2, S. 262 ff.; Hartmann, Der Investiturstreit, S. 9 ff., 45 ff., 78 ff. (weitere Literatur: S. 127 ff.); Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 3, S. 342 ff.; Jakobs, Kirchenreform, bes. S. 7 f., 18 ff., 108 ff. (Literatur: S. 208 ff.). 41 Die Literatur zu dieser Zeit ist nicht mehr zu überblicken. Vgl. die Zusammenstellung der wichtigsten Schriften durch J. Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 93–118 sowie die Literaturverzeichnisse von Hartmann, Der Investiturstreit, 117–138 und Jakobs, Kirchenreform, 165–226. Eine prägnante Skizze der Ereignisse und Positionen bietet Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 86 ff. Eine eindringliche Studie unternahm U.-R. Blumenthal, Der Investiturstreit. Vgl. ferner J. Fleckenstein (Hg.), Investiturstreit und Reichsverfassung; A. Fliche, La réforme Grégorienne; R. Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots. 42 Vgl. Bosl, Europa im Aufbruch; F. Heer, Aufgang Europas; F. Seibt, Von der Konsolidierung unserer Kultur zur Entfaltung Europas; ders., Die Begründung Europas.

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kam eine von den unteren Schichten und der niederen Geistlichkeit getragene Aufstandsbewegung in der Lombardei, die sich seit 1056 von Mailand aus über andere oberitalienische Städte ausbreitete und gegen den Feudaladel und den hohen Klerus wandte (Pataria).43 Diese Bewegung leitete das Ende der bischöflichen Stadtherrschaft in Oberitalien ein und mündete schließlich nach blutigen Auseinandersetzungen in den eskalierenden Kampf zwischen Kaiser und Papst. Das Streben nach Erneuerung von Kirche und Reich trieb die religiös-politische Einheitswelt in eine schwere Krise und führte letztlich zum Niedergang und zum Verblassen der christlichen Reichsidee. „Die Klosterreform (Cluny, Gorze)“, so resümiert Karl Bosl, „war eine seelsorgerische Reaktion auf die exzessive Adelsherrschaft zunächst in Burgund und Lothringen, aber auch in Rom, wie auch gegen die archaische Adelskultur im Westen, welche die Kirche überlagerte und die Menschen durch ihr Prinzip der legitimen Gewaltanwendung (Fehde) tyrannisierte und unter Druck hielt. Sie weitete sich zum Kampf gegen das sakral legitimierte König- und Kaisertum der Deutschen aus, und zwar unter dem allgemeinen Schlachtruf ,Freiheit der Kirche‘“.44 Die Reformer erstrebten zunächst keinen Vorrang des Sacerdotium gegenüber dem Imperium, sondern nur die Entflechtung von geistlichen Ämtern und weltlicher Macht. Es ging ihnen weniger um den Ausbau ihrer eigenen Machtpositionen als vielmehr „um die Sicherung der innerkirchlichen Spiritualität gegenüber der Landeskirche und Feudalkirche und zugleich um die Einheit und Freiheit der germanisch-romanischen, gemeinabendländischen Reichskirche“.45 Ihr Kampf kulminierte aber dennoch in der Forderung nach Suprematie, nach Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt. Der alte Hierokratiegedanke wurde urplötzlich zur Idee der papalistischen Weltherrschaft gesteigert. Den Auftakt zu dieser Entwicklung schlug Gregor VII. (1073–85), der 1075 im Dictatus Papae jene berühmt-berüchtigten „27 Leitsätze“ (Erich Caspar) formulierte, die den Anspruch auf die weltliche Macht artikulierten und die Prinzipien der erstrebten Papstherrschaft definierten. Diese wurden später von Alexander III. (1159–1181) und Innocenz III. (1198–1216) erfolgreich praktiziert, die den Kampf zwischen Sacerdotium und Imperium weiter verschärften und auf einen nächsten Höhepunkt führten. Den Kulminations- und Wendepunkt erreichte schließlich Bonifaz VIII. (1294–1303), der in der Bulle Unam Sanctam (1302) das päpstliche Verlangen noch einmal radikalisierte.46 43

Vgl. dazu E. Werner, Pauperes Christi, S. 111 ff. Bosl, Reformorden, S. 243 f. Vgl. auch A. Brackmann, Zur politischen Bedeutung der kluniazensischen Bewegung; H. Richter (Hg.), Cluny; G. Tellenbach (Hg.), Neue Forschungen über Cluny und die Cluniazenser; J. Wollasch, Cluny. 45 A. Dempf, Sacrum Imperium, S. 171. 46 Vgl. Hauck, Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft; J. Miethke, Geschichtsprozeß und zeitgenössisches Bewußtsein; B. Tierney, Origins of Papal Infallibility; W. Ullmann, Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter; ders., A Short History of 44

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Die nachfolgenden Absätze sind chronologisch angelegt. Der genealogischen Methode dieser Studie entsprechend werden die theoretischen Reflexionen der Theologen und Chronisten aus dem Zusammenhang der von ihnen (re-)konstruierten realgeschichtlichen Entwicklung heraus begriffen. Sie bilden Lösungsversuche für die von ihnen thematisierten Orientierungs- und Ordnungsprobleme, Eingriffe in die praktische Politik, Diskurse, in denen die abendländische Christenheit ihr Selbstverständnis artikulierte, ein angemessenes Selbstbild und die Vision ihrer eigenen Zukunft zu entwerfen versuchte. Zwar wurde durch die hochmittelalterlichen Kämpfe die Einheit der christlichen Ekklesia und mit ihr das universale Kaiserreich in Frage gestellt, doch hielten die bedeutendsten Protagonisten des Kampfes am alten Universalitätsanspruch und an den Zielen der christlichen Missionstätigkeit fest. Erst in der Folgezeit, in den spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen der Kanonisten und Legisten, setzte sich das Emanzipationsbestreben der Territorien gegen die zentripetalen Kräfte auch im Bewußtsein der Theologen und Juristen durch. Im ersten Schritt wird die Entwicklung rekonstruiert, die zum Bruch zwischen Imperium und Sacerdotium führte [a)]. Sodann wird die Lage in Kirche und Reich nach dem Investiturstreit analysiert [b)]. Schließlich wird die staufische Reichsidee untersucht, die zur Basis einer neuen imperialen Politik und infolge ihrer kritischen Dekonstruktion zugleich zum Vehikel der territorialen Verselbständigung wurde [c)]. a) Herrschaftsorganisation und Machtkonstellation: Reich, Kirche und Territorien Die religiös-politischen Konflikte, die das aufgehende Europa erschütterten, waren allesamt nicht neu. Sie hatten sich seit langen Jahrhunderten aufgestaut und drängten nun auf eine Entscheidung. Sie kreisten um den menschlichen Lebenswandel und um die Organisationsstrukturen im Reich, in der Kirche und in den einzelnen Territorien. Im Laufe der Auseinandersetzungen spitzten sie sich schließlich auf die Machtfrage zu. Die unterschiedlichen Herrschaftsträger und Gewalthaber, die bislang leidlich mit- und gegeneinander agiert hatten, standen plötzlich in scharfem Kontrast und heilloser Konkurrenz zueinander.47 Das Herrschaftsgefüge drohte durch diese Konkurrenz zu zerreißen. Reformpäpste hatten mit dem Reichsepiskopat, Kaiser und Könige mit Fürsten und Aristokraten und alle diese Kräfte mit- und gegeneinander zu kämpfen. Wechselnde Allianzen sorgten für Unsicherheit und Unberechenbarkeit. Friedens-, Armuts- und neue Frömmigkeitsbewegungen protestierten gegen die herrschenden Sitten und attakthe Papacy in the Middle Ages; J. A. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century. 47 Vgl. die Synopse von Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 84 ff. Eine Skizze zur weiteren Entwicklung der Kämpfe – mit ausgewählten Beispielen aus viereinhalb Jahrhunderten – bietet M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 71–143.

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kierten die unterschiedlichen Machthaber, die sich längst nicht mehr an den Prinzipien der christlichen Sozialethik und am Gebot der Nächstenliebe orientierten, sondern ihre egoistischen Sonderinteressen verfolgten. Ein allgemeiner Kampf ums Reich entbrannte, der dessen Existenz in Frage stellte. Er wird in drei Schritten analysiert: Zunächst werden die möglichen Alternativen der Herrschaftsorganisation theoretisch geklärt [aa)]. Sodann wird die Entwicklung des Kampfes zwischen Kaiser, Papst und Fürstenopposition untersucht [bb)]. Schließlich werden die Folgen der Papstrevolution für das europäische Ordnungsdenken diskutiert [cc)]. aa) Alternativen der Herrschaftsorganisation Analytisch lassen sich zwei zentrale Konfliktherde unterscheiden, die zum Zerfall der Reichseinheit und zum Verblassen der christlichen Reichsidee führten: 1. die Auseinandersetzung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, Imperium und Sacerdotium, Kaiser und Papst; 2. der Kampf der beiden Spitzen der Zentralgewalt mit den anderen Kräften und Mächten in Reich, Kirche und Territorien. Zum Streit zwischen Imperium und Sacerdotium gesellte sich der Kampf zwischen Kaisertum, Königen, Fürsten, Ständen und Städten sowie die innerkirchliche Spannung zwischen Papsttum und Episkopat, kirchlicher Zentralgewalt und religiösen Gemeinden, Bistümern, Klöstern, Reformorden, Ketzern usw. um die konkreten Organisationsformen der Kirche. Der Kaiser sah sich seit dem hohen Mittelalter Königen und Fürsten konfrontiert, die keinen Höheren in weltlichen Dingen mehr anerkennen wollten (superiorem in temporalibus non recognoscens) und sich selbst als oberste Gesetzgeber und Richter ihrer Königreiche oder Fürstentümer begriffen (rex in regno suo imperator est).48 Hinzu kam das Bürgertum der aufstrebenden Städte, das in die laufenden Auseinandersetzungen hineingerissen wurde, für Autonomie und Mitbestimmung in den kommunalen Angelegenheiten kämpfte und sich gegen die Willkür der aristokratischen Mächte, aber auch gegen einzelne Monarchen wehrte. Der Papst hingegen hatte sich nicht nur mit dem Kaisertum, sondern auch mit dem Reichsepiskopat und den Landeskirchen auseinanderzusetzen, die um ihre Pfründen fürchteten und selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden wollten. Die einzelnen Konflikte lassen sich nicht säuberlich voneinander trennen. Sie überlagerten sich und schaukelten sich gegenseitig hoch. Sie kreisten letztlich um die Frage: Universalismus oder Partikularismus, Zentralismus oder Territorialismus sowie um die Entscheidung, wer im einen oder anderen Fall Träger der höchsten Gewalt sein und wie sich das Verhältnis der unterschiedlichen Instanzen gestalten sollte. Sollte der Kaiser über den Papst oder jener über diesen herr48 Zur Entstehung und Entwicklung dieser Formeln, die im späten Mittelalter zu politischen Leitideen wurden, vgl. unten, S. 469 ff.

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schen? Oder sollten beide gemeinsam mit je unterschiedlichen Kompetenzen die Geschicke des Reiches lenken? Sollte die Zentralgewalt – Kaiser oder Papst oder beide gemeinsam in harmonischer Eintracht – oder sollten die jeweiligen Territorien den Ausschlag geben und die Geschicke der einzelnen Völker bestimmen? Und in den Territorien selbst: sollten hier die Könige/Fürsten oder sollten die Stände/Städte den Ausschlag geben und die Macht im werdenden Staate übernehmen? Und schließlich in der Kirche: sollte ein straffes hierarchisches und zentralistisches System geschaffen werden oder sollten die einzelnen Kirchengemeinden sich selbst in relativer Autonomie bestimmen? Sollte der Papst oder sollten Synoden die letzte Entscheidung in innerkirchlichen Angelegenheiten haben? Diese Kontroversen beherrschten das Politikdenken im hohen und späten Mittelalter und standen noch in der Frühen Neuzeit im Zentrum der Politischen Philosophie. Die konkrete Lösung dieser Zentralkonflikte bestimmte darüber, welches Gesicht das neuzeitliche Europa haben würde. Die Geschichte der europäischen Neuzeit hing ab davon, wie diese Spannungen gelöst wurden. Die modernen Gesellschaften sind Produkte dieser Entwicklung, d. h. der Entscheidungen, die seit dem Hochmittelalter gesucht und schließlich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit in blutigen Gefechten herbeigeführt wurden. Der Ausgang dieser Geschichte war keineswegs zwangsläufig und vorherbestimmt. Er wurde entschieden durch die jeweiligen Machtkonstellationen und das Zusammentreffen unvorhersehbarer Ereignisse. Alles hätte auch ganz anders kommen können. Hätte sich schließlich die Papstkirche auf Dauer behauptet, so würde vermutlich noch heute ein hierokratisch-papalistisches Regime die Geschicke des gesellschaftlichen Lebens in Europa bestimmen. Hätte sich das Kaisertum gegen seine Konkurrenten durchgesetzt, so würde vielleicht noch heute die Vision eines christlichen Reiches die Politik des Abendlandes leiten. Eine historische Gesetzmäßigkeit gab es in dieser Auseinandersetzung nicht. Es herrschte Kontingenz. Das ungeplante Zusammenspiel zahlreicher Faktoren bestimmte den Lauf der Dinge. Der unterschiedliche Verlauf und Ausgang der Kämpfe in den einzelnen Regionen präformierte die je spezifische Entwicklung der europäischen Staaten. Der Ausgang des ersten Zentralkonflikts mußte entscheiden, ob das Reich künftig hierokratisch, cäsaropapistisch oder gewaltenteilig organisiert sein bzw. ob es überhaupt fortexistieren oder neuen Ordnungsformen weichen würde. Er hatte zu klären, ob sich das vom frühen Mittelalter überkommene Herrschaftsgefüge der religiös-politischen Einheitswelt in irgendeiner Form restituieren und perpetuieren ließ, in dem Kaiser und Papst, Landesfürsten und Bischöfe gemeinsam die Angelegenheiten des Reiches und der Territorien regelten. Sollte kein Modus vivendi gefunden werden, so war die Auflösung der abendländischen Reichseinheit unabwendbar und die Entstehung säkularer Staaten wahrscheinlich geworden. Der zweite Konflikt, der durch den ersten provoziert und forciert wurde, ermöglichte mehrere Alternativen. Durch seinen Ausgang wurde festge-

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legt, ob künftig der Kaiser oder ob die Gemeinschaft der Fürsten das Reich repräsentieren und regieren würde oder ob die einzelnen Könige Souveränität in ihren Reichen erlangen würden. Sollte die Einheit des Ganzen erhalten werden, so mußte eine Form der Kooperation zwischen den unterschiedlichen Mächten gefunden werden. Eine andere Möglichkeit bildete der Rückzug der Könige und Fürsten auf ihr angestammtes Gebiet, in dem sie ihre Macht gegen die anderen gesellschaftlichen Kräfte behaupten mußten. Im Verlauf dieses Kampfes zwischen Königen/Fürsten und Landständen/Städten bzw. zwischen Krone und Parlament um die Macht in den einzelnen Territorien mußte sich klären, ob die werdenden Staaten absolutistisch oder ständisch-parlamentarisch aufgebaut sein würden. Der Ausgang des innerkirchlichen Kampfes schließlich bestimmte nicht nur die Organisationsform der religiösen Gemeinden, sondern erlangte zugleich paradigmatische Bedeutung für die zu verwirklichende Organisation der politischen Gemeinschaften.49 Alle diese Konflikte standen seit dem Hochmittelalter auf der Tagesordnung. Sie standen im Zentrum der Politik des späten Mittelalters, fanden aber erst in der Frühen Neuzeit im Gefolge der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts ihre endgültige Lösung. Und diese Lösung war die Form Staat, die sich seit dem späten 11. Jahrhundert herauszubilden begann, im 13. und 14. Jahrhundert konkrete Gestalt gewann und sich schließlich im Westfälischen Frieden von 1648 fest etablierte, das System der europäischen Staaten, die keinen Höheren in weltlichen Dingen akzeptierten, die im Innern das Monopol legitimer Gewalt erlangten und sich wechselseitig als gleichberechtigte Partner anerkannten, die ihre Beziehungen in Krieg und Frieden künftig rechtlich regelten. Der unterschiedliche Verlauf der Gefechte erzeugte unterschiedliche Strukturen in den einzelnen Territorien. Während in Frankreich und England der Weg vom feudalen Partikularismus zum staatlichen Zentralismus führte, ging die Entwicklung im Deutschen Reich in die entgegengesetzte Richtung. Sie führte „von einem starken König- und Kaisertum im 10. Jh. zur partikularistischen Zersplitterung mit einem von den Kurfürsten abhängigen Wahlkönigtum im 13. Jh., in Frankreich dagegen von einem äußersten Maß an feudaler Anarchie und Schwäche der Zentralgewalt zu einer geschlossenen, zentralistischen Monarchie mit einem Erbkönigtum an der Spitze. Das französische Königtum, das nicht durch ständigen Dynastiewechsel erschüttert wurde, konnte sich bei seinem organischen Aufstieg auf eine zielgerichtete Domänen- und Verwaltungspolitik sowie auf das Bündnis

49 Vgl. dazu hinsichtlich der frühneuzeitlichen Entwicklung R. v. Dülmen, Religion und Gesellschaft. Ferner die berühmten Topoi von C. Schmitt, Politische Theologie, S. 49 ff.: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach . . ., sondern auch in ihrer systematischen Struktur“ (S. 49). Und: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet“ (S. 59 f.).

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mit dem Episkopat stützen, so daß es ebenso wie das englische aus den Erschütterungen des Investiturstreits ungeschwächt hervorging“.50 Ausschlaggebend für die weiteren Entwicklungen wurde der erste Zentralkonflikt, die Auseinandersetzung zwischen Imperium und Sacerdotium, die ihren ersten Höhepunkt in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV. fand.51 Durch sie wurden die anderen Kämpfe geschürt und zugleich legitimiert. Indem der Papst das gottgemäße Regiment des Kaisers in Frage stellte, unterstützte und mobilisierte er die anderen Kräfte gegen ihn, die bislang zur Loyalität gegenüber dem vicarius Christi, dem gesalbten Oberhaupt des Reiches und dem Beschützer der katholischen Kirche gezwungen waren. Zwar hatte es stets Spannungen und Rivalitäten zwischen den Großen des Reiches gegeben, doch war dem König gewöhnlich die Rolle des Schiedsrichters und Schlichters zugefallen. Nunmehr wurde er selbst zur Partei und als Verfechter eigener dynastischer Interessen in die Gefechte einbezogen. War es bislang ein allgemeiner Grundsatz der Kirche gewesen, „den ,Gesalbten des Herrn‘ gegen die Selbsthilfe derer zu verteidigen, die dem König wegen einer behaupteten, aber nicht kirchlich festgestellten Rechtskränkung faustrechtlichen Widerstand entgegensetzten“,52 so wurde dieses Prinzip durch Gregor VII. durchbrochen und außer Kraft gesetzt. Der Papst entzog dem deutschen König die Anerkennung, belegte ihn mit dem Kirchenbann und löste seine Untertanen aus dem Treueid, der sie zur Loyalität verpflichtet hatte. Den damit verbundenen, dauerhaften Prestigeverlust des Kaisertums wettzumachen und die abendländische Universalmonarchie wiederaufzurichten, war das Bestreben der künftigen Kaiser, wobei vor allem Friedrich Barbarossa erfolgreich agierte. Dennoch ließ sich der Anspruch der Deutschen, Herrscher über Europa zu sein, auf Dauer nicht aufrechterhalten. Die Verselbständigung der Königreiche und Territorien hatte begonnen, die kommunale Schwurverbrüderung der Städte prallte auf das monarchische Prinzip. Der Prozeß der europäischen Staatswerdung war eingeleitet. Die entscheidenden Schritte dieser Entwicklung müssen im folgenden betrachtet werden, wobei wiederum nicht die realgeschichtliche Entwicklung im Mittelpunkt stehen wird, die zur Etablierung der unterschiedlichen politischen Systeme führte, sondern die Entstehung und Entwicklung der neuen Ordnungsidee. Die tatsächlichen Ereignisse sind nur soweit in den Blick zu nehmen, wie sie zum Verständnis der theoretischen Entwicklung unabdingbar sind.

50 G. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 88. Vgl. auch Mitteis, Der Staat, S. 424 ff. Zu Frankreich A. Becker, Studien zum Investiturproblem in Frankreich. 51 Vgl. den Überblick von T. Mayer, Papsttum und Kaisertum im hohen Mittelalter, S. 23 ff. Ferner R. Faber, Der kaiserlich-päpstliche Dualismus im Hochmittelalter. 52 F. Kern, Gottesgnadentum, S. 197. Vgl. auch ebd., Anhang XXIX, S. 350 ff.

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bb) Die Reichsidee im Kampf zwischen Kaiser, Papst und Fürstenopposition Mit Konrad II. (1024–1039) war die Dynastie der Ottonen in die der Salier übergegangen.53 Während in Frankreich die Krone seinerzeit machtlos war,54 gelang es den Deutschen, die Monarchie im Reich zu stabilisieren. Konrad zog in Italien die Valvassoren, in Deutschland die unfreien Ministerialen als Stützen seiner Herrschaft heran.55 Da König Rudolf III. von Burgund 1033 ohne Nachkommen verstarb, konnte er dessen Nachfolge antreten, so daß sich das Imperium nunmehr aus den drei Regna Deutschland, Italien und Burgund zusammensetzte. Diese Entwicklung fand ihren Niederschlag in den Reichsspekulationen Wipos, des Hofkaplans und Biographen Konrads II., der eine „integrale Reichsidee“ propagierte, in der das Imperium und die drei Regna miteinander verschmolzen.56 In Wirklichkeit blieb die Verbindung Burgunds mit dem Reich jedoch recht lokker.57 Erst Barbarossa gelang durch seine Ehe mit Beatrix von Hochburgund 1156 eine stärkere Einbindung. Wie Wipo berichtet (Kap. 7), belehrte Konrad die Abgesandten der lombardischen Städte auf dem Konstanzer Hoftag von 1025, das Reich existiere unabhängig von der Person des Herrschers, es bestehe, „auch wenn der König stirbt, so wie das Schiff besteht, wenn der Steuermann fällt“. Dennoch war das Reich der ersten Salier kein transpersonales Gebilde. Es war „in nichts anderem verkörpert als der Person des Königs; noch gab es keine Hauptstadt, keine zentrale Landschaft des Reiches, keine Zentralverwaltung“.58 Konrads Nachfolger Heinrich III. (1039–1056) intensivierte die Monarchie und unterstützte zugleich die kirchliche Reformbewegung.59 „Er beanspruchte 53 Siehe auch E. Boshof, Die Salier; M. L. Bulst-Thiele, Das Reich vor dem Investiturstreit, S. 145 ff.; Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 89 ff.; H. K. Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 328 ff.; S. Weinfurter, Herrschaft und Reich der Salier; H. Wolfram, Konrad II. Ferner den Überblick von U. Dirlmeier, Früh- und Hochmittelalter, S. 46 ff. 54 Vgl. P. E. Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 93 ff. Zur Entwicklung der französischen Monarchie siehe auch unten, S. 498 ff. 55 Vgl. Bosl, Die Reichsministerialität in der Zeit der Salier und Staufer; Mitteis, Der Staat, S. 143 ff.; bes. S. 145, 149 f. Zur rechtlichen Stellung der Ministerialen vgl. etwa die Urkunde des Bamberger Bischofs von 1061/62. In: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 258 f. 56 Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi II. imperatoris. Dazu H. Beumann, Das Imperium und die Regna bei Wipo; T. Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 209 ff. 57 Zu den Schwierigkeiten der Inkorporation Burgunds in das Reich vgl. E. E. Stengel, Regnum und Imperium. Engeres und weiteren Staatsgebiet im alten Reich (1930). In ders., Abhandlungen und Untersuchungen, 171–205, bes. S. 191 ff. Wie Stengel zeigt, wurde die Unterscheidung der drei Regna die Jahrhunderte hindurch mit großer Schärfe aufrecht erhalten. Vgl. ebd., S. 181 ff. 58 Mitteis, Der Staat, S. 154. Vgl. auch Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 328 f.; P. Moraw, Von den Ottonen bis zu den Staufern: Die Reichsregierung reiste. In: R. Beck (Hg.), Das Mittelalter. München 1997, 42–55.

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die unumschränkte Verfügungsgewalt über die Herzogtümer, Grafschaften und Markgrafschaften und über alle sonstigen Reichslehen. Er vermehrte das Krongut, nicht zuletzt durch die Konfiskation der Güter rebellierender Adliger“.60 Auf einer Synode in Pavia (1046) hielt er eine Rede gegen die Simonisten, in der er Kaiser und Päpste als Mitschuldige benannte. Auf der im selben Jahr stattfindenden Synode in Sutri setzte er drei rivalisierende Päpste ab und ersetzte sie nacheinander durch drei Deutsche (Clemens II., Leo IX, Viktor II.). Er richtete das in Mißkredit geratene Papsttum wieder auf und bewilligte den deutschen Bischöfen die Investitur nicht nur mit dem Stab, sondern auch mit dem Ring, übertrug ihnen so „außer der zeitlichen auch die mystische Autorität“ (Le Goff 1965, S. 88). Sein Versuch, 1043/44 im Reich einen allgemeinen Frieden durchzusetzen, scheiterte jedoch an der wachsenden Adelsopposition. Vor allem während des Pontifikats Leos IX. (1049–1054) schien die Einheit von Imperium und Sacerdotium unter kaiserlicher Oberhoheit noch einmal gewahrt. Die Verwaltung der Kirche wurde weiter zentralisiert und der neu geschaffenen curia Romana unterstellt, die wieder einmal die Herrschaftsformen und Institutionen des Reiches adaptierte bzw. das Imperium imitierte.61 Am Ende der Regierung Heinrichs III. wuchsen jedoch die Spannungen und mit ihnen die Unzufriedenheit der Großen und Kleinen im Reich. Es entstand eine allgemeine antikaiserliche Stimmung.62 Nach Heinrichs frühem Tod (1056) eskalierten die Konflikte, die während der Regentschaft seines Sohnes Heinrich IV. (1056–1106) auf eine Lösung drängten. Schon zwei Jahre zuvor war es zum großen Schisma zwischen dem römischen Papst und dem Patriarchen von Konstantinopel und zum endgültigen Bruch der westlichen Kirche mit Byzanz gekommen.63 Der Anlaß zu dieser folgenreichen Entwicklung war eher trivial gewesen: es ging um liturgische Meinungsverschiedenheiten. Ein Streit war entstanden um die Verwendung gesäuerten Brotes bei der Anfertigung von Hostien in der byzantinischen und von Oblaten in der römischen Kirche. Päpstliche Legaten, angeführt von Humbert von Moyenmoutier, Kardinal von Silva Candida, ver59 Zu Heinrich III. vgl. auch M. L. Bulst-Thiele, Das Reich vor dem Investiturstreit, S. 159 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 51 ff. (Literatur: S. 214 ff.; 239 ff.); Jakobs, Kirchenreform, S. 15 ff.; Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 374 ff. 60 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 3, S. 180. 61 Vgl. P. E. Schramm, Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte, S. 88 ff.; ders., Die Imitatio imperii in der Zeit des Reformpapsttums; Hartmann, Der Investiturstreit, S. 11, 64 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 19, 150 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen). 62 Vgl. die Chronik Hermanns von Reichenau (Auszug). In: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 251: „[1053] Zu dieser Zeit murrten sowohl die Großen des Reiches wie die Geringeren mehr und mehr gegen den Kaiser und klageten, er falle schon längst von der anfänglichen Haltung der Gerechtigkeit, Friedensliebe, Frömmigkeit, Gottesfurcht und vielfältigen Tugenden . . . allmählich mehr und mehr ab zu Gewinnsucht und einer gewissen Sorglosigkeit“. 63 Vgl. zum folgenden Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 9 ff.

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fochten in schroffer Form die Suprematie des römischen Papstes und legten 1054 eine Exkommunikationsbulle für Michael Kerullarios und seine bedeutendsten kirchlichen Anhänger auf den Altar der Hagia Sophia. Der Patriarch antwortete mit der Exkommunikation der römischen Gesandten und besiegelte damit den Bruch, der sich seit langen Jahrhunderten abgezeichnet hatte, der dieses Mal aber tatsächlich erfolgte und von Dauer war.64 „Von nun an gibt es zwei Christenheiten, die Christenheit des Westens und die Christenheit des Ostens, mit ihren jeweiligen Überlieferungen, ihrem geographischen und kulturellen Bereich, getrennt durch eine Grenze, die durch Europa und das Mittelmeer geht und die Slawen voneinander scheidet; Russen, Bulgaren und Serben werden in den byzantinischen Umkreis einbezogen, während die anderen, Polen, Slowaken, Mährer, Tschechen, Slowenen und Kroaten . . . der westlichen Anziehung nicht entgehen können“ (Le Goff 1965, S. 9). Als Heinrich IV. 1056 die Nachfolge seines Vaters antrat, war er gerade sechs Jahre alt. Der Hochadel nutzte die Zeit seiner Unmündigkeit (bis 1065) und das entstandene Machtvakuum, um seinen eigenen Besitz auf Kosten der Krone auszudehnen.65 Die Fürsten schwangen sich zu Mitregenten und Repräsentanten des Reiches auf, das nicht länger mit dem König identifiziert wurde, sondern über ihm stand und von den Fürsten mitgetragen bzw. gebildet wurde.66 Das Mit- und Gegeneinander zwischen König und opponierenden Fürsten sollte künftig zu einem bestimmenden Faktor der Reichspolitik werden. Die Fürstenopposition führte ihren Kampf gegen die Salierkönige im Namen des Reiches. „Aus der Verantwortung für die Ehre des Reiches, ja sogar für die Würde des Königtums legitimierte sie ihr Vorgehen gegen einen Herrscher, der in ihren Augen seine Legitimation preisgab, wenn er sich gegen die Kirche Gottes stellte und den vernichten wollte, dem Christus die Sorge für sie anvertraut hatte. Königtum und Reich wurden einander entgegengestellt, wie dies bis dahin nicht geschehen war“.67 Die Basis des Reiches bildete die Kooperation zwischen König und Fürsten, Kaiser und Papst. Die herausgehobene Stellung des Königs aus dem Kreis 64 Aus der Tatsache, daß beide Seiten jeweils nur einzelne führende Repräsentanten, aber nicht die jeweilige Gesamtkirche exkommunizierten, folgert allerdings G. Denzler (Das Papsttum, S. 46), es bestehe „keinerlei Grund, in den beiden Schritten den Beginn eines Schismas zwischen West- und Ostkirche sehen zu wollen. Noch Papst Viktor II. (1055–1057) wußte nichts von einer Spaltung der Kirche“. Erst Gregor VII. habe keinen Zweifel mehr gehabt, „daß die Kircheneinheit zerbrochen war“, die er mit Gottes Hilfe aber wiederherzustellen hoffte. 65 Zum Schicksal und zu den Kämpfen Heinrichs IV. vgl. etwa Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 65 ff. (Literatur: S. 217 ff., 243 ff.); Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 164 ff. (Literatur: S. 518 f.); Hartmann, Der Investiturstreit, S. 14 ff. (Literatur: S. 124); Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 401 ff. 66 Vgl. auch H. Beumann, Das Reich der späten Salier und der Staufer; T. Mayer, Fürsten und Staat. 67 Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 206. Vgl. auch ebd., S. 22 ff., 57 ff., 68 ff., 73 ff., passim.

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der Fürsten basierte nicht auf einer größeren Macht oder einer weiteren materiellen Basis, sondern auf der sakralen Legitimation, die aber vom Reformpapsttum alsbald in Frage gestellt wurde. Die Reformkirche war bestrebt, sich vom Einfluß des Kaiserhauses zu emanzipieren.68 Sie kämpfte um die Vorrangstellung und Oberhoheit der römischen Kirche als mater, caput, fons, fundamentum und cardo (Türangel) aller Kirchen. Dabei stützte sie sich auf die Konstantinische Schenkung (Constitutum Constantini) und die pseudoisidorischen Dekretalen, zwei bedeutende Fälschungen aus der Zeit zwischen der Mitte des 8. und der des 9. Jahrhunderts, aus denen sich die übergeordnete Stellung der Bischöfe ableiten ließ.69 Mit ihrer Hilfe konnte die Hegemonie des römischen Bischofs über den Metropoliten und die Provinzsynoden sowie sein Primat innerhalb der Kirche wie im Verhältnis zur weltlichen Gewalt begründet werden.70 Das Hauptanliegen der Reformer war aber nicht die päpstliche Machtkonzentration, sondern die Bekämpfung der Simonie und des Nikolaitismus, die Beendigung des Ämterkaufs und die Einführung des Zölibats.71 In dieser Frage spaltete sich die Reformkirche in zwei unterschiedliche Richtungen: den gemäßigten, deren hervorragendster Vertreter Petrus Damiani (1007–1072) war, traten die radikalen Reformer gegenüber, deren Anführer Humbert von Silva Candida und Hildebrand waren. Während Petrus Damiani in seinem Liber Gratissimus (1051) die von Simonisten gespendeten Sakramente für gültig erklärte und die Trennung von Amt und Person betonte,72 insistierten Humbert und Gregor auf der Ungültigkeit der Weihe durch Simonisten.73 68 Vgl. dazu auch Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 3, S. 665 ff.; J. Haller, Das Papsttum. Bd. 2, S. 310 ff. 69 Vgl. H. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen; ders. (Hg.), Das Constitutum; ders., Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum. Ferner Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 213 ff. 70 Schon früher hatten die Vertreter des Papsttums zur Untermauerung ihrer Forderung nach päpstlicher Suprematie auf zwei Passagen aus den pseudoisidorischen Dekretalen rekurriert: auf ein angeblich von Papst Anaklet I. (y ca. 90) verfaßtes Schreiben an die Bischöfe Italiens und einen Brief des Papstes Melchiades (y 314) an die spanischen Bischöfe. Vgl. das Dekret des Bischofs Burchard von Worms (Auszüge). In: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 12–15. Dazu M. Kerner, Studien zum Dekret des Bischofs Burchard von Worms. Diss. Aachen 1969. 71 Vgl. C. Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., S. 239 ff. (mit den einschlägigen Quellen); Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 4, S. 49 ff. 72 Vgl. Petrus Damiani, Liber Gratissimus (1051) (Auszüge). In: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 24–27: „Der wahre und unverkürzte Glaube beinhaltet also, daß wie die Taufe so auch die Priesterweihe durch keinen Schandfleck sündig erscheinender Amtsinhaber beschmutzt wird . . . Denn nicht aus dem Verdienst des Priesters, sondern aus dem Amt, das dieser versieht, wird das Mysterium der Weihe auf einen anderen übertragen, und es lohnt sich nicht, auf den Konsekrator zu schauen . . ., sondern man muß nur auf das Amt achten, da(s) er empfangen hat“ (S. 25). 73 Vgl. die bissigen Bemerkungen des Humbert von Silva Candida, Adversus Simoniacos (1054–58) [Auszüge]. In: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 31–38. Zu Petrus Damiani, Humbert von Silva Candida und Gregor VII. vgl. auch Dempf, Sacrum Impe-

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Papst Nikolaus II. (1059–61) schlug sich auf die Seite der Radikalen, verdammte die Priesterehe und untersagte die Entgegennahme eines kirchlichen Benefiziums aus Laienhand.74 Unter seiner Leitung fand Ostern 1059 im Lateranpalast eine große Synode statt, die eine Reihe wichtiger Beschlüsse faßte und das Papstwahldekret verabschiedete, demzufolge Päpste künftig ohne Mitwirkung des Königs durch ein Kollegium von Kardinalbischöfen vorgeschlagen, sodann von den übrigen Kardinälen gewählt und schließlich vom gesamten römischen Klerus und von den Laien per Akklamation bestätigt werden sollten.75 Darüber hinaus wurde der Ämterkauf verurteilt und die Teilnahme an Gottesdiensten von verheirateten Priestern förmlich verboten. Schließlich wurde Berengar von Tours zur Verdammung seiner eigenen Lehre gezwungen, wonach „Brot und Wein, die auf den Altar gelegt werden, nach der Konsekration nur Sakrament, nicht aber auch wahrer Leib und wahres Blut unseres Herrn Jesus Christus seien und daß sie nicht auf sinnlich wahrnehmbare Weise allein im Sakrament mit den Händen der Priester berührt bzw. gebrochen oder mit den Zähnen der Gläubigen zermalmt werden könnten“. Unter Eid mußte er versichern, auch er glaube nun an die Realpräsenz und sei der festen Überzeugung, das beim Abendmahl mit den Zähnen zermalmte Brot sei der wirkliche Leib und der getrunkene Wein das wirkliche Blut Jesu Christi.76 Heinrich IV. sah sich somit einem gewachsenen Selbstbewußtsein der Reformkirche wie des Hochadels konfrontiert, als er – unter dem bestimmenden Einfluß Annos von Köln und Adalberts von Bremen – die Regierungsgeschäfte übernahm. Er bemühte sich, die Gebietsverluste und die Verselbständigung der Kirche rückgängig zu machen. Er versuchte, die noch aus ottonischer Zeit stammenden königlichen Besitzrechte zurückzugewinnen, und begann „sehr energisch, als rium, S. 176 ff.; Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 131 ff.; H. Löwe, Petrus Damiani. Ein italienischer Reformer am Vorabend des Investiturstreits. In ders., Von Cassiodor zu Dante, 149–179; Mirbt, Die Publizistik, S. 7 ff., 250 ff., 275 ff., 378 ff., 386 ff., 403 ff.; Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 217 ff. (weitere Literatur: S. 239 f.). 74 Vgl. Das Synodalschreiben Vigilantia universalis Papst Nikolaus’ II. In: R. Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots, 212–224. Auch in: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 38–41. 75 Vgl. den Text des Papstwahldekrets von 1059 in: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 42–49 (lateinisch-deutsch) und Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 253–257 (deutsch). Beide entnehmen diesen D. Jasper, Das Papstwahldekret von 1059, 98–119. Zum Papstwahldekret und den weiteren Beschlüssen der Lateransynode von 1059 vgl. auch Hartmann, Der Investiturstreit, S. 17 f. (Probleme und Tendenzen der Forschung: S. 84 ff.; Literatur: S. 128); H.-G. Krause, Das Papstwahldekret von 1059; Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 216 f. 76 Vgl. den Eid Berengars von Tours auf der Lateransynode von 1059. In: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 48–51. Zu Berengar und zum Abendmahlsstreit siehe auch K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 187 ff.; H. Hofmann, Repräsentation, S. 65 ff.; G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, S. 79 ff. Weitere Literatur bei Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, S. 112 f.

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neue Machtbasis für das Königtum ein vom Harz ostwärts reichendes Gebiet unmittelbarer und geschlossener Herrschaft aufzubauen und durch Burgen abzusichern. Dagegen erhob sich im Jahr 1073, von Sachsen ausgehend, ein umfassender Adelsaufstand. Aus kritischer Lage durch Wormser Bürger (überwiegend salische Ministerialen?) gerettet, erreichte der König mit seinem Sieg über die Sachsen (1075) einen ersten Gipfel seiner Macht“.77 Mittlerweile war Hildebrand, der seit längerem als Archidiakon im Hintergrund die Fäden gesponnen hatte, 1073 durch einen Tumult zum Papst erhoben worden.78 Er begann sogleich mit weiteren radikalen Reformen, setzte ohne Ansehen der Personen simonistische Kleriker ab und provozierte dadurch den Widerstand der Bischöfe Deutschlands und Oberitaliens. Gregor VII. bemühte sich zunächst erfolgreich um ein Einvernehmen mit dem Kaiser,79 wurde jedoch durch den Aufstand der Sachsen und die Empörung der Fürsten zu einem härterem Vorgehen ermutigt. Heinrich seinerseits konnte sich nun auf den Reichsepiskopat stützen und wagte im Herbst 1075 den Bruch mit dem Papst. Er griff ein in den Mailänder Bischofsstreit und erhob einen Angehörigen seiner Hofkapelle zum Erzbischof von Mailand. Dadurch mußte der Konflikt eskalieren. Die folgenden Ereignisse sind bekannt und müssen nicht detailliert nacherzählt werden:80 Am 26. Januar kündigte die Mehrheit des deutschen Episkopats Gregor VII. den Gehorsam auf. Heinrich adressierte sein Absageschreiben als König von Gottes Gnaden nicht mehr an den Papst, sondern an „den falschen Mönch“ Hildebrand. Daraufhin erklärte Gregor auf der Fastensynode von 1076 den deutschen König für abgesetzt und verhängte über ihn den Bann.81 Infolge der Spal77 U. Dirlmeier, Früh- und Hochmittelalter, S. 51. Zum Engagement der Wormser Bürger vgl. E. Engel, Die deutsche Stadt des Mittelalters, S. 39 ff. Als Dank für die geleistete Unterstützung überreichte Heinrich am 18. Januar 1074 einen Freibrief für die Bürger von Worms, der ihnen wichtige Zollprivilegien einräumte. Vgl. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 273 ff. Zu den Sachsenkriegen vgl. den von tiefer Abneigung gegen Heinrich IV. geprägten Abriß in Brunos Buch vom Sachsenkrieg und die Auszüge aus den Niederaltaicher Annalen. Ebd., S. 267 ff. Zu den Widerstandsbewegungen gegen Heinrich IV. ferner Kern, Gottesgnadentum, S. 168 ff. 78 Zur Vorgeschichte und den Vorgängen um seine Thronbesteigung sowie zu seinen Zielen und Kämpfen vgl. auch F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. 7. Buch, 3.–6. Kap. [Bd. II, 1, S. 43–114]. Zur Persönlichkeit und Politik Gregors VII. vgl. auch Haller, Das Papsttum. Bd. 2, S. 365 ff. 79 Das anfängliche Einvernehmen zwischen Kaiser und Papst spiegelt sich in den Briefen Heinrichs IV. an Gregor VII. von 1073 und von Gregor an Heinrich vom 7. Dezember 1074 wider. Vgl. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 286–292. 80 Vgl. die prägnanten Skizzen von Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 77 ff.; ders., Einladung ins Mittelalter, S. 93 ff.; ders., Die Päpste, S. 109 ff.; Hartmann, Der Investiturstreit, S. 22 ff., 88 ff. Zu den Folgen vgl. bes. H. Kämpf (Hg.), Canossa als Wende; H. Zimmermann, Der Canossagang. 81 Vgl. das Absageschreiben Heinrichs an Gregor (Kurz- und Langfassung), das Absetzungsschreiben und den Bericht des Papstes über die Vorgänge in Canossa sowie den Eid Heinrichs IV. – alle in: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 292–304. Zum Zerwürfnis zwischen Heinrich und Gregor vgl. auch Hauck, Kirchengeschichte.

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tung und Aufrüttlung seiner Anhängerschaft sah sich Heinrich schließlich am 25. Januar 1077 zum berühmten Bußgang nach Canossa genötigt, woraufhin der Bann vom Papst wieder aufgehoben wurde. Als Heinrichs Gegner 1077 mit Rudolf von Schwaben einen Gegenkönig krönten, kam es zum Bürgerkrieg, der 1080 mit dem Tod des Rivalen endete. Im selben Jahr verhängte Gregor VII. einen zweiten Bannspruch über den König, der aber im Gegensatz zum ersten ohne Folgen blieb, da seine Rechtmäßigkeit von weiten Teilen des Episkopats bezweifelt wurde. Heinrich nominierte im Gegenzug Wibert von Ravenna zum Gegenpapst, der 1084 gewählt wurde und sich Clemens III. (1084–1100) nannte. Im selben Jahr erfolgte die Kaiserkrönung, woraufhin Gregor die Normannen zu Hilfe rief, die ihn unterstützten, indem sie Rom in Schutt und Asche legten. Da die stadtrömische Bevölkerung darüber aufgebracht war, mußte er nach Salerno ins Exil fliehen, wo er 1085 starb. Damit war der Kampf zwischen Sacerdotium und Imperium aber nicht beendet. Er entflammte in der Folgezeit – geschürt durch die Rivalität zwischen König und Fürstenopposition – immer wieder neu und behrrschte das Politikdenken der Europäer bis in die Frühe Neuzeit hinein. Die Politik- und Herrschaftsgeschichte des Hoch- und Spätmittelalters läßt sich insgesamt begreifen als stets neue Grenzziehung zwischen spiritualer und temporaler sowie zwischen Zentralund Territorialgewalt. Sie wurde geprägt durch den nicht enden wollenden Kampf zwischen Kaiser und Papst, weltlichen und geistlichen Herrschern um die Suprematie im Reich und in den einzelnen Territorien. Die wichtigsten Etappen dieser Auseinandersetzung sind im folgenden zu betrachten. Zuvor sind die Konsequenzen zu bedenken, die der Bannstrahl und der durch ihn erzwungene Canossagang für die Reichsidee hatte. cc) Folgen der Papstrevolution Grundlegend für die spätere Entwicklung wurde die erste Phase, die gewöhnlich unter dem Titel Investiturstreit zusammengefaßt und damit auf einen zwar wichtigen, aber nicht den entscheidenden Aspekt reduziert wird, der allerdings am Ende, im Wormser Konkordat von 1122, tatsächlich ins Zentrum der Schlichtungsbemühungen rückte. Ausschlaggebend war nicht die Investitur der Bischöfe, die schließlich den geistlichen Würdenträgern vorbehalten sein sollte, sondern die Zerstörung und Überwindung des ottonisch-salischen Reichskirchensystems. Die Eskalation des Konflikts in dieser Zeit hatte weitreichende Konsequenzen. Die alte Herrschaftsordnung und das Machtgefüge in Kirche und Reich wurden erschüttert. Die alte Gottesreichsidee, die von den Kirchenvätern des 4. Jahrhundert entwickelt und seit Karl dem Großen und Otto dem Großen so glanzvoll Bd. 3, S. 784 ff. Zur publizistischen Reaktion auf den ersten Bannspruch vgl. Mirbt, Die Publizistik, S. 134 ff.

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erneuert worden war, zerbrach in ihre Einzelbestandteile: in „Welt“ und „Kirche“, „Reich“ und „Gottesreich“, „Imperium“ und „Sacerdotium“. Zwischen „Himmel“ und „Erde“ öffnete sich wieder eine tiefe Kluft, die kaum mehr zu überbrücken war.82 Schon mit dem ersten Bannstrahl, den Gregor VII. 1076 gegen Heinrich IV. schleuderte, wurde ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Christentums und der Monarchie erreicht. Karl Bosl faßt dieses Ereignis, die Intentionen des Papstes und die Folgen seiner Aktion wie folgt zusammen:83 „Das Frühmittelalter hatte im König den unantastbaren ,rex et sacerdos‘, den ,rex iustus et christianissimus‘ gesehen. Dahinter lebte noch der altgermanische Glaube, der im Herrscher den begnadeten Mittler zwischen göttlicher Kraft und den Menschen sah und ihm das Charisma zuschrieb, das in seinen Kriegserfolgen, in seinem Glück zum Ausdruck kam. Aus dieser zugleich christlichen und germanisch-heidnischen Heilsordnung riß der Bann den deutschen König heraus; der Papst suchte die mythisch-sakrale Geltung des Königtums zu entwerten, den gesalbten König zum ,rex terrenis‘ herabzudrücken und ihn damit in den Augen der Welt zu säkularisieren“.

Durch die päpstliche Machtanmaßung wurde die bisherige Legitimationsgrundlage der religiös-politischen Einheitswelt zerstört. Die weltliche Herrschaft sollte entsakralisiert und ihrer heilsgeschichtlichen Funktionen beraubt werden. Der Kaiser sollte nicht länger als Verkörperung des göttlichen Gesetzes und als vicarius Christi gelten, sondern nur noch als der verlängerte weltliche Arm des geistlichen Herrschers, der nunmehr selbst alle entscheidenden Machtpositionen und Herrschaftsbefugnisse für sich beanspruchte. Dadurch mußte er zwangsläufig den Widerstand der Gegenseite provozieren und so den großen Bruch in der Geschichte des Abendlandes herbeiführen. Infolge der Zertrümmerung der Einheit durch die päpstliche Offensive wurden die oben genannten Alternativen überhaupt erst eröffnet. Jetzt erst konnte sich der Konflikt zwischen den Verfechtern des Universalismus und ihren partikularistischen Gegnern frei entfalten. Der Kampf zwischen Papst und Kaiser setzte die zentrifugalen Kräfte frei und eröffnete die innerkirchliche Auseinandersetzung um Zentralismus oder Selbstbestimmung der Landeskirchen sowie zwischen weltlicher Zentral- und Territorialgewalt. Theoretisch antizipiert war der verhängnisvolle Schritt bereits im Dictatus Papae (1075), in dem Gregor VII. schon im Jahr zuvor die Konsequenzen aus der angespannten Lage zu ziehen versucht und seine religiös-politischen Vorstellungen fixiert hatte. Dieser Text markiert einen gravierenden Einschnitt in der Entwicklung des christlichen Politikdenkens im Mittelalter, da er das künftige Stre-

82 Vgl. F. Heer, Aufgang Europas, S. 529 ff.: „In einer totalen Desillusionierung der bestehenden mittelalterlichen Verhältnisse reißt so Gregor eine tiefe Kluft auf zwischen ,Reich‘ und ,Gottesreich‘, ,Staat‘ und ,Kirche‘, ,Geistlichem und Weltlichem‘, Welt und Überwelt, ,Himmel‘ und ,Erde‘. Dies mußte im innersten Raum der Kirche das Ende der karolingisch-patristischen Theologie herbeiführen“ (S. 531). 83 Bosl, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im deutschen Mittelalter, S. 778.

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ben nach päpstlicher Weltherrschaft legitimierte und damit zugleich die Gegenreaktionen von seiten der kaiserlichen Partei hervorrief. Darin heißt es u. a.:84 I. II. III. VII. VIII. IX. XII. XIV. XVII. XVIII. XXI. XXVII.

Die römische Kirche wurde allein vom Herrn gegründet. Nur der römische Bischof wird zu Recht universal genannt. Nur er kann Bischöfe absetzen oder begnadigen. Er allein kann je nach Notwendigkeit neue Gesetze erlassen (. . .) Nur er kann die kaiserlichen Insignien führen. Der Papst ist der einzige, dem alle Fürsten die Füße küssen. Er kann Kaiser absetzen. Er hat das Recht, einen Priester in jeder beliebigen Kirche, wo immer er will, zu weihen. Es gibt keinen Rechtssatz und keine Rechtssammlung ohne seine Billigung. Sein Urteil darf von niemandem widerrufen werden, und nur er kann die Urteile aller widerrufen. Alle größeren Rechtsfälle aller Kirchen müssen ihm vorgetragen werden. Er kann Untertanen vom Treueid gegen ungerechte Herrscher lösen.

Die römische Kirche beanspruchte somit die Suprematie sowohl über alle anderen Kirchen als auch über Fürsten und Kaiser. Der Papst forderte das Recht der Letztentscheidung. Er wollte der oberste Gesetzgeber, Vollstrecker und Rechtsprecher sein, folglich die Funktionen der Legislative, Exekutive und Judikative in seiner Hand vereinen. Ihm allein sollte die Investitur der Bischöfe zustehen. Die „Laien“ hatten sich hingegen aus allen kirchlichen Angelegenheiten herauszuhalten. Sie sollten nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch hinsichtlich der kirchlichen Organisation keine Stimme haben. Die Reichseinheit sollte unter der Oberhoheit des Papstes gewahrt bleiben, eine zentralistische Organisation die wesentlichen religiös-politischen Angelegenheiten regeln. Beide Schwerter sollten in den Händen des Kirchenoberhauptes liegen. Eine Gewaltenteilung, eine Trennung zwischen spiritualia und temporalia war nicht intendiert. Das Imperium sollte erhalten, die Einheit von Religion und Politik gesichert werden. Gregor zog damit die hierokratischen Konsequenzen aus der Zwei-Schwerter-Lehre (Lukas 22, 38)85 und der Zweigewaltenlehre des Gelasius, die er jedoch papalistischzentralistisch radikalisierte.86

84 Zitiert nach Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 90 f. Den lateinischen Text mit leicht abweichender Übersetzung bieten Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, S. 56 ff. und Miethke/Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 61 ff. Sie entnehmen den Originaltext dem Register Gregors VII. Hgg. v. Erich Caspar (MGH. Epistolae selectae II, 1). Berlin 1920, Lib. II, 55 a, S. 201–208. An einzelnen Stellen habe ich die durch Sigrid Metgen ins Deutsche übertragene Version Le Goffs in freier Übernahme der Übersetzungen von Laudage und Miethke/Bühler modifiziert. 85 Zu deren Rezeption und Weiterbildung im Mittelalter vgl. W. Levison, Die mittelalterliche Lehre von den beiden Schwertern; H. Hoffmann, Die beiden Schwerter im hohen Mittelalter; L. Knabe, Die gelasianische Zweigewaltentheorie bis zum Ende des Investiturstreits; A. Borst, Der Streit um das weltliche und das geistliche Schwert.

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Noch weiter ging sein Mitstreiter Manegold von Lautenbach, der in einer an Gebhard von Salzburg adressierten Schrift (Liber ad Gebehardum, ca. 1085) die Entsakralisierung des Königtums auf die Spitze trieb, indem er den König mit einem Schweinehirten verglich, der mit Schimpf und Schande aus seinem Amt vertrieben werden kann, wenn er seine Pflichten nicht sachgemäß erfüllt.87 Er begriff das Königtum „als ein funktionales Amt und nicht als substantielle Eigenschaft des Trägers“.88 Seine Aufgabe sei die Wahrung des Friedens und der Gerechtigkeit, die Sorge um das Seelenheil komme hingegen dem Papst und den Klerikern zu, die damit weiterreichende Aufgaben erfüllen und folglich höhere Dignität beanspruchen können. Indem Manegold das Königtum auf rein weltliche Verwaltungsfunktionen beschränkte und auf einen Vertrag (pactum) zwischen Herrscher und Untertanen zurückführte, schien erstmals von fern der Gedanke der Volkssouveränität anzuklingen, der allerdings nicht im Zentrum seiner Überlegungen und seines Interesses lag und eher pejorativ als konstruktiv gemeint war.89 Sein Anliegen war die Verteidigung Gregors VII. und die Untermauerung des päpstlichen Suprematieanspruchs. Während der Papst sein Amt von Petrus und damit von Christus erhalten hat, ist der König bloßer Beauftragter des Volkes, d. h. der Fürsten, und kann – wie von Gregor praktiziert – bei schlechter Amtsführung vom geistlichen Oberhaupt wieder abgesetzt werden. Damit sollte der zweite Bann gegen Heinrich (1080), Gregors neuerliche Lösung der Treueide und sein Versprechen geistlichen Lohns für die Gegner des Königs gerechtfertigt werden, die im Reich zu leidenschaftlichen Protesten und zu heftiger Kritik am Papst geführt hatten.90 Während der Papst Unterstützung durch Bernold von St. Blasien, Anselm von Lucca, Bonizo von Sutri u. a. fand, die sein Vorgehen rechtfertigten und den Primat des Apostolischen Stuhles in Kirche wie Reich zu begründen suchten,91 formierte sich gegen ihn und seine Fürsprecher die Front ihrer Gegner. Es war abzusehen, daß sich die Repräsentanten der weltlichen Gewalt mit dieser depravierenden Positionszuweisung nicht abfinden würden. Sie waren gezwungen, die 86 Eine Begründung dieses Anspruchs lieferte Gregor VII. in einem Schreiben an Bischof Hermann von Metz vom 15. März 1081. Abgedruckt und übersetzt in: Miethke/ Bühler, Kaiser und Papst, 63–67. 87 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum Liber, c. 30, S. 365. 88 J. Miethke, Politische Theorien im Mittelalter, S. 63. 89 Vgl. dazu Fuhrmann, „Volkssouveränität“ und „Herrschaftsvertrag“ bei Manegold von Lautenbach. Zu Manegold von Lautenbach siehe ferner K. Flasch, Einführung in die Philosophie des Mittelalters, 6. Kap.; W. Hartmann, Manegold von Lautenbach; Kern, Gottesgnadentum, S. 216 ff.; Mirbt, Die Publizistik, S. 26 f., 154, 227 ff.; Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 226 f. 90 Vgl. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 212 ff. (zu Manegold von Lautenbach: S. 216 ff.); Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 4, S. 81 ff. 91 Vgl. dazu Dempf, Sacrum Imperium, S. 190 ff.; Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 220 ff.; Mirbt, Die Publizistik, bes. S. 17 ff., 147 ff., 226 ff.; Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 225 ff.

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päpstlichen Machtansprüche abzuwehren und ihre eigenen Vorstellungen und Kompetenzen darzulegen. Die Entsakralisierung und Säkularisierung der Königsidee wurde nicht unwidersprochen hingenommen. Die Anhänger des Kaisers konterten vielmehr die päpstliche Attacke und reagierten in der Folgezeit mit einer Remythisierung und Wiederverzauberung des Kaisertums.92 Die kaiserliche Partei sah sich zunächst aber in die Defensive gedrängt. Heinrich IV. kämpfte nicht mehr um die Suprematie, sondern um die Gleichberechtigung der beiden Gewalten. Er erneuerte den Gedanken des Gottesgnadentums und beteuerte, er habe sein Amt nicht vom Papst, sondern unmittelbar von Gott empfangen, sei daher keineswegs dem Kirchenoberhaupt untergeordnet, ihm vielmehr prinzipiell gleichgestellt. Auch Heinrich rekurrierte unter dem Einfluß seines Ratgebers Gottschalk von Aachen auf die alte, seinerzeit vielzitierte Zwei-Schwerter-Lehre, wollte mit ihrer Hilfe aber keine Rangabstufung, sondern die Gewaltenteilung und das gleichberechtigte Nebeneinander von Regnum und Sacerdotium begründen.93 Hatte sich die Kanzlei Heinrichs IV. bis zum zweiten Bannspruch mit der Betonung des göttlichen Mandats begnügt, so rekurrierte sie seit 1080/81 darüber hinaus auf das Erbrecht und die antike und karolingische Tradition.94 Sie berief sich auf die Erbfolge Karls des Großen und des antik-römischen Imperiums als zweiter Legitimationsgrundlage des Kaisertums. Beide Positionen wurden von der kaisertreuen Publizistik untermauert, die in Wenrich von Trier, Wido von Osnabrück, Benzo von Alba, Petrus Crassus, dem italienischen Kardinal Beno, Wido von Ferrara sowie im Liber de unitade ecclesiae conservanda eines Hersfelder Mönchs ihren bedeutendsten Ausdruck fand. Durch sie wurde die altrömische Reichsidee wiederbelebt95 und die Gewaltenteilung bzw. die Suprematie des Kaisers über Papst und Fürsten begründet. Auch sie wollten die Einheit von Kirche und Reich bewahren, die durch das harmonische Miteinander beider Gewalten 92 Vgl. dazu bes. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium. Koch bietet eine durchgängige und eindringliche Analyse sowohl der Briefe und Urkunden aus der Kanzlei Heinrichs IV. (S. 30 ff.) als auch der kaisertreuen Publizistik (S. 36 ff.). Sodann untersucht er die Elemente der ideologischen Herrschaftsbegründung der letzten beiden Salier (S. 61 ff.) und die historischen und irdisch-realen Rechtsgründe der Herrschaft Heinrichs IV. und Heinrichs V. (S. 100 ff.), um sich schließlich den Staufern zuzuwenden (S. 149 ff.). 93 Vgl. Borst, Der Streit um das weltliche und das geistliche Schwert, S. 103; Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 30 ff., 61 ff.; Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio, S. 253; ders., Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte, S. 100; Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 224; Tellenbach, Libertas, S. 188; H. G. Walther, Imperiales Königtum, S. 33 ff. 94 Vgl. zum folgenden Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 30 ff., 61 ff., 101 ff., 111 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 95 Zur Entwicklung der Romidee im 11. Jahrhundert vgl. auch F. Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter, S. 179 ff.; Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio, S. 275 ff.; Struve, Kaisertum und Romgedanke in salischer Zeit.

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bzw. durch die Autorität des Kaisers garantiert werden sollte. Vor allem Benzo von Alba, der Gregor VII. zum Vorläufer des Antichrist stilisierte, erneuerte den antiken Weltherrschaftsgedanken. Er prophezeite Heinrich IV., er werde der Endkaiser sein, zu guter Letzt Herrscher über Byzanz werden, um schließlich nach Jerusalem zum heiligen Grab zu ziehen.96 Der Salier galt ihm „als alleiniger legitimer imperator Romanorum und dominus mundi“, „der oströmische Kaiser wurde zum bloßen ,rex Bizanzenus‘ degradiert, die europäischen Könige sanken wie später bei Rainald von Dassel zu abhängigen Provinzkönigen (reges provinciarum) herab“ (Koch, S. 116 f.). Heinrich selbst erhob diesen Anspruch allerdings nicht. Er strebte weder nach der Weltherrschaft noch nach Oberhoheit gegenüber den anderen europäischen Königen. Erst Friedrich Barbarossa und Heinrich VI. vertraten diese – spezifisch staufische – Idee (S. 118).97 Der überwiegende Teil der kaisertreuen Publizisten ging folglich – der tatsächlichen Lage entsprechend – „von der Gleichheit der sakralen Grundlagen für den rex und den imperator aus“ (S. 117). Gemäß den Vorgaben der Kanzlei Heinrichs IV. wurde zumeist kein cäsaropapistisches, sondern ein gewaltenteiliges Regiment begründet. Eine juristische Untermauerung dieser Position durch Rekurs auf das römische Recht98 unternahm Petrus Crassus in seiner Verteidigung Heinrichs IV. (ca. 1083/84).99 Er wollte die Autonomie und Eigenwürde des außerkirchlichen Rechts gegenüber dem kanonischen und die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung zwischen Kaiser und Papst begründen. Für ihn „gliederte sich die Welt in zwei voneinander unabhängige Rechtskreise (duplices leges), die beide ihren Ursprung in Gott hatten: das kanonische Recht für die geistliche Sphäre und die ,geheiligten Gesetze‘ (sacratissimae leges) des römischen Rechts für den irdischstaatlichen Bereich“.100 Es handelt sich demnach nicht um einen Dualismus zwischen temporalia und spiritualia, sondern zwischen zwei Rechtsordnungen: einer für die Laien (populus) und einer für die Geistlichen (clerus). Der Kaiser sollte für die Sicherheit des Reiches und für die Wahrung des Friedens zuständig und zugleich Hüter der Orthodoxie sein, während der Papst sich auf den seelsorgeri96 Vgl. Benzo von Alba, Ad Heinricum IV., S. 605. Dazu Erdmann, Endkaisertum und Kreuzzugsgedanke, S. 403 ff.; ders., Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 278; A. Fliche, La réforme Grégorienne. Bd. 3, S. 216 ff. 97 Zum Streit über die staufischen Weltherrschaftsansprüche vgl. auch die Literaturübersicht von H. J. Kirfel, Weltherrschaftsidee und Bündnispolitik, S. 12 ff. Kirfel selbst bestreitet, daß die praktische Politik der Staufer auf Weltherrschaft abzielte. 98 Zur Wiedergeburt des römischen Rechts im Kontext und Gefolge der Papstrevolution vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 199 ff.; F. C. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, bes. Bd. IV–VI; P. G. Stein, Römisches Recht und Europa, S. 68 ff.; Struve, Die Salier und das römische Recht. Siehe auch Anm. 101. 99 Vgl. Petrus Crassus, Defensio Heinrici IV. regis. Hgg. v. Lothar von Heinemann. MGH. Libelli de lite. Bd. 1. Hannover 1891, 432–453. Dazu Dempf, S. 194 ff.; Koch, Auf dem Wege, S. 37 ff.; Mirbt, Die Publizistik, S. 18 ff., passim. 100 Struve, Regnum, S. 230. Vgl. auch Walther, Imperiales Königtum, S. 41 f.

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schen Bereich zu beschränken hatte. Der gelernte Jurist aus der Rechtsschule in Ravenna wurde damit zum Pionier des „juristischen“ 12. Jahrhunderts (Frederic W. Maitland) und zum Vorkämpfer der späteren Rechtslehren im „Zeitalter der Jurisprudenz“,101 in dem die alte Dichotomie von Regnum und Sacerdotium durch die neue von König und Gesetz verdrängt und die theologische und kirchenrechtliche Doktrin, wonach die Kirche wie die christliche Gesellschaft im allgemeinen ein corpus mysticum mit Christus als Haupt ist, aus der theologischen in die juristische Sphäre übertragen wurde.102 Weiter ging ein Normannischer Anonymus, der um 1100 auf seiten Heinrichs und zugleich der episkopalistischen Opposition kämpfte und die cäsaropapistische Gegenposition zur hierokratisch-papalistischen bezog, indem er die Oberhoheit des Kaisers in Religion und Politik begründete.103 Er entwickelte die Lehre von den zwei Körpern des Königs, wonach sein „politischer“ (body politics) von seinem „natürlichen Leib“ (body natural) zu unterscheiden sei. Der König müsse folglich als eine doppelte Person (gemina persona) gesehen werden, deren eine aus der „Natur“, deren andere aus der „Gnade“ komme: „Die eine war von Natur aus gleich wie bei anderen Menschen, die andere erhob ihn durch die Eminenz der Gottwerdung (eminentia deificationis) und die Macht des Sakraments über alle anderen. Im Hinblick auf die eine Person war er von Natur aus ein Mensch, im Hinblick auf die andere war er durch die Gnade ein Christus, das heißt ein Gottmensch“.104 Im Ausgang von dieser Dichotomie gelangte der Normannische Anonymus zu einer metaphysisch begründeten Einheit von Reich und Kirche unter der Leitung des Kaisers, die er durch Rekurs auf die Geschichten des Alten Testaments und der Frühzeit des Christentums zu erhärten suchte. Mit seinem daraus abgeleiteten Bild eines Priesterkönigtums erneuerte er somit die alten Ideale der ottonischen und frühsalischen Zeit sowie der angelsächsischen Reiche in England vor der normannischen Eroberung. Seine Traktate sind, wie Ernst Kantorowicz bemerkt, „eine Zusammenfassung der politischen Ideen des 10. und 11. Jahrhunderts“ (S. 81). Deshalb blieb ihnen der Erfolg und jegliche Wirkung versagt. 101 Zum Aufstieg der Juristen und zur Rezeption des römischen Rechts vgl. auch J. Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert; P. Koschaker, Europa und das römische Recht; G. Post, Studies in Medieval Legal Thought; H. G. Walther, Die Anfänge des Rechtsstudiums und die kommunale Welt Italiens im Hochmittelalter; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 124 ff. 102 Vgl. E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 39, 106 ff. 205 ff. 103 Vgl. Die Texte des Normannischen Anonymus. Dazu bes. Dempf, S. 199 ff.; Kantorowicz, Die zwei Körper, S. 64 ff.; Kern, Gottesgnadentum, S. 253 ff. (Anhang III); Miethke, Politische Theorien, S. 63 ff.; Struve, Regnum, S. 231 f.; W. Ullmann, Die Machtstellung des Papsttums, S. 570 ff.; G. H. Williams, The Norman Anonymous. 104 Vgl. den Traktat De consecratione pontificum et regum. In: Die Texte des Normannischen Anonymus, 129–180. Hier zitiert nach Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 67. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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Die Zeit des westlichen Cäsaropapismus war vorbei. Das alte ottonisch-salische Reichskirchensystem ließ sich nicht restituieren. Das harmonische Miteinander von Kaiser und Papst in der einen umfassenden Ekklesia unter dem Schutz und der Leitung des ersteren war einer offenen Konfrontation gewichen. Der Zug der Zeit ging in Richtung Gewaltenteilung, die Ivo von Chartres (1040–1112) durch die Unterscheidung der spiritualia von den temporalia – ungewollt105 – antizipierte und theoretisch legitimierte.106 Er wandte sich zugleich gegen die universale Herrschaft und begünstigte territoriale Lösungen.107 Schon bei Hugo von Fleury (y ca.1120) zeichnete sich die allmähliche Trennung und Verselbständigung des regnum Francorum gegenüber dem Imperium deutlich ab,108 die dann in der Zeit Philipps des Schönen (1285–1314) unzweideutig postuliert und praktiziert wurde. Dennoch verstummten die Stimmen nicht, die auch weiterhin am Universalitätsanspruch des Imperium festzuhalten gedachten. Vor allem die Staufer bemühten sich, den Reichsmythos am Leben zu erhalten und mit neuem Inhalt zu füllen. Sie setzten der „Imperialisierung“ des Papsttums die „Sakrali-

105 Ivo von Chartres, der seinen Zeitgenossen die begriffliche Unterscheidung der spiritualia von den temporalia nahebrachte, wollte damit die spirituelle und weltliche Funktion der kirchlichen Würdenträger unterscheiden, aber zugleich die Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt begründen: Wie die Seele über den Körper, so herrsche naturgemäß die geistliche über die weltliche Gewalt. Vgl. Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund des mittelalterlichen Weltbildes, S. 184; Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 232 f.: „Bestimmend war für ihn die Überzeugung, daß der Bestand der in der Ecclesia zusammengeschlossenen Christenheit von der Eintracht (concordia) von regnum und sacerdotium abhängig sei (epp. 60, 106, 238), welche es deshalb unbedingt zu erhalten gelte“ (S. 233). 106 Zu Ivo von Chartres siehe auch Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 4, S. 97 ff.; H. Hoffmann, Ivo von Chartres und die Lösung des Investiturproblems; R. Sprandel, Ivo von Chartres und seine Stellung in der Kirchengeschichte. 107 Zur Entstehung territorialer oder „nationaler“ Traditionen in Frankreich, Spanien und im Imperium vgl. W. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, S. 71 ff. Zur Genese des deutschen Nationsgedankens vgl. J. Ehlers (Hg.), Ansätze und Diskontinuitäten deutscher Nationsbildung im Mittelalter. Siehe auch H. Beumann/ W. Schröder (Hg.), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter; H. Beumann (Hg.), Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter; M. Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt, S. 24 ff., 95 ff.; C. Brühl/B. Schneidmüller (Hg.), Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nationsbildung in Deutschland und Frankreich; M. Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 108 Vgl. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 50 f.: „Hugo propagierte die Einheit des Reiches unter einem starken König, der den Kristallisationspunkt des Landes darstellte. Wie der Kopf am menschlichen Körper, so sollte der französische König das Haupt in seinem Königreich bilden. Mit dieser Auffassung mußte zugleich die klare Trennung des autonomen regnum Francorum vom Imperium unterstrichen werden.“ Vgl. auch ebd., S. 88 ff. Koch folgt dabei K. F. Werner, Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs, S. 10 und S. Mochi Onory, Fonti canonistiche dell’idea moderna dello stato, S. 15, der in Hugo von Fleury den Vorläufer des Souveränitätsdenkens erblickte. Ferner W. Kienast, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit. Bd. 2, S. 378 ff.

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sierung“ des Kaiser- und Königtums entgegen.109 Mit ihnen kam jedoch die alte Vorstellungswelt an ihr Ende. Denn: „Nicht der König als imago Christi et Dei . . ., vielmehr der römische Bischof als vicarius Christi und vicarius Dei, der Papst als Stellvertreter Christi und Gottes, wurde zum beherrschenden Thema der politischen Theologie des späten Mittelalters, während eine Königsmystik erst in der frühen Neuzeit wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit politischer Theorie rückte. Gregor VII. hat für diese kommenden Entwicklungen die entscheidenden Weichen gestellt“.110 „Das revolutionäre Reformpapsttum siegte im Gefolge des Investiturstreits und es entstand ein klerikales Reich unter päpstlicher Leitung, das die geistlichen Belange monopolisierte. Damit wurde es unmöglich, das priesterkönigliche Bild des liturgischen Königtums aufrechtzuerhalten oder zu erneuern, das der Anonymus so angelegentlich verfocht. Auf der anderen Seite waren die neuen territorialen Staaten, die sich im 12. Jahrhundert zu entwickeln begannen, betont weltlich, mochten sie auch manches vom kirchlichhierarchischen Modell borgen. Künftig gründete die Heiligkeit des Herrschers mehr auf das weltliche Gesetz (einschließlich eines säkularisierten kanonischen Rechts) als auf den Effekt der heiligen Salbung“.111 Der Investiturstreit provozierte eine wahre Flut an Streitschriften und Stellungnahmen, die einen ersten Höhepunkt der politischen Philosophie des Mittelalters brachten.112 Er führte zu einer Politisierung auf breiter Front und schuf „zum ersten Mal so etwas wie eine ,öffentliche Meinung‘ in Deutschland“: erstmals in der Geschichte trat „zum Streit der Waffen ein durch ganz Deutschland hindurchgehender Kampf der Geister hinzu“.113 Das Herrschaftsgefüge wurde durch die Kombattanten in Frage gestellt, die überkommene politische Ordnung verlor ihre traditionale Legitimation und Selbstverständlichkeit. Sie wurde reflexiv und vor den „Gerichtshof der Vernunft“ (I. Kant) gezogen. Ihre Fundamente galten nicht länger als unumstößlich, als „natürlich“ und „gottgewollt“, sie erschienen vielmehr als gestalt- und veränderbar. Zwar blieben die politischen Reflexionen zu109

Vgl. H. M. Schaller, Die Kaiseridee Friedrichs II., S. 112. Miethke, Politische Theorien, S. 65. 111 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 81. Allerdings wurden dabei die theologischen und kirchenrechtlichen Ideen auf die entstehenden säkularen Staaten übertragen: „Im Zeitalter der Jurisprudenz erlangte der souveräne Staat eine Heiligung seines Wesens unabhängig von der Kirche, wenn auch parallel mit ihr, und nahm die Ewigkeit des Römischen Reiches an, als der König ,Kaiser in seinem Reich‘ wurde. Doch diese Heiligung des status regis et regni, der staatlichen Einrichtungen, Zwecke, Bedürfnisse und Notwendigkeiten wäre unvollständig geblieben, wäre nicht der neue Staat auch in seinem körperschaftlichen Aspekt als ein weltliches corpus mysticum der Kirche gleichgesetzt worden“ (ebd., S. 204). 112 Zum Charakter der Streitschriften vgl. Mirbt, Die Publizistik, S. 4 ff., 611 ff. Zu ihrer Verbreitung: S. 95 ff. Zu ihrem Leserkreis: S. 121 ff. Vgl. auch die Zusammenstellung der wichtigsten Streitschriften und der jüngeren Sekundärliteratur bei Struve, Regnum und Sacerdotium, S. 240 ff. 113 Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, S. 101. 110

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meist auf die Herrscherpersönlichkeiten und die handelnden Akteure bezogen, doch bahnte sich die Trennung von Amt und Person und mit ihr eine transpersonale Ordnungsvorstellung an. Die weiteren Details der Kontroversen und die unterschiedlichen Positionen sollen hier nicht rekonstruiert werden, da sie hinsichtlich der Reichsidee keine nennenswerten Neuerungen brachten. Die Bemühungen der gegnerischen Parteien erschöpften sich diesbezüglich zumeist in der Beschwörung der alttestamentlichen Vorstellungswelt und in der neuen Zusammensetzung überkommener patristischer Versatzstücke. Entscheidend sind die Konsequenzen, die durch die Auseinandersetzung erzwungen wurden. Theoretische Folge des Konflikts war die allmähliche Emanzipation der Philosophie von der Theologie, deren Magd sie bislang gewesen war. Man begann das Für und Wider bestimmter Positionen und gegensätzlicher Postulate zu erörtern, konnte sich folglich nicht mehr damit begnügen, die überlieferten Dogmen zu kommentieren und die alten Autoritäten zu zitieren. Die Papstrevolution wurde zur Geburtsstunde der Scholastik mit ihrer neuen dialektischen Methode der Analyse und Synthese,114 die in Anselm von Canterbury (1033–1109), Petrus Abaelard (1079–1142) und Petrus Lombardus (y 1160) ihre bedeutendsten Protagonisten fand und ihrerseits befruchtend auf die Ausbildung des kanonischen und damit auch des weltlichen Rechts wirkte.115 Mit ihr begann zugleich der Universalienstreit, der dann von den Denkern des Spätmittelalters fortgeführt und ausgefochten wurde. Während Abaelard, der eine individuelle Gewissensethik begründete und das Dogma der Erbsünde in Frage stellte,116 eine anti-realistische, aber noch nicht eindeutig nominalistische Position vertrat,117 erwuchs ihm in 114 Vgl. M. Grabmann, Geschichte der scholastischen Methode; K. Flasch, Das philosophische Denken, bes. S. 204 ff.; J. P. Beckmann u. a. (Hg.), Philosophie im Mittelalter; W. L. Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, S. 332 ff. (bes. S. 388 ff.); R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 137 ff.; G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, bes. S. 89 ff.; F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie II, S. 141 ff. 115 Zum Einfluß der scholastischen Dialektik (v. a. Abaelards) auf das kanonische Recht und die Rechtswissenschaft vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 215 ff. (bes. S. 234 ff.). Zum Begriff des „weltlichen Rechts“ siehe ebd., S. 439 ff. 116 Zu Abaelard vgl. etwa Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 233 ff.; ders., Das philosophische Denken, S. 211 ff.; L. Grane, Peter Abaelard; Heer, Aufgang Europas, S. 236 ff.; Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 178 ff.; Mensching, Das Allgemeine, S. 139 ff.; R. Thomas (Hg.), Petrus Abaelardus; H.-U. Wöhler, Zur Geschichte des Universalienstreites. Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik, S. 330 ff.; ders., Zur philosophischen Position des Nominalisten Petrus Abaelard. 117 Die Einschätzung der Position Abaelards in der damals aufbrechenden Universaliendiskussion ist in der heutigen Literatur umstritten. Nach Fuhrmann vertrat er „die Position eines gemäßigten Realismus“ (Deutsche Geschichte, S. 129). Für Mensching (Das Allgemeine, S. 139) hat er „die erste ausgeführte nominalistische Theorie geliefert, in der die Konsequenzen aus der Lehre Roscelins gezogen sind“. Nach Flasch (Das philosophische Denken, S. 216 f.) unterscheidet sich Abaelard allerdings vom Nominalismus des 14. Jahrhunderts dadurch, „daß er den menschlichen Begriff (conceptus) der Dinge nicht als willkürlich gebildet ansah, sondern als Ergebnis einer Abstraktion aus

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Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153) ein mächtiger Gegner, der dem dialektischen Rationalismus eine mystisch-kontemplative Glaubenshaltung entgegensetzte und mit seinem Glaubenseifer zum geistigen Promotor des Zweiten Kreuzzuges (1147–49) wurde.118 Praktische Folge der Auseinandersetzung war die schließliche Trennung von Imperium und Sacerdotium, deren Einheit beide Parteien gerade hatten erhalten wollen, die aber durch die Herauslösung und Verselbständigung der Kirche gegenüber dem Reich letztlich gesprengt wurde. Religion und weltliche Politik schieden sich voneinander und konnten in der Folge ihre je eigenen Wege gehen. Die Kirche verwandelte sich in eine rechtlich konstituierte Anstalt, an der die „Laien“ nur noch durch Vermittlung der Sakramentsträger partizipierten. Sie verstand sich nicht mehr nur als Teil einer umfassenden religiös-politischen Einheit, sondern wollte künftig selbst das Ganze repräsentieren: „Die immer mehr verrechtlichte und institutionalisierte Klerikerkirche war nicht mehr neben dem Imperium nur Teil einer umfassenden Ecclesia mit zwei Spitzen, sondern war diese Ecclesia selbst und allein“.119 Sie suchte ihren Schutz nicht mehr wie früher selbstverständlich bei den Deutschen, sondern wandte sich nun auch an andere Herrscher. Dadurch verlor das Reich seinen ideologischen Rückhalt und seine Legitimität. An die Stelle des universalen Kaisertums trat in der Folge eine Welt der Könige und Fürsten, die sich zusehends dem Zugriff der imperialen Zentralgewalt entzogen. Gregor VII. und seine Gefolgsleute haben mit ihren Invektiven somit eine folgenreiche Entwicklung eingeleitet, die von modernen Mediävisten und Verfassungsrechtlern wie folgt beschrieben wird: „Indem der Papst sowohl den Vorrang in der Kirche als auch die Führung in der gesamten Christenheit forderte, wurde das karolingische Nebeneinander von rex und sacerdos in der umfassenden Ordnung der Kirche aufgegeben. Kirche und Staat wurden zu selbständigen Organismen. Diese allgemeine Tendenz erfaßte nicht nur das universale Reich und die universale Kirche, sondern alle menschlichen Verbände. In der Entwicklung zur Körperschaft schritt die Kirche dem Staate voran; sie strebte eine Monarchie auf mystischer Grundlage (corpus Christi mysticum) an, der Staat auf rationaler Grundlage ein corpus rei publicae mysticum; beide ahmten sich dabei gegenseitig nach“.120 den Einzeldingen“. Deshalb erfand man für seine Theorie das Etikett „Konzeptualismus“. Allerdings vertrat auch der Nominalismus des 14. Jahrhunderts noch keine absolute Definitionswillkür und keinen radikalen Subjektivismus (kantischer Prägung). Vgl. dazu W. Hübener, Ist Thomas Hobbes Ultranominalist gewesen? Zum Universalienstreit siehe auch unten S. 567 ff. 118 Zu Bernhard von Clairvaux und seiner Zeit vgl. Heer, Aufgang Europas, S. 182 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 125 ff. (Literatur: S. 223 f., 251 ff.). Zum Zweiten Kreuzzug vgl. ebd., S. 144 ff. Zur Mystik Bernhards ferner Dempf, S. 220 ff.; Mensching, Das Allgemeine, S. 185 ff.; Ueberweg, Grundriß II, S. 253 ff. Zur Geschichte der Bernhard-Deutungen siehe A. H. Bredero, Bernhard von Clairvaux. 119 P. Moraw, Art. Reich, S. 444. 120 Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund, S. 184.

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„Die Revolution, die sich hier vollzog, bedeutete mehr als nur die Entsakralisierung des Kaisers. Mit ihm wurde zugleich die politische Ordnung als solche aus der sakralen und sakramentalen Sphäre entlassen; sie wurde in einem wörtlichen Sinn ent-sakralisiert und säkularisiert, und damit freigesetzt auf ihre eigene Bahn, zu ihrer eigenen Entfaltung als weltliches Geschäft. Was als Entwertung gedacht war, um kaiserliche Herrschaftsansprüche im Bereich der ecclesia abzuwehren, wurde in der unaufhebbaren Dialektik geschichtlicher Vorgänge zur Emanzipation: der Investiturstreit konstituiert Politik als eigenen, in sich stehenden Bereich; sie ist nicht mehr einer geistlichen, sondern einer weltlichen, das heißt naturrechtlichen Begründung fähig und bedürftig“.121

Die christliche Reichsidee, die im Gefolge der Konstantinischen Wende zur politischen Leitidee und seit Theodosius und seinen Nachfolgern zur nicht mehr hinterfragten Basisideologie des Christentums geworden war,122 zum handlungsleitenden Orientierungsmuster und zum theoretischen Brennpunkt – fast könnte man mit Carl Schmitt vom „Zentralgebiet“ sprechen123 –, von dem aus alle anstehenden Probleme und Konflikte gelöst wurden, war nun selbst zum Streitobjekt geworden und in den Strudel der Auseinandersetzung hineingezogen. Sie büßte dadurch ihre integrierende und friedenstiftende Kraft ein und mußte in der Folge durch eine neue Zentralidee ersetzt werden. Der Konflikt zwischen Papst und Kaiser, der sich mit dem Machtgerangel zwischen König und Fürstenopposition verknüpfte, mußte die Suche nach alternativen Ordnungsformen stimulieren und wurde so zum Wiegenfest der Staatsidee und der gesamten westlichen Rechtstradition.124 Die Kirche verwandelte sich – im krassen Gegensatz zum Antinomismus und Liebespatriarchalismus des Urchristentums – in eine juristisch verfaßte Körperschaft und stellte sich mit dem Decretum Gratiani (ca. 1140) und dem kanonischen Recht als geschlossene Institution auf sich selbst.125 Sie wurde 121

Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 46. Zum Begriff der Ideologie und seiner Anwendung aufs Mittelalter vgl. M. Kerner, Zum Ideologieproblem im Mittelalter. 123 Vgl. dazu C. Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen, S. 80 ff. Schmitt beobachtet in der neuzeitlichen Entwicklung einen dreifachen Paradigmenwechsel, der stets durch das Problematischwerden des jeweiligen „Zentralgebietes“ ausgelöst wurde: „vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen“ (S. 80). Am Ende des allgemeinen Neutralisierungsprozesses stehe „das Technische“, das aber kein neutraler Boden mehr sei und zukünftig von einer neuen kräftigen Politik in Dienst genommen werde (S. 94). Mag diese „konservativ-revolutionäre“ Einschätzung der Moderne auch problematisch sein, so hat Schmitt mit dem Topos „Zentralgebiet“ doch etwas Richtiges beobachtet. Die Ablösung des Theologischen durch das Juristische und Metaphysische begann aber nicht erst im Gefolge der Reformation, sondern bereits mit der Papstrevolution des Hochmittelalters. 124 Vgl. auch A. Brackmann, Die Ursachen der geistigen und politischen Wandlung. Zur Rolle der Papstrevolution bei der Entstehung der westlichen Rechtstradition siehe Berman, Recht und Revolution, S. 144 ff. 125 Zur Verrechtlichung der Kirche siehe bes. Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft. Ferner R. Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians; Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 4, S. 165 ff. Zur Verteidigung der These 122

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damit zum Vorbild der sich emanzipierenden Staaten. Das Imperium verlor seine Schutzfunktion und seinen sakralen Charakter, das Kaisertum büßte seine Legitimität ein, die ihm stillschweigende Anerkennung durch die anderen Mächte gesichert hatte. Die Regenten der einzelnen Territorien wurden aus der imperialen Klammer entlassen und konnten sich künftig mit päpstlicher Unterstützung aus der kaiserlichen Oberhoheit befreien. Ergebnis der lange währenden Kämpfe war der Rückzug der Könige und Fürsten auf ihre angestammten Herrschaftsfunktionen: „Der Staat, die aus der Kirche ausgegliederte weltliche Herrschaft, besann sich auf seinen Existenzzweck: Friedenswahrung und Gesetzesordnung“.126 Allerdings war diese Entwicklung noch lange Zeit blockiert und hart umkämpft. Der Emanzipationsprozeß der Territorien nahm noch einige Zeit in Anspruch. Vorerst war der Kampf noch nicht entschieden. Die verbleibende Regierungszeit Heinrichs IV. war von einigen Erfolgen gekrönt. 1085 gelang ihm die Durchsetzung des Gottesfriedens in Deutschland. 1087 wurde sein ältester Sohn Konrad in Aachen gekrönt. Dennoch konnte sich der Imperator von der erlittenen Schmach nicht mehr erholen: „Der Glanz der Kaiserkrone war dahin. Der Bannfluch des Papstes wirkte fort. Die Person des Herrschers hatte ihre sakrale Weihe verloren. Die Fundamente der Monarchie waren brüchig geworden. Treue wurde zum leeren Wahn, Verrat zum Kennzeichen der Epoche“.127 Als 1095 Papst Urban II. (1088–1099) zum Ersten Kreuzzug (1096–99) aufrief, stand der deutsche König – ebenso wie Philipp I. von Frankreich – unbeteiligt im Abseits. Das Unternehmen wurde vor allem von französischen und normannischen Rittern getragen, die Leitung lag in den Händen des Papstes.128 Der Sohn des Kaisers, Heinrich V. (1106–1125), schloß sich 1104/05 dem Papst und der Adelsopposition gegen seinen Vater an. Dieser wurde zum Rücktritt gezwungen, starb aber am 7. August 1106 vor der entscheidenden Schlacht zwischen seinen und den Truppen seines Sohnes. Die von Heinrich V. geführten Verhandlungen mit Papst Paschalis II. (1099–1118) über die Kaiserkrönung und die Beilegung des Konflikts durch Verzicht auf alle verliehenen Regalien und Reichsgüter scheiterten am Widerstand des Hochadels und des hohen Klerus. Der König setzte daraufhin den Papst gefangen und erpreßte weitSohms, erst seit Gratian sei das kanonische Recht ein wirkliches Recht im modernen Sinne geworden, gegen ihre zahlreichen Kritiker vgl. Berman, S. 331 ff.: „Es gab kirchliche Gesetze, es gab eine Rechtsordnung innerhalb der Kirche, aber kein System des kirchlichen Rechts, das heißt, keinen selbständigen, einheitlichen, sich entwickelnden Korpus kirchlicher Rechtsgrundsätze und -verfahren, der sich deutlich von Liturgie und Theologie abgehoben hätte“ (S. 332). Zum Decretum Gratiani vgl. auch ebd., S. 234 ff. 126 Fuhrmann, Einladung, S. 80. Vgl. ders., Deutsche Geschichte, S. 112 ff. 127 Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 445. 128 Zu Vorbereitung, Ziel, Legitimation und Verlauf des ersten Kreuzzugs vgl. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, S. 284 ff.; H. E. Mayer, Geschichte der Kreuzzüge; ders. (Hg.), Idee und Wirklichkeit der Kreuzzüge; R. C. Schwinges, Die Kreuzzugsbewegung.

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reichende Zugeständnisse in einem Vertrag, der aber bereits 1112 für ungültig erklärt wurde.129 Während alle früheren Bemühungen scheiterten,130 wurde der Investiturstreit im Wormser Konkordat von 1122 beigelegt, indem erstmals in der Geschichte des Okzidents eine offizielle Trennung von Kirche und Reich, Sacerdotium und Imperium festgelegt wurde.131 Heinrich V. versicherte „im Namen der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit“: „Ich, Heinrich, von Gottes Gnaden erhabener Kaiser der Römer, überlasse Gott, Gottes heiligen Aposteln Petrus und Paulus und der heiligen katholischen Kirche . . . jede Investitur mit Ring und Stab, und ich gestehe zu, daß in allen Kirchen, die in meinem König- oder Kaiserreich liegen, eine kanonische Wahl und eine freie Wahl stattfinden. Die Besitzungen und Regalien des seligen Petrus, die vom Beginn des Streites bis auf den heutigen Tag – sei es zur Zeit meines Vaters oder sei es auch zu meiner Zeit – abhanden gekommen sind, erstatte ich der heiligen römischen Kirche zurück, sofern ich sie (in meiner Gewalt) habe . . .“132 Der neue Papst gestand im Gegenzug dem Kaiser zu: „Ich, Bischof Calixt, Knecht der Knechte Gottes, konzediere Dir, geliebter Sohn H., von Gottes Gnaden erhabener Kaiser der Römer, daß die Wahlen der Bischöfe und Äbte des deutschen Reiches in Deiner Gegenwart stattfinden, sofern diese zum Reich gehören, und zwar ohne Simonie und irgendwelche Gewalt . . . Der Gewählte aber soll von Dir durch das Zepter die Regalien entgegennehmen, und er soll das leisten, was er Dir wegen dieser (Regalien) rechtmäßig schuldet . . .“133 Die weltlichen Herrscher hatten sich fortan aus den innerkirchlichen Angelegenheiten herauszuhalten, erhielten aber die Lehnshoheit über die Regalien der kirchlichen Würdenträger und behielten bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts maßgeblichen Einfluß auf die Besetzung der Bischofsstühle, während anderer129 Vgl. die Quellenauszüge – Chronik Ekkehards von Aura, Brief Heinrichs IV. an seinen Sohn, Diplom des Königs Heinrich V. vom 12. Februar 1111, Privileg des Papstes Paschalis II. vom 12. Februar 1111 und vom 12. April 1111 – alle in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 322–332. 130 Zu den Vorverhandlungen vgl. Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 3, S. 880 ff. 131 Vgl. P. Classen, Das Wormser Konkordat. 132 Vgl. Das Privileg des Kaisers. In: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 86–89; hier: S. 87. Auch in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 333 f. Entnommen aus: Das Wormser Konkordat vom 23. September 1122. Hgg. v. L. Weiland. Hannover 1893 (MGH Const. 1, Nr. 107, S. 159 f.) bzw. J. Bühler, Die sächsischen und salischen Kaiser. Leipzig 1924, S. 396. Vgl. auch A. Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, S. 63 ff. (dt. Übersetzung der Urkunden S. 65 f.). 133 Vgl. Das Privileg des Papstes. In: Laudage (Hg.), Der Investiturstreit, 88–91; hier: S. 89; Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 334 f.; Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, S. 66. Entnommen aus A. Hofmeister, Das Wormser Konkordat. Zum Streit um seine Bedeutung. In: Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Jena 1915, S. 147 bzw. J. Bühler, Die sächsischen und salischen Kaiser, S. 397 und Das Wormser Konkordat (MGH Const. 1, Nr. 108).

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seits die Päpste weiter die Suprematie und somit die Letztentscheidung in politischen Fragen erstrebten. Der Streit zwischen beiden Machtsphären schien geschlichtet, hatte aber nur eine neue institutionelle Form und Eingrenzung gefunden und entflammte alsbald von Neuem. Der hochmittelalterliche Kampf ums Reich ging weiter. Die politischen Theorien des 12. und 13. Jahrhunderts bemühten sich deshalb weiterhin um eine tragfähige Lösung des Herrschaftsproblems. Die oben genannten Alternativen blieben aktuell. Noch war keine endgültige Entscheidung getroffen. Sie war durch den religionspolitischen Kompromiß nur aufgeschoben worden. Der Streit über die Kompetenzen der geistlichen und weltlichen Gewalt dauerte ebenso an134 wie die Auseinandersetzung zwischen zentralistischen und partikularistischen Bestrebungen. Der Aufstieg der Städte ließ ein neues Selbstbewußtsein der Stadtkommunen entstehen, die um Autonomie und Mitbestimmung in den kommunalen Angelegenheiten kämpften.135 Der imperiale Herrschaftsanspruch des Kaisertums stieß auf die Ablehnung der anderen Mächte, wobei das normannische Sizilien und die sich festigenden Königreiche Frankreich und England eine Vorreiterrolle im Kampf um Selbstbestimmung in weltlichen Dingen spielten.136 Das erstarkende Papsttum sah sich weiterhin den Ambitionen des Episkopats und der weltlichen Herrscher konfrontiert. b) Kirche und Reich nach dem Investiturstreit Der Kampf zwischen Kaiser und Papst um das dominium mundi hatte für die einzelnen Länder unterschiedliche Konsequenzen.137 In Deutschland und Italien begünstigte er die zentrifugalen Kräfte „und trug sehr dazu bei, diese beiden Länder in einem Zustand der Zersplitterung zu erhalten, der bis ins 19. Jahrhundert währte und bis heute dauerhafte Spuren hinterlassen hat“ (S. 97).138 In Deutschland stärkte er die Landesfürsten (S. 97 ff.), in Italien beförderte er den politischen Aufstieg der Städte und die Auflösung der politischen Einheit in die drei rivalisierenden Machtkreise Nord-, Mittel- und Süditalien (S. 103 ff.). In England 134

Vgl. F. Kempf, Kanonistik und kuriale Politik im 12. Jahrhundert. Vgl. bes. G. Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee – mit umfassenden Literaturangaben (S. 345–350); B. Töpfer/E. Engel, Vom staufischen Imperium zum Hausmachtkönigtum, bes. S. 52 ff. 136 Vgl. Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 353 ff.; E. E. Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen, S. 243 ff. Zur Entstehung und Entwicklung des Königsrechts in Sizilien, England, der Normandie und Frankreich vgl. bes. Berman, Recht und Revolution, S. 627 ff. und Mitteis, Der Staat, S. 248 ff. Zum Erstarken des antiimperialistischen Denkens in Frankreich ferner K. F. Werner, Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs, bes. S. 34 ff. [siehe auch unten, V. 2. b)]. 137 Vgl. zum folgenden Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 97 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 138 Vgl. dazu auch Fuhrmann, Deutsche Geschichte, 112 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 32 ff., 134 ff. (weitere Literatur: S. 212 ff.); Mitteis, Der Staat, S. 193 ff., 249 ff. 135

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und Frankreich hingegen (S. 111 ff.) festigte sich die Monarchie, die sich gegen die partikularistischen Bestrebungen des Hochadels behaupten konnte.139 Da in Frankreich nur wenige Bistümer der Krone unterstanden, hatte der Investiturstreit hier nicht zu einer so erbitterten Auseinandersetzung wie im Reich geführt. Philipp I. (1060–1108) verzichtete in einem Vertrag mit Paschalis II. auf die Investitur mit Ring und Stab und verlieh die Regalien künftig gegen Leistung eines Treueides durch den Bischof. In England widersetzten sich die Normannen dem päpstlichen Streben nach Suprematie und behielten die Kontrolle über den Klerus.140 Wilhelm der Eroberer (1066–1087) und seine beiden Nachfolger, Wilhelm II. Rufus (1087–1100) und Heinrich I. Beauclerc (1100–1135), errichteten ein cäsaropapistisches Regiment und besetzten die Bischofsstühle mit ihren Anhängern. Als Anselm von Canterbury Heinrich I. den Lehnseid verweigerte, wurde er kurzerhand verbannt.141 „Während jedoch in England und Frankreich die Könige der Mittelpunkt und oft der Urheber der territorialen Einigung sind, scheint auf der Iberischen Halbinsel die politische Aufsplitterung zu obsiegen“ (S. 110). Der Drang nach Einheit wurde durch den Brauch der Erbteilungen aufgewogen. „Am Ostrand der Christenheit scheint dagegen, von Skandinavien bis Kroatien, Ungewißheit bezüglich der nationalen Zugehörigkeit vorzuherrschen. Auch wenn ihre Eigenständigkeit durchdringt, gehören die einzelnen Gebiete nacheinander verschiedenen politischen Gruppierungen an. Die Königsgewalt setzt sich nur langsam durch und erleidet verschiedentlich schwere Rückschläge, wenn sie nicht ganz ausgeschaltet wird. Zudem sind die Beziehungen der meisten zwischen Ostsee und Adria gelegenen Staaten mit dem deutschen Reich fluktuierend, so daß sie von einer nationalen Stabilität noch weiter entfernt sind als die übrige Christenheit“ (S. 119 f.). Die Staatsbildung gestaltete sich dort entsprechend schwieriger.142 Das Augenmerk wird sich deshalb im folgenden auf Sizilien, Frankreich, England und die Iberische Halbinsel richten, die sich bereits früh vom Reich der Deutschen (regnum Teutonicum) trennten und gegenüber dem Kaisertum verselbständigten und dabei jeweils unterschiedliche Wege gingen. Zuvor muß aber die Lage im Reich und in der Kirche bedacht werden.

139 Vgl. dazu auch A. Becker, Studien zum Investiturproblem; Berman, Recht und Revolution, S. 670 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 96 ff., 117 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 45 ff., 132 f., 142 ff. (Literatur: S. 217 ff.); H. Mitteis, Der Staat, S. 204 ff., 282 ff. 140 Vgl. F. Barlow, The English Church; M. Brett, The English Church. 141 Zu Anselm von Canterbury vgl. auch Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 204 ff.; Gombocz, Die Philosophie, S. 388 ff. (weitere Literatur: S. 474 f.); Heer, Aufgang Europas, S. 165 ff.; Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 165 ff.; Mensching, Das Allgemeine, S. 105 ff.; Ueberweg, Grundriß II., S. 192 ff. 142 Zu den neuen Dynastiebildungen in Polen, Böhmen, Ungarn, Rußland, Spanien und im normannischen Italien vgl. auch Mitteis, Der Staat, S. 175 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 54 ff. (Literatur: S. 220 ff.).

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Infolge des Wormser Konkordats war eine Atempause im Ringen zwischen Imperium und Sacerdotium entstanden. Nutznießer des Kompromisses war vor allem das Reformpapsttum, das seine Macht zielstrebig ausbaute und festigte. Im Reich hingegen begannen Thronstreitigkeiten. Da Heinrich V. 1125 mit 39 Jahren kinderlos starb, endete mit ihm die Dynastie der Salier. Die Wahl der Fürsten fiel auf Lothar von Supplingenburg, einen Repräsentanten der antisalischen Fürstenopposition, dem aber mit dem Schwabenherzog Friedrich II. und dessen Bruder Konrad zwei mächtige Gegner entgegenstanden, die ihm die Krone zu entreißen suchten. Zwar konnte er sich gegen seine Widersacher behaupten, doch starb auch er 1137 ohne männliche Nachkommen. Nach seinem Tod fiel die Wahl der Fürsten auf seinen einstigen Rivalen Konrad, der die Dynastie der Hohenstaufen begründete.143 Hatte sich Lothar III. (1125–1137) um einträgliche Beziehungen zum Papst bemüht und nach Kräften die Slawenmission und die beginnende Ostsiedlung gefördert, so flammte unter seinem Nachfolger der alte Streit schon bald wieder auf, da sich der Staufer um die Stärkung der kaiserlichen Macht bemühte und die Reichsrechte zur Geltung bringen wollte.144 Allerdings blieb sein Bemühen ohne Erfolg, das Königtum Konrads III. (1138–1152) blieb „ohne kaiserlichen Glanz“ (H. Fuhrmann). „Der säkulare Kampf zwischen Kaiser und Papst verknüpfte sich mit dem atemlosen Ringen der beiden führenden Geschlechter der Welfen und Staufer um die Macht im Reich, und nach und nach gerieten fast alle großen europäischen Mächte in seinen Sog“.145 Erst unter Friedrich I. Barbarossa (1152–1190) änderte sich die Lage wieder. Während die deutsche Zentralgewalt unter Konrad III. aufgrund der ungelösten Konflikte mit Sizilien, Frankreich und den Welfen machtlos blieb, gelang Barbarossa ein Ausgleich mit den Welfen und die Stabilisierung der Monarchie.146 Sein Ziel war die renovatio imperii im Kampf gegen das Papsttum und die italienischen Kommunen. Dabei stieß er jedoch auf das gewachsene städtische Selbstbewußtsein und auf die ku-

143 Zu Lothar III. und zu den Anfängen der Staufer vgl. H. Beumann, Das Reich der späten Salier und der Staufer, S. 320 ff.; H. Boockmann, Stauferzeit und spätes Mittelalter, S. 57 ff.; O. Engels, Die Staufer, S. 9 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 132 ff.; F.-J. Schmale, Lothar III. und Friedrich I. als Könige und Kaiser; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium zum Hausmachtkönigtum, S. 17 ff. 144 Zu Konrad III. vgl. Boockmann, Stauferzeit, S. 69 ff.; Bosl, Die Reichsministerialität in der Zeit der Salier und Staufer. Bd. 1, S. 121 ff.; Engels, Die Staufer, S. 47 ff., 76 ff., 96 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 142 ff.; A. Haverkamp, Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien; Jakobs, Kirchenreform, S. 41 ff.; Töpfer/Engel, S. 30 ff. 145 M. Salewski, Deutschland. Bd. 1, S. 27. 146 Vgl. etwa Boockmann, Stauferzeit, S. 80 ff.; E. Engel (Hg.), Kaiser Friedrich Barbarossa; Engels, Die Staufer, S. 58 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 151 ff.; A. Haverkamp (Hg.), Friedrich Barbarossa; ders., Aufbruch und Gestaltung, S. 225 ff.; Mitteis, Der Staat, S. 253 ff.; F. Oppl, Friedrich Barbarossa; P. Rassow, Honor imperii; Töpfer/Engel, S. 106 ff.; G. Wolf (Hg.), Friedrich Barbarossa [darin bes. H. Heimpel, Kaiser Friedrich Barbarossa und die Wende der staufischen Zeit, 1–25].

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rialen Herrschaftsansprüche, die in Alexander III. (1159–1181) den „Papst des Bürgertums“147 und einen im römischen Recht geschulten Verfechter und einen gewieften Strategen und Taktiker fanden. Allen Schismen zum Trotz erreichte das Papsttum im 12. und 13. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Macht. Es gelang ihm, den Jurisdiktionsprimat des Apostolischen Stuhles durchzusetzen und die Vorherrschaft der deutschen Kirche zu brechen. Die römische Kurie wurde zum Machtzentrum der abendländischen Christenheit. Die Bischöfe wurden zu ihren Befehlsempfängern. Damit wuchs ihr aber zugleich die Hauptverantwortung für die politische Lage und für die fortbestehenden Mängel und Mißstände in Reich, Kirche und Territorien zu. Sie geriet selbst ins Kreuzfeuer der Kritik, die ihr von verschiedenen Seiten entgegenbrandete. Während das Papsttum seine Macht festigte und sich zur Weltherrschaft aufschwang, begann eine allgemeine Gärung im aufgehenden Europa. Die reformierte Kirche konnte die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen, die von den Reformern geweckt worden waren. Allgemeine Unzufriedenheit breitete sich aus. Die Kluft zwischen den hehren Idealen und der schlechten Wirklichkeit rief erneut kritische Stimmen auf den Plan und trieb apokalyptische und chiliastische Zukunftsspekulationen hervor. Sowohl die päpstliche Machtkonzentration als auch die Feudalisierung des Weltklerus wurde zum Gegenstand heftiger Attakken. Die Reformer hatten sich zwar politisch durchgesetzt, doch war die Reform selbst auf halbem Wege steckengeblieben. Durch den Ausgang des Investiturstreits waren die alten Hoffnungen bitter enttäuscht worden. Die errungene „Freiheit der Kirche“ führte nicht zur Rückbesinnung auf die ureigensten Aufgaben und zu einer Umkehr im Denken und Handeln der Kleriker. Anstatt die neuen Spielräume für wohltätige Zwecke zu nutzen, wurde das klerikale Streben nach Besitz und Macht forciert. Mit dem Verbot der Simonie und mit der Abschaffung des Nikolaitismus war noch keine Rückkehr zur reinen Geistkirche verknüpft. Der Feudalismus strebte vielmehr seinem Höhepunkt entgegen. Heinrich Mitteis beschreibt die geänderte Lage wie folgt:148 „Die ottonische Kirchenverfassung war aufgehoben, die Bischöfe waren nicht mehr Reichsbeamte. Die Investitur konnte nach dem ganzen feudalen Denken der Zeit nichts anderes bedeuten als die Belehnung mit den Regalien; die Bischöfe sind also jetzt Reichsvasallen und haben einen festen, nicht mehr willkürlich entziehbaren Anspruch auf die Regalien. Sie stehen in einer Linie mit den weltlichen Kronvasallen und verwachsen immer mehr mit ihnen zu einer Interessengemeinschaft. Die Adelsherrschaft ist gefestigter denn je, die Feudalisierung schreitet fort. Es entsteht der Typus des ,geistlichen Reichsfürsten‘ – eine Erscheinung, die sich eigentlich nur in Deutschland findet und ihre Problematik in sich trägt; denn wie sollten diese geistlichen Reichsfürsten ihre Pflichten gegen das Reich auf die Dauer mit der immer 147 Heer, Aufgang Europas, S. 557 ff. Zu Barbarossas Kampf mit dem Papsttum vgl. auch Haller, Das Papsttum. Bd. 3: Die Vollendung, S. 116 ff. 148 Mitteis, Der Staat, S. 203.

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fester werdenden Bindung an die Befehle aus Rom vereinigen? Aber noch mehr: Als geistliche Fürsten hatten die Bischöfe nur noch ein Interesse an dem Ausbau ihrer territorialen Fürstenmacht; sie taten es den Weltlichen darin nicht nur gleich, sondern suchten sie sogar zu überflügeln. Die bischöfliche Fürstenmacht war jetzt nicht mehr religiös fundiert, sie war reine Eigensucht, vana gloria geworden. Die Reichsgesinnung des hohen Klerus begann rasch abzunehmen – das Reich hatte seine wichtigste Stütze verloren . . .“

Die Kirchenführer akkumulierten ungehemmt Reichtum und Macht. Darüber geriet das göttliche Liebesgebot und die Fürsorgepflicht der Pastoren erneut in Vergessenheit. Die religiös-politischen Bedürfnisse der gemeinen Glieder blieben entsprechend unbefriedigt. Die „Laien“ waren nicht mehr unmittelbar Glieder des Leibes Christi, sie partizipierten nur noch durch die Vermittlung der Sakramentsträger an der Ekklesia. Der christliche Glaube sah sich in einen Herrschaftsapparat gebannt, dessen Vorsteher sich schamlos auf Kosten der Armen verköstigten und bereicherten. Gegen die Habgier und Verweltlichung der Geistlichen, gegen die institutionelle Verkapselung und hierarchische Abriegelung der Machtkirche erhoben sich alsbald neue religiöse Protestbewegungen, die sich auf die alten Werte der Urgemeinde zurückbesannen und den geistlichen Würdenträgern ein einfaches Leben in Armut und Solidarität empfahlen.149 Wanderprediger, Ordensgründer und Häretiker stellten der in Prunk und Pomp auftrumpfenden ecclesia triumphans das urchristliche Armutsideal entgegen und provozierten so die Repräsentanten der katholischen Kirche, die alsbald mit der Verfolgung der neuen „Häresien“ begannen. Im Gegensatz zu den im Rahmen der Kreuzzugsbewegung entstehenden neuen Ritterorden (Johanniter, Templer, Deutscher Orden), die das Ordensleben mit Besitz und Reichtum verknüpften,150 verschrieben sich die Verfechter des Armutsideals den alten christlichen Maximen der Gottes- und Nächstenliebe. Während die neuen Orden (Zisterzienser, Prämonstratenser usw.) neue Formen des Zusammenlebens und der Weltentsagung unter strikter Einhaltung der Regel Benedikts propagierten und praktizierten,151 wurde das Ideal der apostolischen Armut und Askese noch verschärft von den Katharern, die zugleich den alten gnostischen Dualismus der beiden rivalisierenden Weltmächte wiederaufleben ließen und den lieben Gott im steten Kampf mit den Kräften des Bösen sahen. Kein Wunder, daß sie von den Kirchenführern, die sich auf der Seite des göttlichen Antipoden wiederfanden, aus der Gemeinschaft der 149 Zur Entstehung und Entwicklung der religiösen Armuts- und Protestbewegungen und der neuen Häresien vgl. die oben in Anm. 23 genannte Literatur. 150 Einen Verhaltenskodex für die Ritterorden (Ergebenheit gegenüber dem Herrn, Kampf für das gemeine Wohl, Krieg gegen Ketzer, Schutz der Armen, Witwen und Waisen usw.) entwickelte Bonizo von Sutri, Liber de vita christiana (ca. 1090). 151 Zu den neuen Ordensgründungen (Zisterzienser, Kartäuser, Augustinerchorherren, Prämonstratenser etc.) vgl. Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 4, S. 325 ff.; Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 285 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 146 ff.; E. Werner, Pauperes Christi, S. 77 ff. Zu Grundproblemen und Tendenzen der Forschung: Jakobs, Kirchenreform, S. 106 ff. (Literatur: S. 187 ff.).

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Christen ausgegrenzt und schließlich von der Inquisition verfolgt und unterdrückt wurden.152 Doch auch im Innern der Kirche erwuchs Kritik und die Forderung einer strengeren Scheidung zwischen spiritualia und temporalia. Auch hier war die papale Machtkonzentration und der vom Apostolischen Stuhl ausgehende Weltherrschaftsanspruch nicht unumstritten. Der Gedanke der Gewaltenteilung blieb lebendig. Auch innerhalb der Kirche traten sich in der Folge Dualisten und Hierokraten gegenüber, wobei jedoch die hierokratische Richtung seit Honorius Augustodunensis (ca. 1080–1156), Hugo von Sankt Viktor (1096–1141) und Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153) dominierte und den Ton angab.153 Das geistliche Schwert (gladius spiritualis) beanspruchte demzufolge eine höhere Würde als das weltliche (gladius materialis). Dem Stuhl Petri sollte die alleinige Verfügungsgewalt über beide zustehen. Die priesterliche Gewalt verleihe das weltliche Schwert, das nur auf ihre Anweisung zu gebrauchen sei, versicherte der einflußreiche Bernhard in seinem „Papstspiegel“ De consideratione (1152/53).154 Allerdings polemisierte der Zisterzienser zugleich gegen die Besitzanhäufung, die Habgier und Verschwendungssucht der Kirchenleute. Er tadelte das klerikale Machtstreben um der Macht willen und erinnerte seinen Schüler und Freund Papst Eugen III. (1145–1153) an seine eigentlichen Aufgaben als Seelsorger. „Bernhard von Clairvaux, der große zisterziensische Geist des 12. Jahrhunderts, steht an der Spitze derer, die sich sowohl zur Machtkirche bekannten, wie auch die luxuria und superbia (Luxus und Maßlosigkeit) geißelten, die Hauptlaster der Macht- und Herrschaftsträger“.155 Nicht nur Ketzer, sondern auch Vertreter der Kirche selbst strebten somit nach einer neuerlichen Reform der kirchlichen Ordnung. Sie prangerten die herrschenden Mißstände an und entwickelten chiliastische Zukunftshoffnungen. Abgestoßen von der „Säkularisierung“ des Glaubens entwarfen sie das Programm einer besseren Ordnung, in der die Habsucht der Geistlichen beseitigt sein 152 Zu den Katharern vgl. die klassische Studie von Borst, Die Katharer. Ferner M. Lambert, Geschichte der Katharer. Zu den neuen „Häresien“ siehe auch die Überblicke von Fink, Papsttum und Kirche, S. 187 ff. (zu den Katharern: S. 198 ff.; zu den Waldensern: S. 216 ff. – jeweils mit ausführlichen Literaturhinweisen) und Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 183 ff. 153 Vgl. dazu W. Kölmel, Regimen Christianum, bes. S. 107 ff., S. 205 ff. Erst am Ende des 12. und im 13. Jahrhundert bekamen die Dualisten wieder Oberwasser. Entscheidend hierfür wurde Huguccio von Pisa, demzufolge der Kaiser die Gewalt des Schwertes und seine Würde nicht vom Papst, sondern durch die Wahl der Fürsten empfängt. Er unterstehe jedoch der Jurisdiktionsgewalt des Papstes und könne von ihm abgesetzt werden, sofern er nach einer Mahnung an seinem verkehrten Verhalten festhält. Vgl. Huguccio von Pisa, Summa decretorum (ca. 1190). Auszüge lat./dt. in: Miethke/ Bühler: Kaiser und Papst, 76–78. 154 Vgl. Bernhard von Clairvaux, De consideratione libri quinque ad Eugenium tertium bzw. De consideratione ad Eugenium papam. 155 Bosl, Reformorden, S. 256.

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sollte.156 „In ihrer Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen entwikkeln sie daher das Bild einer kommenden Epoche, in der die Mängel der Gegenwart überwunden sind“ (S. 47). Der Zerfall der alten Reichsidee wurde zum Anlaß einer Suche nach neuen Fundamenten und Formen des Zusammenlebens. Die Gegenwart wurde als Jammertal betrachtet, das alsbald überwunden sein würde. Sie sank erneut zu einem bloßen Durchgangsstadium und zu einer Vorstufe des Gottesreichs herab. Noch vor dem Weltende sollte ein umfassendes Friedensreich errichtet werden, in dem die urchristlichen Prinzipien praktische Geltung beanspruchen können. Das bestehende, vom Sacerdotium getragene Imperium galt nicht länger als Verkörperung, sondern als Vorläufer des seit alters her erhofften christlichen Reiches. Doch richtete sich die wachsende Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen weniger gegen die durch das Reich repräsentierte weltliche, sondern vielmehr gegen die von der Kirche verkörperte geistliche Ordnung. „Erwartungen eines baldigen grundsätzlichen Wandels der irdischen Verhältnisse sind daher nicht in die Form von Reichsprophetien gekleidet, sondern sie treten in Form von Voraussagen eines Umbruchs der kirchlichen Verhältnisse auf“ (S. 21). Erst Otto von Freising (nach 1111–1158) bezieht das gesamte geschichtliche Geschehen aufgrund des Zerfalls der Reichsgewalt unter Konrad III. stärker mit ein (S. 25). Das Leiden an der schlechten Gegenwart provozierte wieder einmal geschichtstheologische Spekulationen und mit ihnen hochfliegende Fortschrittsund Zukunftserwartungen. In Anknüpfung an Augustins Lehre von den sechs Zeitaltern (aetates) konzipierten Rupert von Deutz (y 1135), Anselm von Havelberg u. a. eine neue Sicht der Weltgeschichte, die in den neuen Orden die Vorboten und im monastischen Leben die maßgebliche Ordnungsform des kommenden siebenten Zeitalters erblickte.157 Allen diesen Entwürfen lag die Verachtung der feudalen Verstrickung der bestehenden Kirche zugrunde. Neben Bernhard von Clairvaux wurde Gerhoh von Reichersberg (1093–1169) zum bedeutendsten Verfechter der armen Geistkirche.158 Gerhoh, den man „den deutschen Bernhard“ genannt hat,159 polemisierte gegen die triumphierende Machtkirche und hielt ihr das Bild einer pneumatischen und solidarischen Gemeinde entgegen. Sein Vorbild und Maßstab der Kritik an der klerikalen Ausschweifung war die Organisation der Klöster und der Chorherrenstifte. Er entwickelte „eine hochgeistige Kirchenanschauung, die wie keine andere des 12. Jahrhunderts die joachitische Ge156 Vgl. zum folgenden B. Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 157 Vgl. Dempf, S. 233 ff.; Töpfer, Das kommende Reich, S. 11 ff., bes. S. 22 ff. 158 Vgl. P. Classen, Gerhoch von Reichersberg; Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 4, S. 342 ff.; E. Meuthen, Kirche und Heilsgeschichte bei Gerhoh von Reichersberg. Die in unserem Zusammenhang wichtigste Schrift ist Gerhoh von Reichersberg, De investigatione antichristi (1142). 159 Vgl. zum folgenden Dempf, Sacrum Imperium, S. 252 ff. (hier: S. 252). Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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meinschaftslehre vorausnimmt. Der vir spiritualis ist das Ideal . . . Die Lösung der Kirche aus dem Feudalismus wird für den Idealisten Gerhoh zum großen Programm der armen und kontemplativen Kirche, des Hauses Gottes, das erst errichtet werden soll, und zwar vor allem durch das Gemeinschaftsleben des Weltklerus“ (S. 252 f.). „Die verweltlichte Kirche selbst ist ein neues Babylon, d. h. confusio, Vermischung des Geistlichen und Weltlichen“ (S. 253). Entsprechend kritisierte Gerhoh auch die weltlichen Herrscher, die sich um die Sicherung und Festigung ihrer Kompetenzen und um die Resakralisierung des Reiches bemühten. „Er war weder mit dem Kaisertum noch mit dem Papsttum seiner Zeit zufrieden. In den Häuptern der Zeit selbst war der Antichrist zu spüren“ (S. 258). Die strikte Trennung von Kirche und Reich wurde deshalb zum Programm. Mit der Kritik an den herrschenden Zuständen verknüpfte sich bei Gerhoh zugleich die Naherwartung des Antichrist und des kommenden Gottesreiches.160 Die scharfen Angriffe gegen die der Habsucht verfallene Kirche sind bei ihm „verbunden mit der Hoffnung auf die unmittelbar bevorstehende innere Reinigung der Kirche . . . So sagt er bereits in seinem um 1130 verfaßten Opusculum de edificio Dei voraus, daß der Klerus die Pfalzen der weltlichen Herrscher verlassen und damit seine weltlich-politischen Interessen aufgeben wird, um allein den göttlichen und nicht mehr den königlichen Gesetzen zu gehorchen“ (S. 29). „Bezeichnend ist, daß die so gereinigte und aus der Verquickung mit den weltlichen Mächten gelöste Kirche alsdann die führende Stellung in der ganzen Welt einnehmen soll“ (S. 30). Die Forderung nach Freiheit der Kirche kulminierte demnach wieder im Anspruch auf Suprematie. Den weltlichen Fürsten sollte ihre Macht genommen werden, die am Armuts- und Askeseideal orientierten Kleriker sollten die Weltherrschaft erlangen, bevor das Jüngste Gericht die Weltgeschichte beendet. Eine nicht weniger harsche Kritik an den damaligen Zuständen übte die Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098–1179),161 die ihr Jahrhundert als eine Zeit der muliebris debilitas, der „weibischen Schwäche“ begriff (S. 34).162 „Die von ihr scharf verurteilten Verfallserscheinungen des muliebre tempus betreffen vor allem die kirchliche Ordnung. ,Ecclesia desolata est‘, stellt sie fest. Es fehle vor allem an einer rechten Leitung, der die Menschen vertrauen könnten; ,perversi mercenarii‘ – darunter versteht sie offenbar die habsüchtigen und käuflichen 160 Vgl. Töpfer, Das kommende Reich, S. 28 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 161 Vgl. Dempf, S. 261 ff.; Töpfer, Das kommende Reich, S. 33 ff.; A. P. Brück (Hg.), Hildegard von Bingen. Zum aktuellen Kult um Hildegard von Bingen anläßlich ihres 900. Geburtstages vgl. die kritischen Überlegungen von K. Flasch, Wenn Hildegard die Stimme hob, hatten die Priester nichts zu lachen. In: FAZ v. Di., 14. April 1998, S. 42 (der Titel dieses Essays wird vom Inhalt allerdings nicht gedeckt). 162 Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich weiterhin auf das Werk von Töpfer, Das kommende Reich.

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Geistlichen – bedrücken aus Geldgier die Gläubigen und berauben sie, unterstützt von ungerechten Tyrannen, ihres Gutes. Alle kirchlichen Einrichtungen sind ins Schlechte verkehrt und befinden sich nicht mehr in dem von den Aposteln und Vätern geschaffenen Zustand“ (S. 34 f.). „Aber Hildegard folgert aus diesen trostlosen Verhältnissen nicht, daß das Auftreten des Antichrist und das Weltende direkt bevorstehen, sondern sie prophezeit eine Reinigung der Kirche“ (S. 35). Diese Reinigung erfolge „in einem gewaltsamen und verheerenden Strafgericht“ (ebd.), das auch die bisherigen Universalmächte, das Kaiser- und das Papsttum nicht verschonen, sondern vielmehr ausschalten und beseitigen wird (S. 41). Erst danach könne eine neue Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit beginnen, die allerdings nicht von Dauer sein wird, da schließlich der Antichrist erscheinen und das jüngste Gericht und das Ende der Welt ankündigen werde (S. 42). Die chiliastischen Spekulationen des 12. Jahrhunderts erreichten ihren Höhepunkt in der Drei-Reiche-Lehre des Kalabreser Abtes Joachim von Fiore (ca. 1130–1202), derzufolge das Reich des Heiligen Geistes das Reich Christi ablösen und mit dem 13. Jahrhundert anbrechen wird.163 In ihm wird die reine Geistkirche die Nachfolge der alten Papstkirche antreten, eine spirituelle Einheit, die keine hierarchische Ordnung und keine Herrschaft mehr kennt, die folglich – wie Ernst Benz (1934, S. 46) bemerkt – „im Grunde nicht mehr eine Form der katholischen Kirche, sondern eine neue Religion mit einer neuen Lebensordnung“ sein wird: „eine freie Gemeinschaft der Kirche des Heiligen Geistes, ohne Papst, ohne Sakrament, ohne heiliges Buch, ohne heilige Wissenschaft, ohne Klerus“. Da diese neue Ekklesia keine Hierarchie und keine festen Institutionen mehr kennt, erübrigt sich für Joachim jegliche Kritik des zeitgenössischen Papsttums. Er lenkt seine Zeitgenossen und Nachfahren darauf, „nicht eine innere Reform der Papstkirche, sondern eine Überwindung der Papstkirche durch eine Geistkirche zu erwarten, d. h. aber zugleich auch die Aufhebung von Klerus, Sakramentsreligion, Papsttum“ (S. 47). „Indem Joachim das Zukunftsbild einer Form der christlichen Religion zeichnet, die nur durch den Geist bestimmt ist und in der alle Bindung an Institution, Buchstaben, Sakrament, Amt aufgehoben ist, legt er die Axt an die Wurzel der Kirche seiner Zeit. Denn Joachim entwickelt dieses Bild einer Geistkirche nicht als eine Utopie, sondern verheißt sie als eine geschichtliche Größe der nächsten Zeit“. Dadurch gibt er seinen Zeitgenossen einen Maßstab, „den Verfall der Kirche und ihren Abstand von der reinen evangelischen Ethik selbst zu beurteilen, d. h. er setzt den Einzelnen instande, eine Kritik an der Papstkirche zu üben“. Er schmiedet damit einer zukünftigen Spiritualenkirche die Waffen zum Kampf gegen die Papstkirche (S. 48). 163 Vgl. E. Benz, Ecclesia spiritualis; E. Bloch, Zur Originalgeschichte des dritten Reiches. In ders., Erbschaft dieser Zeit, S. 126 ff., bes. S. 133 ff.; Dempf, S. 269 ff.; H. Grundmann, Studien über Joachim von Floris; K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 136 ff.; J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 81 ff.; Töpfer, Das kommende Reich, S. 48 ff.; E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 162 ff.

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Wie Alois Dempf (S. 269) bemerkt, ist die so folgenreiche Entdeckung Joachims, die „für ein volles Jahrhundert das Orakel der Zeit“ und „die Ideologie der beginnenden Neuzeit“ wurde, „eigentlich nur ein einziger Gedanke, der längst schon im deutschen Symbolismus, namentlich bei dem wohl auch Joachim bekannten Anselm von Havelberg vorbereitet war, der aber in Joachim mit der Gewalt einer göttlichen Erleuchtung . . . durchbricht. In der Osternacht hat er das entscheidende Erleuchtungserlebnis: die spiritualis intelligentia, das Leben im Geiste des geoffenbarten Christentums, konkretisiert sich zu einer irdischen Weltzeit vor dem Jüngsten Gericht . . . Das kontemplative Leben der Mönche wird das vorherrschende in diesem dritten Reiche, wie das der Laien im Alten und das aktiv-kontemplativ gemischte der Priester im Neuen Testament“ (S. 270). Diese Lehre Joachims wirkte im Franziskanerorden weiter und bestimmte vor allem die Reformerwartung der Spiritualen.164 Die religiösen Erneuerungsbewegungen innerhalb wie außerhalb der Kirche wandten sich somit allesamt gegen den wachsenden Wohlstand und die Verschwendungssucht des Klerus. Sie kritisierten die Herrschaftsambitionen der Kurie und gemahnten die geistlichen Würdenträger an ihre ureigensten Pflichten. „Die Ketzer (Waldenser, Katharer usw.)“, so resümiert Karl Bosl,165 „stellten vor allem dem gregorianischen Spiritualismus der Machtkirche die arme ecclesia spiritualis (Geistkirche) gegenüber. Die Wortführer der Kritik im eigenen römischen Lager waren Bernhard von Clairvaux und der bayerische Augustinerchorherrenpropst Gerhoh von Reichersberg am Inn . . . Bernhard und der asketische Rigorismus seines neuen Reformordens lehnten den feudalen Lebensstil der Kirchenherren und die archaisch-totale Verbindung von Weltlichem und Geistlichem ab; sie protestierten auch gegen den neuen Weltstil der Kurie, gegen die Verbindung von Kanonistik (Kirchenrecht), Scholastik (aufgeklärter Theologie) und römischem Recht . . .; sie verwarfen päpstliche Hofverwaltung, Geldwirtschaft, Legaturwesen, kurz den Ausbau einer kurialen Machtposition“ (S. 257). Eine Sonderstellung in der Armutsbewegung nahm der Augustinerchorherr Arnold von Brescia (ca. 1100–1155) ein, der die radikalste Kritik an der kirchlichen Hierarchie und Besitzanhäufung entwickelte, die absolute Armut der Kirche predigte und die Volksbewegung zur Befreiung Roms unterstützte. „Arnold und seine ,Armen‘ bezeugen, daß eine Revolution von unte(n) auf die vom Reformpapsttum ausgelöste Revolution von oben folgte und dessen Machtanspruch in Frage stellte“ (S. 261). Allerdings scheiterte Arnold in der Praxis und wurde schließlich von Barbarossa und den Kirchenleuten hingerichtet. Der Armutsstreit ging jedoch – wie der Uni164 Vgl. dazu bes. Benz, Ecclesia spiritualis, S. 175 ff.; Dempf, S. 285 ff.; Töpfer, Das kommende Reich, S. 104 ff. Zur Rezeption der Werke Joachims im Spätmittelalter vgl. K.-V. Selge, Die Überlieferung der Werke Joachims von Fiore im 14. und 15. Jahrhundert. In: J. Miethke (Hg.), Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, 49–59. 165 Bosl, Reformorden. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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versalienstreit – weiter. Er strebte im Spätmittelalter auf seinen Höhepunkt zu und rüttelte an den Fundamenten der Machtkirche. c) Die staufische Reichsidee und ihre Gegner Hatten die chiliastischen Zukunftsentwürfe der religiösen Erneuerer sich vornehmlich an der Kritik der real existierenden Kirche entzündet und ihre Hoffnung auf die bevorstehende „Reinigung“ derselben konzentriert, so entstanden seit der Mitte des 12. Jahrhunderts auch wieder Reichskonzeptionen, die sich mit der Organisation der kaiserlichen Herrschaft befaßten. Während der päpstliche Supremats- und „Souveränitätsgedanke“ in der kurialen Theorie und Praxis bis zu Innocenz III. (1198–1216) keine grundlegenden Wandlungen erfuhr, „weil alle Angriffe auf die ideologischen Grundlagen erfolgreich abgewehrt werden konnten“,166 erlebte die kaiserliche Reichsidee durch die Staufer eine neue Zeit der Blüte. Nicht erst unter Barbarossa, „unter Konrad bereits, aus tiefer Ohnmacht, wurde die Reichsidee des staufischen Hauses geboren“: Zwar wurde Konrad III. nie zum Kaiser gekrönt, doch nannte er sich im diplomatischen Verkehr imperator, wodurch klargestellt war, „daß es ein von der päpstlichen Krönung unabhängiges deutsches Kaisertum gab, das von den sächsischen Kaisern geschaffen und nur ungebührlich lange hinter dem römischen zurückgetreten war. So erweist sich Konrad doch als ein Vorläufer Barbarossas, dem es dann gelingen sollte, die staufische Reichsidee mit realem Gehalt zu erfüllen und auf stolze Höhe zu führen“.167 Schon durch den ersten Staufer wurde demnach eine „neue Etappe der ideologischen Herrschaftsbegründung“168 eingeleitet und die Auseinandersetzung zwischen Imperium und Sacerdotium auf eine neue Stufe gehoben. Sie wurde unter Barbarossa forciert und erfuhr unter seinem Enkel Friedrich II. (1212–1250) und den Päpsten Gregor IX. (1227–1241) und Innocenz IV. (1243– 1254) eine dramatische Zuspitzung. Die Wiedergeburt des Kaisertums und der Reichsidee reflektiert sich im Geschichtswerk des Bischofs Otto von Freising (nach 1111–1158), der zunächst in seiner Weltchronik (1146) die alte Zeit wiederauferstehen ließ, das harmonische Miteinander der beiden Gewalten seit Konstantin und Theodosius beschwor, den Zerfall der Einheit von Imperium und Sacerdotium unter Heinrich IV. und Gregor 166 H. G. Walther, Imperiales Königtum, S. 52. Vgl. auch Kölmel, Regimen Christianum, S. 170 ff., 196 ff. 167 Mitteis, Der Staat, S. 252 f. Zum staufischen Kaisergedanken vgl. auch M. Krammer, Der Reichsgedanke des staufischen Kaiserhauses; Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen, S. 92 ff. 168 Vgl. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 149 ff. Zur Verwendung des Imperator-Titels durch Konrad III. und seine Nachfolger bes. S. 157 ff., 194 ff., 217 ff. Wie Koch betont, verwandte Konrad den Titel imperator bzw. imperator augustus vor allem im Verkehr mit Byzanz, wobei Wibald von Stablo und der Notar Albert die Feder führten (S. 217).

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VII. beklagte, den späteren Zustand der Reformkirche kritisierte, das Mönchtum anstelle des Reiches als Kat-echon begriff und – wie die anderen Kritiker der Kirche – das monastische Leben in den neuen Orden zum Ideal und zum Vorboten des kommenden siebenten Zeitalters stilisierte,169 während in der Chronik der Taten seines Neffen Barbarossa (1157) die Staufer die Rolle des Katechonten übernahmen und zu seinen Hoffnungsträgern avancierten.170 Bereits in seiner Weltchronik rekurrierte Otto auf den Dualismus Augustins und die Translationsidee und entwarf auf ihrer Basis ein Bild der Weltgeschichte, in der das Reich nach sieben Unter- und Übergängen schließlich mit den Staufern an sein Ende kommt. „Er variierte die Zwei-Civitates-Lehre Augustins konkretisierend und verarbeitete sie mit der Vier-Reiche-Theorie und der Translationsidee zu einem Gesamtbild der Weltgeschichte zwischen Schöpfung und Gericht“.171 In den Gesta Friderici schlug die einstige Verzweiflung angesichts der Ohnmacht Konrads III. in die Hoffnung auf ein machtvolles Kaisertum Barbarossas um. Die gesamte Menschheitsgeschichte steuerte demzufolge auf einen mächtigen Endkaiser zu, der die alte Einheit von Imperium und Sacerdotium wiederherstellen und die Verweltlichung der Kirche rückgängig machen würde. Das staufische Imperium erschien als das letzte der vier Daniels-Reiche, das bis zum Weltende andauern würde.172 Auch Friedrich Barbarossa bemühte sich zunächst um ein Einvernehmen mit dem Apostolischen Stuhl.173 Im „Konstanzer Vertrag“ von 1153 beschworen er und Papst Eugen III. (1145–1153) den Frieden und die Eintracht zwischen regnum und sacerdotium. Beide Partner erschienen im Vertragstext als gleichrangig und leiteten ihre Würde unmittelbar von Gott ab.174 Doch war diese Harmonie nicht von Dauer. Schon in seiner Wahlanzeige vom März/April 1152 hatte Friedrich unter Rekurs auf die Zwei-Gewalten-Lehre die Gottunmittelbarkeit seines 169

Vgl. Otto Bischof von Freising, Chronik. Ders. und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica. 171 Moraw, Art. Reich, S. 443. Zur Geschichtsschreibung der Stauferzeit vgl. auch W. Goez, Translatio imperii, S. 104 ff.; J. Spörl, Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung. Zu Otto von Freising ferner Dempf, S. 247 ff.; Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 166 ff.; Kölmel, Regimen Christianum, S. 138 ff.; Töpfer, Das kommende Reich, S. 25 ff. 172 Die in der älteren Forschung vertretene Auffassung, bereits die Weltchronik habe eine zielgerichtete Herrschaftsbegründung für Kaiser und Reich geliefert und die gesamte Weltgeschichte aufs staufische Imperium zulaufen lassen (vgl. etwa Spörl, S. 35 ff.; ihm folgt noch Kölmel, S. 138 f.), wurde durch die jüngere widerlegt. Vgl. den Überblick und die eigene Interpretation von Koch, S. 166 f. 173 Zur Auseinandersetzung Barbarossas mit dem Papsttum vgl. bes. Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 4, S. 196 ff. Zur neuen Politik Barbarossas siehe die in Anm. 146 genannte Literatur. 174 Vgl. den deutschen Text des Konstanzer Vertrages vom 23. März 1153 in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 352–355 [= Die Urkunden Friedrichs I. Bd. 1. Hgg. v. H. Appelt u. a. (MGH. Diplomata Friedrich I. Nr. 52) Hannover 1975, S. 88 f.]. 170

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V. Der Drang zum Staat

Königtums und die Wahl durch die Fürsten und Edlen des Reiches sowie die Krönung durch den Erzbischof von Köln betont, so daß eine Bestätigung der Wahl durch den Papst als überflüssig erschien.175 Im „Konstanzer Vertrag“ nannte er sich dei gratia Romanorum imperator augustus, beanspruchte somit schon vor der Krönung den Kaisertitel.176 Zum ersten offenen Konflikt kam es dann auf dem Zug zur Kaiserkrönung (1154/55), als Barbarossa in Sutri dem neuen Papst Hadrian IV. (1154–1159) zunächst den Strator- und Marschalldienst verweigerte. Zwar ließ sich dieser Streit noch einmal schlichten, da der König nach anfänglicher Weigerung dem Papst doch noch die Steigbügel hielt,177 doch gerieten beide Machtkreise mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen schon bald in unlösbare Verwicklungen und Konfrontationen. Die staufische Reichsidee stand im Gegensatz nicht nur zum kurialen Weltherrschaftsanspruch und zur kanonistischen Kaiseridee, sondern auch zu den aufstrebenden Städten und dem Bürgertum. Sie war Ausdruck des antipapistischen und antibürgerlichen Strebens nach Hegemonie. Dabei wurden die von den Saliern entwickelten Vorstellungen weitergebildet und in eine Synopse gebracht.178 Betont wurde 1. das Gottesgnadentum des Kaisers. Das resakralisierte „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ (sacrum imperium)179 galt 2. als unmittelbare Fortsetzung des römischen Reiches, der deutsche Kaiser als Nachfolger der Cäsaren.180 Rekurriert wurde 3. auf die fränkische Tradition, die gegen die französischen Könige geltend gemacht wurde. Und alle diese Vorstellungen wurden 4. untermauert durch den Rückgriff auf das römische Recht, wie es vor allem in der Schule von Bologna gelehrt wurde.181 Weitere Elemente der staufischen Legitimationsideologie bildeten 5. das Eroberungsrecht sowie 6. die Wahl durch die Fürsten, die Gregor VII. einst polemisch gegen Heinrich IV. ins Feld geführt hatte, um den Rang des rex Teutonicorum herabzustufen.182 Barbarossa wandte 175 Vgl. den deutschen Text der Wahlanzeige Friedrichs I. (März/April 1152) in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 347–351 [= Die Urkunden Friedrichs I. Bd. 1. Hgg. v. H. Appelt u. a. (MGH. DD F I. Nr. 5) Hannover 1975, S. 10 f.]. 176 Vgl. dazu Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 3, S. 196 f. 177 Vgl. Text und Übersetzung von Liber Pontificalis 2. Hgg. v. L. Duchesne (1886), S. 391 f. in: J. Miethke/A. Bühler, Kaiser und Papst, 67–69. 178 Zum folgenden vgl. H. Appelt, Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas; Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 256 ff.; Koch, Auf dem Wege, S. 149 ff.; Moraw, Art. Reich, S. 441 ff.; P. Rassow, Honor imperii; Schaller, Die Kaiseridee Friedrichs II., S. 112 f. [S. 497 ff.]. 179 Zur Resakralisierung des Reiches vgl. auch K. Zeumer, Heiliges römisches Reich deutscher Nation. 180 Zur Wiederaufnahme des römischen Amtsstils durch die Staufer vgl. auch Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 115 f. 181 Vgl. dazu auch H. Appelt, Friedrich Barbarossa und das römische Recht. In: G. Wolf (Hg.), Friedrich Barbarossa, 58–82; Berman, Recht und Revolution, S. 204 ff.; Fried, Die Entstehung des Juristenstandes; H. Krause, Kaiserrecht und Rezeption. 182 Zur Genealogie vgl. E. Müller-Mertens, Regnum Teutonicum.

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter

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diese Argumentation nunmehr zu seinen Gunsten. „Zwei Dinge sind es“, ließ er den Papst und die Fürsten Anfang 1158 wissen, „mit denen unser Reich regiert werden muß, die heiligen Gesetze der Kaiser und der gute Brauch unserer Vorgänger und Väter. Diese Schranken wollen und können wir nicht überschreiten; was mit ihnen nicht in Einklang steht, erkennen wir nicht an . . . Aber die freie Krone unseres Reiches schreiben wir allein göttlicher Verleihung zu; die erste Stimme bei der Wahl erkennen wir dem Mainzer Erzbischof zu, die übrigen den anderen Fürsten nach ihrem Rang, die königliche Salbung dem Kölner, die letzte aber, bei der Kaiserkrönung, dem Papst; was darüber hinausgeht ist überflüssig und von Übel“.183 Das Imperium Barbarossas erschien folglich als „durch die Wahl der Fürsten vermittelte, auf Eroberungsrecht gegründete, von Papst und römischem Volk unabhängige, eigenständige, unmittelbar gottbezogene Macht“.184 Als solche unterstand sie in weltlichen Dingen nicht der Rechtsprechung des Papstes. Sie wurde vielmehr zur Quelle eigenen, nicht-kanonischen Rechtes. Der Kaiser selbst schwang sich zum obersten Gesetzgeber und zum Inhaber der Jurisdiktionsgewalt auf. Auf dem Reichstag von Roncaglia im November 1158 fixierten Rechtsgelehrte aus Bologna unter Mitwirkung von Vertretern der oberitalienischen Städte die kaiserlichen Rechte (regalia). Unter Federführung der berühmten vier Doctores – Martinus, Bulgarus, Jacobus und Hugo – wurde unter anderem festgehalten, daß alle Gerichts- und Gebotsgewalt beim Kaiser liege, daß alle Richter ihr Amt von ihm erhalten und ihm einen Eid zu leisten haben. Dem Kaiser wurde das Recht zugesprochen, Pfalzen und Paläste an jedem Ort zu errichten, wo es ihm beliebt. Schließlich sollten Kopf- und Grundsteuern an ihn entrichtet werden usw.185 Damit hatte sich der Charakter der imperialen Herrschaft grundlegend gewandelt: „War das Kaisertum bisher also eigentlich nur mehr oder weniger eine Überhöhung des Königtums gewesen, so entfaltete es sich jetzt als eine Institution eigenen Rechts und eigenen, vom deutschen Königtum losgelösten Inhalts“.186 Diese Vorstellung mußte natürlich den Widerstand des Papstes provozieren, der seinen eigenen Machtradius beschnitten sah. 183 Überliefert in einem Schreiben der deutschen Bischöfe an Hadrian IV. Vgl. Miethke/Bühler, Kaiser und Papst, S. 73 f. (= MGH. Constitutiones 1 Nr. 167). 184 Koch, Auf dem Wege, S. 149. Koch hat die einzelnen Elemente der staufischen Herrschaftsbegründung einer gründlichen Analyse unterzogen: „göttliches Mandat“ (S. 178 ff.), „Kaiserwahllehre“ (S. 191 ff.), Macht- und Eroberungsgedanke (S. 200 ff.), „papstfreier Kaisertitel“ (S. 215 ff.), römisches Recht (230 ff.). Vgl. auch J. Schatz, Imperium, Pax et Iustitia, S. 167 ff. 185 Vgl. die Regaliendefinition in Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, S. 358 f. [= Die Urkunden Friedrichs I. Bd. 2. Hgg. v. H. Appelt (MGH. Diplomata Friedrich I. Nr. 237–240). Hannover 1979, S. 29–32]. Dazu Haverkamp, Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien. Bd. 1, S. 85 ff.; J. Fried, Der Regalienbegriff im 11. und 12. Jahrhundert. 186 Schaller, Die Kaiseridee Friedrichs II., S. 113 [S. 499]. Zur Gesetzgebungspraxis Barbarossas siehe auch Berman, Recht und Revolution, S. 745 ff.

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V. Der Drang zum Staat

Bereits auf dem Reichstag von Besançon (1157) waren die kurialen und imperialen Herrschaftsvorstellungen frontal aufeinandergeprallt.187 Papst Hadrian IV. (1154–1159) hatte in einem Schreiben an Friedrich I. gegen die Verhaftung des dänischen Erzbischofs Eskil von Lund durch burgundische Adlige und gegen die Untätigkeit des Kaisers protestiert und dabei auf die Übertragung der Kaiserkrone an Barbarossa hingewiesen, die er als ein beneficium bezeichnete, das der Imperator aus der Hand des Papstes erhalten habe.188 Rainald von Dassel, der damalige Kanzler des Kaisers,189 übersetzte den Anwesenden „beneficium“ mit „Lehen“ und provozierte dadurch Entsetzen und einen Aufstand der Fürsten. Der Kaiser selbst verschaffte seiner Empörung in einem Rundschreiben an die Fürsten Ausdruck, in dem er von den Ereignissen in Besançon berichtete und seine Sicht der Dinge erläuterte: „Da wir Königtum und Kaisertum durch die Wahl der Fürsten allein von Gott empfangen haben, der bei dem Leiden Christi, seines Sohnes, den beiden Schwertern, die notwendig sind, die Regierung des Erdkreises überantwortet hat, und da der Apostel Petrus der Welt die Lehre gegeben hat: ,Fürchtet Gott und ehret den König‘, so befindet sich jeder, der behauptet, wir hätten die kaiserliche Krone als ein Lehen vom Papst empfangen, im Widerspruch mit der göttlichen Ordnung und der Lehre des Petrus und ist der Lüge schuldig“.190 Da sich die deutschen Bischöfe dem Kaiser anschlossen und den Papst um Mäßigung baten, mußte Hadrian IV. den Rückzug antreten. Er ließ eine Entschuldigung überbringen und erklärte, mit „beneficium“ habe er nicht ein „Lehen“, sondern eine „Wohltat“ gemeint.191 Zwar stand dieses Zugeständnis im Gegensatz zu den kurialen Ambitionen, doch schien dadurch der Gewaltendualismus öffentlich anerkannt. Als aber Barbarossa an die Durchführung der Roncalischen Beschlüsse ging, stieß er auf den Widerstand der lombardischen Städte, die im neuen Papst, Alexander III., eine wichtige Stütze fanden. Mittlerweile war es zu einem erneuten Schisma gekommen, das 18 Jahre währen sollte.192 Da Hadrian 187 Vgl. Rahewin, Gesta Friderici 3, 12. Dazu Boockmann, Stauferzeit, S. 95 ff.; Engels, Die Staufer, S. 78 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 161 ff.; Koch, Auf dem Wege, S. 170 ff.; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung. Bd. 3, S. 199 f.; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium, S. 116. 188 Vgl. den Text mit deutscher Übersetzung in: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst, 69–71 (= MGH. Const. 1, Nr. 164. Übersetzung nach Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs, S. 411–415). 189 Vgl. J. Ficker, Rainald von Dassel; W. Grebe, Studien zur geistigen Welt Rainalds von Dassel. 190 Friedrich I., Rundschreiben an die Fürsten über die Ereignisse in Besançon (Oktober 1157). In: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst, 71–73; hier: S. 72, 73 (= MGH. Diplomata Friedrich I. Nr. 186). Zugrunde liegt die dt. Übersetzung von Rahewins Gesta Friderici durch A. Schmidt (S. 419–421). 191 Vgl. W. Heinemeyer, Beneficium – non feudum sed bonum factum. 192 Zur Doppelwahl und zum anschließenden Papstschisma vgl. bes. Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 4, S. 241 ff. Zum Verhältnis von Kaiser und Papst vgl. J. Laudage, Alexander III. und Friedrich Barbarossa.

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter

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IV. am 1. September 1159 gestorben war, hatte die „sizilianische Partei“ der Kardinäle mit großer Mehrheit Roland Bandinelli gewählt, der als Kanzler einst Hadrian auf dem Reichstag von Besançon vertreten hatte und sich nun Alexander III. nannte. Die „deutsche Fraktion“ hingegen hatte für den Kardinal Octavian von Monticelli gestimmt, der die Ambitionen Barbarossas unterstützte und sich Viktor IV. nannte. Um „seinen“ Papst durchzusetzen, berief Barbarossa im Februar 1160 ein Konzil im Dom von Pavia ein, dem die Vertreter der alexandrinischen Partei fernblieben, so daß Viktor von der kleinen Versammlung kaisertreuer Wähler bestätigt wurde. Obgleich die Rechtmäßigkeit dieser Wahl allseits bezweifelt wurde, hielt Barbarossa daran fest. Die Folge war, daß sich die meisten europäischen Herrscher, allen voran die englischen und französischen, 1160 gegen Viktor und für Alexander erklärten. Dieser verhängte im März des Jahres den Kirchenbann über den Kaiser. In den nachfolgenden Auseinandersetzungen verhärteten sich die Fronten. Das kaiserliche Heer brach den Widerstand der lombardischen Städte und legte im März 1162 Mailand in Schutt und Asche, weshalb Alexander III. nach Frankreich floh und Ludwig VII. (1137–1180) um Schutz bat. Der Versuch Barbarossas, ein Bündnis mit dem französischen König zu schließen und Alexander III. zu isolieren, war zum Scheitern verurteilt, weshalb der verbitterte Kaiser in einer harschen Rede den reges provinciarum jegliches Mitspracherecht bei der Papstwahl bestritt. Rainald von Dassel, seit 1159 Erzbischof von Köln, verschärfte diese Position noch, indem er erklärte, sowenig der Kaiser sich in die Besetzung der Bischofsstühle der einzelnen Königreiche einmische, ebensowenig hätten die Könige eine Interventionsbefugnis bei der Wahl des Papstes. Dadurch mußte er den Zorn der Rivalen schüren. Da Rainald ferner in mehreren Schreiben die anderen Könige zu abhängigen Provinzkönigen (reges provinciales) degradierte,193 wuchs der Widerstand von seiten der anderen Königreiche. Der englische Kanzler John of Salisbury verschaffte dieser antideutschen Stimmung bereits 1160 Ausdruck, als er in einem Brief die erboste Frage stellte: „Wer hat die Deutschen zu Richtern der Nationen bestellt? Wer hat diesen plumpen und wilden Menschen das Recht gegeben, nach Willkür einen Herrn über die Häupter der Menschenkinder zu setzen?“194 Die Antwort hatte Barbarossa zwar längst gegeben: es war Gott selbst, der ihm – ohne Mitwirkung des Papstes, allein durch die Wahl der deutschen Fürsten – die Verantwortung für das Reich und die kaiserliche Macht übertragen hatte. Doch wurde diese Auffassung von den anderen Monarchien mit zunehmender Intensität bestritten. Die staufische Legitima193

Vgl. B. Töpfer, Reges provinciales. Vgl. The Letters of John of Salisbury, Nr. 154, S. 206. Hier zitiert nach Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 174; Boockmann, Stauferzeit, S. 104 f.; Haller, Das Papsttum. Bd. 3, S. 158; Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 214, 395; Engels, Die Staufer, S. 86; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium zum Hausmachtkönigtum, S. 127. Zur Erläuterung vgl. bes. H. Fuhrmann, Überall ist Mittelalter, S. 65 ff. sowie F. Trautz, Die Könige von England und das Reich, S. 68 f. 194

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V. Der Drang zum Staat

tionsideologie hatte ihre zündende Überzeugungskraft eingebüßt und stieß außerhalb des Reichsgebietes zusehends auf Ablehnung. Alle Bemühungen Barbarossas, einen Keil zwischen die Front seiner Gegner zu treiben, waren vergebens. Kurie, lombardische Städte und Sizilien ließen sich nicht auseinanderdividieren. „Das alexandrinisch-lombardische Bündnis stand unter einer neuen politischen Idee, der libertas Italiae“.195 Der Kaiser erschien als „Tyrann“, der diese glückliche Freiheit bedrohte. Widerstand gegen sein hegemoniales Trachten schien deshalb nicht nur legitim, sondern regelrecht gefordert. Nach endlosen Gefechten mit den oberitalienischen Städten schloß Barbarossa 1177 Frieden mit dem Papst, der daraufhin den Bann aufhob. Im Lehnsprozeß gegen Heinrich den Löwen (1180)196 gelang es dem Kaiser, seinen mächtigsten „innenpolitischen“ Rivalen auszuschalten. 1183 kam es zum Friedensschluß mit dem 1167 gegründeten lombardischen Städtebund (Cremona, Bergano, Brescia, Mantua und vertriebene Mailänder), dem sich der Veroneser Bund angeschlossen hatte. Friedrich I. mußte einsehen, daß er seine Pläne, die in den Roncalischen Beschlüssen fixiert worden waren, nicht verwirklichen konnte. Die alten Träume vom Reich hatten ihren „Sitz im Leben“ und ihre materielle Basis verloren. „Unverkennbar“, faßt Bernhard Töpfer die damalige Lage zusammen, „geriet infolge der allmählichen Konsolidierung der europäischen Staaten und des Aufkeimens nationaler Regungen die universale Reichsidee, die Barbarossa in Zusammenarbeit mit Rainald von Dassel zur Stützung seiner Machtansprüche besonders betonte, in einen wachsenden Widerspruch zur tatsächlichen politischen Entwicklung“.197 Während die Deutschen – aufgrund ihres „römischen Komplexes“198 – noch immer meinten, sie seien Herrscher über die weltumspannende Ekklesia, hatten 195 Jakobs, Kirchenreform, S. 64. Vgl. H. Appelt, Friedrich Barbarossa und die italienischen Kommunen; G. Fasoli, Friedrich Barbarossa und die lombardischen Städte. 196 Zur Absetzung Heinrichs des Löwen (1180) vgl. den deutschen Text der Gelnhäuser Urkunde in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 64–67 [= Die Urkunden Friedrichs I. Bd. 3. Hgg. v. H. Appelt u. a. Hannover 1985 (MGH. Diplomata Friedrich I.), Nr. 795, S. 362 f.]. Zu Heinrich dem Löwen vgl. H. Hiller, Heinrich der Löwe; K. Jordan, Heinrich der Löwe. 197 Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium zum Hausmachtkönigtum, S. 127. 198 Den Ausdruck prägte H. Plessner, Die verspätete Nation, S. 52 ff. Er zielte bei Plessner allerdings auf die seit dem späten 19. Jahrhundert zu beobachtende norddeutsche, preußisch-evangelische Ablehnung des „Römischen“ in allen seinen Abwandlungen: „als kultivierende Weltmacht“, „als römisch-katholische Kirche“, „als italienischer Humanismus und italienische Renaissance“ sowie „als – durch römisches Recht und in der Renaissance wieder erwecktes Ideal der Republik hindurch vermittelter – moderner Staatsgedanke“ (S. 54). Dieser „antirömische Affekt“ hat seinen tieferen Grund in der – von Plessner nicht erörterten – affirmativen Romfixierung des hohen Mittelalters, die den Prozeß der Staatswerdung und folglich auch die Nationsbildung in Deutschland verzögerte, was später dann zur Reue und zur Distanzierung, zur Negativbesetzung alles „Römischen“ führte. Zum „antirömischen Affekt“ vgl. auch C. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form.

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die Normannen mittlerweile längst ihre eigenen Reiche errichtet. Sowohl in Sizilien als auch in England und in der Normandie hatten sie politische Gebilde geschaffen, die sich dem Zugriff der kaiserlichen Macht entzogen und ihr erfolgreich Widerstand zu leisten vermochten.199 Auch die erstarkende französische Monarchie pochte infolge des Konflikts zwischen Kaiser und Papst stärker auf ihre Eigenrechte und lehnte die Oberhoheit des „imperator Alemannorum“ ab.200 Hier wurde der Boden für das sich verbreitende Unabhängigkeitsbewußtsein vor allem durch die Geschichtsschreiber der Zeit Philipps II. Augustus (1179/80– 1223) bereitet, die das politische Karlsideal und die Idee der „fränkischen Freiheit“ beschworen und ihren König als rex christianissimus feierten.201 Derweil sich Barbarossa vornehmlich um die „Außenpolitik“ kümmerte und seine Energien auf die Stabilisierung der imperialen Herrschaft konzentrierte, bemühten sich die westeuropäischen Monarchien um die innere Konsolidierung und den Ausbau der königlichen Zentralgewalt. Da sich der Kaiser hauptsächlich der „Weltpolitik“ widmete, verlagerte sich auch in den deutschen Ländern der Schwerpunkt der Macht immer mehr in die Fürstentümer, die sich – wie schon mit der Gründung des Herzogtums Österreich und ihrer Besiegelung durch das Privilegium minus von 1156 sichtbar wurde202 – allmählich in Landesherrschaften umzuwandeln begannen.203 Die wichtigsten verfassungsrechtlichen Neuerungen der Zeit Barbarossas waren die Herausbildung des „jüngeren Reichsfürstenstandes“ (Julius von Ficker) und die neue Heerschildordnung,204 die allesamt die 199 Zur Entwicklung der normannischen Königreiche vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 634 ff. Mitteis, Der Staat, S. 209 ff., 272 ff. Zum Verhältnis der englischen Könige zum Reich vgl. F. Trautz, Die Könige von England, S. 60 ff. Zur Wirkung der normannischen Reichsgründungen auf die politischen Ideen der Zeit Barbarossas vgl. A. Brackmann, Die Wandlung der Staatsanschauungen, bes. S. 341 ff. 200 Vgl. Werner, Das hochmittelalterliche Imperium, S. 38 ff.: „Der Kaiser ist jetzt“ – d. h. in den französischen Quellen des 12. Jahrhunderts – „ein Tyrann, er ist der Feind der Kirche und wird als solcher von Gott bestraft“ (S. 38). „Mehr und mehr wird jetzt vom imperator Alemannorum, Germaniae, Teutonicum etc. gesprochen“. (S. 39). Der Grund dafür liegt aber nicht in einer Ablehnung der Deutschen, sondern darin, daß der Kaiser nicht mehr der Beschützer der Papstkirche, sondern ihr Gegner ist, „der dieser nicht dienen, sondern ihr seinen Willen aufzwingen will“ (S. 40 f.). 201 Vgl. W. Berges, Die Fürstenspiegel, S. 72 ff.; H. Kämpf, Pierre Dubois, S. 23 ff.; Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 188 ff. Siehe dazu auch unten, S. 476 f. 202 Vgl. den deutschen Text des Privilegium minus vom 17. September 1156 in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 360–363 [= Die Urkunden Friedrichs I. Bd. 1. Hgg. v. H. Appelt u. a. Hannover 1975 (MGH. DD F I.), Nr. 151, S. 259 f.]. 203 Zu den Merkmalen der „Landesherrschaft“ vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft, S. 358 ff. Zur „Territorialisierung“ der Herrschaft vgl. auch T. Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates, S. 309 ff.; O. Engels, Die Staufer, S. 107 ff. Wie Engels betont, ist der Auflösungsprozeß der Stammesherzogtümer aber nicht von Friedrich Barbarossa eingeleitet worden. Er sei bereits in vollem Gang gewesen, als dieser 1156 die österreichische Mark von Bayern absonderte (S. 111). 204 Vgl. dazu Mitteis, Der Staat, S. 257 ff.; ders., Lehnrecht und Staatsgewalt, S. 432 ff. Als dritte verfassungsrechtliche Neubildung thematisiert Mitteis den im Sachsenspiegel Eikes von Repgow aus den 1220er Jahren festgehaltenen Leihezwang, der

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feudale Aufsplitterung forcierten. Als Friedrich I. schließlich seine Bemühungen um das universale Kaiserreich auf dem III. Kreuzzug (1189–1192) krönen wollte, ertrank er am 10.6.1190 beim Baden im Saleph, ohne das heilige Land betreten zu haben. „All seine positiven innenpolitischen Maßnahmen“, so faßt Gottfried Koch die Ergebnisse der politischen Aktivitäten Barbarossas nüchtern zusammen, „wurden weitgehend durch die Dominanz der Kaiserpolitik wieder zunichte gemacht“. Die einstige Einheit von Imperium und Sacerdotium hatte sich in die Vielzahl unabhängiger Regna aufgelöst, die nur noch von der universalen Kirche ideell überwölbt wurden. „Es bestand im 12. Jahrhundert eine Pluralität politisch selbständiger Gebilde, deren Geschichts- und Weltvorstellung nicht am Imperium orientiert waren“.205 Idee und Wirklichkeit klafften auseinander. „Nur theoretisch bildeten die Länder der lateinischen Christenheit eine politische Ordnung mit dem Kaiser als weltlichem Oberhaupt an der Spitze,“ folgert Hans K. Schulze, „praktisch handelte es sich um ein System souveräner Reiche“. Selbst im eigentlichen Reichsgebiet begannen erbitterte Kämpfe zwischen den mächtigsten Adelsgeschlechtern um die Hegemonie. „Das Reich wurde gleichsam in dynastisch beherrschte Einflußsphären aufgeteilt“.206 Die Integrationsbemühungen der Salier und Staufer müssen demnach – allen Einzelerfolgen zum Trotz – letztendlich als gescheitert gelten. Das weltumspannende Imperium Romanum ließ sich nicht restituieren. Auch in Europa blieb der Einfluß des Kaisertums beschränkt. Die Herrschaftsverhältnisse und Machtstrukturen in den einzelnen Territorien waren zu komplex und zu kompakt, um sich der kaiserlichen Gewalt zu beugen. Allenfalls die kaiserliche auctoritas wurde im Falle erfolgreicher Herrscher anerkannt, solange die aus ihr abgeleitete Politik nicht mit den Interessen der anderen Mächte und vor allem mit dem Papsttum kollidierte.207 Die Städte aber von der jüngeren Forschung bestritten wird. Vgl. etwa Engels, Die Staufer, S. 119, 124; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 189; Jakobs, Kirchenreform, S. 158. Zur Entstehung des jüngeren Reichsfürstenstandes vgl. auch G. Tellenbach, Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand, S. 236 ff. Zur älteren und jüngeren Kritik an Mitteis vgl. auch den Forschungsbericht von K.-F. Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 76 ff., bes. S. 80 ff. 205 Koch, Auf dem Wege, S. 153, 154. Daß die Italienpolitik verantwortlich war für den Niedergang des Kaisertums, bezweifelt Brackmann: „Das universale deutsche Kaisertum ist an der universalen römischen Kirche gescheitert, nicht an seiner Italienpolitik oder an einer Überspannung seiner Expansionspolitik“ (Der Streit um die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters, S. 37). 206 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Bd. 3, S. 143, 183. 207 Daß die mittelalterliche Idee vom Kaiserreich mit seiner die Welt umspannenden auctoritas bis zum Ausgang der Staufer in praxi wirksam war, betont hingegen R. Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke: „Ja, die Idee von der Gemeinschaft der christlichen Fürsten, die zueinander gehören und unter Führung des Kaisers sich gegenseitig helfen sollen . . ., zeitigte im Reich der Wirklichkeit bemerkenswerte Erfolge“ (S. 263 f.). „Erst mit dem Sturz der Staufer änderte sich das Bild. Im späteren Mittelalter, das die Vollendung der Nationalstaaten in Europa brachte, ist die auctoritas des Kaisers aufs

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blieben potentielle Widersacher und ein Faktor der Unsicherheit. Bei aller Vorsicht und dem nötigen Respekt vor dem Aufbäumen der imperialen Gewalt wird man doch mit Karl F. Werner zusammenfassend konstatieren müssen: „Das hohe Mittelalter ist die Welt der Könige und Fürsten, nicht die Welt des universalen Kaisers“.208 Der Kontrast zwischen staufischer Reichsidee und der tatsächlichen Lage bzw. der Wahrnehmung des Reiches durch die anderen Königreiche reflektiert sich in zwei Werken, die beide bereits in der Frühzeit Barbarossas entstanden: im Ludus de Antichristo (ca. 1160) und im Policraticus des Johannes von Salisbury, der 1159 abgeschlossen wurde. Während das „Spiel vom Antichristen“ die staufischen Vorstellungen durch Betonung der Katechon-Funktion und der eschatologischen Relevanz und Notwendigkeit des Reiches zu erhärten suchte, unternahm Johannes von Salisbury eine scharfe Kritik an den herrschenden höfischen Sitten und entwarf im Hinblick auf das normannische England Heinrichs II. Plantagenet das Bild einer „natürlichen“ und gottgemäßen Ordnung, die keinen Raum und keine Funktion mehr vorsah für die imperialen Ambitionen des deutschen Kaisertums. Der Ludus de Antichristo209 rekonstruiert die Weltgeschichte aus biblischchristlich-eschatologischer Sicht,210 läßt das gesamte Heilsgeschehen auf der Bühne ablaufen und thematisiert die letzten Ereignisse vor dem Weltende, die sich in einer Triade vollziehen:211 Zunächst triumphiert der Kaiser und mit ihm die Christenheit über alle Völker. Die Könige von Frankreich, Griechenland, Baschwerste erschüttert“ (S. 264). Bis dahin habe die Idee der kaiserlichen auctoritas ihre Wirkung nicht verfehlt, die seinerzeit von keinem als Befehlsgewalt (potestas) verstanden worden sei. „Es gibt im Mittelalter eine ideelle Unterordnung bei voller politischer Unabhängigkeit“ (S. 263). 208 Werner, Das hochmittelalterliche Imperium, S. 60. Vgl. auch ders., Aufstieg der westlichen Nationalstaaten; W. Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen. Zu den Anfängen der Nationsbildung siehe ferner die oben, in Anm. 107, genannte Literatur. 209 Ludus de Antichristo. Hgg. v. G. Vollmann-Profe. Lauterburg 1981. Auch in: K. Langosch (Hg.), Politische Dichtung, 159–258 bzw. ders. (Hg.), Geistliche Spiele, S. 179 ff. sowie G. Günther, Der Antichrist, S. 89–155. 210 Eine prägnante Charakterisierung des Ludus gibt G. Günther, Der Antichrist, S. 9: „Der Schauplatz des mittelalterlichen Spiels vom Antichrist . . . ist die ganze bewohnte Erde. Mitwirkend im Spiel ist die gesamte Menschheit, gegliedert in die Glaubensstände der drei großen Religionen. Das Thema ist die Geschichte der Welt und deren Ende. Der Zeitraum des Spiels umfaßt einen Weltentag mit Kriegen und Friedenszeiten, Auseinandersetzungen zwischen den Mächtigen, Streitgespräche um den rechten Glauben, Verfolgungen und Verführungen, Völkermord und Gericht. Das ganze Thema ist in 414 Verse eingespannt und vom Dichter durch Anweisungen für die Darstellung sinnfällig gemacht worden.“ 211 Vgl. zum folgenden auch Dempf, S. 256 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 173; W. Kamlah, Der Ludus de Antichristo; Töpfer/Engel, S. 120 f. Zur Stellung des Ludus de Antichristo im Rahmen der Reichsspekulationen des 12. Jahrhunderts vgl. Töpfer, Das kommende Reich, S. 19 ff.

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bylon und Jerusalem unterwerfen sich zu Lehen des Kaisers. Dieser kann folglich Krone, Zepter und Imperium am Altar des Tempels von Jerusalem niederlegen und sich auf sein angestammtes Territorium zurückziehen. Dann aber tritt der Antichrist hervor, der sich zum Herrscher über die Welt aufschwingt. Weil der Kaiser das Reich Gott überträgt und sich auf sein regnum Teutonicum beschränkt, triumphiert der Antichrist über Franzosen und Byzantiner. Die Deutschen besiegen das unter seiner Führung vereinigte Heer der ehemals christlichen Könige, doch gelingt es dem Rivalen, den deutschen König durch Wundertaten auf seine Seite zu ziehen. Mit Hilfe der deutschen Ritter besiegt er sodann den mächtigen heidnischen Herrscher von Babylon und wird so vor Anbruch des Jüngsten Gerichts zum Herrn der Welt. Schließlich beginnt das Endgericht. Ein Donnerschlag ertönt und der Christus rex wirft den Antichristen nieder. Alle kehren zum Glauben zurück und werden von der Kirche aufgenommen, die daraufhin das letzte Lied anstimmt: „Laudem dicite deo nostro, omnes servi eius, et qui timetis eum, pusilli et magni!“ Das Spiel rief damit zur Wachsamkeit gegenüber den lauernden Gefahren auf. Der von den anderen Mächten geforderte Verzicht des Kaisers auf das Reich und die mit ihm verknüpfte Oberhoheit würde dem Antichrist Tür und Tor öffnen und seinen Sieg einleiten. Nur ein mächtiger und standhafter Imperator, so darf gefolgert werden, kann die Rolle des Kat-echon übernehmen, den Untergang der Christenheit und mit ihm das Ende der Welt aufhalten. Läßt er sich hingegen von den anderen Monarchen unterkriegen und von den Mächten des Bösen übertölpeln, so ist das irdische Schicksal besiegelt. Erlösung kann dann nur noch von Christus selber kommen, der beim jüngsten Gericht die Guten und Bösen im Sinne Augustins voneinander sondert. Alles muß folglich daran gesetzt werden, das deutsche Kaisertum zu stärken und den Abfall der anderen christlichen Könige zu verhindern, um so das Endgeschick zwar nicht für immer abzuwenden, aber wenigstens für einige Äonen hinauszuzögern. Ganz anders stellte sich zur selben Zeit die Lage für John of Salisbury dar, der im Policraticus (1159)212 die englisch-französische Gegenposition zum staufischen Imperialismus sowie die kirchlich-papalistische Antithese zum normannischen Cäsaropapismus formulierte, die Auswüchse des Feudalismus und das lasterhafte Leben an den weltlichen und geistlichen Höfen kritisierte, auf der Basis humanistischer Überlegungen einen Fürstenspiegel konzipierte, mit Hilfe des Organismusmodells eine rein rationale und „natürliche“, aus kirchlich-religiösen Banden emanzipierte politische und soziale Ordnung konstruierte213 – und des212 Ioannis Saresberiensis episcopi Carnotensis Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII. 213 Vgl. Berges, Die Fürstenspiegel, S. 40 ff., 289 ff.; Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 4, S. 330 ff.; M. Kerner, Johannes von Salisbury; H. Liebeschütz, Mediaeval Humanism; Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 209 ff.; Miethke, Politische Theo-

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halb von einigen Autoren als der erste Klassiker der modernen Staatstheorie214 oder gar als der Begründer der westlichen Politikwissenschaft215 gerühmt wurde. Mag diese Einschätzung auch überzogen sein, so bildet der Policraticus doch einen entscheidenden Einschnitt im hochmittelalterlichen Kampf ums Reich und einen wichtigen Meilenstein in der Verselbständigung der Politik gegenüber der Religion. In ihm reflektiert sich die Emanzipation der westlichen Königreiche, die von der Kirche ideell überwölbt und gestützt werden. In England hatte Heinrich II. (1154–1189) die Dynastie des Hauses AnjouPlantagenet begründet, die bis 1399 das Land regierte. Durch seine Heirat mit Eleonore von Poitou (1152), der Erbin Aquitaniens und früheren Gemahlin Ludwigs VII. von Frankreich (1137–80), wurde er zum Herrscher des angevinischen Reiches, das sich von der schottischen Grenze bis zu den Pyrenäen erstreckte und bis zur Schlacht von Bouvines (1214) der mächtigste Konkurrent des staufischen Reiches war.216 Heinrich hatte die königliche Oberhoheit über die Kirche wiederhergestellt, die während der Regentschaft seines Vorgängers Stephan von Blois (1135–54) aufgehoben war. Wie schon Wilhelm der Eroberer (1066–1087) und seine Söhne, Wilhelm II. (1087–1100) und Heinrich I. (1100–1135), so hatte auch er dem päpstlichen Streben nach Suprematie über die englische und normannische Geistlichkeit erfolgreich getrotzt. Hatte das Papsttum während der Wirren in der Zeit Stephans von Blois, die zu einem fast zwanzigjährigen Bürgerkrieg und zu „anarchischen“ Zuständen geführt hatten, im Verein mit den Baronen seine Stellung ausgebaut und den Cäsaropapismus wirksam bekämpft, so gelang es Heinrich II., die königliche Zentralgewalt zu stabilisieren und die vollständige Kontrolle über den englischen Klerus wiederzuerlangen.217 1162 ernannte er seinen Freund und Kanzler Thomas Becket zum Erzbischof von Canterbury, der jedoch gegen den Willen des Königs das Kanzleramt niederlegte und zum glühenden Verfechter der Kirchenfreiheit und damit zum verbissenen Rivarien, S. 71 ff.; G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, S. 259 ff.; P. v. Sivers, John of Salisbury; Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung, S. 123 ff. 214 Vgl. Brackmann, Die Wandlung der Staatsanschauungen, S. 435 ff.; Heer, Aufgang Europas, S. 290 ff.; Spörl, Grundformen, S. 73 ff. 215 Vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 443 ff. 216 Zwar huldigte Heinrich II. 1157 in einem Brief an Barbarossa dem Kaiser und sicherte ihm scheinbar die Anerkennung seiner kaiserlichen Oberherrschaft zu, doch handelt es sich dabei in Wirklichkeit um eine in Komplimenten versteckte ablehnende Geste. Vgl. H. E. Mayer, Staufische Weltherrschaft? Wie Mayer betont, enthüllt sich Heinrichs Brief bei genauerem Hinsehen „als eine höfliche, durch schmeichelhaft-unterwürfige Worte und kostbare Geschenke verbrämte, in der Sache jedoch entschiedene Absage“ an Friedrichs Forderungen (S. 206 f.). Der englische König machte dadurch vielmehr klar, „daß er weit davon entfernt war, einen wie auch immer gearteten kaiserlichen Oberherrschaftsanspruch anzuerkennen“ (S. 207). 217 Die Geschichte Englands seit der normannischen Eroberung wurde – verstreut über zahlreiche Kapitel – rekonstruiert und zur geschichtlichen Grundlage seiner klassischen Staatstheorie gemacht von Hobbes (Leviathan, 1651).

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len seines einstigen Freundes wurde. Nach einem sechsjährigen Kampf zwischen beiden wurde Becket schließlich 1170 von vier Männern des Königs ermordet, wodurch der Machtkampf entschieden war.218 Noch vor dem Ausbruch des Konflikts zwischen Heinrich und Thomas Becket verfaßte John of Salisbury, der damalige Sekretär des Erzbischofs Theobald von Canterbury, sein umfangreiches Werk Policraticus sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum, das er 1159 abschloß und seinem Freund Thomas Becket widmete. Aus der geistigen Welt von Chartres herstammend,219 entwickelte er mit Hilfe des Organismusmodells eine philosophische Pflichtenethik, die der bestehenden Welt des Feudalismus das Bild einer besseren und gerechteren Ordnung entgegenstellte. Allerdings war Johannes kein Gegner des Feudalismus und der Amtskirche. Wie Max Kerner zeigt,220 ging es ihm „nicht darum, die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu erschüttern, sondern darum, ihre Mißstände mit Hilfe antiker und biblischer Übernahme zu beheben“ (S. 208). Nicht die Institutionen der Feudalgesellschaft, sondern die moralischen Überschreitungen ihrer Mitglieder werden kritisiert (S. 192 f.). Die sozialen und politischen Konflikte werden als moralische Probleme gesehen und als solche mit humanistisch-christlichen Mitteln bekämpft. Der Policraticus fügt sich so der Literatur des 12. Jahrhunderts. Es geht um eine personalistisch orientierte Ethik, in der nicht die Technik einer sich zentralisierenden Verwaltung, sondern die moralischen Probleme ihrer Vertreter behandelt werden (S. 208). Nach Kerner bildet die Verknüpfung mit der geistigen Welt von Chartres den Schlüssel für die logische Struktur des Policraticus (S. 207). Dieser basiert auf einer Morallehre, „die auf einer natürlichen Offizienordnung ruht, christlich überformt und literarischrhetorisch dargestellt wird. Im Plan gehört diese christlich-humanistische Handlungslehre der Schule von Chartres, in der Ausgestaltung dem Hofe von Canterbury an“ (S. 208).

218 Vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 413 ff., 670 ff. Berman stützt sich seinerseits auf Z. M. Brooke, The English Church and the Papacy from the Conquest to the Reign of John. Cambridge 1931, 1952 (12. Kap.: „Stephan. Die ,Freiheit der Kirche‘“), G. Greenaway (Hg.), The Life and Death of Thomas Becket. London 1961, B. Smalley, The Becket Conflict and the Schools. Oxford 1973 u. a. Zur Tragödie Thomas Beckets siehe ferner Haller, Das Papsttum. Bd. 3, S. 200 ff. 219 Zur Schule von Chartres vgl. die Überblicke von Flasch, Das philosophische Denken, S. 226 ff., Mensching, Das Allgemeine, S. 62 ff. und Ueberweg, Grundriß II, S. 226 ff. 220 Vgl. zum folgenden Kerner, Johannes von Salisbury. Im Zuge einer kritischen Synopsis der früheren Deutungen von Spörl, Heer, Liebeschütz und Brackmann hat Kerner die Interpretation des Policraticus auf eine neue Stufe gehoben. Er unterscheidet fünf verschiedene Sinneinheiten: 1. der Policraticus als Fürstenspiegel (S. 132 ff.), 2. die Rechtsdiskussion (S. 149 ff.), 3. die Hofkritik (S. 158 ff.), 4. den Naturbegriff des Policraticus (S. 170 ff.); 5. der Policraticus als philosophische Lehrschrift (S. 183 ff.). Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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Der Engländer war demnach weniger an politischen als vielmehr an ethischen Fragen und am rechten Glauben und den von ihm gebotenen Lebensformen interessiert. Dennoch beförderten seine Reflexionen das politische Denken des Hochmittelalters ganz erheblich. Sie schärften das Bewußtsein für politische Mängel und für die verderblichen Auswüchse des höfischen Lebens. Auf diesen Zusammenhang verweist auch Jürgen Miethke, der die Intentionen des Johannes wie folgt beschreibt:221 „Er möchte das neue soziale Phänomen – den Fürstenhof und die Prälatenkurie – als Welt des Scheins und der Nichtigkeit dartun und die Lehren über das richtige Leben gegen deren Leere ins helle Licht rücken. Die Höflinge, die ihr Leben als leeres Theater aufführen und wirklichen Taten (res gestae) ausweichen, verfehlen ihre eigentliche Bestimmung, indem sie den Fürsten schmeicheln, sich den Künsten der Astrologie, der Jagd und ihren Leidenschaften hingeben. Sie führen nur ein Scheinleben, sind Schauspieler in einer Komödie, die dem Spiel einer blinden Fortuna folgt“ (S. 72). Durch Rückgriff auf die Organismusmetapher, die er einer verschollenen und nur von ihm überlieferten Schrift (Pseudo-)Plutarchs entnimmt, entwirft Johannes das Bild einer gerechten Ordnung: „An der Spitze des Gemeinwesens steht der Herrscher. Er ist das Haupt des Gesamtkörpers. Der königliche Rat, antikisierend als ,Senat‘ bezeichnet, erfüllt die Funktion des Herzens; Richter und Provinzvorsteher haben die Aufgaben der Augen, der Ohren und der Zunge zu erfüllen; Bedienstete und Bewaffnete werden mit den Händen verglichen. Die nähere Umgebung des Fürsten hat die Seiten zu vertreten; Finanzbeauftragte entsprechen dem Bauch und den Eingeweiden, während die Bauern und die Handwerker, die den gesamten Körper tragen, die Füße darstellen (S. 73)“. Entscheidend dabei ist, daß diese Ordnung „gerade nicht primär von der Kirche her konstruiert und gedacht ist“ (ebd.), sondern als „naturhafte“ Ordnung zu verstehen ist, die auf einer – platonisch verstandenen – Schöpfungslehre basiert (S. 74). Der vielfach beschworene „Naturalismus“ des Policraticus „bleibt zwar ethisch eingebunden“, er beginnt sich aber „aus kirchlichen Bindungen zu lösen, so sehr der Autor auch selbst eine kurialistisch-hierokratische Politik vertreten haben mag“ (ebd.). Der Fürst ist zwar nicht an die positiven Gesetze gebunden, „um so mehr aber an die göttlichen Vorgaben, an die aequitas, die Gerechtigkeit, die sich im gegenseitigen Geben und Nehmen realisiert. Wer sich als Herrscher nicht daran hält, wird zum Tyrannen“, gegen den Widerstand – bis hin zum Tyrannenmord – nicht nur zulässig, sondern zwingend geboten ist.222

221 Vgl. zum folgenden Miethke, Politische Theorien, S. 71 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weiter Angaben beziehen sich auf diesen Text. 222 Vgl. dazu auch Berman, Recht und Revolution, S. 452 f.; Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 211; Kern, Gottesgnadentum, S. 200 und Anhang XXXI., S. 356 f. (Tyrannenmord); R. H. u. M. A. Rouse, Johann von Salisbury und die Lehre vom Tyrannenmord. In: M. Kerner (Hg.), Ideologie und Herrschaft, 241–267; Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung, S. 144 ff.

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Daß Johannes mit seinen Ausführungen zum Verhältnis von Fürst und Gesetz eine in sich widersprüchliche Positionszuweisung unternahm, hat Ernst Kantorowicz betont:223 „Er wies seinem Fürsten gleichzeitig absolute Macht und absolute Beschränkung durch das Gesetz zu“ (S. 113). Der Fürst ist legibus solutus und damit frei von gesetzlicher Bindung, soll aber dennoch ein Diener des Gesetzes und der Gerechtigkeit sein. Er wird als öffentliche Person zur Verkörperung des Rechts. „Nicht der Fürst herrscht, sondern die Gerechtigkeit herrscht durch den Fürsten, der das Instrument der Gerechtigkeit ist“ (S. 115). Diese wird folglich zum Zentrum des Politischen. Die soziale und politische Ordnung wird nach dem Vorbild der römischen Republik als Organismus konstruiert, in dem jeder einzelne die ihm durch seine Herkunft zufallende Funktion zu übernehmen und die mit ihr verknüpften Pflichten zu erfüllen hat. Wie Tilman Struve bemerkt, hat die Neubelebung des heidnisch-römischen Respublica-Begriffs zur Folge, „daß die für das Mittelalter charakteristische Anschauung von der Ecclesia als corpus Christi von einer gleichsam ins Christliche übertragenen Respublica-Vorstellung verdrängt wird“.224 Gerade das organologische Modell trug demnach dazu bei, daß das Politische eine Aufwertung erfuhr und sich aus der geistlichen Klammer lösen konnte. Entscheidend im hier verfolgten Zusammenhang ist die Tatsache, daß dem Kaisertum in der „natürlichen Ordnung“ des Policraticus und bei der Verwirklichung der Gerechtigkeit keine Rolle mehr zukommt. Wie schon in der Geschichtsschreibung des Ordericus Vitalis (y 1142), die sich ausnahmslos für die Taten der Normannen in Frankreich, England und Italien interessierte,225 sowie in seinem zitierten Brief von 1160 so spricht Johannes auch in seinem politikphilosophischen Hauptwerk den Deutschen die Funktion als Weltenrichter ab. Diesen Aspekt hat vor allem Friedrich Heer mit Recht hervorgehoben:226 „In Johannes von Salisbury tritt dem Gottkönigreich des Staufers, dem Prunk der Reichsbischöfe, der politischen Religion ,alten Stils‘ die Idee einer armen, in der Verfolgung und Passion lebenden neuen Gemeinschaft der Menschen entgegen; eine neue Kirche, deren Papst in der Nachfolge Christi ein Armer, Verbannter, von den Mächten der Welt Verfolgter ist“ (S. 291). Johannes wurde so zum „Vorkämpfer einer englisch-französischen Allianz gegen das ,Reich‘“ (S. 292). „In Frontstellung gegen die kaiserliche Partei . . . arbeitet er seine Auffassung vom Königtum aus“ (S. 322). Der König als Repräsentant der Gerechtigkeit ist unumschränkter Herrscher in seinem Königreich. „Johannes von Salisbury aber 223 Vgl. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 112 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 224 Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung, S. 124. 225 Vgl. A. Brackmann, Die Wandlung der Staatsanschauungen, S. 344 f.; J. Spörl, Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauungen, S. 62 ff. 226 Vgl. zum folgenden Heer, Aufgang Europas, S. 290 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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denkt – und das ist seine geschichtliche Leistung – das staufische Reich sozusagen bis ins letzte durch . . . und enthüllt es, vom Standpunkt ,weltlicher‘ spiritualhumanistischer Persönlichkeitskultur aus, als eine ungeheuerliche Schimäre!“ (S. 337; cf. S. 369). Der Policraticus erscheint dementsprechend als „die Schau eines neuen Staates, jenseits des Feudalismus, jenseits der politischen Religiosität alten Stils – gewachsen aus der ratio von Paris und Chartres, genährt mit dem Glauben Abälards an die Heilkraft der Antike und eines gereinigten Glaubens, voll von Ressentiment gegen die Feudalherren alten und neuen Stils, gegen die weltlichen und geistlichen ,Tyrannen‘ – ein Werk, das die politische Quintessenz zieht aus dem Kampf der spiritualen und humanistischen Bewegung des 12. Jahrhunderts gegen die ,alten Mächte‘“ (S. 363). Die Emanzipation der einzelnen Königreiche (regna) gegenüber dem Reich (imperium) war demnach im Bewußtsein der Zeitgenossen schon verhältnismäßig weit fortgeschritten und hatte sich theoretisch und literarischen Ausdruck verschafft.227 Nichtsdestotrotz blieb die Hoffnung auf das Reich lebendig.228 Sie wurde vor allem innerhalb Deutschlands genährt. Die staufische Reichsidee wurde hochgehalten und fand beredten Ausdruck in der deutschen Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. 229 So begrüßte der Archipoeta Friedrich I. als dominus mundi und stellte ihn mit Augustus und Karl dem Großen in eine Reihe.230 Der Ligurinus des Gunther von Pairis rühmte die Heldentaten des großen Kaisers.231 Gottfried von Viterbo (y 1191), Hofkaplan und Notar schon in der Kanzlei Konrads III., beschrieb die Taten Barbarossas und Heinrichs VI. und beschwor die staufische Auffassung, wonach die deutschen Könige und Kaiser die legitimen Nachfolger und Erben der römischen Cäsaren sind.232 Petrus von Eboli feierte die Geburt Friedrichs II. im Carmen de rebus Siculis als Beginn eines neuen saturnischen Zeitalters, einer Ära des Friedens und der Eintracht, in welcher der Endkaiser den Osten und Westen vereinigen, die Heiden im Vorderen

227 Vgl. dazu auch Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen, S. 271 ff. (zu den Angelsachsen bes. S. 287 ff.). Daß darin keine entscheidende Neuerung gelegen ist, daß England auch schon im 10. und 11. Jahrhundert „selbständig“ gegenüber dem Kaisertum war, betont allerdings F. Trautz, Die Könige von England, S. 69. Siehe auch unten V. 2. b) [bes. S. 469 ff.]. 228 Vgl. F. Baethgen, Zur Geschichte der Weltherrschaftsidee. 229 Vgl. R. Schnell (Hg.), Die Reichsidee in der deutschen Dichtung des Mittelalters; E. Nellmann, Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salier- und frühen Stauferzeit; H. J. Kirfel, Weltherrschaftsidee und Bündnispolitik, S. 92 ff.; Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 343 ff. 230 Vgl. Die Gedichte des Archipoeta. 231 Vgl. den Prolog und Auszüge aus dem Epilog (lat./dt.) bei K. Langosch, Politische Dichtung um Kaiser Friedrich Barbarossa, S. 141 ff. und die Erläuterung S. 275 ff. 232 Gottfried von Viterbo, Speculum regum (1183), S. 21 f. und Pantheon, ebd., S. 145 ff. Dazu Berges, Die Fürstenspiegel, S. 103 ff.; Schaller, Die Kaiseridee Friedrichs II., S. 113 f. [S. 500 f.].

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Orient besiegen und die Juden bekehren würde.233 Die letzte große Hymne in diesem Konzert sang schließlich im Spätmittelalter Dante Alighieri, der nach dem Ende der Stauferherrschaft in den Wirren des frühen 14. Jahrhunderts auf die „gute alte Zeit“ zurückblickte und unter dem Eindruck der Herrschaft Heinrichs VII. (1308–1313) das Kaisertum zum ehernen Standbild und zum Paradigma der weltlichen Politik meißelte. Mit ihm erreichten die mittelalterlichen Reichsspekulationen ihren Gipfel und ihren krönenden Abschluß. Die Reichsidee wurde unter Heinrich VI. (1190–1197) weiter ausgebaut, dessen kurze Regentschaft als Höhepunkt staufischer Macht gilt. Sie bildete die Legitimationsideologie der praktischen Politik, die vom Gedanken der Weltherrschaft geleitet wurde.234 Heinrich VI. beanspruchte das Königreich Sizilien nach altem Reichsrecht. Er verstand sich als Oberlehnsherr der Königreiche England, Armenien und Cypern. Alle regna sollten dem Kaiserrecht unterstellt, selbst Frankreich in Abhängigkeit gebracht werden. Der Kaiser nahm Tributzahlungen von Tunis und Tripolis entgegen und plante die Eroberung von Byzanz. Er setzte sich gegen seine Rivalen Heinrich den Löwen und Tankred von Lecce durch, der von einer normannischen Partei zum König von Sizilien gewählt wurde. Die sich formierende Fürstenopposition in Deutschland (1192–94) brach zusammen, als Heinrich den vom Kreuzzug heimkehrenden Richard Löwenherz gefangensetzte und ein gewaltiges Lösegeld von ihm erpreßte. Schließlich legte er im Frühjahr 1196 den deutschen Fürsten seinen Erbreichsplan vor, der das Wahlkaisertum in ein Erbkaisertum verwandeln und seinem Haus die Nachfolge in der Herrschaft dauerhaft sichern sollte.235 Im Gegenzug sollten die Reichslehen in männlicher wie weiblicher Linie und bei Kinderlosigkeit in Seitenlinien erblich werden, so daß den Fürsten der Verzicht auf das Wahlrecht reichlich vergolten worden wäre. Die Umsetzung des Plans wurde jedoch durch die Umstände verhindert. Erneut sorgte der frühe Tod des Kaisers, der kurz vor dem Aufbruch zum Kreuzzug Ende 1197 der Malaria zum Opfer fiel, für Konfusion und nachhaltige Thronwirren, die das Reich in eine schwere Krise trieben. Als Heinrich starb, war sein Sohn Friedrich, dem seine Mutter Konstanze zunächst den vielsagenden Namen Konstantin gegeben hatte, gerade zwei Jahre alt. Nach dem Tod der Mutter

233

Vgl. E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 9 f. Zu Heinrich VI. vgl. etwa Boockmann, Stauferzeit, S. 127 ff.; Engels, Die Staufer, S. 126 ff.; Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 199 ff.; Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 4, S. 686 ff.; Jakobs, Kirchenreform, S. 68 ff. (weitere Literatur: S. 223); Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 12 ff.; Keller, Zwischen regionaler Begrenzung, S. 414 ff.; Mitteis, Der Staat, S. 265 ff.; Töpfer/Engel, S. 161 ff. 235 Vgl. die Quellenauszüge – Marbacher Annalen, Chronik des Thüringer Klosters Reinhardbrunn und Testament Heinrichs VI. – in Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 375–380. Zur Diskussion über den Erbreichsplan und das Testament Heinrichs VI. vgl. den Forschungsbericht von Jakobs, Kirchenreform, S. 152 f. Zur Vorgeschichte vgl. G. Wolf, Imperator und Caesar. Zu den Anfängen des staufischen Erbreichsgedankens (1973). In ders. (Hg.), Friedrich Barbarossa, 360–374. 234

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(1198) wurde der neue Papst Innocenz III. nach dem Wunsch der Kaiserin zum Vormund des Knaben. Mit der deutschen Doppelwahl des selben Jahres flammte der alte Streit zwischen Welfen und Staufern wieder auf, der einen lange währenden Bürgerkrieg zur Folge hatte. Die Konsequenzen der dadurch hervorgerufenen Lage und die von ihr ermöglichten Entwicklungen hat Ernst Kantorowicz wie folgt beschrieben:236 „Die deutsche Weltherrschaft und Größe – stets auf dem einzelnen Genius beruhend, nicht auf dem Volk – brach gemäß ihrem Schicksal innerhalb eines Augenblicks zusammen [. . .] die Gegenkräfte, welche bislang sich zu sammeln des Kaisers Übermacht und rasches Vorgehen verhindert hatte, sollten sich jetzt zum unvermeidlichen Gegenstoß ballen. Der wäre auch zu Lebzeiten Heinrichs VI. nicht ausgeblieben, nun aber, da der Einzige, welcher dem hätte widerstehen können, nicht mehr am Leben war, stießen die Gegnermächte, Fürsten und Papst, in einen Leerraum, in dem sie sich ungehindert und darum desto verheerender auswirken konnten. Schon wenige Monate nach dem Tode des Kaisers hatte Deutschland in Philipp von Schwaben und Otto von Braunschweig je einen staufischen und einen welfischen König, während im gleichen Augenblick als wahrer Erbe kaiserlicher Weltherrschaft der in seiner Art größte und politisch erfolgreichste aller Päpste den Stuhl Petri bestieg: Innocenz III.“

Wieder schlüpfte das Papsttum in die Lücke und nutzte das entstandene Machtvakuum zum Ausbau seiner eigenen Positionen. 1198, drei Monate nach dem Tod Heinrichs VI., bestieg Innocenz III. den päpstlichen Thron, den er bis 1216 innehatte.237 Die vom deutschen Kaiser für kurze Zeit zusammengeraffte Welt war mittlerweile wieder in ihre Einzelteile auseinandergebrochen, „und den vom Geiste Gregors VII. getragenen päpstlichen Ansprüchen vermochte sich ernsthaft keine der partikularen Gewalten zu widersetzen“ (Kantorowicz 1927, S. 39). Der Papst beanspruchte nun anstelle des Kaisers den Titel des vicarius Christi für sich und damit nicht nur die oberste Autorität, sondern tatsächliche Befehlsgewalt (plenitudo potestatis) auch in weltlichen Dingen. Er avancierte zum Herrscher Siziliens, erweiterte das Patrimonium Petri und begann mit der rechtlich legitimierten Einziehung von Gütern und Herrschaften (Rekuperationen). Durch ihn wurde der Bischof von Rom endgültig zum Oberhaupt aller Bischöfe. Aufgrund seiner gefestigten Machtposition konnte er in der Folgezeit merklich in die europäische Politik eingreifen.238 Erst als der erkorene Thronerbe herangewachsen war und 1212 zur Übernahme der herrschaftlichen Geschäfte bereit war, erwuchs ihm ein ebenbürtiger Gegner, der seinen Ambitionen Einhalt gebieten konnte. Der Endkampf zwischen Sacerdotium und Imperium, den Innocenz III. und seine Nachfolger mit Friedrich II. auszufechten hatten, fällt aber 236

E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 17. Vgl. Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 5, S. 187 ff.; Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 4, S. 713 ff.; H. Tillmann, Papst Innocenz III. 238 Vgl. Boockmann, Stauferzeit, S. 152 ff.; Engels, Die Staufer, S. 140 ff.; F. Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III.; J. Leuschner, Deutschland im späten Mittelalter, S. 53 ff.; Schulze, Grundstrukturen. Bd. 3, S. 212 ff.; Töpfer/Engel, S. 167 ff. 237

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schon in die nachfolgende Periode, wird deshalb im nächsten Abschnitt zu betrachten sein. Zuvor soll kurz Bilanz gezogen, sollen die Ergebnisse des hochmittelalterlichen Kampfes ums Reich abschließend zusammengefaßt werden. Der von der kirchlichen Reformbewegung entfachte Kampf ums Reich hatte weitreichende Folgen. Er führte: 1. zum endgültigen Bruch des Westens mit Byzanz und damit zur Konfrontation zweier christlicher Reiche, die den Anspruch der Papstkirche und ihres Schutzpatrons auf Universalität und Weltherrschaft konterkarierte; 2. zur Auflösung des ottonisch-salischen Reichskirchensystems, in dem die christliche Religion zur Legitimationsideologie und die geistlichen Würdenträger zu Handlangern oder Wasserträgern der weltlichen Herrscher geworden waren. An die Stelle der Über- und Unterordnung bzw. des harmonischen Miteinanders von temporaler und spiritualer Gewalt trat die offene Rivalität und eine allgemeine Politisierung ihres Verhältnisses; 3. zur Spaltung von Imperium und Sacerdotium, die den Status des ersteren fraglich werden ließ, die Freisetzung der einzelnen Königreiche aus der imperialen Klammer ermöglichte und das antiimperialistische Freiheitsstreben der aufblühenden Städte förderte; 4. zum Verbot der Simonie und des Nikolaitismus, des Ämterkaufs und der Priesterehe und damit des kirchlichen Nepotismus. Die innerkirchliche Reform blieb allerdings auf halbem Wege stecken. Die Feudalisierung schritt ungehemmt voran, die Geistlichen häuften unaufhörlich Besitztümer und Macht. Folge war die Entstehung neuer Protest- und Rückzugs-, Armuts- und Widerstandsbewegungen, die neue chiliastische Spekulationen hervortrieben und neue Orden und neue Häresien ins Leben riefen; 5. zur Durchsetzung der papalistisch-monarchistischen Kirchenverfassung und zur Entstehung eines Gruppengefühls und Standesbewußtseins beim Klerus, der sich gegenüber den Laien verselbständigte und sich mit Hilfe des kanonischen Rechts scharf von ihnen abgrenzte, so daß diese künftig nur noch über die Vermittlung der kirchlichen Amtsträger am „Leib Christi“ partizipierten. Damit einher ging die Entwicklung einer dynamischen Vorstellung von den Aufgaben der Kirche bei der Reform der Welt und die Herausbildung eines neuen Sinnes für die historische Zeit.239 Im Innern der drei vereinigten Regna (Deutschland, Italien, Burgund) sahen sich die Kaiser/Könige partikularen Gewalten konfrontiert, die in den Reichsangelegenheiten mitzubestimmen und sich selbst als Mitregenten und Repräsentanten des Reiches zu inthronisieren suchten. In den Außenbeziehungen gelang es den mächtigen Regenten, die kaiserliche Autorität (auctoritas) zu behaupten, die 239

Vgl. dazu Berman, Recht und Revolution, S. 175 f., 181 ff.

1. Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter

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aber mit keiner Befehlsgewalt (potestas) verbunden war. Die einzelnen Könige waren in ihren Reichen tatsächlich „Kaiser“, die keinen Höheren in weltlichen Dingen akzeptierten. Während das Reich faktisch in Frage gestellt war, wurden die kaisertreuen Theologen und Historiker nicht müde, seine Heilsnotwendigkeit als Kat-echon zu beschwören. Wurden die Kaiser von seiten der Papstanhänger als Vorboten des Antichrist perhorresziert, so erschienen sie ihren eigenen Gefolgsleuten als Aufhalter desselben. Ein mächtiges, über der Kirche thronendes Kaisertum galt folglich als unverzichtbar. Die weitverbreitete Endzeitstimmung und die von ihr inspirierten Antichrist-Vorstellungen bestimmten auch noch die Politik des 13. Jahrhunderts.240 Doch war die Zeit des ottonisch-salischen Cäsaropapismus, die der Normannische Anonymus ca. 1100 noch einmal beschworen hatte, im Westen endgültig vorbei. Die Alternative hieß nun: Hierokratie oder Gewaltenteilung. Während innerhalb der Kirche die Hierokraten die Dualisten dominierten, insistierten die Vertreter der kaiserlichen Partei auf der Gleichberechtigung von weltlicher und geistlicher Gewalt. Das 12. Jahrhundert erlebte die Entstehung der scholastischen Methode und mit ihr die Geburt der Intellektuellen. 241 Transpersonale Staatsvorstellungen brachen sich Bahn – zunächst im Begriff der corona des Reiches und der Idee des honor imperii,242 die später in der Idee der Gerechtigkeit (iustitia) verschmolzen, die von den Regenten repräsentiert und verwirklicht werden sollte. Wichtigstes Resultat der Auseinandersetzungen war aber die juristische Verfestigung der Amtskirche zu einer durch das kanonische Recht getragenen monarchischen Anstalt, die ihrerseits die ihr nachfolgende Verrechtlichung der weltlichen Gewalt animierte. Imperium und Sacerdotium verwandelten sich in juristisch verfaßte Körperschaften, an denen die einzelnen nur noch durch Vermittlung der geistlichen und weltlichen Herrscher partizipierten. Der Kampf beider Sphären dauerte jedoch an und beherrschte auch noch die Politik des Spätmittelalters. Er fand seine Lösung erst im Staat, der sich aus der geistlich-religiösen Klammer löste, die Trennung von Politik und Religion institutionalisierte und das Monopol der legitimen physischen Gewalt erlangte. Obgleich die Protagonisten des Kampfes die Existenz des Reiches gerade sichern wollten, war diese infolge der andauernden Auseinandersetzungen zwischen Imperium und Sacerdotium sowie zwischen den universalistischen und partikularistischen Kräften in Frage gestellt. Die Papstkirche suchte Schutz nicht länger bei den deutschen Kaisern, sondern bei wechselnden Machthabern, die sie gegen jene verteidigen sollten. Das Kaisertum erschien folglich in den Augen der

240 Vgl. H. M. Schaller, Endzeit-Erwartung und Antichrist-Vorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts. 241 Vgl. dazu Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter, S. 13 ff. 242 Vgl. P. Classen, Corona Imperii; Kantorowicz, Die zwei Körper, bes. S. 106 ff., 338 ff.; G. Wolf, Der „Honor Imperii“ als Spannungsfeld von lex und sacramentum.

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V. Der Drang zum Staat

fremden Mächte nicht länger als Garant des Friedens und der Gerechtigkeit, sondern als Quelle des Aufruhrs und des Bürgerkrieges. Die christliche Reichsidee, die Vorstellung einer von Kaiser und Papst gemeinsam geführten Universalmonarchie, die im Zuge weiterer Missionierungen und der Rückeroberung der vom Islam beherrschten Regionen (Kreuzzüge, Reconquista) potentiell die gesamte Welt umspannen sollte, war erschüttert. Dadurch wurde die Legitimationsgrundlage der imperialen Herrschaftsverhältnisse brüchig. Der Rückzug der Kirche aus der religiös-politischen Einheit hinterließ eine leere Hülse, die durch neue Ideologien ausgefüllt wurde: durch papalistische Hierokratievorstellungen und durch Berufung der Kaiser/Könige auf die geschichtliche Tradition (römische Cäsaren, Karl der Große), auf die Gottunmittelbarkeit der weltlichen Herrschaft und das göttliche Mandat, auf die Zwei-Schwerter-Lehre und das römische Recht, auf chiliastische Antichrist-Vorstellungen (Endkaisertum und Translationsidee) sowie auf die Wahl der Fürsten, die Heinrich VI. vergeblich durch ein Erbkaisertum abzulösen hoffte.

2. Die Krise des christlichen Reiches im Spätmittelalter Das späte Mittelalter, d. i. die Zeit von ca. 1200 bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts,243 gilt unter heutigen Mediävisten nicht mehr als „Herbst“244 oder Abenddämmerung des „finsteren“ Mittelalters, sondern allgemein als „Frühling“245 und Anhub der europäischen Neuzeit. In ihr wurden die Grundlagen gelegt und die Weichen gestellt für die künftige Entwicklung. Der Mensch entdeckte sich als Individuum, das der Herkunft und den sozialen Banden und Institutionen überlegen ist.246 Der „religiöse Individualismus“ wurde geboren, der in Franz von Assisi (1181/82–1226) seinen bedeutendsten Repräsentanten hatte.247 Ein Pluralismus der Mächte trat an die Stelle des alten Universalismus. Die Konsolidierung und Verselbständigung der westlichen Monarchien schritt voran, der

243 Zum Begriff „Spätmittelalter“ und zur Datierung der Periode von ca. 1200 bis 1493 vgl. etwa J. Leuschner, Deutschland im späten Mittelalter, S. 15 ff.; K.-F. Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, S. XI f. Andere Autoren erblicken die entscheidende Zäsur im Jahr 1250 (Tod Friedrichs II.). Vgl. etwa P. Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, bes. S. 15 ff.; U. Dirlmeier, Spätmittelalter, S. 77 ff.; H. Thomas, Deutsche Geschichte des Spätmittelalters. Zur hier bevorzugten Epochenabgrenzung vgl. auch oben, Anm. 10 des vorigen Kapitels (S. 378), sowie die Überlegungen zum Beginn der Neuzeit (s. u., S. 618 ff.). 244 J. Huizinga, Herbst des Mittelalters. 245 W. Näf, Frühformen des „modernen Staates“ im Spätmittelalter, S. 101. 246 Vgl. L. Dumont, Individualismus, S. 33 ff., 73 ff.; A. J. Gurjewitsch, Das Individuum; G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, bes. S. 129 ff.; K. Flasch/ U. R. Jeck (Hg.), Das Licht der Vernunft. 247 Vgl. dazu E. Benz, Ecclesia spiritualis, S. 49 ff., 119 ff.; A. Dempf, Sacrum Imperium, S. 294 ff.; B. Töpfer, Das kommende Reich des Friedens, S. 104 ff.

2. Die Krise des christlichen Reiches im Spätmittelalter

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Aufstieg des Staates war durch die hochmittelalterlichen Kämpfe ums Reich eingeleitet worden. Die christliche Reichsidee als leitende Ordnungsvorstellung der europäischen Christenheit war hingegen schwer erschüttert. Der deutsche Thronstreit, der nach dem frühen Tod Heinrichs VI. (1197) einsetzte, machte erneut deutlich, daß das Kaisertum nicht länger Schutzschirm der Ekklesia und Friedensgarant, sondern ein Hort des Streits und des Bürgerkrieges war. Das Reich selbst schlitterte in eine langwierige Krise, in der sich entscheiden mußte, ob es wiedergenesen oder seinem Ende entgegengehen würde.248 Die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt in Händen von Königen und Landesfürsten wurde forciert. Ein europäisches Staatensystem entstand, das mit dem universalen Imperium rivalisierte und schließlich seine Nachfolge antreten sollte.249 Die Voraussetzungen dafür hatte das Reformpapsttum im Investiturstreit geschaffen. Die dynastischen Konflikte des Spätmittelalters trieben diesen Prozeß voran. Zwar suchte die kaisertreue Publizistik das imperiale Ideengebäude zu retten, doch ließen sich die wachsenden Anomalien im alten Paradigma nicht mehr bewältigen. Die überkommenen Ordnungsvorstellungen entsprachen nicht mehr den Realitäten und mußten angepaßt und modifiziert werden.250 Die neuzeitliche Staatsidee war aber noch nicht ausgereift.251 Sie war durch die Papstrevolution auf den Weg gebracht worden, sah sich jedoch zahlreichen Widerständen ausge248 Zur Lage und zur Entwicklung des Reiches vgl. die klassische Studie von Samuel Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches (1667). Ferner die Überblicksdarstellung mit Forschungsbericht sowie umfassenden Quellennach- und Literaturhinweisen von Krieger, König, Reich und Reichsreform. Beim Abschluß der vorliegenden Studie angekündigt, aber noch nicht erschienen: J. Miethke, Europa im Spätmittelalter (Oldenbourg Grundriß der Geschichte. Bd. 8). München. 249 Vgl. dazu auch W. Kienast, Die deutschen Fürsten im Dienste der Westmächte. Bd. 1, S. 1 ff.: „Die Entstehung eines europäischen Staatensystems und die Auflockerung des Reichsverbandes gehören auf das genaueste zusammen“ (S. 7); ders., Die Anfänge des europäischen Staatensystems im späteren Mittelalter; K. F. Werner, Aufstieg der westlichen Nationalstaaten. 250 Zur Geschichte des spätmittelalterlichen Politikdenkens vgl. die Überblicksdarstellungen von R. W. Carlyle/A. J. Carlyle, A History of mediaeval political Theory in the West. Bd. 5 u. 6; W. Kienast, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit. Bd. 2: Das Reich in Europa. Die Reichsidee und ihr französisches Widerspiel; W. Kölmel, Regimen Christianum; D. Mertens, Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, S. 198 ff.; J. Miethke, Politische Theorien im Mittelalter [leicht gekürzt, jedoch an einigen Stellen erweitert unter dem Titel „Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter“]; P. v. Sivers (Hg.), Respublica Christiana; B. Tierney, Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought; W. Ullmann, A History of Political Thought; H. G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. 251 Dies betont zu Recht H. Quaritsch, Staat und Souveränität, bes. S. 44 ff. Sein Bemühen, den Souveränitätsbegriff als Neuschöpfung Jean Bodins darzustellen, verleitet Quaritsch allerdings dazu, die hoch- und spätmittelalterlichen Grundlegungen zu unterschätzen und allzu sehr in den Bereich der Vorgeschichte abzuschieben, d. h. die genealogischen Aspekte zugunsten einer rein negativ argumentierenden, ausschließlich das „Unfertige“ betonenden Argumentation zu verdrängen.

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V. Der Drang zum Staat

setzt. Einer „Geburtsstunde des souveränen Staates“252 läßt sich im späten Mittelalter nicht beiwohnen, der Staat war vielmehr Folge einer langen Geschichte und konstituierte sich erst ganz allmählich.253 Seine Anfänge liegen im Hochmittelalter, seine voll entwickelte Gestalt erreichte er in der Frühen Neuzeit. Erst am Ende des begonnenen Prozesses stand ein System unabhängiger und eigenständiger Mächte, die auf einem fest umgrenzten Territorium das Monopol der legitimen physischen Zwangsgewalt innehatten, sich als gleichberechtigte Partner anerkannten und keinen Höheren über sich akzeptierten. Das entstehende Neue kämpfte noch lange Zeit mit dem fortbestehenden Alten. Seine Durchsetzung wurde durch zahlreiche Faktoren gehemmt. Dies aber macht, nach einem Wort Antonio Gramscis, das Wesen von Krisen aus, „daß das Alte stirbt, aber das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Interregnum erscheint eine breite Palette an morbiden Symptomen“.254 Die Genese des europäischen Staatensystems basierte auf einschneidenden sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Veränderungen. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden. In der ersten (1200–1313) setzte sich der allgemeine Aufschwung fort, der schon im 12. Jahrhundert begonnen hatte. Das 13. Jahrhundert war in ganz Europa eine Zeit des Wachstums und der Prosperität. Die Städte blühten, die Bevölkerungszahlen stiegen, die landwirtschaftliche Produktion und der Fernhandel expandierten.255 Erst mit den Hungersnöten der Jahre 1313–17 erfolgte der Umschwung, der eine lange Zeit der Krisen und der wirtschaftlichen und sozialen Depression einleitete, 256 die ihren traurigen Tiefpunkt in der Großen

252 F. A. Frh. v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates. Die „Geburtsstunde“ des Staates dauerte nach von der Heydte ein volles Jahrhundert: von 1250–1350 (S. 10, 41 ff., passim). Vgl. die Kritik von H. Heimpel in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 208 (1954), 197–221. 253 Vgl. etwa P. Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates; W. Blockmans, Geschichte der Macht in Europa; M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 71 ff.; H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt; E. Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa; H.-H. Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates; M. Mann, Geschichte der Macht. Bd. 2, S. 267 ff.; H. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt; H. Schilling, Die neue Zeit; J. R. Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates; C. Tilly (Hg.), The Formation of the National States in Western Europe. 254 A. Gramsci, Selections from the Prison Notebook, S. 276 (deutsche Übersetzung von mir). Zum Begriff der Krise und zum Wandel der Krisensemantik in der Moderne vgl. R. Koselleck, Art. Krise; A. Steil, Krisen-Semantik. 255 Vgl. W. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur; P. Anderson, Von der Antike zum Feudalismus, S. 219 ff.; A. Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung, S. 292 ff.; J. Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 187 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 30 ff.; B. Töpfer/E. Engel, Vom staufischen Imperium zum Hausmachtkönigtum, S. 52 ff. 256 Vgl. W. Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, S. 111 ff.; ders., Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters; P. Anderson, Von der Antike zum Feudalismus, S. 238 ff.; H. Boockmann, Stauferzeit und spätes Mittelalter, S. 227 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 277 ff.; Moraw, Von offener Verfassung, S. 263 ff.; R. Romano/

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Pest von 1348 fand.257 Den Erschütterungen des 14. Jahrhunderts folgte schließlich eine Phase der Stagnation und der Gärung (1380–1480).258 Dennoch schritt die Staatenbildung auf dem Boden Europas vor allem in der ersten Phase zügig voran. Sie folgte aber keiner inneren „Notwendigkeit“ und „Logik“ und war nicht zwangsläufiges Resultat eines unaufhaltsamen Prozesses, sondern Produkt kontingenter Konstellationen und der fürstlichen Machtpolitik. Sie läßt sich keineswegs auf die sozio-ökonomischen Veränderungen zurückführen bzw. als nachholende Revolutionierung des „Überbaus“ aus den Veränderungen der „materiellen Basis“ deduzieren. Die politische Geschichte entwickelte vielmehr ihre eigene Dynamik und wurde zur Geburtshelferin des Kapitalismus und der modernen Gesellschaft.259 Der Durchbruch der Staatlichkeit dient den Historikern zumeist noch immer als Maßstab, an dem die politischen Entwicklungen im Reich und in den einzelnen Territorien gemessen werden. Als „fortschrittlich“ gilt die Verdichtung der Macht und die Ablösung des alten „Personenverbandsstaates“ durch den „institutionellen Flächenstaat“ (Theodor Mayer),260 wie sie in England und Frankreich erfolgte. Als „rückschrittlich“ und als „Sonderweg“ wird die territoriale Zersplitterung kritisiert, die sich im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation durchsetzte. Auch jüngere Forscher, die sich von der Emphase der „borussischen“ Geschichtsschreibung freigemacht haben und sich vom älteren Etatismus distanzieren, bleiben diesbezüglich zumeist dem teleologischen Denken der alten Geschichtsphilosophie verhaftet. Sie orientieren sich am schließlichen Ende des Prozesses, das retrospektiv den jeweiligen Ereignissen und den theoretischen Konstruktionen als Telos untergeschoben wird. Dementsprechend werden Denker, die – wie Dante Alighieri in seiner Monarchia (nach 1316) – noch einmal das universale Kaiserreich beschworen, häufig als „konservativ“261 oder gar „reA. Tenenti, Die Grundlegung der modernen Welt, S. 9 ff.; F. Seibt/W. Eberhard (Hg.), Europa 1400. 257 Vgl. K. Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa; F. Graus, Vom „Schwarzen Tod“ zur Reformation; D. Herlihy, Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas; M. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, bes. S. 62 ff. Nach Schätzungen der Mediävisten fiel der Seuche fast ein Drittel der Reichsbevölkerung zum Opfer. 258 Vgl. Romano/Tenenti, Die Grundlegung, S. 48 ff.; H. Diwald, Anspruch auf Mündigkeit; E. Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 3 ff. (Forschungsbericht: S. 111 ff.; Literatur: S. 177 ff.); F. Seibt/W. Eberhard (Hg.), Europa 1500. 259 Vgl. dazu die theoretischen Reflexionen und die Rekonstruktion der englischen und französischen Entwicklung bei H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt. 260 Vgl. dazu oben die Bilanz der Kontroversen über den Begriff des Staates in der Einleitung (bes. S. 31, Anm. 77). 261 Vgl. etwa H. Bielefeldt, Von der päpstlichen Universalherrschaft zur autonomen Bürgerrepublik. Laut Bielefeldt entwickelte Dante eine „konservative() Utopie einer gleichsam sakralen kaiserlichen Weltmonarchie“ (S. 71). Zu den kontroversen Deutungen vgl. auch ebd., S. 94 f. Schon Dempf (Sacrum Imperium, S. 469 ff.) rechnete Dante – zusammen mit Cola di Rienzo, Petrarca und den deutschen Anhängern des Reiches (Jordanus von Osnabrück, Alexander von Roes, Engelbert von Admont, Lupold von Be-

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aktionär“ etikettiert. Selbst Helmut G. Walther, der die eindringlichste Studie zur Ideengeschichte dieser Epoche vorgelegt hat, verbleibt im Bann der etatistischen Sichtweise, wenn er die spätmittelalterlichen Quellen auf die in ihnen verankerten Schranken des Souveränitätsgedankens befragt.262 Die Politikdenker des späten Mittelalters hatten indes den Staat noch nicht vor Augen. Daß am Ende der begonnenen Entwicklung das europäische Staatensystem stehen würde, das im Westfälischen Frieden von 1648 vertraglich fixiert wurde und in der Folgezeit die Politik dominierte, war seinerzeit noch nicht abzusehen. Eine Koexistenz der gegensätzlichen Gewalten war noch nicht gefunden. Dominant blieb der Kampf um die Macht und die stete Gewichtsverlagerung zwischen den einzelnen Kräften. Die Theologen, Chronisten und Juristen konnten sich auf ihrer Suche nach stabileren Ordnungsformen nicht an Verhältnissen orientieren, die noch gar nicht entstanden und nirgends theoretisch antizipiert waren. Ihre Suchbewegung blieb deshalb tastend und vorsichtig lavierend. Sie spielte mit den Versatzstücken der Tradition, die neu kombiniert und juristisch fundiert wurden. Die alten Sehnsüchte und Hoffnungen (Friede und Gerechtigkeit), Ängste und Befürchtungen (Auftauchen des Antichrist, Teuerungen und Verwüstungen als Vorboten des kommenden Gottesreiches) blieben virulent. Das Denken blieb fest verwurzelt im christlichen Weltbild, das aber erste Risse erhalten hatte. Die schon im 12. Jahrhundert eingeleitete Verrechtlichung der Religion und des Politikdenkens wurde weitergetrieben. Gelehrte Juristen wurden zu den Protagonisten und lösten die Theologen zusehends an der „Forschungsfront“ ab.263 Der Anstaltscharakter der Kirche und des werdenden Staates ermöglichte und forderte diesen Schritt.264 So wurde die Jurisprudenz zum Vehikel der „Säbenburg und Konrad von Megenberg) – zu den „Konservativen“, die er – anachronistisch – von den „Altliberalen“ (S. 408 ff.) und den „Kurialisten“ (S. 441 ff.) unterschied. 262 Vgl. Walther, Imperiales Königtum. Allerdings werden die gründlichen Analysen dieser Studie dadurch nicht beeinträchtigt. Zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens vgl. auch J. Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, bes. S. 108 ff.; D. Klippel, Kap. VI–VIII. In: W. Conze u. a., Art. Staat-Souveränität, 98– 128, bes. S. 103 ff.; Kölmel, Regimen, S. 144 ff.; G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, S. 280 ff., 301 ff., 445 ff., 463 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 44 ff.; ders., Souveränität; M. Wilks, The Problem of Sovereignty in the later Middle Ages; D. Wyduckel, Princeps legibus solutus, bes. S. 16 ff., 48 ff. 263 Zum Aufstieg der Jurisprudenz (Legistik und Kanonistik) infolge der Wiederentdeckung des justinianischen Corpus iuris Civilis siehe oben, S. 403 ff. (bes. Anm. 98 u. 101) und S. 409. Zu ihrer Rolle bei der Etablierung von Staaten vgl. R. Schnur (Hg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Zur Stellung und Wirkung der Juristen am deutschen Königshof nach dem Ende der Staufer vgl. Moraw, Die Rolle der Juristen im Dienst der deutschen Könige. 264 Vgl. dazu auch P. Anderson, Die Entstehung, S. 27 ff.: „das römische Recht war die mächtigste intellektuelle Waffe, die zur Durchsetzung der territorialen Integration und des administrativen Zentralismus zur Verfügung stand. Es war in der Tat kein Zufall, daß die einzige mittelalterliche Monarchie, die sich vollständig von allen repräsentativen oder korporativen Einschränkungen emanzipierte, das Papsttum war, das erste

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kularisierung“, die insbesondere von der Kurie und der Kanonistik vorangetrieben wurde. Während die Vertreter des Kaiser- und Königsrechts an den alten theologischen Symbolen festhielten und sie zu neuem Leben erwecken wollten, um die weltliche Herrschaft als gottgewollt und gottgemäß, d. h. als göttlich zu erweisen, reduzierten die Exponenten des Kirchenrechts schließlich alle irdische Herrschaft auf ihre juristische Funktion. Die religiös-politischen Zentralkonflikte, die das Politikdenken im europäischen Hochmittelalter beherrscht hatten (s. o. S. 387 ff.), waren allesamt ungelöst. Sie hatten sich aufgestaut und drängten nun auf eine Entscheidung. Der Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium war ebensowenig ausgestanden wie der zwischen Universalismus und Partikularismus. Das Kaisertum wurde nicht nur vom Papsttum, sondern weiterhin von den Königen, Fürsten und vom städtischen Bürgertum attackiert. Der Protest der religiösen Erneuerungsbewegungen gegen die Besitz- und Machtanballung der geistlichen Würdenträger dauerte an und kulminierte schließlich im sog. Armutsstreit (1316–34). Neue Konflikte kamen hinzu. Durch die Kreuzzüge wurden die Europäer mit der fortgeschrittenen und weit überlegenen arabischen Kultur konfrontiert, die das Bemühen um Nachahmung und Einholung stimulierte. Vermittelt über arabische Quellen (Avicenna und Averroës) wurde dem Westen erstmals das Gesamtwerk des Aristoteles – einschließlich der praktischen Philosophie – erschlossen, das die seitherigen Gewißheiten und Selbstverständlichkeiten in Frage stellte und die Welt mit neuen Augen zu sehen lehrte.265 Vor allem die Ethik und die Politik des Stagiriten erzielten eine gewaltige Wirkung,266 da sie dem menschlichen Leben eine neue Würde und den sozialen und politischen Institutionen eine Eigenbedeutung und -berechtigung zuerkannten. Die Herrschaft wurde in der Folge nicht nur durch Bezug auf Gott, sondern auch auf die Beherrschten legitimiert. Ein weltimmanentes Denken rivalisierte mit dem Gedanken der Transzendenz und sollte ihn schließlich verdrängen. Die menschlichen Gemeinschaften – von der Familie über die Nachbarschaft, das Dorf und die Stadt bis hin zur Provinz, zum Staat und zum Reich – wurden nun – neben der Kirche – als „natürliche“ Einheiten eigenen Rechts konzipiert. Kein Wunder, daß sich die geistlichen Würdenträger vehement gegen diesen Einbruch der Philosophie in ihr eigenes Territorium und gegen die Brechung politische System des feudalen Europa, das die römische Rechtswissenschaft mit der Kodifizierung des kanonischen Rechts im zwölften und dreizehnten Jahrhundert uneingeschränkt zur Anwendung brachte“ (S. 33). 265 Die Nikomachische Ethik wurde ca. 1246/47 von Robert Grosseteste, die Politik des Aristoteles ca. 1260 von Wilhelm von Moerbeke (y 1286) ins Lateinische übersetzt. 266 Zur Rezeption vgl. M. Grabmann, Die mittelalterlichen Kommentare zur Politik des Aristoteles; ders., Studien über den Einfluß der aristotelischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat; ders., Der lateinische Averroismus des 13. Jahrhunderts und seine Stellung zur christlichen Weltanschauung; ders., Geschichte der scholastischen Methode; F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie II, S. 400 ff. Siehe auch unten, S. 517 ff., bes. Anm. 469.

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ihres Deutungsmonopols wehrten und den Aristotelismus als Häresie bekämpften. Zahlreiche Querelen spalteten die christlichen Denker im 13. und 14. Jahrhundert. Zum alten Kampf zwischen Sacerdotium und Imperium gesellten sich erkenntnistheoretische und weitere politische Kontroversen (Universalienstreit, Streit zwischen orthodoxem Augustinismus und lateinischem Averroismus, Armutsstreit), die das christliche Weltbild fraglich werden ließen und neue Antworten auf die alten Fragen provozierten.267 Das Papsttum hatte sich gegen die von Kanonisten entwickelte konziliare Idee zu behaupten und mit Konzilien auseinanderzusetzen, die ihrerseits die Letztentscheidung in geistlichen Dingen erstrebten (s. u., S. 583 ff). Der Kaiser sah sich weiterhin den Fürsten und den westlichen Königen konfrontiert, die keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkannten. Die religiösen Gemeinden strebten nach relativer Autonomie und kämpften für innerkirchliche Reformen. Der Aristotelismus schien ohne den Glauben an den einen und einzigen Gott auszukommen und setzte eine neue Gelassenheit an die Stelle der christlichen Furcht. Der Mensch galt nicht mehr unbesehen als sündhaft, sondern als ein mit natürlichen Bedürfnissen ausgestattetes Lebewesen, als animal rationale et sociale. Eine Synthese zwischen christlichem und aristotelischem Denken gelang Thomas von Aquin (1225–74), der damit zur Grundlage und zum Ausgangspunkt des weiteren Denkens wurde.268 Seine bahnbrechende Leistung erwies sich aber letzten Endes als Pyrrhussieg für die westliche Christenheit. Sie ermöglichte den Dialog mit den Heiden und ebnete den Weg, auf dem die späteren Denker den Rahmen der Theologie verlassen und die Wissenschaft gänzlich vom Glauben emanzipieren konnten. Hatte er doch das scholastische Denken umgekehrt, indem er zwar noch aus dem christlichen Glauben philosophierte, aber nicht mehr von ihm ausging, sondern von der natürlichen Vernunft, „mit deren Hilfe alle Menschen, ob Heiden oder Christen, ein und dieselbe natürliche Welt erkennen“.269 Welche politischen Ideen wurden in dieser Epoche hervorgebracht? Was war neu? Was wurde verworfen, verdrängt oder beiseite geschoben? – In den alten Reichsspekulationen hatten sich tiefsitzende Ängste, gepaart mit hochfliegenden Hoffnungen, ausgesprochen. Die positiven Erwartungen waren verblaßt, die Befürchtungen hingegen waren geblieben. Die neu entstehenden politischen Ord-

267

Vgl. auch G. de Lagarde, La naissance de l’esprit laïque au déclin du moyen-âge. Daß das 13. Jahrhundert allerdings nicht, wie von seinem Orden und von katholischen Kreisen des 19. Jahrhunderts insinuiert, „das Jahrhundert des hl. Thomas von Aquino“ (E. Gilson) war, betont zu Recht K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 244. Es gab eine Pluralität rivalisierender theoretischer Konzeptionen. Vgl. auch ebd., S. 298 ff. Zur kritisierten These: E. Gilson, La philosophie au moyen âge, S. 590. 269 U. Matz, Thomas von Aquin, S. 117. 268

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nungsformen befriedigten die alten Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen nicht. Statt Friede und Gerechtigkeit standen Kriege und Ausbeutung auf der Tagesordnung. Die Entstehung des europäischen Staatensystems war nicht Resultat humanistischer Überlegungen, sondern ein Akt der Gewaltsamkeit.270 Während die theologisch-juristischen Traktate und Kommentare sich mit Fragen einer gerechten und gottgefälligen Ordnung befaßten, standen im Zentrum der praktischen Politik nackte Herrschaftsinteressen, die rücksichtslos verfolgt und durchgesetzt wurden. Die Parusie, der Anbruch des Gottesreiches hatte sich weiter verzögert. Die Erwartungen, die sich auf das christliche Reich gerichtet hatten, waren bitter enttäuscht worden. Die sich etablierenden Staaten brachten nicht die erhoffte Eintracht und die allseits ersehnte Gerechtigkeit. Sie wurden selbst zu Kriegstreibern und trugen ihre Beziehungen zueinander zumeist militärisch aus.271 Sowohl im Reich als auch zwischen den sich festigenden Monarchien und Landesherrschaften wuchsen Spannungen, die sich wechselseitig überlagerten und steigerten. Wechselnde Allianzen und Abhängigkeiten entstanden. Schon zu Beginn der Epoche vermengte sich der durch die Normannen entfachte Konflikt zwischen England und Frankreich mit den deutschen Thronstreitigkeiten. Durch das staufisch-französische Bündnis gegen die welfisch-englische Konföderation entstand eine neue Machtkonstellation. Der Konflikt kulminierte in der Schlacht von Bouvines (1214), in der die welfisch-englische Koalition eine vernichtende Niederlage erlitt, während die staufische Macht mit französischer Hilfe gesichert wurde. Damit war jedoch erst der Auftakt zu den weiteren Auseinandersetzungen geschlagen, die ihren Höhe- und Kulminationspunkt in der Zeit Philipps des Schönen von Frankreich (1285–1314) und Papst Bonifaz’ VIII. (1294–1303), im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich (1337–1453) und während des Kaisertums Ludwigs des Bayern (1314–46) erreichten. Bis dahin war ein langer Weg zurückzulegen, dessen wichtigste Stationen kurz betrachtet werden müssen. Zu zeigen ist, wie sich der Gedanke der Universalmonarchie und der weltumspannenden Christianitas allmählich aufzulösen beginnt, der zwar immer wieder neue Fürsprecher fand, dessen Abstieg aber unaufhaltsam war. Zunächst wird der Kampf zwischen Kaiser- und Papsttum, Imperium und Sacerdotium in der Zeit zwischen dem deutschen Thronstreit und dem Ende der Staufer thematisiert, in dem sich der päpstliche Weltherrschaftsanspruch juristisch fundierte und artikulierte [a)]. Sodann wird die Festigung der westlichen Monar270

Dies betont zu Recht R. Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Dies betonen hinsichtlich der neuzeitlichen Entwicklung E. Krippendorff, Staat und Krieg; J. Kunisch, Fürst, Gesellschaft, Krieg; ders., Staatsverfassung und Mächtepolitik. Vgl. aber die Kritik an Krippendorff von H. Münkler, Staat, Krieg und Frieden. Die verwechselte Wechselbeziehung. Eine Auseinandersetzung mit Ekkehart Krippendorff. In: R. Steinweg (Hg.), Kriegsursachen, 135–144 sowie die Replik Krippendorffs, ebd., 145–150. 271

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chien und ihr Spannungsverhältnis zum Reich rekonstruiert, das sich in den gelehrten Traktaten und Glossen der Kanonisten und Legisten reflektiert [b)]. Schließlich werden die theoretischen Debatten und Lösungsversuche analysiert, die sich nach dem Ende der Stauferherrschaft um Bewältigung der anstehenden Herrschaftskonflikte und der philosophischen und erkenntnistheoretischen Probleme sowie um die Begründung einer rationalen und gottgewollten Ordnung bemühten [c)]. Wie schon in den vorhergehenden Abschnitten kann dieses Programm auch in den nachfolgenden nicht durch eine durchgängige Rezeption und Interpretation aller einschlägigen Quellen verwirklicht werden. Der Zielsetzung dieser Untersuchung entsprechend kann es nur um eine Synopse gehen, d. h. um den Versuch einer Sichtung und Zusammenfassung der Ergebnisse der älteren und jüngeren Forschung, die auf die leitende Frage nach der Genealogie des Staates hin fokussiert und synthetisiert werden sollen. a) Kaiser- und Papsttum vom deutschen Thronstreit bis zum Ende der Staufer Idealtypisch waren weiterhin vier Alternativen der Herrschaftsorganisation denkbar: 1. eine vom Kaiser geführte, von den Königen und Fürsten unterstützte Universalmonarchie; 2. die spirituelle Einheit unabhängiger Monarchien unter päpstlicher Leitung, wie sie von Innocenz III. erstrebt wurde; 3. die gänzliche Unabhängigkeit und Selbständigkeit der westlichen Monarchien und der Fürsten, die in einigen Ländern gefordert und schließlich am Hof Philipps IV. des Schönen von Frankreich begründet und praktiziert wurde; 4. die Autonomie (und Autokephalie) der Städte und Städtebünde, die keinen Höheren über sich anerkennen. Alle vier Ideenkreise fanden ihre Verfechter, die miteinander rivalisierten und sich gegenseitig zu übertrumpfen suchten, die aber durch die realgeschichtliche Entwicklung zu Kompromissen genötigt wurden. Darüber hinaus blieb umstritten, wie die beiden Säulen der Herrschaftsorganisation – die Kirche auf der einen, Reich/Monarchien/Fürstentümer/Städte auf der anderen Seite – intern strukturiert sein würden: ob der Papst oder ob das Kardinalskollegium oder gar ein allgemeines Konzil den Ausschlag geben bzw. ob die Könige oder der Rat der Barone oder gar ein allgemeines Parlament die Letztentscheidung haben würde. Es ging somit zugleich um die konkrete Form des werdenden Staates (Monarchie oder Oligarchie, Absolutismus oder Parlamentarismus) und um die Frage nach dem Inhaber der obersten Gewalt. Die Hoffnung auf eine vom Kaisertum gelenkte Universalmonarchie war durch die deutschen Thronwirren erschüttert. Der plötzliche Tod des deutschen Königs und römischen Kaisers Heinrich VI. am 28. September 1197 hatte ein Machtvakuum hinterlassen, das die alten Rivalen der Staufer zu nutzen suchten. Papsttum, Könige, Fürsten und Städte pochten auf ihre Eigenrechte. Die Vakanz des Throns rief erneut die Welfen auf den Plan und eröffnete ein neues Kapitel im

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staufisch-welfischen Streit um die Führungsrolle im Reich.272 Da das Kind aus Apulien, Heinrichs Sohn Roger-Friedrich, gerade drei Jahre alt war, bestimmte seine Mutter Konstanze, die im darauffolgenden Jahr starb, auf dem Sterbebett Papst Innocenz III. (1198–1216) zum Lehnsherrn über Sizilien und zum Vormund des Knaben. Dieser nutzte die Gunst der Stunde und baute seine eigene Machtsphäre systematisch aus. Da die Welfen nach dem vakanten Thron strebten, sah sich die staufische Partei genötigt, einen erwachsenen Repräsentanten zu ernennen. Sie wählte am 8. März 1198 in Mühlhausen Philipp von Schwaben, den Sohn Barbarossas und Bruder des verstorbenen Kaisers, zum deutschen König. Doch schon am 12. Juli des selben Jahres wählten ihre welfischen Gegner Otto von Poitou, den Sohn Heinrichs des Löwen, in Aachen zum Gegenkönig. Beide hatten sich redlich bemüht, die Gunst der deutschen Wahlfürsten durch Geschenke zu erkaufen und hatten dabei weder ihren Familienbesitz noch ihre Erbländereien geschont. Mit der Doppelwahl war die Rivalität zweier Macht- und Rechtssphären institutionalisiert und der offene Bürgerkrieg geschürt, der ein volles Jahrzehnt andauern sollte. Die Chancen für die Verwirklichung der anderen Optionen waren somit günstig, wobei sich zunächst die zweite Alternative als überaus erfolgversprechend erwies, da sich das neue Kirchenoberhaupt als kluger Taktiker und gewiefter Stratege profilierte.273 Weil sich die beiden feindlichen Lager wechselseitig schwächten, profitierte das Papsttum von der neuen Lage. Innocenz III. (1198– 1216) schwang sich zum Oberherren der abendländischen Christenheit auf und beanspruchte als vicarius Christi – nach dem Vorbild Melchisedechs, des alttestamentalischen Priesterkönigs von Salem – die oberste Befehlsgewalt (plenitudo potestatis) innerhalb der Ekklesia sowie das Recht der Eignungsprüfung für das von den deutschen Fürsten gewählte weltliche Oberhaupt.274 Zugleich billigte er 272 Zur politischen Geschichte vom Ausbruch des deutschen Thronstreites bis zur Schlacht von Bouvines (1198–1214) vgl. etwa G. Baaken, Ius imperii ad regnum; H. Beumann, Das Reich der späten Salier und der Staufer, S. 366 ff.; Boockmann, Stauferzeit, S. 152 ff.; Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung, S. 243 ff.; H. Grundmann, Wahlkönigtum, Territorialpolitik und Ostbewegung, S. 13 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 53 ff.; Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 3, S. 537 ff.; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium, S. 167 ff. 273 Vgl. F. Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III.; T. Frenz (Hg.), Papst Innozenz III.; M. Laufs, Politik und Recht bei Innozenz III.; H. Tillmann, Papst Innocenz III.; J. Haller, Das Papsttum. Bd. 3: Die Vollendung, S. 296 ff.; A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 4, S. 713 ff. 274 Vgl. insgesamt das Regestum Innocentii III papae super negotio Romani imperii. Hgg. v. F. Kempf (Miscellanea Historiae Pontificiae 12). Rom 1947. Zum Titel des vicarius Christi vgl. Innocenz III., Liber extra 1, 7, 2; 1, 7, 3. Dazu M. Maccarone, Vicarius Christi. Zur Entwicklung des päpstlichen Machtanspruchs vgl. weiterhin Hauck, Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIII.; B. Tierney, Origins of Papal Infallibility; W. Ullmann, Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter; ders., A Short History of the Papacy in the Middle Ages; J. A. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century.

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dem französischen König Philipp II. Augustus (1179/80–1223) in der Bulle Per venerabilem (1202) das Recht zu, keinen Höheren in weltlichen Dingen anzuerkennen. Dieser konnte folglich für sich in Anspruch nehmen, selbst Princeps in seinem Reich und nur dem Papst in geistlichen Angelegenheiten unterworfen und rechenschaftspflichtig zu sein – ein Privileg, das später auch von anderen westlichen Monarchen für sich reklamiert werden konnte. Da die Waffen zunächst keine Entscheidung im staufisch-welfischen Konflikt brachten und keine andere Appellationsinstanz vorhanden war, baten beide Seiten den Papst um Unterstützung. Innocenz III., der sich bislang zurückgehalten hatte, nutzte die sich ihm bietende Gelegenheit, um seine Stellung innerhalb der Kirche zu festigen und sich seiner Machtmittel zu vergewissern. Er stellte den deutschen Fürsten im Mai 1198 sein Eingreifen in den Thronstreit in Aussicht, begann grundsätzlich über das Verhältnis von spiritualia und temporalia nachzusinnen und gelangte mit Hilfe der alten, von ihm radikalisierten Translationstheorie275 zu dem Schluß, der Kaiser empfange seine Amtsgewalt und seine Kompetenzen allein vom Papst, sei ihm daher rechenschaftspflichtig und rangmäßig untergeordnet.276 Damit stellte er die Position seines Lehrers Huguccio von Pisa (y 1210) auf den Kopf, der in seiner einflußreichen Summa super Decreta (ca. 1190)277 einerseits für die universale Kaiserherrschaft und damit gegen das monarchische Emanzipationsbestreben plädiert, andererseits gegen das papistische Suprematiebegehren und für die Gewaltenteilung optiert und festgestellt hatte, Christus habe die beiden Gewalten streng voneinander geschieden, die Kaiserwürde hänge folglich nicht von päpstlicher Bestätigung ab. Der Kaiser habe sein Schwert nicht vom Papst, sondern von den Fürsten, die ihn durch ihre Wahl inthronisieren. Dennoch unterstehe er der Jurisdiktion des Papstes. Er könne von ihm abgesetzt werden, wenn er von ihm angeklagt und für schuldig befunden werde. In weltlichen Dingen stehe der Kaiser über dem kirchlichen Oberhaupt, in geistlichen hingegen unter ihm. Er habe folglich keine Gerichtsgewalt und keinen Vorrang gegenüber dem Papst. Aufgrund der Uneinigkeit der Fürsten und der gegebenen Bürgerkriegssituation sah sich Innocenz III. genötigt und zugleich befähigt, über diese Positionsbestimmung Huguccios hinauszugehen, seine eigenen Kompetenzen auszuweiten und auf seiner Prüfungsbefugnis und damit letztlich auf der Superiorität auch in temporalibus zu insistieren. Schon um die Jahreswende 1200/1 erklärte er apodiktisch, es sei sein Recht und seine Pflicht, den

275 Zur Entstehung und Entwicklung der kurialen Translationstheorie vgl. W. Goez, Translatio imperii, S. 137 ff. (zu Innocenz III. bes. S. 157 ff.). 276 Diese Auffassung war in der Dekretistik des 12. Jahrhunderts vorbereitet und wurde im 13. Jahrhundert weiter verfestigt. Vgl. A. M. Stickler, Imperator vicarius Papae. 277 Vgl. Huguccio von Pisa, Summa decretorum (ca. 1190). Auszüge (lat./dt.) in: J. Miethke/A. Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, 76–78 [nach S. Mochi Onory, Fonti canonistiche dell’idea moderna dello stato, 148–150].

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von den deutschen Fürsten gewählten König – principaliter et finaliter, d. h. „nach Ursprung und Vollendung“ (Fr. Kempf) bzw. grundsätzlich und letztendlich – auf seine Eignung für das Amt des Kaisers zu prüfen:278 „Es steht dem Apostolischen Stuhl zu, die Besetzung des römischen Kaisers sorgfältig und umsichtig zu untersuchen, da das Kaisertum von Anfang an und letztendlich, wie bekannt, ihm zugeordnet ist; von Anfang an [principaliter], weil es durch das Papsttum und seinetwegen von Griechenland übertragen wurde, d. h. durch das Papsttum als Urheber der Translation zu dessen besonderem Schutz; letztendlich [finaliter], weil der Kaiser vom Papst durch die letzte und endgültige Handauflegung eigentlich erhoben wird, indem er von ihm gesegnet, gekrönt und dem Kaisertum investiert wird.“

Damit war eine neue Qualität im päpstlichen Anspruch auf Suprematie erreicht. Noch nie zuvor hatte ein Papst die Wahl des deutschen Königs angefochten und sich zum obersten Richter aufgeschwungen, der den Gewählten einer Eignungsprüfung unterzog. Allerdings wollte Innocenz das fürstliche Wahlrecht nicht außer Kraft setzen oder in Frage stellen. Er beanspruchte kaum mehr Kompetenzen als Gregor VII. und pochte nur auf seine Prüfungs- und Bestätigungsbefugnis, damit aber auf die Letztentscheidung bei der Kaiserkrönung. In einem Brief an Herzog Berthold von Zähringen aus dem folgenden Jahr (1202), der als Dekretale Venerabilem in die auf seine Veranlassung zusammengestellte Compilatio tertia (1210) aufgenommen wurde und dadurch kanonische Geltung erlangte, verteidigte und untermauerte er diesen seinen Anspruch:279 „In der Tat wollen wir, die wir gemäß unserem Amt als apostolischer Diener jedem einzelnen Gerechtigkeit schulden, nicht das Recht der Fürsten für uns beanspruchen, wie wir auch nicht wollen, daß unser Recht von anderen usurpiert wird. Daher erkennen wir, wie es sich gehört, jenen Fürsten, denen dies nach Recht und alter Gewohnheit zusteht, das Recht und die Vollmacht zu, den König zu wählen, der später zum Kaiser erhoben wird, besonders da Recht und Vollmacht dieser Art auf sie vom Apostolischen Stuhl übertragen wurden, der das römische Kaisertum in der Person des großen Karl von den Griechen auf die Germanen übertragen hat. Aber ebenso müssen die Fürsten anerkennen . . ., daß uns das Recht und die Vollmacht zukommt, denjenigen, der zum König gewählt und zum Kaiser zu erheben ist, zu prüfen, da wir ihn salben, weihen und krönen.“

Aufgrund dieser Kompetenz entschied sich Innocenz III. im deutschen Thronstreit für den Welfen Otto IV., der ihm bedingungslosen Gehorsam versprochen und die Verteidigung der kirchlichen Rechte und Besitztümer in Mittelitalien und Sizilien zugesichert hatte. Das Kind aus Apulien schied aus Gründen der mangelnden Reife von vornherein aus. Seine Wahl zum deutschen König wurde als 278 Innocenz III., Deliberatio domini pape Innocentii super facto imperii de tribus electis (1200/1201). Lat./Dt. In: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst, 80–88; hier: S. 84 [Regestum Innocentii III Nr. 29]. 279 Innocenz III., Dekretale Venerabilem (1202). Text und Übersetzung in: Miethke/ Bühler, 90–93; hier: S. 92 [Regestum Innocentii III Nr. 62, S. 167–175].

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„unrechtmäßig“ und „unziemlich“ zurückgewiesen. Doch auch der Schwabe Philipp wurde abgelehnt, da durch ihn der Anschluß Siziliens ans Reich drohte. Das zentrale Anliegen des Papstes war, die von den Staufern geschmiedete Klammer zwischen Sizilien und Deutschland zu zerbrechen und das Patrimonium Petri systematisch auszubauen.280 Otto versprach dem Papst, Sizilien nicht dem Reich zuzuschlagen, auf jede Einflußnahme bei der Bischofswahl und auf das Spolienrecht zu verzichten und die päpstlichen Rekuperationen zu unterstützen. Durch die Entscheidung für den Welfen sah sich die staufische Partei um den Verdienst ihrer eigenen Bemühungen gebracht. Der Affront des Papstes mußte ihren Widerstand provozieren. Die Anhänger Philipps, geistliche wie weltliche Fürsten, protestierten im Januar 1202 heftig gegen die Parteinahme des kirchlichen Oberhauptes und bestritten ihm nunmehr das Recht des Schiedsrichters:281 „Die Vernunft vermag es nicht zu fassen, die schlichte Einfalt kann nicht glauben, daß jegliches Recht gerade von dort umgestoßen wird, wo die Beständigkeit des Rechts bislang unverbrüchlich gewahrt blieb . . . Wo eigentlich habt ihr gelesen, ihr Päpste, wo habt ihr gehört, ihr heiligen Väter, Kardinäle der gesamten Kirche, daß sich eure Vorgänger und deren Gesandte in der Weise in die Wahl der römischen Könige eingemischt hätten, daß sie entweder selbst als Wähler aufgetreten wären oder als Schiedsrichter die an der Wahl beteiligten Kräfte geprüft hätten?“

Die Empörung war vergeblich. Solange noch kein Kaiser gekrönt war, konnte der Papst in die Rolle des weltlichen Oberhauptes schlüpfen und kaiserliche Hoheitsrechte ausüben. Zwar war sein Hauptanliegen die Sicherung der spirituellen Sphäre, doch scheute er vor Eingriffen in die weltlichen Angelegenheiten nicht zurück. Eine Steigerung seiner Ansprüche entwickelte Innocenz III. im Umgang mit den anderen Herrschaftsträgern, die durch die innerdeutschen Querelen ermutigt wurden, ihre schon früher beanspruchte Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu behaupten [s. u., 2. b)]. Der Papst bestätigte dem König von Frankreich den Anspruch auf Unabhängigkeit vom Reich und versicherte ihm, er müsse keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkennen, er sei – wie die spätere Redewendung bei Jean de Blanot,282 Gulielmus Durandus283 u. a. lautete – in seinem Königreich vielmehr selbst Kaiser. Die Exemtion des französischen Königs aus kaiserlicher Bevormundung war ein weiterer schwerwiegender Eingriff in die 280

Vgl. oben das Ende des vorigen Kapitels (S. 439) und die dort genannte Literatur. Text und Übersetzung des Protestschreibens in: Miethke/Bühler, 88–90; hier: S. 89 [Regestum Innocentii III Nr. 61]. 282 Vgl. Jean de Blanot, Tractatus de Actionibus (1256): „nam rex Franciae in regno suo princeps est, nam in temporalibus superiorem non recognoscit“. Zitiert nach Walther, Imperiales Königtum, S. 84, Anm. 47. Walther zitiert seinerseits nach R. Feenstra, Jean de Blanot et la formule „Rex Franciae in regno suo princeps est“, S. 890 [in ders., Fata iuris romani, S. 144]. Zu Jean de Blanot vgl. auch Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 402 ff., 470 f. 283 Vgl. Gulielmus Durandus, Speculum iudiciale (1271/72), lib. IV, partic. III, De feudis, § 2, Nr. 29. Basel 1574 (Neudruck Aalen 1975), S. 329. Dazu Walther, Imperiales Königtum, S. 87 f.; Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 317, 471. 281

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kaiserlichen Hoheitsrechte. Er wurde in der Bulle Per venerabilem (1202) vollzogen und schriftlich fixiert. Der Anlaß dazu war das Gesuch Graf Wilhelms VIII. von Montpellier, durch Vermittlung des Erzbischofs von Arles beim Papst die Legitimation seiner unehelichen Söhne Wilhelm und Thomas zu erreichen, da er über keine legitimen Nachkommen verfügte.284 Er berief sich dabei auf die Legitimation der Kinder König Philipps II. Augustus aus dessen zweiter, nicht anerkannter Ehe durch Innocenz III., der sich damit eines der vornehmsten kaiserlichen Vorrechte angemaßt hatte. Der Papst sah sich deshalb zu einer ausführlichen Begründung genötigt, die später in die Dekretalensammlung des Alanus, in die Compilatio tertia (1210) und in den Liber Extra Gregors IX. (1234) aufgenommen wurde,285 so daß sie ebenfalls kanonische Geltung erlangte und alsbald anderen Monarchen zur Rechtfertigung ihres eigenen Anspruchs auf „Souveränität“ dienen konnte. Innocenz ließ den Grafen wissen, daß er im Unterschied zum französischen König sehr wohl einen Oberherrn habe, dem er untertan sei, folglich im Gegensatz zu diesem nicht das Recht für sich beanspruchen könne, keinen Höheren in weltlichen Angelegenheiten zu akzeptieren:286 „Insuper, cum rex ipse superiorem in temporalibus minime recognoscat, sine iuris alterius laesione in eo se iurisdictioni nostrae subiicere potuit et subiecit, in quo forsitan videretur aliquibus quod per se ipsum, non tanquam pater cum filiis, sed tantum princeps cum subditis, poterit dispensare. Tu autem aliis nosceris subiacere“.

Im Lehnstreit zwischen Johann Ohneland von England (1199–1216) und Philipp II. Augustus von Frankreich (1179/80–1223) um die Besitzungen des Hauses Anjou beanspruchte Innocenz III. schließlich aufgrund seiner geistlichen Jurisdiktionsgewalt über alle Christen auch Gerichtskompetenz in weltlichen Streitfällen. Zwar versicherte er, es sei keineswegs seine Absicht, „das herrschaftliche Gericht oder die Gewalt des erhabenen Königs von Frankreich zu stören oder zu schmälern“ und über ein Lehen zu urteilen, das seinem Gericht zustehe, da dieser das päpstliche Gericht und seine herrschaftliche Gewalt nicht zu behindern beabsichtige, doch sei es nach dem Gebot Gottes seine Aufgabe, über Sünder zu richten: „Denn da wir uns nicht auf menschliche Anordnung, vielmehr auf göttliches Gesetz stützen, weil unsere Gewalt nicht von einem Menschen, sondern von Gott ist, leugnet niemand, der bei gesundem Verstand ist, daß es unserem Amt zusteht, 284

Vgl. zum folgenden Walther, S. 14 ff.; Kienast, S. 435 ff. Nachweise bei Walther, S. 14. Zu den Bestandteilen des Corpus iuris canonici, die 1580 offiziell festgelegt wurden, vgl. H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 335. Dazu zählten u. a.: 1. das Decretum Gratiani (ca. 1140); 2. der Liber extra Gregors IX. (1234); 3. der Liber sextus Bonifaz’ VIII. (1298); 4. die Clementinae Clemens’ V. (1305–1314) usw. Die maßgeblichen Standard-Glossen, -Kommentare und -Summen neben diesen Grundtexten waren die Summa Huguccios (ca. 1190) und die Glossa ordinaria des Johannes Teutonicus (ca. 1215–17). 286 Innocenz III., Bulle Per venerabilem (1202). In: Jacques-Paul Migne: Patrologiae cursus completus. Series Latina 214, col. 1132 [= Liber Extra 4.17.13]. Hier zitiert nach Walther, Imperiales Königtum, S. 15. Vgl. auch Miethke/Bühler, S. 130, Anm. 7. 285

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jedweden Christen für jede beliebige Todsünde zur Rechenschaft zu ziehen und, sofern er Besserung verweigert, ihn mit Kirchenstrafe zu zwingen“.287 Gegen den Willen Johanns Ohneland ernannte Innocenz 1206 Stephan Langton zum Erzbischof von Canterbury und belegte den englischen König, der sich widersetzte, aufgrund der ihm von Gott zugeteilten Gerichtskompetenz mit dem Kirchenbann. Er zwang ihn 1209 durch ein Absetzungsurteil gänzlich in die Knie und nötigte ihn, sein Land als Lehen der päpstlichen Protektion zu unterstellen. Dadurch wurde Johann de facto zu einem König ohne Land. Damit sind die einschlägigen Stellen zitiert, die zum Ausgangspunkt der künftigen Debatten wurden. Hatte sich Innocenz III. somit als radikaler Hierokrat geriert oder war er Verfechter des traditionellen Dualismus?288 Über diese Frage war in der älteren Literatur heftig gestritten worden.289 Als Ergebnis dieser Kontroversen kann festgehalten werden, daß er weder das eine noch das andere war, vielmehr beides zugleich.290 Nach der Durchsicht der älteren und jüngeren Forschung sowie nach eigener Interpretation der Quellen resümiert Helmut G. Walther seine Haltung folgendermaßen: „Innocenz III. ist also weder Vertreter der dualistischen Richtung der Kanonistik, als den Tillmann, Maccarone, Kempf und Cantini ihn sehen wollen, noch der hierokratische Monist, zu dem ihn Watt und Hoffmann, letztlich auch Tierney und Barion machen. Die aus der Theologie des 12. Jahrhunderts ererbte spirituelle Komponente seines Denkens befähigte ihn zu einer Synthese, die freilich nicht traditionsbildend wurde und von der kein direkter Weg zu Innocenz IV. führt“ (S. 67). Seine leitende Ordnungsvorstellung war die spirituelle Einheit unabhängiger Monarchien unter der geistlichen Oberherrschaft des Papstes. Sein Ziel war, das Kaisertum zwar nicht zu beseitigen, aber seine Bedeutung und Macht zu relativieren. Der Kaiser sollte – als Primus inter Pares – Schutzherr der Kirche (defensor ecclesiae) bleiben, aber das Schwert letzten Endes nur auf Wink des Papstes ergreifen und führen. Innocenz III. reklamierte für sich den Titel vicarius Christi secundum ordinem Melchisedech, der zur grundlegenden Definition seines Papstamtes wurde (S. 58 f.). Dementsprechend beanspruchte er nicht nur die Superiorität in spirituellen Angelegenheiten, sondern auch entscheidende Mitsprache, wenn nicht das letzte Wort in weltlichen Dingen. Er zentralisierte die kirchliche Macht mit Hilfe des päpstlichen Instituts der Legaten und beschränkte so die bischöfliche Gewalt.291 287 Innocenz III., Bulle Novit (1204), in: Miethke/Bühler, 97–99; hier: S. 99 [Regestum Innocentii III VII 42 (J.-P. Migne, Patrologiae cursus completus. Series Latina 215, 326 f.; Liber Extra 2.1.13)]. 288 Vgl. dazu bes. Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III., S. 205 ff. 289 Zur Kontroverse zwischen W. Ullmann, F. Kempf, A. M. Stickler u. a. vgl. Walther, Imperiales Königtum, S. 19 ff., 52 ff. (mit Nachweis der einschlägigen Schriften). Seitenzahlen im nachfolgenden Abschnitt ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 290 Von einem „hierokratischen Dualismus“ bei Innocenz III. spricht deshalb Moraw, Art. Reich, S. 445.

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Die vom Papst gelenkte spirituelle Einheit unabhängiger christlicher Monarchien sollte dem uralten Ziel der Missionierung der Andersgläubigen und der Ausbreitung des Christentums dienen.292 Im Zentrum der politischen Bemühungen des geistlichen Oberhauptes stand die weitere Ausdehnung seines Machtbereiches durch Unterjochung anderer Völker und Rückeroberung der vom Islam besetzten heiligen Stätten und Reiche. Erstrebt wurde tatsächlich ein grenzenloses Imperium und eine päpstliche Weltherrschaft. Als wichtigste Aufgabe im Inneren der Christianitas293 wurde die Reinhaltung der Lehre und die Aufrechterhaltung der hierarchischen Ordnung durch „religiöse Säuberungen“ betrachtet. Sie wurde erfüllt durch Inklusion und Exklusion, durch die Einbindung der großen Bettelorden und durch die Ausgrenzung und Eliminierung von Abtrünnigen, die sich dem Deutungsmonopol des Papstes verschlossen. Unter Innocenz III. gewann die Ketzerverfolgung eine neue Qualität. Es gelang dem Papst, die gewachsene Entfremdung zwischen Armuts- und Machtkirche zu überwinden. Die Franziskaner und Dominikaner wurden in die katholische Kirche integriert, die Katharer und Waldenser hingegen systematisch verfolgt und vernichtet. In den Albigenserkriegen (1209–1229) wurden die radikalen Katharer in einem eigens dafür ins Leben gerufenen Kreuzzug gegen innerchristliche Häretiker ausgerottet. Seinen größten Triumph erlebte der Papst schließlich mit dem von ihm einberufenen vierten ökumenischen Laterankonzil (1215), das die bischöfliche Inquisition institutionalisierte und die Gründung neuer Orden untersagte. Die bischöfliche wurde dann 1231 unter Gregor IX. durch die päpstliche Inquisition erweitert, die Ketzerverfolgung wurde zur Domäne des Dominikanerordens.294 Doch nicht alle Aktivitäten des Papstes waren von Erfolg gekrönt. Der Vierte Kreuzzug (1202–1204), durch den Innocenz III. Ägypten erobern und christianisieren wollte, hatte ein unverhofftes und ambivalentes Ergebnis. Er wurde durch den venezianischen Dogen Enrico Dandolo nach Konstantinopel umgelenkt, das

291 Zur Stellung und Funktion der päpstlichen Legaten vgl. auch C. Schmitt, Die Diktatur, II. Kap.: „Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert“, bes. S. 43 ff. 292 Die Undurchführbarkeit dieser Konzeption und die Grenze der päpstlichen Kompetenz im Kontext einer Pluralität eigenständiger und unabhängiger Monarchien sollte sich dann in der Frühen Neuzeit im Zuge der Kolonialisierung Lateinamerikas erweisen, als die Spanier und Portugiesen aufeinanderstießen und den Papst um Rat und eine Entscheidung angingen, wer von ihnen denn nun den päpstlichen Segen habe in der Bekehrung oder Ausrottung der Eingeborenen. Vgl. dazu unten, S. 703 ff. 293 Zur Idee der Christianitas vgl. Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III., S. 181 ff., bes. S. 259, 309 ff.; ders., Das Problem der Christianitas im 12. und 13. Jahrhundert, S. 121 f. 294 Zu den Anfängen der Ketzerinquisition in Deutschland vgl. die Chronik über das Wirken Konrads von Marburg seit 1227. Auszüge in: W. Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 413–416 [nach: MGH. Scriptores. Bd. 24. Hgg. v. Georg Waitz. Hannover 1879, 400–402]. Dazu A. Patschovsky, Zur Ketzerverfolgung Konrads von Marburg. Ferner K.-V. Selge (Hg.), Texte zur Inquisition.

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in kurzer Zeit eingenommen wurde.295 Er war folglich der erste Kreuzzug gegen Christen und endete in ungeheuren Plündereien und in der Aufteilung der eroberten Teile des byzantinischen Reiches in Kreuzfahrerreiche, die sich dem Papst unterstellten. Damit begann die Depravation der Kreuzzugsidee.296 Innocenz sah sich hintergangen, doch war dadurch die Konkurrenz zweier christlicher Reiche vorübergehend ausgeschaltet und die Idee der weltumspannenden Christianitas ein gutes Stück näher gerückt. Die päpstliche Autorität wurde vom Patriarchen von Konstantinopel anerkannt. Das einige „Lateinische Kaiserreich“ war aber nicht von langer Dauer. Von Nikäa aus begann die Wiederherstellung des byzantinischen Imperiums, die 1261 mit der Rückeroberung Konstantinopels vollendet wurde. Auch daheim im Reich blieben die Verhältnisse ungesichert. Die Entscheidung für den Welfen erwies sich schon bald als verhängnisvoller Irrtum des Papstes. Die Umorientierung und der Seitenwechsel zu den Staufern wurde aber durch ein unvorhergesehenes Ereignis verhindert: Philipp von Schwaben wurde am 21. Juni 1208 von Pfalzgraf Otto von Wittelsbach aus persönlicher Rache mit dem Schwert erschlagen. In der Folge wurde Otto IV. im gesamten Reich als König anerkannt.297 Nach der Kaiserkrönung (4. 10. 1209) brach er jedoch sein Versprechen und eroberte Unteritalien (1210/11). Da der neu gekrönte Kaiser auf die Linie der antipapistischen Politik der Staufer einschwenkte, sah sich Innocenz III. um die Früchte seiner Arbeit gebracht und gehalten, gegen seinen Rivalen Front zu machen. Er besann sich deshalb seit 1211 auf das Kind aus Apulien, das mittlerweile unter seiner Obhut herangewachsen und mündig geworden war. Der Papst unterstützte seine Wahl zum deutschen und zum König Siziliens – unter der Voraussetzung, daß Sizilien nicht dem Reich zugeschlagen und die päpstlichen Machtbezirke nicht angetastet werden. Friedrich II. erneuerte in der Goldbulle von Eger (1213) die alten Versprechen Ottos IV. und wurde folglich zum Gegenkönig erhoben.298 Die damalige Lage und die Haltung des Papstes hat Walther von der Vogelweide, der sich zunächst für Philipp engagiert, dann jedoch wie die meisten Reichsministerialen auf die Seite Ottos IV. geschlagen hatte und deshalb die erneute Einsetzung eines Gegenkönigs verdammte (ehe er schließlich zum Staufer umschwenkte), in einem seiner Reichssprüche festgehalten:299

295

Vgl. H. Beckedorf, Der Vierte Kreuzzug und seine Folgen. Darauf verweist zu Recht H. Zimmermann, Das Papsttum im Mittelalter, S. 155. Als weitere Stufen in diesem Depravationsprozeß nennt er den Ketzerkreuzzug gegen die Albigenser (seit 1209) sowie den Kreuzzug von Kindern, die 1212 – noch während des Pontifikats Innocenz’ III. – „gläubig begeistert auszogen und schrecklich endeten“ (ebd.). 297 Zu Otto IV. und seinen Kämpfen vgl. auch B. U. Hucker, Kaiser Otto IV. 298 Vgl. den deutschen Text der Goldbulle von Eger in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 385–389 [nach: MGH. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 2. Hgg. v. L. Weiland. Hannover 1896, S. 60 f.]. 296

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Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet, swenne er sînen Walhen seit ›ich hânz alsô gemachet!‹ daz er dâ seit, des solt er niemer hân gedâht. er giht ›ich hân zwên Allamân undr eine krône brâht, daz siz rîche sulen stœren unde wasten. ie dar under füllen wir die kasten: ich hâns ab mînen stoc gement, ir guot ist allez mîn. ir tiuschez silber vert in mînen welschen schrîn. ir pfaffen, ezzet hüenr und trinket wîn, unde lât die tiutschen [leien magern unde] vastem!‹ [Eijei, wie christlich sich der Papst vor Lachen biegt, Wenn er den Welschen sagt: „das hab ich hingekriegt!“ (Was schon verrucht wär, wo es einer denkt) „Ich hab zwei Deutschen eine Krone aufgezwängt, daß sie das Reich zerrütten und zerreißen. Indessen laß ich meine Soldi kreisen. Mein hungriger Opferstock, vor ihnen aufgestellt, schlägt sich die fromme Wampe voll mit deutschem Geld. Eßt Hühner, liebe Pfaffen, trinkt, was euch gefällt. Die deutschen Laien mögen auf den Knochen beißen.“]

Die endgültige Entscheidung des Thronstreites fiel in der Schlacht von Bouvines (1214), in der die Truppen Philipps II. von Frankreich dem englisch-welfischen Bündnis eine entscheidende Niederlage beibrachten und so dem Staufer den Weg zum Kaiserthron ebneten. Auch der neue König und künftige Kaiser entwickelte sich aber zum entschiedenen Widersacher des Papstes und wurde deshalb von dessen Anhängern wie auch von antipapistischen christlichen Bewegungen, vor allem von den Schülern Joachims von Fiore, den Joachiten, als Antichrist perhorresziert.300 Durch ihn wurden zwei gegenläufige Entwicklungen vorangetrieben. Er, der sich als Kaiser um die Verwirklichung eines christlichen Universalreiches bemühte und dessen Auflösung noch einmal hinauszuzögern suchte, schuf in seinem Königreich Sizilien den ersten wirklich autonomen „Modellstaat“,301 indem er die von seinen normannischen Vorfahren begonnene Verwaltungszentralisation fortsetzte. Er konzentrierte die Macht in seinen Händen und installierte einen straff organisierten Beamtenapparat, der von seinen engsten Vertrauten kontrolliert und geleitet wurde. Durch die Wahl seines Sohnes Heinrich (VII.) zum deutschen König (1220) sicherte er zugleich den Zusammen299 Walther von der Vogelweide, Gedichte, S. 51. Die anschließend zitierte Übersetzung/Nachdichtung stammt von Peter Rühmkorf, Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. Reinbek 1975, S. 47 f. Zu Walther von der Vogelweide vgl. auch die einschlägigen Beiträge in R. Schnell (Hg.), Die Reichsidee in der deutschen Dichtung des Mittelalters. 300 Vgl. Benz, Ecclesia spiritualis, S. 205 ff.; Dempf, Sacrum Imperium, S. 317 ff.; H. M. Schaller, Endzeit-Erwartung und Antichrist-Vorstellungen, S. 430 ff.; Töpfer, Das kommende Reich des Friedens, S. 154 ff. 301 Vgl. A. Marongiù, Ein „Modellstaat“ im italienischen Mittelalter.

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halt zwischen Sizilien und dem Reich. Während er als Kaiser im römischen Reich das Nebeneinander und die Gleichberechtigung von Imperium und Sacerdotium betonte, praktizierte er in seinem Königreich Sizilien das Gegenteil: „weder war der Staat auf die Universalkirche bezogen, noch diese dem Staat auch nur nebengeordnet, sondern der Staat umgriff die Kirche als Schutzbefohlene und zog sie in sich hinein“.302 Durch die Kaiserkrönung Friedrichs II. (1220) wurde die alte Hoffnung auf die Universalmonarchie noch einmal genährt.303 Der Kaiser selbst verhalf ihr zu neuer Kraft und verschaffte ihr Ausdruck in seiner sizilianischen Gesetzgebung seit 1231, in der er sich zum neuen Messias, zum Stellvertreter und Abbild Gottes auf Erden, zum Ursprung und zur Quelle des göttlichen wie menschlichen Rechts sowie zum Propheten und Priester der Göttin Justitia stilisierte (s. u., S. 484 ff.). Er wollte nicht nur oberster Richter, sondern zugleich Gesetzgeber sein, der den Erdkreis befriedet und die Gerechtigkeit verwirklicht, den Antichrist bezwingt und das goldene Zeitalter bereitet. Seine Kaiseridee synthetisiert, wie Hans Martin Schaller im Anschluß an Ernst Kantorowicz zeigte, römische, byzantinische, normannisch-sizilische, fränkische, deutsche und kirchlich-christliche Traditionen. Sie läßt sich in zwölf Punkten zusammenfassen:304 1. der Kaiser gilt als Stellvertreter und Abbild Gottes auf Erden; 2. er ist Herr der Welt, Herr der Elemente; 3. das Kaisertum ist universal. Der Kaiser steht über allen anderen Herrschern, er allein kann Fürsten zu Königen erheben; 4. er ist oberster Gesetzgeber und neuer Justinian; 5. er ist der Schirmherr der römischen Kirche und als solcher 6. Heidenbekämpfer und neuer Konstantin; 7. er ist legitimer Nachfolger der römischen Cäsaren, denen das römische Volk durch die lex regia alle Macht übertragen hat; 8. er ist legitimer Nachfolger des heiligen Karls des Großen; 9. das Kaisertum stammt unmittelbar von Gott. Die deutschen Fürsten vollziehen – als Nachfolger der römischen Senatoren – in der Wahl nur den Willen Gottes. Der Papst hat dem Gewählten nur die Weihe und den Titel zu geben; 10. das Kaisertum ist im Hause der Staufer erblich;

302

E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 241. Vgl. W. Stürner, Friedrich II. So vertrat Eike von Repgow im Sachsenspiegel (ca. 1225) noch einmal die alte Zwei-Schwerter-Lehre, wonach dem Kaiser das weltliche, dem Papst hingegen das geistliche Schwert zustehe, die beide gemeinsam die Christenheit zu beschützen haben. Vgl. dazu auch A. Borst, Der Streit um das weltliche und das geistliche Schwert, S. 108. 304 Vgl. zum folgenden Schaller, Die Kaiseridee Friedrichs II. S. 130 f. [S. 522]. 303

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11. der Kaiser führt das goldene Zeitalter herauf; 12. das staufische Haus ist das letzte Kaiserhaus der menschlichen Geschichte und wird herrschen bis zum Jüngsten Gericht. Von dieser Idee ließen sich allerdings nur wenige Punkte verwirklichen.305 Wieder klafften Ideal und Wirklichkeit weit auseinander. Als Stellvertreter und Abbild Gottes auf Erden wurde Friedrich II. allenfalls von seinen engsten Vertrauten in Sizilien – namentlich von seinem Kanzler Petrus de Vinea – betrachtet.306 Zum Herrn der Welt und der Elemente wurde er nicht, obgleich er sich erfolgreich gegen die Sarazenen behauptete und von ihnen einen wissenschaftlich-rationalen Umgang mit der Natur erlernte.307 Seine kaiserliche Macht mußte durch Absprachen und Kompromisse mit den anderen Größen des Reiches gesichert werden. Friedrich sah sich zu Konzessionen an den Klerus und den Hochadel genötigt. In der Confoederatio cum principibus ecclesiasticis (1220) überließ er den geistlichen Fürsten wichtige Regalien: das Markt-, Münz- und Zollrecht, die Befestigungshoheit und die Gerichtsbarkeit.308 Das Papsttum blieb ein beharrlicher Antipode des Kaisers. Den „Endkampf“ zwischen Imperium und Sacerdotium hatte er mit Gregor IX. (1227–1241) auszufechten, der ihn zweimal exkommunizierte, sowie mit Innocenz IV. (1243–1254), der ihn auf dem Ersten Konzil von Lyon (1245) wegen Meineids, Beleidigung der Kirche und Häresie für abgesetzt erklärte und zur Wahl eines neuen Königs aufrief.309 Obgleich er sich theoretisch als Schirmherr der römischen Kirche und obersten Herrscher des Abendlandes bzw. der ganzen Welt verstand, erhob Friedrich II. in 305 Zu den Erfolgen und Mißerfolgen der Kaiserpolitik Friedrichs II. vgl. auch Abulafia, Herrscher zwischen den Kulturen; Boockmann, Stauferzeit, S. 159 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 230 ff.; Grundmann, Kaiser Friedrich II.; Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung, S. 249 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 70 ff.; Schaller, Kaiser Friedrich II.; W. Stürner, Friedrich II. Bd. 2; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium, S. 189 ff. 306 Zur staufischen Kaisertheologie und zum sizilischen Kaiserkult, zur Selbstdeutung Friedrichs II. in seinem berühmten Brief an seine Geburtsstadt Jesi und zur Apotheose des Kaisers durch Petrus de Vinea vgl. auch Benz, Ecclesia spiritualis, S. 225 ff.; Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 467 ff., 474 ff. 307 Vgl. dazu Horst Stern, Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser, König von Sizilien und Jerusalem, Erster nach Gott, über die wahre Natur der Menschen und der Tiere, geschrieben 1245– 1250. München 1986. Zu seinem Verhältnis zur islamischen Kultur und ihrer Philosophie vgl. auch M. Grabmann, Kaiser Friedrich II. und sein Verhältnis zur aristotelischen und arabischen Philosophie; F. Gabrieli, Friedrich II. und die Kultur des Islam. 308 Vgl. die deutsche Übersetzung des Textes der Confoederatio vom 26. April 1220 in: A. Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, S. 68 ff. bzw. die Auszüge in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 391–395 [nach: MGH. Constitutiones 2, Nr. 73. Hgg. v. L. Weiland. Hannover 1896, S. 86 ff.]. Dazu E. Klingelhöfer, Die Reichsgesetze von 1220, 1231/32 und 1235; Mitteis, Der Staat, S. 343 ff. 309 Zu den Kämpfen Friedrichs II. mit Gregor IX. und Innocenz IV. vgl. auch Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 5, S. 244 ff., 293 ff.; Haller, Das Papsttum. Bd. 4, S. 57 ff., 120 ff., 242 ff.; Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 4, S. 803 ff., 842 ff.

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der Praxis gegenüber den westlichen Monarchen keinen Führungsanspruch. Er appellierte an die Solidarität der Könige und Fürsten und beanspruchte nicht die Weltherrschaft, die schon sein Vater vergeblich angestrebt hatte.310 In ihren Reichen blieben die Könige selbst oberste Gesetzgeber und Richter. Der Kaiser wollte auch keine ecclesia imperialis schaffen, die Kirche sollte ihm und seiner Herrschaft nur „die moralischen Grundlagen, den liturgischen Glanz, kurz alle nur möglichen Prestigefaktoren liefern“.311 Seine Schutzfunktion und seine Mission als Katechon wollte er vor allem durch die Bekämpfung der Häretiker312 und Heiden erfüllen. In der Goldenen Bulle von Rimini (1226) beauftragte er den Deutschen Orden mit der Eroberung des heidnischen Preußen und übertrug dem Hochmeister Hermann von Salza Preußen als Ordensland.313 Es wurde 1234 dem Papst unterstellt. Sein Aufbruch zum Kreuzzug 1227 mißlang allerdings gründlich. Friedrich mußte wegen einer Seuche zurückkehren und wurde deshalb von Gregor IX. gebannt. Trotz des Banns führte er 1228–29 den fünften Kreuzzug durch und eroberte auf dem Verhandlungswege das „Heilige Land“, um sich selbst zum König von Jerusalem zu krönen. Bei seiner Rückkehr sah er sich der Fürstenopposition und den aufständischen lombardischen Städten konfrontiert. Sein Sohn Heinrich (VII.) mußte 1231 im Statutum in favorem principum den weltlichen Fürsten aufgrund ihres Drucks die gleichen territorialen Herrschaftsrechte zugestehen wie den geistlichen. Da Friedrich im darauffolgenden Jahr das Statut bestätigte,314 empörte sich sein Sohn gegen ihn und verbündete sich mit den lombardischen Städten, weshalb ihn der Kaiser gefangensetzen ließ und nach Apulien schickte, wo er 1242, acht Jahre vor seinem Vater, starb. Mit der Bestätigung der Fürstenprivilegien verzichtete Friedrich II. letztlich auf die Regierung in Deutschland, die nun endgültig in die Hände der „Landesherren“ überging. Zwar versuchte er im Mainzer Reichslandfrieden (1235), den er bei seinem letzten Aufenthalt in Deutschland erließ, die Fehden zurückzudrän-

310 Vgl. F. Baethgen, Zur Geschichte der Weltherrschaftsidee im späteren Mittelalter, S. 190; ders., Kaiser Friedrich II.; Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 513 ff. 311 W. Seegrün, Kirche, Papst und Kaiser nach den Anschauungen Kaiser Friedrichs II., S. 39. 312 Vgl. dazu K.-V. Selge, Die Ketzerpolitik Friedrichs II. 313 Vgl. den Text der Goldenen Bulle von Rimini in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 396–399 [nach: W. Hubatsch (Hg.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Ordens. Göttingen u. a. 1954, 46–52]. Zur Geschichte des Deutschen Ordens vgl. auch Boockmann, Der Deutsche Orden. Zur Stellung des neuen Ordenslandes im und zum Reich vgl. E. E. Stengel, Hochmeister und Reich. Die Grundlagen der staatsrechtlichen Stellung des Deutschordenslandes (1938). In ders., Abhandlungen und Untersuchungen, 207–237. Ferner H. Patze, Der Deutschordensstaat Preußen; M. Biskup/G. Labuda, Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. 314 Vgl. den Text des Statutum in favorem principum vom Mai 1232 in: Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, S. 75 ff. bzw. in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 404–409 [nach: MGH. Const. 2, Nr. 171, S. 211–213].

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gen und die Konfliktlösung vor dem königlichen Gericht durchzusetzen,315 doch wagte er es nicht, die fürstliche Gerichtshoheit anzutasten.316 Die Folgen des Statuts und der damit festgelegten Politik hat Ernst Kantorowicz recht plastisch beschrieben:317 „Was er aber damit herbeiführte – gleichgültig ob gewollt, ob nicht gewollt – war nahezu die souveräne Selbständigkeit der einzelnen Fürsten innerhalb ihrer Territorien . . . In ihren Rechten einander insgesamt ziemlich gleichgestellt begriffen sich die Fürsten mehr denn bisher auch als eine Körperschaft, ja als Interessengemeinschaft“ (S. 349). Sie waren es, die in Deutschland jene Zentralisierung der Macht vorantrieben, die in den westlichen Monarchien von mächtigen Königen und in Sizilien von Friedrich selbst so mustergültig verwirklicht wurde.318 Damit war zugleich die territoriale Zersplitterung in Deutschland besiegelt.319 Indem er diese Entwicklung akzeptierte und vertraglich bekräftigte, hat der Kaiser – zum Wohl oder Wehe der künftigen Geschichte – „den festen Zusammenschluß der Deutschen zu einem ,deutschen Staat‘ . . . endgültig verhindert“ (S. 350). Die wichtigste Demonstration seines Kaisertums nach dem Kreuzzug und der Ketzerverfolgung lieferte Friedrich II. im Kampf gegen die lombardischen Städte, der seit 1236 seine volle Aufmerksamkeit und ganze Kraft beanspruchte. Um ihren Widerstand zu brechen und die alten Rivalen der staufischen Reichspolitik zu unterjochen, rief er die befreundeten Könige zur Hilfe, die ihm bereitwillig Truppen zur Verfügung stellten, um das monarchische Prinzip gegen das städtische Freiheitsstreben zu mobilisieren. Wieder hat der junge Ernst Kantorowicz den Sachverhalt treffend und in einer Klarheit beschrieben, die zwar dem George-Kreis geschuldet ist, die aber durch keine Neu- oder Umformulierung erreicht werden könnte: „Die ganze Welt wurde aufgeboten, um die wenigen rebellischen Städte zu züchtigen, gegen die Friedrich II. jetzt sogar die befreun-

315 Vgl. H. Angermeier, Landfriedenspolitik und Landfriedensgesetzgebung unter den Staufern. Zur Vorgeschichte vgl. J. Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235. 316 Vgl. die Fixierung der Gerichts- und Ächtungsgewalt des Königs im Mainzer Reichslandfrieden vom 15. August 1235 in: Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, S. 82 ff. bzw. die Auszüge in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 416–423 [nach: MGH. Const. 2, Nr. 196), S. 241 ff.]. Dazu Klingelhöfer, Die Reichsgesetze von 1220, 1231/32 und 1235, bes. S. 175 ff. 317 Vgl. zum folgenden Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 347 ff. Seitenzahlen in den folgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 318 Daß die deutschen Fürsten im Spätmittelalter allerdings noch nicht zu jener Verdichtung vordrangen, die es erlaubt, von „Staaten“ zu sprechen, betont – im Anschluß an die jüngere Forschung – E. Schubert, Fürstliche Herrschaft, S. 61 ff., 80 ff., 104 ff. 319 Ähnlich urteilt Mitteis, Der Staat, S. 342 ff.: „Unter seiner Regierung entschied es sich, daß die Zusammenfassung des deutschen Volkes zu einem national geschlossenen Einheitsstaat sich um sieben Jahrhunderte verzögern, daß die politische Formung Deutschlands in die Hand des Hochadels, der Territorialfürsten gelegt und das Reich zu einer losen Zusammenfassung selbständiger Staaten werden sollte“ (S. 342).

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deten fremdländischen Monarchen um Zuzug bat mit der merkwürdigen Begründung: es werde durch die Lombarden nicht so sehr der Kaiser selbst als das monarchische Prinzip überhaupt angegriffen und gefährdet“ (S. 420). „Unter Führung des Kaisertums suchte der Staufer noch einmal das Imperium als die große Verbindung aller Monarchen des Erdrunds zusammenzuschließen und aufzubieten zu einem ,Kreuzzug‘ gegen die Ungläubigen, die infideles des Staats und der Justitia“ (S. 421). Tatsächlich erhielt er die Unterstützung der königlichen Elite, die mit der Bekämpfung des autoritätsfeindlichen Prinzips „die erste gemeinsame Aktion der ganzen Ökumene aus weltlich-politischen Gründen“ startete (ebd.). Doch war der Erfolg dieser Aktion wieder einmal ambivalent und widersprüchlich. Er hatte externe Effekte, die keiner der Verbündeten vorhersehen konnte: Die abendländische Welt spaltete sich jetzt in Guelfen und Ghibellinen, „der Riß ging durch alle Lager der Welt hindurch . . . kein Orden, keine Stadt, kein Stand und keine Familie, ja kein Einzelwesen, in welchem nicht Ghibellinen- und Guelfentum miteinander rangen und wechselweise zur Herrschaft gelangten“ (S. 424). Durch den Krieg gegen die oberitalienischen Städte, die durch den florierenden Orienthandel mehr als jede andere Macht von den Kreuzzügen profitiert und einen ungeahnten Aufschwung erlebt hatten, wurde zugleich der alte Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium geschürt und auf einen nächsten Höhepunkt geführt. Papst Gregor IX., der die lombardischen Städte unterstützt hatte, verhängte am Palmsonntag 1239 zum zweitenmal den Bann über den Kaiser und eröffnete damit die letzte und alles entscheidende Schlacht. Friedrich wurde aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen, alle seine Untertanen wurden vom Treueid gelöst. Damit war aber die kaisertreue Publizistik auf den Plan gerufen, die in der Folge einen Propagandakrieg von bislang unbekannter Intensität entfachte. Dabei dienten die alten apokalyptischen Endzeit-Erwartungen als Medium und Vehikel der Auseinandersetzung. Biblische Bilder und neue Symbole wurden bemüht, um den jeweiligen Kontrahenten zu diskreditieren.320 Gregor IX. und die Guelfen stilisierten den Kaiser zum Vorläufer des Antichrist, Friedrich II. und die Ghibellinen hingegen erblickten diesen im Papst. An der päpstlichen Kurie verfaßte Kardinal Rainer von Viterbo im Mai/Juni 1239 das apokalyptische Manifest Ascendit de mari gegen den Kaiser, in dem er Friedrich als eine pantherartige Bestie darstellte, die dem Meer entsteigt, um mit Bärentatzen 320 „Jetzt begann ein Propagandakrieg, der alles übertraf, was die Menschen unter Heinrich IV. oder Friedrich Barbarossa erlebt hatten“ (H. Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont, S. 496). Siehe auch M. Salewski, Deutschland. Bd. 1, S. 36: „Niemals zuvor und niemals später war das Ringen zwischen Imperium und Sacerdotium so grundsätzlich, duellartig – und die Protagonisten, Friedrich II. und Gregor IX. wußten dies sehr wohl“. Allenfalls der spätere Kampf zwischen Philipp dem Schönen von Frankreich mit Papst Bonifaz VIII. war ähnlich „duellartig“ und erreichte eine vergleichbare Intensität. Siehe dazu unten, Anm. 433. Zu den Kontroversen zwischen Friedrich II. und Gregor IX. vgl. die oben (Anm. 300) genannte Literatur.

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und Löwenrachen zu wüten, den göttlichen Namen zu lästern, Speere auf die Heiligen Gottes zu schleudern und die Mauern des katholischen Glaubens einzureißen.321 In seinem Antwortschreiben In exordio nascentis mundi vom Juli 1239 kehrte Friedrich den Vorwurf gegen den Papst und nannte ihn den großen Drachen, der alle Welt verführt, den „Antichrist“ und „Fürst über den Fürsten der Finsternis“. „Er ist der Engel, der mit den Schalen voll von Bitternis aus dem Abgrund aufsteigt, um Land und Meer zu verderben“.322 Die Details der Auseinandersetzungen müssen hier nicht verfolgt werden. Hier interessieren nur die Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Ordnungsdenkens, für die Genealogie des Staates und der Politischen Theorie. Durch die gegenseitigen Attacken wurde das Ansehen beider Institutionen beträchtlich geschmälert und die alte Reichsidee vollends zerrieben, die aber nichtsdestotrotz schon bald eine Resurrektion erlebte. Friedrichs Appell an die Kardinäle, sie mögen ein allgemeines Konzil einberufen, dem er die Unrechtmäßigkeit des päpstlichen Vorgehens darlegen werde, wurde nicht erhört.323 Während er in seinem Königreich Sizilien jegliche Mitsprache verhinderte, forderte er für die Kirchenleitung eine „parlamentarische“ Mitbestimmung und wurde so zum Vorboten des späteren Konziliarismus. Als dann Innocenz IV. später tatsächlich ein von ihm selbst geleitetes Konzil einberief, stemmte sich der Kaiser vehement dagegen, da er keine Neutralität gewahrt sah. Seine Strategie nützte ihm aber wenig. Der Krieg der Giganten dauerte bis zum Ende des Staufers, der am 13. Dezember 1250 im Kastell Fiorentino starb. Nach dem Tod Gregors IX. (1241) übernahm Innocenz IV. (1243–54) – nach dem kurzen Pontifikat Coelestins IV. (1241) und der anschließenden neunzehnmonatigen Vakanz des Apostolischen Stuhls – den Part des päpstlichen Gegenkaisers und führte den Kampf zu seiner Peripetie, indem er Friedrich 1245 für abgesetzt erklärte und die deutschen Fürsten zur Wahl eines neuen Königs aufrief.324 Zwar protestierte der Staufer heftig,325 doch 321 Vgl. Schaller, Endzeit-Erwartung und Antichrist-Vorstellungen, S. 433; Dempf, Sacrum Imperium, S. 324. 322 Zitiert nach Schaller, Endzeit-Erwartung, S. 433 f. Zu den weiteren Schriften und ihren Drucknachweisen siehe ebd., S. 434 ff.; ders., Das letzte Rundschreiben Gregors IX. gegen Friedrich II. In: Festschrift Percy Ernst Schramm. Bd. 1. Wiesbaden 1964, 309–321; Dempf, Sacrum Imperium, S. 328 ff. 323 Vgl. B. Tierney, Foundations of the conciliar Theory, S. 77 ff. [deutsche Übersetzung der einschlägigen Passagen in G. G. Wolf (Hg.), Stupor Mundi, 203–206]. 324 Vgl. die Textauszüge aus der Absetzungsbulle Ad apostolice dignitatis vom Juli 1245 sowie aus dem späteren Kommentar Innocenz’ IV. (lat./dt.) in: Miethke/Bühler, 105–112. Auszüge aus der Absetzungsbulle in deutscher Übersetzung auch in: Hartmann (Hg.), Frühes und hohes Mittelalter, 430–440 [nach: MGH. Const. 2, S. 508– 512]. Dazu F. Kempf, Die Absetzung Friedrichs II. im Lichte der Kanonistik. In: J. Flekkenstein (Hg.), Probleme um Friedrich II. Sigmaringen 1974, S. 345 ff. 325 In einem Rundschreiben an alle Fürsten vom Juli–September 1245 verwarf Friedrich II. das Absetzungsurteil, da das Verfahren fehlerhaft gewesen und der Papst überhaupt inkompetent sei. Vgl. die Auszüge aus dem Rundschreiben (lat./dt.) in Miethke/ Bühler, 112–117 und das kuriale Pamphlet aus der Umgebung Innocenz’ IV. (Ende

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konnte er den Zerfall seiner Reichsmacht nicht aufhalten. Die stauferfeindlichen Fürsten wählten 1246 Landgraf Heinrich Raspe von Thüringen (y 1247) zum Gegenkönig, dem 1248 Graf Wilhelm von Holland (y 1256) nachfolgte. Die Geschichte des Kaiserreichs der hier betrachteten Periode endete folglich wie sie begonnen hatte: mit einer Doppelwahl und einem neuerlichen Thronstreit.326 Mit der Absetzung des Kaisers und der Wahl eines Gegenkönigs wurde der staufische Einfluß weiter beschnitten und eine weitere Zuspitzung des Konflikts erreicht. Allerdings waren die Fronten theoretisch wie praktisch längst geklärt. Denn schon mit dem zweiten Bannspruch Gregors IX. waren, wie Ernst Kantorowicz zu Recht betont, die Würfel endgültig gefallen: „das vielhundertjährige Bild der vollkommenen Weltordnung: die gleichgewichtige Einheit von Priestertum und Kaisertum war mit diesem Tage für alle Zeiten vernichtet“ (S. 430). Was Gregor VII. einst begonnen hatte, strebte nun seinem Abschluß zu. „Der wütend verbissene Entscheidungskampf beider Gewalten begann, ob auch das Ungeheure, das hier wie dort die Kräfte überspannte . . ., ohne Entscheidung blieb. Denn im Zusammenprall verloren schließlich beide Mächte die Unbedingtheit, die sie ein halbes Jahrtausend besessen: Interregnum und Avignon sind des Mittelalters und der christlichen Weltherrschaft Ende“ (ebd.). Der Tod Friedrichs II. im Jahr 1250 leitete den Untergang der Hohenstaufen und damit des mittelalterlichen Kaisertums ein. Mit ihm starb der letzte „echte“ Kaiser,327 doch wurde nur das Kaisertum, nicht die Kaiseridee mit ihm begraben. Das sog. Interregnum begann.328 Lange Zeit wurde kein Kaiser mehr gekrönt. Das Papsttum war allein auf dem Feld übrig geblieben. Es wandte sich dem französischen Königtum zu und schickte sich an, die europäische Politik entscheidend mitzubestimmen bzw. zu dominieren. Papst Urban IV. (1261–64) ernannte vierzehn neue Kardinäle für das 22-köpfige Kollegium, die Hälfte von ihnen 1245 oder Anfang 1246), das die Propaganda Friedrichs zurückweist und die päpstliche Jurisdiktionsgewalt über den Kaiser bekräftigt. Ebd., 117–121. 326 Zur weiteren Entwicklung des Reiches vgl. F. Bock, Reichsidee und Nationalstaaten; Boockmann, Stauferzeit, S. 179 ff.; H. Grundmann, Wahlkönigtum, Territorialpolitik und Ostbewegung, S. 90 ff.; Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung, S. 262 ff.; H. Koller, Das Reich von den staufischen Kaisern bis zu Friedrich III.; K.-F. Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige; ders., König, Reich und Reichsreform, S. 5 ff. (Literatur: S. 126–146); Leuschner, Deutschland, S. 93 ff. (Literatur: S. 226 ff., 234 f.); Moraw, Von offener Verfassung, S. 202 ff.; E. Schubert, König und Reich; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium, S. 237 ff. 327 Vgl. P. E. Schramm, Die Kaiseridee des Mittelalters: „Die späteren Kaiser . . . waren nicht mehr wirkliche Kaiser wie die Salier und Staufer, sondern in erster Linie Könige, deren Stellung in Deutschland und in der abendländischen Welt sich dadurch bestimmte, wie groß ihre Hausmacht war . . .“ (S. 423). 328 Nachdem schon 1246 Heinrich Raspe und 1248 Wilhelm von Holland zu Gegenkönigen gewählt worden waren, hatte Deutschland von 1257 bis 1272/73 mit Richard von Cornwall und Alfons X. von Kastilien und León zwei Könige, die beide außerstande waren, tatsächlich königliche Macht zu entfalten.

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Franzosen. Er vergab die stadtrömische Senatur an Karl von Anjou, den Bruder Ludwigs des Heiligen. Sein Nachfolger auf dem Apostolischen Stuhl, Clemens IV. (1265–68), belehnte Karl von Anjou mit Sizilien und machte ihn zum König. Durch seinen Sieg über den legitimen Regenten Siziliens, Friedrichs Sohn Manfred, in der Schlacht von Benevent (26. 2. 1266) wurde die französische Vorherrschaft in Europa begründet. Die Dynastie der Staufer war 1268 endgültig zu Ende, als Friedrichs Enkel Konradin, der Sohn Konrads IV. (1250–54), in Neapel enthauptet wurde. Karl von Anjou schickte sich an, ein das Mittelmeer umspannendes Reich mit Sizilien als Zentrum zu errichten und hegte Pläne zur Wiederherstellung eines „Lateinischen Kaiserreichs“ in Byzanz. Seine Bemühungen scheiterten jedoch, da Papst Nikolaus III. (1277–80) seine Herrschaft in Rom und in der Toskana beendete und ihn auf Sizilien beschränkte. Gegen sein Hegemoniestreben formierte sich ferner eine Koalition der Könige von England, Deutschland und Aragón. Ein von Byzanz und Aragón unterstützter Volksaufstand („sizilianische Vesper“) führte schließlich 1282 zur Vertreibung aller Franzosen aus Sizilien und beendete die französische Herrschaft in Italien. Mit dem Ende der Staufer schwand die einst von Friedrich Barbarossa erhoffte enge Bindung der Territorialfürsten an die Krone. In Deutschland festigte sich die „Landesherrschaft“,329 während die westlichen Könige ihre eigenen Wege gingen und gelegentlich selbst Ansprüche auf die Kaiserkrone erhoben. Nach dem Tod Friedrichs II. war Ludwig der Heilige von Frankreich der mächtigste Herrscher des Abendlandes. Da dieser jedoch 1270 auf dem erfolglosen Siebenten Kreuzzug starb, konnte das Papsttum seine Herrschaftsansprüche ins Unermeßliche steigern. Hatten die Inhaber der geistlichen Gewalt die Schlacht gewonnen? Albert Hauck hat zu Recht bemerkt, daß es sich bei ihrem Sieg in Wahrheit um einen Pyrrhussieg handelte: „Während sie glaubten, sich die Weltherrschaft durch die Vernichtung eines Kaisergeschlechts zu sichern, begannen sie die Herrschaft über die Gemüter der Menschen einzubüßen“.330 Ihr Hochmut wurde ihnen schon bald zum Verhängnis. Doch konnten sie den Niedergang ihrer eigenen Macht noch für einige Jahrzehnte hinauszögern. Das Kaisertum hingegen hatte für alle Zeiten seinen Nimbus verloren. Es konnte sich nie mehr von dem tiefen Einbruch erholen und zu altem Glanz aufschwingen. Das von den fränkischen, sächsischen, salischen und staufischen Kaisern erneuerte Römische Reich wurde von den westlichen Monarchien und von den italienischen „Stadtstaaten“ beerbt, die ihm den Rang abzulaufen suchten und auf ihrer Unabhängigkeit nicht nur 329 Zu den Merkmalen der „Landesherrschaft“ vgl. die oben (S. 429, Anm. 203) genannte Literatur. Zur Entwicklung der Landesherrschaft im Spätmittelalter vgl. Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium – mit Forschungsbericht (S. 51 ff.) und umfassenden Quellennach- und Literaturhinweisen (S. 109 ff.). 330 Hauck, Kirchengeschichte. Bd. IV, S. 886. Vgl. auch G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 473: „Der Untergang der Kirche sollte nicht durch offene Gewalt bewirkt werden, sondern von innen heraus, vom Geiste aus, und von unten herauf drohte ihr der Sturz“.

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gegenüber dem Kaiser-, sondern alsbald auch gegenüber dem Papsttum bestanden. Die künftigen Kaiser mußten sich mit geringerer Reputation bescheiden. Ihre Autorität und Würde reichte kaum mehr über ihre Stammlande hinaus. An die Stelle der alten Reichspolitik trat künftig die königliche Hausmachtpolitik. Schon das Kaisertum Rudolfs von Habsburg (1273–91) diente allein der Symbolisierung eines Reiches, das „nur noch Sehnsucht und Mythos war“.331 Herfried Münkler faßt das Ergebnis der weiteren Entwicklung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit wie folgt zusammen:332 „Aus der politischen Vision einer universellen Friedensordnung war ein Rechtstitel auf die Verfügung über bestimmte Territorien geworden. Das Kaisertum hat die Ausbildung des Staatensystem in Europa nicht verhindern können, und nachdem sich die souveränen Territorialstaaten erst einmal entwickelt hatten, war die Kaiseridee nur noch ein politisches Instrument, das im Kampf der Staaten eingesetzt, verbraucht und verschlissen wurde“.

Mit dem Ende der Staufer war die alte Kaiser- und mit ihr die christliche Reichsidee zutiefst erschüttert. Sie hatte ihre zündende Überzeugungskraft eingebüßt. „Aber seltsam,“ stellt Robert Holtzmann mit Erstaunen fest, „gerade jetzt, nach 1250, wo das alte Kaisertum zerschlagen war, erhoben sich die Theoretiker und steigerten seine Ansprüche aufs höchste zu einer unmittelbaren Weltherrschaft, bei der die Könige die Untergebenen des Kaisers sein sollten“.333 Und Heinrich Mitteis resümiert: „Um 1300 ist die Idee des römisch-christlichen, universalen Imperiums unter deutscher Führung in ihrer politischen Wirklichkeit gebrochen; nur noch für kurze Augenblicke unter Heinrich VII. und Ludwig dem Baiern konnte es scheinen, als wollte der Kaiseradler noch einmal seine Schwingen entfalten, als sollten die Wunschträume hochgesinnter politischer Denker doch noch in Erfüllung gehen“.334 Aber auch diese Hoffnungen verpufften. Das Reich ließ sich nicht restituieren. Dennoch blieb der Reichsmythos noch lange Jahrhunderte lebendig.335 Er verdichtete sich alsbald in der Kyffhäuser-Sage, wo331 Romano/Tenenti, Die Grundlegung, S. 44. Eine Ausnahme hiervon bildete Karl IV. (1347–78), „dessen großzügige und zunächst erfolgreiche Reformversuche sich bald in Nichts auflösen sollten“ (ebd.). 332 H. Münkler, Im Namen des Staates, S. 249. 333 R. Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke, S. 264. Daß dies schon immer so war, stellte bereits Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte fest: „Die kaiserliche Gewalt wurde im ganzen für etwas sehr Großes und Hohes angesehen: der Kaiser galt für das weltliche Oberhaupt der gesamten Christenheit; je größer aber diese Vorstellung war, desto weniger galt die Macht der Kaiser in der Wirklichkeit“ (HW 12, S. 447). 334 Mitteis, Der Staat, S. 2. Zum „Auseinandertreten von eher neuartiger Reichswirklichkeit und eher traditioneller Reichstheorie“ in der Zeit von etwa 1250 bis 1500 vgl. auch Moraw, Art. Reich, S. 446 ff. 335 Noch im 20. Jahrhundert fand er seine Anhänger und erlebte eine neuerliche Resurrektion. Vgl. K. Reimus, „Das Reich muß uns doch bleiben!“ – Daß der Traum vom Reich verantwortlich war für die deutsche „Katastrophe“, für die Absage an Liberalismus und Individualismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und zur wichtigsten

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nach der Kaiser – Friedrich II. bzw. sein Großvater Barbarossa – dereinst wiederkehren werde, um das Deutsche Reich wiederaufzurichten und eine dauerhafte Friedensordnung zu begründen.336 Ehe der Blick auf diese Entwicklung und auf die späteren Reichsspekulationen (Alexander von Roes, Engelbert von Admont, Dante usw.) gelenkt werden kann, muß zuvor die Entwicklung außerhalb des Imperiums betrachtet werden, die längst neue Fakten geschaffen und einen irreversiblen Prozeß der Staatswerdung eingeleitet hatte. Auch Friedrich II. hatte einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, denn während er als Kaiser letztlich scheiterte, war er als Staatengründer in seinem Königreich Sizilien überaus erfolgreich. Dort konnte er Maßstäbe setzen und künftige Monarchen, die sich nicht mehr am Imperium orientierten, zur Nachahmung inspirieren. b) Das Reich und die westlichen Monarchien Während die Anhänger des universalen Kaiser- und/oder Papsttums weiterhin die alte Reichsidee propagierten und über die Superiorität oder Gleichrangigkeit der beiden Spitzen des Weltregiments stritten, hatten sich die westlichen Monarchien längst aus dem imperialen Herrschaftsbereich emanzipiert. Nicht nur die außereuropäische Welt stand jenseits der kaiserlichen Machtsphäre, sondern auch wachsende Teile des Abendlandes. Vor allem in England und Frankreich, aber auch in Spanien, Dänemark usw. hatten sich mächtige Dynastien dem Zugriff der imperialen Zentralgewalt entzogen und ihre eigenen Reiche etabliert.337 Das Kaisertum sah sich selbstbewußten Königen gegenüber, die keinen Höheren in weltlichen Dingen anzuerkennen gedachten (superiorem in temporalibus non recognoscens) und für ihre Herrschaft selbst den Imperatortitel (rex in regno suo imperator est) beanspruchten.338 Der Kampf zwischen Kaiser und Papst, Imperium und Sacerdotium, Dualisten und Hierokraten verknüpfte sich mit dem zwischen Universalisten und „Pluralisten“/Partikularisten, d. h. mit dem EmanzipationsbeBrücke zwischen Hitler und großen Teilen des gebildeten Deutschland in ihrem Kampf gegen die „westliche Zivilisation“ wurde, betont H. A. Winkler, Deutsche Geschichte. Bd. 1. 336 Vgl. dazu H. Münkler, Reich, Nation, Europa, S. 31 ff. und die dort genannte Literatur, bes. W.-E. Peuckert, Die große Wende. Bd. 1, S. 213 ff.; D. M. Friz, Wo Barbarossa schläft. Ferner N. Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich, bes. Kap. V.: Kaiser Friedrich II. als Messias, 94–113 [abgedruckt in: Wolf (Hg.), Stupor Mundi, 268–298; bes. S. 277 ff.]; Kantorowicz, Zu den Rechtsgrundlagen der Kaisersage; T. Struve, Utopie und gesellschaftliche Wirklichkeit. 337 Vgl. bes. Mitteis, Der Staat, S. 248 ff., 342 ff. und Berman, Recht und Revolution, S. 627 ff. Zur Bildung „nationaler“ Traditionen vgl. auch die oben, S. 405, Anm. 107 genannte Literatur. 338 Zur Entstehung und Entwicklung dieser Formeln vgl. bes. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, S. 227 ff.; F. Calasso, I Glossatori e la Teoria della Sovranità; v. d. Heydte, Die Geburtsstunde, S. 36 f., 59 ff., 82 ff.; H. Kämpf, Pierre Dubois, S. 23 ff.; Post, Studies, S. 453 ff.; Walther, Imperiales Königtum, bes. S. 65 ff.

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streben der westlichen Monarchien. Bereits das Hochmittelalter war, wie sich oben zeigte, eine Welt der Könige und Fürsten, nicht die Welt des universalen Kaisers gewesen. Diese Lage verhärtete sich noch im Spätmittelalter. Zwar konnten nicht alle Könige vollständige „Souveränität“ durchsetzen, d. h. – nach der klassischen Definition von Jean Bodin – eine ungeteilte und zeitlich unbegrenzte absolute Macht etablieren, um mit ihrer Hilfe „der Gesamtheit und den einzelnen Gesetze vorschreiben zu können, . . . ohne auf die Zustimmung eines Höheren oder Gleichberechtigten oder gar Niedrigeren angewiesen zu sein“,339 doch wurden in einzelnen Monarchien entscheidende Schritte in diese Richtung getan. Es begann der „Übergang der Feudalherrschaft in die Monarchie“.340 An die Stelle der feudalen Polyarchie, die auf der rechtlich ungebundenen Gewalt einer Vielzahl einzelner Großgrundbesitzer über abhängige Knechte und Leibeigene basierte, – bzw. neben sie – trat die rechtmäßige Oberherrschaft eines einzelnen über rechtlich freie und gleiche Untertanen. Zur Unabhängigkeit vom Kaisertum gesellte sich die innere Superiorität der Königsmacht, der es gelang, die anderen Gewalten an sich zu binden oder zu unterwerfen und die politische Entscheidungs- und herrschaftliche Zwangsgewalt in ihren Händen zu konzentrieren. Beide Entwicklungen, die sich wechselseitig forcierten und daher sachlich nicht voneinander trennen lassen, sollen im folgenden zum Zwecke der besseren Übersicht gesondert betrachtet werden. aa) Auf dem Weg zur äußeren Souveränität Das Pochen der westlichen Monarchen auf Eigenständigkeit hatte eine lange Tradition. Schon zur Zeit Karls des Großen war in England und Asturien mit der Frankenherrschaft auch die höhere Würde (auctoritas) des Kaisers abgelehnt worden.341 Einerseits wurde der Hegemonieanspruch der Karolinger und ihrer Nachfolger zurückgewiesen, andererseits beanspruchten die mächtigen Könige gegenüber ihren kleineren Kollegen Vorherrschaft und damit selbst den Kaiserrang. Sie wollten folglich „nationale“ Imperien errichten und dem römischen Kaiser den Rang ablaufen. Sowohl in England wie in Spanien bildete das Streben nach (Wieder-)Vereinigung die Basis für die Übernahme des Imperatortitels. In England war der wichtigste der angelsächsischen Teilkönige schon seit dem 7. Jahrhundert, seit Adamnan und Beda, als Imperator bezeichnet worden, um seine ganz Britannien umfassende hegemoniale Stellung auszudrücken. Im 10. Jahrhundert legten sich angelsächsische Könige den Imperatortitel in ihren Urkunden bei.342 Die normannischen Könige Englands unterhielten seit dem 11. Jahrhun339

J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I–III, S. 292. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 477 ff. 341 Vgl. Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke, S. 251 ff.; H. Löwe, Von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit; ders., Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit. 340

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dert zwar zumeist freundschaftliche Beziehungen zu den deutschen Königen und zum Reich, dachten aber nicht daran, ihre Selbständigkeit aufzugeben.343 Ihre Geschichtsschreiber ignorierten das deutsche Imperium gänzlich und stilisierten den englischen König nicht nur zum Herrscher über das regnum Anglorum, sondern auch zum potentiellen und künftigen Regenten benachbarter geopolitischer Räume.344 Das von Heinrich II. Plantagenet (1154–89) regierte Angevinische Reich konnte schließlich schon aufgrund seiner gewaltigen Ausdehnung sowie der Verdichtung der Herrschaftsbeziehungen mit dem Reich der Staufer konkurrieren. In Spanien wurde der König von Asturien-León seit etwa 916 als Kaiser tituliert.345 Sein Reich beanspruchte – als Fortsetzung des Westgotenreiches – die Oberhoheit über die weiteren spanischen Teilreiche – ein Anspruch, der allerdings bei den anderen Königen auf entschiedenen Widerstand stieß. Im 12. Jahrhundert erhielt Alfons VII. von Kastilien (1126–57) als „Kaiser“ die Hoheit über alle christlichen Reiche der iberischen Halbinsel, doch zerfiel die Einheit alsbald wieder. Erst im 13. Jahrhundert schien die Errichtung eines spanischen Kaiserreiches möglich geworden, als Ferdinand III. der Heilige (1217–52) den Süden eroberte und die Reconquista erfolgreich beendete. Sein Nachfolger Alfons X. der Weise (1252–84) konnte sich gar Hoffnungen auf den römischen Kaiserthron machen, da er 1257 von den Kurfürsten von Trier, Sachsen und Brandenburg zum deutschen König gewählt wurde. Allerdings hatte er einen Konkurrenten, da die Kurfürsten von Mainz, Köln und Pfalz im selben Jahr Richard von Cornwall wählten, so daß Deutschland gleichzeitig einen englischen und einen spanischen König hatte, die beide außer Stande waren, tatsächlich königliche Macht zu entfalten. Alfons von Kastilien jedenfalls regierte kaum und hat das Land nie betreten. Dennoch veranlaßte er die Ausarbeitung des schon von Ferdinand III. geplanten Kaiserspiegels, der Siete Partidas (1263/65), in der die Stellung des Imperators und seine Rechte und Pflichten umrissen wurden.346 Er hat demnach 342 E. E. Stengel, Kaisertitel und Suveränitätsidee. Studien zur Vorgeschichte des modernen Staatsbegriffs. In ders., Abhandlungen, 239–286; ders., Imperator und Imperium bei den Angelsachsen. Eine wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung (1960). Ebd., 287–342; Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 354 ff. 343 Vgl. F. Trautz, Die Könige von England; D. Berg, England und der Kontinent, bes. S. 396 ff. 344 Vgl. dazu D. Berg, Das Bild der englischen Monarchen. Berg verweist ferner auf die Dissertationen von W. L. Grünewald, Das fränkisch-deutsche Kaisertum des Mittelalters in der Auffassung englischer Geschichtsschreiber. Diss. Frankfurt 1961; M. Vorholzer, Kaisertum, imperiales Königtum und Souveränität in der englischen Geschichtsschreibung. Diss. Erlangen 1962. 345 Vgl. Löwe, Von den Grenzen des Kaisergedankens, S. 210 ff.; ders., Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit, S. 250 ff. (bes. S. 251); Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 373 ff. 346 Vgl. dazu W. Berges, Die Fürstenspiegel, S. 86 ff.; ders., Kaiserrecht und Kaisertheorie der „Siete Partidas“; Kienast, S. 467 ff.

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keinen Höheren in weltlichen Dingen über sich und schuldet allein dem Papst in geistlichen Dingen Gehorsam. Seine Aufgabe ist es, die Zwietracht unter den Völkern zu beseitigen und die Einheit herzustellen, seinen Untertanen eine gesetzliche Ordnung zu geben, die kleinen Leute vor den Übergriffen mächtiger Übeltäter zu schützen sowie den christlichen Glauben zu fördern und seine Feinde niederzuwerfen. Auch in Frankreich war der deutsche Anspruch auf Führung der abendländischen Christenheit seit der Teilung des Karolingerreiches stets auf Ablehnung gestoßen.347 Der französische König galt als unabhängig und seit dem Aufstieg des Karlskultes zu Beginn des 12. Jahrhunderts als der eigentliche Erbe Karls des Großen.348 Er repräsentierte in seinem Land das christliche Reich und war dem Kaiser gleichgestellt. Von Adalbero von Laon, Abbo von Fleury (y 1004), Odilo von Cluny (y 1049), Wilhelm von Dijon, Wilhelm von Poitiers, Hugo Fleury (y ca. 1120) u. a. über Jean de Blanot, Gulielmus Durandus u. a. bis hin zu Jean Quidort von Paris (y 1306) und Pierre Dubois (y nach 1321) reicht die Liste derer, die auf der Unabhängigkeit und Gleichberechtigung, wenn nicht gar Überlegenheit des französischen Königs insistierten und gelegentlich sogar das römische Kaisertum für ihn reklamierten.349 Und selbst im Heiligen Römischen Reich war die Herrschaftsbefugnis des Kaisers durch die der anderen Großen beschränkt. Schon lange vor den Fürstenprivilegien, die Friedrich II. im Statutum in favorem principum von 1231 erteilte, bereits 1191 hatte der Bologneser Rechtslehrer Azo Portius (y nach 1230) Heinrich VI. auf dessen Anfrage beschieden, er übe als Kaiser zwar das merum imperium ,per excellentiam‘ aus, doch besäßen auch alle übrigen iudices des Reiches eine potestas gladii (Schwertgewalt), d. h. die hohe Gerichtsbarkeit.350 Der Kaiser mußte folglich das ius gladii mit anderen teilen. Vor allem englische und spanische Kanonisten – Ricardus und Alanus Anglicus, Laurentius und Vincentius Hispanus – prägten um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert den Satz rex est imperator in regno suo, der zusammen mit der Formel superiorem in temporalibus non recognoscens zur Leitidee bei der

347 Vgl. G. A. Bezzola, Das ottonische Kaisertum; K. F. Werner, Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs. 348 Vgl. dazu Berges, Die Fürstenspiegel, S. 72 ff.; R. Folz, L’Idée d’Empire, S. 148; Kienast, S. 378 ff., 479 ff.; P. E. Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 177 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 86 ff. 349 Zum französischen Anspruch auf das Reich vgl. G. Zeller, Les rois de France candidats à l’Empire; Kienast, S. 491 ff. Zur Entwicklung des französischen Nationalbewußtseins vgl. auch H. Beumann (Hg.), Beiträge zur Bildung der französischen Nation; C. Brühl/B. Schneidmüller (Hg.), Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nationsbildung. 350 Vgl. H. G. Walther, Die Gegner Ockhams, S. 119 u. ff.; Kienast, S. 302 ff. Zu Azo ferner F. C. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. 4, S. 180 ff.; Bd. 5, S. 1 ff.; J. W. Perrin, Azo, Roman Law, and Sovereign European States; Berman, Recht und Revolution, S. 464 ff.

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Emanzipation der westlichen Monarchien und damit der Entstehung von Staaten wurde.351 Wie vertrug sich die Aufsplitterung der Ekklesia in selbständige politische Gebilde mit den alten universalistischen Prinzipien? Wie konnte die Konsolidierung und Verselbständigung der westlichen Monarchien gegenüber dem Imperium gerechtfertigt werden? – Die ersten und alles entscheidenden Impulse waren vom Papsttum ausgegangen. Innocenz III. hatte in der Bulle Per venerabilem den König von Frankreich in temporalibus für souverän erklärt und damit aus der Herrschaftssphäre des Kaisers entlassen. Sodann hatte er Otto IV. und seinen Nachfolger Friedrich II. verpflichtet, das Königreich Sizilien vom Imperium zu separieren. Der Papst wurde so zum Schrittmacher der Auflösung des Reiches, das er als spirituelles Oberhaupt zusammenzuhalten und zu lenken gedachte. Die Kanonistik forcierte diesen Prozeß, indem sie in ihren Glossen und Kommentaren das königliche Streben nach Souveränität gegen außen unterstützte und die Formel superiorem in temporalibus non recognoscens auf die anderen Könige übertrug. Im Inneren ihrer Reiche taten diese ein Übriges, indem sie die Machtmittel in ihren Händen konzentrierten und straff organisierte Bürokratien institutionalisierten, die sie in die Lage versetzten, die Gesamtheit ihrer Untertanen zu kontrollieren. Sie hatten sich dabei allerdings gegen den Hochadel ihrer Länder zu behaupten, der seinen eigenen Machtbereich auf Kosten der Krone zu sichern und auszudehnen gedachte. Der unterschiedliche Verlauf und Ausgang dieses Kampfes entschied über die konkrete Form des werdenden Staates, d. h. darüber, ob absolute Monarchien oder von den Baronen dominierte Oligarchien oder ob – wieder einmal – „Mischverfassungen“ (king in parliament) entstanden. Bei ihrer Abwendung vom Kaisertum und ihrer Hinwendung zu den „nationalen“ Regierungen hatten die Legisten und Kanonisten schwierige Hürden zu überwinden und einige Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wurde doch der imperiale Universalismus sowohl vom römischen und kanonischen Recht als auch von der überkommenen christlichen Geschichtstheologie gefordert. Das von Justinian gesammelte, im Corpus Juris Civilis zusammengestellte römische Recht ging ebenso von einem einheitlichen, vom Kaiser beherrschten Imperium aus wie das Decretum Gratiani. Die auf Augustin basierende Geschichtstheologie kannte nur die beiden rivalisierenden Civitates, die Civitas Dei und die Civitas terrena, d. h. Christen und Nichtchristen, wobei die letzteren zu missionieren oder zu besiegen waren. Selbständige Königreiche mit mächtigen Regenten wa351 Daß beide Formeln nicht voneinander getrennt werden können, wie von einigen Forschern – etwa Kienast, S. 435 – gefordert, sondern zusammengesehen werden müssen, weil die eine auf die „äußere“, die andere dagegen auf die „innere Souveränität“ abzielt, betont – im Anschluß an F. Calasso, I Glossatori e la Teoria della Sovranità, S. 39 f. – Walther, Imperiales Königtum, S. 84 ff. Daß diese Formeln allerdings noch nicht auf die neuzeitliche Staatsomnipotenz zielten, betont zu Recht Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 61 ff., 72 ff., 79 ff. (bes. S. 83).

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ren nicht vorgesehen. Die weitverbreitete Vorstellung, man lebe im letzten der vier Danielsreiche und nur ein mächtiges Kaisertum könne den Ansturm des Antichrist und das Ende aller Tage aufhalten, zwang zum Festhalten an der alten Reichsidee. Die Theologen und Juristen sahen sich deshalb zur Revision ihrer Traditionsgrundlagen und der alten Glaubensgewißheiten gezwungen. Ferner hatte das Imperium noch immer mächtige und geistreiche Fürsprecher. Obgleich die Hoffnung auf eine vom Kaisertum gelenkte Universalmonarchie durch die immer wiederkehrenden deutschen Thronwirren und die Verselbständigung der Territorien und Städte schwere Blessuren erhalten hatte, blieb sie innerhalb des Reiches lebendig. Bedeutende Legisten, Dekretisten und Dekretalisten hielten an ihr fest. Da sich die anderen Könige, Fürsten und Städte jedoch zusehends der kaiserlichen Oberherrschaft entzogen, sahen sich die Theoretiker genötigt, die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu überbrücken und die theoretischen Widersprüche aufzulösen. Sie fanden die Lösung in der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, Faktizität und Geltung bzw. zwischen de facto und de jure.352 Zwar sei der französische König de facto selbständig, wie Innocenz III. in Per venerabilem festgestellt hatte, de jure unterstehe er aber selbstverständlich dem Kaiser, schrieb Johannes Teutonicus (ca. 1180–1252) in der einflußreichen Glossa ordinaria (ca. 1215–17) sowie in seinem Apparat zur Compilatio III (ca. 1215–20).353 In der Tradition Huguccios betonte Johannes die Gottunmittelbarkeit des universalen Kaisertums, während die englischen und spanischen Magister der Schule von Bologna heftig widersprachen. Da durch die Exemtion und Emanzipation der Königreiche die Idee der weltumspannenden Christianitas gefährdet war, suchten die bedeutendsten Theoretiker die Kluft zwischen dem überkommenen Einheitsideal der universalen Ekklesia und der faktischen Zersplitterung durch immer neue Hilfskonstruktionen zu überbrücken. Von Huguccio über Johannes Teutonicus bis hin zu Heinrich von Susa (Hostiensis) reicht die Reihe der Kanonisten, von Franciscus Accursius (Glossa ordinaria, ca. 1220–40), Cino da Pistoia (1270–1336) über Bartolus de Sassoferrato (1314–57) zu Baldus de Ubaldis (1327–1400) die der Glossatoren und Kommentatoren oder Postglossatoren, die durch die Unterscheidung von de jure und de facto die Einheit des Reiches und die Stellung des Kaisertums als Idee retten wollten, während sie von der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der westlichen Monarchien allesamt überzeugt waren. Noch nach dem Ende der Staufer hielt Heinrich von Susa, der Hostiensis, in seinem Dekretalen-Kommen352 Vgl. dazu etwa v. d. Heydte, Die Geburtsstunde, S. 36 ff.; Kienast, S. 295 ff., bes. S. 307 ff.; Kölmel, Regimen, S. 205 ff.; Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 205 f.; Walther, Imperiales Königtum, S. 65 ff. 353 Johannes Teutonicus, Glossa ordinaria ad c. 22, Dist. 63 s. v. per singulas und ad c. 12 Dist. 1 (Ius Quiritum) s. v. quod nulli (Turin 1620, col. 4 u. col. 322); ders., Apparatus ad Compilatio III c. 2 IV, 12 Per venerabilem s. v. recognoscat, „De iure tamen subest romano imperatori“. Zit. nach Walther, S. 71, Anm. 17 f. und Kienast, S. 307.

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tar (1255) am Reichsuniversalismus und am Gewaltendualismus fest, mußte aber konstatieren, daß die Könige von Frankreich, England und Spanien de facto unabhängig waren.354 „Dieses Lavieren zwischen traditioneller Einheitsideologie und einer notgedrungenen Anerkennung staatlicher Vielfalt bestimmt auch die politische Theorie des Papsttums für den Rest des 13. Jahrhunderts und noch bis ins 15. Jahrhundert“ (Walther 1976, S. 77 f.). Der Streit zwischen Dualisten und Hierokraten dauerte folglich an und wurde verschärft durch den zwischen Universalisten und Pluralisten, wobei sich die Fronten merklich überlappten. Anhänger des Universalismus mußten nicht zwangsläufig Gegner des werdenden Staates sein, während die zentrifugalen Kräfte zum Bollwerk gegen die Machtkonzentration werden konnten. Die Protagonisten des imperialen Universalismus gerieten aber zusehends in die Defensive und wurden zu immer neuen Formelkompromissen genötigt, um die Kluft zwischen Wunsch (ein einig Reich der ganzen Christenheit) und Wirklichkeit (Vielzahl sich formierender Staaten) zu überbrücken. Doch bewies die Faktizität allmählich ihre normative Kraft. Im Unterschied zu den Befürwortern der universalen Reichsidee, die zur Rücksichtnahme auf bzw. zur Akkomodation an die politische Wirklichkeit gezwungen waren, konnten ihre Widersacher in die Offensive gehen und ihre Vorstellungen durch Rekurs auf die Empirie untermauern. Vor allem die bereits erwähnten englischen und spanischen Kanonisten unternahmen in der Folge grundsätzliche Attacken gegen den Imperialismus.355 Wie einst schon sein Landsmann Johannes von Salisbury (s. o., S. 427 ff.) so vertrat auch Ricardus Anglicus gegen Ende des 12. Jahrhunderts die Ansicht, die Oberherrschaft des Kaisers beruhe nicht auf einem Recht, sondern auf Gewalt. Sie kann folglich von den anderen Herrschern ohne Skrupel abgelehnt und abgeworfen werden, sobald ihre reale Macht es erlaubt. Beide, Königsund Kaisergewalt, stammen vom Volk, nicht vom Papst, und besitzen durch die Salbung die gleiche Würde.356 Alanus Anglicus war Verfechter der innerkirchlichen Hierarchie, aber zugleich des weltlichen „Pluralismus“ und der Gewaltenteilung unter den Königen. Er kannte um 1210 die Differenz zwischen de jure und de facto bereits nicht mehr. Da der Papst in Per venerabilem die divisio regnorum gebilligt hatte, dehnte der Dekretalist die Formel superiorem in temporalibus non recognoscens auf alle anderen Herrscher aus. Jeder König

354 Henrici de Segusio Cardinalis Hostiensis, Commentaria in quinque libros Decretalium ad c. 13 X IV, 17 (Venedig 1581, f. 38 vb, n. 16 f.; f. 39 rb n. 21 f.). Zitiert nach Walther, S. 77, Anm. 31 f. Vgl. auch Kienast, S. 315. 355 Vgl. zum folgenden bes. Walther, S. 71 ff. (mit den einschlägigen Quellennachund Literaturhinweisen). Ferner Kienast, S. 354 ff.; v. d. Heydte, S. 41 ff. 356 Ricardus Anglicus, Apparatus ad Compilatio I c. 7 IV, 18. Zitiert bei Walther, S. 71 und Kienast, S. 431.

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habe so viel Recht in seinem Reich wie der römische Kaiser in seinem Imperium.357 Ebenso wie ihre englischen Gegner lehnten auch die spanischen Kanonisten des 13. Jahrhunderts die Suzeränität des Kaisers ab. Laurentius Hispanus (y 1248) vertrat zwar hinsichtlich des Verhältnisses von Imperium und Sacerdotium eine kaiserfreundliche „dualistische“ Auffassung, insistierte aber auf der Exemtion Frankreichs und Spaniens, da dort das römische Recht keine Geltung habe.358 Dem Dualismus zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt entsprach somit auch hier ein Pluralismus in temporalibus. Für Vincentius Hispanus hingegen sind die Spanier gar an die Stelle der Deutschen getreten. Sie realisieren zwar kein universales, aber ein „nationales“ Kaiserreich.359 Vincentius reaktivierte die antikarolingischen Vorbehalte der Spanier des 9. Jahrhunderts und erinnerte daran, daß die Spanier Karl dem Großen den Zugang zu ihrem Land seinerzeit siegreich versperrten. Außerdem rief er ins Gedächtnis, daß sie Hilfe gegen die Mauren beim französischen Adel und beim Papst, aber nicht bei den Kaisern gesucht und gefunden hatten.360 Gegen die Kompromißformel des Johannes Teutonicus wandte sich schließlich Papst Innocenz IV. (1243–54), der festlegte, der König von Frankreich sei nicht nur de facto, sondern auch de jure vom Reich unabhängig und nur dem Papst unterworfen.361 Auch in Frankreich mehrten sich die antiimperialen Stimmen. Bereits vor den genannten Juristen (Jean de Blanot, Gulielmus Durandus) hatten die Geschichtsschreiber der Zeit Philipps II. Augustus (1179/80–1223) den Boden für das sich verbreitende Unabhängigkeitsbewußtsein bereitet.362 Rigord, Guilelmus Brito, Aegidius von Paris, Helinand von Froidmont und Vincenz von Beauvais verherrlichten den französischen König als rex christianissimus (S. 74 f.), beschworen das politische Karlsideal (S. 75 f.) und die Idee der „fränkischen Freiheit“ (S. 76 f.). Das Frankenreich sollte auf den Stand gebracht werden, den es zu Zeiten Karls des Großen erreicht hatte. Der französische König sollte nach Aegidius von Paris seinen Defensor-Vorrang behaupten. Die Schlacht von Bouvines wurde von Guilelmus Brito als Wiederholung des Sieges über die Sachsen interpretiert (S. 75). Philipp sollte alle Länder zurückerobern, die ihm nach dem ius patrum 357 Alanus Anglicus, Apparatus ad Compilatio I c. 7 II, 20. Zitiert bei Walther, S. 71 und Kienast. S. 453 ff., bes. S. 456. 358 Laurentius Hispanus, Glossa Palatina ad c. 8 c. XII. Zitiert bei Walther, S. 73. 359 Vincentius Hispanus, Apparatus ad Compilatio I c. 34 X I, 6 sowie zu Compilatio III, IV, 12, 2 ad v. recognoscat. Zitiert bei Walther, S. 73 f. und Kienast, S. 461. 360 Vgl. dazu H. Löwe, Kaisertum und Abendland, S. 252 f. 361 Vgl. Sinibaldus Fliscus, Commentaria super quinque libros Decretalium. Frankfurt 1570, f.481: „De facto, nam de iure subest imperatori Romano, ut quidam dicunt; nos contra. Imo papae.“ Zitiert nach Walther, S. 68, Anm. 12. Vgl. Kienast, S. 464. 362 Vgl. zum folgenden Berges, Die Fürstenspiegel, S. 72 ff., 295 ff.; Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 188 ff. Seitenzahlen in den nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf das Werk von Berges.

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zustehen. Das Imperium Romanum der Deutschen wurde nicht als Fortsetzer des Karolingerreiches betrachtet, sondern als „Empire = en pire“ verspottet (S. 76). Die Franzosen begriffen sich als Nachfahren der Trojaner, die ihre Freiheit gegen das Imperium und gegen jedermann immer behauptet haben, die daher als „das schlechthin freie Volk“ anzusehen sind (S. 77). Dieses „nationale“ Selbstbewußtsein blieb erhalten und schlug sich nieder in den Fürstenspiegeln der Zeit Ludwigs IX. des Heiligen (1226–70), die das Ideal einer monarchischen Ordnung entwarfen und dabei zu einer radikalen Gesellschaftskritik geführt wurden und zu konkreten Vorschlägen für die vom König erstrebte politische Reform in Frankreich gelangten. Der von Ludwig dem Heiligen beauftragte Dominikaner Vincenz von Beauvais (y 1264), der im Speculum maius die größte Wissenssammlung des 13. Jahrhunderts zusammentrug, versuchte im dritten Teil, dem Speculum historiale, eine Weltchronik vom Beginn der Geschichte bis zum Jahr 1250, um den Fürsten, Rittern, Ratgebern, Beamten, Baillis, Prälaten und allen weiteren Politikern am Hof und in der Provinz ihren sozialen und politischen Ort im Gemeinwesen zuzuweisen und eine ihrem Stand und dem christlichen Glauben gemäße Verhaltens- und Pflichtenlehre zu vermitteln, damit sie wissen, „was ihrem Leben ziemlich und ihrem Seelenheil förderlich ist“.363 Dabei wurde der Gedanke der allgemeinen Rechtsgleichheit entwikkelt und das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe ins Gedächtnis gerufen, das in der Welt des Feudalismus gänzlich in Vergessenheit geraten war. Vincenz forderte „(a)bsolute Rechtsgleichheit aller, moralische Gleichwertung des ,kleinen Mannes‘ im öffentlichen Leben, den Vorrang der sittlichen Leistung vor Vermögen und Herkunft, weitmögliche Annullierung unbegründeter Privilegien, ausgedehnte Armenfürsorge usw. . . . Beseitigt werden soll weniger die faktische Ungleichheit der Menschen als vielmehr der Geist, der über den Unterschieden der Geburt, des Vermögens und der Stände die gemeinsame Aufgabe aller vergißt“ (S. 80; cf. S. 192 ff.). Nicht weniger radikal war die Kritik der bestehenden feudalistischen Gesellschaftsordnung in dem von Gilbert von Tournai für Ludwig den Heiligen verfaßten Fürstenspiegel Eruditio regum (1259), der die Menschwerdung des Königsideals und eine Pflichtenethik für alle Stände entfaltete.364 „Kein Wort“, schreibt 363 Vgl. Berges, Fürstenspiegel, S. 80 ff., 185 ff., 303 ff.; Miethke, Politische Theorien im Mittelalter, S. 76 f. 364 Vgl. Berges, Fürstenspiegel, S. 80 f., 150 ff. Berges faßt die Essenz der Lehren Gilberts, Vincenz’ und Pseudothomas’ und damit die politik-theoretischen Entwicklungen im Frankreich Ludwigs des Heiligen wie folgt zusammen: „Die Pariser Fürstenspiegelkompendien zwingen in ein System, was 1250–60 an politisch-ethischen Traditionen lebendig war in Frankreich. In diesem System treffen sich germanische und christliche Elemente, der Treugedanke wie der Amtsbegriff, das Fürstenideal des Rechtswahrers wie die Gottesgnadentumlehre, das Postulat des ,consensus populi‘ wie die hierarchische Theorie; in ihm lebt Geist vom Geiste des Bernhard Silvester, Wilhelm von Conches, Johann von Salisbury, Helinands, der Geschichtsschreiber Philipps Augusts, aber

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Berges, „ist Gilbert scharf genug, um die wirtschaftliche, rechtliche, moralische Degradierung der breiten Volksmassen zu schildern, die der Feudalismus heraufgeführt hat, und die Verantwortlichen anzuprangern: volksfremde Staatslenker, dreiste Vertreter der privilegierten Kaste, eigennützige, herablassend-selbstherrliche Feudalprälaten“ (S. 80). Gegen die Korruption und die Ausschweifung der oberen Stände setzte Gilbert das franziskanische Armuts- und Askeseideal (S. 152 ff.), eine mystische Theologie und die vom Pseudo-Dionysius Areopagita365 übernommene, auf die französischen Verhältnisse adaptierte Hierarchienlehre (S. 154 ff.), eine Offizien- und eine politische Heilslehre (S. 156 ff.) sowie konkrete Reformvorschläge der politischen Ordnung, die sich an den Prinzipien der Liebe und der Gerechtigkeit orientierten und vor allem die Beseitigung des Ämterkaufs postulierten (S. 158 f.). Interessant an diesen Konzeptionen ist im hier verfolgten Zusammenhang, daß dem Kaisertum – wie schon bei Johannes von Salisbury – keine Rolle mehr bei der Verwirklichung des göttlichen Heilsplans und der irdischen Gerechtigkeit zugeschrieben wird. Nicht der Kaiser, sondern der französische König erscheint als Stellvertreter und Abbild Gottes auf Erden, der im Verbund mit dem Apostolischen Stuhl und im Zusammenwirken mit seinen Untertanen die von Gott gewollte Ordnung realisiert. Die hierarchische Gliederung der erstrebten Gesellschaft entspricht der himmlischen und natürlichen Hierarchie.366 An ihrer Spitze steht der König, der mit Hilfe seiner Räte und Beamten seine Untertanen nach den Prinzipien der christlichen Sozialethik regiert und so in seinem Reich die himmlische Ordnung der Kirche reproduziert. Die Übertragung der kirchlichen Hierarchie auf die weltliche Ordnung bei Vincenz und Gilbert konnte sich auf ein früheres Vorbild stützten, das aber von ihnen selbständig weiterentwickelt wurde. Schon in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts hatte Wilhelm von Auvergne (y 1249) im Engelsstaat die französische Monarchie als Pendant und Ebenbild der himmlischen Ordnung konstruiert und in der Tradition des Augustinismus367 die alte Ständelehre in die Hierarchie-Lehre des Pseudo-Areopagiten eingefügt.368 In neuplatonischer Manier erschien die irdische und damit die poliauch Bernhards von Clairvaux und Hugos von St. Viktor. Dazu ein reicher Schatz an antiken Sentenzen und Zitaten aus den Vätern! . . . Der Spiritualismus der Bettelmönche, der sich jetzt den Problemen der Zeit gestellt hat und praktisch an der Formung des neuen Menschen arbeitet, hat wenig von der Rücksichtslosigkeit seiner religiös-ethischen Forderungen eingebüßt.“ (S. 80) 365 Zum Pseudo-Dionysius Areopagita vgl. etwa W. L. Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike, S. 318 ff. (weitere Literatur: S. 465 f.); K. Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 133 ff.; ders., Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 74 ff.; R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 116 ff.; Ueberweg, Grundriß II, S. 126 ff. 366 Zur Hierarchienlehre und ihren Wandlungen vgl. Berges, Fürstenspiegel, S. 52 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 79 ff.; Ullmann, Principles of Government. 367 Zur Wirkungsgeschichte Augustins vgl. G. Leff, Augustinismus im Mittelalter. 368 Vgl. dazu auch v. d. Heydte, Die Geburtsstunde, S. 49 ff.; Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 190.

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tische Welt als getrübtes Abbild der göttlichen Ordnung. Während in der kirchlichen Hierarchie die mit dem Papst kooperierenden Kardinäle den obersten und die einfachen Bischöfe den untersten Rang einnehmen, vertreten in der weltlichen die nobiles und milites ihre Stelle. Damit wird, wie Wilhelm Berges (S. 55) betont, die französische Gesellschaft zum Spiegelbild der göttlichen Hierarchie. Obgleich nämlich dem hierarchischen Gedanken prinzipiell der Universalismus entspricht, sind die Stände der hierarchia ecclesiastica bei Wilhelm vornehmlich „französische Stände“. Das Streben der französischen Monarchie nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit erreichte seinen Höhepunkt in der Zeit Philipps des Schönen (1285– 1314), in der sich die königliche Gewalt nicht nur vom Kaisertum, sondern auch noch aus der Umklammerung durch die vom Papst repräsentierte geistliche Gewalt befreite. Dieser letzte Akt der Emanzipation wird weiter unten betrachtet (s. u. S. 504 f., 525 ff.). Neben England, Spanien und Frankreich behaupteten auch andere Königreiche ihren Anspruch auf Autonomie. In Sizilien insistierten nach dem Ende der Staufer Marinus de Caramanico (Glosse zu Friedrichs II. Liber constitutum regni siciliae, 1270/80), Andreas von Isernia (ca. 1220–1316) und Bartholomäus von Capua (1248–1328) auf der Exemtion vom Reich.369 Bartolus von Sassoferrato (1314–57) und sein Schüler Baldus de Ubaldis (1327– 1400) übertrugen schließlich die Formel von der Unabhängigkeit der Königreiche und Fürstentümer vom Reich auf die lombardischen Städte, die ihrerseits keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkannten und sich selbst als „Fürsten“ sahen (civitas sibi princeps).370 „So schmolz unter den Juristen die Zahl derer, die noch an eine kaiserliche Universalmonarchie glaubten, immer mehr zusammen“, resümiert Walther Kienast (S. 475). Schon vor dem Ende der Staufer scheint die Idee des Heiligen Römischen Reiches fast nur noch ein Anliegen der Deutschen gewesen zu sein. Sie war folglich zu einer „deutschen Ideologie“ geworden, die in der politischen Realität kaum noch Anhaltspunkte fand, die aber das Denken und Wünschen der Deutschen auch in der Folgezeit um so nachhaltiger bestimmte.371 Die Fronten in den kanonistischen und legistischen Debatten waren somit klar. Es gab nur die genannten Alternativen und eine Vielzahl divergierender Begründungs- und Vermittlungsversuche zwischen ihnen. Durch die Berufung auf das 369 Vgl. Walther, S. 92 ff. Zu Marinus da Caramanico ferner F. Calasso, Medio evo del Diritto I, S. 549 ff.; ders., I Glossatori e la Teoria della Sovranità, S. 125 ff., 181 ff.; Kienast, S. 473 ff. 370 Vgl. auch G. Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee, S. 338 ff. Zu Bartolus von Sassoferrato und Baldus de Ubaldis siehe auch unten, S. 554 ff. Nachweise zur immer wiederkehrenden Formel civitas sibi princeps im Digestenkommentar des Bartolus bei Walther, S. 178, Anm. 233. 371 Dies betont zu Recht und mit Nachdruck Moraw, Von offener Verfassung, S. 149 ff. Vgl. auch Schubert, König und Reich, S. 207 ff.

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Corpus Juris Civilis bzw. Canonici ließen sich letztlich die widersprüchlichsten Vorstellungen und Optionen legitimieren. Das römische wie das kanonische Recht bildete folglich eine „neutrale“ Basis, von der aus alles und jedes gerechtfertigt werden konnte. Dadurch war es aber für die tatsächliche Konfliktlösung unbrauchbar geworden. Es wurde selbst in den Streit der Faktionen hineingezogen und verlor dadurch seine synthetisierende Kraft und die Fähigkeit, die Vision einer künftigen Welt zu erschließen. Wie schon die Theologie, so neigte auch die Jurisprudenz seinerzeit – wie stets – zum Dogmatismus. Das endlose Zitieren und Kommentieren der alten Autoritäten brachte das politische Ordnungsdenken nicht voran. Die Sterilität der juristischen Kontroversen konnte das philosophische Denken auf die Dauer nicht befriedigen. Es suchte sich neue Medien und Ausdrucksformen und erhielt durch die in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzende Aristoteles-Rezeption neue Impulse, um sich dem Klammergriff der beiden Schwestern Theologie und Jurisprudenz zu entziehen. Beide profitierten selbst von diesem Durchbruch und erlebten ihrerseits einen ungeahnten Aufschwung durch die neue Philosophie, die das christliche Weltbild insgesamt ins Wanken brachte. Bevor die dadurch entfachten philosophischen Kontroversen rekapituliert werden können, die im Universalienstreit und im Streit um den lateinischen Averroismus kulminierten, muß aber der Prozeß der inneren Konsolidierung der westlichen Monarchien in groben Strichen nachgezeichnet werden.

bb) Auf dem Weg zur inneren Souveränität .Die Verselbständigung der westlichen Monarchien gegenüber Kaiser- und Papsttum wurde begleitet bzw. beschleunigt durch die Konzentration und Zentralisation der Macht in ihrem Inneren. Den ersten und entscheidenden Anstoß dazu hatte der hochmittelalterliche Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium gegeben, der sich mit dem zwischen universalistischen und partikularistischen Kräften verband. Deshalb muß noch einmal auf die dadurch in Gang gebrachten Entwicklungen zurückgeblickt werden. Wie bereits oben (S. 412 ff.) festgestellt wurde, hatte der Kampf zwischen Kaiser- und Papsttum in der Zeit des Investiturstreits für die einzelnen Länder unterschiedliche Konsequenzen: In Deutschland und Italien begünstigte er die zentrifugalen Kräfte, während sich in England, Frankreich und Sizilien die Monarchie festigen und gegen die partikularistischen Bestrebungen des Hochadels behaupten konnte. Auf der Iberischen Halbinsel hingegen förderte er die Tendenz zur politischen Aufsplitterung. Diese gegenläufigen Entwicklungen müssen nun retrospektiv ein wenig genauer betrachtet werden, um neben den Gemeinsamkeiten auch die Divergenzen in der Genealogie des europäischen Staatensystems erfassen zu können. Entscheidende Triebkräfte der Verselbständigung der westlichen Monarchien und damit der Staatenbildung waren die Normannen gewesen, die in Sizilien, England und der Normandie die Grundlagen für die Ausbildung einer straff zentralisierten und bürokratisch orga-

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nisierten Gewalt gelegt hatten (s. o., S. 429). Ihre Gründungsleistungen sollen in einem Rückblick zuerst gewürdigt werden. Wie schon Hegel bemerkte, lassen sich – hinsichtlich der Erlangung von „Souveränität nach innen“ – idealtypisch drei Formen der Staatsbildung unterscheiden: 1. der Lehnsherr wird „Meister über seine unabhängigen Vasallen, indem er ihre partikulare Gewalt unterdrückt und sich zum einzigen Gewalthaber erhebt“; 2. die Fürsten machen sich frei vom Lehensverhältnis und werden Landesherrn über eigene Staaten; 3. der oberste Lehnsherr vereinigt auf mehr friedliche Weise die besonderen Herrschaften mit seiner eigenen und wird so „Herrscher über das Ganze“.372 Den ersten Weg gingen Sizilien, England und Frankreich, den zweite Deutschland und Italien. Die dritte Möglichkeit wurde von einzelnen Dynasten vor allem durch geschickte Heirats- und Hausmachtpolitik realisiert. Während in Deutschland und Italien die Lehenspyramide umgestülpt und die einstigen Vasallen des Kaisers zu selbständigen Fürsten wurden, gelang es den westlichen Königen, die Feudalgewalten zu unterwerfen, sich selbst als oberste bzw. alleinige Gewalthaber zu inthronisieren und alle Macht in ihren Händen zu konzentrieren. Betrachten wir die wichtigsten Stationen in diesen drei Ländern gesondert. (1) Sizilien Der erste Schritt und entscheidende Durchbruch in Richtung Staatlichkeit gelang im normannisch-staufischen Sizilien, das deshalb Vorbildcharakter erlangte und als „Modellstaat“ apostrophiert werden konnte. Während Friedrich II. als Kaiser mit seiner Imperiumspolitik letztlich scheiterte, war er als König von Sizilien recht erfolgreich. Er, der als Kaiser seine Gesetze in seinem Königreich veröffentlichte, war „tatsächlich der einzige Monarch im 13. Jahrhundert, der in Übereinstimmung mit der neuen Maxime Rex est imperator in regno suo oder ihren Entsprechungen handelte“.373 Mußte er im Reich die Macht mit den weltlichen und geistlichen Fürsten und vor allem mit den Päpsten teilen und ausbalancieren, so konnte er sich in seinem Königreich als unumschränkter und absoluter Herrscher etablieren, der keine Rücksicht auf andere Gewalten zu nehmen brauchte.374 Er konnte dabei an die Vorgaben seiner normannischen Vorfahren anknüpfen und den Herrschafts- und Verwaltungsapparat systematisch ausbauen, 372 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 479. Zwar benutzt Hegel den von Max Weber geprägten Begriff des „Idealtypus“ noch nicht, doch hat er die damit bezeichnete Sache klar erfaßt: „Die geschichtlichen Übergänge sind zwar nicht immer so rein, wie sie hier vorgestellt worden sind, oft kommen mehrere zugleich vor; aber der eine oder der andere bildet immer das Überwiegende“ (ebd.). 373 E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 115, Anm. 25. 374 Vgl. aus der jüngeren Literatur bes. E. Rösch/G. Rösch, Kaiser Friedrich II.

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den sein Großvater mütterlicherseits, König Roger II. (1105–1154), durch Übernahme und Einbindung der alten sowie durch die Einführung neuer Institutionen (Kanzlei, Schatzamt, königlicher Gerichtshof aus Berufsjuristen usw.) geschaffen hatte.375 Die Einwanderung normannischer Ritter nach Italien hatte in den ersten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts begonnen.376 Darunter waren elf Söhne eines kleinen normannischen Freiherrn namens Tancred de Hauteville, die in den 1050er Jahren große Teile Süditaliens unterwarfen und einen Angriff auf Sizilien vorbereiteten. 1053 wollte Papst Leo IX., der selbst ein Auge auf Süditalien geworfen hatte, die Eroberer und Plünderer mit Hilfe schwäbischer, lombardischer und anderer Söldner unterwerfen, doch wurden die päpstlichen Truppen bei Civitate östlich von Neapel vernichtet. Daraufhin änderten die Päpste ihren Kurs. Sie versuchten nun, die Normannen als Bündnispartner im bevorstehenden Kampf mit dem Kaisertum zu gewinnen. Auf der Synode von Melfi (1059) akzeptierte Papst Nikolaus II. Robert Guiscard (y 1085), den Sohn Tancreds, als Herzog von Apulien und Kalabrien und machte ihn und seinen Bruder Richard zu seinen Vasallen. Diese anerkannten die päpstliche Lehenshoheit und schworen dem Papst Treue und den Schutz seines Amtes und seiner Person. Robert Guiscard gab seinem jüngeren Bruder Roger Hauteville den größten Teil des Reiches als Lehen. Beide realisierten ein cäsaropapistisches Regiment und bemühten sich, diejenige Rolle zu spielen, die der Normannische Anonymus um 1100 dem idealen König zuschrieb: „Stellvertreter Christi auf Erden, höchster Priester und höchster Herrscher, von Gott mit unbegrenzter sakraler wie politischer Autorität ausgestattet“ (Berman, S. 635). In der Folgezeit (1060–1091) wurde Sizilien den Arabern abgenommen. 1130 erfolgte die Vereinigung Siziliens mit Apulien und Kalabrien unter Roger II., der darauf vom Gegenpapst Anaklet II. und 1139 von Papst Innocenz II. als König anerkannt wurde. Roger II. war, wie Antonio Marongiú und Harold J. Berman betonen,377 der erste Herrscher, der nicht nur oberster Richter sein und Gerechtigkeit verwirklichen, sondern zugleich und vor allem Gesetzgeber sein wollte, der den Primat der Legislative als von Gott verliehene oberste Gewalt betrachtete. Waren die mittelalterlichen Könige bislang „Richter-“ und/oder „Priesterkönige“ gewesen, deren Aufgabe es war, das in der göttlichen Weltordnung verankerte Recht zu bewahren und gegen Mißbrauch zu schützen, so verstand sich 375 Vgl. A. Marongiù, Ein „Modellstaat“; R. Elze, Zum Königtum Rogers II.; Mitteis, Der Staat, S. 279 ff.; Berman, Recht und Revolution, S. 641 ff. 376 Vgl. zum folgenden Berman, S. 634 ff. Dieser folgt seinerseits C. Cahen, Le régime féodal de l’Italie normande; F. Chalandon, Histoire de la domination normande en Italie et en Sicile; D. C. Douglas, The Norman Achievement; Mitteis, Der Staat, bes. S. 279 ff.; O. Prescott, Lords of Italy. 377 Vgl. zum folgenden Marongiù, Ein „Modellstaat“, S. 327 ff.; Berman, S. 627 ff., 641 ff.

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die normannische und staufische Monarchie anders. Sie kannte weder ein höhergestelltes Oberhaupt (Kaiser, Papst) noch verfassungsmäßige Grenzen noch Kompromisse mit den Untertanen. Roger stellte sich mit dem Kaiser auf eine Stufe und schaltete jede Einmischung des Papstes aus. Er war der erste der großen gesetzgebenden Könige des 12. Jahrhunderts, dem so gewichtige Gestalten wie Heinrich II. Plantagenet (1154–1189), Philipp II. Augustus (1180–1223), Friedrich Barbarossa u. a. nachfolgten. Er war zugleich der Schöpfer des Staates als eines „Kunstwerks“ (Jacob Burckhardt), das sich nicht auf Personen, sondern auf Institutionen und eine Beamtenhierarchie stützte. Die Prinzipien seiner Herrschaft legte Roger II. in den Assisen von Ariano (1140) fest.378 Nach H. J. Berman handelt es sich dabei um „den ersten modernen Kodex des Königsrechts in der Geschichte des Westens“ (S. 648). Seine „Modernität“ liege darin, daß er nicht bloß eine Sammlung von Vorschriften und Grundsätzen sein wollte, sondern eine als positives Recht verkündete systematische Darstellung der Grundzüge des geltenden Straf- und Verwaltungsrechts (ebd.). „Es stützte sich natürlich auf das Gewohnheitsrecht, das Naturrecht und das göttliche Recht, und es vereinigte verschiedenartige Züge der byzantinischen, moslemischen, langobardischen und römisch-kanonischen Rechtstradition, aber es goß diese Quellen in die Form einer neuen und umfassenden Gesetzgebung“ (S. 649). In seinen 44 Einzelbestimmungen spiegelte es die monarchische Machtkonzentration, die Steigerung der königlichen Majestät und die damit verknüpfte Entmachtung des geistlichen und weltlichen Adels. „Die Gesetze Rogers II. erklärten deutlich die königliche Oberhoheit über die Kirche, den Feudaladel, die Städte und das ganze Volk. Für die Verfolgung von Ketzern war die Monarchie selbst zuständig und nicht Ausführungsorgan einer kirchlichen Entscheidung. Die Zuständigkeit der Feudalgerichte wurde durch den König stark eingeschränkt. Es gab keine freie Stadt, alle Stadtoberen wurden vom König ernannt. Die ganze Bevölkerung war der königlichen Autorität unmittelbar unterworfen, und strafbarer Verrat (laesio maiestatis) war auch schon die Konspiration gegen seine führenden Leute“ (S. 651). Die Assisen enthalten insgesamt gesehen „ein grausames Strafrecht, ein gnädiges Klerikerrecht und ein die Majestät des Königs spiegelndes Beamtenrecht“. 379 Im Gegensatz zu England und den anderen europäischen Ländern waren die normannischen Könige Siziliens nicht dem Recht unterworfen (vgl. Berman, 378 Der Text der Assisen (nach Francesco Brandileone) findet sich im Anhang der Dissertation von M. Hofmann, Die Stellung des Königs von Sizilien. Vgl. dazu auch Berman, S. 647 ff.; E. Caspar, Roger II., bes. S. 237 ff.; H. Jakobs, Kirchenreform, S. 38 f., 145 f., 161 (weitere Literatur: S. 215 f.). Seitenzahlen in den nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf das Werk von Berman. 379 C. U. Schminck, Crimen laesae maiestatis. Zitiert nach H. Jakobs, Kirchenreform, S. 161. Zur Genese des mittelalterlichen Schuld- und Strafverständnisses vgl. auch W. Schild, Alte Gerichtsbarkeit.

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S. 644). Sie galten als Autokraten, ja als Tyrannen, die über dem Gesetz standen und selbst Quelle des geltenden Rechts waren. Dennoch blieb ihre Herrschaftspraxis von absolutistischer Souveränität und neuzeitlicher Staatsomnipotenz noch weit entfernt. Allen cäsaropapistischen Neigungen zum Trotz, dachten die normannischen Könige nicht daran, das überkommene Recht außer Kraft zu setzen. Sie überhöhten nur die Stellung des Königs und seine gesetzgeberischen Befugnisse. Seine Macht blieb bei aller Herrlichkeit und Erhabenheit durch die der anderen gesellschaftlichen Kräfte beschränkt. Darauf hat Berman mit Nachdruck hingewiesen: „Die normannischen Könige bestritten bei all ihrem Cäsaropapismus jedenfalls nicht die Oberhoheit des Papstes in geistlichen Dingen“ (S. 652). „Neben den juristischen Beschränkungen der königlichen Macht und Autorität durch die duale Jurisdiktion der kirchlichen und weltlichen Gerichte gab es für sie auch Beschränkungen innerhalb der weltlichen Sphäre durch die duale Jurisdiktion der königlichen und der Feudalgerichte. Der König schränkte die feudale Gerichtsbarkeit stark ein . . . Doch für leichtere Vergehen und viele Zivilsachen hatte jeder Feudalherr sein eigenes Gericht, an dem seine Bauern Richter waren. Das bedeutet, daß ein großer Teil der lokalen Regierungsgewalt – außerhalb der Städte – in den Händen der Feudalherren lag, die sie hauptsächlich durch das Gutsrecht ausübten“ (ebd.). „Außerdem wurden die Beziehungen zwischen Feudalherren und Vasallen durch das Feudalrecht geregelt, was den königlichen Absolutismus ebenfalls ein Stück weit einschränkte“ (ebd.).

Trotz dieser Einschränkungen war mit der in den Assisen fixierten Herrschaftspraxis ein entscheidender Schritt in Richtung Macht- und Gewaltkonzentration getan. Die Entstehung des Staates spiegelt sich auch in den von den Normannen geschaffenen Institutionen. Sie übernahmen bestehende Einrichtungen und ergänzten sie durch neue Ämter: Kanzlei, Schatzamt, königlicher Gerichtshof aus Berufsjuristen (vgl. Berman, S. 642 f.). Ferner wurden königliche „baiuli“ eingeführt, Exekutivbeamte der Krone, die zunächst spezifische Aufträge zugewiesen erhielten, später aber allgemeinere exekutive und quasi-richterliche Funktionen in Dauerstellungen ausübten (S. 643). „Die rechtsprechende Gewalt des Königs wurde unmittelbar von seinem ,großen Gerichtshof‘ (magna curia) ausgeübt, der aus dem König, seinen wichtigsten Hofbeamten und verschiedenen weltlichen und kirchlichen Würdenträgern bestand“ (S. 653). „Durch solche wohldurchdachten Regierungsinstitutionen stärkten die normannischen Könige von Sizilien ihre Verbindung mit dem ganzen Volk und ihre Kontrolle über die feudale und städtische Aristokratie. Der König war nicht bloß höchster Lehensherr der nächsthöheren Hauptvasallen, sondern regierte das ganze Volk in seinem Reiche unmittelbar“ (S. 643). Auf diesen Grundlagen konnte Friedrich II. weiterbauen. Da er im Unterschied zu seinem Vater Heinrich VI. dem Papst versprochen hatte, Sizilien nicht mit dem Reich zu vereinen, brauchte er hier auf die Lage dort keine Rücksicht zu nehmen. Er konnte nach eigenem Gutdünken schalten und walten. Wie sein Großvater verstand sich Friedrich nicht nur als oberster Richter, sondern auch

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und vor allem als Gesetzgeber, der nicht nur geltendes Recht anzuwenden, sondern neues Recht zu schaffen hatte. Er erweiterte in den Konstitutionen von Melfi (1231), dem sog. Liber Augustalis,380 durch eine Synthese von Altem und Neuem die Bestimmungen, die Roger II. in den Assisen von Ariano festgehalten hatte. Er stilisierte sich selbst zum Stellvertreter Gottes und entwickelte einen neuartigen „Kult der Justitia“, der zum Sinn und Zweck des werdenden Staates wurde. Der römische Kaiser sah sich als Vater und Sohn der Gerechtigkeit und fühlte sich dadurch zugleich größer und kleiner als er selbst (pater et filius iustitia, maior et minor se ipso). Er inszenierte seinen Staat in Adaption der kirchlich-theologischen Lehre als corpus rei publicae mysticum.381 Schon in seinem frühen Werk über den letzten Stauferkaiser hat Ernst Kantorowicz den revolutionären Charakter der neuartigen Gesetzgebung betont und die Kluft zwischen traditioneller mittelalterlicher und hier beginnender „neuzeitlicher“ Regierungstechnik und Gesetzgebungspraxis verdeutlicht.382 Schon immer waren Friede und Gerechtigkeit die zentralen politischen Leitideen gewesen, auf die hin alle politiktheologischen Spekulationen zielten. Sie bildeten den transzendenten Maßstab, an dem die Realpolitik gemessen wurde. Nun aber avancierte der König zum Ursprung und Repräsentanten derselben. Sein Staat wurde nicht als Resultat des Sündenfalls und Zuchtrute Gottes legitimiert, er erschien vielmehr selbst als Hort des Friedens und als Verkörperung des Rechts, das vom Regenten nach Befragung der Vernunft in freier Entscheidung erlassen wurde. Der König von Sizilien war folglich nicht bloß Exekutor des vorgegebenen göttlichen oder natürlichen Gesetzes, sondern zugleich und vor allem göttlicher Gesetzgeber (divinus legislator). Dadurch wurde das frühere Verständnis umgekehrt, das Kantorowicz wie folgt charakterisiert: „Auf die Justitia hin war alles Regieren gerichtet: sie war der Selbstzweck, war als Gottesgeschenk ein Absolutes, und dem aus dem Sündenfall hervorgegangenen Erdenstaat erwuchs als einzige Aufgabe, dies Absolute zu wahren. Dadurch unterschied sich das mittelalterliche Gemeinwesen von jenem der Neuzeit: die Justitia diente keineswegs zur Erhaltung des Staates, sondern der Staat war um der Justitia willen da“ (S. 207). Doch nun wurde der Kaiser „zum Quell der Justitia im Staate“ (S. 211). „Gott, der Kaiser als Strahlung, als Sohn Gottes, und die Justitia: das war die neue weltliche Trinität, die im Staate Friedrichs II. unbeschadet der Kirche Gültigkeit hatte und die sich lebendig darstellte im Kaiser, dem ,beseelten Gesetze auf Erden‘. Auf 380 Vgl. H. Conrad u. a. (Hg.), Die Konstitutionen Friedrichs II.; H. Dilcher, Die sizilische Gesetzgebung Friedrichs II.; Berman, S. 655 ff.; A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 285 ff.; Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 206 ff.; H. Mitteis, Der Staat, S. 362 ff. 381 Vgl. Kantorowicz, Die zwei Körper, S. 115 ff.; H. Hattenhauer, Pax et iustitia, S. 39 ff.; J. Schatz, Imperium, Pax et Iustitia, S. 188 ff.; W. Stürner, Rerum necessitas und divina provisio. 382 Vgl. zum folgenden Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 203 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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dem Kult dieser Dreieinheit gründete der ganze juristische Beamtenstaat Friedrichs II.“ (S. 212). Herrscher und Staat sind „nicht nur Zuchtrute für die sündige Menschheit . . ., sondern vor allem Träger eines welterhaltenden und weltrettenden Prinzips . . . sie sind zu einem ,Heilsgut‘ geworden“ (S. 222). Der entscheidende Bruch mit allem Bisherigen liegt somit in der neuen Lehre, „daß der Staat selbst das wahre und einzig gültige Gottesgesetz täglich gebiert, daß das lebendige Gesetz der zeitlichen Welt der lebendige Gott sei und daß auch das Ewige und Absolute sich wandeln müsse in der Zeit, um lebendig zu bleiben“ (S. 223). Der „Staat“ trägt nunmehr seinen Zweck und geistigen Sinn in sich selbst (S. 232). Der Kaiser ist „die menschgewordene Justitia“ (S. 235). Justitia, Necessitas und Providentia werden zu den metaphysischen Prinzipien des neuen Staates (S. 223, 230). Die vielgerühmte „Modernität“ Friedrichs II., seine bleibende und in die Zukunft weisende Leistung liegt demnach nicht in seiner Fixierung auf das universale Kaisertum, sondern in der Gestaltung und Verselbständigung des sizilischen Staates, der eine „berechnete, bewußte Schöpfung“, also ein „Kunstwerk“ war. Sie liegt, wie Jacob Burckhardt betonte, in der Zurückdrängung und Zertrümmerung aller intermediären Gewalten und in der Aufrichtung einer neuen Tyrannis: „Friedrichs Verordnungen (besonders seit 1231) laufen auf die völlige Zernichtung des Lehnsstaates, auf die Verwandlung des Volkes in eine willenlose, unbewaffnete, im höchsten Grade steuerfähige Masse hinaus. Er zentralisierte die ganze richterliche Gewalt und die Verwaltung in einer bisher für das Abendland unerhörten Weise; kein Amt mehr durfte durch Volkswahl besetzt werden, bei Strafe der Verwüstung des betreffenden Ortes und Degradation der Bürger zu Hörigen . . . Hier ist kein Volk mehr, sondern ein kontrollierbarer Haufe von Untertanen“.383 Damit war ein weiterer entscheidender Schritt auf dem Weg zum Staat getan. Der sizilische König war nicht länger Primus inter Pares, sondern tatsächlich Regent aller seiner Untertanen. Er war oberster Gesetzgeber und forcierte den Ausbau einer straffen Verwaltung durch königliche Fachbeamte. Mit Hilfe seiner Bürokratie schaltete er den Einfluß der alten Feudalgewalten auf die Politik weitgehend aus. Die von Jacob Burckhardt monierte Verwandlung des „Volkes“ in eine willenlose und steuerbare Masse meinte natürlich die Entmachtung und Depravation des weltlichen und geistlichen Adels. Das „gemeine Volk“ hatte seit dem Ende der Polis ohnehin keine Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Politik mehr gehabt und hatte sie infolge der Bürokratisierung und Verknöcherung der Amtskirche auch in der Ekklesia schon frühzeitig verloren. Seit der Verrechtlichung der Kirche im 12. Jahrhundert war es nicht mehr unmittelbar Teil des Corpus Christi, sondern partizipierte nur noch über die Vermittlung der Sa383 J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. I. Abschnitt: „Der Staat als Kunstwerk“, 27–160; hier S. 29 f.

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kramentsträger an ihm. Auf seinen Schultern lag – wie stets – die Hauptlast bei der Sicherung der Subsistenz. Es hatte folglich unter der beginnenden „Entfeudalisierung“ und „Bürokratisierung“ kaum zu leiden, sondern profitierte eher von den Aktivitäten des sizilischen „Tyrannen“.384 Ihm kam zugute, daß nun die „Mittler“ zwischen ihm, dem „kleinen Mann“, und dem „Abbild und Stellvertreter Gottes“ entmachtet wurden, wodurch eine Bürde von seinen Schultern fiel. Diejenigen, die aus der „Politik“ der Kirche und des werdenden Staates ausgeschlossen wurden, konnten wieder einmal Ersatz in neuen religiösen Mustern der Partizipation und der Selbstverwirklichung finden. Erneut führte die erzwungene oder freiwillige Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung zu einem gewaltigen Aufschwung der Religiosität, der vor allem den neuen Bettelorden zugute kam, die – im Gegensatz zu den Ritterorden – ein Leben in völliger Abgeschiedenheit und Armut praktizierten. Als Kontrast und Gegenparadigma zum sizilischen Tyrannen erschien der heilige Franz von Assisi, der als der von Joachim von Fiore prophezeite Heros gedeutet wurde und dem Joachitismus mit seiner antifriderizianischen Polemik eine gewaltige Renaissance bescherte. Die dialektische Zusammengehörigkeit beider antagonistischen Gestalten hat insbesondere Alois Dempf betont,385 der in Franz von Assisi „das Vorbild der religiösen Individualität der Neuzeit“, in Friedrich II. hingegen „das Vorbild der souveränen Fürstenindividualität der Neuzeit“ erblickte, die damit beide in Wirklichkeit deren Geist bestimmt hätten (S. 287). Der selbe Autor verweist zugleich auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der neuen Herrschaftstechnik und der von ihr – wider Willen – stimulierten neuen Frömmigkeit. Die Aufhebung des Lehnswesens in Sizilien bedeutete nämlich zugleich die Beseitigung der Feudalbistümer und einen Eingriff in die Bischofswahlen. Wie Dempf vermutet, waren die von Friedrich abgesetzten Bischöfe, die zusammen mit den vertriebenen Magnaten „eine förmliche Emigrantenkolonie in Rom“ bildeten, „vielleicht der Herd der pseudojoachitischen, eschatologischen Polemik gegen Friedrich gewesen“ (S. 319). Von ihnen wären dann die erwähnten apokalyptischen Hetztiraden gegen den Vorläufer des „Antichrist“ ausgegangen. Auch die vom Staufer in seinem neuen Staat geschaffenen politischen Verhältnisse hat Dempf treffend umschrieben, weshalb er hier ausführlich zitiert werden soll:

384 Daß Jacob Burckhardts Weltbild dem sozialkonservativen Basler Patriziat entstammte und betont antimodernistisch, antiliberal, antidemokratisch und antisemitisch war, betont Aram Mattioli, „Odiose Kerle, Judenpack“. Der schöngeredete Antisemitismus des Jacob Burckhardt. In: Die Zeit v. 30. September 1999, S. 82. Diese rückwärtsgewandte, den Feudalismus verklärende Haltung bestimmte auch seine Sicht Friedrichs II. und des sizilischen Staates. 385 Vgl. Dempf, Sacrum Imperium, S. 282 ff. (zu Franziskus und den Franziskanern), S. 317 ff. (zu Friedrich II.). Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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„Die Lehensform war im Kerne damit beseitigt, daß er die Rückgabe der sämtlichen Lehen zu einem Zeitpunkt anordnete, ohne erst ihren Heimfall durch den Tod der Lehensträger abzuwarten. Durch die Neuverteilung wurde der Grundadel zum Amtsadel gemacht, der völlig in der Hand des Königs war. Das Lehenssystem der Verteidigung durch die eigenen Burgen der Vasallen wurde ersetzt durch staatliche Befestigungen, die in ihrem sachlichen Stile schon eine verfrühte Renaissance sind, und durch ein volksfremdes Söldnerheer der von Sizilien nach Lucera in Apulien verpflanzten Sarazenen. Das Wichtigste aber war, daß ein eigener Laienrichterstand und ein Stand von Verwaltungsbeamten geschaffen und zu seiner Heranbildung 1224 die erste, staatliche Universität in Neapel errichtet wurde . . . Die fast schon merkantilistische Zoll- und Handelspolitik und der Ausbau einer eigenen Flotte vollenden die Züge des ersten Nationalstaates.“ (S. 319)

Mag die Rede vom „Nationalstaat“ angesichts der religiösen und kulturellen Heterogenität, der Sprachenvielfalt und der Widersprüchlichkeit der in Sizilien herrschenden Sitten auch anachronistisch anmuten, so ist doch zu konstatieren, daß Friedrich II. in Fortsetzung der Aufbauarbeit seiner normannischen Vorfahren einen vom Reich und von der Papstkirche unabhängigen monarchischen Herrschaftsverband geschaffen hatte, der sowohl im Inneren als auch gegen außen weitestgehende „Souveränität“ realisieren konnte. Dieser Vorgang schlug sich im juristischen und philosophischen Denken der Sizilianer nieder und stimulierte die erwähnten antiimperialen Konzeptionen von Marinus de Caramanico, Andreas von Isernia und Bartholomäus von Capua aus der nachstaufischen Zeit. Durch die neuartige Apotheose des Gesetzes unter Friedrich II. wurde das tradierte Rechtsverständnis aus den Angeln gehoben, das von Gratian grundgelegt und von der Dekretistik und Scholastik durch freie Rezeption römisch-rechtlicher Traditionsbestände systematisiert worden war.386 Bereits das Decretum Gratiani (ca. 1140) hatte – wie die ihm folgende scholastische Philosophie – grundsätzlich drei Rechtsnormenebenen unterschieden und in eine hierarchische Ordnung gebracht:387 1. das göttliche Recht oder den göttlichen Willen (lex divina vel voluntas Dei), 2. das Naturrecht (lex naturalis), 3. das positive oder geschriebene Recht (lex positiva vel scripta).

Als Maßstab zur Prüfung der unteren Ebenen sollte die jeweils höhere dienen. Im Zweifels- oder Konfliktfalle, d. h. bei Normenkollisionen, mußte nach dem jeweils höheren Recht verfahren und entschieden werden – nach dem einfachen Motto: Naturrecht bricht positives Recht, göttliches bricht natürliches Recht. Dabei wurde natürlich die Frage akut, die noch im Zentrum der frühneuzeitlichen Staatstheorie stand und den Leviathan des Thomas Hobbes inspirierte: quis judi386 Vgl. M. Grabmann, Das Naturrecht der Scholastik; R. Weigand, Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten. 387 Vgl. dazu auch Berman, S. 234 ff.; O. Kimminich, Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts, S. 95 f.

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cabit? oder who decides? Wer sollte das Interpretationsmonopol besitzen und verbindlich darüber zu entscheiden haben, welches im jeweils konkreten Fall die Bestimmungen des positiven, des natürlichen und des göttlichen Rechts sind? Nach kirchlichem Verständnis sollte die Letztentscheidung dem Papst bzw. einem allgemeinen Konzil zufallen. Die Vertreter des Kaiser- und/oder Königsrechts wollten dagegen den weltlichen Herrschern das Entscheidungsmonopol sichern. Beide Seiten waren sich einig, daß es eine höchste Entscheidungsinstanz geben mußte, die im Fall von Normen-Konflikten das letzte Wort haben sollte. Strittig war nur die Frage, wem diese Kompetenz zukommen sollte. Die neuzeitlichen Politikdenker ebneten schließlich den Unterschied zwischen göttlichem und natürlichem Recht ein, indem sie das erste auf das zweite zurückführten, d. h. beide identisch setzten. Dieser Gedanke war allerdings bereits im 12. und 13. Jahrhundert vorbereitet worden, als sich die normannischen Könige und ihre Nachfolger als Gottkönige profilierten. Mit der neuen, von Roger II. ein-, von Friedrich II. fort- und auf den Höhepunkt geführten Gesetzgebungspraxis wurden die vom Decretum Gratiani und von der Scholastik verfochtenen Unterscheidungen eingeebnet. Die drei Rechtsnormenebenen verschmolzen zu einer untrennbaren Einheit, die der König repräsentierte, der als der oberste Richter zugleich einziger Gesetzgeber in seinem Königreich war und folglich alle seine Untertanen mit Hilfe seiner Beamten regierte. Die ganze Rechts- und Herrschaftsordnung lief in seiner Person zusammen, doch eliminierte Friedrich die Bestände des überkommenen Feudal- und Kirchenrechts nicht. Er bekämpfte zwar das in den Kommunen praktizierte Stadtrecht und suchte die städtischen Freiheiten zu unterdrücken, doch tastete er die anderen Rechtssyteme nicht an.388 Während er verbal die Selbstvergottung des Kaisertums auf die Spitze trieb,389 „säkularisierte“ er in Wirklichkeit das Recht. Wie Ernst Kantorowicz betont,390 wurzelt Friedrichs kaiserliche Theologie nicht mehr in der Idee eines christozentrischen Königtums, obwohl sie kirchlichem Denken folgte, Ausdrücke des kanonischen Rechts benutzte und sich einer quasichristologischen Sprache bediente. Die Argumente des Kaisers und seiner Berater stammten vielmehr aus der Welt des römischen Rechts (S. 120). „Die mittelalterlichen Begriffe vom Königtum wurden nicht einfach weggewischt . . . Fast alle früheren Werte überlebten, aber sie wurden in neue weltliche und hauptsächlich

388 Vgl. Berman, S. 660 f.: „Doch trotz der Inanspruchnahme einer absoluten königlichen Autorität erkannte Friedrichs Gesetzgebung den Fortbestand der Autonomie des Feudal- und des Kirchenrechts an, nicht aber des Stadtrechts“. 389 Im Liber augustalis hielt er fest: „Wie Gottvater sich in Christus offenbart, so offenbart sich die Gerechtigkeit durch den Kaiser. Wie Christus seine Kirche gegründet hat, so hat der Kaiser sein Reich gegründet“. Zitiert nach Berman, S. 660. Dieser zitiert seinerseits nach O. Prescott, Lords of Italy, S. 176. 390 Vgl. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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juristische Denkformen übersetzt und überlebten dank der Verpflanzung in ein weltliches Milieu“ (S. 132). Allerdings überlebten nicht alle überkommenen Vorstellungen. Schon die beginnende Rezeption des römischen Rechts hatte zum Bruch mit der alten „deutschrechtlichen“ und christlichen Tradition geführt, wonach Recht weder „gesetzt“ noch „gemacht“ noch „verbessert“, sondern allenfalls „gefunden“ und vor Mißbrauch (abusus) und Unrecht (malus consuetudo) geschützt werden kann.391 Im Gegensatz dazu hatten die Römer – wie schon zuvor die Sophisten im Gefolge der nomos-physis-Kontroverse (s. o., S. 118 f.) – das Recht als Resultat menschlicher Vernunft und Berechnung betrachtet, das der Regulierung des Zusammenlebens und der Lösung von Handlungskonflikten dient. Die Digesten hatten ferner den Imperator zum obersten Gesetzgeber stilisiert, der laut Ulpian über dem Gesetz steht (princeps legibus solutus est) und durch freien Willensakt beschließt, was rechtens ist (quod principi placuit, legis habet vigorem).392 Diese Auffassung wurde von den Normannen und Staufern und schließlich auch von anderen westlichen Monarchen umgesetzt, wodurch der Aufbruch zu einem neuen Selbstverständnis der Regenten als Staatenlenker und die Verselbständigung des Politischen gegenüber Tradition und Religion zu einem eigenständigen Aktionsfeld eingeleitet war.393 (2) England Anders als in Sizilien, aber doch in vergleichbaren Bahnen verlief die Institutionenbildung in England, wo die Barone und der hohe Klerus sich immer wieder gegen die königliche Gewalt behaupten und gegen „absolutistische“ Bestrebungen erfolgreich zur Wehr setzen konnten. Dennoch gelang auch hier die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt und damit die Transformation des Feudalismus in die Monarchie.394 Maßgeblich für die politische Theorie und ihren Kampf um äußere wie innere Souveränität wurde im normannischen England die Rückbesinnung auf Johannes von Salisbury und seine Kritik an den Auswüchsen der feudalen Hofhaltung.395 Obgleich der Policraticus (1159) eine personalistisch orientierte 391 Vgl. Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 11 f., 71 ff.: F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter; ders., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 122 ff., 262 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 117 ff., 145 ff.; Wyduckel, Princeps legibus solutus, S. 35 ff. 392 Vgl. Digesten 1,3,31 und 1,4, 1. In: L. Huchthausen (Hg.), Römisches Recht in einem Band, S. 220 f. 393 Vgl. dazu auch K. Pennington, The Prince and the Law; W. Stürner, Peccatum und potestas. 394 Zur Entwicklung des Königsrechts in England vgl. Berman, S. 670 ff.; Mitteis, Der Staat, S. 137 ff., 152 ff., 209 ff., 296 ff., 379 ff. 395 Vgl. dazu M. Kerner, Johannes von Salisbury im späteren Mittelalter, S. 33. Kerner folgt dabei A. Linder, The Knowledge of John of Salisbury in the Late Middle Ages.

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Ethik entwickelte und sich weniger für die Techniken der sich zentralisierenden Verwaltung, sondern vielmehr für die moralischen Probleme ihrer Vertreter interessierte, wurde seine Wiedererinnerung zum Katalysator beim Übergang Englands zum Staat. Zwar hatten schon frühere englische Könige eine Hegemonie über Britannien erstrebt,396 doch gelang es erst den Normannen, ganz England unter ihre Herrschaft zu bringen und eine Machtsphäre zu errichten, die dem Reich der Deutschen Paroli bieten konnte. Die eigentliche Geschichte der englischen Monarchie beginnt folglich mit dem Einfall und der Landnahme der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (1066–1087). Davor war England in eine Vielzahl kleiner Königtümer aufgesplittert. Der letzte angelsächsische König, Harald II., unterlag in der Schlacht bei Hastings dem Herzog der Normandie. Wilhelm eroberte von 1066 bis 1071 ganz England und raubte dem alten Adel nach mehreren Aufständen seine gesamten Besitztümer. Er schuf sich selbst das ihm genehme Feudalsystem durch eine Ritterschaft von Gefolgsleuten – vor allem Normannen –, denen er ein Militärlehen überließ. Er machte alle seine Untertanen zu Lehnsleuten und verpflichtete alle freien Lehenshalter 1086 in Salisbury auf den Treueid. Er wurde so zum großen Feudalherren über der Masse der kleinen und damit auch zum Herrn über die Leibeigenen und Vasallen und begründete jene mächtige Dynastie, die für lange Zeit die Geschicke Englands lenkte.397 Er behielt zugleich einen großen Teil des beschlagnahmten Landbesitzes für sich und schuf sich eine Domäne, die über das ganze Königreich verstreut war.398 Bereits zu der Zeit, als Heinrich IV. und Gregor VII. den hochmittelalterlichen Kampf ums Reich auf den ersten Höhepunkt führten, hatten die Normannen folglich ein straffes Regiment errichtet und die Grundlagen für die Staatswerdung Englands gelegt. Ihre Herrschaft organisierte sich als Lehnshierarchie, die in einem Grundkataster, dem Domesday Book (1086), festgehalten wurde.399 Nach 396 Zur Frühgeschichte und zu den mittelalterlichen Grundlagen der Geschichte Englands vgl. die Überblicke von M. Maurer, Kleine Geschichte Englands, S. 11 ff. (Literatur: S. 478–481) sowie von P. H. Sawyer u. a., Art. England. Ferner R. Bendix, Könige oder Volk. Bd. 1, S. 259 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 115 ff.; K. Kluxen, Geschichte Englands; Krieger, Geschichte Englands. 397 Vgl. etwa D. C. Douglas, William the Conqueror; ders., The Norman Achievement; K.-U. Jäschke, Die Anglonormannen; K. Schnith, England. Zur Herrschaftsorganisation der Normannen in England vgl. auch F. Barlow, The Feudal Kingdom of England; D. Berg, England und der Kontinent, bes. S. 373 ff. 398 Thomas Hobbes, der große Theoretiker des Absolutismus, der im Leviathan – verstreut über zahlreiche Kapitel – die Geschichte Englands rekonstruierte und zur geschichtlichen Grundlage seiner Staatstheorie machte, tadelt den Eroberer, er habe das Land selbstsüchtig, für egoistische Interessen unnötig belastet. Er und seine Nachfolger hätten willkürlich Steuern auf das Land aller Untertanen gelegt, wann immer sie es für nötig hielten. Vgl. Leviathan, S. 193. 399 Vgl. K. Kluxen, Englische Verfassungsgeschichte; F. W. Maitland, The Constitutional History of England; A. L. Poole, From Domesday Book to Magna Carta.

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Wilhelms Tod folgten jedoch dynastische Streitigkeiten zwischen seinen Söhnen, in denen die anderen Kräfte der Gesellschaft, insbesondere die Barone, erstarkten, die recht geschickt in das jeweilige Machtvakuum schlüpften und ihren Einfluß ausdehnten. Die konkrete Form des zukünftigen Staatswesens wurde durch den nicht enden wollenden Kampf zwischen Königtum, Adel und Klerus entschieden, wobei die Barone – im Gegensatz zu Frankreich – schließlich den Sieg davontrugen. Die ganze englische Geschichte seit dem Tod Wilhelms des Eroberers (1087) ist geprägt durch den Versuch des englischen Hochadels und des Klerus, den eigenen Machtbereich auf Kosten der Krone auszubauen. Solange sich die Königskinder gegenseitig schwächten, konnten die weltlichen und geistlichen Herren ihren Aktionsradius ungestört ausdehnen.400 Wilhelm der Eroberer starb 1087. Sein direkter Nachfolger, Wilhelm II. Rufus (1087–1100), sah sich genötigt, den Baronen große Zugeständnisse zu machen und ihnen viele Rechte einzuräumen, um sich ihre Unterstützung zu sichern in der Übertragung der Thronfolge von seinem älteren Bruder, Robert Kurzhose, Herzog der Normandie, auf ihn selbst.401 Dies war mithin der Grund, weshalb Wilhelm 1100 – also in etwa zu jener Zeit, da der Normannische Anonymus die Prinzipien eines cäsaropapistischen Regiments beschwor – ermordet wurde. Sein jüngerer Bruder Heinrich I. Beauclerc (1100–1135) versuchte in Abwesenheit des zum Kreuzzug aufgebrochenen Robert Kurzhose die Monarchie wiederherzustellen und auszubauen. Es gelang den anglo-normannischen Monarchen aber insgesamt nicht, die zu Hörigen gewordenen Bauernmassen und den Adel, allen voran die Barone und den oberen Klerus, in Gehorsam zu halten. Sie hatten stets mit Widerständen und Aufständen zu rechnen. Unter Heinrich I. wurde eine Rechenkammer eingerichtet, vor der die Sheriffs als königliche Grafschaftsbeamte ihre Pachtsummen und sonstigen Einnahmen abrechnen mußten. Unter Stephan von Blois (1135–54) begann ein fast 20-jähriger Bürgerkrieg, den die Barone und die Kirche nutzten, um den rivalisierenden Parteien – dem schwachen Stephan, aber auch der Mathilde, der Tochter Heinrichs I., Witwe Kaiser Heinrichs V. und seit 1128 Gemahlin Gottfrieds von Anjou („Plantagenet“) – immer neue Zugeständnisse abzutrotzen.402 In dieser Zeit gewann die päpstliche Partei erheblich an Ansehen und Macht. Heinrich II. Plantagenet (1154–1189) restaurierte die englische Monarchie. Er zwang Wales, Schottland und Irland, seine Oberlehnshoheit anzuerkennen, und 400 Zur Geschichte des englischen Feudalismus und zur Entwicklung des englischen Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft vgl. auch H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 43 ff. (mit einer kommentierten Bibliographie: S. 541 ff.). Ferner R. H. Hilton (Hg.), The Transition from Feudalism to Capitalism. Zur Genese des englischen Staates P. Anderson, Die Entstehung, S. 142 ff. 401 Vgl. die Kritik von Hobbes, Leviathan, 29. Kapitel, S. 246. Ferner F. Barlow, William Rufus, bes. S. 53 ff.; K.-U. Jäschke, Die Anglonormannen, S. 114 ff. 402 Vgl. H. A. Cronne, The reign of Stephen; R. H. C. Davis, King Stephen.

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setzte seine Ansprüche auf sein Erbe in Frankreich durch. Er beendete die „Anarchie“ in England und bekräftigte die königliche Oberhoheit über die Kirche.403 Dabei stieß er aber auf harten kirchlichen Widerstand, den er nur mit Gewalt und Heimtücke brechen konnte.404 In den Konstitutionen von Clarendon (1164) wurden alle Bischöfe und Prälaten, die eine Baronie innehatten, zur Teilnahme am königlichen Hofgericht verpflichtet und die Verdrängung der kirchlichen Jurisdiktion aus dem allgemeinen Gerichtswesen eingeleitet. In der Assise von Clarendon (1166) wurde die oberste Rechtshoheit des Königs gegen alle anderen Ansprüche festgelegt, wodurch die feudale grundherrliche Justiz entmachtet war.405 Heinrich II. baute das Königsgericht, die Curia Regis, aus und errichtete einen ständigen Gerichtshof mit fünf Beisitzern in Westminster (1187) und mit geordnetem Untersuchungs- und Beweisverfahren. Die Geschworenen wurden jeweils vom Volk gewählt. Im Zuge dieser institutionalisierten Rechtsprechung bildete sich allmählich das Common Law, das englische Gewohnheitsrecht, aus. Außer dem Hohen Gerichtshof institutionalisierte Heinrich II. das Kanzleramt, das die Arbeit der anderen Abteilungen koordinierte, und das Schatzamt, das die Finanzen und den Fiskus regelte.406 Er revolutionierte das englische Rechtssystem „hauptsächlich dadurch, daß er die königliche Rechtsprechung und das Königsrecht für Straf- und Zivilsachen einführte, für die vorher die lokale und feudale Rechtsprechung und das Lokal- und Feudalrecht zuständig waren“ (Berman, S. 685). Während seiner Regentschaft verfaßte Johannes von Salisbury den Policraticus (1159), der bereits im vorigen Kapitel erörtert wurde, da er den Widerstand ge403 Zur Persönlichkeit und zur Politik Heinrichs II., der die Grundlagen des modernen englischen Königsrechts schuf, vgl. Berman, S. 674 ff. Berman stützt sich seinerseits auf W. L. Warren, Henry II. Berkeley, Los Angeles 1973; Amy Kelly, Eleanor of Aquitaine and the Four Kings. Cambridge/Mass. 1950; Jacques Boussard, Le gouvernement d’Henri II Plantagenet. Paris 1956 u. a. 404 Vgl. dazu oben die Bemerkungen zum Fall Thomas Becket (S. 433). Aus dem Widerstand der Barone und der Kirche leitet Hobbes die Notwendigkeit ab, die Macht der Barone und der Kirche zu beschränken. Daß die Macht der Kirche zu groß geworden sei, zeige sich in der Unterstützung, die Thomas Becket, der Erzbischof von Canterbury, vom Papst in seinem Kampf gegen Heinrich II. erhielt, der sich seinerseits auf den Schwur Wilhelms des Eroberers berief, er werde die Freiheit der Kirche nie antasten. Hobbes folgert daraus, daß man sich nie zu Dingen verpflichten darf, die die eigene Macht dauerhaft schwächen können (Leviathan, S. 245 f.). 405 Vgl. K. Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 23. Zu den Bestimmungen von Clarendon und ihren Folgen siehe auch Berman, S. 415 ff. Zur Geschichte des englischen Rechts vgl. insgesamt F. Pollock/F. W. Maitland, The History of English Law. 406 Zu den fünf wichtigsten Reformen des Verfahrens- und des materiellen Rechts vgl. Berman, S. 685 ff. Es handelt sich um die „Judizialisierung“ der „writs“, d. h. der Exekutivbefehle (S. 686 ff.), die Einführung von Geschworenenprozessen (S. 689 ff.) und -anklagen (S. 691 ff.), die Reform der Klageformen (S. 694 ff.) sowie die Entwicklung der juristischen Lehre vom „seisin“, das der Lösung von gewaltsamen Streitigkeiten über Rechte an Landbesitz diente (S. 697 ff.).

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gen die Imperiumspolitik Barbarossas am eindringlichsten artikulierte (s. o., S. 432 ff.). Doch auch der englische König kam nicht sonderlich gut dabei weg. Johannes umschrieb darin die Pflichten eines wahren, nämlich christlichen Monarchen und stilisierte vor diesem Hintergrund Heinrich II. wie den römischen Kaiser zum Tyrannen, gegen den ein legitimes Widerstandsrecht existierte. In einem Brief von 1168 monierte er darüber hinaus, der Plantagenet rühme sich, innerhalb seines Landes wie sein Großvater König, apostolischer Legat, Patriarch, Kaiser und alles zu sein, was er wolle.407 Diese Willkürherrschaft vertrug sich natürlich schwerlich mit der Pflichtenethik des Policraticus und entsprach auch nicht der praktischen Politik des Königs, die auf den systematischen Ausbau des Königsrechts und damit auf Entmachtung der lokalen und feudalen Gewalten zielte.408 Die von Heinrich II. vollzogene „Revolution der juristischen Methode und Praxis“ (H. J. Berman) fand ihren literarischen Niederschlag in Glanvills Tractatus de legibus et consuetudinibus Angliae (ca. 1187), der ersten systematischen Abhandlung über das englische Common Law, die zum Ausgangspunkt und zur Basis der späteren Lehren wurde. Diese fanden in der Frühen Neuzeit ihren bedeutendsten Verfechter und ihren „Klassiker“ in Sir Edward Coke (1552–1643), dem schließlich Thomas Hobbes die dezisionistische Rechts- und Staatstheorie des Absolutismus entgegensetzte.409 Unter den Söhnen Heinrichs II., Richard I. Löwenherz (1189–99) und Johann I. Ohneland (1199–1216), ging der Festlandbesitz an den französischen König Philipp II. verloren. Richard Löwenherz wurde auf der Rückkehr vom Kreuzzug von Kaiser Heinrich VI. festgenommen und zu einem hohen Lösegeld erpreßt. Während der Herrschaft Johanns Ohneland fand das Machtgerangel zwischen Krone und Baronen seinen ersten Höhepunkt. Die Barone wurden bei ihrer Rebellion gegen den König vom Papst und von den Franzosen unterstützt. Johann wurde 1213 durch Innocenz III. abgesetzt, der die englische Krone dem französischen König Philipp Augustus anbot. Daraufhin demütigte sich Johann und stellte sein Land unter die Lehnshoheit des Papstes, dem er einen jährlichen Vasallentribut zu entrichten hatte. Johann sah sich jedoch nicht nur den Angriffen der Papstkirche ausgesetzt, sondern zugleich von den Baronen bedroht, die ihm 1215, nach der Niederlage in der Schlacht von Bouvines, die Magna Carta abtrotzten. Damit wurde die Macht des Königs vollends beschnitten zugunsten von Freiheiten und Privilegien der Kirche und des Adels. Zugleich wurden die Städte in die Regierung des werdenden Staates mit einbezogen. Dem König wurde das

407 Vgl. The Letters of John of Salisbury, Nr. 239. Dazu H. E. Mayer, Staufische Weltherrschaft?, S. 188; Walther, Imperiales Königtum, S. 81. 408 Vgl. auch Mitteis, Der Staat, S. 298 ff.: „Die Gesetzgebung Heinrichs II. stellt sich denn auch als eine organische Fortbildung des alten Volksrechts dar, auch wo sie auf den ersten Blick kühne Neuerungen enthält“ (S. 298 f.). 409 Vgl. T. Hobbes, Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen.

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Versprechen abverlangt, „ohne gemeinsame Beratung des Reiches“ keine Steuern zu erheben und darüber hinaus seine „Beamten“ (Richter, Konstables, Sheriffs und Baillis) an das geltende Gesetz zu binden. Damit waren die Grundlagen des späteren Konstitutionalismus und der rule of law, des englischen Rechtsstaates, gelegt. Auf die Magna Carta und auf das Common Law konnten sich dann in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts die Gegner des Königs berufen. In der Folge pendelte sich ein relatives Gleichgewicht zwischen Königtum und Aristokratie ein. Unter Heinrich III. (1216–1272) erstarkte jedoch die Kirche, die mit einer rücksichtslosen Besteuerung begann und ihre Günstlinge in die höchsten politischen Ämter einschleuste. Dagegen wehrten sich die Barone, die um ihre eigenen Pfründen bangten. Durch einen Aufstand (1258–65) erzwangen sie 1259 die sog. Provisionen von Oxford: Der König mußte nun 15 Barone als Berater und als Kontrolleure der Verwaltung neben sich dulden. Zugleich versuchte der niedere Landadel, die Gentry, unterstützt von der Kaufmannsbürgerschaft und den Handwerkern Londons, die Königsgewalt noch weiter einzuschränken, allerdings nicht zugunsten der Barone, sondern zum „gemeinen Nutzen“. Neben dem Hochadel und dem Klerus sollte künftig auch der niedere Adel und das Bürgertum im Parlament vertreten sein.410 Seit 1264 saßen neben je zwei Grafschaftsrittern aus den 37 Grafschaften auch jeweils zwei Bürger aus jeder Stadt im Parlament. Seit dem 13. Jahrhundert mußten also die englischen Könige zusammen mit dem Parlament regieren, das entstanden war durch die Erweiterung der Curia Regis. Es setzte sich seit 1264/65 zusammen aus dem alten Rat der Barone, aus zwei Rittern je Grafschaft und zwei Bürgern je Stadt. Die theoretische Begründung für das Zusammenspiel zwischen Krone und Curia regis und für die Stellung des Königs zum Gesetz lieferte Henry de Bracton in seinem Werk De legibus et consuetudinibus Angliae (ca. 1259). Ihm zufolge steht der König zugleich über und unter dem Gesetz. Er hat – als Vikar Gottes – keinen Höheren über sich, ist aber genötigt, nach dem Rat seiner Barone zu regieren. Er ist an die Beschlüsse des Rates und an die von ihm selbst verkündeten Gesetze gebunden.411 Nicht der König schaffe das Recht, sondern dieses den König, obgleich kein Richter seine Handlungen in Zweifel ziehen kann. Schärfer als in anderen Ländern bemühten sich folglich die Engländer schon früh um eine

410 Zum Begriff Parlament sowie zur Entstehung und Entwicklung des englischen Parlamentarismus vgl. K. Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 17 ff.; ders., Englische Verfassungsgeschichte; Bendix, Könige oder Volk. Bd. 1, S. 293 ff.; R. G. Davies/J. H. Denton (Hg.), The English Parliament in the Middle Ages.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 235 ff.; M. Maurer, Kleine Geschichte Englands, S. 46 ff.; H. G. Richardson/G. O. Sayles, The English Parliament in the Middle Ages.; J. S. Roskell, Parliament and Politics in Late Medieval England; G. O. Sayles, The Function of the Medieval Parliament of England. 411 Vgl. H. d. Bracton, De legibus et consuetudinibus Angliae. Dazu Kantorowicz, Die zwei Körper, S. 159 ff.; W. Fesefeldt, Englische Staatstheorie des 13. Jahrhunderts.

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ständisch-konsensuale Beschränkung der königlichen Herrschaftsgewalt.412 Im Unterschied zu seinem Zeitgenossen Friedrich II. legte Bracton den Akzent auf die rechtliche Bindung des Königs, die zum Kern des späteren Konstitutionalismus wurde, sowie auf die Beratschlagung durch die Barone, die zum Ausgangspunkt des künftigen Parlamentarismus wurde. Was alle angeht, müsse auch von allen gebilligt werden, lautete die zentrale Maxime, die später zum geflügelten Wort wurde. Der König ist der „Mund der Barone“ und hat als solcher den Inhalt des Gesetzes zu verkünden, das einerseits zwar seinen Aktionsradius einschränkt, ihm aber andererseits seine Stellung und Würde überhaupt erst vermittelt. Denn ohne das Recht wäre er kein König, sondern ein Despot, der keinen Gehorsam von seinen Untertanen erwarten könnte. Der Streit zwischen Krone und Ständen währte jedoch über die Regentschaft Heinrichs III. hinaus. Eine vorläufig endgültige Einigung erfolgte 1295 unter Edward I. (1272–1307). Nunmehr bildeten Vertreter der Grafschaften, der Städte und der Orte gemeinsam das Parlament, das sich ferner aus zwei Kammern zusammensetzte, aus dem Ober- und dem Unterhaus, dem House of Lords und dem House of Commons. Unter Eduard I. wurden alle bislang mündlich verhandelten Rechtsfälle in den Yearbooks (1292) zusammengefaßt, wodurch das Common Law eine feste Basis erhielt. Die von Heinrich I. eingerichtete Rechenkammer wurde nun zum Finanzgerichtshof. Seit 1297 akzeptierte Edward die Forderung der Parlamentarier, Steuern nur noch mit der Zustimmung des Parlaments zu erheben. Das Recht der Steuerbewilligung lag somit in den Händen der Volksrepräsentanten, denen der König – als king in parliament – in exponierter Stellung zugehörte. Die Commons, die Gentry und die Städte, trieben die Steuern ein, der König benötigte ihre Zustimmung. Damit kehrte fürs erste Ruhe im Inneren ein. Es entstand ein relatives Gleichgewicht zwischen Krone und Parlament, eine Kooperation, die durch den Hundertjährigen Krieg gegen Frankreich (mit Unterbrechungen 1337–1453) gefestigt wurde. Die gesamte Entwicklung in England ist demnach geprägt durch das stete Machtgerangel zwischen Krone und Parlament, das sich mit dem Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt verknüpfte.413 Man hatte die institutionellen Formen gefunden, in denen die Konflikte ausgetragen werden konnten. Unter Eduard III. (1327–1377) wurde das Parlament regelmäßig einberufen, das zu einer festen Stützte des englischen Staates wurde. Von 1327 ab traten neben die Sheriffs Friedensrichter aus der Gentry, dem niederen Adel, die ihrerseits Polizei- und Gerichtsbefugnisse erhielten. Eduard III. erhob 1328 Ansprüche auf 412 Vgl. dazu auch Wyduckel, Princeps legibus solutus, S. 155 ff. (bes. S. 160 ff.); Mertens, Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, S. 206 ff. 413 Zur weiteren Entwicklung des Konflikts vgl. W. Eberhard, Herrscher und Stände, S. 526 ff. und den kursorischen Überblick von M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 105 ff.

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den französischen Thron, wodurch der Hundertjährige Krieg mit Frankreich entfacht wurde. Durch den gemeinsamen äußeren Feind wurden Königtum und Volksvertretung zusammengeschweißt. Weil er ein despotisches Regime aufgebaut hatte, wurde 1399 Richard II. (1377–99) vom Parlament abgesetzt. Man übertrug die Krone Heinrich IV. (1399–1413) aus dem Haus Lancaster. Die zunehmende Schwäche des Königtums begünstigte den Ausbruch der Rosenkriege zwischen diesem und dem Haus York (1455–85), die zur Auflösung der Verfassungs- und Rechtsordnung und 1485 zur Thronbesteigung Heinrichs VII. aus dem Hause Tudor führten. Die Tudors stellten Recht und Ordnung wieder her und regierten bis 1603, als die Stuarts den Thron bestiegen und durch ihre antiparlamentarisch-absolutistischen Bestrebungen den englischen Bürgerkrieg provozierten. Bevor diese Entwicklung in den Blick genommen werden kann, müssen zuvor die verfassungsgeschichtlichen Ergebnisse der hoch- und spätmittelalterlichen Kämpfe und der englische Weg der Staatsbildung im Vergleich mit dem sizilischen abschließend bilanziert werden. Im Unterschied zum Kontinent hatte der Feudalisierungsprozeß in England nicht zu einer Zerstückelung der königlichen Amtsbezirke geführt. Vielmehr konnten die normannischen Eroberer das Lehnsrecht zum Ausbau und zur Stabilisierung der Monarchie nutzen. Hatten die normannisch-staufischen Herrscher in Sizilien den hohen Adel entmachtet und seinen Einfluß gebrochen, so wurde er in England für den Ausbau der Königsmacht instrumentalisiert. Der Übergang des Feudalismus in die Monarchie ging deshalb ohne allzu scharfe Brüche vonstatten. Während in Sizilien königstreue Beamte den Verwaltungsapparat lenkten, wurde in England der Hochadel in die Verwaltung des werdenden Staates mit einbezogen. Hatten die Normannen in Sizilien eine rechtlich unbegrenzte Monarchie entwickelt, die als Vorläufer des späteren Absolutismus betrachtet werden kann, so wurde in England seit Heinrich II. der Konstitutionalismus und mit ihm der Parlamentarismus grundgelegt. Damit waren zwei alternative Muster der Staatsbildung erprobt, die als Idealtypen gelten können und auch in der Folgezeit möglich blieben und divergierende Staatsformen erwarten ließen. Beide Wege, der sizilische wie der englische, konnten als Orientierungsmuster dienen und andere Regionen und Völkerschaften zur Nachahmung inspirieren. Beide Regna hatten sich aus dem Herrschaftsbereich des italienisch-deutsch-burgundischen Imperiums und des Papsttums emanzipiert und durch unterschiedliche „nationale“ Institutionen konsolidiert. Sie waren seit dem Hochmittelalter auf dem Weg zur inneren wie äußeren Souveränität. Während das normannisch-staufische Sizilien als Exempel eines effizienten, straff organisierten bürokratischen Herrschaftsverbandes dienen konnte, wurde das normannische England zum Muster des späteren Liberalismus und der Rechtsstaatlichkeit (rule of law). Bei aller theologischen Überhöhung dominierte in beiden Königreichen die juristische Legitimation und Fixierung der Monarchie. Mit der – von Henry de Bracton theoretisch begründeten – Idee der ständisch-konsensualen Beschränkung der Königs-

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macht wurde zugleich der spätere Repräsentationsgedanke grundgelegt,414 der auch noch die moderne Idee des Parlamentarismus415 und die heute sich verbreitende Vorstellung einer deliberativen Demokratie416 trägt: Die besten Köpfe des Volkes sollen – ohne Bindung an ihre Wähler durch ein imperatives Mandat – durch gemeinsame Beratschlagung das Für und Wider bestimmter Entscheidungen und durch Abwägung der theoretischen und praktischen Alternativen das Gemeinwohl sowie die Wege zu seiner Verwirklichung ermitteln.417 Während auf dem Kontinent – in Frankreich, Deutschland, Spanien – in der Folge ein DreiKurien-System institutionalisiert wurde, in dem neben dem Adel und den Städten auch die Prälaten als geistliche Würdenträger vertreten waren, wurde in England ein Zwei-Kammern-System geschaffen, das einer künftigen Demokratisierung in der Moderne offenstand. Der König repräsentierte und regierte – als king in parliament – zusammen mit dem Ober- und dem Unterhaus die Nation. (3) Frankreich Die politische Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter verlief in Frankreich in eine der sizilischen und englischen vergleichbare, der deutschen hingegen diametral entgegengesetzte Richtung. Während hier der Weg von einer starken Königsmacht zur territorialen Zersplitterung und zur Ausbildung der Landesherrschaft mit einem schwachen, auf Fürstenwahl basierten Königtum führte, gelang es dort den Kapetingern, die einstmals zersplitterte Macht zu konzentrieren und eine straff organisierte Erbmonarchie zu institutionalisieren.418 War die Königsmacht im Westfrankenreich seit dem 9. Jahrhundert fast bis zur Bedeutungslosig414 Vgl. H. Hofmann, Repräsentation, S. 116 ff. (II. Teil: Der Ausdruck „Repräsentation“ in der juristischen, ekklesiologischen und politischen Terminologie des späten Mittelalters und der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert); bes. § 18 (S. 321 ff.): „Über die Anfänge parlamentarischer Repräsentation“. 415 Vgl. K. Kluxen (Hg.), Parlamentarismus; H. Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung; ders. (Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung. 416 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 349 ff.; ders., Drei normative Modelle der Demokratie; David Miller, Deliberative Democracy and Social Choice. In: Political Studies 40 (1992), 54–67. 417 So die „klassische“ Begründung des Parlamentarismus und des Repräsentationsgedankens durch Edmund Burke (1729–97) in seinen „Gedanken über die Ursachen der gegenwärtigen Unzufriedenheit“ und seiner „Rede an die Wähler von Bristol“. Für einen Dezisionisten erscheint diese Form der Herbeiführung allgemeinverbindlicher Entscheidungen hingegen als romantische Vorstellung eines „ewigen Gesprächs“ und als Verhinderung von Politik. Vgl. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 43 ff. 418 Zur Frühgeschichte vgl. den Überblick von B. Schneidmüller, Die Entstehung Frankreichs (Literatur: S. 60–62). Zum Spätmittelalter H. Müller, Frankreich im Spätmittelalter (Literatur: S. 120–123). Ferner P. Contamine, Art. Frankreich; J. Ehlers, Geschichte Frankreichs im Mittelalter; ders., Die Kapetinger; R. Folz, Frankreich; K.-F. Werner, Die Ursprünge Frankreichs; J. Favier, Frankreich; H. Gerstenberger, Die subjektlose

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keit herabgesunken, so glückte ihr seit dem 12. Jahrhundert ein rapider Aufstieg zu ungeahnter Autorität. Nach dem Tode Friedrichs II. (1250) avancierte der König von Frankreich zum mächtigsten abendländischen Herrscher, der am Ende gar das Papsttum dominieren und 1309 zum Umzug nach Avignon veranlassen konnte. Allerdings vollzog sich auch hier die Konzentration der politischen Entscheidungsgewalt und die Genese des Staates nicht ruckartig, sondern in einem langwierigen Prozeß. Die Schwächung der königlichen Zentralgewalt vom 9. bis zum 11. bzw. 12. Jahrhundert wird heute nicht mehr – wie in der früheren Geschichtsschreibung – als Resultat einer schleichenden Usurpation königlicher Rechte durch den Adel gesehen, sondern als Folge der „vollständige(n) und bisweilen schlagartige(n) Übernahme der Regalien in königsfernen Regionen“.419 Während die westfränkischen Könige ihre Legitimation aus der Herrschaft über das gesamte regnum Francorum der Reichsordnung von 843 bezogen,420 beschränkte sich ihr tatsächlicher Sanktionsbereich ausschließlich auf die Krondomäne. Er erstreckte sich „auf ein zunehmend kleiner werdendes Bündel von Rechten und Besitzungen nördlich der Loire, das räumlich allenfalls noch ein Zehntel des Gesamtreichs ausmachte“ (S. 26). Daneben standen mit der Champagne, mit Aquitanien, Gascogne, Toulouse, Gothien, Katalonien, Bretagne, Normandie und Flandern große Territorien, die sich ihrem Einfluß entzogen und von mächtigen Aristokratenfamilien beherrscht wurden. „Doch selbst im unmittelbaren Aktionsbereich der Monarchie, in Franzien zwischen Orléans und Laon, mußten sich die Könige gegen den Adel behaupten und ihre Machtgrundlagen mühsam verteidigen“ (S. 29). Der Absetzung Kaiser Karls III. (des Dicken) 887 war die rasche Auflösung des Reiches gefolgt. Seitdem 888 mit Graf Odo von Paris der erste Gegenkönig gewählt worden war, hatten die Karolinger vor allem gegen die Robertiner zu kämpfen, die 987 den Kronkonflikt militärisch zu ihren Gunsten entschieden und in der Folgezeit die Macht in ihren Händen hielten. Die Grundzüge der darauffolgenden Epoche, die Lage Frankreichs vom Ende des 10. Jahrhunderts bis zum Tod Ludwigs des Heiligen (1270), hat Percy Ernst Schramm wie folgt zusammengefaßt:421 „Mit der Thronbesteigung Hugo Capets (987–96) trat Frankreich aus dem Jahrhundert der Thronwirren heraus. Aber die inneren Schwierigkeiten waren dadurch noch nicht überwunden – ja im vollen Umfang wurden sie erst spürbar, als dieser bisherige Lehnsfürst das Szepter ergriffen hatte und nun über die herrschte, die eben noch seinesgleichen gewesen waren. Denn die Feudalisierung des Staates, die bereits Karl Gewalt, S. 261 ff. (mit einer kommentierten Bibliographie: S. 592 ff.); Mitteis, Der Staat, S. 127 ff., 150 ff., 204 ff., 282 ff. 419 Vgl. zum folgenden Schneidmüller, Die Entstehung Frankreichs, S. 25 ff. (Zitat S. 29). Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz beziehen sich auf diesen Text. 420 Vgl. auch B. Schneidmüller, Karolingische Tradition. 421 Vgl. Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 93 ff. (Zitat S. 93).

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dem Kahlen zu schaffen gemacht und seither weitere Erfolge errungen hatte, gibt nun der Struktur des Staates das Gepräge: auf dem Thron die Kapetinger, deren Geschlecht selbst der größte Nutznießer dieser Wandlung gewesen war, und daneben die Lehnsträger, d. h. eine Vielzahl von Herzögen, Grafen und Herren, die sich auf Grund der Vererblichkeit mittlerweile in ihren Herrschaften häuslich eingerichtet hatten und hinter ihren Rechten ihre Pflichten verschwinden ließen. Was kümmerte es den Herzog von Aquitanien, dessen Herrschaft sich bis zu den Basken ausdehnte, was der König in der Ferne wollte? Was band die Herzöge der Normandie, die Sprossen nordgermanischer Eroberer, die sich dem Könige als Lehnsträger aufgedrängt hatten und bald die englische Krone an sich reißen sollten, an die Kapetinger? Was vermochten diese über die Seitenlinie ihres Hauses, die sich das Herzogtum Burgund gesichert hatte und hier ihre eigene Politik trieb? Ähnlich sah es überall aus . . . Tatsächlich reichte der Einfluß der Kapetinger im 11. Jahrhundert eigentlich nur so weit, wie sich ihre Hausmacht erstreckte – und selbst in diesem Bereich hatten sie noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Welche Lehnsfürsten ihnen gerade gehorchten, hing von der jeweiligen Lage ab.“

Um so erstaunlicher war der Aufstieg der französischen Monarchie in eben dieser Epoche. Er begann unter Ludwig VI. dem Dicken (1108–37), der die unbotmäßigen Vasallen der Krondomäne unterwarf. Bereits als Mitregent (seit 1098) seines Vaters Philipp I. (1060–1108) stellte er die für die Folgezeit so wichtige enge Verbindung des französischen Königtums zum Papsttum her, beendete den Investiturstreit, der die Regierungszeit seines Vaters beherrscht hatte, und leistete den Päpsten Schutz gegen die salischen Kaiser. Sein Berater, Abt Suger von Saint-Denis (1122–51), baute die Zentralverwaltung auf und knüpfte durch seinen Freund Bernhard von Clairvaux Beziehungen zu den neuen Mönchsorden. Der Einfluß der Curia regis wurde zurückgedrängt, neben ihr entwickelte sich „ein engerer Rat, bestehend aus den curiales, domestici, palatini, also aus den Beamten des königlichen Hauses und besonderen Vertrauensleuten des Königs . . . Hier haben wir das erste ständige Organ der Zentralverwaltung“.422 Infolge der Kreuzzüge, in denen sich die Franzosen als „auserwähltes Werkzeug Gottes“ hervortaten, sowie des 1124 erfolgenden Angriffs durch Heinrich V. entstand ein frühes französisches Nationalgefühl, das die Kapetinger für den Auf- und Ausbau ihrer Macht nutzen konnten. Ludwig VI. hatte fast alle großen Lehnsbarone hinter sich, als er gegen den letzten Salier zu den Waffen rief. Unter Ludwig VII. (1137–80), der 1147–49 am 2. Kreuzzug teilnahm, während Suger von St. Denis die Regierungsgeschäfte leitete, trat zunächst ein Rückschlag ein, doch konsolidierte sich langfristig die Monarchie, die sich durch den Königsmythos, durch Berufung auf die Salbung und die von den Königen vollbrachten bzw. ihnen zugeschriebenen Heilungswunder legitimierte.423 Durch 422

Mitteis, Der Staat, S. 205. Vgl. auch ebd., S. 282 ff. Vgl. M. Bloch, Die wundertätigen Könige; Kämpf, Pierre Dubois, S. 33 ff.; F. Kern, Gottesgnadentum, S. 100 ff.; G. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, S. 185 ff.; Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 145 ff. 423

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Handauflegen sollen sie ihre Untertanen von Hautkrankheiten und Abszessen (Skrofeln) befreit haben. Ludwig VII. schlug sich im Papstschisma von 1159 auf die Seite Alexanders III., während Barbarossa Viktor IV. unterstützte. Der französische König hatte sich somit für den rechtmäßigen Nachfolger Petri entschieden, was sein Ansehen in Europa beträchtlich stärkte.424 „In seiner unmittelbaren Umgebung schuf sich der König eine homogene, ihm treu ergebene Helferschicht. Die großen Hofämter wurden mehr und mehr zu bloßen Ehrenämtern des Feudaladels, während das Königtum im administrativen Bereich auf kleine Dienstleute zurückgriff, die loyal dem Herrscher ergeben waren und durch Heiratsverbindungen allmählich als Gruppe Konsistenz gewannen“ (S. 48). „Gegenüber den französischen Fürsten präzisierte Ludwig VII. den monarchischen Herrschaftsanspruch, dem er auf großen Versammlungen von geistlichen und weltlichen Herren Ausdruck verlieh. Ohne Ansehen des Rangs der einzelnen Adligen in der Lehnshierarchie bezeichnete das Königtum seit 1145 alle Vasallen als Barone und begründete damit die Idee eines einheitlichen Untertanenverbands, in den Herzöge, Grafen und andere adlige Amtsträger hineinnivelliert wurden“ (S. 48 f.). Entscheidende Weichenstellungen für den Aufstieg und die Festigung der Monarchie, d. h. für die Genese des französischen Einheitsstaates gelangen Philipp II. Augustus (1180–1223)425 durch geschickte Ausnutzung der politischen Lage. Er war der eigentliche „Begründer des französischen Staates und des französischen Königsrechts . . . Durch Heiratsallianzen und Eroberungen, vor allem durch seinen Sieg 1214 bei Bouvines über König Johann von England, Kaiser Otto IV. und Graf Ferrand von Flandern schuf er faktisch ein französisches Reich. Außer auf die königlichen Stammlande, das eigentliche Frankreich (Francia), zu denen jetzt (neben der Ile de France) auch die Champagne, Blois, Burgund und Nevers und die nordwestlichen Lehen bis zum Ärmelkanal gehörten, erstreckte sich die Jurisdiktion Philipps auch auf die Herzogtümer bzw. Grafschaften Normandie, Aquitanien, Bretagne, Anjou und Touraine oder auf Teile davon, die er hauptsächlich von König Richard (1189–1199) und König Johann (1199–1216) von England gewonnen hatte“.426

424 Vgl. zum folgenden B. Schneidmüller, Die Entstehung Frankreichs, S. 47 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz beziehen sich auf diesen Text. 425 Zur Politik Philipp Augusts vgl. J. W. Baldwin, The Government of Philip Augustus; R.-H. Bautier (Hg.), La France de Philippe Auguste. Zur Stellung der deutschen Fürsten im Kampf für und wider den französischen König vgl. W. Kienast, Die deutschen Fürsten im Dienste der Westmächte. Bd. 1, S. 97 ff. 426 Berman, S. 709 f. “Philipps Leistung“ bestand nach Berman darin, „daß er eine integrierte politische und juristische Struktur errichtete, die sowohl seine Stammlande als auch die mit militärischen und politischen Mitteln hinzuerworbenen Gebiete umfaßte. Philipp II. tat für Frankreich das, was Heinrich II. eine Generation vorher für England und Roger II. zwei Generationen vorher für Sizilien getan hatte“ (S. 710). Zur Persönlichkeit und zum Staat Philipp Augusts vgl. auch ebd., S. 711 ff.

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Auch Philipp II. vermehrte, wie seine Vorgänger, das Krongut und schuf neue Institutionen der königlichen Zentralverwaltung.427 Er übertrug „das Institut der Baillis aus der Normandie nach Frankreich, gestaltete es aber eigenartig aus, so daß es die Züge des Sheriffs und des Reiserichters in sich vereinigte“ (S. 288). Die Funktionen der Baillis umschrieb er 1190 in seinem „politischen Testament“, das er vor dem Aufbruch zum 3. Kreuzzug festlegte: „Danach sind die Baillis stets Mitglieder der königlichen curia, die in die Provinzen entsandt werden, aber jährlich in Paris erscheinen müssen, um Rechenschaft zu legen und über die Lokalverwaltung Bericht zu erstatten. In den Provinzen sollten sie monatliche Gerichtstermine nach Muster der normannischen Assisen abhalten und sich dabei – wohl nach englischem Vorbild – der Mitwirkung von vier legalen Männern bedienen. Ihre Bezirke wurden vorläufig nicht genau umgrenzt und auch nur mit dem Namen des Bailli bezeichnet. Später sind die Baillages die Tragpfeiler der französischen Verwaltung, die eigentlichen Mittelbehörden geworden; die Baillis wurden in ihnen seßhaft und führten im Süden vielfach den Namen Seneschall, der aber mit dem älteren Seneschallamt nichts zu tun hat“ (S. 289 f.). Die Rechtsprechung der Grundbesitzer wurde damit zwar nicht beseitigt, aber königlicher Kontrolle unterworfen. „Die Mittel der Rechtsbewährung gegenüber den Feudalherren wurden immer vervollkommnet. Die Klagen wegen Rechtsverweigerung nahmen dauernd zu und wurden schon bei der kleinsten Verzögerung zugelassen . . .“ (S. 290). „Alle Fäden der Verwaltung liefen am Königshofe, in der curia regis, zusammen“ (S. 289), die von Berufsbeamten und professionellen Juristen geleitet wurde. So war der König von Frankreich zu Beginn des 13. Jahrhunderts tatsächlich weitgehend souverän. Er mußte nicht nur keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkennen, wie ihm Innocenz III. in der Bulle Per venerabilem von 1202 versicherte, er war auch Princeps in seinem Land, der den Adel beherrschte und mit Hilfe der Curia regis und seinen Prévôts (Landverwaltern) und Baillis (Inspektoren) das ganze Land regierte. Zwar verfügte er noch nicht über die Machtmittel des absolutistischen Staates der Neuzeit, wie er im 17. Jahrhundert von Ludwig XIV. realisiert wurde, doch waren wichtige staatliche Institutionen geschaffen, die von seinen Nachfolgern übernommen und ausgebaut werden konnten. „Als sich Philipp II. im Verein mit dem englischen König Richard und Kaiser Friedrich I. Barbarossa 1191 zur Teilnahme am 3. Kreuzzug entschloß, konnte er ein geordnetes Reich zurücklassen. Rechtsprechung, Finanzen und Verwaltung waren organisiert, der königliche Rat, das Hofgericht und die Rechnungskammer funktionierten auch ohne die konkret anwesende Person der Monarchen als Institutionen in ihrer Bindung an die transpersonale ,Krone Frankreichs‘. Sie waren mehr

427 Vgl. zum folgenden Mitteis, Der Staat, S. 286 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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und mehr in Paris konzentriert, das . . . allmählich in den Rang einer ,Hauptstadt‘ aufrückte“.428 Eine weitere Konzentration der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt erfolgte unter Ludwig IX. dem Heiligen (1226–70).429 Dieser verbannte den Zweikampf aus den Gerichtsverhandlungen und schuf ein hierarchisches System von Gerichtshöfen mit ordentlichem Berufungsverfahren. Er verwandelte das königliche Gericht (parlement) von Paris in einen Appellationsgerichtshof. Alle Appellationen der Adelsgerichte wurden dem Pariser Hofgericht zugewiesen, dessen Urteile aufgezeichnet wurden und dadurch normative Geltung erlangten. So geriet die lokale und feudale Rechtsprechung unmittelbar unter königliche Kontrolle, die von Berufsjuristen ausgeübt wurde.430 Während der Regentschaft Ludwigs des Heiligen festigte sich das französische Nationalbewußtsein, das schon unter Philipp Augustus aufgekommen war. Der Aufstieg des Karlskultes und die neue Königsmythologie verhalfen der Monarchie zu einer ausreichenden Legitimation. Die Apotheose des Königs in der Geschichtsschreibung der Zeit Philipps II. (Rigord, Guilelmus Brito, Aegidius von Paris, Helinand von Froidmont) und die Kritik an der Entartung der feudalistischen Gesellschaftsordnung in den Fürstenspiegeln der Zeit Ludwigs des Heiligen (Vincenz von Beauvais und Gilbert von Tournai) wurden bereits oben (S. 476 ff.) erwähnt. Durch sie wurde der Sinn und Zweck der Machtverdichtung erwiesen und die Notwendigkeit der Staatswerdung im Bewußtsein der Regenten und ihrer Untertanen verankert. Auch während der Abwesenheit des Königs, der am 6. und 7. Kreuzzug teilnahm und auf dem letzten den Tod fand (1270), funktionierte die monarchische Zentralverwaltung. Ludwigs Bruder Karl von Anjou, der nach der Schlacht von Benevent (1266) Sizilien vom Papst als Lehen empfing, versuchte derweil ein das Mittelmeer umspannendes Reich mit dem Zentrum Sizilien zu errichten und hegte Pläne zur Wiederherstellung eines „Lateinischen Kaiserreichs“ in Byzanz. Seine Bemühungen scheiterten aber, da ein von Byzanz und Aragón unterstützter Volksaufstand („sizilianische Vesper“) 1282 zur Vertreibung aller Franzosen aus Sizilien führte und die französische Herrschaft in Italien beendete.

428

B. Schneidmüller, Die Entstehung Frankreichs, S. 56. Vgl. Berman, S. 716 ff.; Le Goff, Saint-Louis; Kienast, Deutschland und Frankreich. Bd. 3, S. 585 ff.; ders., Die deutschen Fürsten im Dienste der Westmächte. Bd. 2, S. 41 ff.; Mitteis, Der Staat, S. 368 ff.; G. Sivéry, Saint Louis et son siècle. 430 Das geltende königliche Zivil- und Strafrecht, das in den Königsgerichten angewandte Gewohnheitsrecht, die Sitten und Gebräuche der Leute von Beauvais sowie die Arbeitsweise der Gerichte und die Verfahrensordnungen wurden beschrieben von Philippe de Beaumanoir, Coutumes de Beauvaisis (ca. 1283). Vgl. dazu Berman, S. 725 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 163 ff. Nach Kienast bildet Philippe de Beumanoir zusammen mit Henry de Bracton und Eike von Repgow, dem Verfasser des Sachsenspiegels (ca. 1225), „das Dreigestirn der großen mittelalterlichen Kodifikatoren des heimischen Landrechts“ (Deutschland und Frankreich. Bd. 2, S. 466). 429

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Zur Beherrschung des weltlichen Adels durch die königliche Zentralgewalt kam die des Klerus, die unter Philipp IV. dem Schönen (1285–1314) eine neue Qualität erreichte.431 Der König errichtete einen Rechnungshof (Chambre de comptes) und berief seit 1302 Städtedeputierte als dritten Stand zur Versammlung der Geistlichkeit und der Barone. „Philipp IV. baute vor allem mit juristisch geschulten Helfern den Staatsapparat auf allen Ebenen in solcher Weise aus, daß er politische Unternehmen mit präziser Schlagkraft durchzusetzen vermochte. Und das geschah nicht mehr nur mit dem Schwert, sondern eben auch mit der Feder seiner Fachleute, was besonders im Fall kirchlicher Konflikte von Vorteil war“.432 Unter seinen Helfern waren so bedeutende Köpfe wie Pierre Flote, Guillaume de Nogaret, Enguerrand de Marigny und Guillaume de Plaisians, die als Legisten ausgewiesen waren und in der anstehenden Auseinandersetzung mit dem Papsttum eine entscheidende Rolle als intellektuelle Vordenker spielten. In der Umgebung Philipps wurde ferner der von Thomas von Aquin hoffähig gemachte und ins Christentum eingebundene Aristotelismus für die Begründung der weltlichen Monarchie fruchtbar gemacht, der eine völlig neue Sicht des politischen Gemeinwesens ermöglichte und den Widerstand gegen den kurialen Suprematieanspruch legitimierte. Der Machtkonflikt, den Philipp der Schöne mit Papst Bonifaz VIII. (1294–1303) auszufechten hatte, provozierte eine theoretische Kontroverse zwischen König- und Papsttum,433 die in ihrer Intensität den intellektuellen Kämpfen aus der Zeit des Investiturstreits und den publizistischen Auseinandersetzungen Kaiser Friedrichs II. mit der Kurie in Nichts nachstand. Anlaß und Ausgangspunkt des Streits waren fiskalische Probleme gewesen. Um seinen Krieg gegen England zu finanzieren, hatte Philipp IV. 1294 auch dem Klerus des Königreiches Steuern auferlegt. Der Papst protestierte heftig dagegen,434 doch kümmerte sich der König nicht um seinen Einspruch. Zwar mußte Bonifaz VIII. einlenken, doch schwelte der Konflikt weiter, der seit 1301 zum „Entscheidungskampf“ eskalierte.435 In der Folgezeit begann ein gegenseitiger propagandistischer Vernichtungsfeldzug, der mit der vollständigen Entmachtung des Papsttums endete und zu einer prinzipiellen Neubestimmung des Verhältnis431 Zum Königtum Philipps IV. und zum Sieg der „Salischen“ Erbfolge vgl. J. Favier, Philippe le Bel; Schramm, Der König von Frankreich. Bd. 1, S. 222 ff.; J. R. Strayer, The Reign of Philip the Fair. 432 H. Müller, Frankreich im Spätmittelalter, S. 68. 433 Vgl. Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 5, S. 374 ff.; Kämpf, Pierre Dubois, S. 53 ff., 94 ff.; H. Wieruszowski, Vom Imperium zum nationalen Königtum. 434 Vgl. Bonifaz VIII., Bulle Clericis laïcos (1296). In: C. Mirbt (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums, S. 161 ff. Zur Persönlichkeit und zu den Zielen Bonifaz’ VIII. vgl. auch H. Fuhrmann, Die Päpste, S. 139 ff.; Haller, Das Papsttum. Bd. 5: Der Einsturz, S. 97 ff. 435 Vgl. R. Scholz, Die Publizistik, S. 8 ff.; Dempf, Sacrum Imperium, S. 405 ff.; Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, S. 287 ff.; J. Rivière, Le Problème de l’Eglise et de l’Etat au temps de Philippe le Bel.

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ses von Kirche und Staat führte. Bonifaz VIII. erneuerte und steigerte in der Bulle Unam Sanctam vom 18. November 1302 den alten hierokratischen Weltherrschaftsanspruch des Apostolischen Stuhles in einer bislang unbekannten Weise und drohte dem französischen König mit Exkommunikation, weshalb dessen Siegelbewahrer Guillaume de Nogaret den Papst am 7. September 1303 mit Hilfe der Colonna zu Anagni gefangensetzte, um ihn durch einen Ketzerprozeß des Amtes zu entheben.436 Dazu kam es allerdings nicht, da Bonifaz VIII. kurze Zeit darauf an den Folgen des Attentats starb. Sein Nachfolger Benedikt XI. (1303–4) belegte Wilhelm von Nogaret und Sciarra Colonna mit dem Kirchenbann und unterzog sie einem kanonischen Prozeß. Er starb jedoch bereits wenige Monate nach dem Antritt seines Pontifikats. 1305 wurde Erzbischof Bertrand de Got von Bordeaux zu seinem Nachfolger bestimmt, der sich Clemens V. (1305– 14) nannte und von Philippe le Bel vollständig beherrscht und schließlich 1309 zur Übersiedlung nach Avignon gezwungen wurde. Er war der erste einer Reihe französischer Päpste, dem bis zu Urban V. (1362–70) sechs weitere nachfolgten. Während seines Pontifikats wurde der Templerorden verfolgt und vernichtet (1307–14). Das Massaker wurde auf dem allgemeinen Konzil von Vienne (1311– 12) sanktioniert.437 Die theoretischen Debatten, die den Konflikt begleiteten und anstachelten, werden im nächsten Abschnitt untersucht. In ihnen reflektierte sich der Entscheidungskampf zwischen den drei rivalisierenden politischen Formprinzipien Reich, Ekklesia, Staat. Der erwachende Etatismus trug letztlich den Sieg über den hierokratischen Papalismus und den imperialen Cäsaropapismus davon. Die Idee einer vom Papst gelenkten Theokratie fand in Bonifaz VIII. ihren Gipfelpunkt und ihren Totengräber.438 Die christliche Reichsidee wurde zum Spielball verfeindeter Mächte, die sich anstelle des römischen Kaisers zum Repräsentanten der Christianitas stilisierten und jeweils für sich den Kaisertitel reklamierten. Nach dem Ende der Auseinandersetzungen war die Pluralität der westlichen Monarchien auch im Bewußtsein der Juristen und Philosophen fest verankert. Der französische Staat hatte sich endgültig aus der Klammer von Imperium und Sacerdotium befreit. Das Königtum hatte den Klerus mit seiner päpstlichen Spitze unterworfen und den weltlichen Adel und die Städte in die Verwaltung eingebunden. Das Politische gewann eine neue Qualität, die Politische Philosophie erlebte einen ge-

436 Vgl. auch R. Holtzmann, Wilhelm von Nogaret; H. Finke, Aus den Tagen Bonifaz’ VIII. 437 Vgl. E. Müller, Das Konzil von Vienne. 438 Vgl. Wyduckel, Princeps legibus solutus, S. 142: „Als in der welthistorischen Szene von Anagni 1303 Wilhelm von Nogaret dem greisen Papst gegenübertrat, um ihn gefangenzusetzen, wurde deutlich, daß das Papsttum aufgehört hatte, eine universale Macht zu sein und daß nunmehr neue politische Lebensformen und Vorstellungen Platz greifen würden, die maßgeblich durch das aufstrebende Königtum und seine Legisten geprägt sein sollten.“

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waltigen Aufschwung und emanzipierte sich aus der Bevormundung durch die Theologie. Das Institutionengefüge des werdenden französischen Staates erwies sich als stabil und tragfähig. Durch die Übernahme und den Ausbau der von Philipp Augustus und Ludwig dem Heiligen geschaffenen Ämter sowie durch seine aggressive Außen- und Annexionspolitik sicherte Philipp der Schöne die Grundlagen für die weitere Festigung und Verallgemeinerung der Königsgewalt. Seine Nachfolger konnten darauf aufbauen und den weiteren Aufstieg der Monarchie vorantreiben.439 Das Papsttum blieb unter der Kontrolle des französischen Königs. Als Philipp der Schöne 1314 starb, war die französische Monarchie so gefestigt, daß sie auch Turbulenzen überstehen konnte und weder durch Mißernten und Hungersnöte (1315–17) noch durch das Fehlen männlicher Nachkommen in der nächsten Generation wankend wurde. Es folgten nacheinander seine Söhne Ludwig X. der Zänker (1314–16), Philipp V. der Lange (1316–22) und Karl IV. der Schöne (1322–28), ehe die Herrschaft auf Philipp VI. von Valois (1328–50) überging. Zwar gab es auch in Zukunft dynastische Streitigkeiten und Konflikte zwischen Krone und Adel,440 doch setzte sich die Monarchie letztendlich durch. Der Streit kreiste nicht mehr um die Frage „Personenverbands- oder institutioneller Flächenstaat?“, sondern darum, wer die Macht im letzteren ausüben und demzufolge die Richtlinien der Politik bestimmen konnte. „Spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatten sich in Frankreich die Grundzüge des modernen, zentral verwalteten Staates herausgebildet, wie er uns in annähernder Vollendung später im Frankreich Ludwigs XIV. entgegentritt“.441 1328 übernahm das Haus Valois die Herrschaft, die es bis 1589 innehatte, um schließlich von den Bourbonen abgelöst zu werden. Zwar stieß die königliche Verwaltung immer wieder und noch lange Zeit auf den Widerstand der Großgrundbesitzer, der Kirche und der Städte, doch konnte sie ihn in der Frühen Neuzeit schließlich brechen. Bereits Ludwig XI. (1461–83) gelang es, die Stände zu unterwerfen und eine absolute Monarchie zu begründen. Während in England nach einer längeren Zeit der Machtbalance zwischen Krone und Parlament schließlich die Stände den König in die Knie zwangen und die Herrschaft des Parlaments herbeiführten, wurde in Frankreich der entgegengesetzte Weg beschritten. Allerdings schwelte auch hier der Konflikt noch längere Zeit fort. Es

439 Zu weiteren Entwicklung der französischen Monarchie, zur Entstehung und Etablierung des Ancien Régime und des Absolutismus vgl. P. Anderson, Die Entstehung, S. 107 ff.; Bendix, Könige oder Volk. Bd. 2, S. 123 ff.; H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 294 ff. (mit kommentierter Bibliographie: S. 597 ff.); H. Müller, Frankreich, S. 74 ff.; E. Hinrichs, Renaissance, Religionskriege und Begründung der absoluten Monarchie (Literatur: S. 183 ff.). 440 Vgl. Eberhard, Herrscher und Stände, S. 508 ff. 441 H. Schulze, Staat und Nation, S. 34.

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gelang erst Ludwig XIV. (1643–1715) in der Mitte des 17. Jahrhunderts, die Fronde (1648–53) zu unterdrücken und den Konflikt zu seinen Gunsten zu entscheiden. Während er in der Folge den klassischen Fall eines absolutistischen Obrigkeitsstaates realisierte, der den anderen kontinentaleuropäischen Staaten als Orientierungsmuster diente, wurden die absolutistischen Bestrebungen der Stuarts in England abgewehrt. 1649 wurde Karl I. vom Parlament geköpft, und als dann Karl II. nach 1660 die Monarchie zu restaurieren begann, mußte er sich – als king in parliament – in die Gewaltenteilung fügen. Er durfte künftig nur noch die Außenpolitik bestimmen, während das Parlament die Innenpolitik organisierte. *** Damit kann Bilanz gezogen, können die verfassungsgeschichtlichen Ergebnisse der hoch- und spätmittelalterlichen Entwicklung in Sizilien, England und Frankreich abschließend zusammengefaßt und mit der Lage im Heiligen Römischen Reich verglichen werden. Wie sich zeigte, hing die Entstehung von Staaten in den einzelnen Ländern von kontingenten Konstellationen ab. Es gab keine Notwendigkeit und kein ehernes Gesetz der Staatenbildung. Neben dem Geschick einzelner Regenten waren spezifische soziale, rechtliche, ökonomische, religiöse, kulturelle und vor allem machtpolitische Faktoren ausschlaggebend. Dennoch lassen sich einige Übereinstimmungen konstatieren. Überall wurden die feudalen Lehnsverhältnisse durch den werdenden Staat verdrängt.442 Die Fehden zwischen den mächtigen Adelsfamilien wurden stillgestellt und durch ordentliche Verfahren an den Königsgerichten ersetzt. Mit Hilfe juristisch geschulter Beamter kontrollierten die Könige Land und Leute. Transpersonale Staatsvorstellungen entstanden. Das Königtum wurde zu einem Amt, dem die jeweiligen Regenten ihre persönlichen Interessen unterzuordnen hatten. Der Fiskus avancierte zum neuen Christus.443 Selbstbehauptung im eigenen Territorium und Eroberung neuer Gebiete wurden zu den Grundprinzipien der Politik. Diese diente nicht mehr (ausnahmslos) der Vollstreckung des – vom Papst und den Theologen interpretierten – göttlichen Heilsplanes, sondern entwickelte sich zu einem autonomen Betätigungsfeld außerhalb der Ekklesia. Durch die andauernden Kämpfe zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt wurde sie auf ihre eigene Bahn gebracht. Die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt durch die sich festigende Monarchie gelang vor allem den normannischen und den von ihnen inspirierten Herrschern in Sizilien, Eng442 Vgl. v. d. Heydte, Die Geburtsstunde, S. 54: „An die Stelle des zweiseitig-persönlichen Verhältnisses zwischen Lehensherrn und Vasall tritt der einseitig-unpersönliche Herrschaftsanspruch der Staatsführung im Namen des Staates“. 443 Vgl. Kantorowicz, Die zwei Körper, S. 178 ff.

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land und Frankreich, die sich gegenüber dem Kaiser- und Papsttum verselbständigten, eine effiziente Verwaltung installierten, die Entmachtung der alten Aristokratie betrieben und so die „Entfeudalisierung“ der Gesellschaft einleiteten. Doch nicht nur hier, sondern auch in Spanien (Aragon, Navarra, Kastilien, Portugal), Skandinavien (Dänemark, Schweden, Norwegen) und selbst im Osten (Böhmen, Polen, Ungarn, Rußland) ging die Zeit des Lehnswesens – wenngleich langsamer und mit zeitlichem Rückstand – allmählich ihrem Ende entgegen.444 Der Kampf der königlichen Zentralgewalt gegen die adligen Sippen trat auch hier im späten Mittelalter in ein entscheidendes Stadium. Während sich die Emanzipation der Fürstentümer im Osten und Norden aber komplizierter gestaltete, schritt sie in den westlichen Monarchien kontinuierlich und unaufhaltsam voran. Neben den regionalen Unterschieden gab es folglich auch identische Strukturen und Entwicklungen in den neu entstehenden Machtkomplexen.445 Die Konsequenzen der Gewaltkonzentration und der Ausbildung des Königsrechts, die Gemeinsamkeiten zwischen den westlichen Monarchien lassen sich mit Harold J. Berman (S. 632 ff.) in neun Punkten zusammenfassen: 1. Der König galt nicht mehr als geistiger Führer in seinem Reich, sondern nurmehr als weltlicher Herrscher, der in spiritualibus dem Papst bzw. der Kurie untergeordnet war. 2. Er war nicht länger Primus inter Pares, sondern Regent aller Untertanen. 3. Seine Aufgabe war die Sicherung des Friedens und die Durchsetzung der Gerechtigkeit. 4. Die einzelnen Monarchen forcierten den Ausbau einer straffen Verwaltung durch königliche Fachbeamte. 5. Sie wurden zugleich zu obersten Gesetzgebern. 6. Mit Hilfe geschulter Juristen entwickelten sie neben dem kanonischen Recht einen Corpus rein weltlichen Rechts. 7. Theoretisch blieb der König dem Recht unterworfen, das seine Macht beschränkte. 8. Praktisch wurde seine Macht beschränkt durch die der anderen Gemeinschaften. 9. Die europäischen Könige bildeten eine „internationale Spezialelite“. Infolge der Papstrevolution mußten sich die Könige auf ihre Rolle als Friedensrichter und Ordnungsstifter beschränken. Sie verfügten nicht mehr über die 444 Vgl. Mitteis, Der Staat, S. 393 ff.; Le Goff, Das Hochmittelalter, S. 223 ff.; Berman, S. 777 ff. 445 Zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen der europäischen Monarchien vgl. auch R. Schneider (Hg.), Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich.

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Sakramente, die Ausgestaltung und Verbreitung der christlichen Heilslehre wurden zur exklusiven Aufgabe des Klerus. Die einstige Doppelfunktion des Kaisers als Dominus und Pastor war an zwei unterschiedliche Instanzen übergegangen. Die Stelle der Herrscher übernahmen souveräne Könige, die des Hirten hingegen Päpste, Bischöfe und Priester. Zwar ließen sich einzelne Regenten (Friedrich II., Ludwig der Heilige) weiterhin zu Stellvertretern Gottes auf Erden stilisieren, zwar gelang es mächtigen Regenten (Philipp dem Schönen, Ludwig dem Bayern), die Kurie und die Nachfolger Petri in Schach zu halten oder gar zu beherrschen, doch mußten sie sich letztlich in die Gewaltenteilung zwischen temporalia und spiritualia fügen. Auch die künftigen Auseinandersetzungen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt verschafften den Monarchen nicht mehr den Rang von Priesterkönigen, die in geistlichen Angelegenheiten das Sagen hatten. Stattdessen entwickelten sie sich zu konkurrierenden Herrschern, die keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkannten und sich selbst als Kaiser in ihren Reichen fühlten. Sie unterwarfen die alte Aristokratie und schwangen sich zu obersten Gesetzgebern auf, die mit Hilfe ihrer Bürokratie alle ihre Untertanen regierten und fiskalisch schikanierten. Durch die Etablierung und Verallgemeinerung der Monarchie wurden die zwei eisernen „Zuchtruten“ des Mittelalters, die Kirche und die Leibeigenschaft, überflüssig.446 Sie hatten das selbstsüchtige Gemüt der Menschen „gebrochen und zermürbt“, waren infolge der gelingenden Verinnerlichung nun aber entbehrlich geworden. Die Domestikation des Christenmenschen „hat jetzt die ruhige Form der Erziehung erhalten“. Während sich die westlichen Monarchien stabilisieren konnten, wurde im deutschen Reich die Staatswerdung schon durch die schiere Größe verhindert. Sie wurde zur Sache der einzelnen Fürsten, die sich nach dem Ende der Staufer vollends dem Zugriff des Kaisertums entzogen und sich selbst als die eigentlichen Repräsentanten des Reiches fühlten, die aber im späten Mittelalter nirgends zu einer Machtkonzentration nach sizilisch-englisch-französisch-spanischem Vorbild gelangten.447 Fünf Problemkomplexe standen der Zentralisierung der politischen Entscheidungsgewalt im spätmittelalterlichen Deutschland entgegen:448 1. Das Allodialismusproblem: „Während in Westeuropa nach dem Grundsatz nulle terre sans seigneur (,kein Land ohne [Lehns-]Herr‘) der König als oberster [Lehns-] Herr von Grund und Boden galt, befand sich in Deutschland ein Großteil des Grund-

446 Vgl. zum folgenden Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HW 12, S. 486 f. (Zitate S. 487). Zur Soziogenese des Staates und der durch ihn bewirkten Domestikation der Menschen vgl. auch N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2, S. 123 ff.; ders., Die höfische Gesellschaft. 447 Vgl. Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium, S. 61 ff., 80 ff., 104 ff. (Literatur: S. 111 ff.). 448 Vgl. zum folgenden Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 1 ff. (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung: S. 55 ff.; Literatur: S. 129 ff.). Seitenzahlen in den nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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besitzes als Allod (eigen) in der Hand des Adels und bildete damit die Grundlage für ,autogene‘, das heißt von niemandem – auch nicht vom König – abgeleitete Adelsherrschaft“ (S. 2).449 2. Das Kohärenzproblem: „Im Zusammenhang mit dem Allodialismusproblem, der Größe des mittelalterlichen Reiches, den Schwierigkeiten der Kommunikation sowie den unterschiedlichen Interessen des Königs und der Teilgewalten untereinander ergab sich ein weiteres Grundproblem: ,die Frage nach dem inneren Zusammenhalt oder . . . nach der inneren Differenziertheit des Reiches‘ (MORAW).“ „Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts – unter dem Druck äußerer Bedrohungen – wuchs das deutsche Reich zu einer engeren ,Pflichten- und Lastengemeinschaft‘ (ISENMANN) zusammen“ (ebd.).450 3. Das amtsherrschaftliche Organisationsproblem: Während die Monarchien Westeuropas schon früh damit begannen, „auf einer breiten personellen Basis weisungsgebundener Amtsträger (baillifs, prévots, vicecomites, sheriffs) so etwas wie eine allgemeine Verwaltung aufzubauen“ (ebd.), war der Versuch der Staufer, im Rahmen einer gezielten Reichslandpolitik unfreie Ministerialen als personelle Basis einer Reichsgutverwaltung heranzuziehen, spätestens mit dem Zusammenbruch ihrer Herrschaft an deren Verselbständigung gescheitert. „Es gab keine Reichsverwaltung und damit auch keine Exekutionsorgane des Königs“ (S. 3). 4. Das Kontinuitätsproblem: „Während sich in Westeuropa Erbkönigreiche entwickelten, setzte sich im Reich nach dem Tode Kaiser Heinrichs VI. der Wahlgedanke in der Form des freien Wahlrechts endgültig durch, so daß die Dynastien mehrfach wechselten und damit eine – im Vergleich zu Westeuropa – extreme Diskontinuität entstand . . . Angesichts der grundsätzlichen Ungewißheit über die Nachfolge war das Interesse des Königs zunächst auf die eigene Dynastie und Hausmacht, dann erst auf das Reich gerichtet“ (S. 3). 5. Das Dualismusproblem: „Der König beanspruchte zwar für seine Person von Rechts wegen die Alleinherrschaft am Reich; in der Praxis traf er jedoch auf dualistische Gegenkräfte . . ., etwa in der Gestalt des Papsttums, vor allem aber in Form von Kurfürsten und Fürsten, denen es allerdings erst gegen Ende des Mittelalters gelang, den monistischen Anspruch des Königtums zurückzudrängen, in der Form des Reichstages Anteil an der Reichsverwaltung zu erlangen und auf diese Weise den Dualismus zwischen König und Reich zu institutionalisieren“ (S. 3 f.).451

Der landesherrschaftliche Partikularismus konterkarierte den imperialen Universalismus und paralysierte ihn. Durch ihn wurde der spätere deutsche Föderalismus grundgelegt, der noch heute dem englischen und französischen Zentralis449 Vgl. dazu auch Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige; W. Schlesinger, Beiträge. Bd. 2, S. 9 ff.; ders., Herrschaft und Gefolgschaft, S. 186 ff. 450 Vgl. auch E. Isenmann, Kaiser, Reich und deutsche Nation am Ausgang des 15. Jahrhunderts, S. 163 ff.; P. Moraw, Bestehende, fehlende und heranwachsende Voraussetzungen des deutschen Nationalbewußtseins im späten Mittelalter. 451 Vgl. auch K. Bosl, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, S. 222 ff.; Eberhard, Herrscher und Stände, S. 494 ff.; T. M. Martin, Auf dem Weg zum Reichstag; Moraw, Von offener Verfassung, S. 155 ff., passim; ders., Art. Reich, S. 446 ff.; ders., Die Rolle der Juristen, S. 77 ff.; Schubert, König und Reich, bes. S. 297 ff.

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mus gegenübersteht und im Zuge der europäischen Einigung einen Ausgleich mit diesem seinem Widerpart verlangt. Der Konflikt zwischen Imperium und Sacerdotium sowie zwischen Kaisern/Königen und Fürsten schuf in Deutschland zugleich den erforderlichen Raum für die Entfaltung der Gemeinden und Genossenschaften und brachte so den Korporatismus auf den Weg, der zu einer Besonderheit der deutschen Demokratie des 20. Jahrhunderts wurde.452 Während die westlichen Monarchien straff organisierte Zentralverwaltungen installierten, die von geschulten Juristen und Beamten geleitet wurden, stemmten sich die deutschen Lande gegen die Zentralisierung und den Ausbau der königlichen Macht. Wurde diese Politik von der früheren, am Ideal des Einheitsstaates orientierten „borussischen“ Geschichtsschreibung scharf kritisiert und der fürstliche und ständische Egoismus als Grund und Ursache des deutschen „Sonderweges“, der Auflösung des Reiches in einen „Flickenteppich“ oder „Sandhaufen armseliger Kleinstaaterei“ attackiert, so stellt sich den heutigen Historikern die Frage, ob darin nicht vielmehr die Grundlage der neuzeitlichen Entwicklung zu Pluralität und Freiheit anstatt zu öder Einheit und „gleichschaltender absolutistischer Diktatur“ zu sehen ist.453 An dieser Stelle sind die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Entwicklungen nicht zu bewerten. Festzuhalten bleibt, daß beide Trends – Machtkonzentration in Händen mächtiger Monarchen bzw. Verselbständigung der Fürsten und Stände – dem imperialen Universalismus zuwider liefen, das Kaiser- und Papsttum schwächten und schließlich beide Institutionen ins Abseits drängten.454 So war das weltumspannende christliche Reich im Laufe der Zeit zu einer Fata Morgana geworden. Die christliche Reichsidee war durch die genannten Entwicklungstendenzen zur Schimäre geworden. Die von Kaiser und Papst in harmonischem Mit- und Gegeneinander zu lenkende Einheit der Christenheit hatte sich 452 Die Grundlegung und Entfaltung genossenschaftlicher und kommunaler Lebensformen in Deutschland infolge der Reichspolitik und des Konflikts zwischen Imperium und Sacerdotium betont – im Gefolge Otto von Gierkes (Genossenschaftsrecht) – nachdrücklich A. Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung, S. 345: „Da sich die Kämpfe zwischen Kaisertum und Papsttum auf die Kernlandschaften des römisch-deutschen Reichs konzentrierten, erweiterten sie hier mehr als in anderen westeuropäischen Ländern nicht nur den Handlungsspielraum der regionalen und lokalen Gewalten. Zugleich begünstigten sie in Deutschland besonders nachhaltig die Entfaltung von Genossenschaften, Bruderschaften und Gemeinden, die ein überaus wertvolles, in der jüngsten Vergangenheit vielfach verkanntes Traditionsgut demokratischen Lebens in Deutschland darstellen.“ 453 Diese Auffassung vertritt hinsichtlich der frühneuzeitlichen Entwicklung mit zunehmender Aggressivität G. Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 13 ff.; ders., Im Glanz des Reichs; ders., Die Grenzen der Machthistorie. In: FAZ v. 18. Juli 1992, S. 27; ders., Die verspottete Nation. In: Die Zeit v. 4. November 1994, S. 58. 454 Es war schließlich ein Franzose, der die deutsche „Kleinstaaterei“ beseitigte und der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner) den Weg zum Einheitsstaat ebnete: „Am Anfang war Napoleon“, lautet der erste Satz der dreibändigen deutschen Geschichte von T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 11.

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als frommer Wunsch entpuppt. Die Christianitas bildete nur noch die Summe divergierender, mit- und gegeneinander agierender Dynastien und Völkerschaften, die zwar noch den Glauben an den Gekreuzigten und einige aus ihm deduzierte ethische Maximen teilten, ansonsten aber vor allem widerstreitende Interessen verfolgten. Während das Kaiserreich (Imperium) aufgrund des Kampfes zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, universalistischen und partikularistischen Kräften sowie der Verselbständigung und Konsolidierung der einzelnen Königreiche (Regna) in eine große Krise schlitterte, fand die christliche Reichsidee im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert jedoch weiterhin bedeutende Verfechter. Waren doch, wie eingangs bemerkt, die alten Sehnsüchte und Hoffnungen (Friede und Gerechtigkeit), Ängste und Befürchtungen der Menschen (Auftauchen des Antichrist, Teuerungen und Verwüstungen als Vorboten des kommenden Gottesreiches) von den neu entstehenden Herrschaftsverbänden nicht befriedigt oder zerstreut worden. Sie blieben virulent und verschafften sich Ausdruck in neuen Theorien, die sich um Restitution des alten Reiches oder aber um eine neuartige Legitimation der sich auf Dauer stellenden Monarchien bemühten. c) Die Reichsidee im Spannungsfeld von Theologie, Jurisprudenz und Philosophie Welche Denkmöglichkeiten waren vorhanden nach dem Ende der Staufer? Welche theoretischen Instrumente gab es? Welche Ordnungsvorstellungen wurden durch sie ermöglicht? – Der Niedergang und Zerfall des Kaisertums mußte seine Anhänger zutiefst erschüttern. Ihr gesamtes Ordnungsdenken war ausgerichtet auf das Reich als Schutzschirm der Kirche (defensor ecclesiae) und Aufhalter (katechon) des Antichrist. Sie waren überzeugt davon, im letzten der vier Daniels-Reiche zu leben, mit dem zugleich die Welt untergehen würde. Wer, wenn nicht ein mächtiger Kaiser, konnte das jüngste Gericht hinauszögern? Wer sollte die weitere Missionierung, die Stabilisierung und Ausbreitung des Christentums organisieren? Den Verfechtern des imperialen Universalismus blieben drei alternative Reaktionen: entweder das beharrliche Festhalten an der Reichsidee und eine melancholische Trauer über den Niedergang des Reiches; oder aber apokalyptische Visionen vom Antichrist und vom Ende aller Tage; oder schließlich der Versuch, die überkommenen Vorstellungen mit der Realität in Einklang zu bringen und zu versöhnen. Den ersten Weg wählten Alexander von Roes, Jordanus von Osnabrück und Engelbert von Admont,455 den zweiten die radikalen Strömungen der 455 Vgl. dazu H. Heimpel, Alexander von Roes; ders., Das Wesen des deutschen Spätmittelalters, S. 38 ff.; R. Imbach/C. Flüeler, Einleitung zu Dante Alighieri, Monarchia, S. 27 ff.; Kölmel, Regimen, S. 491 ff.; W. Mohr, Alexander von Roes; Moraw, Art. Reich, S. 448 f. sowie die unten (Anm. 458 ff.) genannte Literatur.

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Bettelorden, die vom nahenden Ende und der bevorstehenden Parusie überzeugt waren.456 Um eine Vermittlung der Kaiser- und Reichsidee mit der faktischen Selbständigkeit der westeuropäischen Monarchien und der oberitalienischen Stadtrepubliken bemühten sich die kaisertreuen Philosophen und Theologen des 14. Jahrhunderts (Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham u. a.)457 sowie die Kommentatoren oder Postglossatoren des römischen Rechts (Bartolus von Sassoferrato, Baldus de Ubaldis u. a.), die den Kaiser als Garanten der allgemeinverbindlichen Rechtsordnung begriffen, ihm in konkreten politischen Konflikten aber ein direktes Weisungsrecht gegenüber den italienischen Kommunen bestritten, die Autonomie der Städte im Rahmen des Imperiums betonten und eine Synthese von Partikularismus und Universalismus erstrebten (s. u., S. 554 ff.). Neben den Brüchen gab es folglich auch Kontinuitäten im spätmittelalterlichen Reichsdenken. Die Idee des Gottesreichs blieb lebendig und mit ihr die karolingischottonische Tradition.458 In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verbreitete sich vor allem unter den deutschen Protagonisten des Kaisertums Wehmut und Niedergeschlagenheit. Empört stellte Alexander von Roes zu Beginn der 80er Jahre fest, daß in italienischen Kirchenkreisen der Kaiser nicht mehr im Gebet bedacht wurde. Wie auch? Es gab ja keinen Kaiser mehr. Die nach dem sog. Interregnum (1251–72) gewählten „kleinen“ Könige – von Rudolf von Habsburg (1273–91) bis Albrecht I. (1298–1308) – waren keine „echten“ Kaiser mehr. Sie konzentrierten sich auf die Stabilisierung und Vermehrung ihrer Hausmacht und vernachlässigten darüber die Italienpolitik.459 Es bestand die Gefahr, daß das Reich den Franzosen übertragen werde. Erst Heinrich VII. von Luxemburg (1308/12–1313) bemühte sich am Ende seiner Regentschaft noch einmal um die Restitution der Kaisermacht, doch waren seine Anstrengungen vergeblich. In einer kleinen Schrift, dem Tractatus super Romano imperio, den Alexander von Roes wenig später seinem Memoriale de prerogativa imperii Romani (1281) 456 Vgl. dazu Benz, Ecclesia spiritualis, S. 256 ff.; Dempf, Sacrum Imperium, S. 312 ff.; Töpfer, Das kommende Reich des Friedens, S. 211 ff. 457 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Miethke, Politisches Denken und monarchische Theorie, S. 133 ff.; ders., Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter, S. 390 ff. bzw. Politische Theorien im Mittelalter, S. 75 ff. Siehe auch unten, S. 536 ff. 458 Vgl. dazu auch Bock, Reichsidee und Nationalstaaten; F. Heer, Zur Kontinuität des Reichsgedankens im Spätmittelalter; Miethke, Das Reich Gottes als politische Idee. Zur Tradierung und Abwandlung der Vier-Reiche-Lehre durch die Reichstheoretiker (bis hin zu Hegel) vgl. auch G. Lübbe-Wolff, Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen (mit Nachweis der einschlägigen Quellen und der Sekundärliteratur). Zur spätmittelalterlichen Translationstheorie siehe Goez, Translatio imperii, S. 199 ff. 459 Vgl. etwa Boockmann, Stauferzeit, S. 184 ff.; Kern, Die Reichsgewalt des deutschen Königs nach dem Interregnum; Leuschner, Deutschland, S. 119 ff.; Krieger, Die Habsburger; Moraw, Von offener Verfassung, S. 155 ff.; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium, S. 292 ff.

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einfügte,460 beschwor der Domherr Jordanus von Osnabrück noch einmal die Reichseinheit und rief die Fürsten auf, dem König treu zu dienen, anstatt Reichsrechte zu usurpieren.461 Besonders die Kurfürsten werden ermahnt, den zu befürchtenden Untergang des Reiches zu verhindern, um die Heraufkunft des Antichrist und das Weltende hinauszuzögern. Jordanus bemühte die alte gelasianische Zwei-Gewalten-Lehre und die Translationstheorie, um die Deutschen als Beschützer der Ekklesia und Hüter des Gottesreiches zu erweisen. Auch sein jüngerer Zeitgenosse Alexander von Roes polemisierte gegen die französischen Ansprüche auf das Reich und den in Frankreich gepflegten Karlskult. Er reklamierte Karl den Großen für die deutsche Seite und verknüpfte die Translationslehre mit der Kurfürstenfabel, wonach Karl der Große, als er sein Imperium empfing, mit Zustimmung des Papstes das Kurkolleg gestiftet habe, das auf ewige Zeiten den deutschen König als Kandidaten für das Kaiseramt zu wählen habe. In seiner schon erwähnten Denkschrift, dem Memoriale de prerogativa imperii Romani, unterstrich der deutsche Kanoniker die Notwendigkeit des universalen Kaisertums als defensor ecclesiae und begründete eine Arbeitsteilung der drei kontinentalen Mächte: den Deutschen stehe das Kaisertum, den Italienern das Papsttum, den Franzosen das Studium zu, wodurch die Dreieinigkeit der westlichen Christenheit gewahrt bliebe.462 Dreißig Jahre später erinnerte Engelbert von Admont (ca. 1250–1331) an die Herrlichkeit und den Glanz des alten Reiches und begründete den heilsgeschichtlichen Sinn und Zweck sowie – mit aristotelischen Mitteln – die praktische Notwendigkeit des Imperiums, das aber nur zur Zeit des Augustus wirklich existiert habe und seitdem allmählich zerfallen sei.463 So mündeten diese frühen Bemühungen um Wiederaufrichtung des Kaiserreiches aufgrund der gegebenen Verhältnisse in Anklage und Verzweiflung. Erst Dante Alighieri überwand schließlich – inspiriert durch die Bemühungen Heinrichs VII. – die Resignation seiner Vorgänger und ging zu einer neuen Offensive in der Begründung der Renovatio Imperii und des universalen Kaisertums über (s. u., S. 531 ff.). Während die Fürsprecher der Kaiseridee nach dem Tod Friedrichs II. folglich in melancholische Trauer oder in apokalyptische Spekulationen verfielen, öffne460 Alexander von Roes, Schriften. Bzw. (lateinisch–deutsch) Die Schriften des Alexander von Roes. Vgl. dazu H. Grundmann, Die Schriften des Alexander von Roes. 461 Vgl. zum folgenden Heimpel, Alexander von Roes, S. 23 ff. sowie die älteren Interpretationen von G. Waitz, Des Jordanus von Osnabrück Buch über das Römische Reich; F. Wilhelm, Die Schriften des Jordanus von Osnabrück. 462 Vgl. dazu H. Grundmann, Sacerdotium – Regnum – Studium; Miethke, Politische Theorien, S. 95 f. 463 Engelbert von Admont, Liber de ortu, processu et fine Romani imperii (1312/13). Siehe dazu auch A. Posch, Die staats- und kirchenpolitische Stellung Engelberts von Admont; T. Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung, S. 196 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 225 ff.; H. Zinsmeyer, Art. „Engelbert (Poetsch) v. Admont“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. III. (1984), Sp. 1919 f. (mit weiteren Literaturhinweisen).

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ten sich den Gegnern des Kaisertums neue Perspektiven. Ihnen blieben ebenfalls drei Möglichkeiten: 1. kurialistische Euphorie über den Sieg des Papsttums und das Ende des alten Rivalen sowie neue Hoffnung angesichts der sich bietenden Chancen zu einer päpstlichen „Weltherrschaft“; 2. die Übertragung der alten Symbole (corpus mysticum) auf die sich festigenden „nationalen“ Monarchien bzw. die autonomen Stadtrepubliken; 3. die Suche nach neuen Grundlagen und Anhaltspunkten für das politische Denken. Während die Kurialisten die Gunst der Stunde nutzten und sich zu immer neuen Spekulationen über die Herrlichkeit und Superiorität des Papsttums aufschwangen, legitimierten die Verfechter der westlichen Monarchien und der städtischen Freiheiten die Verselbständigung der sich formierenden politischen Einheiten. Dabei kam ihnen der Aufschwung der Philosophie zugute, die sich seit dem hohen Mittelalter allmählich aus dem Klammergriff der Theologie emanzipierte und neue Fundamente für das Politikdenken legte. Die bislang dominierenden „Disziplinen“ oder „Fakultäten“ Theologie und Jurisprudenz hatten wichtige Einsichten vermittelt und stringente Begründungszusammenhänge erstellt, denen zwar die Realität zumeist nicht „entsprach“, die aber gerade deshalb zu Orientierungsmustern und zu normativen Leitideen werden konnten. Die Bemühungen der Theologen und Juristen hatten allerdings eine gewisse Sättigung erreicht. Die Melodien waren durchgespielt. Dogmatische Erstarrung wurde bemerkbar. Die Exegese der Bibel und der Kirchenväter hatte zu keiner Einigung, sondern zur Verhärtung der Fronten geführt. Zu allen möglichen Optionen ließen sich einschlägige Stellen finden, die zum Beweis und zur Untermauerung der eigenen und zur Zurückweisung oder Destruktion der gegnerischen Position dienen konnten. Mit Hilfe der Zwei-Schwerter-Lehre, der alten Translationstheorie und der augustinschen Geschichtstheologie ließen sich hierokratische, dualistische und cäsaropapistische Ambitionen und allerlei Mischformen legitimieren. Nur in den radikalen Strömungen der Bettelorden (vor allem bei den franziskanischen Spiritualen) und den häretischen Bewegungen wurden noch neue Wertvorstellungen entwickelt bzw. die alten wiederbelebt und gegen die Machtstrukturen und die Besitzanhäufung der Kirche geltend gemacht.464 Sie sollten im theoretischen Armutsstreit kulminieren, der nach dem Streit um den lateinischen Averroismus und dem Universalienstreit zur wichtigsten religiöspolitischen Kontroverse des Spätmittelalters wurde. Auch die Rezeption und Adaptation des römischen Rechts brachte zunächst keine neuen Visionen mehr. Sie hatte zu wichtigen und abschließenden, für die künftige Zeit grundlegenden Zusammenfassungen geführt, die zum Zwecke des Universitätsstudiums kanonisiert wurden.465 Vor allem die Glosse des Accursius 464 Zum Einfluß der Mendikanten auf das spätmittelalterliche Politikdenken vgl. auch Miethke, Die Rolle der Bettelorden im Umbruch der politischen Theorie. 465 Zur Geschichte der Universitäten vgl. H. Rashdall, The Universities of Europe.

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(y 1258) und die Summen von Azo (y nach 1230), Roffredus (y 1250) und Odofredus (y 1265) wurden zu kanonischen Werken.466 Am Ende des 13. Jahrhunderts stieg Orléans neben Bologna zur bedeutendsten Rechtsschule der Zeit auf.467 Die einzelnen Rechtssysteme hatten sich stabilisiert. Das Straf- und Verwaltungsrecht wurde in der Folgezeit weiter ausdifferenziert und systematisiert. Neue Ordnungsideen entstanden aber nicht. Wie sich zeigte, hielten die meisten Legisten und Kanonisten an der Einheit des Reiches fest, während sie in Wirklichkeit von der Existenz einer Pluralität unabhängiger Monarchien überzeugt waren. Sie suchten die Kluft zwischen Ideal und Realität durch die Unterscheidung von de jure und de facto zu überbrücken. Da für Jahrzehnte kein Kaiser mehr gekrönt wurde, verlor auch diese Unterscheidung ihre Überzeugungskraft. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mehrten sich deshalb legistische Stimmen aus dem unteritalienischen Königreich, die dem Papst vorschlugen, keinen Kaiser mehr zu krönen, da die Institution des Imperiums nicht nur unnötig, sondern in den Händen der barbarischen Deutschen geradezu schädlich sei und Italien nur Unruhe und Unglück gebracht habe.468 So waren von Theologie und Jurisprudenz (Legistik und Kanonistik) zunächst keine bahnbrechenden Neuerungen mehr zu erwarten. Neue Impulse gingen hingegen von der Philosophie aus, die einen Aufbruch einleitete, in dessen Sog schließlich auch ihre beiden Schwestern Theologie und Jurisprudenz gerieten. Vor allem zwei Entwicklungen wurden wichtig für die Genealogie des christlichen Ordnungsdenkens: die Aristoteles-Rezeption und der von ihr forcierte Universalienstreit. Indem der Nominalismus die Existenz der Allgemeinbegriffe leugnete und damit alle Totalitäten in Frage stellte, leistete er seinen Beitrag zur Zerstörung der universalistischen Prinzipien und zur Auflösung der alten Reichsidee. Allein singuläre Existenzen („Individuen“) und ihre Relationen blieben zurück. Im Ausgang vom Einzelmenschen und seinen Bedürfnissen und Leidenschaften, seiner Vernunft und Einsichtsfähigkeit mußte nun die politische Ordnung begründet werden. Die Grundlagen dazu hatte der Aristotelismus geschaffen, der nicht länger ausging vom transzendenten Gott, sondern von den innerweltlichen Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des Zusammenlebens.

466 Vgl. Scholz, Die Publizistik, S. 23 ff.; F. C. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts. Bd. V (zu Accursius: S. 262 ff.). 467 Die bekanntesten Lehrer in Orléans waren Guido de Cumis, Jacobus de Ravanis (Jacques de Révigny) und Petrus de Bellapertica (Pierre de Belleperche). Vgl. dazu P. G. Stein, Römisches Recht und Europa, S. 115 f. Zu Jacques de Révigny und Pierre de Belleperche siehe auch Walther, Imperiales Königtum, S. 106 ff. 468 Vgl. dazu Walther, Imperiales Königtum, S. 96 ff., 213 ff.; ders., Das gemessene Gedächtnis, S. 229 ff.; ders., Die Gegner Ockhams, S. 128.

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aa) Folgen der Aristoteles-Rezeption Die Aristoteles-Rezeption, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzte, gilt zu Recht als eine der bedeutendsten intellektuellen Entwicklungen des Spätmittelalters.469 Sie führte zur Konfrontation des christlichen Glaubens mit dem ganz anders gearteten Denken der griechischen Klassik und hatte auch für das politische Ordnungsdenken gravierende Konsequenzen. Vermittelt über arabische Quellen, über Avicenna (Ibn Sina, ca. 980–1037) und Averroës (Ibn Rushd, 1126–1198),470 wurde den mittelalterlichen Philosophen erstmals das Werk des Aristoteles vollständig erschlossen, und dieses Werk schlug wie eine Bombe ins christliche Weltbild ein. Es brachte nach und nach alle Selbstverständlichkeiten und Glaubensgewißheiten ins Wanken und erzwang eine Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen sowie neue Reflexionen über die Welt und die Stellung des Menschen in ihr. Die natürliche Ordnung erlangte Eigenbedeutung innerhalb der Gnadenordnung, die irdische Herrschaft wurde künftig nicht nur durch den Bezug auf Gott, sondern auch auf die Beherrschten legitimiert. Ein neues Selbstverständnis brach sich Bahn. Der Mensch entdeckte sich als ein mit Vernunft und Leidenschaften ausgestattetes Lebewesen, das schon auf Erden glücklich und zufrieden leben kann. Bereits die Kategorienlehre und Syllogistik des Stagiriten hatte zu neuen Einsichten geführt und die alten Glaubenssätze durcheinandergewirbelt. Seine praktische Philosophie mußte darüber hinaus die eingespielten Lebensgewohnheiten und die bestehenden Institutionen als kontingent und veränderbar erscheinen lassen und die allgemeine Verunsicherung schüren. Die Folgen der Rezeption hat Umberto Eco im Finale seines spannenden Kriminalromans Der Name der Rose (1980) sehr plastisch umschrieben. Auf die Frage seines Helden William von Baskerville, weshalb sein Kontrahent, der blinde Greis Jorge von Burgos, das zweite Buch der Poetik des Aristoteles mit allen denkbaren Mitteln vor den Blicken der jüngeren Leser schützen wollte, antwortete dieser:471 469 Vgl. neben den bereits genannten Arbeiten von Grabmann (s. o., Anm. 266) auch Dempf, Sacrum Imperium, S. 335 ff.; J. Dunbabin, The Reception and Interpretation of Aristotle’s Politics; Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 280 ff.; ders., Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 298 ff.; F. v. Steenberghen, Aristotle in the West; C. Flüeler, Rezeption und Interpretation der Aristotelischen „Politica“; ders., Die Rezeption der „Politica“ des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät; T. Struve, Die Bedeutung der aristotelischen ,Politik‘ für die natürliche Begründung der staatlichen Gemeinschaft; R. Lambertini, Wilhelm von Ockham als Leser der „Politica“; J. Krynen, Aristotélisme et réforme de l’Etat, en France, au XIVe siècle; Ullmann, Principles of Government, S. 231 ff.; ders., A History of Political Though, S. 159 ff. Ferner den Artikel Aristoteles von F. v. Steenberghen u. a. in: Lexikon des Mittelalters. Bd. I, Sp. 934–948. 470 Zu ihren eigenen politischen Vorstellungen vgl. die Überblicksdarstellung von C. E. Butterworth, Die politischen Lehren von Avicenna und Averroës. Zu ihrer Metaphysik vgl. M. Horton, Die Metaphysik des Avicenna; ders., Die Metaphysik des Averroës; G. Verbeke, Avicenna; E. Bloch, Avicenna und die Aristotelische Linke. 471 Umberto Eco, Der Name der Rose. München 1982, S. 601 f. Zur Aufnahme und Einschätzung des Romans durch Mediävisten vgl. Max Kerner (Hg.), „. . . eine finstere

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„Weil es vom Philosophen stammt. Jedes Werk dieses Denkers hat einen Teil der Weisheit zerstört, die in den Jahrhunderten von der Christenheit aufgehäuft worden ist. Die Patres hatten alles gesagt, was man wissen mußte über das Verbum Dei und seine Kraft, doch es genügte, daß Boethius den Philosophen zu kommentieren begann, und schon verwandelte sich das Mysterium des göttlichen Wortes in die menschliche Parodie der Kategorien und Syllogismen. Das Buch der Genesis hatte alles gelehrt, was man wissen mußte über die Zusammensetzung des Kosmos, doch es genügte, daß man die physikalischen Bücher des Philosophen wiederentdeckte, und schon wurde das Universum neugedacht in Begriffen dumpfer und schleimigekliger Materie, und dem Araber Averroës gelang es beinahe, allen weiszumachen, daß die Welt ewig sei. Wir wußten alles über die Namen Gottes, doch verführt vom Philosophen hat jener von Abbo zu Grabe getragene Dominikaner [Thomas von Aquin] sie neubenannt gemäß den stolzen Denkwegen der natürlichen Vernunft. So wurde der Kosmos, der sich für den Areopagiten demjenigen offenbarte, der die Lichtflut der exemplarischen causa prima am Himmel zu schauen vermochte, zu einem Sammelbecken irdischer Anhaltspunkte für die Benennung einer abstrakten Wirkungskraft. Einst schauten wir zum Himmel empor und hatten für den Schlamm der Materie nur einen verächtlichen Blick, heute sehen wir zur Erde nieder und glauben nur noch kraft ihres Zeugnisses an den Himmel. Jedes Wort des Philosophen, auf den mittlerweile sogar schon die Heiligen und die Päpste schwören, hat das Bild der Welt etwas mehr entstellt. Das Bild Gottes indessen hat er noch nicht zu entstellen vermocht. Würde jedoch . . . wäre jedoch dieses Buch zum Gegenstand offener Ausdeutung und Debatte geworden, so hätten wir auch diese letzte Grenze noch überschritten.“

Diesen letzten Akt der Dekonstruktion vollzogen dann die Nominalisten im Universalienstreit (s. u., S. 567 ff.). Für sie bildete Gott nicht mehr den Ausgangs-, sondern vielmehr den Schlußpunkt der menschlichen Erkenntnisbewegung, die nicht länger vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Gattung (genus proximum) zu den Arten (differentia specifica) herabstieg, sondern den umgekehrten Weg einschlug. Doch schon die Aristoteles-Rezeption machte deutlich, daß die alten Fundamente nicht mehr trugen. Sie zwang zur Suche nach neuen, nach tragfähigeren Grundlagen des Denkens und zur Preisgabe der alten. Am weitesten ging dabei der lateinische Averroismus,472 der zur Leugnung des dreieinigen Gottes getrieben wurde. Er bestritt die Existenz und Notwendigkeit eines Schöpfergottes und vertrat einen „Monopsychismus“, d. h. eine Lehre, derzufolge in allen Menschen ein und dieselbe unvergängliche Weltvernunft wohnt.473 Die

und fast unglaubliche Geschichte“. Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Weltbestseller Der Name der Rose. Darmstadt 1987. 472 Vgl. E. Renan, Averroës; M. Grabmann, Der lateinische Averroismus; Ueberweg, Grundriß II, S. 445 ff.; Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 355 ff. 473 Vgl. die radikal-aristotelischen Thesen, die am 7. März 1277 durch den Pariser Bischof Stephan Tempier verurteilt wurden, in: Flasch (Hg.), Mittelalter, 358–362; bes. 1. „Gott ist nicht dreieinig und einer . . .“; 9. „Es gab keinen ersten Menschen und es wird keinen letzten geben, vielmehr gab es immer und wird es immer geben die Erzeugung eines Menschen aus einem Menschen“; 32. „Der Intellekt ist der Zahl nach einer

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Welt ist demnach ewig und unerschaffen, jeder einzelne Mensch partizipiert an der einen unsterblichen Weltseele bzw. dem einheitlichen Intellekt. Dadurch wurde der Gedanke der Gleichheit vorbereitet, der die kirchliche Hierarchie konterkarierte. Im katholischen Weltbild war dagegen die Personalität und Funktionalität eines jeden Menschen als Glied des Corpus Christi und damit die Differenz und Rangabstufung betont, also letztlich die feudale Herrschaftsordnung legitimiert worden. Darüber hinaus problematisierte der Averroismus das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Ratio sowie von göttlichem und menschlichem Gesetz. Er konstatierte einen Gegensatz zwischen beiden. Für Siger von Brabant und Boethius von Dacien schrumpfte der Bereich der nicht-wissenschaftlich zu gewinnenden, daher dem Glauben vorbehaltenen Wahrheiten zu einem engen Reservoir zusammen, während der Bereich der rein rational zu ermittelnden Gewißheiten ungeheuer anwuchs.474 Die Reaktion der Kurie auf diesen Entzug der von ihr verwalteten Heilsgewißheiten war eindeutig: Das aristotelisch-averroistische Schrifttum wurde als paganes Machwerk aus dem christlichen Grundkonsens verbannt, die Beschäftigung mit der heidnischen Philosophie verboten.475 Doch allen Bemühungen der Kirchenführer zum Trotz ließen sich die „neuen“, aus dem ganz Alten extrahierten Ideen nicht dauerhaft unterdrücken. Das Studium an den Universitäten hatte einen Resonanzboden für die Rezeption geschaffen, die sich nun nicht länger auf die logischen Schriften des Aristoteles, sondern auch auf seine Natur- und praktische Philosophie erstreckte. Es kam zu heftigen Querelen zwischen den Verfechtern der alten und jenen der „neuen“ Anschauungen. Im Streit zwischen orthodoxem Augustinismus (Bonaventura) und lateinischem Averroismus (Siger von Brabant) traten die Anomalien ins Licht, die sich im alten Paradigma nicht mehr lösen ließen. Die alten Glaubensgewißheiten gerieten in Gegensatz zum wissenschaftlich gewonnenen Wissen, dessen Berechtigung und Eigenbedeutung von Aristoteles in extenso begründet worden war. Da sich Einsichten und Erkenntnisse, die sich der menschliche Verstand erst einmal mit Mühe und Fleiß nach seiner eigenen Logik erarbeitet hat, nicht einfach unterdrücken oder eskamotieren lassen, kamen die christlichen Denker in eine prekäre Lage. Verbote und Verketzerungen reichten auf Dauer nicht aus, um den Gegner aus dem Feld zu schlagen. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma bestand in der Versöhnung der beiden Antipoden, d. h. in der Überbrückung der Kluft zwischen christlichem Glauben und philosophischem Wissen durch die Vereinnahmung des für alle Menschen . . .“; 87. „Die Welt ist ewig in bezug auf alle in ihr enthaltenen Arten . . .“; 116. „Die Seele ist untrennbar vom Körper . . .“ 474 Vgl. F. v. Steenberghen, La Philosophie au XIIIe siècle; ders., Maître Siger de Brabant; M. Grabmann, Der lateinische Averroismus, S. 12 ff.; Dempf, Sacrum Imperium, S. 340 ff.; Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 355 ff.; A. Zimmermann, Die Quaestionen des Siger von Brabant zur Physik des Aristoteles. 475 Vgl. L. Hödl, Art. Aristotelesverbote; Flasch, Aufklärung im Mittelalter?

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Aristotelismus. Während Bonaventura versuchte, die neuentdeckten Quellen und die arabischen und lateinischen Kommentare zu widerlegen bzw. zu destruieren,476 bemühte sich sein Freund Thomas von Aquin im Anschluß an seinen Lehrer Albertus Magnus, sie „aufzuheben“ und ins christliche Weltbild zu integrieren. Dazu mußte er sie natürlich entschärfen und die Gegensätze zwischen ihnen und den eigenen Auffassungen einebnen. Indem er seine ganze Energie auf diese Vermittlungsarbeit konzentrierte, gelang es ihm, die aristotelische Lehre mit der christlichen Überlieferung zu synchronisieren und zu synthetisieren, d. h. beide in eine coincidentia oppositorum (Nikolaus von Kues) bzw. in eine dialektische Einheit (Hegel) zu bringen. In dieser entradikalisierten und harmonisierten Form ist sie dann schließlich – nach langen, aber vergeblichen Abwehrkämpfen gegen den Thomismus477 – akzeptiert und tradiert worden. Wegweisend und bahnbrechend für die Entstehung eines christlichen Aristotelismus wurde Albertus Magnus,478 der einen durchgängigen Kommentar zur Philosophie des Stagiriten plante. Er begriff die Welt als einen großen, in sich gegliederten Organismus und betonte den Sinn und die Notwendigkeit der menschlichen Erfahrung, d. h. der Naturbeobachtung als Ergänzung des Glaubens. Wurde in der alten Dogmatik die Wirklichkeit, d. h. die sichtbare Welt, als bloßes Symbol oder als Träger einer höheren, übernatürlichen Wahrheit begriffen, so sollte nunmehr die Natur und die menschliche Gesellschaft selber Offenbarung des göttlichen Wortes sein. Ihr Studium galt deshalb nicht länger als unwürdig und sündhaft, sondern als ein sinnvolles und notwendiges Tun. Damit war der erste Schritt auf jenem Weg getan, der die neuzeitliche Naturphilosophie und Erkenntnistheorie und schließlich auch die Staatstheorie aus dem christlichen Weltbild herausführte, das insgesamt zu eng geworden war und folglich abgestreift wurde. Alberts Werk wurde fortgeführt von seinen Schülern Hugo Ripelin und Ulrich von Straßburg, vor allem aber von Thomas von Aquin, der zum bedeutendsten Philosophen und Theologen des Spätmittelalters avancierte. Er begriff die menschliche Ratio als Ausfluß der göttlichen, konzedierte demzufolge eine relative Eigenberechtigung und Autonomie der Wissenschaft, wollte sie aber zugleich unter der Oberaufsicht der Theologie halten.479 476 Vgl. dazu Dempf, S. 358 ff.; Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 329 ff.; A. Gerken, Art. Bonaventura. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. II., Sp. 402–407 (mit weiterer Literatur); E. Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura; Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 223 ff.; Kölmel, Regimen, S. 268 ff.; Ueberweg, Grundriß II, S. 386 ff. 477 Zu den Kämpfen gegen Thomas von Aquin und zum schließlichen Sieg des Thomismus vgl. Ueberweg, Grundriß II, S. 492 ff., 528 ff. 478 Vgl. I. Craemer-Ruegenberg, Albertus Magnus; M. Entrich (Hg.), Albertus Magnus; Flasch, Das philosophische Denken, S. 317 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen: S. 644); Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 191 ff.; G. Meyer/A. Zimmermann (Hg.), Albertus Magnus; A. Zimmermann (Hg.), Albert der Große. 479 Zur Philosophie des Aquinaten im allgemeinen vgl. etwa Berges, Die Fürstenspiegel, S. 113 ff.; M.-D. Chenu, Das Werk des Hl. Thomas von Aquin; Flasch (Hg.),

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Die Aristoteles-Rezeption brachte den christlichen Denkern zunächst keine neuen Ordnungsvisionen, dafür aber neuartige Begründungszusammenhänge, die dem späteren „säkularen“ Denken den Boden bereiteten. Sie führte zu einer neuen Sicht der Welt und der Stellung des Menschen in ihr. Ein neuer Immanentismus rivalisierte mit dem überkommenen Transzendentalismus. Der Mensch galt nicht länger unbesehen als sündhaft, sondern als ein vernunftbegabtes und geselliges Wesen, das schon auf Erden nach Glück und Zufriedenheit streben kann. Von dieser Grundlage aus ließen sich die unterschiedlichsten Vorstellungen begründen. Obgleich die Ethik und Politik des Stagiriten auf autonome und autarke Poleis zugeschnitten war, die durch Herrschaftsfreiheit und gleiche Bürgerrechte charakterisiert waren (s. o., S. 77 ff.), ließen sich ihre Prinzipien davon abstrahieren und für die Legitimation der widersprüchlichsten Herrschaftsformen instrumentalisieren. Mit ihrer Hilfe konnte die Weltherrschaft des Papstes (Tholomäus von Lucca, Aegidius Romanus u. a.) oder aber die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der westlichen Monarchien (Jean Quidort von Paris, Marsilius von Padua) und der Städte (Bartolus von Sassoferrato, Baldus de Ubaldis) oder schließlich erneut die universale Reichsidee unter Lenkung des Kaisers (Engelbert von Admont, Dante Alighieri) gefordert und gerechtfertigt werden. Das auf Isonomie und Demokratie tendierende Politikverständnis der alten Griechen ließ sich jedoch unter den gegebenen Umständen nicht restituieren. Thomas selbst, der zum Ausgangspunkt des späteren Aristotelismus wurde, bemühte sich um eine moderate Position und um den Ausgleich zwischen den Extremen.480 Er verknüpfte den christlichen Glauben an den Schöpfergott mit der griechischen Kosmologie und Metaphysik und nutzte die von der früheren Scholastik aufbereitete Logik und Syllogistik zur Entwicklung einer neuen Lehre des Seins und der menschlichen Erkenntnis. Mit Aristoteles definierte er den Menschen nicht nur als zwon lügon exon (animal rationale), sondern zugleich als zwon politikün. Er übersetzte diesen Begriff jedoch mit animal sociale, wodurch die spezifische Differenz des Politischen, d. h. die auf Interaktion und Partizipation der Bürger in der Polis zielende Bedeutung, zugunsten einer unverbindlichen und abstrakt-allgemeinen Geselligkeit und Gemeinschaftlichkeit preis-

Mittelalter, S. 280 ff.; M. Grabmann, Thomas von Aquin; R. Heinzmann, Thomas von Aquin, bes. S. 26 ff. (weitere Literatur: S. 276 f.); ders., Philosophie des Mittelalters, S. 202 ff.; U. Matz, Thomas von Aquin; O. H. Pesch, Thomas von Aquin; J. Pieper, Thomas von Aquin. 480 Zu seiner Ethik und politischen Philosophie vgl. bes. Berges, Die Fürstenspiegel, S. 195 ff.; T. Gilby, The Political Thought of Thomas Aquinas; W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin; L. Lachance, L’Humanisme politique de Saint Thomas d’Aquin; U. Matz, Thomas von Aquin, S. 119 ff.; Mensching, Das Allgemeine, S. 243 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 83 ff.; O. Schilling, Die Staats- und Soziallehre des Hl. Thomas von Aquin; Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung, S. 149 ff.; E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen I, S. 252 ff., 286 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 125 ff.

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gegeben war.481 Allerdings wurde durch die Betonung des geselligen Charakters des Menschen dem irdischen Leben und den bestehenden Gemeinschaften eine Eigenwertigkeit zuerkannt, die ihnen bislang verweigert worden war. Die Grundlage der thomasischen Metaphysik bildete zwar weiterhin Gott als der Schöpfer der Welt, doch hat dieser seinen Geschöpfen Freiheit und Eigenwirksamkeit mitgegeben, so daß sie ihre sozialen und politischen Verhältnisse nach eigenem Ermessen gestalten können. Im Zentrum der Ethik und Politik steht deshalb der denkende und handelnde Mensch, der mit Hilfe seiner Vernunft das Gute (bonum) zu erkennen und zu realisieren vermag. Den Ausgang der theoretischen Ableitung bildet folglich nicht mehr Gott und der Sündenfall, sondern die menschliche Natur, die Thomas im Anschluß an Aristoteles teleologisch betrachtete. Wie bestimmt Thomas die menschliche Natur? Und welche Konsequenzen hat diese Bestimmung für die Politik? – In seinem für den König von Zypern verfaßten Fürstenspiegel De regimine principum (ca. 1265/67) faßt er seine anthropologischen und politischen Vorstellungen zusammen. „Der Mensch nun“, schreibt er,482 „hat ein Ziel, dem sein ganzes Leben und sein Handeln zustrebt, denn er handelt nach seiner Vernunft, und diese kann offensichtlich nur im Hinblick auf ein Ziel tätig sein. . . . Von Natur aus ist ihm so das Licht der Vernunft eingepflanzt, daß er dadurch in seinem Handeln zum Ziel geführt werde“ (S. 5). „Es ist aber eine natürliche Bestimmung des Menschen, das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein, das gesellig lebt, weit mehr als alle anderen Lebewesen. Schon die Notwendigkeit der menschlichen Natur gibt dafür die Erklärung“ (S. 5 f.). „Nun ist es aber nach allem Anschein das Endziel der zu gemeinsamem Leben vereinigten Gesellschaft, nach der Tugend zu leben. Denn dazu begründen die Menschen eine Gemeinschaft, daß sie nun vereint gut leben, was jeder im Leben als einzelner nicht erreichen kann. Gut leben aber heißt leben, wie es die Tugend verlangt“ (S. 53 f.). Der Aquinate bestimmt den Menschen somit als animal rationale et sociale und zugleich als Mängelwesen (im Sinne Arnold Gehlens).483 Der Mangel an natürlicher Organausstattung wird jedoch nach Thomas (im Unterschied zu Gehlen) nicht durch Institutionen, sondern durch die Vernunft kompensiert (vgl. S. 6). Der Mensch ist

481 Vgl. dazu H. Arendt, Vita activa, S. 27 ff.; D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, S. 42 ff. Zu einer positiven Bewertung dieser Verschiebung gelangt hingegen Mensching, Das Allgemeine, S. 251 f. Ihm zufolge ist animal sociale „ein Begriff neuen Gehalts“. Die Societas werde nun durch Arbeit konstituiert und umfasse alle Menschen, „Freie und Unfreie, also nicht nur die Polisbürger, zu denen Aristoteles nur die von der Arbeit befreiten Stände zählt“. 482 Vgl. Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten (ca. 1265/67). Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 483 Vgl. dazu auch Struve, Die Entwicklung, S. 151 – mit Verweis auf A. Gehlen, Anthropologische Forschungen, S. 17 f., 46 ff. Ferner A. Gehlen, Der Mensch; ders., Urmensch und Spätkultur.

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folglich ein geselliges Wesen und auf die Unterstützung durch andere Menschen angewiesen. Er ist nicht der bürgerliche Egoist, sondern zugleich mit der Fähigkeit zum Altruismus ausgestattet, die ihm die Orientierung am Wohl Aller ermöglicht (S. 7). Thomas übernimmt darüber hinaus die aristotelische Verfassungslehre mit ihrer Unterscheidung der drei „guten“ und drei „schlechten“ Regierungsformen (s. o., S. 144). Er versucht zu zeigen, daß es zweckmäßiger ist, wenn die Gesellschaft von einem einzelnen geleitet wird anstatt von mehreren (I. Buch, 2. Kap. ff.). Im Gegensatz zu seinem großen Vorbild plädiert er folglich nicht für eine Mischverfassung (Politie), sondern eindeutig für die Monarchie, deren „Entartung“ zur Tyrannis verhindert werden soll durch die Bindung des Fürsten an die Vorschriften der christlichen Moral. Allerdings postuliert der Aquinate keine kaiserliche Weltmonarchie, sondern die spirituelle Einheit unabhängiger Monarchien. Schon der Titel seines Fürstenspiegels (De regimine principum) setzt eine Pluralität von Fürsten voraus, während vom Imperium nicht die Rede ist.484 Da sich in den einzelnen Fürstentümern aber stets zwei Gewalten gegenüberstehen, die spirituelle und die temporäre Gewalt, stellt sich erneut die Frage, welche von beiden herrschen soll. Und darauf gibt Thomas eine eindeutige Antwort: Es sind die Priester unter der Leitung des Papstes, denen die Richtlinienkompetenz zugesprochen wird. Das christliche Königreich leite sich ab von Jesus Christus, der das königliche Priestertum begründet habe: „Das Amt dieses Königtums ist, damit das Reich des Geistes vom Irdischen geschieden sei, nicht den Königen der Erde, sondern den Priestern überantwortet worden und vor allem dem höchsten Priester, dem Nachfolger Petri, dem irdischen Stellvertreter Christi, dem Papst zu Rom, dem alle Könige des christlichen Volkes untergeben sein müssen wie Jesus Christus dem Herrn“ (S. 55). Es handelt sich folglich um die bereits von Innocenz III. angestrebte spirituelle Einheit unabhängiger Monarchien, die als beste aller Ordnungen ausgezeichnet und von den Bedürfnissen des menschlichen Lebens abgeleitet wird. Obgleich der Aquinate nicht die faktische Weltherrschaft des Papsttums und kein hierokratisches Regiment begründet hat, ließen sich seine Ausführungen doch in diese Richtung konkretisieren, wie die späteren Entwürfe seiner Schüler Tholomäus von Lucca und Aegidius Romanus zeigen. In seiner Fortschreibung des Fragment gebliebenen thomasischen Fürstenspiegels erklärte Tholomäus von Lucca, der führende Theoretiker der Kurie, ca. 1280 den Papst „zum Herrn der Welt als Statthalter Christi, nachdem dieser, der Fels der Danielsvision, auch das letzte

484 Dies betont zu Recht F. Baethgen, Zur Geschichte der Weltherrschaftsidee, S. 191. Das Erstaunen mancher Interpreten über das Fehlen der universalen Reichsidee und des Kaisertums bei Thomas löst sich durch den Hinweis auf die realgeschichtliche Gebundenheit des Aquinaten in Achselzucken: Es gab ja keinen Kaiser mehr, der dem Papsttum hätte Paroli bieten und die westlichen Monarchien dominieren können.

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der vier Reiche zerstört habe“.485 Aegidius Romanus schließlich, der zunächst in De regimine principum (ca. 1277/79) mit aristotelischen Mitteln einen Fürstenspiegel für den jungen Philippe le Bel geschrieben hatte,486 der zur meistgelesenen Schrift des Spätmittelalters überhaupt wurde, wurde mit seinem späteren Traktat De ecclesiastica potestate (1302) zum Vordenker des Papstes Bonifaz VIII., der dem Hierokratiegedanken seine schärfste Fassung verlieh und eben mit dem französischen König Philipp IV. den Entscheidungskampf zwischen Regnum und Sacerdotium auszufechten suchte. Hatte Aegidius in seinem früheren Werk die Eigenständigkeit der weltlichen Monarchie mit aristotelisch-naturrechtlichen Mitteln begründet, so demonstrierte er in seinem späteren Traktat mit augustinischen Mitteln die alleinige Berechtigung und Heilsbedeutung der Ekklesia, die das Politische in sich absorbiert und dem irdischen Gemeinwesen jegliche, auch eine relative Autonomie verweigert, in der die spirituelle die temporale Gewalt dominiert und der Papst allein die Geschicke der Menschheit lenkt.487 bb) Sacerdotium, Imperium, Regnum, Civitas – Theologisch-politische Positionen der Übergangszeit Die kurialistische Doktrin wurde weiter entwickelt von Jakob von Viterbo, Heinrich von Cremona, einer anonymen Abhandlung über die Bulle Clericis laïcos sowie in kleineren Schriften von Augustinus Triumphus. Die Einzelheiten dieser Konzeptionen können hier nicht betrachtet werden.488 Entscheidend ist das Grundanliegen, das sich in ihnen artikuliert. Ihr Ziel war die Verteidigung der kirchlichen Autorität gegen die Übergriffe der französischen Monarchie und die Festigung und Ausdehnung der päpstlichen Machtpositionen. Dabei wurden der alte Hierokratiegedanke und die Stellung des Pontifex maximus in bislang unbekannter Weise gesteigert und geschichtstheologisch überhöht. Mit Hilfe der 485 Moraw, Art. Reich, S. 446 f. – mit Verweis auf Tholomäus von Lucca, Determinatio compendiosa de iurisdictione imperii, S. 9 sowie A. H. Benna, Der Kaiser und der König von Frankreich, S. 397 ff. Zu Tholomäus von Lucca vgl. auch Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 5, S. 342 ff.; Goez, Translatio imperii, S. 215 ff.; Struve, Die Entwicklung, S. 165 ff., 223 ff. 486 Aegidius Romanus, De regimine principum (ca. 1277/79). Dazu Berges, Die Fürstenspiegel, S. 121 f., 211 ff.; Kölmel, Regimen, S. 291 ff.; F. Merzbacher, Die Rechts-, Staats- und Kirchenauffassung des Aegidius Romanus; Miethke, Politische Theorien, S. 89 ff.; Scholz, Die Publizistik, S. 96 ff.; Struve, Die Entwicklung, S. 178 ff. 487 Aegidius Romanus, Tractatus de ecclesiastica potestate (1302). Dazu H. Bielefeldt, Von der päpstlichen Universalherrschaft zur autonomen Bürgerrepublik, S. 71 ff.; R. Imbach/Ch. Flüeler, Einleitung zu Dantes „Monarchia“, S. 32 ff.; Kölmel, Regimen, S. 304 ff.; Mensching, Das Allgemeine, S. 302 ff.; Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 216 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 99 ff.; Scholz, Die Publizistik, S. 32 ff.; Struve, Die Entwicklung, S. 231 ff. 488 Vgl. dazu Scholz, Die Publizistik, S. 129 ff., 459 ff.; Dempf, S. 441 ff.; Kölmel, Regimen, S. 263 ff., 361 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 141 ff.; Wilks, The Problem of Sovereignty in the later Middle Ages.

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alten Zwei-Schwerter-Lehre und der Hierarchienlehre des Pseudo-Dionysius Areopagita wurde erneut die plenitudo potestatis begründet und damit der faktische Herrschaftsanspruch der Kirchenleitung legitimiert und animiert. Das Papsttum beanspruchte nunmehr die Führung der Christenheit nicht nur in spirituellen, sondern auch in weltlichen Angelegenheiten. Den Höhepunkt dieser päpstlichen Machtanmaßung erreichte Bonifaz VIII. mit der – von Aegidius Romanus inspirierten – Bulle Unam Sanctam (1302), die apodiktisch verkündete:489 „Beide [Schwerter] liegen in der Gewalt der Kirche, das geistliche Schwert nämlich und das weltliche, nur daß dieses für die Kirche, jenes von der Kirche zu führen ist, jenes von der Hand des Priesters, dieses von der des Königs und der Krieger, doch nach dem Wink und nach der Erlaubnis des Priesters. Es muß nämlich ein Schwert unter dem anderen stehen und die weltliche Autorität der geistlichen Gewalt unterworfen sein“.

Es ging folglich nicht nur um die Sicherung der innerkirchlichen Stellung, sondern um die Herrschaft über Könige und Fürsten. Der Nachfolger Petri wollte der Weltenlenker sein und für sein Amt jene Machtmittel in Anspruch nehmen, die er nach der früheren Doktrin mit dem Kaiser zu teilen hatte. Die Allmacht und Herrlichkeit des Papstes sollte allerdings nicht von allzu langer Dauer sein. Wie schon erwähnt (s. o. S. 504), endete der Entscheidungskampf zwischen Philipp dem Schönen und Bonifaz VIII. 1303 mit der gänzlichen Entmachtung des Apostolischen Stuhles und dem Sieg des erwachenden französischen Etatismus über den hierokratischen Papalismus und den imperialen Cäsaropapismus. Bonifaz VIII. sah sich seit Beginn seines Pontifikats einer dreifachen Opposition konfrontiert, die letztlich den Sieg über ihn davontragen sollte:490 1. einer „oligarchischen“ im Kardinalskolleg: Jean Lemoine und die Colonna-Kardinäle (S. 190 ff.),491 2. der „aristokratischen“ des gallikanischen Episkopats: Guilelmus Duranti (S. 208 ff.) und 3. der monarchischen Opposition des französischen Königshofes und seiner juristisch-philosophischen Parteigänger (S. 224 ff.). Die gegen den Papst stehenden Mächte erwiesen sich letztlich – theoretisch und prak489 Zitiert nach H. Rausch, Nachwort zu Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens, S. 217. Den lateinischen Text mit deutscher Übersetzung bieten Miethke/Bühler, 121–124 [nach G. Digard, Les Registres de Boniface VIII Nr. 5382] und R. Imbach/C. Flüeler im Anhang zu Dante Alighieri, Monarchia, 347–355 [nach C. Mirbt/ K. Aland, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. Bd. 1, n. 746, S. 458–460]. 490 Vgl. zum folgenden Scholz, Die Publizistik. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 491 Daß es sich beim Widerstand der Colonna-Kardinäle um eine „oligarchische Opposition“ handelte, bezweifelt Dempf, S. 470. Der Protest habe sich vielmehr – in der Tradition des Joachitismus – immer nur gegen die Verweltlichung und Verrechtlichung des Papsttums gerichtet und die spirituellen, „die mittelalterlich konstitutionellen Elemente neben der Monarchie des Papstes betont“ (ebd.). Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß Bonifaz VIII. die Colonna-Kardinäle – als „oligarchische Opposition“ – gegen sich hatte.

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tisch – als überlegen und leiteten das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit ein. Auch die anderen Monarchen entzogen sich künftig der päpstlichen Bevormundung. Der letzte deutsche König, der die Superiorität des Papstes akzeptierte, war Albrecht I. (1298–1308), den Bonifaz zunächst bekämpfte, alsbald aber als Bündnispartner in seinem Konflikt mit Philipp dem Schönen entdeckte.492 In der Auseinandersetzung mit Albrecht I. faßte er seine Vorstellungen noch einmal zusammen. Er beanspruchte – wie einst schon Innocenz III. – das Recht und die Autorität, den zum römischen König Gewählten gründlich auf seine Eignung zu prüfen und über seine Approbation oder Verwerfung zu entscheiden. Im Gegensatz zu Innocenz III. hatte er die Gefahren erkannt, die dem Apostolischen Stuhl aus der Verselbständigung der westlichen Monarchien erwuchsen. Er erneuerte den alten Universalitätsanspruch und bestritt dem französischen König entschieden das Recht, keinen Höheren über sich anzuerkennen. In seiner Konsistorialrede Affuit tempus vom 30. April 1303 und in der Bulle Patris aeterni vom selben Tag begründete er seinen Anspruch auf die Verfügungsgewalt über das Kaisertum. Er rekurrierte auf die alte Translationstheorie493 und verglich die kirchliche Gewalt mit der Sonne, die weltliche hingegen mit dem Mond. „Und wie der Mond kein Licht hat, außer was er von der Sonne empfängt, so hat auch die irdische Gewalt nichts, als was sie von der kirchlichen Gewalt empfängt“.494 Bonifaz führte somit einen Zweifrontenkrieg und verteilte Seitenhiebe sowohl gegen die Franzosen wie gegen die Deutschen. Er wandte sich einerseits gegen die vom Aristotelismus legitimierte und forcierte Verselbständigung des Politischen, um sodann apodiktisch zu verkündigen: „Hier ist kein Platz für den französischen Hochmut, der behauptet, daß er keinen Höheren anerkenne“. Zumindest der Papst sollte über allen irdischen Herrschern thronen. Ihm sollte die Macht und das Recht zustehen, „den Kaiser zu bestimmen und das Kaisertum zu übertragen“. „Und hier sollen die Deutschen beachten: wie das Kaisertum von anderen auf sie übertragen wurde, so hat der Stellvertreter Christi und Nachfolger Petri die Macht, das Kaisertum von den Deutschen auf irgendwelche andere zu übertragen, wenn er will und zwar ohne Verletzung des Rechts“. 492 Zum Konflikt zwischen Bonifaz VIII. und Albrecht I. und zur schließlichen Unterwerfung des deutschen Königs vgl. die Textauszüge (lat./dt.) in Miethke/Bühler, 124– 132 [nach MGH. Const. 4, 1 Nr. 109, Nr. 173 (I), Nr. 181]. 493 Vgl. dazu Goez, Translatio imperii, S. 180 ff. Zu Bonifaz’ Begründung der päpstlichen Herrschaftsansprüche siehe ferner Kölmel, Regimen, S. 398 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 139 ff., bes. S. 148 f. (mit weiteren Literaturhinweisen zur Auseinandersetzung des Papstes mit Albrecht I.). 494 Bonifaz VIII. , Konsistorialrede Affuit tempus vom 30. April 1303 vor den Gesandten Albrechts I. (Lat./dt.) in: Miethke/Bühler, 127–130 (alle Zitate S. 128 f.) [nach MGH. Const. 4, 1 Nr. 173]. Vgl. auch ders., Bulle Patris aeterni. In: MGH. Const. 4, 1 Nr. 174 f., S. 145–150.

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Da seinerzeit nur der französische König als Alternative zur Verfügung stand, den Bonifaz gerade mit aller Macht bekämpfte, mußte seine Warnung als leere Drohung erscheinen. Dennoch kapitulierte Albrecht I. und unterwarf sich in einem Dankschreiben vom 17. Juli 1303 dem Papst. Er erkannte alle seine Forderungen an und versicherte, er unterwerfe sich ganz und ergebe sich vollständig „und trete hervor, um in jeder Weise schuldigen Dank zu bezeugen, soweit es der Zustand menschlicher Ohnmacht zuläßt“.495 Deshalb sah Bonifaz in ihm künftig einen Bundesgenossen gegen Philipp den Schönen. Der göttliche Wille war wieder einmal unergründlich und ließ Raum für die verschiedensten Koalitionen. Hauptsache die kirchlichen Pfründen und die päpstlichen Machtbezirke blieben unangetastet. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachfolgern spürte Bonifaz, daß das universale Kaiserreich ein unverzichtbares Bollwerk gegen das Emanzipationsbestreben der westlichen Monarchien und gegen die Staatswerdung der europäischen Gesellschaft war, die den Einfluß der Stellvertreter Christi und Nachfolger Petri deutlich beschränken mußte. Ohne den kaiserlichen „Mond“ fehlte der Ekklesia das Licht in der Nacht. Doch das Bemühen des Papstes hatte keinen bleibenden Erfolg. Sein Hochmut fand in Anagni ein bitteres Ende. Bonifaz VIII. wurde am 7. September 1303 von Wilhelm von Nogaret und Sciarra Colonna gefangengesetzt und starb kurze Zeit später an den Folgen des Attentats. Das Papsttum wurde in der Folge vom französischen König beherrscht. Der Sieg Philipps des Schönen über seinen Kontrahenten machte die kurialistische Hoffnung auf Wiederherstellung der religiös-politischen Einheitswelt unter der Vorherrschaft des Papstes zunichte. Die innerkirchliche Opposition und die Konflikte des Papsttums mit den weltlichen Fürsten kamen der sich festigenden französischen Monarchie zugute, die sich der alten wie neuen theoretischen Instrumente bediente, um ihre Stellung gegenüber Papst- und Kaisertum zu sichern und auszubauen. In der anonymen Quaestio in utramque partem (1302) dominieren die alten Strategien.496 Obgleich der Verfasser versichert, er wolle philosophische, theologische, römischrechtliche und kanonistische Beweismethoden benutzen, um das Gewaltenverhältnis zu klären, bestimmen Bibelzitate und kanonistische Argumente den Gang seiner Argumentation. Ergebnis ist eine dualistische Lösung, die zwar dem Papst Eingriffsrechte in die temporalia offenhält, die aber dem französischen König Souveränität nicht nur de facto, sondern de jure zuerkennt. Neben die Bibelexegese und die juristische Argumentation tritt ferner der Rekurs auf die Geschichte und die alten Mythen: Der Autor bemüht die Trojanersage (die Franken haben sich den Römern niemals unterworfen) und das Verjährungsargument hin495 Albrecht I., Dankschreiben an Bonifaz VIII. vom 17. Juli 1303. (Lat./dt.) in: Miethke/Bühler, 130–132; hier: S. 131 [nach MGH. Const. 4, 1 Nr. 181]. 496 Vgl. Quaestio in utramque partem (1302). Dazu Dempf, S. 411 ff.; Kölmel, Regimen, S. 469 ff.; Scholz, Die Publizistik, S. 224 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 155 f.; J. A. Watt, The „Quaestio in utramque partem“ reconsidered.

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sichtlich der Translatio imperii, die Salbung der französischen Könige mit Himmelsöl, ihr Wunderwirken und ihren Glaubenseifer, wobei vor allem Ludwig der Heilige beschworen wird. Der König von Frankreich habe sein Reich unmittelbar von Gott, nicht vom Papst, er ist dem Kaiser gleichgestellt. Die päpstliche plenitudo potestatis wird zurückgewiesen, der Papst herrsche nur in Rom und im Patrimonium Petri als weltliches Oberhaupt, sonst nirgendwo. In dieselbe Richtung ging die Argumentation in der gleichfalls anonymen „Quaestio de potestate papae Rex pacificus Salomon“ vom selben Jahr. Wieder wird mit Hilfe von Bibelzitaten der päpstliche Suprematieanspruch zurückgewiesen und der Gewaltendualismus sowie das Nebeneinander von französischer Monarchie und Imperium begründet.497 Neue Ideen wurden dadurch aber nicht entwickelt. Vielmehr wurden die alten Topoi wieder aufgegriffen, die einst Friedrich II. in seinem Kampf mit den Päpsten ins Feld geführt hatte.498 Wie Helmut G. Walther (1976, S. 156 f.) bemerkt, brachte die durch den Streit zwischen Philipp dem Schönen und Bonifaz VIII. angeregte Publizistik für das Souveränitätsproblem insgesamt nur wenig neue Ergebnisse: „Die Anhänger beider Seiten stützten sich zum überwiegenden Teil auf die Argumente, die seit langem in den geistigen Zeughäusern beider Parteien lagerten. Neue Ansätze, die auf eine Weiterentwicklung des Problembewußtseins deuten und nicht nur die Argumente der Gegner mit deren eigenen Mitteln bekämpfen wollen, zeigen sich lediglich bei den Aristotelikern.“ Den bedeutendsten Gegenentwurf zu Aegidius Romanus und zur Bulle Unam Sanctam auf aristotelischer Basis verfaßte Jean Quidort von Paris mit seinem Traktat De regia potestate et papali (1302/3).499 Darin wird der Ursprung und das Wesen der beiden Gewalten untersucht und die Eigenbedeutung der weltlichen und ihre Unabhängigkeit von der geistlichen mit rationalen Argumenten begründet. Der Verfasser bemüht sich um einen Ausgleich zwischen den gegnerischen Positionen, weist aber den päpstlichen wie auch den kaiserlichen Weltherrschaftsanspruch zurück. Regnum und Sacerdotium werden zu einem harmonischen Miteinander im Interesse des Friedens und der Gerechtigkeit aufgerufen. Der Klerus steht in spiritualibus über den Fürsten, in temporalibus hingegen üben diese die Gerichtsbarkeit aus. Kirchliche Eingriffe in außerkirchliche Ange497 Vgl. Rex pacificus Salomon (Quaestio de potestate papae). Dazu Dempf, S. 408 ff.; Kölmel, Regimen, S. 475; J. Rivière, Le Problème de l’Eglise et de l’Etat au temps de Philippe le Bel, S. 262 ff.; Scholz, Die Publizistik, S. 252 ff. 498 Vgl. H. Wieruszowski, Vom Imperium zum nationalen Königtum, S. 84 ff. 499 Johannes Quidort von Paris, Über königliche und päpstliche Gewalt (1302/3). Dazu Bielefeldt, Von der päpstlichen Universalherrschaft, S. 82 ff.; J. Coleman, The Intellectual Milieu of John of Paris OP; Dempf, S. 422 ff.; v. d. Heydte, Die Geburtsstunde, S. 101 ff.; Kölmel, Regimen, S. 481 ff.; J. Leclercq, Jean de Paris et l’ecclésiologie du 13e siècle; Miethke, Politische Theorien, S. 102 ff.; A. Podlech, Die Herrschaftstheorie des Johannes von Paris; Scholz, Die Publizistik, S. 275 ff.; Struve, Die Entwicklung, S. 240 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 147 ff.

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legenheiten werden folglich zurückgewiesen. Gegen Kurialisten und Imperialisten wird die Souveränität des französischen Königs geltend gemacht, die nicht nur de facto, sondern auch de jure bestehe. Wie er im Vorwort bemerkt, möchte Johannes zwei Irrtümer vermeiden, die zu seiner Zeit verbreitet waren: zum einen den Irrtum der Waldenser, wonach Papst und Bischöfe weder weltliche Herrschaft noch Reichtümer besitzen dürfen, zum andern den „gewisser Moderner“, denen zufolge der Papst als Stellvertreter Christi die Herrschaft über die zeitlichen Güter der Fürsten und Barone samt der Gerichtsbarkeit innehat. Zwischen beiden liege die Wahrheit: Eigentum und weltliche Herrschaft widersprächen nicht dem Wesen kirchlicher Würdenträger, komme ihnen aber nicht an und für sich kraft ihres Standes zu, sondern nur infolge der Überlassung oder Zulassung durch die Fürsten (S. 215–218). Nach diesem Prolog beginnt der Dominikanertheologe eine eingehende, in 25 Kapitel gegliederte Untersuchung über Wesen und Ursprung des Königtums (Kap. 1) und des Priestertums (Kap. 2), über die Hierarchie und die Hinordnung der Amtsträger auf einen Höchsten, die bei Fürsten weniger notwendig sei als bei den Dienern der Kirche (Kap. 3), über das Prioritätsverhältnis zwischen König- und Priestertum nach der Zeit (Kap. 4), nach der Würde (Kap. 5) sowie nach der Ursächlichkeit (Kap. 6) usw. Ergebnis dieser eindringlichen Studien, denen eine ausführliche Widerlegung konträrer Auffassungen folgt, ist die radikale Trennung der weltlichen von der geistlichen Gewalt und die „Spiritualisierung“ des Kirchenbegriffs, der nach Johannes nicht die hierarchische Ämterordnung, sondern die Glaubensgemeinschaft aller Mitglieder der Ekklesia bezeichnet.500 Diese Bestimmung hat zugleich konziliaristische Konsequenzen: „Der gesamten Glaubensgemeinschaft steht deshalb eine Mitwirkung in allen den Glauben und die Kirche betreffenden Fragen zu. Sowohl bei der Einsetzung der Päpste als auch bei der Bestellung des regionalen höheren Klerus kommt der Wahl und Zustimmung des Volkes eine konstitutive Bedeutung zu“.501 Auch das Königtum wird durch die Wahl des Volkes legitimiert, doch wird die Herrschaft des Monarchen naturrechtlich begründet und somit nicht von der Souveränität des Volkes, d. h. von einer demokratischen oder aristokratischen Willensbildung abgeleitet.502

500 Vgl. Bielefeldt, Von der päpstlichen Universalherrschaft, S. 84 ff.; Wilks, The Problem of Sovereignty, S. 91; F. Bleienstein, Einführung: „Am Ende der Untersuchungen des Johannes von Paris stehen Staat und Kirche völlig getrennt und eigenständig nebeneinander. Beide haben ihr eigenes Ziel und die eigenen Mittel, dieses Ziel zu erreichen“ (S. 40). 501 Bielefeldt, S. 85 – mit Verweisen auf Jean Quidort, Tractatus de regia potestate et papali, Kap. XXV (Bleienstein, S. 202) und Kap. X (Bleienstein, S. 114). Vgl. auch Tierney, Foundations of the conciliar Theory, S. 177 f. 502 Zur Idee der Volkssouveränität und ihren Grenzen bei Jean Quidort vgl. etwa Bielefeldt, S. 90 f.; Bleienstein, S. 32 ff.; Scholz, S. 331 f.; Struve, S. 255 f.; Walther, S. 151 ff.

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Diesen Schritt ging erst Marsilius von Padua, der den Regenten und die Gesetzgebung aus der Bindung an ein unverfügbares Naturrecht löste. Weniger stringent und konsistent als bei Jean Quidort, doch dafür um so wirksamer war die Verteidigung der französischen Monarchie gegen Papst- und Kaisertum bei Pierre Dubois, der in seiner Summaria brevis (1300) die Hegemonie des französischen Königs im Abendland proklamierte und in seiner Schrift De recuperatione terre sancte (1305/7) den Kreuzzugsgedanken reaktualisierte und ein politisch geeintes Europa und einen Fürstenbund imaginierte.503 Das wenige Jahre zuvor verlorene Palästina könne nur dann wiedergewonnen werden, wenn sich die Fürsten Europas zu einem festen Bund zusammenschließen, schreibt er in seinem zweiten Werk. Es genüge nicht, temporäre Bündnisse zu schließen, wie die Uneinigkeit der Kreuzfahrer von 1187 und 1291 deutlich zeige. Stattdessen solle der Papst ein Konzil sämtlicher Könige und Fürsten einberufen, die ihre Länder gleichsam zu einem einzigen Reich zusammenschließen, das von ihnen gemeinschaftlich verwaltet und von einem internationalen Schiedsgericht kontrolliert wird. Dubois wollte somit den Zerfall der abendländischen Christenheit in souveräne Staaten verhindern und ein – vom französischen König bzw. von den vereinigten Fürsten kollegial gelenktes – säkulares Reich errichten. Auch diese Hoffnung erwies sich als Illusion, das Streben des französischen Königs wie der anderen westlichen Monarchen ging in Richtung Staatlichkeit. Der Streit zwischen Regnum, Imperium und Sacerdotium in der Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII. hatte weitreichende Folgen. Er hatte zu einer neuerlichen Politisierung der Theologen und Juristen geführt und die alten Anschauungen und die Erwartungen an das einige Kaiser- und Papsttum als anachronistisch erwiesen. Im Zuge der Aristoteles-Rezeption und der von ihr bewirkten naturrechtlichen Wende wurde der Prozeß der Säkularisierung vorangetrieben und die künftige Trennung von Religion und Politik vorbereitet. Die Konsequenzen der durch den Konflikt provozierten theoretischen Auseinandersetzungen hat Richard Scholz wie folgt zusammengefaßt: „Zum ersten Male werden von den Legisten und von Johannes von Paris die weltlichen Machtansprüche der römischen Kirche mit durchdringender juristischer Schärfe kritisiert und zurückgewiesen, das moralisch-religiöse Gebiet begrifflich gesondert von dem weltlich-politischen. Der Klerus, vom Papste herab bis zum einfachen Priester, wird ganz auf seine religiösen Aufgaben, auf Glaubenslehre, Sakramentsverwaltung, Seelsorge beschränkt, zur persönlichen Besitzlosigkeit verdammt. Alle anderen Rechte und Befugnisse, die ihm sonst noch zustehen, werden vom Staate in Anspruch genommen, der Hoheit des Staates unterworfen . . . Der Staat erscheint jetzt als selbständige, auf eigenem Rechtsprinzip ruhende Gemeinschaft, unabhängig von der Kirche in seinem Ursprung und in seinen Zielen . . . Die Lehre von der naturrecht503 Pierre Dubois, Summaria brevis (1300); ders., De recuperatione terre sancte (1305/7). Dazu Dempf, S. 416 ff.; Kämpf, Pierre Dubois, bes. S. 97 ff.; O. G. Oexle, Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois; Scholz, Die Publizistik, S. 375 ff.

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lichen Entstehung des Staats auf der Grundlage der Volkssouveränität verdrängt immer mehr die ältere Ansicht von der direkten göttlichen Einsetzung.“ (S. 449 f.)

Die Aristoteles-Rezeption trug somit bei zur Auflösung und zum Verblassen der alten Reichsidee. Die politische Philosophie des Stagiriten eignete sich vorzüglich zur Legitimation des Strebens der westlichen Monarchien und der Städte nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Allerdings ließ sich auf der Basis und mit Hilfe der aristotelischen Politik auch die universale Kaiseridee noch einmal erneuern. Am weitesten ging diesbezüglich Dante Alighieri,504 der die Resignation seiner Vorgänger Alexander von Roes und Engelbert von Admont überwand und den energischen Nachweis führte, daß für die Sicherung des Friedens und die Verwirklichung der Gerechtigkeit die Herrschaft eines einzigen Imperators erforderlich ist. Nach dem Tod Kaiser Heinrichs VII. (1313) und König Philipps des Schönen von Frankreich (1314), zu Beginn des Königtums Ludwigs des Bayern (1314–47), nämlich in der Zeit nach 1316,505 konnte Dante in seiner Monarchia unter Aufbietung des gesamten Wissens seiner Zeit, das er in eine großartige Synthese brachte, mit aristotelischen und christlichen Mitteln überzeugend begründen, daß für das Wohlergehen der Menschheit eine weltumspannende Universalmonarchie unter Führung eines Kaisers unabdingbar ist. Sollen Kriege und Bürgerkriege verhindert, soll die Zerrissenheit Italiens und des ganzen Abendlandes überwunden werden, soll die menschliche Gattung ihr Ziel erreichen und schon auf Erden in Frieden und Eintracht, Freiheit und Gerechtigkeit leben und alle ihre geistigen Anlagen und Kapazitäten zur Entfaltung bringen, so muß ein einiges Imperium unter der Leitung eines einzigen Regenten geschaffen bzw. nach dem Vorbild des Imperium Romanum wiederhergestellt werden. Nicht nur der in der Heiligen Schrift überlieferte, von den Kirchenvätern und den Doctores der Scholastik interpretierte göttliche Wille, sondern auch die Erfordernisse des menschlichen Zusammenlebens machen diese Herrschaftsform nötig. Für Dante verfolgt das menschliche Leben zwei unterschiedliche Ziele, die zwar letztlich beide auf Gott zurückgehen, aber doch getrennt voneinander sind, nämlich einmal das irdische Ziel, das in der Glückseligkeit in einer befriedeten Gemeinschaft besteht, zum andern ein übernatürliches Ziel, dessen Kenntnis dem christlichen Glauben vorbehalten ist. Aufgabe des Kaisers sei es, das irdische 504 Vgl. Dante Alighieri, Monarchia. Dazu – aus der deutschsprachigen Literatur – etwa Dempf, S. 472 ff.; Kantorowicz, Die zwei Körper, S. 444 ff.; Kölmel, Regimen, S. 507 ff.; H. Löwe, Dante und das Kaisertum (1960). In ders., Von Cassiodor zu Dante, 298–328; D. Lüddecke, Dantes Monarchia als Politische Theologie; Mensching, Das Allgemeine, S. 274 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 108 ff.; H. Rheinfelder/H. Denzer, Dante; Walther, Imperiales Königtum, S. 222 ff. Weitere – auch italienische – Literatur bei R. Imbach/Ch. Flüeler im Anhang zu ihrer Edition der Monarchia, S. 358 ff. 505 Zu dieser Spätdatierung vgl. Imbach/Flüeler, Einleitung, S. 24. Sie ist allerdings umstritten. Andere Interpreten verlegen die Entstehung der Monarchia in die Regierungszeit Kaiser Heinrichs VII. Vgl. R. R. Bezzolo u. a., Art. Dante Alighieri, Sp. 547 und die bei Miethke (Politische Theorien, S. 108, Anm. 71) genannte Literatur.

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Ziel zu realisieren, Aufgabe des Papstes hingegen die rein geistige Lenkung der Menschheit zu ihrem übernatürlichen Ziel. Auch der Imperator verdanke sein Amt unmittelbar Gott, nicht dessen Diener oder Stellvertreter (Dei ministro seu vicario). Er hat die Rolle des Dominus zu übernehmen, soll sich dabei aber nicht in geistliche Belange einmischen und nur jene Angelegenheiten selbst in die Hände nehmen, die das Gemeinwohl betreffen, alles andere aber – gemäß dem Subsidiaritätsprinzip – den ihm untergeordneten Instanzen überlassen. Wer aber hätte dieses Weltregiment errichten und lenken sollen? An welchen Vorbildern konnte sich der Dichter und Philosoph orientieren? Wieder bildet Augustus das große geschichtliche Exemplum, vor dem alle späteren Gestalten verblassen. Sein Kaisertum wird beschworen, um die deutschen Könige zur Tat aufzurufen und zu einer aktiven Italienpolitik zu motivieren. Auch die Salier und Staufer kamen nicht in Frage. Sie eigneten sich nicht zum Paradigma eines universalen Kaisertums, das den Frieden sichert und die Menschheit zur Glückseligkeit führt.506 Die auf Friedrich II. folgenden deutschen Könige hatten die Reichsidee gänzlich preisgegeben und sich auf den Ausbau und die Stabilisierung ihrer Hausmacht konzentriert. Erst Heinrich VII. erhob noch einmal alte Universalitätsansprüche und wurde deshalb zur Inspirationsquelle des Dichters.507 Davor standen eigentlich nur zwei Kandidaten als Thronaspiranten bereit, die aber beide nicht in Frage kamen: das Papsttum und der König von Frankreich. Letzterer war nach dem Ende der Staufer zum mächtigsten Herrscher des Abendlandes geworden, doch standen ihm die anderen Könige und Fürsten als unabhängige Mächte gegenüber. Der Versuch Karls von Anjou, ein Weltreich zu errichten, war – wie schon erwähnt – durch einen von Byzanz und Aragón unterstützten Volksaufstand in der „Sizilianischen Vesper“ (1282) beendet worden. Es war in der Folge weniger das französische Königtum als vielmehr das Papsttum, das den von Dante post festum begründeten Universalismus in einer den Intentionen des Dichters entgegengesetzten Weise zu realisieren versuchte, wobei sich vor allem Bonifaz VIII. redlich bemühte, über die ihm zugedachte spirituelle Aufgabe hinaus die weltliche Monarchie (temporalis monarchia) zu leiten und somit noch einmal Dominat und Pastorat zu vereinen. Dieser Versuch war mit der Gefangennahme und dem Tod des Papstes (1303) zu Ende. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Nachfolger Petri vom französischen Königtum beherrscht. Philipp der Schöne erzwang die Übersiedlung des Papsttums nach Frankreich. Es begann die „babylonische Gefangenschaft“ der Kirche in Avignon (1309–77), die bis zum großen „abendländischen Schisma“ (1378–1409) dauerte.

506 Vgl. H. Löwe, Dante und die Staufer. In ders., Von Cassiodor zu Dante, 277–297; ders., Dante und das Kaisertum. Ebd., S. 312 ff., 319 ff. 507 In der Divina Comedia hat Dante ihm entsprechend einen Platz im Himmel zugewiesen. Vgl. Paradies XXX, 133 ff. In: Die Göttliche Komödie, S. 446. Zu Dantes politischer Betätigung vgl. auch das Nachwort von H. Rheinfelder, ebd., 461–477.

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So konnte oder mußte Dantes Vision als ein Traum verflossener Zeiten erscheinen, als eine „konservative“, gar „reaktionäre Utopie“ (s. o., Anm. 261). Im Rückblick nach 700 Jahren kann aber die Frage aufgeworfen werden, ob der Dichter mit seiner Argumentation nicht recht behalten hat. Italien blieb zerrissen und Objekt der Begierde fremdländischer Mächte. In Deutschland stabilisierte sich die Landesherrschaft. Die Folge der Zersplitterung Europas waren zwischenstaatliche Kriege und Zerstörungen. Ein einiges Friedensreich war in weite Ferne gerückt. Zwar bildeten die werdenden Staaten den adäquaten Rahmen für die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus und der modernen Kultur, doch war der Tribut, den die Welt dafür zu entrichten hatte, ganz beträchtlich. Nach langen Jahrhunderten der Spaltung steht deshalb heute die europäische „Wiedervereinigung“, d. h. eine nach-staatliche und postnationale Ordnung auf dem Plan. Eine zum Zwecke der Friedenssicherung und der Entfaltung ihrer Fähigkeiten geeinte Menschheit bildet mittlerweile wieder das große (End-)Ziel der Weltpolitik. Ob es sich mit demokratischen Mitteln erreichen läßt, muß die nahe oder ferne Zukunft erweisen. Dantes Ideen und Hoffnungen sind deshalb unabgegolten. Denn wichtiger als seine Verherrlichung des Kaisertums ist seine Friedenssehnsucht und seine humanistische Intention, sein Insistieren auf der menschlichen Würde. Wie Ernst Kantorowicz betont, ist „der eigentliche Kern von Dantes Idee einer moralisch-politischen und pädagogischen Weltmonarchie“ die Teleologie der menschlichen Gattung. Der florentinische Dichter und Denker hat nicht die Humanitas gegen die Christianitas gestellt, sondern einen Trennungsstrich zwischen beiden gezogen: „er nahm das ,Menschliche‘ aus dem christlichen Verband heraus und isolierte es als Wert eigenen Rechts. Das war vielleicht Dantes originellste Leistung auf dem Gebiet der politischen Theologie“.508 Dadurch wurde er zum Vorläufer des späteren Humanismus. Allerdings ist Dantes Humanismus zugleich ein dezidierter Anti-Individualismus und damit gegen die „Ideologie der Moderne“ (Louis Dumont) gerichtet. Im Mittelpunkt steht nicht der einzelne Mensch, Dante konzipierte vielmehr überindividuelle soziale und politische Totalitäten, an denen die einzelnen bloß partizipieren.509 Die Individuen sind Elemente oder Glieder eines Großsubjekts, das ihnen ihre Funktionen zuweist, ihre Aktivitäten vorschreibt und ihr Leben gänzlich absorbiert.510 508

Kantorowicz, Die zwei Körper, S. 469, 457. Vgl. dazu W. Hübener, Zum Geist der Prämoderne, S. 22 f. Wie Hübener betont, brach Dante dadurch mit „der Grundannahme der aristotelisch-scholastischen Ontologie, daß nie ein Allgemeines, sondern immer nur ein reales suppositum Quelle von Aktivitäten sein kann (actiones sunt suppositorum)“, und antizipierte damit ein Denken in Totalitäten, „das erst fast ein halbes Jahrtausend später in dem von Koselleck beschriebenen Prozeß der Überführung der bis dahin vorzugsweise pluralistisch gebrauchten historisch-politischen Terminologie in Kollektivsingulare voll zum Durchbruch gekommen ist“. Vgl. auch ebd., S. 48. 510 Vgl. dazu auch Struve, Die Entwicklung, S. 211 ff.; Bielefeldt, Von der päpstlichen Universalherrschaft, S. 94 ff.: „Die Menschheit ist also nicht nur die Summe aller Einzelmenschen oder aller partikularen Gemeinschaften, sondern alle Partikularität 509

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Weder die von Pierre Dubois erhoffte Kooperation der europäischen Könige und Fürsten noch die von Dante ersehnte Weltmonarchie ließ sich realisieren. Selbst im Abendland obsiegten die zentrifugalen Kräfte. Zwar bemühte sich Heinrich VII. von Luxemburg (1308/12–1313), die dem Kaiser zugedachte Aufgabe zu erfüllen, doch blieb ihm der erhoffte Erfolg verwehrt.511 Er machte wieder alte Reichsrechte in Italien geltend, stieß dabei aber auf erbitterten Widerstand. Zu seinem schärfsten Kontrahenten wurde König Robert von Neapel, der das Imperium als ein „scandalum“, als eine rechts- und naturwidrige, auf blanker Gewalt basierende Einrichtung betrachtete und für seine Abschaffung kämpfte.512 Um seinen Universalitätsanspruch durchzusetzen, war Heinrich bereit, Kriege zu führen und ganze Landstriche zu verwüsten. Er nahm Konflikte mit Clemens V. und seinem einstigen Verbündeten Philipp dem Schönen in Kauf und begann einen Vernichtungsfeldzug gegen die italienischen Städte.513 Am 6. Januar 1311 wurde er in Mailand zum italienischen König gekrönt, am 29. Juni 1312 im Lateran zum Kaiser.514 In einem Rundschreiben an die europäischen Fürsten erhob er den kaiserlichen Suprematieanspruch, doch ließ sich dieser in der Praxis nicht verwirklichen.515 Noch vor dem Aufbruch zum entscheidenden Gefecht gegen Robert von Neapel starb der Kaiser am 24. August 1313. Damit war der Traum vom einigen abendländischen Kaiserreich wieder einmal ausgeträumt. Doch schon kurze Zeit darauf erschien mit Ludwig dem Bayern (1314/ 28–46) ein neuer Thronaspirant, der die Zerrissenheit Italiens und Europas überwinden und das Imperium restituieren wollte. Das Papsttum blieb unter der Herrschaft des französischen Königs. Philipp V. (1316–22) lud die Kardinäle einzeln nach Lyon und setzte sie vierzig Tage unter Arrest, um die Wahl des 72jährigen Jacques Duèse aus Cahors zu erzwingen, der unter dem Namen Johannes XXII. (1316–34) die Nachfolge Clemens’ V. (1305–

prinzipiell (und nicht nur graduell) überschreitende Totalität, der im Plan der Natur eine eigene Aufgabe (proprium opus) zukommt, nämlich die Verwirklichung des einen menschlichen Intellekts“ (S. 100). 511 Zu seiner Kaiserpolitik vgl. Boockmann, Stauferzeit, S. 205 ff.; Grundmann, Wahlkönigtum, Territorialpolitik und Ostbewegung, S. 141 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 129 ff.; F. Schneider, Kaiser Heinrich VII.; Töpfer/Engel, Vom staufischen Imperium, S. 336 ff. 512 Zum Konflikt zwischen Heinrich VII. und Robert von Neapel vgl. auch Miethke, Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter, S. 390 ff.; K. Pennington, Henry VII and Robert of Naples (mit weiteren Literaturhinweisen). 513 Vgl. W. M. Bowsky, Henry VII in Italy. 514 Zu den Vorgängen um seine Königs- und Kaiserkrönung vgl. F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom. 11, 3, 4. [Bd. II, 2, S. 602 ff., bes. S. 608 f.] 515 Zum Rundschreiben Heinrichs VII. (MGH. Const. IV, 2 Nr. 801, S. 802) und zur Reaktion der europäischen Könige und Fürsten vgl. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 83 ff. Zum Spannungsfeld von theoretisch postulierter Reichsnotwendigkeit und politischer Realität im Kaisertum Heinrichs VII. vgl. auch Walther, Imperiales Königtum, S. 213 ff. (mit Quellennach- und Literaturhinweisen).

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14) antrat.516 „Mit ihm kam eine der unwürdigsten Persönlichkeiten auf den päpstlichen Thron“.517 Doch gar so kraft- und einflußlos blieb der Apostolische Stuhl in Avignon nicht. Der als Übergangspapst gedachte Johannes XXII. wurde 90 Jahre alt und regierte 18 Jahre. Er konnte noch einmal unverhoffte Macht entfalten und dem deutschen König Paroli bieten. Er schuf eine straff organisierte und effiziente Finanzverwaltung und vermehrte den Besitz der Kurie beträchtlich. Dadurch mußte er den Zorn der Franziskanerspiritualen auf sich ziehen, die ihm das alte Armuts- und Askeseideal entgegenhielten. Der Papst verdammte 1323 die Lehre der Franziskaner und schlug sich auf die Seite der rivalisierenden Dominikaner, schürte damit aber nur den theoretischen Armutsstreit, der jetzt mit voller Wucht entbrannte.518 Im neuerlichen deutschen Thronstreit zwischen Friedrich dem Schönen und Ludwig dem Bayern, d. h. zwischen Habsburgern und Wittelsbachern, beanspruchte Johannes XXII. noch einmal die Herrschaft über das Imperium. Nachdem der Herzog von Bayern in der Schlacht bei Mühldorf am Inn 1322 seinen Rivalen besiegt und gefangen genommen hatte, begann der letzte Kampf des Kaisertums mit der Kurie.519 Der Papst wies Ludwigs Anspruch auf den Königstitel zurück und erklärte seine Wahl für ungültig, da sie ohne päpstliche Prüfung und Approbation erfolgt sei. Er drohte dem „falschen“ König mit Exkommunikation, falls er sich weiterhin Reichsrechte anmaße.520 Ludwig IV. setzte sich zur Wehr, beharrte auf seiner Wahl und schlug sich im Armutsstreit auf die Seite der Spiritualen. Er ergriff in der Sachsenhäuser Appellation von 1324 Partei für die minoritische Opposition und unterstützte offen den Ordensgeneral Michael von Cesena, der das Armutsideal offensiv verfocht.521 Sein Hof wurde deshalb in der Folgezeit zur Zufluchtsstätte für die von der Kurie verfolgten Franziskaner. Am 23. März 1324 wurde er tatsächlich vom Papst exkommuniziert, seinen Unterta516 Vgl. Fuhrmann, Die Päpste, S. 151 ff.; Haller, Das Papsttum 5, S. 304 ff.; Zimmermann, Das Papsttum im Mittelalter, S. 178 f. 517 G. Denzler, Das Papsttum, S. 59. Eine Begründung für diese Einschätzung gibt Denzler leider nicht. 518 Zum theoretischen Armutsstreit vgl. etwa K. Balthasar, Geschichte des Armutsstreites; Benz, Ecclesia spiritualis, S. 240 ff.; 404 ff.; K. S. Frank, Geschichte des christlichen Mönchtums, S. 86 ff.; M. D. Lambert, Franciscan Poverty; Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, S. 348 ff. 519 Vgl. etwa Bock, Reichsidee und Nationalstaaten, S. 198 ff.; Boockmann, Stauferzeit, S. 217 ff.; Grundmann, Wahlkönigtum, S. 162 ff.; Kölmel, Regimen, S. 553 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 134 ff.; Miethke, Ludwig der Bayer; ders., Einführung. In: ders./Bühler, Kaiser und Papst, S. 38 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen); S. Riezler, Die literarischen Widersacher der Päpste; H. Thomas, Ludwig der Bayer. 520 Vgl. die Auszüge aus dem Dekret Johannes’ XXII. vom 8. Oktober 1323 (lat./ dt.) in: Miethke/Bühler, 132–136 [nach MGH. Const. 5 Nr. 792]. 521 Vgl. MGH. Const. V, Nr. 909 f., S. 723–754. Dazu Hauck, Kirchengeschichte. Bd. 5, 1, S. 497 ff.; Kölmel, Regimen, S. 553 ff.; A. Schütz, Die Appellationen Ludwigs des Bayern.

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nen wurde unter Strafandrohung der Gehorsam verboten.522 In einer Urkunde vom April 1328 konterte jedoch Ludwig den päpstlichen Affront, indem er – gestützt auf seine von den Bürgern der Stadt Rom im Januar des selben Jahres verliehene Kaiserwürde523 und unter Berufung auf das Vorbild Ottos I. – Johannes als notorischen Ketzer und Majestätsverbrecher für abgesetzt erklärte und die Wahl eines neuen Papstes ankündigte.524 Zum Gegenpapst wurde Nikolaus V. erhoben, der aber nur zwei Jahre amtierte und alsbald reumütig nach Avignon in die Obhut Johannes’ XXII. zurückkehrte. Die späteren Rekonziliationsversuche und Ausgleichsbemühungen, die Ludwig insbesondere mit dem neuen avignonesischen Papst Benedikt IX. (1335–42) unternahm,525 scheiterten vor allem wegen der Intervention des französischen Königs, der die Wiederauferstehung des deutschen Reiches zu verhindern suchte. Da die Kurie auf ihren angemaßten Rechten beharrte, suchten ihre Gegner nach tragfähigeren institutionellen Lösungen für den alten Konflikt. Die deutschen Kurfürsten schlossen sich am 16. Juni 1338 in Rhense zu einem Kurverein zusammen und legten in einem „Weisthum“ fest, allein ihre Wahl mache den deutschen König, der keine Nomination oder Approbation oder Konfirmation des Papstes für die Lenkung des Reiches benötige.526 Ludwig der Bayer dehnte diese Festlegung im selben Jahr auf den Kaisertitel aus und erließ am 6. August das Gesetz Licet iuris, das verbindlich festlegte, der Kaiser habe in temporalibus nur Gott über sich. Seine Gewalt erwachse aus der Wahl der Fürsten, sie werde nicht vom Papst übertragen. Wer eine abweichende Auffassung vertrete, sei ein Ketzer und mache sich eines Majestätsverbrechens schuldig, habe folglich mit harter Strafe zu rechnen.527 Ludwig konnte sich dabei auf Marsilius von Padua stützen, der in seinem Defensor pacis (1324) die theoretische Begründung für das kaiserliche Vorgehen 522 Zu den weiteren rechtlichen Maßnahmen der Kurie gegen Ludwig den Bayern vgl. Scholz (Hg.), Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften, bes. Bd. 1, S. 70 ff.; Bd. 2, S. 169 ff. 523 Zu den Vorgängen um seine Kaiserkrönung vgl. F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom. 11, 4, 4. [Bd. II, 2, S. 644 ff.]. Zum „Volkskaisertum“ und zu Ludwigs Abzug aus Rom vgl. auch Bock, Reichsidee und Nationalstaaten, S. 225 ff. 524 Vgl. die Urkunde Ludwigs des Bayern vom 18. April 1328 (Auszüge lat./dt.) in: Miethke/Bühler, 136–142 [nach MGH. Const. 6, 1 Nr. 436]. 525 Vgl. Miethke, Kaiser und Papst im Spätmittelalter; A. Schütz, Die Prokuratorien und Instruktionen Ludwigs des Bayern; H. O. Schwöbel, Der diplomatische Kampf zwischen Ludwig dem Bayern und der römischen Kurie. 526 Vgl. K. Zeumer, Quellensammlung. I. Teil, Nr. 141 c, S. 183 f. bzw. L. Weinrich, Quellen, Nr. 88. Dazu E. E. Stengel, Avignon und Rhens. 527 Vgl. den Text des Gesetzes Licet iuris Ludwigs des Bayern vom 6. August 1338 (lat./dt.) in: Miethke/Bühler, 148–150 [nach L. Weinrich, Quellen, Nr. 89]. Dazu H. Lieberich, Kaiser Ludwig der Bayer als Gesetzgeber; K. Zeumer, Ludwigs des Baiern Königswahlgesetz ,Licet iuris‘.

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geliefert hatte.528 Mit aristotelischen und christlichen Mitteln, rationalistischer Argumentation und Bibel-Zitaten hatte der Paduaner die Notwendigkeit einer strikten Scheidung der geistlichen und weltlichen Sphäre begründet und das papalistisch-hierokratische Bestreben der römischen Bischöfe als Ursache des Unfriedens, des ewigen Streits und des Haders erwiesen (Defensor pacis I, 19; II.). Sollen Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen obwalten, so ist die Herrschaft des Gesetzes nötig, das vom Volk (populus seu civium universitas) bzw. seinem bedeutenderen Teil (pars valencior) erlassen wird und auch die weltlichen Machthaber und die Inhaber der geistlichen Ämter bindet (I, 18, 3). Marsilius wurde so zum Vordenker des neuzeitlichen Staates, indem er die Politik aus der religiösen Umklammerung löste, die Regenten auf das Gemeinwohl verpflichtete und die Legitimität der Herrschaft in ihrer Rückbindung an den Willen der Bürgerschaft suchte.529 Er wurde zugleich zum Vorläufer des späteren Konstitutionalismus, indem er zwar noch keine Bürgerfreiheiten gegen einen despotischen Staat postulierte, aber doch den Machthabern positiv-rechtliche Schranken setzen und sie der Kontrolle durch den Gesetzgeber bzw. einen von ihm bestellten Ausschuß unterwerfen wollte. Er entwickelte darüber hinaus den Gedanken der Volkssouveränität weiter, der bereits bei Manegold von Lautenbach angeklungen war, dort jedoch der Begründung des päpstlichen Suprematieanspruchs und der Entsakralisierung und Herabwürdigung des Königtums gedient hatte (s. o., S. 401 f.). Nunmehr sollte er der Entmachtung der Kurie und des Klerus dienen, die auf ihre seelsorgerischen Aufgaben beschränkt werden. Die Priester und Pastoren haben unverzichtbare pädagogische und zivilisatorische Funktionen, von den politischen Angelegenheiten haben sie sich aber fernzuhalten. Sie unterliegen selbst, wie die Laien, den Gesetzen, die das Volk vermittels seiner Repräsentanten erläßt. Damit war die traditionelle Zwei-Gewalten-Lehre zugunsten einer einheitlichen weltlichen Gewalt preisgegeben, die zugleich über den Klerus gebietet (II, 18, 9).530 528 Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis). Vgl. dazu die Monographien von A. Gewirth, Marsilius of Padua; G. d. Lagarde, La naissance de l’esprit laïque au déclin du moyen-âge. Bd. 3; J. Quillet, La Philosophie Politique de Marsile de Padoue. Ferner H. Segall, Der „Defensor pacis“ des Marsilius von Padua. 529 Vgl. bes. die früheren Interpretationen von O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 3, bes. S. 279, 533 ff.; ders., Johannes Althusius, S. 123 ff., bes. S. 125, 215 f.; R. Scholz, Marsilius von Padua. Ferner Carlyle/Carlyle, A History. Bd. 6, S. 8 ff., 40 ff.; Dempf, S. 430 ff. 530 Aus der umfangreichen jüngeren Literatur zu Marsilius vgl. etwa H. Bielefeld, S. 101 ff.; Flasch, Das philosophische Denken, S. 472 ff.; Hofmann, Repräsentation, S. 191 ff.; Kölmel, Regimen, S. 517 ff.; H. Kusch, Einleitung, XV–LXXXVII; Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 222 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 111 ff.; ders., Marsilius von Padua; H. Rausch, Marsilius von Padua; ders., Nachwort zu der von ihm besorgten Auswahl, S. 213–241; Sternberger, Die Stadt als Urbild, S. 76 ff.; ders., Drei Wurzeln der Politik, S. 397 ff.; Struve, Die Entwicklung, S. 257 ff.; Ullmann, Principles of Government, S. 268 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 159 ff.; Wilks, Corporation and Representation in the Defensor Pacis.

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Ziel der weit ausgreifenden Untersuchung des Paduaners war die Bloßlegung der „einzigartigen Ursache des Haders“ unter den Menschen (Defensor pacis I, 1, 7), um so die Voraussetzungen für einen künftigen Frieden zu ermitteln. Dazu war eine eingehende und gründliche Untersuchung der conditio humana erforderlich. Diese hatte aber schon Aristoteles unternommen, indem er die Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des menschlichen Handelns und die ihnen gemäßen Institutionen – von der Familie über das Dorf bis hin zur Polis – analysierte. Seine Ergebnisse werden von Marsilius als gültig betrachtet und auf die veränderten Bedingungen appliziert. Sowohl der Ursprung (causa efficiens) wie der Endzweck (causa finalis) der weltlichen Herrschaft und der politischen Gemeinschaft wurde in der Politik des Stagiriten zureichend begründet. Marsilius konnte sich folglich darauf beschränken, den aristotelischen Begründungszusammenhang zu rekonstruieren bzw. schlicht zu zitieren.531 Mit Aristoteles erblickte er den Ursprung der Gemeinschaft (I, 3) im menschlichen Streben nach Selbsterhaltung, d. h. im bloßen Überlebenwollen, ihren Endzweck (I, 4) hingegen im „guten Leben“, d. h. in einem befriedeten und geglückten Dasein. Da aber schon das bloße Überleben in Frage gestellt war, verlagerte sich der Akzent von der Zweck- auf die Wirkursache. Die höchste Instanz des Zusammenlebens hatte Aristoteles bekanntlich in der Polis gesehen, die sich selbst genügt und eine adäquate Form der sozialen Integration durch politische Partizipation realisiert. Nach ihrem Vorbild konnte man die italienischen Kommunen konstruieren oder aber kritisieren, sofern die gewünschte Nomokratie in ihnen zur Willkürherrschaft (Tyrannis, Signorie, Oligarchie) entartete. Im Unterschied zum klassischen Griechenland hatte die spätmittelalterliche Gesellschaft im Grunde nur zwei neue Institutionen aufzuweisen, die in der politischen Philosophie des Aristoteles nicht vorgesehen waren: übergreifende Königreiche (regna) und die christliche Kirche (ecclesia). Hinzu kam der Universalitäts- und Weltherrschaftsanspruch, den die Protagonisten des Imperiums geltend machten. Sind diese Ordnungsformen zur Erreichung des menschlichen Zieles 531 Die These Dolf Sternbergers, Marsilius habe nichts anderes beabsichtigt, als eine integrale Rekonstruktion der aristotelischen Politik, ist auf scharfe Kritik bei Jürgen Miethke gestoßen, der betont, der Paduaner habe vielmehr „die politische Krankheit seiner Zeit“ heilen wollen und zu diesem Zweck eine originäre Fortbildung der Politik unternommen. Dazu ist zu bemerken, daß zwischen beiden Thesen kein Widerspruch besteht: Die konsequente Zitation und Applikation der aristotelischen Politik war eine originäre Leistung des Paduaners und sollte der Krisenbewältigung dienen. Die Aristoteles-Rezeption war niemals Selbstzweck gewesen, sondern stets durch konkrete Orientierungsnöte der Philosophen motiviert. Auch Sternberger wußte, daß Marsilius nur aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist. Zu den genannten Positionen vgl. Sternberger, Die Stadt und das Reich in der Verfassungslehre des Marsilius von Padua. In: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 18, 3. Stuttgart 1981, 87–147 (= ders., Die Stadt als Urbild, 76– 142); ders., Drei Wurzeln der Politik, S. 397 ff.; Miethke, Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter, S. 407 f.

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(telos) nötig? Oder können sich die Städte und Provinzen selbst genügen? Welche Regierungsform ist am ehesten zur Friedenssicherung geeignet? Welche Rolle spielt das Kaisertum, welche sollen die Königreiche und die Kirche bei der Gestaltung eines friedlichen und harmonischen Zusammenlebens spielen? Es ging somit um die alten Fragen: 1. Hierokratie, Cäsaropapismus oder Gewaltenteilung? 2. Universalismus oder Partikularismus? 3. Monarchie oder Aristokratie bzw. Absolutismus oder Parlamentarismus? 1. Bezüglich der ersten Frage ist die Antwort des Defensor pacis klar und eindeutig: Weder Hierokratie noch Gewaltenteilung führen zur Eintracht unter den Menschen. Sie sind vielmehr Quelle der Unruhe und des Streites. Erforderlich zur Sicherung des Friedens ist ein Regiment, in dem der weltliche Herrscher (humanus legislator) die geistlichen Würdenträger kontrolliert und über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens wacht. Das Streben der römischen Bischöfe nach Suprematie und weltlicher Herrschaft (plenitudo potestatis) wird als Hauptursache des Unfriedens ausgemacht (I, 19 und II.). Anstatt die Politik zu dominieren und ihre Richtlinien zu bestimmen, hat die Religion in ihren Dienst zu treten und sich dem Ziel der Friedenssicherung unterzuordnen. Es gibt für Marsilius insgesamt drei gefährliche Feinde der Wahrheit und des Friedens: 1. die römischen Bischöfe und ihre Helfershelfer; 2. die Gewohnheit, Falsches zu hören und zu glauben; 3. den Neid unter den Menschen (II, 1). Diese drei Wahrheits- und Friedensfeinde sind folglich mit allen Mitteln zu bekämpfen. Sie finden sich besonders ausgeprägt unter den Klerikern, die deshalb ins Zentrum der Kritik geraten. Ihre Ambitionen werden sowohl mit rationalen, d. h. aristotelischen, als auch mit christlichen Mitteln pariert. Um seine Widersacher gänzlich zu entmachten, sucht sich Marsilius – im zweiten Teil des Werkes – die einschlägigen Stellen der Heiligen Schrift zusammen, die allesamt in die gleiche Richtung weisen. Zwar sind sich die Interpreten nur in wenigen Punkten einig, doch gilt als gesichert, „daß für Marsilius der Verzicht auf letzte normative Werte, die den Staat (regnum) und seine politischen Institutionen rechtfertigen, charakteristisch ist. Eine Hierarchie der Werte existiert nicht“.532 Die Teleologie wird zugunsten der Suche nach Wirkursachen zurückgedrängt bzw. auf weiten Strecken preisgegeben. An die Stelle der heilsgeschichtlichen tritt eine profangeschichtliche und naturgenetische Betrachtung. Zwar sieht Marsilius den Endzweck (causa finalis) der politischen Gemeinschaft mit Aristoteles im „guten Leben“ (I, 4), doch war angesichts des herrschenden Unfriedens und der grassierenden Krise selbst das schlichte Überleben in Frage gestellt, so daß jenes Moment in den Vordergrund drängte, das der Stagirit als bloßen Ursprung (causa efficiens) der Polis begriffen 532 H. Kusch, Vorwort zu Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens, IX– XIII; hier: S. X. Zur Umorientierung von den Zweck- auf die Wirkursachen vgl. auch A. Gewirth, Marsilius of Padua, S. 36 ff. Beide Interpreten erblicken darin die eigentliche revolutionäre Neuerung des Marsilius, aus der alle seine zentralen politischen Gedanken resultieren.

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hatte (I, 3). Obgleich der Defensor pacis auf weiten Strecken den Vorgaben des Aristoteles folgt, verdrängt in ihm die menschliche Selbsterhaltung weitgehend das Prinzip der Selbststeigerung und -vervollkommnung. Den Ausgangspunkt der theoretischen Ableitung bilden nicht mehr die göttlichen Ver- und Gebote, sondern die Erfordernisse des menschlichen Zusammenlebens. Ihren Zielpunkt markieren nicht länger die Bestimmungen der Glückseligkeit und des ewigen Heils, sondern die Bedingungen und Formen, Mittel und Wege zur (Wieder-) Herstellung des irdischen Friedens. Da die göttliche Vorsehung Kriege und Bürgerkriege nicht ausgeschlossen hatte, sondern Spielraum für die menschliche Selbstzerstörung ließ, konnte von ihr keine friedensstiftende Wirkung erwartet werden. Wollte die Menschheit einen Weg aus dem irdischen Jammertal finden, so mußte sie ihre Probleme in die eigenen Hände nehmen. Die Berufung auf den göttlichen Willen konnte dabei nicht weiterhelfen, sie war – wie der Kampf zwischen Kaiser-/Königtum und Papsttum seit Innocenz III. und Gregor IX. bis hin zu Bonifaz VIII. und Johannes XXII. lehrte – vielmehr selbst zur wichtigsten Kriegsursache geworden. An die Stelle des zum Streitobjekt gewordenen göttlichen Willens mußte deshalb der Wille der Bürgerschaft als A und O des neuen Begründungszusammenhangs treten. Mit dieser Nivellierung des alten Wertekanons entzog Marsilius dem papalen Anspruch auf Suprematie und dem klerikalen Verlangen nach weltlicher Herrschaft die geistigen Grundlagen und bereitete so den Boden, auf dem die späteren Staatstheoretiker die Lösung der spätmittelalterlichen Krise in Angriff nehmen und neue Ordnungsformen antizipieren konnten. Imperium/Regnum und Sacerdotium sind getrennt, das Sacerdotium wird aufgelöst in die Glaubensgemeinschaft, die von der Gesamtheit der Gläubigen konstituiert und vom Kaiser und den Königen bzw. von einem allgemeinen Konzil repräsentiert wird. Papst- und Priestertum besitzen nicht nur keinerlei Befugnisse in temporalibus, auch in spiritualibus haben sie nicht das letzte Wort. Die Letztentscheidung in geistlichen Belangen hat vielmehr die Gesamtheit der Gläubigen bzw. ihr bedeutenderer Teil (pars valencior). Die Hauptattacke gegen den papalen Hierokratismus und Weltherrschaftsanspruch wird hinsichtlich der alles entscheidenden Frage quis iudicabit? geführt: „Wer hat die Befugnis oder hat sie gehabt, den Sinn zweifelhafter Stellen der Heiligen Schrift lehrmäßig festzulegen oder zu bestimmen?“ (II, 20). Die Antwort lautet unumwunden: weder der Papst noch die Kardinäle oder die Priesterschaft entscheiden in Glaubensfragen, sondern „ein allgemeines Konzil aller Christen oder ihres bedeutenderen Teiles“ (§§ 2 ff.; III, 2, 3). Damit wurde Marsilius zum entscheidenden Wegbereiter des späteren Konziliarismus.533 Indem er die bereits von Jean Quidort betriebene „Spiritualisierung des Kirchenbegriffs“ weiter forcierte und den Klerus auf seine spirituel533 Vgl. P. E. Sigmund, The Influence of Marsilius of Padua; ders., Nicholas of Cusa. Daß allerdings der Konziliarismus nicht erst von Marsilius und Wilhelm von Ockham aus der Taufe gehoben wurde, sondern ältere Wurzeln hatte, zeigt Tierney, Foundations of the conciliar Theory.

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len und dienenden Funktionen reduzierte, konnte er zugleich zum Vorläufer Martin Luthers werden.534 Ist die Stoßrichtung der Kritik bei Marsilius somit gegen das Papsttum und den Klerus gerichtet, so ist sie deshalb keineswegs antichristlich. Vielmehr werden die christlichen Glaubensprinzipien hochgehalten. Die Lehren des Neuen Testaments gelten als unumstößlich, nur die des Alten müssen nicht alle befolgt und beachtet werden (II, 9, 10 ff.; III, 4). Allerdings soll ein gewisses Maß an Toleranz herrschen: „Die Gebote des göttlichen Gesetzes zu befolgen, wird niemand durch weltliche Buße oder Strafe genötigt; so fordert es die Heilige Schrift“ (III, 2, 3; cf. II, 9, 3 ff.). „Die Dekretalen oder Dekrete der römischen oder aller anderen hohen Geistlichen, von allen gemeinsam oder von einzelnen ohne Genehmigung des menschlichen Gesetzgebers oder des allgemeinen Konzils erlassen, verpflichten niemand unter ,Androhung‘ einer weltlichen oder geistlichen Buße oder Strafe“ (III, 2, 7; cf. I, 12 u. II, 28 f.). Auch die Einsetzung der Geistlichen ist Aufgabe des humanus legislator (I, 15, 2–4; II, 17, 8–16; III, 2, 21), der über die zeitlichen Güter der Kirche nach Gutdünken verfügt und sie im Notfall für die Armenfürsorge verwenden kann (I, 15, 10; II, 17, 16; II, 21, 14; III, 2, 27). 2. Nachdem der Papalismus und die kirchliche Hierokratie zurückgewiesen sind, stellt sich die Frage Universalismus oder Partikularismus? Muß es eine Weltmonarchie geben oder sollen sich die Städte und/oder Königreiche selbst verwalten? Zu dieser Frage, meint Marsilius, sei „eine vernünftige Untersuchung“ nötig, die er jedoch im Rahmen seiner Studie nicht unternehmen könne (I, 17, 10). Obgleich er als Berater am Hof Ludwigs des Bayern wirkte, der noch einmal alte Reichsrechte geltend zu machen versuchte, räumt der Paduaner ein, es könne sinnvoll oder zweckmäßig sein, „in den verschiedenen Landschaften der Welt, die durch die geographischen Verhältnisse geradezu notwendig getrennt sind und vor allem in denen [keine] Sprachgemeinschaft [besteht] und sehr stark abweichende Sitten und Lebensformen [herrschen], verschiedene solche Regierungen zu haben“. Überdies sei nicht von vornherein auszuschließen, daß Kriege und Epidemien notwendig und von Gott vorgesehen seien, um die übermäßige Vermehrung der Menschheit zu verhindern. „Es könnte nämlich vielleicht manchem scheinen, als habe die Natur durch Kriege und Epidemien die Vermehrung der Menschen und der übrigen Lebewesen gehemmt, damit zu ihrer Ernährung die Erde genüge“ – eine Auffassung, in der die averroistischen Verfechter der „ewigen Zeugung“ eine starke Stütze hätten. Wie dem auch sei: Städte und Provinzen, die an sich autonom sind und sich selbst genügen, sind nur dann und deshalb zu Reichen vereinigt, „weil jede von ihnen durch ihren Willen einer obersten Regierung zugeordnet ist“ (§ 11). Fehlt dieser Wille, so fehlt auch der Zusammenhang und das Reich löst sich auf in seine einzelnen Bestandteile. Für die Erhaltung des Friedens jedenfalls, so darf man folgern, ist eine Weltmonarchie 534

Vgl. J. Heckel, Marsilius von Padua und Martin Luther.

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nicht zwingend nötig. Entscheidend ist, daß es in den Städten und Reichen jeweils nur eine einzige oberste Regierungsgewalt gibt (§ 1). Auch Königreiche sind folglich nicht lebensnotwendig. Es liegt im freien Ermessen der Bürger, ob sie sich in Dörfern und Stadtkommunen oder aber in größeren Zusammenschlüssen organisieren. Damit ist die politische Verfassung disponibel und zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden. Sie steht nicht mehr von vornherein und ein für allemal fest, sondern resultiert aus der politischen Willensbildung der Bürgerschaft. Marsilius begreift das Reich (regnum) als „eine Vielzahl von Städten oder Provinzen . . ., die unter einer Regierung zusammengehalten sind“ (I, 2, 2). Diesem Verbund entspreche am ehesten die von Aristoteles thematisierte „gemäßigte Monarchie“ (ebd.). Seine Einheit werde durch den Willen der Bürger bzw. ihres bedeutenderen Teils (pars valencior) bewirkt (I, 17, 11). Ohne diesen Willen hört er auf zu existieren und verwandelt sich in einen frommen Wunsch oder ein leeres Ideal. Das Königtum ist somit auf die Zustimmung und Anerkennung der Untertanen bzw. ihres „bedeutenderen Teils“ angewiesen. Ohne diese verliert es seine Legitimation und seine Basis. Der Wille zur Vereinigung resultiert grundsätzlich aus der mangelhaften Organausstattung des Menschen, der – wie schon Thomas von Aquin im Anschluß an den Stagiriten betont hatte (s. o., S. 522) – als Mängelwesen auf das Zusammenleben mit seinesgleichen angewiesen ist (I, 4, 3). Wie groß der jeweilige Zusammenschluß ist, hängt von kontingenten Konstellationen und vom Willen der Menschen ab. Streitigkeiten und Zänkereien machen jedoch rechtliche Regelungen und Wächter oder Exekutivorgane nötig (§ 4), die für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen haben. Es entsteht folglich eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, die ihrerseits eine soziale Rangabstufung bewirkt. Doch weder Gott noch die Natur hat festgelegt, welche politische Organisation das Zusammenleben regelt. Liegt es einerseits im freien Ermessen der Bürger, ob sie sich in autonomen Städten selbst verwalten oder aber zu übergreifenden Reichen zusammenschließen, so liegt es andererseits auch allein an ihnen, welche Ordnung sie in dem von ihnen konstituierten Gemeinwesen etablieren. 3. Das Recht zur Gesetzgebung liegt beim Volk (humanus legislator), das Recht selbst entspringt nicht länger einer transzendenten Quelle oder der „Natur“, sondern der jeweiligen potestas des Herrschers, der seine Legitimität vom Volk herleitet. Ein voluntaristischer Rechtsbegriff bricht sich Bahn, der den überkommenen naturrechtlichen schon bald verdrängte.535 Allerdings wird das gesetzgebende „Volk“ bei Marsilius nicht durch die Gesamtheit aller Individuen 535 Darin erblickt die jüngere Forschung die originäre Leistung des Paduaners. Vgl. etwa Bielefeldt, S. 116: „Daß Marsilius – um der Autonomie des Politischen willen – die Gesetzgebung von der Bindung an ein unverfügbar vorgegebenes Naturrecht loslöst und der Entscheidung des Menschen überantwortet, ist die vielleicht wichtigste Neuerung seines Werkes gegenüber der Tradition der politischen Philosophie.“ – In der Praxis war dieser Schritt allerdings längst vollzogen. Das traditionelle Rechtsverständnis

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konstituiert und repräsentiert, sondern durch die einander zugeordneten und aufeinander bezogenen mittelalterlichen Stände. Der Gedanke der „Volkssouveränität“ führte somit noch nicht zur Idee der Demokratie.536 Strittig bleibt, ob der Defensor pacis eine „gemäßigte“ (Wahl-)Monarchie, eine Aristokratie oder vielmehr die Selbstverwaltung der bürgerlichen Führungsschicht in den oberitalienischen Städten als die beste und für die Friedenssicherung geeignetste Ordnung begründet hat. Dieser Streit läßt sich nicht schlichten, weil der Paduaner nicht näher bestimmt hat, wer jeweils zur valentior pars, d. h. zum immer wieder beschworenen „bedeutenderen Teil“ der Bürgerschaft zu rechnen ist. Marsilius übernimmt die Verfassungslehre des Aristoteles und unterscheidet mit ihm „gute“ und „schlechte“ Formen (I, 8). Als „gut“ gelten alle Regierungen, die in Übereinstimmung mit dem Willen der Bürger und Untertanen handeln, als „schlecht“ hingegen jene, die ihn mißachten und gegen ihn verstoßen (I, 9). Es ist folglich gleichgültig und den Bürgern überlassen, ob sie die Alleinherrschaft eines Mannes (Monarchie) oder eine kollektive Regierung der „valentior pars“ (Aristokratie) oder gar die politische Selbstbestimmung und -verwaltung des gesamten Volkes (Politie) institutionalisieren. Entscheidend ist, daß die jeweilige Regierung nicht zur Tyrannis, Oligarchie oder Demokratie „entartet“. Um dies zu verhindern, hatte Der Philosoph seinerzeit Mischverfassungen empfohlen, in denen sich die drei Prinzipien wechselseitig relativieren und balancieren. Auch Marsilius legt sich hinsichtlich der konkreten Regierungsform nicht eindeutig fest und öffnet dadurch Raum für kontroverse Interpretationen und antagonistische Spekulationen. Der alte Streit über die „demokratische“, „aristokratische“ oder „monarchistische“ Intention des Defensor pacis ist deshalb müßig und nicht zu entscheiden. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob Marsilius eine Wahlmonarchie, eine Aristokratie oder eine „repräsentative Demokratie“ präferiert, entscheidend ist allein die Zurückweisung der klerikalen und papalen Weltherrschaftsansprüche. Erstrebt wird weniger die „Demokratisierung“ der Politik als vielmehr ihre Freisetzung aus der geistlich-religiösen Klammer.537 Gleichgültig, war bereits durch die normannischen Gesetzgeber und ihre englischen, französischen und weiteren Nachfolger revolutioniert. Siehe dazu oben, S. 484 ff.; bes. S. 488 f. 536 Zur Kritik an der von Otto von Gierke, Richard Scholz und einer Vielzahl weiterer, vor allem älterer Interpreten versuchten Stilisierung des Paduaners zu einem Pionier der „Demokratie“ und des „bürgerlichen Rechtsstaates“ vgl. Bielefeldt, S. 123 ff.; Hofmann, Repräsentation, S. 191 ff.; J. Quillet, La Philosophie Politique de Marsile de Padoue, S. 85 ff.; H. Rausch, Marsilius von Padua, S. 189 ff.; Wilks, The Problem of Sovereignty, S. 196 ff.; ders., Corporation and Representation in the Defensor Pacis. Nach Wilks bilden bei Marsilius nur die Fürsten und Magnaten den sanior pars. Daß aber der Gedanke der Volkssouveränität im Defensor pacis nichtsdestotrotz vollständig durchgeführt ist, betont Walther, Imperiales Königtum, S. 161 ff. 537 Dies betont zu Recht H. Hofmann im Zuge seiner Kritik an den Versuchen, Marsilius zum „Demokraten“ zu stilisieren: „In der Lehre des Marsilius wird weniger die Kirche demokratisch verstaatlicht, als allererst das bürgerliche Gemeinwesen im Angriff auf die päpstliche Vorherrschaft verweltlicht und die christliche Gemeinde in Op-

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ob die valentior pars als aristokratische Elite der Königreiche oder als bürgerliche Führungsschicht der italienischen Städte zu begreifen ist, die Hauptsache ist, daß sie, die stellvertretend für die Gesamtbevölkerung handelt, nicht vom Klerus dominiert oder ausgemacht wird. Der Regent – sei’s die Gesamtheit, sei’s die aristokratisch-bürgerliche Elite oder aber der Monarch – ist nicht mehr Stellvertreter Christi auf Erden, sondern Repräsentant der Bürgerschaft. Er hat nicht den Willen Gottes zu exekutieren, sondern den Interessen der Bürger und dem Gemeinwohl zu dienen. Als Bürger gilt – wie schon bei Aristoteles – jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, „je nach seinem sozialen Rang. Diese Beschreibung schließt von den Bürgern die Knaben, die Sklaven, die Fremden und die Frauen aus“ (I, 12, 4). Die Civitas und/oder das Regnum wird folglich als Männerbund verstanden, als eine „Gemeinschaft freier Männer“ (§ 6). Während in den Stadtkommunen (civitates) auch aristokratische oder bürgerlich-elitäre Formen der Willensbildung und Entscheidungsfindung denkbar sind, werden die übergreifenden Reiche wohl eher „gemäßigte“, d. h. rechtlich begrenzte Wahlmonarchien sein, in denen die oberen Stände tatkräftig mitwirken und vor allem beratende Funktionen ausüben. Daß die Angehörigen der Unterschichten an den drei Gewalten partizipieren und dadurch Bürgerstatus erlangen, ist eher unwahrscheinlich, wenngleich nicht prinzipiell ausgeschlossen.538 Die vollwertigen Bürger aber sollen nach Möglichkeit zugleich Autoren und Objekte des Gesetzes sein, da ein Mensch am liebsten solche Gesetze befolgt, von denen er glaubt, daß er sie sich selbst auferlegt hat (§ 6). Der beste Gesetzgeber ist demnach „die Gesamtheit der Bürger“ oder ihr „bedeutenderer Teil“ (eius valenciorem partem), der die Gesamtheit vertritt (§ 5). Mögliche Einwände gegen diese Festlegungen werden im anschließenden Kapitel (I, 13) erörtert und widerlegt. Auch das Priestertum hat eine wichtige Funktion innerhalb der Städte und/ oder der geeinten Königreiche zu erfüllen (I, 6). Ihm obliegt die „Seelenpflege“. position zum Anstaltscharakter der Papstkirche vergeistlicht. – Seltsamer ,Demokrat‘ auch von ,äußerster Radikalität und Konsequenz‘, der Hörige kennt, der Bürger nur je nach ihrem Stand (secundum gradum suum) an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen will, dessen Begriff von Volk (populus seu civium universitas) mitnichten durch Freiheit und Gleichheit der Individuen konstituiert wird, sondern durch die Vorstellung der mannigfach gegliederten und gestuften Ordnung einer Bürgerschaftskorporation mit ihren zünftigen Sondergemeinden . . .“ (Repräsentation, S. 196). 538 Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß noch im 18. und 19. Jahrhundert der Bürgerstatus von Besitz, Bildung und Geschlecht abhängig gemacht wurde. Vgl. etwa I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), I. Teil, § 46, Anm.: „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus“. Aber Stimmrecht zu haben, „d. i. Staatsbürger, nicht bloß Staatsgenosse zu sein, dazu qualifizieren sich nicht alle mit gleichem Recht“. Sowohl Gesellen, Dienstboten, Unmündige, „alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit“ (S. 137 f.).

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Seine Aufgabe und sein alleiniger Zweck ist die „Erziehung der Menschen und Belehrung darüber, was nach dem evangelischen Gesetz notwendig ist zu glauben, zu tun oder zu unterlassen, um das ewige Heil zu erlangen und der ewigen Pein zu entrinnen“ (§ 8). In der Politik hingegen hat der Klerus nichts zu suchen (II, 1, 4). Er genießt in weltlichen Angelegenheiten keinerlei Privilegien und untersteht seinerseits der Gesetzgebung und Rechtsprechung des Regenten (18, 9). Mit diesen Festschreibungen, die zum Leitbild der künftigen Politik werden konnten, war ein entscheidender Schritt in der theoretischen Bewältigung der anstehenden Ordnungsprobleme getan. Durch die strikte Trennung von Regnum und Sacerdotium, Religion und Politik, wurde die „Säkularisierung“ der weltlichen Herrschaft und die Verselbständigung der staatlichen Politik vorangetrieben. Auf dem von Marsilius geebneten Weg konnten die späteren Politikdenker und Staatstheoretiker – von Machiavelli bis Hobbes, von Hobbes bis Hegel – weiterschreiten. Ziel der Politik ist nicht mehr die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Friedenssicherung und die Ermöglichung eines harmonischen Zusammenlebens. Dazu ist weder eine Universalmonarchie noch eine vom Papsttum beherrschte Anstaltskirche nötig. Es genügt, wenn sich die Städte und Provinzen ordentlich verwalten und – bei Bedarf – zu größeren Reichen zusammenschließen, in denen die Gesamtheit oder ihr „bedeutenderer Teil“ die Geschicke des Gemeinwesens bestimmt. Die Kirche aber soll in eine pneumatische Einheit zurückverwandelt werden, die sich ausschließlich den Glaubensangelegenheiten widmet und sich um die Heilsgewißheiten kümmert. Eine innerkirchliche Hierarchie ist dafür nicht vonnöten, die Prinzipien des Glaubens können durch Konzilien festgelegt werden. Sinn und Zweck der Priester und Pastoren ist allein der Gottesdienst und die mit ihm verknüpfte Zivilisierung der Menschen. Damit waren die Grundsätze der künftigen Politik formuliert. Mit diesen theoretischen Klärungen ließ sich nicht nur die Politik Ludwigs des Bayern gegenüber der Papstkirche in Avignon rechtfertigen, auch die westlichen Monarchien und die lombardischen Städte konnten sich in ihrem Streben nach Selbständigkeit und Autonomie auf den Defensor pacis berufen. Dieser konnte so zum Ausgangspunkt des künftigen Staatsdenkens werden. Die späteren Reichsapologeten hingegen taten sich schwer mit dem Gedanken der Volkssouveränität, durch den die Entscheidung über die Verfassung und die konkrete Form der Regierung in die Hände der Bürgerschaft gelegt wurde und die Idee der Universalmonarchie als disponibel und letztlich als überflüssig erschien. Lupold von Bebenburg (1297–1363) und Konrad von Megenberg (1309–1374) ignorierten deshalb das Werk. Erst Nikolaus von Kues (1401–64) befaßte sich eingehend mit ihm und suchte die Einsichten des Paduaners für die Begründung des Konziliarismus und für die Reichsreform zu nutzen.539 Marsilius hatte nicht nur einen stringenten 539 Vgl. P. E. Sigmund, The Influence of Marsilius of Padua, S. 392 ff.; ders., Nicholas of Cusa; Walther, Imperiales Königtum, S. 230 ff., bes. S. 245 ff.

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Begründungszusammenhang entwickelt und die theoretischen Grundlagen für die antipapistische Politik Ludwigs des Bayern geliefert, sondern zugleich eingehende Begriffsklärungen unternommen, die von den späteren Theoretikern übernommen werden konnten. Geklärt wurde der Bedeutungsgehalt der Begriffe „Gesetz“ (lex) (I, 10), „Ekklesia-Kirche“, „temporal-spiritual“ (II, 2), „Recht“ (ius), „Eigentum und Herrschaft“ (dominium), „Besitz“ (possessio, proprium), „gemeinschaftlich-allgemein“ (communis), „reich und arm“ (dives et pauper) usw. (II, 12). Entscheidend für die weitere Entwicklung wurde jedoch die mit aristotelischen Mitteln begründete Idee einer autonomen Bürgerrepublik, die künftig gegen die kaiserliche und/oder päpstliche Universalherrschaft ins Feld geführt werden konnte.540 Neben Marsilius von Padua gab es noch weitere Widersacher der Päpste zur Zeit Ludwigs des Bayern.541 Der bedeutendste unter ihnen war Wilhelm von Ockham (1285/90–1347/48), der nicht nur die Kritik an der Anstaltskirche mit ihrem gewaltigen Besitz und Reichtum und ihren unerhörten Machtambitionen radikalisierte, sondern auch die Erkenntnistheorie revolutionierte. Er glaubte erkannt zu haben, daß Johannes XXII. mit seinen Auffassungen hinsichtlich der Eigentumsfrage und seiner Verdammung des franziskanischen Armutsideals in Ketzerei gefallen und deshalb mit allen Mitteln zu bekämpfen und zu stürzen war.542 Zunächst an politischen Fragen desinteressiert und eher auf logische, erkenntnistheoretische und theologische Probleme konzentriert,543 wurde Ockham durch den eskalierenden Armutsstreit politisiert und in die hitzigen Debatten und Gefechte zwischen Kurie und Franziskanern hineingezogen. Er wurde angeklagt und 1324 nach Avignon zitiert, konnte aber 1328 zusammen mit dem Ordensgeneral Michael von Cesena und anderen nach Pisa zu Ludwig dem Bayern fliehen, unter dessen Schutz er seit 1330 in München lebte. Als Verfechter der Sache der Spiritualen unternahm er in der Folgezeit eindringliche Studien zum Verhältnis

540 Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse der Entwicklung von Aegidius Romanus bis Marsilius von Padua bei Bielefeldt, S. 127 ff. Demnach sind fünf Punkte ausschlaggebend: 1. die Ausdifferenzierung von Kirche und Staat; 2. die Ausdifferenzierung von Theologie und Politik; 3. die zunehmende „Spiritualisierung“ des Kirchenbegriffs; 4. die „Emanzipation“ des Staates aus geistlicher Bevormundung; 5. die politische Mitwirkung des „Volkes“. 541 Vgl. Riezler, Die literarischen Widersacher der Päpste; Scholz (Hg.), Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften. 542 Vgl. W. v. Ockham, Offener Brief an alle Ordensbrüder: Rechenschaft über das eigene Leben (,Epistola‘ von 1334). In ders., Dialogus, 3–6; hier: S. 3; ders., I Dialogus V, c. 3 u. cc. 37–39. Ebd., S. 23–30 (bes. S. 29) u. S. 32 ff. Lat./dt. in: ders., Texte zur politischen Theorie, S. 38 ff., 64 ff. 543 Ein Verzeichnis der wichtigsten Schriften Ockhams und ihrer Ausgaben gibt R. Imbach im Anhang zu seiner Edition und Übersetzung: Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, 236–239. Die philosophischen und theologischen Schriften Ockhams sind erschienen in einer kritischen Gesamtausgabe: Guillelmi de Ockham Opera theologica et philosophica.

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von Imperium und Sacerdotium, zur Legitimität des Eigentums, zum rechten Glauben und den ihm entsprechenden Institutionen sowie zur Freiheit des Individuums. Er wurde deshalb nicht nur zur profiliertesten Autorität und zum Hauptprotagonisten im Universalienstreit (s. u., S. 580 ff.), sondern zugleich zu einem wichtigen Inspirator des Politikdenkens und zum Vorläufer der späteren Sozialphilosophie.544 Seine kritischen Reflexionen wurden bahnbrechend für die künftige Wissenschaft und beschäftigen die Erkenntnistheorie und die Politische Philosophie bis heute.545 Mit Ockham betrat ein Mann die Bühne, der alles in Frage zu stellen begann, weil nach den Grundprinzipien des christlichen Glaubens alles auch ganz anders sein könnte und weil „die Wahrheit, wenn sie hin und her gewendet wird, stärker zum Leuchten kommt“.546 Alles wurde deshalb dem radikalen Zweifel unterzogen: die Beweisbarkeit des dreieinigen Gottes, das menschliche Erkenntnisvermögen und das Kausalitätsprinzip,547 die Existenz der Universalien,548 die Kirche in ihrer institutionellen Ausprägung, das Recht auf Eigentum, die Unfehlbarkeit des Papstes, die Stichhaltigkeit der aristotelischen Philosophie usw. Gründlich untersucht wurden ferner die Rechte und Pflichten des Kaisers, der ihm geschuldete Gehorsam, der Sinn des Naturrechts, die Translatio Regnorum, das Evangelium als Gesetz der Freiheit, die Amtskompetenzen des Papstes, die Rolle von Konzilien usw.549 Die prinzipielle Skepsis des Franziskaners entsprang seiner Grunderfahrung, daß es zu beinahe allen Fragen gegensätzliche Auffassungen und Lehrmeinungen gab, die jeweils stringent begründet und durch Rekurs 544 Vgl. bes. R. Imbach, Wilhelm Ockham; Kölmel, Wilhelm Ockham und seine kirchenpolitischen Schriften; G. d. Lagarde, La naissance de l’esprit laïque au déclin du moyen-âge; Bd. 4 u. 5; A. S. McGrade, The political Thought of William of Ockham; J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie. 545 Vgl. etwa O. Aicher u. a. (Hg.), Wilhelm von Ockham; W. Vossenkuhl/R. Schönberger (Hg.), Die Gegenwart Ockhams. – Eine Übersicht zur mittlerweile selbst schon wieder älteren Forschung und eine Würdigung insbesondere der Studien von Philotheus Boehner gab H. Junghans, Ockham im Lichte der neueren Forschung. Weitere Literaturhinweise bei Imbach im Anhang zu seiner Edition: Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis, S. 240–244 sowie – vor allem zu Ockhams politischer Philosophie – bei Miethke in seinen Ausgaben: Ockham, Dialogus, S. 251–260 und ders., Texte zur politischen Theorie, S. 374–380. 546 Decretum Gratiani, Causa 35, quaestio 9, capitulus 7. Zitiert in: Ockham, I Dialogus V, c. 4. In ders., Dialogus, S. 30 bzw. (lat./dt.) in ders., Texte zur politischen Theorie, S. 58/59. 547 Vgl. die einschlägigen Auszüge aus der Summa logicae und dem Sentenzenkommentar sowie den Prolog zum Physikkommentar (lat./dt.) in: Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis. 548 Vgl. Ockham, Summa logicae I 14 u. 15. In: Guillelmi de Ockham Opera philosophica. Bd. 1. Hgg. v. Ph. Boehner/G. Gál/S. Brown. Lat./dt. in: Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis, 62–75. Die deutsche Übersetzung von R. Imbach auch in Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 475–481. 549 Vgl. die einschlägigen Auszüge aus dem Dialogus in den Editionen und Übersetzungen von Miethke: Ockham, Dialogus; ders., Texte zur politischen Theorie.

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auf die alten Autoritäten gestützt werden konnten. Dies wurde besonders deutlich im theoretischen Armutsstreit, der deshalb zum Anlaß weit ausgreifender theoretischer Reflexionen über Religion und Politik wurde. Aus der radikalen Infragestellung aller irdischen Erscheinungen resultierte die Einsicht in die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und in die Ambivalenz und Kontingenz aller geschichtlichen Phänomene, die der Omnipotenz Gottes korrespondiert bzw. aus ihr resultiert.550 Ockham erinnert stets daran, daß alles auch ganz anders sein könnte. In seiner Allmacht hätte Gott auch eine andere, bessere Welt schaffen können. Die alte Frage der Theodizee erhielt damit eine neue Wendung. Das große irdische Elend und Leid, die zahllosen Makel und Gebrechen der Welt erklären sich allesamt aus den nicht verwirklichten Potenzen des Schöpfergottes, der in seiner unendlichen Größe und Güte alles auch ganz anders hätte einrichten und gestalten können. Ockham wurde so zu einem frühen Dekonstruktivisten, der die theologische und philosophische Überlieferung kritisch hinterfragte und dadurch konstruktive Impulse für die Zukunft gab, indem er neue Räume für das Denken öffnete.551 Sein Antrieb war eine produktive Verunsicherung infolge der beginnenden Krise des 14. Jahrhunderts. Resultat seiner Bemühungen war der Abschied vom mittelalterlichen Ordnungsdenken und die Destruktion der allgemeinen Teleologie. Fundament und Zentrum von Ockhams Philosophie und Theologie ist der Gedanke der Omnipotenz, der durch nichts und niemanden begrenzten Freiheit und souveränen Macht Gottes.552 In der Nachfolge von Petrus Lombardus, Duns Scotus und anderen unterscheidet Ockham die potentia dei absoluta von der potentia dei ordinata, um die in Gottes Allmacht angelegten, aber nicht realisierten Möglichkeiten von der in der Schöpfung und Erlösung tatsächlich vollbrachten Leistung abzuheben.553 Mit dieser Differenzierung wurde „die Welt des Faktischen aufgebrochen und so die Voraussetzung dafür geschaffen, nach dem logisch grundsätzlich Möglichen zu fragen. Die Freiheit und Allmacht Gottes einerseits sowie die Kontingenz der Welt und ihrer Schöpfungs- und Heilsordnung andererseits traten dadurch mit großem Nachdruck ins Bewußtsein. Der Gedanke einer ewigen Ordnung, die in der Welt ihren Ausdruck gefunden habe, war damit ver550 Vgl. dazu auch Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, 242–265; bes. S. 244 ff.; Imbach, Vorwort zu Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis, 5–10; bes. S. 6 ff.; Mensching, Das Allgemeine, 318–367; bes. S. 344 ff.; B. Willms, Kontingenz und Konkretion, S. 34 ff. 551 Vgl. E. Hochstetter, Studien zur Metaphysik und Erkenntnislehre Wilhelms von Ockham; G. Leff, William of Ockham; R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. 552 Vgl. zum folgenden Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 244 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 553 Vgl. Ockham, Quodlibeta septem VI, 1. In: Guillelmi de Ockham Opera theologica. Bd. 9. Hgg. v. J. C. Wey (1980). Dazu auch K. Bannach, Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham.

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abschiedet. Die Welt lief Gefahr, vom Kosmos zum Chaos zu pervertieren; dem Menschen drohte Ort- und Orientierungslosigkeit“ (S. 247). Der Essentialismus der philosophischen und theologischen Tradition konnte hierbei nicht weiterhelfen. Er wurde vielmehr als grandiose Fehlkonstruktion entlarvt. Gott hatte durch die creatio ex nihilo nicht allgemeine Prinzipien, Essenzen und Gattungen hervorgebracht, sondern die vielen konkreten Einzeldinge.554 Ziel seiner Schöpfertätigkeit war nicht „die große Kette der Wesen“555 oder ein sich selbst konkretisierender Zirkel von Allgemeinheiten, sondern die jeweils individuelle Erscheinung, „die ,res singularis‘, deren Wesen mit ihr selbst identisch ist. Nach Ockham kann das Einzelding nicht als numerische Vervielfältigung eines allgemeinen Wesens verstanden werden. Aus theologischen Gründen ist alles, was ist, von seinem Ursprung her individuell und nach Dasein und Sosein kontingent“ (S. 245). Der Willkür des Schöpfergottes und der Beliebigkeit seiner Kreation war nur eine einzige Schranke gesetzt, die sowohl seine Allmacht als auch die von ihr bewirkte Kontingenz der Welt begrenzt und die zugleich das menschliche Denken und Erkennen lenkt: die Logik mit ihrem Prinzip der Widerspruchsfreiheit. „Gottes Alles-Können“, so resümiert Richard Heinzmann, „besagt nicht Beliebigkeit und Irrationalität, sondern in der Lage sein, alles zu tun, was keinen Widerspruch einschließt (Quodl VI 1). Die Welt kann damit zwar nicht mehr als Abbild einer ewigen Ordnung verstanden werden; es gibt keine ontischen Notwendigkeiten . . . Gleichwohl bleibt dem Menschen durch den formalen Aspekt der grundsätzlich geforderten Widerspruchsfreiheit aufgrund dieser logischen Notwendigkeit die Möglichkeit wissenschaftlicher Weltinterpretation“ (S. 247). Der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit dient somit der Komplexitätsreduktion in doppelter Hinsicht. Er begrenzt sowohl das unendliche Feld des theoretisch Möglichen als auch die Vielzahl der theoretischen Zugänge und Erkenntniswege.556 Darüber hinaus begründet Ockham ein weiteres Prinzip, das die menschliche Erkenntnis zusätzlich entlastet: das berühmte „Ökonomieprinzip“, das gewöhnlich als „Ockhams Rasiermesser“ bezeichnet wird: pluralitas non est ponenda sine necessitate557 oder wie man später sagte: entia non sunt multipli554 Vgl. Ockham, Ordinatio sive Scriptum in librum primum Sententiarum. Distinctiones II q. 1–5. In: Guillelmi de Ockham Opera theologica. Bd. 2. Hgg. v. S. Brown (1970). Dazu auch Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 441–459; bes. S. 454 ff. 555 Vgl. A. O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, bes. Kap. III (S. 87 ff.): „Die Kette der Wesen in ihrer Beziehung zu einigen Widersprüchen im mittelalterlichen Denken“. 556 Zur Pluralität der Welten und zum Prinzip der Widerspruchsfreiheit bei Ockham vgl. auch H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 187 ff.; ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt, bes. S. 149 ff. 557 Ockham, Ordinatio sive Scriptum in librum primum Sententiarum. Prolog quaestio 1. In: Opera theologica. Bd. 1. Hgg. v. G. Gál (1967), S. 74. Vgl. auch ebd., Distinctiones I q. 3 sowie ders., Quaestiones in secundum librum Sententiarum (Reportatio) q. 14 f., 17 f. In: Opera theologica. Bd. 5. Hgg. v. G. Gál/R. Wood (1981); ders.,

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canda praeter necessitatem. Eine Vielheit darf folglich nicht ohne Notwendigkeit gesetzt, die Erklärungsgründe dürfen nicht unnötig vermehrt werden, überflüssige Begründungen sind zu unterlassen, komplexe Erklärungen durch einfache zu ersetzen. Dadurch werden entbehrliche metaphysische Entitäten eliminiert, falsche Hypostasierungen von Begriffen aufgelöst und zahllose Scheinprobleme der überkommenen Philosophie sprachkritisch beseitigt. Die Existenz von Allgemeinbegriffen (Universalien) außerhalb der menschlichen Seele wird bestritten. Zurück bleiben singuläre Existenzen, deren Dasein und Sosein, deren Gemeinsamkeiten und Relationen festgestellt werden können, die aber nichtsdestotrotz kontingent, individuell und unmittelbar sind: Nulla natura realis est communis, nec est a parte rei aliqua natura communis secundum quodcumque esse.558 Diese metaphysikkritischen und erkenntnistheoretischen Klärungen hatten natürlich auch Konsequenzen für die politische Philosophie. Wie Ruedi Imbach bemerkt, prägen Kontingenz, Unmittelbarkeit und Individualität auch das politische Denken Ockhams: „Seine Kritik an den hierarchischen Herrschaftsstrukturen der Kirche entspricht dem Postulat, unnötige Zwischeninstanzen müßten ausgeschaltet werden . . . Theorie und Praxis der Politik können nicht mehr länger auf eine vermeintlich vorgegebene, normative und nachzuahmende Wesensordnung bezogen werden“.559 Sie werden zu Objekten der menschlichen Aktivität und zu Subjekten des sozialen Wandels. Durch die Nichtexistenz eines metaphysischen Ordo wird der Spielraum menschlicher Weltgestaltung und damit die Verantwortung des Menschen ganz erheblich erweitert. Dieser zeichnet nun – wie schon bei Marsilius von Padua – selbst verantwortlich für sein Leben und für die jeweilige politische Ordnung, die er in der freien Auseinandersetzung mit seinesgleichen generiert.560 Die Herrschaft ist nicht seit unvordenklichen Zeiten oder seit dem Sündenfall ein für allemal festgelegt, vielmehr hat die Menschheit das Recht und die Macht zu ihrer Veränderung (potestas variandi/mutandi principatus).561 Die Verfassung der Gesellschaft ist folglich gestaltbar und in die Hände der Bürgerschaft gelegt. Deren Kompetenzen und Aktivitäten werden allerdings nicht näher erörtert. Die politische Organisation, die Selbstverwaltung und -bestimmung der Kommunen und Regionen oder Staaten ist kein Thema. Diesbezüglich bleibt Ockham weit hinter dem Defensor pacis zurück. Seine Aufmerksamkeit gilt der Summa logicae I 12 (Opera philosophica. Bd. 1) und passim. Weitere Nachweise bei J. P. Beckmann, Ontologisches Prinzip oder methodologische Maxime? 558 Ockham, Ordinatio sive Scriptum in librum primum Sententiarum. Distinktion 25, quaestio unica. In: Opera theologica. Bd. 4. Hgg. v. G. I. Etzkorn/F. E. Kelly, S. 138. 559 Imbach, Vorwort zu Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis, S. 8 f. 560 Zu Ockhams politischer Philosophie vgl. neben den bereits genannten Schriften (s. o., Anm. 544) auch Miethke, Wilhelm von Ockham und die Institutionen des späten Mittelalters; ders., Ockhams politische Theorie. 561 Vgl. Ockham, III Dialogus I ii, c. 27 u. I iv, c. 23. Dazu auch Miethke, Der Weltanspruch des Papstes, S. 413 f.; ders., Ockhams politische Theorie, S. 221; Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, S. 364 f.

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Kirchenordnung und dem Verhältnis von Imperium und Sacerdotium. Für die kritische Durchdringung der Temporalia wird die Ethik und Politik des Aristoteles nicht genutzt. Sie wird vielmehr beiseite geschoben, da sie den eigenen politischen Intentionen widerspricht. Ockham hat nicht nur mit der überkommenen Metaphysik und der Naturrechtslehre der Scholastik gebrochen, sondern auch mit dem Aristotelismus, der in der Politischen Philosophie durch Marsilius auf seinen Höhepunkt geführt worden war. Zwar hat er einen durchgängigen Kommentar zu allen theoretischen Schriften des Stagiriten geplant und sich neben der Physik auch eingehend mit den Grundbegriffen der Politik beschäftigt,562 doch bilden diese nicht die unhinterfragte Autorität und den Leitfaden seiner theoretischen und politischen Schriften. Auch sie gerieten in den Sog der Kritik, die keine Dogmen mehr ungeprüft akzeptierte. Das aristotelische Naturvertrauen und der von Platon ererbte und transformierte Universalienrealismus der Metaphysik fiel letztlich der nominalistischen Kritik zum Opfer. Die Rezeption der Politik diente der kritischen Analyse der bestehenden Kirchenorganisation, die auf der Folie der Regierungslehre des Stagiriten als „Tyrannis“ oder „Despotie“ erscheinen mußte. Für die Konzeptualisierung der menschlichen Lebenspraxis und der weltlichen Herrschaft spielte sie indessen keine Rolle, da ihre Teleologie dem Prinzip der Kontingenz entgegenstand und die grenzenlose Freiheit des Menschen in eine künstliche und unhaltbare ontologische Ordnung zwängte, die ihren tatsächlichen Spielraum in naturwidriger Weise begrenzte. Die Stelle der aristotelischen Ethik und Dianoetik – als Lehre von der menschlichen Glückseligkeit – vertritt bei Ockham die von Jesus, Paulus und vom Heiligen Franz von Assisi geforderte unbedingte Liebe zu Gott sowie die Befolgung der von ihm auferlegten Gebote um ihrer selbst willen. Die Politik konnte zur Begründung der weltlichen Herrschaft nicht herangezogen werden, weil ihre politischen Grundprinzipien dem universalen Kaisertum und der ihr korrespondierenden Reichsidee zuwiderliefen, die Ockham gegen ihre Kritiker verteidigen und vor dem Untergang retten wollte. Angesichts der erwähnten Grundprinzipien des englischen Franziskaners lagen die Ideen des modernen Liberalismus und Individualismus in der Luft. Sie wurden aber noch nicht formuliert. Anstatt die Freiheit des Einzelmenschen von jeglicher Bevormundung zu betonen und die politische Herrschaft auf ihren Schutz zu verpflichten, orientierte sich Ockham in seinen politischen Schriften an den vorgefundenen Institutionen. Anstatt die autonome Stadtrepublik oder den Staat als Freiheitsgaranten oder als Raum der politischen Willensbildung und der menschlichen Selbstverwirklichung zu begründen, plädierte er für das universale Kaiserreich. Anstatt den Papst einem allgemeinen Konzil unterzuordnen, artiku562 Vgl. Ockham, III Dialogus I ii, cc. 3–8. In ders., Dialogus, S. 98 ff. bzw. (lat./dt.) in ders., Texte zur politischen Theorie, S. 134 ff. Dazu R. Lambertini, Wilhelm von Ockham als Leser der „Politica“.

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lierte er Zweifel am Mehrheitsprinzip und an der Zuverlässigkeit der Individuen und Gruppen. Seiner radikalen Kritik am Bestehenden und seinen revolutionären philosophischen Ideen zum Trotz konnte man ihn deshalb als politischen „Traditionalisten“ etikettieren.563 Die feste Grundlage seiner allgemeinen Skepsis bildete sein unerschütterlicher christlicher Glaube. Sein zentrales politisches Anliegen war nicht die Emanzipation der einzelnen aus den überkommenen Herrschaftsverhältnissen, sondern die Freisetzung der weltlichen Herrschaft aus der religiösen Klammer und die Beschränkung der päpstlichen und bischöflichen Macht sowohl innerhalb der Ekklesia als auch im Verhältnis von Imperium und Sacerdotium. Für Ockham stand fest, daß die Kirche in Avignon das Kaisertum ohne jegliches Recht von der päpstlichen Anerkennung abhängig mache.564 Die kaiserliche Macht stamme nicht vom Papst, sondern von Gott, „doch nicht von Gott allein“, sondern auch von den Menschen, die den Kaiser wählen. Sie sei deshalb zwar „von Gott, aber durch Menschen“.565 Damit waren die Beschlüsse des Kurvereins von Rhense und die Festlegungen des Gesetzes Licet iuris bestätigt und zugleich theologisch überhöht. Der Klerus hat sich – wie schon bei Marsilius – nicht in die weltlichen Angelegenheiten einzumischen, sondern auf seine spirituellen und seelsorgerischen Funktionen zu beschränken. In strittigen Glaubensfragen liegt die Letztentscheidung nicht beim Papst, der nicht unfehlbar ist und – wie das Beispiel Johannes’ XXII. lehrte – selbst in Ketzerei verfallen kann. Doch auch ein Generalkonzil kann keine plenitudo potestatis in geistlichen Angelegenheiten beanspruchen und aus eigener Machtvollkommenheit irgendwelche Positionen als Verfehlung oder Häresie verurteilen. Denn auch die Mehrheit aller geistlichen Würdenträger kann sich irren. Nach allen Regelungen des kanonischen Rechts gehöre deshalb eine Glaubensfrage, die dem wahren Glauben widerspricht, nicht allein in die Kompetenz des Generalkonzils oder der Prälaten, sondern vielmehr auch in die der Laien und überhaupt aller Christen, „gemäß D. 96 c. 4, wo die Glosse als Argument den Rechtssatz aufnimmt: ,Was alle betrifft, muß auch von allen behandelt werden‘“.566

563 Vgl. Dempf, S. 504 ff. Daß sich in Ockhams ungelöstem Widerspruch – Betonung der Individualität alles Seienden versus Plädoyer für eine mächtige weltliche Gewalt als Friedensstifter – die „Ambivalenz der Moderne“ spiegelt, betont zu Recht Mensching, Das Allgemeine, S. 366 f. Auch der moderne Liberalismus blieb Gefangener dieser Dialektik. Zur Sicherung des Friedens und der individuellen Freiheitsrechte mußte er einen starken Staat postulieren, der aber dennoch möglichst schwach sein sollte und die Privatsphäre der einzelnen nicht verletzen durfte. Allerdings war dafür keine Universalmonarchie vonnöten. 564 Vgl. Ockham, De imperatorum et pontificum potestate (1346/7). Auszüge (lat./ dt.) in: Miethke/Bühler, 167–176, bes. S. 169 ff./S. 173 ff. [nach Scholz (Hg.), Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften. 2. Teil, S. 455 ff., 472 ff.]. 565 Ockham, III Dialogus II i, c. 26. In ders., Dialogus, S. 150 bzw. (lat./dt.) in ders., Texte zur politischen Theorie, S. 278/279.

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Mit dieser Feststellung wollte Ockham allerdings keiner „demokratischen“ Willensbildung in kirchenpolitischen und Glaubensfragen das Wort reden. Er wollte nur seine Zweifel an der Kompetenz der katholischen Geistlichkeit und an der Notwendigkeit und Verläßlichkeit der innerkirchlichen Hierarchie artikulieren. Sein Vertrauen auf die Allgemeinheit hielt sich – wie stets – in Grenzen. Auch die Gesamtheit aller im Glauben verbundenen Christen ist vor Irrtum nicht gefeit. Eine demokratische Entscheidung bietet deshalb keine Gewähr für die Wahrheit einer Aussage oder die Richtigkeit einer Norm. Überhaupt läßt sich die Wahrheit von Erkenntnissen und die Angemessenheit von Handlungen durch keinerlei institutionelle Vorkehrungen garantieren. Vielmehr komme alles auf den rechten Glauben an, der sich vom Wissen dadurch unterscheidet, daß er sich auf nicht beweisbare Prämissen stützt (credo quia absurdum). Ockham begreift die Kirche nicht als Korporation, d. h. als eine fiktive Person, sondern als congregatio fidelium. Sie kann deshalb nicht repräsentiert, d. h. von einem einzelnen oder einer Versammlung „dargestellt“ oder „vertreten“ werden. Sie existiert nur im und durch den gemeinsamen Glauben. Durch die vernunftkritische Infragestellung der Unfehlbarkeit nicht nur des Papstes, sondern auch des Generalkonzils wurde Ockham zu einer Kritik an Marsilius von Padua getrieben und zum Gegner des späteren Konziliarismus, der die Zweifel an der Verläßlichkeit einer allgemeinen Willens- und Meinungsbildung – der Gesamtheit oder ihres „bedeutenderen Teils“ (pars valencior) – nicht akzeptieren konnte.567 Damit können Ockhams politische Intentionen zusammengefaßt werden. In den weltlichen Angelegenheiten wollte er das Kaisertum vor klerikaler Bevormundung und Gängelei schützen und zugleich gegen die sich emanzipierenden Monarchien und Stadtrepubliken verteidigen. In geistlichen Dingen wollte er nicht das Papsttum durch ein allgemeines Konzil substituieren, sondern nur den „Ketzerpapst“ Johannes XXII. in Avignon bekämpfen und die künftigen Nachfolger Petri auf den rechten Glaubensweg zurücklenken, d. h. zur Rückbesinnung auf die uralten christlichen Tugenden motivieren. Anstatt sich in die politischen Angelegenheiten des Reiches und der einzelnen Territorien einzumischen und ihre ganze Energie auf die klerikale Machtentfaltung und Besitzvermehrung zu konzentrieren, sollten sie ein Leben in Gottes- und Nächstenliebe, in Demut und Bescheidenheit führen und propagieren. Im Mittelpunkt von Ockhams politischer Philosophie steht seine Theorie des Eigentums568 und die Begründung des Sinns 566 Ockham, Offener Brief an alle Ordensbrüder (,Epistola‘ von 1334). In ders., Dialogus, S. 4. Vgl. auch ders., III Dialogus II, c. 6. Ebd., S. 183. Zur Erläuterung der Stelle vgl. die bei Miethke in Anm. 5 zum Text des Dialogus (S. 188) genannte Literatur. 567 Vgl. dazu Hofmann, Repräsentation, S. 236 ff.; Kölmel, Wilhelm Ockham, S. 96 ff.; Walther, Die Gegner Ockhams. 568 Vgl. dazu bes. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, S. 428 ff.; ders., Wilhelm von Ockham und die Institutionen des späten Mittelalters, S. 97 ff.; ders., Ockhams politische Theorie, S. 219 ff.; ders., Der Weltanspruch des Papstes, S. 412 ff.

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und der Notwendigkeit der apostolischen Armut. Alle anderen Institutionen der damaligen Gesellschaft ließ er hingegen unangetastet. Seine einschneidende und umfassende Kritik an der überkommenen theoretischen Philosophie, an Metaphysik, Physik und Erkenntnistheorie, fand somit keine Entsprechung in seiner praktischen Philosophie. Zwar dominierte auch hier der radikale Zweifel, doch machte dieser vor den bestehenden politischen Verhältnissen halt. Die im Gedanken der Kontingenz alles Seienden angelegte Skepsis des Minoriten führte nicht zur Suche nach alternativen Ordnungsformen. Seine politischen Einsichten blieben insgesamt weit hinter denen des Marsilius und seiner eigenen Sprachkritik zurück. Die in seinem Nominalismus enthaltenen Sprengsätze sollten erst einige Jahrhunderte später zünden und das Politikdenken der Europäer revolutionieren, indem sie den modernen Liberalismus und Individualismus provozierten. Für die Politische Philosophie des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit wurden hingegen andere Konzeptionen richtungsweisend.569 Hier feierte der von Ockham abgelehnte Aristotelismus noch einige Erfolge und der von ihm in Frage gestellte Konziliarismus seine ersten Triumphe. Während Ockham somit den politischen Aristotelismus verwarf, hatte dieser einen erheblichen Einfluß auf die italienischen Juristen und auf die weitere Entwicklung des römischen Rechts.570 Vor allem die Kommentatoren oder Postglossatoren Bartolus von Sassoferrato (1313–57) und sein Schüler Baldus de Ubaldis (1327–1400) gelangten auf aristotelischer und römisch-rechtlicher Basis zu neuen Einsichten, die der politischen Umgestaltung Europas entgegenkamen.571 Sie wollten die städtischen Freiheiten sichern und strebten nach einer Synthese von Partikularismus und Universalismus, von städtischer Unabhängigkeit und imperialer Oberherrschaft. Durch sie wurde die kommunale Eigenständigkeit und Selbstverwaltung im Rahmen des Imperiums begründet. Der Kaiser sollte weiterhin dominus mundi sein, seine Oberherrschaft sollte sich aber auf jene Territorien beschränken, die ihm tatsächlich unterstanden. Die anderen Macht- und Herrschaftssphären, die seine Überordnung nicht anerkannten, sollte er hingegen mit seinen Eingriffen verschonen. Das einheimische Gewohnheits- und Statutarrecht sollte – ebenso wie das kanonische Recht – in Einklang mit dem justinianischen Kaiserrecht gebracht werden, das dafür weiterentwickelt und den veränderten Be569 Zur Wirkungsgeschichte vgl. aber Miethke, Marsilius und Ockham; ders., Zur Bedeutung von Ockhams politischer Philosophie für Zeitgenossen und Nachwelt; H. S. Offler, The ,Influence‘ of Ockham’s Political Thinking: The first Century. 570 Vgl. H. Coing, Zum Einfluß der Philosophie des Aristoteles auf die Entwicklung des römischen Rechts; Wyduckel, Princeps legibus solutus, S. 104 ff. 571 Vgl. J. Canning, The Political Thought of Baldus de Ubaldis; N. Horn, Die juristische Literatur der Kommentatorenzeit; F. C. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. VI, S. 137–248; Walther, Imperiales Königtum, S. 115 ff., 176 ff.; ders., Die Legitimität der Herrschaftsordnung bei Bartolus von Sassoferrato und Baldus de Ubaldis; ders., „Verbis Aristotelis non utar, quia ea iuristae non saperent“; C. N. S. Woolf, Bartolus of Sassoferrato.

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dingungen angepaßt werden mußte. Die entscheidenden Anstöße zu dieser Fortbildung gab Bartolus von Sassoferrato anläßlich der in den italienischen Städten aufbrechenden Konflikte und Rechtsstreitigkeiten. Durch seine innovativen Ansätze und neuen Methoden wurde er zur Leitfigur der damaligen Jurisprudenz und zum Ausgangspunkt der weiteren Rezeption und Adaptation des römischen Rechts.572 Den Charakter und die Wirkung seines Werkes und seiner Lehre hat Peter G. Stein sehr plastisch beschrieben:573 Zwar bestanden die Schriften des Bartolus in großem Umfang aus Zitaten seiner Vorgänger, doch fügte der Jurist „stets etwas Eigenes dazu, indem er regelmäßig einen geraden Weg durch das Dickicht früherer Kontroversen schlug und eine praktische Lösung des Problems fand. Unter seinem Einfluß verlor das Studium des römischen Rechts seinen streng akademischen Charakter und wandte sich mehr den Rechtsfragen des Alltags zu“ (S. 117). „Bartolus machte sich klar, daß das Recht den sich ändernden Verhältnissen angepaßt werden mußte. In der Frage der Herrschaftsbefugnisse des Kaisers über die italienischen Städte konnte er auf Azos Sicht der Dinge aufbauen. Bartolus sah, daß in der Rechtswirklichkeit viele Völker dem Kaiser keineswegs untertan waren, obwohl er nach dem Gesetz der Herr der Welt war. Die Bevölkerung der italienischen Stadtstaaten erkannte keine übergeordnete Herrschaft an. Die Städte gaben sich ihrem eigenen Willen entsprechende Gesetze. Daraus schloß Bartolus, daß sie im Besitz des imperium waren, das ihnen innerhalb ihres eigenen Gebietes die gleiche Macht gab, wie [sie] dem Kaiser generell zustand“ (S. 118). Folglich mußte auch das einheimische Gewohnheitsrecht im Falle eines Widerspruchs zum römischen Recht nicht prinzipiell als nichtig erklärt werden. Vielmehr konnte es seine Geltung behaupten, wenn es den Erfordernissen der Stadt entsprach und eine angemessene Konfliktregelung in ihrem Rahmen ermöglichte. Auch die Existenz von partikularem Recht (ius proprium) neben dem gemeinen Recht (ius commune) wurde von Bartolus gerechtfertigt. Dabei gelang es ihm, „das Prinzip durchzusetzen, daß das Statutarrecht eines bestimmten Ortes mit den für das gemeine Recht entwickelten Methoden so auszulegen sei, daß es möglichst wenig vom gemeinen Recht abweiche“ (S. 119). Indem er die unterschiedlichen Rechtsnormenebenen miteinander vermittelte und selbst das städtische Gewohnheits- und Statutarrecht auf das Kaiserrecht zurückführte, wurde Bartolus, wie Stein bemerkt, zum bedeutendsten und einflußreichsten Kommentatoren seiner Zeit: „Es war herrschende Meinung unter den Juristen, daß von nun an niemand mehr Jurist sein konnte, der nicht Bartolist war (,nemo jurista nisi Bartolista‘). Bartolus’ Methoden wurden von einer ganzen 572 Vgl. Bartolus de Saxoferrato, Opera omnia. Zur Rezeption und Verbreitung seiner Lehre vgl. D. Quaglioni, Das Publikum der Legisten im 14. Jahrhundert. 573 Vgl. zum folgenden Stein, Römisches Recht und Europa, S. 117 ff. Seitenzahlen in den beiden nachfolgenden Absätzen beziehen sich auf dieses Werk.

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Schule von Juristen befolgt“ (S. 121). Sein Werk wurde fortgeführt von seinem Schüler Baldus de Ubaldis, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zur beherrschenden Figur unter den Interpreten des römischen Rechts wurde.574 „Er kommentierte nicht nur das römische Recht, sondern auch das kanonische Recht und das Lehnsrecht. Die Literaturgattung des Gutachtens (consilium) . . . führte er zur Vollendung. Durch diesen Typ juristischer Literatur wurde die Anpassung des römischen Rechts an die Bedürfnisse der Zeit vollendet“ (ebd.). Auch Baldus betonte, der Kaiser sei selbstverständlich dominus mundi. Jede gegenteilige Behauptung sei ein Sakrileg, da auch die Kirche dies lehre.575 Das Imperium existiert durch das römische Recht (nicht umgekehrt), doch übt der Princeps nach Baldus letztlich nur noch administrative Funktionen eines Prokurators innerhalb des korporativ organisierten Verbandes aus.576 Das Amt des Kaisers ist – wie jedes Amt – von der Person des Inhabers abgelöst. Es ist zu einer transpersonalen Institution geworden. Die Majestät ist von der Person in Majestät unterschieden, der König zu einem Instrument der Dignität geworden, die ewig ist und folglich jeden Herrscher überdauert.577 Die Konsequenzen der Lehren von Bartolus und Baldus für die Souveränitätstheorie und damit für die Genealogie des Staates hat Helmut G. Walther im einzelnen untersucht.578 Demnach haben beide einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie sowohl die Frage der inneren als auch der äußeren Souveränität einer Klärung näherbrachten.579 Zwar hat sich Bartolus weniger für die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Papst- und Kaisertum oder zwischen Kaiser und westeuropäischen Monarchien interessiert – im Vordergrund seiner Bemühungen standen vielmehr die italienischen Probleme –, doch hat er das gewachsene Selbstbewußtsein der Stadtrepubliken gestärkt, indem er den Bürgern die erfor574 Vgl. Baldus de Ubaldis, In Decretalium volumen commentaria; ders., In Digestum vetus, Infortiatum, Digestum novum, Libros Codicis commentaria; ders., Consilia sive Responsa. 575 Baldus de Ubaldis, Consilia sive Responsa. Bd. 3, 127, cons. 218, fol. 64 rab. Zitiert nach Walther, Imperiales Königtum, S. 111; ders., Die Gegner Ockhams, S. 123. Zu den Gutachten vgl. auch H. Lange, Die Consilien des Baldus de Ubaldis. 576 Vgl. dazu Walther, Imperiales Königtum, S. 115 ff. (bes. S. 124); ders., Die Gegner Ockhams, S. 123 ff.; ders., Die Legitimität der Herrschaftsordnung, S. 124 ff.; ders., „Verbis Aristotelis . . .“, S. 122 ff. 577 Baldus de Ubaldis, Consilia sive Responsa. Bd. 3, 121, Nr. 6, fol. 34 b: „Ibi attendimus dignitatem tanquam principalem et personam tanquam instrumentalem. Unde fundamentum actus est ipsa dignitas quae est perpetua.“ Zitiert nach Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 435, Anm. 412. 578 Vgl. neben den bereits genannten Arbeiten auch Walther, Der gelehrte Jurist und die Geschichte Roms; ders., Das gemessene Gedächtnis. 579 Dies bezweifelt allerdings Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 87 ff. Für ihn offenbart die eigentümliche Verbindung von partikularer Unabhängigkeit und imperialer Oberherrschaft gerade die Grenzen des spätmittelalterlichen Souveränitätsdenkens. Siehe auch ders., Souveränität, S. 34 ff. und die Kritik an Quaritsch bei Walther, Imperiales Königtum, S. 28, Anm. 42; ders., Die Gegner Ockhams, S. 131 f. und passim.

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derlichen Rechtsmittel in die Hand gab, mit denen sie sich sowohl vor Eingriffen anderer Mächte als auch vor sich selbst schützen konnten. Um die Souveränität der Civitas nach außen zu betonen, übertrug Bartolus die alten Formeln Superiorem in temporalibus non recognoscens und Rex in regno suo imperator est in seinem Digestenkommentar von den westlichen Monarchien auf die lombardischen Städte, die zwar im Rahmen des Imperiums existierten, aber trotzdem keinen Höheren in weltlichen Dingen akzeptierten: Civitas superiorem de facto non recognoscens est sibi princeps. Und weiter: habet in se ipsa imperium bzw. universitas superiorem non recognoscens est sibi princeps.580 Darüber hinaus hat Bartolus die innere Verfassung der Stadtkommunen thematisiert und mit seinem juristischen Verstand durchdrungen. Er war ein leidenschaftlicher Gegner der Signorie, die sich in den oberitalienischen Städten seit Beginn des 14. Jahrhunderts etabliert hatte.581 In seinen Traktaten De regimine civitatis und De tyrannia (beide 1353) versuchte er sie mit Hilfe der aristotelischen Verfassungslehre als Tyrannis oder Despotie zu erweisen und als schlechteste aller möglichen Regierungsformen zu bekämpfen.582 Zwar hat er selbst keine eigene Aristoteles-Lektüre unternommen, doch hatte er Kenntnis von der aristotelischen Politik durch die Rezeption des Traktats De regimine principum des Augustinereremiten Aegidius Romanus erlangt, aus dem er sich die Grundprinzipien und Leitunterscheidungen des Stagiriten erschloß, die ihm dazu dienten, die „schlechten“ von den „guten“ Ordnungen zu diskriminieren. Die drei „guten“ Regierungsformen sah Bartolus in der römischen Geschichte verwirklicht: die von der Gesamtheit der Bürgerschaft konstituierte Politie des Aristoteles sei in der Frühzeit der Republik unmittelbar nach dem Sturz des letzten Königs L. Tarquinius Superbus (509 v. Chr.) und der Vertreibung der Tarquinier aus Rom als regimen ad populum praktiziert worden. Ihr folgte die Aristokratie als regimen senatorum vel bonorum, die schließlich von der Monarchie des römischen Imperiums abgelöst wurde. Diesen „guten“ Regierungsformen, die ihre Legitimation aus der Zustimmung des Volkes beziehen, entsprechen ihre jeweiligen Verfallsformen (Tyrannis, Oligarchie, Demokratie), die mit allen Mitteln 580 Bartolus, Commentaria ad Digestum vetus (D.5,3, 22) und ad Digestum novum. Zitiert nach S. Hauser, Untersuchungen zum semantischen Feld der Staatsbegriffe, S. 29. Hauser zitiert ihrerseits nach Francesco Ercole, L’origine francese di una nota formola bartoliana. In: Archivo storico italiano 73 (1915), 241–294. Weitere Nachweise zur Formel civitas sibi princeps im Digestenkommentar des Bartolus bei Walther, Imperiales Königtum, S. 178, Anm. 233; ders., Das gemessene Gedächtnis, S. 225 ff.; Woolf, Bartolus of Sassoferrato, S. 108 ff., 154 ff. Ferner J. Kishner, Civitas sibi faciat civem. 581 Zu Entstehung und Gestalt der Signorie vgl. L. Simeoni, Le Signorie; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, IX. 7 („Typologie der Städte“), bes. S. 784 ff. 582 Bartolus des Sassoferrato, De regimine civitatis/De tyrannia (beide 1353). Vgl. dazu Walther, Imperiales Königtum, S. 182 ff.; ders., Der gelehrte Jurist, S. 300 f.; ders., „Verbis Aristotelis . . .“, S. 118 ff.; G. Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee, S. 338 ff.; S. Hauser, Untersuchungen, S. 28 ff.

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zu verhindern seien. Die schlimmste aller „Entartungen“ erblickte Bartolus jedoch in einer siebenten Verfassungsform, die Aristoteles noch unbekannt geblieben war: in der damaligen Signorie, die Bartolus regimen monstruosum nannte und insbesondere in der vom Papst verlassenen Civitas Romana beobachtete: mehrere tyrannische Teilherrscher blockieren sich in ihr gegenseitig, so daß die Regierung handlungsunfähig wird.583 Nur in Königreichen und im Imperium sei eine Ein-Mann-Herrschaft legitim, in Stadtkommunen hingegen ein regimen ad populum oder ein regimen senatorum nötig. Perugia, die Stadt, in der er seit 1345 lehrte, erschien Bartolus als Musterbeispiel für eine gelungene Verwirklichung des ersten Prinzips, Siena als Exempel für eine mißratene. Florenz und Venedig galten als Städte mit einem ihnen angemessenen regimen senatorum.584 Die Einsichten des Bartolus wurden weiter vertieft von seinem Schüler Baldus de Ubaldis, der sich ebenfalls mit der Frage der städtischen Unabhängigkeit im Rahmen von Imperium und Sacerdotium befaßte und den Korporationsgedanken schärfer profilierte.585 Anders als Bartolus unterstützte Baldus die signoralen Machthaber in den italienischen Kommunen. Wie schon erwähnt, war auch er ein dezidierter Befürworter des imperialen Universalismus und der kaiserlichen Suprematie. Für ihn stand die heilsgeschichtliche Notwendigkeit des Imperiums außer Frage. Die einheitliche Weltordnung werde auf geistlichem Gebiet durch die Kirche garantiert, auf weltlichem hingegen durch das römische Recht, das vom Imperator – im Zusammenwirken mit den anderen Herrschaftsträgern – zu verwirklichen ist. Beide, Imperium und Sacerdotium, haben demnach eine universale Geltung. Allerdings war die kaiserliche Hoheit nicht nur durch die Verselbständigung der westlichen Monarchien und der Städte eingeschränkt, sondern auch durch die jüngeren Entwicklungen im Reich in Frage gestellt. Zu klären war, welche Kompetenzen der Imperator in den einzelnen Territorien und Kommunen nach dem geltenden Recht beanspruchen durfte. Die Mehrzahl der italienischen Legisten lehrte seinerzeit, daß der Princeps Garant eines allgemeinverbindlichen ius commune sei, doch bestritten sie ihm in konkreten politischen Konflikten ein direktes Weisungs- und Eingriffsrecht. Baldus zufolge konnte es allerdings nur zwei rechtliche Grundlagen für die Unabhängigkeit einer Civitas geben: Exemtion und Verjährung der kaiserlichen Rechte, wobei letztere eine 583 De regimine civitatis, S. 152. Daß Samuel Pufendorf (De statu imperii germanici, VI., § 9) mit seinem Urteil über die Reichsverfassung („irregulare aliquod corpus et monstro simile“) von Bartolus abhängig war, vermutet H. G. Walther, „Verbis Aristotelis . . .“, S. 120, Anm. 32. 584 In Florenz hatten sich 1293 die 21 Zünfte im Ordinamenti di giustizia als politischer Körper der Stadt konstituiert und eine Ämterrotation institutionalisiert. Vgl. dazu und zur weiteren Verfassungsentwicklung H. Münkler, Machiavelli, S. 150 ff. Zur Organisation der italienischen Städte siehe auch L. Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S. 59 ff.; E. Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, S. 155 ff. 585 Vgl. zum folgenden Walther, Imperiales Königtum, S. 115 ff.; ders., Das gemessene Gedächtnis; ders., Die Gegner Ockhams, S. 127 ff.; ders., „Verbis Aristotelis . . .“, S. 122 ff.; J. Canning, The Political Thought of Baldus de Ubaldis.

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lange Zeitspanne voraussetze. Wie schon Azo am Ende des 12. Jahrhunderts so vertrat auch Baldus die Ansicht, der Kaiser sei dem geltenden Recht untergeordnet und dem Gemeinwohl verpflichtet. Das geschichtlich gewachsene und sich weiter verändernde Recht bindet ihn und schränkt seinen Handlungs- und Entscheidungsspielraum ein. Seine Stellung als irdischer Repräsentant der göttlichen Ordnung war infolge der jüngeren Entwicklungen allerdings prekär geworden. Das Weisthum des Rhenser Kurvereins und das Gesetz Licet iuris (1338) Ludwigs des Bayern hatten festgelegt, der deutsche König werde ohne Mitwirkung des Papstes allein durch die Kurfürsten gewählt. Er benötigte folglich keine Bestätigung des Papstes und empfing alle königlichen Rechte durch die Wahl. Diese Festlegungen fanden Eingang in die Goldene Bulle Karls IV. (1356), die zum „Grundgesetz des Reiches“ wurde und bis zu seinem Ende (1806) den Wahlmodus verbindlich regelte. Der König wurde in der Folge von den sieben Kurfürsten gewählt, der Apostolische Stuhl hatte keine Mitspracherechte.586 Obgleich die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier zum Wahlgremium gehörten, sahen sich die Reichstheoretiker erneut vor das Problem gestellt, daß das Kaisertum nun nicht mehr unmittelbar von Gott, sondern von Menschen stammte. Eine Lösung dieses Dilemmas hatte zwei Generationen früher Cinus de Pistoia (1270–1336), der Lehrer des Bartolus, in der Erklärung gefunden, das Kaiseramt stamme selbstverständlich von Gott, nur der Inhaber werde vom „Volk“, d. h. von den Fürsten, gewählt. Seine Macht beruhe auf der vollständigen Übertragung durch die lex regia, die endgültig und unwiderruflich sei. Damit war die Trennung von Amt und Person formuliert, die auch für Baldus zu einer entscheidenden Maxime und zur Grundlage seines Politikdenkens wurde. Zwar hatte bereits Azo die Endgültigkeit der Machtübertragung in Zweifel gezogen und die Gesetzgebungskonkurrenz zwischen Kaiser, Königen und Fürsten konstatiert, doch gelang es erst Bartolus und seinen Schülern, den dadurch entstehenden Widerspruch aufzuheben und das einheimische Gewohnheitsund Statutarrecht mit dem Kaiserrecht zu versöhnen. Eine alternative Lösung der potentiellen und reellen Herrschaftskonflikte fand Baldus, indem er die frühere kanonistische und legistische Lehre von der Korporation587 als einer fiktiven Person aufgriff und weiterentwickelte. Dadurch gelangte er zu seiner Theorie der Respublica, derzufolge die Vorsteher der einzelnen Körperschaften nicht mehr Repräsentanten der Gesamtheit im Sinne der Realrepräsentation sind, sondern 586 Zum Text der Goldenen Bulle vgl. L. Weinrich, Quellen, 315–395. Siehe auch die deutsche Übersetzung des Textes in: Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, 108–156. Zu den wichtigsten Bestimmungen vgl. etwa Boockmann, Stauferzeit, S. 267 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 178 ff.; E. Müller-Mertens, Die goldene Bulle. 587 Vgl. dazu O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 3, S. 238 ff., 351 ff.; Eberhard, Herrscher und Stände, S. 470, 474, 485 ff.; Kantorowicz, Die zwei Körper, Kap. VI (S. 279 ff.); Walther, Die Gegner Ockhams, S. 123 ff.; D. Wyduckel, Princeps legibus solutus (1979), S. 71 ff.

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nurmehr bestallte Exponenten, die als Administratoren oder Prokuratoren die Interessen der Korporation zu vertreten haben. Ihnen obliegt insbesondere die Verwaltung des Fiskus, doch reicht ihre Herrschaftsfunktion darüber hinaus. Die Dignitas des Imperiums bzw. der Regna und Civitates bestimmt ihre Aktivitäten und begrenzt ihren Handlungsspielraum. Die Respublica als Korporation ist unabhängig von den Eigenschaften ihrer Mitglieder und vom Wechsel an ihrer Spitze. Sie wird als ein nach innen wie nach außen souveräner Herrschaftsverband begriffen. Die zentralen Elemente der politischen Theorie des Baldus hat H. G. Walther in sieben Punkten zusammengefaßt:588 1. „Allen Herrschaftsverbänden kommt aufgrund ihres Korporationscharakters Dauer zu, die sie unabhängig vom Fluktuieren ihrer Mitglieder und vom Wechsel an ihrer Spitze macht.“ 2. „Da die respublica eine fiktive Person einer Korporation darstellt, kann sie von der realen Person des Königs als des Hauptes ihrer Mitglieder nicht in ihrem Wesensgehalt repräsentiert werden . . .“ Dies gilt auch und vor allem für das Imperium und die einzelnen Regna, deren Häupter sterblich sind, während die Dignitas der Institutionen unsterblich ist. 3. „Diese dignitas des Imperiums kann als juristische Person wegen ihres fiktionalen Charakters nicht selbständig handeln. Um die respublica und die dignitas des Regnums/Imperiums auf Dauer zu bewahren, werden Regenten durch Wahl oder Erbfolge eingesetzt“. 4. „Auch der Regent als Handlungsbevollmächtigter der respublica ist als Repräsentant der dignitas des Regnums eine persona ficta. Deswegen müssen beim König zwei Personen unterschieden werden, eine natürliche und eine verstandesmäßig als Zeichen gesetzte (significatio, quoddam intellectuale) . . .“ 5. „Die juristische Person des Regnums, die respublica, binden nur Handlungen der natürlichen Person des Regenten, die im Namen seiner intellektuellen öffentlichen Person geschehen . . .“ 6. Die dignitates der respublica und der persona intellectualis bestimmen die Handlungszwecke und beschränken die Freiheit der Herrscher. Sie können aber nur von diesen selbst vollzogen werden, bleiben folglich in Abhängigkeit von ihnen. 7. Die dignitates, respublica, fiscus und honor coronae sind folglich fictiones iuris, haben aber trotzdem Einfluß auf das Verhalten des Oberhauptes und setzen seinem und dem Handeln aller anderen Mitglieder der Korporation Grenzen. Die Untertanen können deshalb de facto einen tyrannischen König verjagen, doch können sie nur die reale, nicht die öffentliche Person des Königs absetzen. Der König stirbt folglich nie.589 588 Vgl. zum folgenden Walther, Die Gegner Ockhams, S. 129 ff. Alle nachfolgenden Zitate entstammen dieser prägnanten Synopse, alle Paraphrasen beziehen sich darauf. 589 Vgl. dazu auch Kantorowicz, Die zwei Körper, Kap. VII (S. 317 ff.). Daß Baldus damit die in der Kirche längst formulierte und praktizierte Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Persönlichkeit des Monarchen auch für das Reich gel-

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„Superior“, so resümiert Walther (S. 131), „ist letztlich die respublica und die dignitas des königlichen Amtes, zu der der jeweilige Herrscher durch Wahl des Volkes oder durch Erbfolge gelangen kann“. „Damit ist Baldus in der politischen Theoriebildung der mittelalterlichen Legisten zweifellos am weitesten gegangen . . . Was Baldus als Ergebnis einer Verstandesoperation von hochgradiger Komplexität präsentierte, die respublica als persona repraesentata . . . war jedoch nichts anderes als ein unabhängig von den individuellen Eigenschaften seiner Angehörigen gefaßter Herrschaftsverband, der sowohl durch seine Befehlsunabhängigkeit nach außen als auch nach innen souverän war. Für das Imperium und die Regna folgerte Baldus, daß weder das Haupt noch die Glieder allein souverän seien. Sie waren es nur zusammen in einem quoddam intellectuale, das respublica hieß“ (ebd.). Obgleich damit ein ganz entscheidender Schritt in Richtung neuzeitlicher Staatstheorie getan war, verblieb diese Souveränitätskonzeption dennoch im Rahmen des mittelalterlichen Ordnungsdenkens: „die Fiktionen von respublica und dignitas regni, fiscus und honor coronae“ waren auch bei Baldus „keine Abstrakta, sondern eben Personen . . . Es bedurfte in der Tat offensichtlich der besonderen historischen Rahmenbedingungen des 17. Jahrhunderts, bis hinter dem quoddam intellectuale der respublica keine Person, sondern . . . das Abstraktum des Staates stand und . . . eine solche Konstruktion breite Zustimmung bei den Juristen fand“ (S. 132). Alternative Ordnungsideen wurden zu jener Zeit in Florenz entwickelt, das seine Unabhängigkeit gegen das hegemoniale Bestreben der Visconti verteidigen mußte, die seit 1277 Mailand beherrschten, gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein Königreich zu errichten strebten und die Autonomie der meisten Städte im Norden und vieler in Mittelitalien beendeten. Im Bemühen um Abwehr dieser Vormachtstellung und Aufrechterhaltung der republikanischen Ordnung verschmolzen die humanistischen Denker der Frührenaissance590 in Florenz den mittelalterlichen Korporationsgedanken mit der antiken Partizipations- und Selbstverwaltungsidee. Durch Rückbesinnung auf die griechische Polis bzw. die römische Republik, d. h. auf Aristoteles und/oder Cicero, wurde der florentiner Republikanismus oder Bürgerhumanismus (Hans Baron) begründet, der die antiken Bürgertugenden beschwor und das Ideal einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft freier, gleicher und wehrhafter Aktivbürger entwickelte.591 In einer Radikalisierung und Politisierung der humanistischen Positionen Francesco Pe-

tend machte, betonte bereits O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 3, S. 596 f. 590 Zur Entwicklung der Renaissance vgl. die jüngere Überblicksdarstellung von P. Burke, Die europäische Renaissance (zur Frührenaissance: S. 35 ff.; weitere Literatur: S. 310 ff.). Zur philosophischen Entwicklung vgl. H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance; E. Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie. 591 Vgl. H. Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance; ders., Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance.

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trarcas (1304–74) erinnerten Coluccio Salutati, Leonardo Bruni (1370–1440), Leon Battista Alberti (1404–72), Matteo Palmieri (1406–57) u. a. an die Sitten der Väter, die einst Rom groß gemacht hatten, und begründeten gegen das Einheits- und Hegemoniestreben der Visconti die libertas Italiae, d. h. die Freiheit der republikanisch verfaßten Stadtstaaten.592 Sie erneuerten die klassische Überzeugung, die Persönlichkeit des Individuums gelange erst durch die Teilnahme am Leben der polis und res publica zu moralischer und intellektueller Reife, ein vollkommenes Leben bestehe in der Verbindung von intellektueller Muße und ehrenhafter Tätigkeit in einer wohlgeordneten Republik. Neben dem juristischen entwickelte sich folglich ein ethisch-politischer Diskurs, der dem politischen Engagement der Bürger Eigenwertigkeit zuschrieb.593 Die politische Ordnung beruht nicht auf göttlicher Gnade, sondern auf der virtù, der Tugend der Bürger, die ihren Lebenssinn einerseits in der Kontemplation, andererseits in der Interaktion mit ihresgleichen suchen. Die Selbstverwirklichung des aus den Banden der Herkunft emanzipierten Individuums kann demnach nur gelingen, wenn es sich als aktiver Teil der polis oder der res publica begreift. Zwar verblaßte der Optimismus im Lauf des 15. Jahrhunderts angesichts des Aufstiegs mächtiger Adelsfamilien, die das politische Leben der Bürgerschaft unterdrückten und die Republik in die Signorie transformierten, doch lebte der republikanische Gedanke und der durch ihn entfachte Tugenddiskurs fort. Er wurde im 16. Jahrhundert durch Machiavelli erneuert und schließlich im 17. und 18. Jahrhundert zur Inspirationsquelle der englischen, amerikanischen und französischen Revolutionäre.594 Damit kann Zwischenbilanz gezogen werden. Mit den theoretischen Reflexionen der von Aristoteles beeinflußten Philosophen, Theologen und Juristen waren wichtige Klärungen erreicht worden und beachtliche Schritte auf dem Weg zur Souveränitätstheorie und zur theoretischen Begründung des Staates getan. An die Stelle der bzw. neben die Berufung auf den göttlichen Willen war der Rekurs auf 592 Vgl. H. Baron, Der Hintergrund der Frührenaissance in Florenz (1938). In ders., Bürgersinn und Humanismus, 11–26, bes. S. 17 ff.; ders., Das Erwachen des historischen Denkens im Humanismus des Quattrocento. Ebd., 27–40; J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment; ders., Der bürgerliche Humanismus und seine Rolle im angloamerikanischen Denken (1968). In ders., Die andere Bürgergesellschaft, 33–59, bes. S. 38 ff.; Q. Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Bd. 1. 593 Vgl. auch W. Rotholz (Hg.), Das politische Denken der Florentiner Humanisten. Die Differenz, den Gegensatz zwischen humanistischem und juristischem, republikanischem und „populistischem“ Diskurs betont vor allem J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment; ders., Die andere Bürgergesellschaft, bes. S. 145 ff. Zur Entwicklung des bürgerlichen Lebens vgl. auch K. J. Hyde, Society and Politics in Renaissance Italy. 594 Vgl. H. Münkler, Die Idee der Tugend; ders., Konzeptionen der Macht im italienischen Bürgerhumanismus; ders., Die politischen Ideen des Humanismus; ders., Politische Tugend; J. G. A. Pocock (wie Fn. 350); Q. Skinner, Machiavelli’s Discours and the pre-humanist Origins of republican ideas. In: G. Bock u. a. (Hg.), Machiavelli and Republicanism, 121–141.

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die Bedürfnisse des menschlichen Zusammenlebens getreten. Das Verhältnis von Imperium/Regnum und Sacerdotium war ebenso konkretisiert worden wie die jeweilige Organisation der beiden Säulen des Herrschaftsverbandes. Die französische Monarchie stand auf eigenen Beinen und konnte unverzagt in den Hundertjährigen Krieg mit England (1337–1453) ziehen, nachdem das deutsch-englische Bündnis gekündigt worden war.595 Ihre Eigenständigkeit gegenüber Kaiser- und Papsttum war von Jean Quidort und den Publizisten am Hof Philipps des Schönen theoretisch begründet worden. Vor allem Marsilius von Padua hatte unverzichtbare Einsichten in die Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen sowie in die Funktionsweise der politischen Gemeinschaften gewonnen. Ockhams radikaler Zweifel und sein methodisches Prinzip, überflüssige Erklärungen zu unterbinden, sein Insistieren auf der Kontingenz alles Seienden, seine Kritik an der Macht- und Besitzakkumulation der Kirche, seine Sprachkritik und seine Theorie des Eigentums brachten das Politikdenken weiter voran. Die Untersuchungen und Gutachten der Kommentatoren des römischen Rechts ermöglichten es, die Selbständigkeit der Regna und Civitates im Rahmen des Imperiums zu denken und zu legitimieren sowie ihre republikanische Verfassung gegen signorale und tyrannische Bestrebungen zu verteidigen. Der in Florenz entwickelte Bürgerhumanismus bildete eine praktikable Alternative zum künftigen Etatismus und Absolutismus. Er hatte im Rekurs auf die Antike die ethische und politische Notwendigkeit des Bürgerengagements begründet und wurde zum Paradigma der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution und schließlich zur Integrationsideologie der sich stabilisierenden und demokratisierenden Staaten.596 Die innerkirchliche Ordnung wurde im Zeitalter der großen Konzilien (1409–1449) zum zentralen Streitobjekt und zum Ziel von Reformbestrebungen, die in der Reformation des 16. Jahrhunderts kulminierten. Die Organisation des Imperiums wurde zum Gegenstand theoretischer und praktischer Auseinandersetzungen im Zeitalter der „Reichsreform“ (1410–1555), in dem die mittelalterlichen Ideen und Kräfte ihr letztes Aufbäumen erlebten. Allen gegenläufigen Entwicklungen zum Trotz fand das Heilige Römische Reich deutscher Nation auch weiterhin seine Apologeten. Vor allem der Bamberger Bischof Lupold von Bebenburg (1297–1363) und der päpstliche Kanzleibeamte in der Epoche der großen Konzilien Dietrich von Niem (ca. 1340–1418) forderten noch einmal – mit ungebremstem Elan, aber mit den alten Instrumenten: Geschichte seit Karl dem Großen, Translationstheorie – die Wiederherstellung des Imperiums und die Geltendmachung der alten Reichsrechte in Burgund und Italien. Dietrich von Niem drängte darüber hinaus mit Nachdruck auf eine 595

Vgl. F. Bock, Reichsidee und Nationalstaaten, S. 406 ff. Vgl. Münkler, Die Idee der Tugend, S. 403: „Es war das Schicksal des Tugenddiskurses, nach der umfassenden Durchsetzung von Staatlichkeit in Europa nur noch die Funktion einer Integrations- und Mobilisierungsideologie gespielt zu haben.“ 596

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Reform der Kirche an Haupt und Gliedern.597 Im hier verfolgten Zusammenhang besitzt vor allem der Tractatus de iuribus regni et imperii Romani (1340) des Bamberger Bischofs Relevanz. Lupold von Bebenburg insistierte darin – wie sechzig Jahre zuvor Alexander von Roes – auf der Deutschstämmigkeit Karls des Großen, der das Imperium nicht durch Stephan II., sondern durch Papst Leo III. erhalten habe.598 Durch die Translation auf Otto den Großen sei dieses definitiv den Deutschen übertragen worden. Der Aufbau des Traktats ähnelt dem oben genannten Memoriale de prerogativa imperii Romani (1281) des Alexander von Roes,599 doch gelangte Lupold zu einer schärferen Konturierung des Reichsbegriffs, der nun drei unterschiedliche Amtskompetenzen und Aktionsfelder des Königs bezeichnete: das Regnum als deutsches Erbe der Karolinger, das Imperium, das auch Burgund und Italien umfaßt, und endlich das kaiserliche Weltamt des defensor ecclesiae, das im Unterschied zu den beiden anderen vom Papst verliehen wird.600 Lupold kämpfte für die Freiheit des kurfürstlichen Wahlrechts und für die Rechte Ludwigs des Bayern auf das Imperium. Er wurde so zum Theoretiker der Festlegungen des Kurvereins von Rhense und des Gesetzes Licet iuris (1838). Der von den Kurfürsten einstimmig oder mehrheitlich gewählte deutsche König erhält durch diese Wahl – ohne Mitwirkung des Papstes – die Reichsrechte übertragen, die ihn ermächtigen, sowohl das deutsche Regnum als auch das weitere, Burgund und Italien umfassende Imperium zu regieren und ihn schließlich zum Kandidaten für das potentiell die Welt umspannende Kaisertum prädestinieren. Als Regent der drei Teilreiche des Imperiums hat er dieselbe Gewalt wie die übrigen Erbmonarchen des Abendlandes und benötigt keine Nomination oder Approbation des Papstes. Als Aspirant des universalen Kaiserthrons leistet er dem Papst keinen Lehnseid, sondern nur den Eid der Schutzherrschaft. Auf Lupolds Traktat antwortete sein Freund Konrad von Megenberg (1309– 1374), der als Verfechter des päpstlichen Supremats in De translatione imperii

597 Vgl. H. Heimpel, Dietrich von Niem; K. Pivec, Quellenanalyse zu Dietrich von Niem.; F. Heer, Zur Kontinuität des Reichsgedankens, S. 440 ff.: „Die Ecclesia muß in ihrem ganzen totalen Umfange erneuert, zurückgeführt werden in den alten richtigen ordo. Der Kaiser hat als defensor der Kirche, als ihr Vogt, die Verpflichtung, sie an Haupt und Gliedern zu reinigen und zu reformieren“ (S. 341). 598 Vgl. dazu Dempf, S. 498 ff.; Goez, Translatio imperii, S. 228 ff.; v. d. Heydte, S. 117 ff.; H. Meyer, Lupold von Bebenburg; R. Most, Der Reichsgedanke des Lupold von Bebenburg; Riezler, Die literarischen Widersacher der Päpste, S. 107 ff.; S. 180 ff.; E. Wolf, Große Rechtsdenker, S. 30 ff. 599 Zum Aufbau und Gang des bislang nur in Handschriften zugänglichen Traktats vgl. bes. Riezler, Die literarischen Widersacher der Päpste, S. 181 ff. 600 Zu dieser Dreigliederung des Reichsbegriffs bei Lupold vgl. Heimpel, Das Wesen des deutschen Spätmittelalters, S. 44 f. Zur Trennung von Regnum und Imperium bei Lupold siehe auch Dempf, S. 499 f.

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(1354) die kurialistische Gegenposition begründete.601 Im Verbund mit Lupold kämpfte der Regensburger Domherr für die Wiederbelebung des Imperiums. Er schloß sich in den historischen Partien seines Traktats dem Vorgänger an, bekämpfte aber die Beschlüsse von Rhense und vertrat die Auffassung, die Johannes XXII. gegen Ludwig IV. geltend gemacht hatte, daß nämlich der Papst das Recht der Nomination und Approbation des gewählten römischen Königs habe. Erst die päpstliche Bestätigung verleihe ihm die königlichen Regalien. Konrad war ein konsequenter Befürworter der Weltmonarchie und der päpstlichen plenitudo potestatis. Er kämpfte für die Verwirklichung der alten kurialistischen Reichsidee, derzufolge Kaiser und Papst im harmonischen Miteinander, aber unter der Oberaufsicht des letzteren die Geschicke der Menschheit lenken, die Erde befrieden und für Gerechtigkeit unter den Menschen sorgen. Diente ihm in seinem Traktat über die Reichstranslation die Geschichte als große Lehrmeistern (historia magistra vitae), so stützte sich Konrad in seiner Yconomica (1348/52) auf die aristotelische Politik, deren Beschreibung des (vorpolitischen) „Hauses“ ihm zum Paradigma für die Organisation des Königshofes und folglich der Politik wurde.602 Damit wurden die mittelalterlichen Schranken der politischen Theorie und Praxis noch einmal deutlich, die sich für die Anhänger des Kaiserund/oder Papsttums als unüberwindlich erwiesen. Politik im klassisch-griechischen Sinne war unvorstellbar, das Reich erschien nicht als vergrößerte Polis, sondern als großes Haus (Oikos), in dem die Könige und Fürsten über ihre Untertanen herrschen. Zwar gab es in der spätmittelalterlichen Gesellschaft auch nichtherrschaftliche Haushalte, doch hatten diese keinen Einfluß auf die „öffentlichen“ Angelegenheiten.603 Die genannten Theologen waren nicht die letzten, die den Gedanken der Wiederbelebung des Reiches hegten. Den mittelalterlichen Höhepunkt und Abschluß erreichte Nikolaus von Kues (1401–64), der zum Theoretiker des Konziliarismus und der Reichsreform wurde. In der Zwischenzeit dominierte unter den deutschen Theologen jedoch der Rückzug in die Innerlichkeit, das Streben nach Ver-

601 Text und Interpretation in: Scholz (Hg.), Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften. Bd. 1, S. 95 ff.. Bd. 2, S. 249 ff. Dazu Dempf, S. 501 f.; Riezler, S. 288 ff. 602 Konrad von Megenberg, Oekonomik. Vgl. dazu G. Drossbach, Die „Yconomica“ des Konrad von Megenberg; dies., Hof ohne Herrschaft?, S. 653 ff. 603 Wie Gisela Drossbach betont (Hof ohne Herrschaft?, S. 653 f.), war Konrad von Megenberg der einzige Vertreter der mittelalterlichen Ökonomik, der zwischen einem nicht-herrschaftlichen (domus minor) und einem herrschaftlichen Haushalt (domus maior) unterschied und damit eine Trennung zwischen Haus und Hof vollzog. Aber gerade der Hof wurde als Herrschaft der Fürsten und Magnaten über ihre Untergebenen verstanden, während das herrschaftsfreie Haus von den einfachen Menschen bewohnt und bewirtschaftet wurde. Konrad legitimierte sein Mißverständnis der aristotelischen Ökonomik mit der Vermutung, jener Teil der aristotelischen Politik, der von den königlichen Häusern und den Haushalten der Prälaten handele, sei nicht überliefert worden, es liege nur die Abhandlung über das Haus der einfachen Leute vor.

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lebendigung der Frömmigkeit und nach Vertiefung des Glaubens.604 Vorbildlich dafür wurde Meister Eckhart (ca. 1260–ca. 1327), der die Rückbesinnung auf die alten Tugenden und den Verzicht auf Reichtum und Macht gepredigt hatte, ja auf alle „äußerlichen“ Dinge, die für das Seelenheil überflüssig und eher schädlich sind.605 Er hatte die ursprüngliche Einheit von Denken und Sein gelehrt und die Übereinstimmung von Theologie und Philosophie, von Heiliger Schrift und Aristoteles, betont. Durch seine Predigten wurde die Verinnerlichung des Menschen und die Entdeckung seiner Individualität und Subjektivität gefördert. Auf dem von Eckhart geebneten Weg schritten Johannes Tauler (y 1361), Heinrich Seuse (y 1365), Jan van Ruusbroec (y 1381), Geert Groote (y 1384) und die heilige Birgitta von Schweden (y 1373) weiter, die ein priesterloses Christentum und die unio mystica, die unmittelbare Vereinigung der Seelen mit Gott, erstrebten. Allen Spekulationen über den irdischen und himmlischen Frieden, über Freiheit und Gerechtigkeit wurde ein jähes Ende bereitet, als 1348 die Große Pest in Europa grassierte und der Schwarze Tod seine Opfer forderte. Beinahe ein Drittel der Reichsbevölkerung wurde nach Schätzungen der Mediävisten von ihr hinweggerafft. Dadurch wurde die Weltangst geschürt, die wiederum die mystische Frömmigkeit stimulierte und den christlichen Antijudaismus forcierte, der zu Judenverfolgungen führte, die in ihrem Ausmaß und ihrer Grausamkeit an jene zu Beginn der Kreuzzüge erinnerten. Im Heiligen römischen Reich hatte mittlerweile ein neuerlicher Dynastiewechsel stattgefunden.606 Die geballte mentale Unterstützung, die Ludwig der Bayer durch seinen Beraterstab (Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham, Michael von Cesena u. a.) erfahren hatte, hatte ihm letztlich nur wenig genützt. 1346 war Karl von Luxemburg mit päpstlicher und französischer Unterstützung zum Gegenkönig erhoben worden. Deutschland hatte also wieder einmal zwei Könige, doch starb Ludwig IV. bereits im folgenden Jahr auf der Jagd. Karl IV. (1346–78), anfänglich von den Anhängern des Wittelsbachers als „Pfaffenkönig“ beschimpft und verspottet, wurde 1355 zum Kaiser gekrönt, nachdem er die von seinen Gegnern gewählten Gegenkönige auf seine Seite gezogen hatte. Er schloß ein Bündnis mit Frankreich und beendete den alten Konflikt um die Prüfungs- und Approbationsbefugnis des Papstes, der seit den Zeiten Innocenz’ III. geschwelt hatte und durch Bonifaz 604 Vgl. dazu Dempf, S. 544: „Während die westlichen Nationalstaaten die politische Reformation betreiben und darum dort die Legisten und Kanonisten die Öffentlichkeit bestimmen, kämpft man in Deutschland um die Vertiefung und Verlebendigung der Frömmigkeit.“ 605 Meister Eckhart, Deutsche Predigten; ders., Werke. Dazu Flasch, Das philosophische Denken, S. 406 ff. (weitere Literatur: S. 654 f.); ders. (Hg.), Mittelalter, S. 432 ff.; Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 266 ff.; L. Sturlese, Meister Eckhart. 606 Vgl. etwa Boockmann, Stauferzeit, S. 248 ff.; A. Gerlich, Habsburg-LuxemburgWittelsbach im Kampf um die deutsche Königskrone; Grundmann, Wahlkönigtum, S. 220 ff.; Leuschner, Deutschland, S. 172 ff.; F. Seibt, Karl IV.; Dirlmeier, Spätmittelalter. In ders. u. a., Kleine deutsche Geschichte, S. 92 ff.

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VIII. und Johannes XXII. auf seinen Höhepunkt geführt worden war. Mit der Goldenen Bulle (1356) wurde die Königswahl endgültig entschieden. Die sieben Kurfürsten wählten künftig den deutschen König, der keine päpstliche Bestätigung benötigte, sondern mit der Wahl sämtliche königlichen Rechte erhielt. Dadurch war zugleich der Dualismus zwischen König und Fürsten institutionalisiert, der zusammen mit den anderen genannten Problemen (s. o., S. 509 f.) der Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt in Deutschland im Wege stand. König und Kurfürsten verkörperten nun gemeinsam das Reich. „Der Kaiser wurde praktisch der Sprecher der Kurfürsten und der Repräsentant der von den Kurfürsten unter den Fürsten gestifteten Willensbildung“.607 Das Reich wurde zu einem mixtum compositum aus Monarchie und Oligarchie. Absolutistische Ambitionen hatten darin keinen Platz. Sie kamen den künftigen Kaisern und Königen auch nicht in den Sinn. Ehe aber die weitere Entwicklung der Reichsidee im 15. Jahrhundert verfolgt werden kann, muß zuvor eine andere Kontroverse betrachtet werden, die für die spätmittelalterlichen Denker nicht weniger prekär war als die Aristoteles-Rezeption und die Wechselfälle der praktischen Politik. cc) Folgen des Universalienstreits Im Rahmen einer Rekonstruktion der Genealogie des Staates muß die dritte große philosophisch-theologische Debatte des Spätmittelalters – nach der Aristoteles-Rezeption und dem Armutsstreit – nicht in extenso erörtert werden. Sie kann aber nicht übergangen werden, weil der Nominalismus- oder Universalienstreit entscheidende Konsequenzen für das christliche Ordo-Denken hatte, die letztlich noch gravierender waren als die der beiden anderen Kontroversen.608 Er versetzte der Reichsidee einen weiteren Stoß, indem er das Denken in Totalitäten attackierte und dem Holismus einen Individualismus entgegensetzte. Die soeben von den Kommentatoren des römischen Rechts entwickelte Idee der Korporation als transpersonale Einheit mußte folglich – ebenso wie die anderen Institutionen (Sacerdotium, Imperium, Regnum, Civitas) – nicht nur als Fiktion erscheinen, sondern als eine unzulässige Hypostasierung bloßer Verstandesbegriffe. Handelt es sich doch bei allen menschlichen Gemeinschaften um agierende und interagierende Individuen, die sich zusammenschließen, aber dabei jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen, die dauerhafte Einrichtungen kreieren und sich zum Zwecke der Konfliktregelung bestimmte Satzungen geben, die sie einzuhalten beabsichtigen, damit ihr Verkehr ohne allzu große Reibungen und Brüche erfol607 Bendix, Könige oder Volk. Bd. 1, S. 215. Zum Text und zur Interpretation der Goldenen Bulle siehe oben, Anm. 586. 608 Die ersten Anstöße zur Beschäftigung mit dem Universalienproblem und bleibende Eindrücke erhielt ich durch D. Löcherbach, Einführung in Hegels politische Theorie der Freiheit. Vgl. auch ders., Vorlesungszyklus.

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gen kann, die aber dennoch Individuen bleiben und sich nicht an die Gruppe veroder entäußern. Es sind folglich nicht die Institutionen, die handeln, sondern konkrete Personen. Die Idee der Repräsentation oder einer Körperschaft, die selbst spezifische Handlungen vollzieht, muß deshalb als unzulässige Abstraktion und als Verdinglichung formaler Strukturen und gewisser Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen erscheinen.609 Dies jedenfalls war die naheliegende Konsequenz des radikalen Nominalismus und Individualismus, wie er von Wilhelm von Ockham klassisch begründet und von seinen Schülern verfochten wurde.610 Besonders schwer wog der dadurch ermöglichte Angriff auf die alte Vorstellung vom Leib Christi, den die Gesamtheit der Gläubigen bildet und durch das Imperium gegen innere und äußere Feinde schützt. Kirche und Reich setzten sich nach der Vorstellung ihrer Theoretiker nicht aus den einzelnen Gemeinden, Territorien und Städten zusammen, sondern wurden als übergreifende und ursprüngliche Totalitäten gedacht, die sich selbst in die kleineren Einheiten gliedern oder „besondern“. Diese Idee war bereits durch die dynastischen und machtpolitischen Kämpfe problematisch geworden und wurde in den erkenntnistheoretischen Kontroversen des Spätmittelalters letztlich gänzlich zerstört. Die Auseinandersetzung um die extramentale Existenz oder Nichtexistenz der Allgemeinbegriffe mußte deshalb die allgemeine Verunsicherung schüren und die Suche nach neuen Ordnungsformen stimulieren.611 Sie erwies sich aber zugleich als Hemmnis der ent609 Vgl. Wilhelm von Ockham, Opus nonaginta dierum. Cap. 6. In: Guillelmus de Ockham Opera politica. Bd. 1. Hgg. v. J. G. Sikes/R. F. Bennett/H. S. Offler. Manchester 1940, S. 372 f.; ders., Tractatus contra Benedictum. Lib. 1, Cap. 8. In: Opera politica. Bd. 3. Hgg. v. H. S. Offler. Manchester 1956, S. 189 ff. 610 Zu den Vorbehalten mancher Autoren (Philotheus Boehner, Gordon Leff u. a.) hinsichtlich der Qualifizierung der Position Ockhams als nominalistisch vgl. die kritischen Bemerkungen von Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, S. 320 f. (Anm. 2). Unter Nominalismus wird hier und im folgenden eine Position verstanden, die den Begriffsrealismus attackiert, den Universalien ihre extramentale Existenz bestreitet und sie als Momente der „Seele“ bzw. des Denkakts begreift. „Subjektivismus“ (kantischer Provenienz) oder gar Definitionswillkür (im Sinne der Schule Karl R. Poppers) ist darin nicht impliziert. 611 Vgl. Mensching, S. 9: „In der Auseinandersetzung um das Problem der Universalien vollzog sich ein epochaler Schritt in der Selbstreflexion des Bewußtseins, der alle Sphären des Geistes neu prägte und die gesamte europäische Zivilisation auf den Weg zur Moderne brachte“. In dieser – an sich richtigen und zutreffenden – These Menschings liegt zugleich eine zentrale Schwäche seines ansonsten großartigen und verdienstvollen Buches. Sie verleitet ihn immer wieder zu präsentistischen und anachronistischen Versuchen, „moderne“ Elemente in der Philosophie des 12. bis 14. Jahrhunderts zu suchen, und führt so zu unnötigen Aktualisierungen. Dabei ist die im Universalienstreit verhandelte Sache doch interessant genug. Im Gegenzug unterschätzt Mensching die „modernen“ Elemente des Neuplatonismus und Begriffsrealismus, der für ihn die dunkle Kontrastfolie bildet, vor der sich die Helle des Nominalismus und Individualismus besonders deutlich abhebt. Vgl. dazu die Rezension von K. Flasch, Die Felsenmelodie des Begriffs. Günther Mensching erlauscht die Sirenengesänge der Aufklärung in den Mönchszellen des Mittelalters. In: FAZ v. Mi., 23. Dez. 1992, S. 29.

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stehenden Staatsidee, die ihrerseits unlösbar verknüpft ist mit der Fiktion einer Volkseinheit, die es nach nominalistischer Auffassung gar nicht geben kann, die aber dennoch von den werdenden Staaten hergestellt, d. h. erzwungen wurde. Um diese Entwicklung theoretisch legitimieren zu können, mußte der Nominalismus zunächst aus der Politik ferngehalten und verdrängt werden. Er konnte erst in der Frühen Neuzeit auch hier seine Wirkung entfalten und im 17. und 18. Jahrhundert die absolutistische Staatstheorie sowie ihren Gegenpart, die liberalistische Staatskritik, inspirieren, die im 19. Jahrhundert schließlich ihre Verschärfung im Anarchismus fand. Die Grundlagen dafür wurden aber bereits im 14. Jahrhundert gelegt, als der gnoseologische und ontologische Individualismus gegen die Hypostasierung von Allgemeinbegriffen und Abstraktionen rebellierte. Worum ging es im Universalienstreit? – Die Probleme, die hier verhandelt wurden, sind nicht so „scholastisch“, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Sie beschäftigen auch heute noch die Logik und die Wissenschaftstheorie.612 Zur Klärung stand die Frage an, ob den Universalien, d. h. den Allgemeinbegriffen, reale Existenz außerhalb des Verstandes zukommt oder nicht. Die Begriffsrealisten, wie Thomas von Aquin, bejahten diese Frage im Anschluß an Platon und den Neuplatonismus, die Nominalisten hingegen verneinten sie. Es ging dabei um den bereits in der Einleitung (s. o., S. 23 f.) erörterten Zwang des Denkens, Allgemeinbegriffe zu bilden, um eine Ordnung in die komplexe Welt der Begriffe und damit in die durch sie strukturierten, an sich chaotischen Erfahrungen zu bringen. Um Komplexität zu reduzieren und eine Übersicht und Orientierung in der von Natur aus ungeordneten Erscheinungs- und Erfahrungswelt zu gewinnen, sieht sich der menschliche Verstand genötigt, mit Universalien zu operieren, unter die sich die singulären Phänomene subsumieren lassen. Gemeint sind dabei Begriffe wie Baum, Frucht, Mensch, Gesellschaft, Volk, Demokratie, Regierung usw. – Ausdrücke, mit denen jeweils eine Vielzahl divergierender Elemente aufgrund gewisser Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zu Gattungen oder Arten zusammengefaßt wird. Der Begriff Baum steht stellvertretend für so unterschiedliche Existenzen wie Fichten, Tannen, Eichen, Buchen, Apfel-, Birnund sonstige „Bäume“ (die selbst nur Familiennamen, d. h. Sammelbegriffe für jeweils individuelle Gewächse sind). Unter den Terminus Frucht werden Erdbeeren, Birnen, Äpfel, Nüsse, Bananen usw. subsumiert. Als Gesellschaften gelten alle Arten des menschlichen Zusammenlebens, seien diese nun politisch oder unpolitisch, hierarchisch stratifiziert oder funktional differenziert. Was hat es auf sich mit diesen Allgemeinbegriffen? Gibt es etwas in der außermentalen Welt, das ihnen entspricht? Oder handelt es sich um willkürliche und beliebige Konstruktionen oder Abstraktionen des menschlichen Kopfes, der sich die Welt nach

612 Vgl. etwa G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung; W. Stegmüller, Das Universalienproblem einst und jetzt; E. Tugendhat/U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, S. 127 ff.

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seinem eigenen Bild, d. h. mit seinen begrenzten Mitteln und nach den ihm eigenen Möglichkeiten zurechtlegt und somit eine künstliche und bloß subjektive Welt der Ideen entwirft? Alle Aktivisten des Universalienstreits, auch die Begriffsrealisten, waren davon überzeugt, daß es in der konkreten Dingwelt nur eine Pluralität geben kann. Sie waren ferner noch weit entfernt vom neuzeitlichen Subjektivismus, wie er seit René Descartes entwickelt und von Immanuel Kant klassisch formuliert wurde.613 Auch die Nominalisten gingen allesamt davon aus, daß die Wirklichkeit vom Menschen erkannt werden kann. Im Gegensatz zu ihnen beharrten die Realisten aber auf einer wesenhaften Rang- und Stufenordnung des Seienden, die vom unerkennbar Einen (Gott) über den Geist (nous) und die Seele bis hin zu den unbeseelten materiellen Gegenständen führt. Die Welt wurde begriffen als ein in sich strukturiertes hierarchisches System, das – ausgehend von Gott – seine Ordnung in der zunehmenden Konkretisierung des göttlichen Weltplans fand. Die Rangabstufung, die das menschliche Denken durch Abstraktion in die Realität gebracht hatte, sollte demnach eine reale sein, in der den wirklichen Erscheinungen, d. h. den einzelnen, empirisch zu beobachtenden Phänomenen, der geringste Wirklichkeits- und Wesensgehalt zukommt. Wahres Sein sollte nur dem AbstraktAllgemeinen zukommen, dem Absoluten und dem Geist, der sich ihm im Erkenntnisakt von den unteren Stufen her schrittweise nähert. Die beobachtbaren, sinnlich erfahrbaren Dinge standen auf der untersten Sprosse der Leiter und galten als bloße Symbolisierung von unsichtbaren metaphysischen Entitäten. Diese zu erkennen galt als Aufgabe der Wissenschaft, die sich nicht mit der konkreten Beschaffenheit einzelner Gegenstände befaßt, sondern mit ihren Wesensgemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten, d. h. mit dem Allgemeinen (communis). Diese Haltung der Begriffsrealisten und die mit ihr verknüpfte Gesamtproblematik hat der junge Marx in seiner Auseinandersetzung mit den Junghegelianern in der Heiligen Familie (1844) prägnant zusammengefaßt und trefflich kritisiert:614 „Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung ,Frucht‘ bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, daß meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung ,die Frucht‘ ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – ,die Frucht‘ für die Substanz der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei nicht ihr wirkliches, sinnlich anschaubares Dasein, sondern das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, ,die Frucht‘. Ich 613 Dies betont – in einer Kritik an geläufigen Über- und Verzeichnungen der Kontrahenten und der kontroversen Positionen – mit Recht W. Hübener, Ist Thomas Hobbes Ultranominalist gewesen?, S. 89. Vgl. auch ders., Die Nominalismus-Legende. 614 K. Marx, Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion. In: ders./F. Engels, Die Heilige Familie (1844). MEW 2, 59–63; hier: S. 60. Eine Radikalisierung dieser Kritik am Begriffsrealismus unternahm T. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie.

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erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi ,der Frucht‘ . . . Die besondern wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte, deren wahres Wesen ,die Substanz‘, ,die Frucht‘ ist“.

Gegen diese – von Hegel und vor allem von den Junghegelianern erneuerte – Attitüde wandte sich der Nominalismus des 14. Jahrhunderts, der einen Sturmlauf gegen den Universalienrealismus entfachte. In seinem Dekonstruktivismus ist seine Stärke zu sehen. Er zwang die Philosophen und Theologen zu einer genaueren Explikation des Verhältnisses von Denken und Sein und provozierte sprachkritische Reflexionen über den Ursprung der Begriffe, das Verhältnis der Begriffe zueinander und schließlich über die Geltung der Begriffe. Woher kommen überhaupt unsere sprachlichen Notationen? Wie sind die Termini auf uns gekommen, mit denen wir die Realität zu begreifen suchen? Woher kommen insbesondere jene Begriffe, die nicht nur einzelne Dinge, sondern Verhältnisse und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen oder aber irgendwelche Bewegungen oder Veränderungen der Dinge bezeichnen?615 Diese Fragen wurden zum Anlaß weit ausgreifender Analysen, die zur Erschütterung der seitherigen Selbstverständlichkeiten führten. Ergebnis war, daß die Universalien Medien und Kreationen des Denkens sind, denen außerhalb des Denkakts nichts entspricht. Die Tatsache, daß ihnen keine extramentale Existenz zukommt, ändert jedoch nichts an der Nötigung des Denkens, auch weiterhin mit ihnen zu operieren.616 Nur die durch sie verbürgte Evidenz und Selbstgewißheit des Erkennens wurde lädiert. Sie wurden als Verstandesphänomene und letztlich variable Denkbestimmungen erwiesen, wodurch zugleich die alte, bereits von den Sophisten konstatierte Relativität und Subjektivität wahrer Aussagen wieder ins 615 Nach ursprünglich christlicher Auffassung hat Gott selbst den Menschen die Sprache eingeflüstert, damit sie seinen Ratschluß wenigstens ansatzweise begreifen können. Eine andere Antwort auf diese Fragen lautet, es sei Adam gewesen, der die Sprache geschaffen habe, indem er allem einen Namen gab. Die Vielfalt der Sprachen wurde sodann durch die babylonische Sprachverwirrung erklärt. Als Strafe für den Turmbau zu Babel hat Gott den einzelnen Völkern und Stämmen jeweils ihre Privatsprache verpaßt, damit sie sich nicht mehr zu Verstößen gegen seine Gebote verständigen konnten. Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel. Alle diese Auskünfte konnten den Nominalisten nicht mehr genügen, die schon im 13. Jahrhundert gegen den Universalienrealismus der Scholastik polemisierten. Siehe auch Kämpf, Pierre Dubois, S. 55: „Die Pariser Universität . . . war im ganzen 13. Jahrhundert der Kampfplatz zwischen der vom Nominalismus stark beeinflußten Bettelmönchstheologie der Artistenfakultät und der Scholastik der theologischen Fakultät, die zur Zufluchtsstätte des modifizierten Realismus geworden war“. 616 Daß die zitierte Kritik von 1844 nicht das letzte Wort Marxens zu dieser Problematik war, erhellt aus seinem späteren Hauptwerk, dem Kapital, in dem erneut ein Begriffsrealismus in Anschlag gebracht wurde, der so unterschiedliche Dinge wie Kühlschränke, Autos, Stereoanlagen, Schwarzbrote, Arbeitskräfte, Häuser, Flugzeuge usw. unter dem abstrakt-allgemeinen Ausdruck „Ware“ zusammenfaßte und zurückführte auf ihren Wert, d. h. auf abstrakt-allgemeine Arbeit – und damit auf eine andere solche Entität, die sich hinter den wirklichen Arbeitsvorgängen verbirgt und – als „Realabstraktion“ (Georg Lukács, Alfred Sohn-Rethel) – ihren konkreten Ablauf determiniert.

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Gedächtnis gerufen wurde, die das Weltbild der vom Neuplatonismus geprägten Christen ins Wanken bringen mußte. Durch ihren Begriffsrealismus war es der Scholastik gelungen, eine Kette der Wesenheiten (Arthur O. Lovejoy) zu konstruieren, die auch dem menschlichen Denken und Handeln Sinn und Zweck verleihen konnte. Wurden aber die Universalien als bloße Kunstprodukte und Behelfskonstrukte des denkenden Kopfes erkannt, der seine eigene, subjektive Ordnung in die Welt der Erscheinungen brachte, dann mußte diese Kette zerbrechen und ihre Bindekraft verlieren. In der Folge ließ sich dann auch das an der Feudalgesellschaft abgelesene Ordo-Denken mit der ihm korrespondierenden Hierarchie nicht länger aufrechterhalten. Kein Wunder, daß der Disput alsbald die Drohung des Scheiterhaufens evozierte. Die Probleme, die im Universalienstreit ausgefochten wurden, waren seit Boethius (ca. 480–524) bzw. seit Plotin (204–270) und Porphyrios (ca. 232– nach 300) formuliert, ruhten aber bis zum Ende des 11. Jahrhunderts.617 Sie hatten ihre Wurzel in der Kritik des Aristoteles an Platons Ideenlehre.618 Während nach Platon allein den ewigen und unveränderlichen Ideen wahres Sein zukommt und die empirischen Erscheinungen als – mehr oder weniger gelungene oder mißratene – Abbilder derselben gelten, war Aristoteles zwar ebenfalls überzeugt davon, daß die Wissenschaft das Allgemeine zu erkennen habe, doch suchte er dieses nicht in den Ideen, sondern in den Einzeldingen. Er fand es in der ewigen „Form“, die als schaffendes Prinzip (Entelechie) den Primat über die Materie besitzt und ihr Gestalt, Bewegung und Veränderung vermittelt.619 Eine Synthese von Platon und Aristoteles hatte der Neuplatonismus erstrebt, der durch die Vermittlung Augustins zur herrschenden philosophischen Lehre des mittelalterlichen Katholizismus wurde. Er suchte das allgemeine Wesen zugleich in den Dingen und in der Transzendenz. Das ihm zugrundeliegende Rang- und Stufenmodell wurde paradigmatisch in Plotins Enneaden begründet, die eine Emanationslehre entwickelten, derzufolge das unerkennbare Eine bzw. Gute zunächst den denkenden Geist, sodann die Seele und schließlich die von der Seele geformten körperlichen Dinge aus sich entläßt.620 Der Erkenntnisprozeß hingegen sollte den um617

Vgl. H.-U. Wöhler (Hg.), Texte zum Universalienstreit. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, I. Buch (A), 9; XIII. Buch (M), 4. Zu Platons Ideenlehre siehe oben, S. 125 f. Zu den Grundlagen und zur Entwicklung des Universalienproblems vgl. auch die Skizze von E. Bloch, Das Materialismusproblem, S. 35 ff. 619 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, II. Buch (B), 3, 4. Zur aristotelischen Kritik an der platonischen Ideenlehre vgl. etwa Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. HW 19, S. 151 ff.; Löcherbach, Vorlesungszyklus, S. 20 ff. Zu ihrer Rezeption durch die spätantike und mittelalterliche Philosophie vgl. H.-U. Wöhler, Zur Geschichte des Universalienstreites. 620 Vgl. Plotin, Ausgewählte Schriften; W. Wieland (Hg.), Antike, S. 364 ff. Dazu W. L. Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, S. 151 ff.; Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. HW 19, S. 435 ff.; Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, S. 18 ff. Weitere Literaturhinweise bei Gombocz (S. 439, Anm. 1 u. 2) und Wieland (S. 404). 618

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gekehrten Weg gehen und die Seele von den konkreten Gegenständen über die Selbsterkenntnis des Geistes zur Anschauung des Einen, des Wahrhaftigen und Ewigen zurückführen. Damit war die Grundkonzeption formuliert, die das christliche Ordo-Denken über die Jahrhunderte lenken konnte, die aber im Universalienstreit durch die Nominalisten in Frage gestellt wurde. Hinter bzw. in den wirklichen Dingen herrschte eine unsichtbare, nur dem reflektierenden Geist zugängliche Ordnung des Seins, in der sich der göttliche Schöpfungsplan konkretisierte. In ihr haben sich jene Kategorien und Ideen materialisiert, die auch das menschliche Denken und Erkennen leiten. Wie bei Aristoteles wurden Denken und Gedachtes identisch gesetzt. Mit Platon hingegen wurde eine Differenz zwischen den konkreten Gegenständen und der transzendenten Ordnung angenommen, an der die Dingwelt bloß partizipiert. Der menschliche Denk- und Erkenntnisakt sollte die Brücke zwischen beiden Welten bilden, indem er die einzelnen Erscheinungen mit Hilfe der Universalien auf die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien und Entitäten bzw. auf das Eine reduziert. Die Kategorien nahmen dabei die Stellung des Allgemeinen oder Gemeinsamen ein und hatten die Vielzahl der singulären Dinge zu einer Einheit zusammenzufassen. Gerade an ihrer Interpretation entzündete sich nun aber – als eine weitere Folge der Aristoteles-Rezeption – der hochund spätmittelalterliche Universalienstreit. Handelt es sich bei ihnen um bloße Verstandesbegriffe oder um subsistierende Wesenheiten? Sind sie existierende Realitäten, die vom menschlichen Verstand „widergespiegelt“ werden, oder sind sie bloße Hilfskonstrukte des Denkens, das sich seine eigene, ideelle Ordnung schafft, denen aber draußen in der extramentalen Realität nichts entspricht? Eine genauere Untersuchung und Explikation der fünf aristotelischen Kategorien Genus, Differenz, Spezies, Proprium und Akzidens unternahm Porphyrios, der Schüler des Plotin, in seiner Einführungsschrift zu den Kategorien des Aristoteles.621 Porphyrios wollte aber die eigentliche Streitfrage nicht erörtern, ob nämlich die Genera und Spezies wirklich existieren oder ob sie bloße Gedankenprodukte sind und lediglich im Verstand und Geist vorkommen. Und für den Fall, daß sie tatsächlich existieren, wollte er die weitere Frage umgehen, ob sie körperlich oder unkörperlich sind und ob sie von den sinnlichen Dingen gesondert oder mit ihnen verbunden sind. Diese von Porphyrios übergangenen Fragen griff dann Boethius auf, der in seinem Kommentar zur Isagoge des Vorgängers zeigen wollte, daß die fünf Kategorien wirklich sind, daß Genus aber weder körperlich noch unkörperlich ist, sondern beides aus sich hervorbringt.622 Wie schon Aristoteles dargelegt habe, finde man die Genera, Spezies etc. in den Einzeldingen, „die Universalien aber werden durch das Denken hervorgebracht; und daher darf 621

Vgl. Porphyrios, Isagoge. Vgl. A. M. S. Boethius, Kommentar zur „Isagoge“ des Porphyrios. Das folgende Zitat entstammt der Editio secunda (S. 30 f.). 622

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man eine Spezies für nichts anderes halten als einen Gedanken [cogitatio], der aus der substantiellen Ähnlichkeit von sich der Zahl nach unterscheidenden Individuen erschlossen wurde, ein Genus aber als einen Gedanken, der aus der Ähnlichkeit der Spezies erschlossen wurde. Diese Ähnlichkeit aber wird sinnlich wahrnehmbar, insofern sie in den Einzeldingen ist, und sie wird begreifbar, insofern sie in den Universalien ist . . . Die Genera und Spezies, das heißt die Einzelheit [singularitas] und die Allgemeinheit [universalitas], haben genauso nur ein einziges Zugrundeliegendes; jedoch ist es unter dem einen Aspekt ein Universale, insofern es gedacht wird, und unter dem anderen ein Einzelding, insofern es in den Dingen wahrgenommen wird, in denen es sein Sein besitzt“. Damit hatte Boethius einen Kompromiß gefunden, der einige Jahrhunderte die impliziten Probleme seiner dualistischen Lösung verdecken konnte, der aber im späten 11. Jahrhundert seine Überzeugungskraft zu verlieren begann. Die Wesenheiten existieren demnach objektiv in der Ordnung der Dinge, doch verleiht ihnen erst der abstrahierende Verstand die Allgemeinheit, die sie nach neuplatonischer Auffassung unmittelbar besitzen sollten.623 Die weiteren Etappen in der Geschichte des Universalienstreits und die kontroversen Positionen – von Roscelin von Compiègne (ca. 1050–1125), Anselm von Canterbury (1033/4–1109) und Adelard von Bath (ca. 1070– nach 1146) über Petrus Abaelard, Gilbert de la Porée, Johannes von Salisbury, Avicenna und Averroës bis hin zu Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Johannes Duns Scotus u. a. – müssen hier nicht nachgezeichnet und erörtert werden.624 Hier soll das Augenmerk auf die Wiedergeburt des Nominalismus im 14. Jahrhundert bzw. auf seine ausgereifte Gestalt gelenkt werden, die er bei Wilhelm von Ockham (1285/90–1347/48) erreichte.625 Durch ihn verwandelte sich der Konflikt in einen weltanschaulichen Richtungs- und Methodenstreit, der sich 623 Zu Boethius und seiner Lösung der Universalienfrage vgl. auch Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 107 ff. (bes. S. 120 ff.); ders., Das philosophische Denken, S. 43 ff. (bes. S. 48 ff.); Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike, S. 338 ff.; Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 95 ff.; Mensching, Das Allgemeine, S. 34 ff.; Wöhler, Zur Geschichte (1992), S. 323 ff. 624 Vgl. die Texte und die Nachworte des Herausgebers in: Wöhler (Hg.), Texte; Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 204 ff.; Heinzmann, Philosophie, S. 165 ff. (passim); Mensching, Das Allgemeine, S. 93 ff. 625 Nach Wöhler (1994, S. 301 f.) lassen sich vier Phasen oder Stadien des hochund spätmittelalterlichen Universalienstreits unterscheiden: 1. die Konstituierungsphase im 11. und 12. Jahrhundert, die durch den Richtungsstreit zwischen den Schulen oder Strömungen der Nominalisten, Konzeptualisten, aristotelischen und platonischen Universalienrealisten geprägt wurde; 2. die Übergangsphase des 13. Jahrhunderts, die vom gemäßigten Realismus dominiert wurde, innerhalb dessen konzeptionelle Auseinandersetzungen über das Individuationsprinzip, das Verhältnis von esse und essentia und über den intellectus communis ausgetragen wurden; 3. die Wiedergeburt des Nominalismus im 14. Jahrhundert; 4. der dogmatische Schulstreit im 15. Jahrhundert, der zu einer starken Ideologisierung der Standpunkte innerhalb der Auseinandersetzung zwischen via antiqua und via moderna führte.

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nicht nur auf die Ontologie, Gnoseologie, Epistemologie und Logik, sondern auch auf die Ethik und politische Theorie erstreckte. Ockham konnte dabei anknüpfen an Petrus Abaelard (1079–1142) und Johannes Duns Scotus (ca. 1265/6– 1308), indem er ihre Einsichten miteinander verknüpfte und die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze aufhob. Mit Abaelard verwarf er das reale Allgemeine, mit Duns Scotus betonte er die Individualität und Singularität alles Seienden. Der gemäßigte Nominalismus Abaelards626 ließ sich mit der neuen Begründung des Universalienrealismus durch Duns Scotus627 synthetisieren und zu einem radikalen Nominalismus verschärfen, der die neuzeitliche Erkenntnistheorie stimulierte bzw. auf den Weg brachte. Ihm zufolge bilden Begriffe, Sätze und Intentionen den Gegenstand der Wissenschaft, nicht das extramentale „Reale“.628 Dadurch wurde die herkömmliche Auffassung der Scholastik umgestürzt. Die traditionelle Lehre war durch Thomas von Aquin (1225–74) klassisch begründet worden, der den christlichen Glauben mit der aristotelischen Philosophie verknüpft und dabei den Universalienrealismus verteidigt hatte. Thomas verstand die Erkenntnis als Vermittlung von Denken und Gegenstand, durch die sich eine Anpassung (assimilatio bzw. adaequatio) des Erkennenden an das erkannte Ding vollzieht, „und zwar derart, daß die besagte Anpassung Ursache der Erkenntnis ist“.629 Die sinnliche Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt. Sie ist aber nicht die Ursache der Verstandeserkenntnis (intellectualis cognitionis), sondern nur der Stoff der Ursache (materia causae).630 Der Verstand ist produktiv (intellectus agens) und bringt als Actus die Wahrheit hervor, die gleichwohl in den Dingen ist, „insofern sie dem göttlichen Verstand angeglichen sind oder dem menschlichen Verstand angeglichen sein können“ (De ver. I,3/S. 177). „Der Sinngehalt des Wahren besteht nämlich in der Angleichung eines Dinges und des Verstandes“ (ebd./S. 175). Gegenstand des Verstandes ist die im konkreten Einzelding existierende „Wesenheit“ (quidditas) oder „Natur“ – „und durch diese Naturen der sichtbaren Dinge steigt er auch zu irgendwelcher Erkenntnis der unsichtbaren Dinge empor“ (ST I q. LXXXIV, 7/S. 149). Weil aber die „Natur“ nach aristotelischer Auffassung in einem Einzelding existiert, das allein durch die Sinne oder 626 Vgl. P. Abaelard, Logica „Ingredientibus“; ders., Logica „Nostrorum petitioni sociorum“. Zu Abaelard vgl. auch oben, S. 407, Anm. 116 f. 627 Vgl. J. Duns Scotus, Sentenzenkommentar (Ordinatio). Buch II, Distinktion 3, Teil 1, Quaestio 6. Vgl. auch E. Gilson, Johannes Duns Scotus; Heinzmann, Philosophie, S. 233 ff.; G. Stratenwerth, Die Naturrechtslehre des Johannes Duns Scotus. 628 Vgl. Wilhelm von Ockham, Physikkommentar, Prolog. In ders., Texte zur Theorie der Erkenntnis, 186–215; bes. S. 208 ff. (32.–40.). Dazu die Einleitung von R. Imbach, ebd., S. 180 ff., sowie E. Hochstetter, Studien zur Metaphysik und Erkenntnislehre Wilhelms von Ockham, S. 174 ff.; D. Löcherbach, Vorlesungszyklus. Bd. 2, S. 26 f. 629 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate. Quaestio I, Articulus 1, S. 170/171 [künftig im Text zitiert als De ver.]. 630 Thomas von Aquin, Summa Theologiae. Prima Pars, Quaestio LXXXIV, Articulus 6, S. 146/147 [künftig im Text zitiert als ST]. Zur Philosophie des Aquinaten vgl. die oben (S. 520 f., Anm. 479 f.) genannte Literatur.

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die Einbildungskraft (imaginationem) erfaßt werden kann, ist es notwendig, „daß der Verstand, um seinen eigentümlichen Gegenstand in Wirklichkeit zu erkennen, sich zu den Phantasiebildern (phantasmata) hinkehrt, damit er die im Besonderen daseiende allgemeine Natur betrachte“ (ebd.). Das Allgemeine, die „Wesenheit“ oder „Natur“ der Dinge, existiert somit wirklich.631 Thomas folgt der alten neuplatonischen Auffassung, derzufolge es dreierlei Universale gibt: eines in den Dingen (in re), eines nach den Dingen (posterius re) und eines, das früher als die Dinge ist (prius re), wobei das zweite in der begrifflichen Abstraktion, das dritte in der theoretischen Antizipation (etwa in der Vorwegnahme eines Bauplans im Kopf eines Baumeisters) bestehe.632 Die Wissenschaft hat es folglich mit der Realität zu tun. In ihren Begriffen, Sätzen und Intentionen spiegelt sich die Wahrheit der Dinge, die in einer wesenhaften Rangordnung stehen, die von den konkreten Dingen über die in ihnen existierenden Universalien bis hin zum höchsten Wesen führt. Während die Theologie ausgeht von Gott, von dem aus sie zur Schöpfung herabsteigt, geht die natürliche Vernunft der Philosophie den umgekehrten Weg.633 Sie steigt von der sinnlichen Erkenntnis der Einzeldinge über die Universalien auf zu Gott als dem zuhöchst Seienden. Die Realität der Dinge wird nicht aus allgemeinen Prinzipien deduziert, sondern diese werden im Anschluß an Aristoteles durch Analyse der konkreten Gegenstände aufgefunden. Als Seinsweisen der Dinge hatte der Stagirit Substanz und Akzidens unterschieden und dabei neun Akzidentien festgestellt: Quantität, Qualität, Relation, Leiden, Wirken, Zeit, Ort, Lage und Haben. Thomas bestätigt diese Unterscheidung, gelangt aber zu einer weiteren Spezifikation, indem er fünf Transzendentalien konstatiert, die mit dem Sein (ens) unmittelbar gegeben sind: res, unum, aliquid, verum und bonum. Als Voraussetzungen der Möglichkeit von Erkenntnis gelten diese zugleich als generelle Seinsweisen jedes Seienden. Aufgrund der in den Einzeldingen existierenden Kategorien und Transzendentalien ist der menschliche Verstand in der Lage, die Wirklichkeit und die Wahrheit der Dinge zu erkennen. Die theoretische Vernunft gleicht sich selbst den Erkenntnisgegenständen an, die praktische Vernunft hingegen verändert sie nach ihrem eigenen Bild. Verstand und Ding stehen somit in Korrelation und gleichen sich einander wechselseitig an. Wie Dieter Löcherbach bemerkt, hat Thomas mit seiner Theorie des intellectus agens die früheren Erkenntnislehren zu einer überzeugenden und wirksamen Synthese geführt. Die Ontologie und Gnoseologie des Aquinaten setzte aber eine unveränderliche Wesensordnung der Dinge voraus, deren Wahrheit und Stabilität 631 Vgl. auch Thomas von Aquin, Über das Seiende und das Wesen (De ente et essentia). In: Wöhler (Hg.), Texte. Bd. 2, 43–64. 632 Thomas von Aquino, In II Sententiarum. Distinctio 3, quaestio 3, articulus 2, ratio ad primum. Hier zitiert nach Wöhler (1994), S. 268. 633 Vgl. zum folgenden die Einführung von Heinzmann, Thomas von Aquin, S. 31 ff. sowie ders., Philosophie, S. 205 ff.

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durch Gott garantiert wird. Gerade diese Prämisse wurde im 14. Jahrhundert in Frage gestellt, als sich ein voluntaristischer Gottesbegriff verbreitete.634 Den entscheidenden Schritt in diese Richtung ging Johannes Duns Scotus, der die in Gott gründende Rationalität und Logozität der Welt bezweifelte und die gesamte Schöpfung als kontingentes Produkt des göttlichen Willens betrachtete, das auch ganz anders hätte werden können. In seiner Allmacht und unendlichen Güte hätte Gott auch eine andere, bessere Welt schaffen können. Ihm setzte nur – wie später bei Ockham – das Prinzip der Widerspruchsfreiheit eine unüberwindbare Schranke. Duns Scotus führte einen Dreifrontenkrieg und bekämpfte zugleich die platonische Ideenlehre, den Nominalismus und den Monopsychismus des lateinischen Averroismus.635 Seine Metaphysik und Gnoseologie sprach dem Individuellen und Singulären den höchsten Grad der Vollkommenheit zu. Zugleich bejahte sie grundsätzlich die Realität des Allgemeinen als Basis hierarchischer Ordnungsbeziehungen und der wissenschaftlichen Erkenntnis von Wirklichkeit. Die Universalien sind einerseits sprachlich-begriffliche Einheiten, andererseits konstitutive Formbestimmungen (formalitates) von subsistierenden Individuen. Das „vollkommene Universale“ als Individuum entspringt dem Indifferent-Allgemeinen durch Individuation. Es ist von seinem eigenen Wesen formell unterschieden und besitzt neben seinem Gattungs- und Artwesen haecceitas („Diesheit“), die es zu diesem unverwechselbar einzelnen macht. Genus, Spezies und Differenz sind zwar seiende Konstituentien eines Individuums, haben aber eine ihm gegenüber andersartige Seinsweise, nämlich eine „quidditative“. Das Individuum erscheint als hochgradig komplexes Kompositum aus Entitäten oder „Wirklichkeiten“, die aber nicht isoliert voneinander, sondern nur in dieser Zusammensetzung existieren können. Die Wirklichkeit des Allgemeinen ist „realitas“, „formalitas“ oder „ratio“ im Individuum, nicht neben ihm. Mit dieser Konzeption wurde Duns Scotus zu einer Gestalt des Übergangs.636 Zwar hatte er selbst am Universalienrealismus festgehalten, doch hatte er mit 634 Vgl. Löcherbach, Vorlesungszyklus. Bd. 2, S. 24 ff.: „Die Theorie des intellectus agens ist die klassische Synthesis der bis dahin aufgetretenen Lehren von der Erkenntnis. Sie setzt indessen eine stabile, durch die Wahrheit Gottes als wahr und unveränderlich garantierte Wesensordnung der Dinge voraus. Fällt diese Annahme zufolge eines voluntaristischen Gottesbegriffs wie im . . . 14. Jahrhundert n. Chr., so verändert sich auch notwendig das Wesen der Erkenntnis“ (S. 26). Zu dieser Veränderung vgl. ebd., S. 26 ff. und die weiteren Bände des Vorlesungszyklus sowie ders., Einführung in Hegels politische Theorie der Freiheit. 635 Vgl. zum folgenden Wöhler (1994), S. 272 ff. sowie die oben (Anm. 627) genannte Literatur. 636 Vgl. dazu auch Flasch, Das philosophische Denken, S. 426 ff. Wie Flasch betont, räumte der von Duns Scotus gesuchte Mittelweg zwischen dem überkommenem Realismus und dem Nominalismus zunächst einmal ein, „daß die bisherigen Theorien eines realen Allgemeinen unbefriedigend waren . . . Der ,Realismus‘ verlor an Selbstverständlichkeit“ (S. 440).

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seiner Individuationslehre den späteren Theoretikern der via moderna den Weg gebahnt.637 Die nominalistischen Konsequenzen aus seiner Lehre zog Wilhelm von Ockham, der zwar seine Auffassung über das Wesen und die Existenz des Allgemeinen im Verlauf seiner akademischen Laufbahn modifizierte,638 der aber festhielt an der Kritik des Universalienrealismus und damit richtungsweisend für die künftige Erkenntnistheorie wurde. Ockhams Nominalismus basiert auf seiner bereits erwähnten radikalen Skepsis, auf seinem Kontingenz- und Ökonomieprinzip (s. o., S. 546 ff.) sowie auf der von Duns Scotus ererbten, sprachanalytisch verschärften Individualontologie. Das Individuelle und Singuläre existiert ihm zufolge nicht als Produkt der Individuation, sondern aus und durch sich selbst. Es bedarf keiner Ableitung und keiner weiteren Begründung. Ihm kommt der höchste Grad an Vollkommenheit zu. Allgemeinbegriffe sind jedoch keine Chimären, sie bezeichnen Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten zwischen den Dingen. Bestritten wird allerdings, daß diese Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten realer Bestandteil der Dinge sind. Sie sind Festlegungen des menschlichen Denkens, das seiner eigenen Logik gehorcht. Die Genera und Spezies sind jedoch nicht bloße „Namen“, sondern Qualitäten der Seele, „sie sind der Erkenntnisakt selbst, der sich durch sie auf die Realität richten kann“.639 Das Universale ist imago, similitudo oder exemplum, aber nicht Spezies des Gegenstandes. Es ist selbst ein Einzelding. Es ist eine wirklich im Intellekt existierende Form, eine einzelne Intention der Seele.640 Es hat – als „Universale von Natur“ oder als „konventionelles Universale“ – keine extramentale Existenz.641 Der Erkenntnis637 Vgl. dazu Mensching, Das Allgemeine, S. 210 ff. Nach Mensching hat Duns Scotus, indem er das Individuum zur ultima realitas erhob, die unmittelbar auf ihn folgende Lehre der via moderna vorbereitet, „daß das Individuelle die ontologisch primäre Realität sei, die Universalien aber nur die potentiellen Ordnungsschemata des subjektiven Verstandes darstellen“ (S. 211 f.). Zur Auseinandersetzung zwischen via moderna und via antiqua vgl. A. Zimmermann (Hg.), Antiqui und Moderni. 638 Vgl. dazu Wöhler (1994), S. 275: „Hielt er zunächst die Position für angemessen, daß ein Universale lediglich ein ,esse obiectivum‘ in der Seele besitze und lediglich ein ,fictum‘ sei, so reagierte er auf Einwände dagegen und ließ gelten, daß die Universalien eine Art geistiger Qualitäten mit natürlicher Bezeichnungsfunktion für außermentale Dinge darstellten. Dies fand seinen Niederschlag in der sogenannten ,Intellectio-Lehre‘, derzufolge die Begriffe bzw. die begrifflichen Inhalte mit den gedanklichen Reflexionen (intellectiones) identisch sind. Gleichwohl ist diese moderatere Haltung keine absolute Abkehr von dem zuvor eingenommenen Standpunkt gewesen, noch wurde sie offenbar von Ockhams Zeitgenossen deutlich als Neuerung wahrgenommen.“ 639 Flasch, Das philosophische Denken, S. 455. Vgl. auch ders. (Hg.), Mittelalter, S. 455 ff. (bes. S. 475 ff.); Heinzmann, Philosophie, S. 249 ff. Zu Ockham siehe ferner die oben (Anm. 544 ff.) genannte Literatur. 640 Vgl. Ockham, Summa logicae I, 14 (5). Lat./dt. in ders., Texte zur Theorie der Erkenntnis, 62–75; hier: S. 64/65: „Man muß also sagen, daß jedes Universale ein Einzelding ist; es ist nur aufgrund der Bedeutung, d. h., weil es Zeichen mehrerer ist, ein Universale“. 641 Vgl. SL I, 15, ebd., 66–75; bes. (2), S. 66/67: „Es kann mit Evidenz aufgewiesen werden, daß kein Universale eine extramentale Substanz ist“. Siehe auch (10): „Jedes

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akt durchläuft insgesamt zwei Stufen:642 durch die intuitive Erkenntnis wird das Konkrete, der kontingente Gegenstand, erfaßt. Die abstraktive Erkenntnis hingegen bezieht sich auf Begriffe unter Absehung von der Existenz. In ihr vertritt der Terminus den Gegenstand.643 Da die Wissenschaft auf abstraktiver Erkenntnis (notitia abstractiva) basiert, bilden Begriffe, Aussagen und Intentionen ihren Gegenstand, nicht das „Reale“. Die Wirklichkeit ist im Terminus sublimiert bzw. durch ihn substituiert. Die weitere Entwicklung des Universalienstreits von Walter Burley (ca. 1274/5– nach 1343) und Johannes Buridan (ca. 1300–ca. 1360) über Gregor von Rimini (y 1358), Heinrich Totting von Oyta (ca. 1330–97) zu John Wyclif (ca. 1330–84), Johannes Gerson (1363–1429) und Gabriel Biel (ca. 1410–95) soll hier nicht rekonstruiert werden.644 Festzuhalten sind die Konsequenzen, die der Nominalismus für das europäische Politikdenken hatte. Die Kritik am Universalienrealismus mußte die Verunsicherung und die ohnehin grassierende Weltangst schüren, da sie die früheren Selbstgewißheiten destruierte. Die alten Beruhigungsinstanzen – Gott und Kosmos – waren fragwürdig geworden. Nicht nur der im Anschluß an Platon und den Neuplatonismus imaginierte gütige Schöpfer- und Erlösergott, der anfänglich und letztendlich (principaliter et finaliter) alles richtig geordnet hatte, sondern auch die mit aristotelischen Mitteln konzipierte gute und stabile Ordnung der Natur (physei) verlor ihre Überzeugungskraft. Zurück blieb ein Sinnvakuum, das in der Folgezeit auszufüllen war. Alle Instanzen, auf die man bislang vertrauen durfte, waren in sich zusammen- und weggebrochen. Das Urvertrauen, das den alten Griechen der Kosmos, den von ihnen belehrten Christen hingegen Gott und seine Schöpfung vermittelt hatten, war verloren. Das menschliche Subjekt war auf sich selbst zurückgeworfen und mußte die vom Nominalismus sichtbar gemachten Lücken nun aus und durch sich selbst schließen. Dabei konnten ihm weder Gott noch die Natur helfen. Es konnte sich nur noch an sich selbst und seinesgleichen orientieren. Unter dem überragenden Einfluß von Ockham wurde im kommenden Jahrhundert die kopernikanische Wende eingeleitet und vollzogen, durch die jeglicher Universale ist eine Intention der Seele, welche gemäß einer wahrscheinlichen Meinung sich vom Erkenntnisakt nicht unterscheidet“ (S. 70/71) usw. 642 Vgl. dazu Ockham, Sentenzenkommentar, Prolog, Frage 1, Artikel 1. (Lat./dt.) in ders., Texte zur Theorie der Erkenntnis, 136–167 und die Einführung von Imbach, ebd., 122–135. 643 Vgl. die Definition des Terminus und die Analyse seiner verschiedenen Bedeutungen in: Ockham, Summa logicae I, 1 ff. In ders., Texte zur Theorie der Erkenntnis, S. 16 ff. sowie die Erörterung der Bedingungen der Wahrheit singulärer assertorischer Aussagen, des Beweises, des Erfahrungswissens usw. in Summa logicae II, 2 u. III, 2, 1 ff. Ebd., S. 94 ff. 644 Vgl. dazu Wöhler (Hg.), Texte. Bd. 2, S. 115 ff. und das Nachwort des Herausgebers. Ebd., S. 279 ff. Zu den späteren Nominalistenschulen vgl. auch Ueberweg, Grundriß II, S. 587 ff.

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Außenhalt vollends verloren ging und der Mensch aus dem Zentrum des Universums an seine Peripherie gedrängt wurde. In einer Radikalisierung der nominalistischen Skepsis wurde schließlich durch René Descartes der neuzeitliche Subjektivismus geboren, der im Ich denke seinen letzten Halt und im radikalen Zweifel (cogito ergo sum) seine einzige Selbstbegründung fand. Dabei hatte Ockham durch Aufweis der Schranken der menschlichen Vernunft gerade den christlichen Glauben fördern und die Menschen zu Gott zurücklenken wollen. Sie sollten ihr Heil nicht in der Welt, sondern allein bei Gott suchen.645 Da dieser aber infolge der voluntaristischen Wende vom berechenbaren Weltenlenker und gütigen Erlöser zum allmächtigen Willkürgott metamorphosiert war, der nur noch durch das Prinzip der Widerspruchsfreiheit begrenzt wurde und ein kontingentes Sein geschaffen hatte, konnte auch er keine Beruhigung mehr spenden. Die Suche nach neuen Ruhe-, Ausgangs- und Anhaltspunkten in der Welt mußte deshalb weitergehen und die künftige Philosophie anspornen. Die Freisetzung des Menschen und der neuzeitlichen Wissenschaft aus den Fesseln der Theologie war somit eine nicht-intendierte Nebenfolge des Voluntarismus und des ihm korrespondierenden Prinzips der göttlichen Allmacht. Darauf hat Herfried Münkler im Anschluß an Hans Blumenberg zu Recht hingewiesen:646 „Mit der Akzentuierung des göttlichen Willens zu Lasten der Vernunft und der Betonung der göttlichen Allmacht zu Lasten der in der Natur wirkenden Gesetze in Ockhams Philosophie zerbrachen die tragenden Synthesen des Mittelalters. Ockham, dessen nominalistische Philosophie in einzigartiger Konsequenz die voluntaristische über die intellektualistische Komponente des mittelalterlichen Gottesbildes stellte, gab damit den Weg frei für die Autonomisierung einer von der Herrschaft der Theologie emanzipierten Vernunft und für die wissenschaftliche Erforschung einer Natur, die allein aus sich selbst und nicht mehr durch die begleitende Kausalität Gottes Bestand hatte. Ockhams Nominalismus hat so die Autokatalyse des mittelalterlichen Denkens eingeleitet“ (S. 62 f.). „Doch sosehr sich im Nominalismus auch die Freisetzung des Menschen spiegelt, intendiert worden ist sie von ihm keineswegs“ (S. 88).

645 Vgl. dazu H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 167 ff.: „Der Nominalismus ist ein System höchster Beunruhigung des Menschen gegenüber der Welt – freilich mit der Absicht, ihn sein Heil gerade nicht in der Welt suchen zu lassen, ihn zur Verzweiflung an seinen diesseitigen Möglichkeiten und damit zur bedingungslosen Kapitulation des Glaubensaktes zu treiben, den er doch wiederum aus eigener Kraft nicht vollziehen können durfte“ (S. 175). Zu Blumenbergs Ockham-Rezeption vgl. J. Goldstein, Nominalismus und Moderne. 646 Vgl. H. Münkler, Machiavelli, S. 62 ff., 83 ff. Münkler folgt dabei H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 75 ff.; ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 193. Daß Ockhams Nominalismus tatsächlich „die Autokatalyse des mittelalterlichen Denkens“ eingeleitet hat und zum Vorläufer frühbürgerlicher sozialrevolutionärer Bewegungen wurde, bezweifelt allerdings W. Hübener, Die Nominalismus-Legende, bes. S. 105 [s. o. Anm. 613]. Zu Recht betont Hübener, daß der Nominalismus stets eine Minderheiten-Position blieb, während universalienrealistische Auffassungen bis ins 18. und 19. Jahrhundert dominierten.

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Wie schon erwähnt, hat Ockham die politischen Konsequenzen seiner Sprachkritik nicht gezogen. Er kämpfte im Armutsstreit auf seiten der Spiritualen gegen Johannes XXII. und unterstützte Ludwig den Bayern in seinem Kampf gegen die Papstkirche in Avignon. Dementsprechend plädierte er zwar für die strikte Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre, stellte sich aber gegen den aufkommenden Konziliarismus und verurteilte das Autonomiebegehren der westlichen Monarchien und der italienischen Stadtrepubliken. Während er in seiner Gnoseologie und Ontologie energisch gegen die extramentale Existenz der Universalien polemisierte, verteidigte er in seiner praktischen und politischen Philosophie die alten universalistischen Mächte und ihre Prinzipien. Das in seinem Nominalismus angelegte politische Potential kam erst in der Folgezeit und vor allem in der Frühen Neuzeit zur Entfaltung und revolutionierte nach der Erkenntnistheorie auch die Politische Philosophie. Im Ausgang vom konkreten Einzelmenschen ließen sich allerdings die widersprüchlichsten Optionen legitimieren. So konnte Thomas Hobbes auf nominalistischer und individualistischer Basis den absolutistischen Staat legitimieren, während John Locke und Jean-Jacques Rousseau entgegengesetzte Wege gingen und – mit ähnlichen Instrumenten und Argumenten – die Notwendigkeit einer rechtlichen und konstitutionellen Begrenzung des Staates oder aber seiner Demokratisierung und Aufhebung postulierten. In ihrer Nachfolge konnte dann die moderne Aufklärung Gott selbst als bloße Fiktion und Abstraktion, als Kunstprodukt des Denkens entlarven und alle institutionellen Verkörperungen universalistischer Prinzipien – von der Kirche bis zum Staat und ihren Unterabteilungen und Ablegern – als unzulässige Hypostasierungen kritisieren und für ihre Abschaffung plädieren. Bis dahin war jedoch ein weiter Weg zurückzulegen, der nicht in Siebenmeilenstiefeln durchmessen werden darf. Zusammenfassend läßt sich konstatieren: Die theologische Erklärung des Seienden, die Ableitung aller Dinge und Verhältnisse von Gott, war allgemein problematisch geworden. Einerseits hatte der durch Averroës geprägte Aristotelismus die Existenz und Notwendigkeit des Schöpfergottes mit Gründen bestritten. Andererseits tat der Nominalismus aus erkenntnistheoretischen und sprachkritischen Gründen dasselbe. Er stellte den abstrakt-allgemeinen Ausgangspunkt und damit das gesamte hierarchische Begriffssystem in Frage, indem er die Kreationen des göttlichen Willens als kontingent erwies und die Universalien insgesamt auf die singulären Erscheinungen zurückführte. Seit Parmenides und Platon hatte die Philosophie immer von den Wirkungen zurückgeschlossen auf irgendwelche zugrundeliegenden Ursachen und Gründe und hatte dann im Umkehrschluß die einzelne Existenz aus den so ermittelten Urgründen abgeleitet. Sie hatte einen letzten, selbst nicht mehr begründeten Grund angesetzt, den sie das unbewegte und unveränderliche Sein (Parmenides), die Idee des Guten (Platon), den unbewegten Beweger (Aristoteles) oder schlicht Substanz oder Wesen nannte. Im Ausgang von diesem letzten Grund hatte sie sodann ein gestaffeltes System der Wirk- und Zweckursachen entworfen, in dem alles seinen Ort haben sollte und folglich auf-

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gehoben und geborgen war. Jedes Seiende war eingebunden in die große kosmische und/oder göttliche Ordnung und empfing seine Bedeutung, seinen Stellenwert und seinen Sinn aus ihr. Die Theologen nannten den letzten Grund der Dinge Gott. Die empirischen Erscheinungen wurden von ihm abgeleitet. Sie wurden als Äußerungen oder Symbolisierungen des göttlichen Geistes oder Willens und damit als Träger eines hinter ihnen verborgenen Sinnes betrachtet. Dem nominalistischen Kritiker aber, der von der Nichtexistenz der Universalien im außermentalen Bereich und von der Individualität und Singularität alles Seienden überzeugt war, mußte das ganze metaphysische Unternehmen folglich als ein grandioser Fehlschluß, als Circulus vitiosus, erscheinen. Welchen Ausweg, welche Alternativen konnte man finden? Um fernerhin nicht mehr auf übersinnliche Prinzipien rekurrieren zu müssen, verzichtete die neuzeitliche Philosophie gänzlich auf Spekulationen über die prima causa und konzentrierte sich auf die Ermittlung und Analyse der causae secundae. Als solche „zweite Ursachen“ fand sie die Gesetze der Natur, der Mathematik und der Logik. Die Natur- und Geisteswissenschaftler erklärten einen Sachverhalt künftig, indem sie ihn aus natürlichen und/oder logisch-mathematischen Gesetzen deduzierten bzw. auf solche Gesetze reduzierten. Die Frage nach dem Ursprung, der Reichweite und der Geltung dieser „Gesetzmäßigkeiten“ spaltete jedoch die Philosophen in zwei unterschiedliche Strömungen, die gewöhnlich idealtypisch unter den Allgemeinbegriffen Empirismus und Rationalismus zusammengefaßt und voneinander abgesetzt werden.647 Diese brachten schließlich materialistische und idealistische Seitentriebe hervor, die sich im 18. und 19. Jahrhundert heftig befehdeten und noch im 20. ihre Anhänger fanden. Dadurch wurde die Problematik auf ein anderes Terrain geführt. Neue Antworten auf die alten Fragen wurden gefunden, die haltbarer und tragfähiger als die alten schienen. Diese Entwicklung kann aber erst im nächsten Kapitel betrachtet werden, das sich mit der Lösung der aufgestauten theoretischen und praktischen Probleme und mit der Bewältigung der spätmittelalterlichen Krise beschäftigt (s. u., S. 648 ff.). Den Grund für die Inangriffnahme der gnoseologischen und epistemologischen Aufgaben hatte jedoch der Universalienstreit gelegt, der die Philosophen für die Fragen der Erkenntnistheorie sensibilisierte und ihnen dadurch Anstöße für weitere Reflexionen gab. Er war mit dem im 14. Jahrhundert erreichten Stand noch längst nicht am Ende, sondern sollte in verwandelter Gestalt noch weitere Jahrhunderte andauern und die Logiker und Wissenschaftstheoretiker bis heute beschäftigen. Zwar war der Universalienrealismus mit der nominalistischen 647 Vgl. etwa G. Gawlick (Hg.), Empirismus; R. Specht (Hg.), Rationalismus; Löcherbach, Vorlesungszyklus; W. Röd (Hg.), Geschichte der Philosophie. Bd. VII–X. München 1978–89 (alle mit umfassenden Literaturhinweisen). Als mittelalterlicher Vorläufer des Empirismus kann Nikolaus von Autrecourt (y nach 1350) betrachtet werden. Siehe dazu Flasch (Hg.), Mittelalter, S. 481 ff.; ders., Das philosophische Denken, S. 466 ff.

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Kritik Ockhams im Prinzip erledigt, doch fand er immer wieder neue Verteidiger, die ihm eine Resurrektion ermöglichten. Sein letztes großes Aufbäumen erlebte er in der Philosophie des späteren Hegel, deren ganzes Anliegen sich dahin resümiert, den nominalistischen Angriff abzuwehren und den Begriffsrealismus wiederaufzurichten.648 Ihm hielt der junge Marx seine oben zitierten nominalistischen Einsichten entgegen, während sein Freund Friedrich Engels mit seinem Spätwerk Dialektik der Natur wieder einen Universalienrealismus konzipierte und die alte, pränominalistische Metaphysik erneuerte, die schließlich bei Wladimir Iljitsch Lenin einen naiven Abbildrealismus provozierte.649 dd) Konziliarismus und Reichsreform als Ausweg aus der Krise? Die Infragestellung der seitherigen Gewißheiten durch die nominalistische Kritik am Universalienrealismus löste an den Universitäten eine produktive Verunsicherung aus. Auf der einen Seite formierte sich die Front derjenigen, die den Nominalismus abzuwehren versuchten, auf der anderen entstand eine Suchbewegung nach neuen Ausgangspunkten und Fundamenten. Was konnte man wissen? Was durfte man hoffen? Was sollte man tun? – Daß man den Sinnen nicht trauen konnte, galt seit langem als abgemacht. Daß der feste Glaube an den dreieinigen Gott allein zur Lösung der religiös-politischen Probleme führen würde, war spätestens seit der Aristoteles-Rezeption zweifelhaft geworden und auf der Basis des von Ockham entwickelten voluntaristischen Gottesbegriffs völlig ausgeschlossen. Er bedurfte des philosophischen Wissens zumindest als Ergänzung. Doch nun sollte auch die auf Abstraktion, auf Analyse und Synthese, Induktion und Deduktion basierende Tätigkeit des Verstandes keine gesicherten Erkenntnisse mehr bringen. Der griechische Bazillus nagte am christlichen Weltbild und zersetzte es. Es gab keine unproblematischen Anknüpfungspunkte mehr. Die Überlieferung hatte ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Die Gottes- und Naturerkenntnis erschien als eine rein geistige Tätigkeit, die es nicht mit realen Dingen, sondern mit intramentalen Entitäten zu tun hatte. Die „ansichseiende“ Wirklichkeit blieb, wie Immanuel Kant den Sachverhalt später formulierte, dem menschlichen Verstand unzugänglich, der seine eigene, ideelle, d. h. bloß subjektive Ordnung in die Welt der Erscheinungen bringt und das Erfahrungsmaterial mit Hilfe der ihm eigenen Verstandesbegriffe sortiert, ohne zu wissen, ob und wie diese theoretischen Erklärungen mit der „Außenwelt“ zusammenstimmen. Wie hätte man auf dieser Grundlage weiter philosophieren sollen? Die neuzeitlichen Lösungen des Empirismus und Rationalismus waren noch nicht gefunden, wenngleich es spät-

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Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. HW 5 u. 6; ders., Enzyklopädie. Vgl. F. Engels, Dialektik der Natur. In: MEW 20, 305–568; W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Dazu D. Löcherbach, Erkenntnisgeschichtliche Kritik an Lenins Abbildtheorie; ders., Vorlesungszyklus. Bd. 4. 649

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mittelalterliche Vorläufer beider gab.650 Um dem drohenden Sinnvakuum zu entgehen, führten die Anhänger des Universalienrealismus erbitterte Abwehrgefechte gegen den Nominalismus. Doch ließen sich die einmal gewonnenen Einsichten auch diesmal nicht mehr aus der Welt schaffen oder unterdrücken. Der Universalienstreit verknüpfte sich im späten 14. und im 15. Jahrhundert mit den religiös-politischen Kontroversen, die sich um die Lösung der aufgestauten Probleme (Friede und Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Eindämmung des Fehdewesens, Schlichtung der Herrschaftskonflikte, Kirchen- und Reichsreform usw.) bemühten. Die sich weiter verschärfenden Kontroverspositionen mußten aber nicht zwangsläufig zu spezifischen politischen Optionen führen. Radikale Nominalisten (wie Ockham selbst) konnten Anhänger des Reiches und Fürsprecher der – auf den rechten Pfad der christlichen Tugend zurückgelenkten – Papstkirche und einer erneuerten Frömmigkeit sein. Verteidiger des Universalienrealismus (wie John Wyclif) konnten dagegen zu radikalen Kritikern der innerkirchlichen Hierarchie und zum Ausgangspunkt von antipapistischen Reformbestrebungen werden. Schließlich konnten Nominalisten (wie Pierre d’Ailly und Jean Gerson) zu Triebkräften der Kirchenreform und zu Protagonisten des (von Ockham mit Skepsis betrachteten) Konziliarismus werden, der den Papst einem Generalkonzil unterordnen wollte. Die jeweilige Stellungnahme in den gnoseologischen und ontologischen Fragen ließ demnach Raum für die widersprüchlichsten politischen Positionen. Während sich die Gelehrten auch weiterhin über die extramentale Existenz der Universalien stritten, hatten die Machthaber und Regenten des Abendlandes mit ganz anderen Schwierigkeiten zu ringen. Ihnen ging es um die Sicherung und Erweiterung ihrer Herrschaftssphäre, die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt, die Erlangung von Souveränität nach innen wie nach außen. Die westlichen Monarchien und die Städte konsolidierten sich, die Staatsbildung schritt voran. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation hingegen bemühte sich Karl IV. (1346–78) um den Ausbau seiner Macht und um die Festigung seiner königliche Stellung.651 Er gründete 1348 in Prag die erste Universität auf deutschem Reichsgebiet und ließ sich 1355 auf seinem ersten Italienzug in Rom zum Kaiser krönen. 1365 erhielt er – als letzter römisch-deutscher König – die Krone von Burgund, konnte folglich die drei Regna noch einmal vereinen. 1376 wurde sein Sohn Wenzel (1378– 1400, y 1419) nach den Regelungen der Goldenen Bulle zum römischen König 650 Vgl. Flasch, Das philosophische Denken, Kap. 32: Roger Bacon, S. 348 ff.; Kap. 41: „Apriorismus in London – Empirismus in Paris: Thomas Bradwardine und Nicolaus von Autrecourt“, S. 459 ff.; ders. (Hg.), Mittelalter, S. 481 ff. (zu Nicolaus von Autrecourt). 651 Zu Karl IV. und seinen Kämpfen vgl. die oben, S. 566, Anm. 606, genannte Literatur. Zum Aufstieg und zur Konsolidierung Böhmens vgl. auch H. Koller, Das Reich, S. 413 ff.; F. Sˇmahel, Die böhmischen Länder.

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gewählt. Da sich die Kurfürsten die Wahl teuer bezahlen ließen, mußten die Reichsstädte dafür bluten. Sie schlossen sich deshalb zu Städtebünden gegen den König und die Fürsten zusammen. Karl IV. wollte ein Großslawisches Reich errichten. Sein Sohn Sigismund erhielt 1378 Brandenburg, Wenzel Böhmen (1373), Schlesien und die deutsche Krone (1378). Die Hoffnung auf Einheit erwies sich jedoch als frommer Wunsch. Gegen die Willkürherrschaft Wenzels formierte sich der Widerstand des böhmischen Hochadels, der die Unterstützung der Kirche fand und 1394 in den offenen Aufstand überging. Auch in den weiteren Reichsteilen wuchs die Ablehnung des neuen Königs. Sowohl seine Wähler als auch die anderen Mächtigen waren enttäuscht und bezichtigten Wenzel der Untätigkeit und Unfähigkeit. Als „der Faule“ verschrien, wurde er 1399 von vier rheinischen Kurfürsten abgesetzt, die aus ihrem Kreis Ruprecht von der Pfalz (1400–10) zum neuen König wählten.652 Dieser bemühte sich zwar redlich, doch gelang es auch ihm nicht, das gesunkene Ansehen der Krone wieder zu heben. Nach seinem Tod (1410) kam es zu einer neuerlichen Doppelwahl. Karls zweiter Sohn Sigismund (1410–37), seit 1387 König von Ungarn, konnte sich jedoch gegen seinen Vetter Jobst von Mähren (y 1411) durchsetzen und wurde schließlich im ganzen Reich anerkannt und 1433 zum Kaiser gekrönt. Er wurde zum Promotor der Kirchen- und Reichsreform und bemühte sich, die alte Welt durch ihre Neuordnung zu retten.653 Doch blieben seine Anstrengungen vergeblich. Bei seinem Tod (1437) hinterließ er das Reich im politischen Chaos. Seine Nachfolger mußten das Reformwerk weiterführen. Die Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts waren die letzten verzweifelten Versuche, das Ende des Mittelalters und den Übergang in die Neue Zeit hinauszuzögern. In Frankreich war 1328 der letzte Kapetinger gestorben. Nach dem Tod Karls IV., des Schönen (1322–28), ging die Regentschaft auf Philipp VI. (1328–50) über, den ersten König aus dem Haus Valois. Da ihm Eduard III. von England (1327–1377) den Anspruch auf den Thron streitig machte und selbst nach der französischen Krone strebte, begann der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich, der – mit Unterbrechungen – von 1337 bis 1453 dauerte. Durch ihn wurde in beiden Ländern ein Nationalbewußtsein erzeugt und die Machtkonzentration gefördert. Die Könige begannen, ihre geistlichen Untertanen ohne päpstliche Zustimmung zu besteuern und ihren Einfluß bei der Besetzung der kirchlichen Ämter zu stärken. Eduard III. ordnete 1351 per Gesetz die bischöfliche Gerichtsbarkeit der königlichen unter und bestimmte, daß der Papst in England keine Geistlichen mehr ernennen und keine Pfründen mehr verleihen darf. 652

Vgl. etwa H. Thomas, Deutsche Geschichte, S. 341 ff. Vgl. dazu Baethgen, Schisma und Konzilszeit; Boockmann, Stauferzeit, S. 280 ff.; F. Eyck, Religion and Politics; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 49 ff., 114 ff.; J. Macek u. a. (Hg.), Sigismund von Luxemburg; Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 43 ff. 653

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In Frankreich gelang es dem Königtum, die Krondomäne durch Einbeziehung der alten Lehensfürstentümer auszuweiten und 1418 mit den „gallikanischen Freiheiten“ die weitgehende Selbstregierung der Kirche unter königlicher Prärogative durchzusetzen. Sie wurde mit der „Pragmatischen Sanktion“ von 1438 zementiert. Zugleich wurde die politische Entscheidungsgewalt weiter konzentriert und die Verwaltung mit Hilfe geschulter Beamter intensiviert. Der Hundertjährige Krieg wurde folglich zum Katalysator der weiteren Staatenbildung. „Die Quintessenz dieses längsten Krieges der europäischen Geschichte“, so resümiert Hellmut Diwald, „war eine Konzentration, das heißt in politischem Sinn: eine Nationalisierung beider Staaten. Jeanne d’Arc, diese überwältigende Personifikation eines jungen Nationalbewußtseins, hat Frankreich den Weg zum national und geographisch fest umrissenen Staat geöffnet. Dieser Weg führte über Burgund. England trennte sich weitgehend von den französischen Einflüssen, kappte die wesentlichsten geistig-kulturellen Verbindungen und profilierte dadurch ebenfalls sein Nationalitätsbewußtsein. Erst seit dem Hundertjährigen Krieg entwickelten sich englische Kultur und englisches Geistesleben mit eigenen Gewicht“.654 Nicht nur das Reich, auch die Kirche lag im Argen und mußte an Haupt und Gliedern reformiert werden. Durch den Hundertjährigen Krieg war die Kurie in Avignon in arge Bedrängnis geraten. Sie hatte eine üppige Hofhaltung und Verwaltung gepflegt und mit ihrem Finanzsystem die Christenheit stark belastet. Infolge der fast ausnahmslos auf französischem Boden geführten Kämpfe war ihre materielle Existenz bedroht. Darüber hinaus waren ihre Besitztümer in Italien gefährdet. 1347 hatte in Rom ein Umsturz stattgefunden (populo minuto). Er war von Cola di Rienzo (1313–54) angeführt worden, der sich an altrömischen Verfassungsprinzipien orientierte, die Senatoren aus Rom vertrieb und – als selbsternannter Volkstribun – die Erneuerung des weltumspannenden Kaisertums erstrebte. Zwar wurde er bereits im Dezember des selben Jahres gestürzt, doch blieben die Verhältnisse in Italien ungesichert.655 Papst Innocenz VI. (1352–62) erwog deshalb die Rückkehr nach Rom, mußte diese Pläne aber aufgeben. Erst Gregor XI. (1370–78) machte Ernst mit dem Vorhaben und verließ 1376 Avignon. Er starb jedoch im März 1378. Zu seinem Nachfolger wählten am 8. April in Rom sechzehn Kardinäle Urban VI. (1378–89). Da dieser die römische Bevölkerung und seine Wähler enttäuschte, wählten sie am 20. September des selben Jahres unter französischem Einfluß Clemens VII. (1378–94) zum Gegenpapst, der von 1381 an wieder in Avignon residierte. Beide Päpste sammelten Obödienzen und führten dadurch das Große abendländische Schisma (1378–1417) herauf, 654 Diwald, Anspruch auf Mündigkeit, S. 25 ff.; hier: S. 35 (Literatur: S. 436 f.). Vgl. ferner R. Folz, Frankreich, S. 742 ff.; M. Maurer, Kleine Geschichte Englands, S. 64 ff. (Literatur: S. 479 f.); H. Müller, Frankreich im Spätmittelalter, bes. S. 64, 75 ff., 97 ff. (Literatur: S. 120 ff.); Romano/Tenenti, Die Grundlegung, S. 43 ff., 69 ff. 655 Zur Lage und den Kämpfen in Italien siehe auch A. Haverkamp, Italien im hohen und späten Mittelalter, S. 652 ff.

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das zum entscheidenden Einschnitt der spätmittelalterlichen Entwicklung wurde.656 Künftig war die Christenheit nicht nur in Ost und West geschieden, auch im Abendland gab es zwei konkurrierende christliche Kirchen. Der Leib Christi hatte nun zwei Häupter, die Aktivitäten der Glieder blieben unkoordiniert. Urban VI. wurde unterstützt von Wenzel, den rheinischen Kurfürsten und dem Großteil der deutschen Landesherren, Clemens VII. hingegen von Frankreich, Schottland, den Iberischen Königreichen und Neapel. Die katastrophalen Folgen der Spaltung hat wiederum Hellmut Diwald recht plastisch beschrieben:657 „Das Schisma löste einen verheerenden Werte- und Autoritätsverfall aus, eine äußerst heftige Erschütterung der Fundamente, Zersetzung der Kirchenorganisation und Stürme von Gewissensnöten.“ „So wurde die Spaltung zum Geschwür, das bis in die letzte Zelle wucherte, unaufhaltsam. Sie durchsetzte Abertausende von Bistümern, Pfarreien, Orden, Klöster, Städte, Familien. Sie zerriß Europa.“ – „Am Ende des 14. Jahrhunderts aber waren die Kaiser und Könige Europas nicht mehr Repräsentanten eines Universalen, sondern Vertreter national-partikularer Interessen.“

Das abendländische Schisma und der Hundertjährige Krieg begünstigten die Entstehung und Verbreitung häretischer Anschauungen und neuer religiöser Protestbewegungen.658 Der englische Theologe John Wyclif (y 1384), Pfarrer aus Lutterworth, wandte sich gegen die triumphierende Machtkirche und hielt ihr das urchristliche Armutsideal entgegen.659 Er kämpfte gegen den überragenden Einfluß des Nominalismus und vertrat einen extremen Universalienrealismus. Zugleich entwickelte er einen radikalen Biblizismus, der nur die Heilige Schrift als Autorität gelten ließ. Dadurch wurde er zur Ablehnung der Ohrenbeichte, des Ablaßhandels und des Heiligenkults geführt. Unter Berufung auf Augustin betonte Wyclif, „daß jeder Christ in seinem Nächsten den Repräsentanten der allgemeinen Menschennatur und nicht den Vermittler privaten Vorteils sehen sollte. Das ,Gemeinwohl‘ müsse überall über die Privatinteressen gestellt werden“.660 Die Kirche sah er „als eschatologisch-heilsgeschichtliche Größe, die als Einheit hier und jetzt für menschliche Erkenntnis unzugänglich ist“.661 Kein Mensch habe im Stand der Sünde ein Recht auf dominium, auf Eigentum oder Herrschaft. Da nur die Heilige Schrift kanonische Geltung besaß, wollte Wyclif sie allen

656 Vgl. Y. M.-J. Congar, Die Lehre von der Kirche; M. Seidlmayer, Die Anfänge des Großen Abendländischen Schismas; W. Ullmann, The Origins of the Great Schism. 657 Diwald, Anspruch auf Mündigkeit, S. 23. Vgl. auch Leuschner, Deutschland, S. 201 ff.; Romano/Tenenti, Die Grundlegung, S. 52 ff. 658 Vgl. dazu G. Leff, Heresy in the later Middle Ages. 659 Vgl. J. Wyclif, Tractatus de universalibus. Hgg. v. Ivan J. Mueller. Oxford 1985 [Kap. XV dt. in: Wöhler (Hg.), Texte. Bd. 2, 200–212]. Dazu A. Hudson/M. Wilks (Hg.), From Ockham to Wyclif. 660 Wöhler (1994), S. 287. 661 Miethke, Politische Theorien, S. 127. Vgl. auch L. J. Daly, The Political Theory of John Wyclif; A. Kenny, Wyclif; ders. (Hg.), Wyclif in his Times; Troeltsch, Die Soziallehren I, S. 393 ff.

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Menschen zugänglich machen und legte 1380 die erste englische Bibelübersetzung vor. Hierarchie, Zölibat, Ablaßhandel und Abendmahlslehre wurden verworfen, eine natürliche Kirche in christlicher Armut und Demut erstrebt. Zwar wurde Wyclifs Lehre 1377 durch Gregor XI. und erneut 1382 auf einer Synode in London verurteilt, doch wurde sie von den Lollarden unter das Volk gebracht, die als Laienprediger den Haß auf die Mächtigen, auf den weltlichen wie geistlichen Adel, schürten. Sie wurden deshalb alsbald verfolgt und ausgerottet. Wyclifs Anschauungen lebten aber weiter in seinem Schüler Jan Hus (ca. 1369/70– 1415) aus Prag, der für ihre Verwirklichung und für die Trennung der tschechischen Kirche von Avignon und Rom sowie vom deutschen Königtum kämpfte. Er fiel letztlich der Konzilsbewegung zum Opfer, wurde als Häretiker verurteilt und 1415 bei lebendigem Leibe verbrannt. Dadurch wurde er aber zum Märtyrer der hussitischen Revolution in Böhmen,662 die zur Separierung vom und zum Widerstand gegen das Reich führte und die langjährigen „Hussitenkriege“ (1419–36) provozierte. Infolge der Kirchenspaltung und der allgemeinen Unsicherheit verbreitete sich im ausgehenden Mittelalter das Gefühl, daß die alten Verhältnisse unbefriedigend und Veränderungen nicht zu umgehen waren. Vor allem die alten universalen Mächte Kirche und Reich mußten reformiert werden. Die innerkirchlichen Erneuerungsbestrebungen kulminierten in der großen Konzilsbewegung (1409–49), die imperialen im Bemühen um eine Reichsreform (1410–1555). Beide verknüpften sich miteinander, da nicht nur die innere Organisation der Ekklesia, das Sacerdotium, sondern auch ihr äußerer Schutzschirm, das Imperium, in Unordnung geraten war. Die Uneinigkeit der Kirchenleitung und des Priestertums und die Unfähigkeit des Königtums, das Reich im Innern zu befrieden und vor äußeren Feinden (Türken) zu schützen, riefen im 15. Jahrhundert kritische Stimmen und eine Reformbewegung hervor, deren Ziel die Wiederherstellung der guten alten Ordnung war. Konziliarismus und Reichsreform waren die letzten Versuche, die alte Ideenwelt zu retten und die Krise des christlichen Reiches mit mittelalterlichen Instrumenten zu bewältigen.663 Imperium und Sacerdotium sollten noch einmal in Einklang gebracht werden durch eine radikale Reform. Diese Bemühungen blieben zwar letzten Endes erfolglos, doch führten sie zu einem letzten Aufbäumen der alten Kräfte. Sie wurden zugleich zu Vorbildern der künftigen Politik. Die Suche nach neuen Formen der Entscheidungsfindung und der Gemeinschaftsbildung konnte die werdenden Staaten und die Politische Philoso662 Zur hussitischen Reformbewegung vgl. F. Sˇmahel, Reformatio und Receptio (weitere Literatur: S. 256, Anm. 1). Zu Hus und den Hussiten mit ihren unterschiedlichen Richtungen oder „Sekten“ (gemäßigte Utraquisten/Kalixtiner versus radikale Taboriten) vgl. auch Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 79 f., 154 f. (weitere Literatur: S. 202 f.); Troeltsch, Die Soziallehren I, S. 401 ff. 663 Zum Begriff der Reichsreform, zu ihrem „konservierenden“ und „mittelalterlichen“ Charakter, zu ihrem Zusammenhang mit der Kirchenreform sowie zu ihren einzelnen Etappen vgl. H. Angermeier, Die Reichsreform.

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phie inspirieren. Der Konziliarismus wurde zum Anreger des sich (vor allem in England) etablierenden Parlamentarismus,664 die Reichsreform schuf die Voraussetzungen für den künftigen deutschen Föderalismus. Der Konzilsgedanke hatte eine lange Tradition.665 Bereits im Frühchristentum waren die wichtigsten strittigen Glaubensfragen auf ökumenischen Konzilien entschieden worden (s. o., S. 328 ff.). Die Kanonistik hatte deshalb seit ihren Anfängen neben Begründungen der päpstlichen Machtfülle (plenitudo potestatis) Erwägungen über die Möglichkeiten der Mitwirkung oder gar der Überordnung des Generalkonzils über den Papst angestellt. Das Decretum Gratiani (ca. 1140) hatte allerdings festgelegt, daß sich Universalsynoden auf die Autorität des Papstes stützen müssen. Diese Bestimmung wurde aufgegriffen von Huguccio (y 1210), dessen Kommentar in die einflußreiche Glossa ordinaria des Johannes Teutonicus (ca. 1180–1252) einging. Johannes selbst sprach dem Konzil in Glaubensfragen die Superiorität über den Papst zu (Glosse zu D. 19 c. 9). Wilhelm Duranti der Jüngere (y 1330) verband in seinem auf dem Konzil von Vienne (1311–12) eingereichten Tractatus maior und – in abgeschwächter Form – im Tractatus minor (ca. 1311) die Konzils- mit der Reformidee. Die Konzilien sollten den Zustand der früheren Kirche wiederherstellen. Ohne ein ökumenisches Konzil, das alle zehn Jahre zu veranstalten sei, dürfe der Papst weder neues Recht setzen noch geltendes Recht ändern.666 Die von Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham entwickelten Konzilsideen wurden bereits oben erörtert (S. 536 ff.). Nach Marsilius (y ca. 1342) haben weder der Papst noch die Kardinäle noch die Priester das letzte Wort in Glaubensfragen, sondern ein allgemeines Konzil aller Christen oder ihres „bedeutenderen Teiles“ (valentior pars). Zwar hat Ockham (y 1347) das Mehrheitsprinzip in Frage gestellt und dem Konzil aufgrund seiner Irrtumsfähigkeit die Fülle der Befehlsgewalt abgesprochen, doch plädierte auch er – gemäß der Formel quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet – dafür, strittige Glaubensfragen durch die Versammlung von Geistlichen und Laien entscheiden zu lassen. Dennoch mußten sich die Konziliaristen gegen seine Lehre behaupten, wenn sie die Unfehlbarkeit des Generalkonzils begründen wollten. Sein Nominalismus und seine Kritik am Repräsentationsgedanken stellten ihnen schwer zu 664 Vgl. A. J. Black, Monarchy and Community; ders., Council and Commune. Zweifel an der Vorbildfunktion des Konziliarismus für den Parlamentarismus äußert Hofmann, Repräsentation, S. 321 ff. 665 Zur Entstehung und Entwicklung des Konziliarismus vgl. R. Bäumer (Hg.), Die Entwicklung des Konziliarismus (weitere Literatur: S. 393 ff.); H.-J. Becker, Die Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil; J. Haller, Papsttum und Kirchenreform; H. Jedin, Kleine Konziliengeschichte; G. Kreuzer, Die konziliare Idee (weitere Literatur: S. 464 f.); H. J. Sieben, Die Konzilsidee; ders., Traktate und Theorien; Tierney, Foundations; Walther, Imperiales Königtum, S. 186 ff. 666 Vgl. dazu auch C. Fasolt, Die Rezeption der Traktate des Wilhelm Durant d. J. im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Miethke (Hg.), Das Publikum, 61–80.

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überwindende Hindernisse in den Weg und ermöglichten ihren papalen Gegnern den Rekurs auf seine Werke. Die konziliaren Bestrebungen erhielten durch das abendländische Schisma natürlich mächtigen Auftrieb. Da zwei Päpste mit starken Obödienzen unversöhnlich gegeneinanderstanden, konnte nur eine Synode die Wiedervereinigung zustande bringen. Doch wer sollte sie ins Leben rufen? Wer sollte daran partizipieren? Wie konnte man die fehlende Autorität des Papstes kompensieren? Die ersten Anstöße zur Einberufung eines allgemeinen Konzils gingen von der Pariser Universität aus.667 Bereits zu Beginn des Schismas verfaßte der aus Hessen stammende Bologneser doctor decretorum Konrad von Gelnhausen (y 1390) auf Veranlassung König Karls V. von Frankreich zwei Schriften, die für die Beseitigung der Kirchenspaltung durch ein Generalkonzil plädierten. In der Epistola brevis (1379) forderte er alle Könige, Prälaten, Fürsten, Doktoren und Magister der Heiligen Schrift zu einer gemeinsamen Aktion auf, um ein Konzil zustande zu bringen. In der Epistola Concordiae (1380) entwickelte er sodann eine scholastisch begründete Widerstandslehre, wonach die Bürger verpflichtet sind, sich einem ungerechten und unnützen Herrscher zu widersetzen.668 Sein Landsmann und Kollege Heinrich von Langenstein (y 1397), der seit 1376 in Paris Theologie lehrte, schrieb in der Epistola pacis (1379) einen Dialog zwischen je einem Anhänger Urbans VI. und Clemens’ VII. Da juristisch keine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit beider Wahlen möglich war, rekurrierte der Vertreter Urbans auf den seinerzeit verbreiteten aristotelischen Gedanken der Epikie, der Billigkeit. Da bei einer zweifelhaften Papstwahl keine höhere Appellationsinstanz existierte, konnte nur ein Generalkonzil zu einer Lösung der Streitfrage und zu einer verbindlichen Entscheidung führen. Diese Position untermauerte Heinrich in der Epistola concilii pacis (1381), die eine ausführlichere Begründung der Konzilsidee lieferte und die verschiedenen Möglichkeiten ihrer Realisierung diskutierte. Zwei Jahrzehnte später erneuerten die Pariser Professoren Pierre d’Ailly (1350– 1420) und Jean Gerson (1363–1429) sowie Franciscus Zabarella (1339–1417) und Dietrich von Niem (ca. 1340–1418) die Forderung nach einem allgemeinen Konzil und einer prinzipiellen Reform der Kirche.669 Nicht der Papst, sondern die Gesamtheit aller Gläubigen sollte den Willen Gottes repräsentieren. 667 Vgl. zum folgenden Kreuzer, Die konziliare Idee, S. 451 ff.; J. N. Figgis, Studies, S. 31 ff.; Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 75 ff. (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung: S. 152 ff.; Literatur: S. 198 ff.; Nachträge: S. 259); J. Hollnsteiner, Die konziliare Idee (1940). In: R. Bäumer (Hg.), Die Entwicklung des Konziliarismus, 59–74; J. T. McNeill, Die Bedeutung des Konziliarismus (1970). Ebd., 82–100; Hofmann, Repräsentation, S. 248 ff. 668 Vgl. dazu auch A. Kneer, Die „Epistola Concordiae“ (1893). In: Bäumer (Hg.), Die Entwicklung des Konziliarismus, 103–112. 669 Pierre d’Ailly, Tractatus de materia concilii generalis (1402); Petrus de Alliaco, Tractatus de Ecclesiae; J. Gerson, De auctoritate consilii (1409); F. Zabarella, De schismate; Dietrich von Nieheim (Niem), Dialog über Union und Reform der Kirche.

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Die praktische Umsetzung und Erprobung der von den Konziliaristen entwikkelten Ideen erfolgte in den großen Konzilien.670 Den Anfang machte die Synode von Pisa (März bis August 1409), die von den römischen und avignonesischen Kardinälen einberufen wurde, die sich von den beiden Päpsten losgesagt hatten. Sie tagte ohne päpstliche und königliche Autorität. Sowohl der römische Papst Gregor XII. (1406–15) als auch sein avignonesischer Kontrahent Benedikt XIII. (1394–1423) wurden abgesetzt, an ihrer Stelle wurde Alexander V. (y 1410) gewählt. Da die beiden anderen aber nicht zurücktraten, hatte die abendländische Kirche nunmehr drei Päpste und der Leib Christi drei Häupter. Zum Nachfolger Alexanders wurde Johannes XXIII. (1410–15) bestimmt. War das Konzil von Pisa ein „ständisches“ gewesen (Versammlung der Kardinäle, Episkopalismus), so war das in Konstanz (1414–18) tatsächlich „konziliaristisch“.671 33 Kardinäle, 900 Bischöfe und 2000 Doktoren versammelten sich unter dem Vorsitz König Sigismunds. Es wurde abgestimmt nach Nationen: italienisch, französisch, deutsch, englisch und (seit 1416) spanisch. Im Dekret Haec sancta vom 6. April 1415 erklärte sich das Konzil zum Repräsentanten der katholischen Kirche.672 Es habe – als Nachfolger der Apostel – seine Gewalt unmittelbar von Christus und sei dazu berechtigt, über die Päpste zu entscheiden, die ihm in Fragen des Glaubens Gehorsam schulden und bei der Beseitigung des Schismas und der Reform der Kirche mitzuwirken haben. Drei Hauptgegenstände beschäftigten die Versammlung: 1. die Kirchenspaltung (causa unionis), 2. die „böhmische Häresie“ (causa fidei) und 3. die Kirchenreform (causa reformationis). Johannes XXIII. und Benedikt XIII. wurden abgesetzt, Gregor XII. trat zurück. Als neuer Papst wurde Martin V. (1417–31) gewählt. Damit war die Einheit der abendländischen Christenheit wiederhergestellt. Die beiden anderen Verhandlungsgegenstände hingegen, die Glaubens- und die Reformfrage, blieben offen. Letztere wurde vertagt. Jan Hus und Hieronymus von Prag, denen Sigismund freies Geleit zugesichert hatte, wurden als Ketzer verurteilt und 1415 bei lebendigem Leibe verbrannt. Dadurch wurde die hussitische Revolution in Böhmen ausgelöst, die zu den langwierigen und aufreibenden „Hussitenkriegen“ führte. Folge war die Verwüstung weiter Reichsteile, die Untergrabung der Stellung des Königs in Böhmen und der Verfall seines Ansehens im Reich.

670

Vgl. die Quellensammlung von K. J. v. Hefele/H. Leclercq, Histoire des conciles. Vgl. R. Bäumer (Hg.), Das Konstanzer Konzil; W. Brandmüller, Das Konzil von Konstanz; A. Franzen/W. Müller (Hg.), Das Konzil von Konstanz; T. Mayer (Hg.), Die Welt zur Zeit des Konstanzer Konzils. 672 Vgl. H. Jedin, Bischöfliches Konzil oder Kirchenparlament? (1965). In: Bäumer (Hg.), Die Entwicklung des Konziliarismus, 198–228; bes. S. 203 ff.; Dom Paul de Vooght, Der Konziliarismus auf dem Konzil von Konstanz (1962). Ebd., 177–197. 671

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V. Der Drang zum Staat

Gemäß den Festlegungen des Dekrets Frequens vom 9. Oktober 1417,673 wonach regelmäßige Generalkonzilien im Abstand von fünf, sieben und danach von zehn Jahren abzuhalten seien, lud Martin V. nach fünf Jahren widerwillig zu einer Synode nach Pavia (1423/24), die er alsbald nach Siena verlegte und wegen des schwachen Besuchs wieder auflöste. Sieben Jahre später berief er das Konzil von Basel (1431–37/49) ein, das von seinem Nachfolger Eugen IV. (1431–47) am 23. Juli 1431 eröffnet wurde.674 Aufgrund der geringen Teilnehmerzahl erklärte der neue Papst am 18. Dezember des selben Jahres die Synode für aufgelöst, provozierte damit aber den Widerstand der Versammelten, zu denen auch die Mehrzahl der Kardinäle hielt. Dadurch wurde der Konflikt zwischen beiden Instanzen geschürt, der fast zwanzig Jahre andauern sollte.675 Es folgte eine zweijährige Auseinandersetzung zwischen Eugen IV. und den Baslern, die Ende 1433 den Papst zum Einlenken und zur Rücknahme der Auflösungsbulle veranlaßte. In der Zwischenzeit hatte sich das Konzil einen eigenen Beamtenapparat zugelegt und sich als oberste Gerichts- und Verwaltungsinstanz der Kirche profiliert. Es entschied Prozesse und vergab Pfründen, beanspruchte folglich die Letztentscheidung in kirchlichen Angelegenheiten. Der zweite große Konflikt mit Eugen IV. brach 1437 aus, als ein Vereinigungskonzil mit den Griechen vorbereitet wurde, das die Trennung der Ost- und Westkirche überwinden sollte. Der Papst verlegte den Tagungsort gegen die Mehrheitsentscheidung nach Ferrara und im Januar 1439 nach Florenz. Dadurch wurde der Machtkampf auf seinen Höhepunkt getrieben. Am 16. Mai 1439 verkündete das Konzil seine Überordnung über den Papst, der sich jedoch widersetzte und deshalb im Juni des selben Jahres für abgesetzt erklärt wurde. An seiner Stelle wurde Herzog Amadeus VIII. von Savoyen zum Papst gewählt, der sich Felix V. (1439–49) nannte. Doch blieben alle diese Aktivitäten letztlich ohne durchschlagende Wirkung, da es Eugen IV. gelang, die mächtigsten weltlichen Herrscher des Abendlandes auf seine Seite zu ziehen. Frankreich, das 1438 mit der Pragmatischen Sanktion endgültig die Freiheit der gallikanischen Kirche durchgesetzt hatte, und das Deutsche Reich, das nach dem Tod Kaiser Sigismunds (1437) und dem Aussterben der Luxemburger zusammen mit Ungarn und Böhmen an die Habsburger Albrecht II. (1438–39) und seinen Nachfolger Friedrich III. (1440–93) übergegangen war,676 gaben ihre Neutralität im Streit zwi-

673 Vgl. Jedin, Bischöfliches Konzil oder Kirchenparlament?, S. 219 ff.; Vooght, Der Konziliarismus auf dem Konzil von Konstanz, S. 184 ff. 674 Vgl. dazu J. Helmrath, Das Basler Konzil; W. Krämer, Konsens und Rezeption; E. Meuthen, Das Basler Konzil. 675 Vgl. zum folgenden die prägnante Skizze von G. Kreuzer, Die konziliare Idee, S. 460. Eine gründliche Analyse unternahm J. W. Stieber, Pope Eugenius IV. 676 Vgl. Boockmann, Stauferzeit, S. 293 f., 326 ff.; P.-J. Heinig (Hg.), Kaiser Friedrich III.; G. Hödl, Albrecht II.; Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 47 ff.; Moraw, Von offener Verfassung, S. 353 ff.

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schen Papst und Konzil auf und votierten für Nikolaus V. (1447–55) als Nachfolger Eugens IV. Nachdem ihm der Papst weitreichende Sonderrechte für die Kirchen seiner Stammlande zugesichert hatte, verzichtete Friedrich III. 1448 im Wiener Konkordat auf Reformen in Kirche und Reich. Felix V. trat 1449 zurück, das Konzil, das 1447 von Basel nach Lausanne umgezogen war, löste sich nach der Wahl des römischen Papstes selbst auf. Der Papalismus hatte den Konziliarismus bezwungen. Felix V. war der letzte Gegenpapst in der Geschichte. Künftig wurde in der römisch-katholischen Kirche wieder ein streng monarchisches Regiment praktiziert. Die Reform war gescheitert. Die aufgestauten Probleme blieben ungelöst. 1459 erklärte Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), der einst selbst ein engagierter Konziliarist gewesen war, die konziliare Theorie für ketzerisch und proklamierte in der Bulle Execrabilis endgültig den Vorrang des Pontifex maximus über das Konzil. Während im römisch-deutschen Reich die Reformforderungen aufgrund der anhaltenden fürstlichen Machtkämpfe, der allgemeinen Rechtsunsicherheit und der äußeren Bedrohungen weiterlebten, kam die Konzilsbewegung zum Erliegen. Doch waren die konziliaren Ideen nicht widerlegt, sondern bloß überrollt und unterdrückt worden. Hatte der Papalismus auch theoretisch gesiegt? Ist das „absolutistische“ Regiment dem „parlamentarischen“ überlegen? Arbeitet ein hierarchisches System mit einer Spitze effizienter als eine Versammlung mit öffentlich-diskursiver Willensbildung? Welche Argumente wurden von den Kontrahenten vorgetragen? Beide Seiten, Konziliaristen wie Papalisten, hatten wichtige Begründungszusammenhänge entwickelt, die auch künftig die Auseinandersetzung über die Ordnung der Kirche zu inspirieren vermochten.677 Zwar ging es den Beteiligten vor allem um die Lösung der momentanen Krise, doch ließen sich die dabei gewonnenen theoretischen Einsichten davon abstrahieren und verallgemeinern. Nicht nur im Falle eines Schismas und einer zweifelhaften Papstwahl, sondern prinzipiell war zu klären, wer das letzte Wort in Glaubensangelegenheiten und Fragen des Kirchenrechts haben sollte. An die Stelle des hierarchisch-papalistischen Systems konnte eine kollektive Willensbildung treten. Die Versammlung der geistlichen Würdenträger und der gelehrten Laien konnte künftig gemeinsam mit dem Papst und der Kurie den göttlichen Willen ergründen und das kanonische Recht spezifizieren. Herrschaft konnte durch Politik ersetzt werden. So weit gingen die Forderungen seinerzeit zwar noch nicht. Angestrebt wurde die Beilegung des Konflikts zwischen Rom und Avignon und die Wiederherstellung einer einheitlichen Kirchenleitung durch das Zusammenspiel von Papst und Konzil. Dennoch konnten die in den Kontroversen um die Leitung der Kirchenorganisation gewonnenen Einsichten später auch auf die Landeskirchen übertragen und von den einzelnen Provinzen und Gemeinden übernommen werden. Der Konziliarismus 677 Zur Nachwirkung des Konziliarismus vgl. R. Bäumer, Nachwirkungen des konziliaren Gedankens.

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konnte zum Orientierungsmuster für die einfachen Gläubigen werden und die protestantische Forderung nach individueller und kollektiver Bibelexegese anstelle der dogmatischen Unterrichtung anregen. Sowohl die konziliaren als auch die papalistischen Ideen waren vor allem nach dem zweiten Konflikt zwischen Eugen IV. und den Baslern durch weit ausgreifende theoretische Begründungen neu fundiert worden.678 Anlässe zu grundsätzlichen theoretischen Reflexionen über die Unfehlbarkeit nicht nur des Papstes, sondern auch eines Generalkonzils gab es jedoch zuhauf. Bereits die Verurteilung und anschließende Verbrennung von Jan Hus (1415) durch die Konstanzer Synode machte deutlich, daß auch eine diskursive Willensbildung nicht zwingend zu „richtigen“, zu vernünftigen und angemessenen Entscheidungen führen muß. Auch die Mehrheit kann sich irren, wie Wilhelm von Ockham längst dargelegt hatte. Entscheidend ist, daß die Prämissen der Urteilsbildung stimmen. Doch gerade über ihre Festlegung tobte der Streit. Sollte die Kurie, d. h. der Papst im Verbund mit den Kardinälen, oder sollte die Versammlung der Bischöfe und Priester oder gar aller Gläubigen über die Fundamente des rechten Glaubens und des Wissens entscheiden? Und wer sollte die Angemessenheit und Richtigkeit ihrer Entscheidung verbürgen? Auf der Basis der nominalistischen Kritik des Universalienrealismus ließ sich diese Frage nur noch dezisionistisch oder diskurstheoretisch, d. h. durch Mehrheitsbeschlüsse nach vorangegangener Diskussion, klären. Nachdem alle ontologischen und theologischen Gewißheiten zweifelhaft geworden oder weggebrochen waren, blieb als einzige Instanz die Dezision des Oberhauptes oder aber der Diskurs aller Beteiligten, der durch Konsens und/oder Kompromisse die verbindlichen Entscheidungen herbeizuführen hatte. Besser als eine normativ aus dem Nichts geborene Verfügung eines einzelnen war allemal eine kollektive Meinungs- und Willensbildung durch den Austausch und die Abwägung der einander widersprechenden Argumente. Von dieser modernen Auffassung (deliberative Politik) waren die damaligen Kontrahenten jedoch noch weit entfernt. Die Grundlage ihrer Überlegungen blieb der durch die alten Autoritäten abgestützte christliche Glaube, der allerdings erneut zum Streitobjekt geworden war und keine einfache Lösung erlaubte. Er erwies sich selbst als entscheidendes Hemmnis für den Durchbruch rationaler Überlegungen. Im Gegensatz zu Marsilius von Padua begriffen weder Papst noch Konzil den irdischen Frieden als das vorrangige Ziel des menschlichen Lebens, dem auch die Religion zu dienen hat. Noch galt die Reinheit der Lehre als ein höheres Gut, für das die Menschheit Opfer zu bringen hatte. Die nominalistische Attacke auf den überkommenen Dogmatismus wurde abgewehrt, Ockhams Nominalismus gar für die Kritik und Zurückweisung der politischen Alternativen instrumentalisiert. 678 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 227 ff. und Miethke, Politische Theorien, S. 129 ff.

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Wie ließ sich die Superiorität des Konzils begründen? Es gab unterschiedliche theoretische Traditionen und Anknüpfungspunkte. Die alten Autoritäten, Bibel und Kirchenväter, hielten – wie stets – ein Reservoir von Argumenten für beide Seiten bereit. Auch das kanonische Recht bot Handreichungen für die gegensätzlichen Optionen und ließ Raum für alternative Organisationsstrukturen. Die Verfechter der päpstlichen Suprematie konnten sich auf die Hierarchien-Lehre des Pseudo-Dionysius Areopagita und auf die älteren Konzeptionen von Aegidius Romanus, Jakob von Viterbo, Heinrich von Cremona, Augustinus Triumphus u. a. stützen, die den Vorrang des Papstes nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch gegenüber dem Kaiser und den anderen weltlichen Herrschern begründet hatten. Ihre Widersacher hingegen rekurrierten auf Aristoteles und übertrugen den kanonistischen Korporationsgedanken und das Repräsentationsprinzip auf die Kirche.679 Nicht die päpstliche Zwangs- und Allgewalt verkörpert demnach die Einheit der Ekklesia, sondern der Zusammenschluß aller Gläubigen sichert sie. Während nach der traditionellen, vom Pseudo-Areopagiten begründeten Lehre ein Gemeinwesen erst durch die Hierarchie entsteht, die ihm Form und Gestalt vermittelt, wurde nun umgekehrt die Ordnung der Kirche als Produkt der Gemeinschaft und der Versammlungen verstanden. Die Leitideen der Konziliaristen waren Repräsentation, Rezeption und Konsens. Nicht mehr (nur) das Göttliche auf Erden, sondern (auch) die Gesamtheit der Gläubigen wird von einer Synode repräsentiert. Durch sie wird die Einheit der Kirche überhaupt erst wirklich. Das corpus mysticum verwandelt sich dadurch in ein corpus politicum, das mit den Mitteln der aristotelischen Politik begriffen und nach ihren Prinzipien gestaltet werden kann. Dieser zufolge wäre es allerdings gleichgültig, ob einer, einige oder alle die Kirche „repräsentieren“, Hauptsache ist, daß sie das (himmlische und irdische) Wohl aller im Auge behalten und nicht egoistische Interessen verfolgen. Doch hatte bereits Aristoteles dargetan, daß es besser ist, wenn die Leitung eines Gemeinwesens in die Hände mehrerer vernünftiger und tugendhafter Männer gelegt wird, vorausgesetzt, daß diese nicht gegen das Gesetz verstoßen (Politik III, 15., 1286 a 25 ff.). Noch besser aber sei es, wenn alle am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt sind und sich in der Rolle als Regierte und Regenten abwechseln (I, 12., 1259 b 4 ff.; VI, 2., 1317 b 1). Diese „demokratische“ Organisation wurde natürlich schon durch die schiere Größe der Kirche verhindert und war allenfalls in den einzelnen Gemeinden praktikabel, stand aber auch dort seinerzeit noch nicht auf dem Programm. Sie wurde ferner durch die unüberwindbare Kluft zwischen Klerikern und Laien vereitelt.

679 Vgl. dazu Y. M.-J. Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustin bis zum Abendländischen Schisma, S. 141 ff.; ders., Die Lehre von der Kirche. Vom Abendländischen Schisma bis zur Gegenwart, S. 3 ff.; H. J. Sieben, Die Konzilsidee, S. 346 ff.; Walther, Imperiales Königtum, S. 186 ff., 230 ff.; ders., Die Gegner Ockhams, S. 113 ff.

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V. Der Drang zum Staat

Als beste Form erschien folglich wieder einmal eine „Mischverfassung“, die alle drei reinen Formen miteinander verknüpft und durcheinander relativiert und balanciert. Der Papst verkörpert demnach das monarchische, die Synode das aristokratische Prinzip, das sich durch den Gedanken der Delegation „demokratisch“ legitimiert. Aufgabe der Kirchenleitung sollte nicht mehr die Identitätsrepräsentation durch Herrschaft und Institutionen sein, sondern die Realrepräsentation durch Delegation.680 Dafür wäre allerdings erforderlich gewesen, daß die in Basel Versammelten von den Mitgliedern ihrer Kirchengemeinden tatsächlich gewählt wurden. Auch von dieser modernen Auffassung waren die damaligen Protagonisten noch weit entfernt. Doch auch ohne ein ausdrückliches Mandat konnten sie sich als Repräsentanten verstehen, die den Willen Gottes und der Gläubigen vertreten und vollstrecken. Als beste Form der Entscheidungsfindung erschien folglich die diskursive Ermittlung und Prüfung der Wahrheit von Aussagen und der Richtigkeit von Normen durch das Zusammenspiel von Synode und Papst, wobei letzterer der Kontrolle durch die erstere untersteht. Die Unfehlbarkeit des Konzils wurde von Johannes von Segovia (y 1456) anläßlich der Wiederaufnahmeverhandlungen mit den Hussiten sowie des zweiten Konflikts zwischen Eugen IV. und den Baslern begründet.681 Böhmische Hussiten hatten im Zusammenhang mit der Abendmahlslehre die Irrtumsfähigkeit der Kirche betont. Ihnen trat Johannes entgegen, der in seinem Tractatus decem avisamentorum die Irrtumsfreiheit der Kirche zu beweisen suchte. Darüber hinaus wollte er den weltlichen Herrschern demonstrieren, daß der Konziliarismus keinen Umsturz, sondern nichts anderes beabsichtige, als die Rückkehr aus päpstlicher Tyrannei in eine wahrhafte Monarchie.682 Er wolle lediglich jene konstitutionellen Prinzipien auf die Kirche anwenden, die in den meisten Königreichen längst anerkannt waren, nämlich die Herrschaft des Gesetzes und die regelmäßige Beratung über die Angelegenheiten des Gemeinwesens. Ähnlich wie Nikolaus von Kues wollte auch Segovia die Konzilsidee auf die weltlichen Reiche applizieren. Wie Nicolaus von Tudeschi, der Panormitanus,683 stilisierte er das Universitas-Modell zum allgemeinen politischen Prinzip, das im weltlichen wie geistlichen Bereich gelten soll. Als Universitates galten im römischen Recht rechtlich anerkannte Gruppen, wie Universitäten, Zünfte, Städte, Dom- und Klosterkapitel usw. Entsprechend sollten alle Verbände innerhalb der Königreiche und der Kirche organisiert werden. In diesem Kontext begründete 680 Vgl. W. Krämer, Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen um die wahre Repräsentation auf dem Basler Konzil. 681 Vgl. A. J. Black, Council and Commune, S. 131 ff.; U. Fromherz, Johannes von Segovia; W. Krämer, Konsens und Rezeption, S. 234 ff.; Walther, Die Gegner Ockhams, S. 113 ff. 682 Vgl. A. J. Black, Politische Grundgedanken des Konziliarismus, S. 308 ff. 683 Vgl. K. W. Nörr, Kirche und Konzil bei Nicolaus von Tudeschi (Panormitanus); Black, Politische Grundgedanken, S. 298 ff.

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Johannes die Superiorität des Konzils.684 Der Kastilier sprach dem Universalkonzil Unfehlbarkeit zu, „da es sich als Institution auf die Trias von Repräsentation, Konsens und Rezeption begründe“ (S. 114). Es repräsentiere die Gesamtkirche zweifach: „theologisch als mystischer Leib Christi, rechtlich als korporative universitas, also als persona repraesentativa“ (ebd.). Zwar vernachlässigte Segovia durch die einseitige Betonung des Fiktionscharakters der persona repraesentativa die Momente des Konsenses und der Rezeption, doch gelangte er mit Hilfe der aristotelischen Politik zum Konzept einer Mischverfassung, das er auf dem Kongreß der deutschen Reichsfürsten am 28. März 1441 in Mainz ausführlich vortrug. Er suchte zu zeigen, „daß an der Spitze der Kirche kein absoluter Monarch, sondern nur ein rector, minister, procurator oder iudex stehen könne, der die universitas der Kirche im Regelfall als persona publica, nicht als reale Einzelpersönlichkeit repräsentiere . . . Das Generalkonzil freilich repräsentiere die Kirche besser, da bei ihr Repräsentationsidentität vorliege“ (S. 116). Welche Argumente hatten die Papalisten entgegenzusetzen? Während sich die Konziliaristen auf Aristoteles und die kanonistische Korporationslehre stützten, bezogen sich ihre papalistischen Gegner auf den Pseudo-Dionysius Areopagita und zusehends auf Ockhams Nominalismus und seine Kritik am Repräsentationsgedanken, um dem Konzil die Unfehlbarkeit zu bestreiten und die Suprematie des Papstes zu postulieren. So begründete Juan de Torquemada (1388–1468) in seiner Summa de ecclesia (1449) die päpstliche Vollgewalt, indem er den Nominalismus gegen die juristische Korporationslehre der Basler wandte.685 Die Universitas sei ein bloßer Name, der durch eine unhaltbare fictio iuris mit einer Seele und mit eigener Wesenheit ausgestattet wird. Die von den Kanonisten und den Kommentatoren des römischen Rechts entwickelte Idee der Korporation erschien – wie schon bei Ockham – nicht nur als Fiktion, sondern als eine unzulässige Hypostasierung bloßer Verstandesbegriffe. Eine Menge von Individuen bilde aus sich heraus noch keine Gemeinschaft, sie werde erst durch Herrschaft zu einem Verband integriert. Nicht die Interaktion von Freien und Gleichen (wie in der Polis), sondern die Über- und Unterordnung (wie im Oikos) konstituiere Kollektive. Auch die weltliche Gewalt gründe, wie der Pseudo-Areopagit dargelegt hatte, in der Autorität, nicht umgekehrt. Nicht die Gemeinschaft gibt sich eine Ordnung, sondern sie existiert nur dank der Hierarchie. Wie der Fürst als Gesetzgeber aus dem von ihm befehligten Kollektiv herausgehoben ist, so steht auch der apostolische Stuhl über der Kirche, die nur durch ihn Struktur und Einheit gewinnt. Nur er kann die von Gott verliehene Binde- und Lösegewalt hinsichtlich

684 Vgl. zum folgenden Walther, Die Gegner Ockhams, S. 114 ff. Seitenzahlen im folgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 685 Vgl. Black, Politische Grundgedanken, S. 312 ff.; Eberhard, Herrscher und Stände, S. 477; Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 228 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 135 f.

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der Sünde ausüben. Allein im Falle der Häresie und eines Schismas untersteht der vicarius Christi einem Konzil. Korporations- und Hierarchielehre standen sich folglich unversöhnlich gegenüber. Beide Seiten hatten triftige Argumente für die Begründung ihrer Option. Auf der Basis des mittelalterlichen Denkens war der Konflikt theoretisch nicht zu lösen. Praktisch durchgesetzt hatte sich mit der Auflösung des Basler Konzils der Papalismus. Der Konziliarismus war gescheitert. Allerdings forderte der Sieg des Papsttum seinen Tribut. Er hatte Folgen, die von keiner Seite intendiert waren und den Interessen sowohl der Konziliaristen als auch ihrer papalistischen Gegner zuwiderliefen. Die Kirche hatte infolge der inneren Machtkämpfe ihre Gestalt entscheidend geändert. Sie hatte sich aufgegliedert in regionale Kirchen, die relative Selbständigkeit erlangten. Die Folgen dieses Umbruchs hat Josef Engel sehr plastisch beschrieben, dessen prägnante Zusammenfassung hier kurz referiert und zitiert werden soll:686 „Anerkannt von allen Gliedern, war die anstaltliche Kirche seit den Reformkonzilien in viele neue Kirchengebilde parzelliert worden, die mit dem staatlichen Bereich zusammenfielen . . . Die Kirche war auf dem Wege, sich entsprechend den Machtbereichen der weltlichen Mächte regional neu zu formieren“ (S. 30). Während des zweiten Konflikts mit den Baslern hatte Eugen IV. damit begonnen, die Regenten der sich formierenden Staaten für sich zu gewinnen, indem er ihnen Sonderrechte in den Kirchen ihres Herrschaftsbereichs einräumte. Er sah sich genötigt, 1437 England und 1445 dem neuen deutschen König Friedrich III. erhebliche Zugeständnisse zu machen, um ihre Unterstützung gegen seine Widersacher zu erlangen. Zwar verweigerte er dem französischen König – wie der deutschen Fürstenopposition – diese Privilegien und jegliche Eingriffsrechte, doch erkämpfte sich die französische Kirche ihre Eigenständigkeit gegen den Papst. Schon ihr Vorgehen in Bourges, das 1438 zum Erlaß der Pragmatischen Sanktion durch Karl VII. (1422–61) führte, zeigte, „daß das Papsttum in der Gefahr stand, zwischen den Sonderinteressen einzelner Kirchen und Mächte und dem Konziliarismus aufgerieben und politisch zum Spielball der in der Kirche zusammengefaßten Gruppen zu werden“ (ebd.). Um diesem Dilemma zu entgehen, sah sich das kirchliche Oberhaupt zu Kompromissen veranlaßt, die letzten Endes die überkommenen Strukturen sprengten und die mittelalterlichen Vorstellungen zerstörten, indem sie dem „nationalen“ Partikularismus zum Sieg über den traditionellen Universalismus verhalfen. „Der Preis einer möglichen Rettung des politischen Einflusses der Päpste bestand in der Hereinnahme der weltlichen Macht in die Anstaltskirche als einer neuen, vom Papsttum und der bestehenden Kirchenorganisation rechtlich unabhängigen 686 Vgl. zum folgenden J. Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, S. 27 ff. Seitenzahlen in den nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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Größe“ (S. 31). Ergebnis der zahlreichen Konkordate, die in der Folgezeit geschlossen wurden,687 war die Entstehung von Landeskirchen und „die Etablierung des Staates als kirchlichen Rechtsträgers“ (ebd.). Die eigentlichen Gewinner des – gescheiterten – Reformprozesses waren demnach diejenigen Inhaber von Herrschaftsgewalten, „die mit dem Papsttum paktiert und dabei durch ihre Konkordate geholfen hatten, den Papst wieder als unbestrittenes Haupt zu etablieren“ (S. 31 f.). Die weltumspannende Ekklesia war damit endgültig zu einer Fiktion geworden. Was sich seit langen Jahrhunderten angekündigt hatte, war nun tatsächlich eingetreten. Die westliche Kirche hatte aufgehört, als Einheit zu existieren. Nicht erst im Gefolge der Reformation, sondern bereits im 15. Jahrhundert war eine Parzellierung innerhalb der Christianitas erfolgt, die unwiderruflich war und den alten Traum von der universalen Macht als anachronistisch erscheinen ließ. Was sich seit langen Jahrhunderten angekündigt hatte, war nun zur unübersehbaren Realität geworden: „Die zumindest ihrem Selbstverständnis nach einheitliche Christenheit des hohen Mittelalters“, schreibt Engel, „hatte sich in eine Respublica christiana verwandelt, deren Gemeinsamkeit durch das Partnerschaftsverhältnis der Staaten mit dem Papsttum charakterisiert wurde“ (S. 33). „Mit der Parzellierung der lateinischen Kirche, die zugleich die Sanktionierung einer gesonderten ideellen und rechtlichen Entwicklung innerhalb der Staaten darstellte, war im Abendland lange vor der Glaubensspaltung des 16. Jh. eine tiefgreifende Umwandlung geschehen, die das Gesicht Europas vollständig verändert und neue Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung geschaffen hatte. Die entscheidende Voraussetzung für die gesamte Moderne, und dabei auch für die Reformation, ist schon im 15. Jh. gelegt worden“ (ebd.). „Die einheitliche Kirche, die reformiert werden sollte, gab es nicht mehr . . . Anerkannt durch die Kirche selbst, durch den Papst, waren die Regionalkirchen als dem Haupt gleichwertige und selbständige, aus eigenem Recht bestehende Gebilde konstituiert. Nicht erst die deutsche Reformation hat die einheitliche Kirche zerschlagen. Eine solche Kirche gab es vielmehr schon seit dem 15. Jh. nicht mehr“ (S. 35). Dadurch wurden zugleich die Grundlagen für die weitere Genealogie des Staates gelegt, der sich nun nicht nur aus dem Herrschaftsbereich des Kaisertums, sondern auch aus dem Klammergriff des Papsttums zu befreien begann. Zwar fanden die alten universalistischen Vorstellungen noch lange Zeit Anhänger, die energisch für sie stritten, doch war ein entscheidender Schritt zu ihrer Überwindung getan. Engel faßt diesen Sachverhalt wie folgt zusammen: „Dadurch, daß der Staat Einfluß auf das Kirchenregiment erlangt hatte, war die wichtigste Stufe auf dem Weg zum modernen Staat erklommen. Den Staat als völlig auto-

687 Zu den einzelnen Konkordaten zwischen den Päpsten mit den Königen von Frankreich (1472), Kastilien und Aragon (1482), Polen, Ungarn und den nordischen Reichen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl. J. Engel, S. 32 f.

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nomes Gebilde von eigener Gesetzlichkeit zu denken, war erst von dem Augenblick an möglich, wo ein ideeller und juristischer Superioritätsanspruch der Kirche nicht mehr zu rechtfertigen war. Mit der Kirche hatten die weltlichen Mächte das wichtigste Mittel in die Hand bekommen, um den inneren Herrschaftsausbau voranzutreiben und ihren eigenen Herrschaftsanspruch ideell zu untermauern“ (S. 38).

Diese Entwicklung wurde durch die Renaissance und den Bürgerhumanismus sowie durch die Reformation und die von ihr verfestigte und verschärfte Kirchenspaltung weiter forciert. Sie fand ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluß im Westfälischen Frieden von 1648, der den europäischen Staatsbildungskrieg beendete. Am Ende der konfessionellen Bürgerkriege, die im 16. und 17. Jahrhundert in blutigen Wellen über Europa hinwegschwappten, stand ein System von souveränen Staaten, die ihre Landeskirchen beherrschten, keinen Höheren über sich akzeptierten, sich als gleichberechtigte Partner anerkannten, die ihre Beziehungen in Krieg und Frieden rechtlich regelten. Bis diese neue Ordnung etabliert und im Bewußtsein der Menschen fest verankert war, mußte aber noch eine lange Zeit vergehen. Noch gab es zahlreiche Theologen, Juristen und Philosophen – neben den einfachen, nicht-gebildeten Menschen –, die an den alten universalistischen Vorstellungen vom Gottesreich festhielten und den begonnenen Emanzipationsprozeß aufzuhalten gedachten. Vor allem deutsche Dichter und Denker versuchten, das Auseinanderfallen der Kirche und die Verselbständigung der Staaten zu verhindern. Die einheitliche, weltumspannende Ekklesia sollte gerettet und beschützt werden durch das Reich, das dafür seinerseits an Haupt und Gliedern reformiert werden mußte. Da dem Imperium von seiten der Reichstheoretiker auch weiterhin die Rolle des Kirchenwächters (defensor ecclesiae) zugesprochen wurde, da aber das Kaisertum seinerzeit außerstande war, die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen, mußten Vorkehrungen getroffen werden, damit es seiner Aufgabe (wieder) gerecht, damit die alte Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit wenigstens einigermaßen erfüllt und das drohende Weltende noch einmal hinausgezögert werden konnte. Reich und Kaisertum waren deshalb unmittelbar in die religiös-politischen Auseinandersetzungen zwischen Konziliarismus und Papalismus involviert. Von Anfang an verknüpften sich im römisch-deutschen Reich die innerkirchlichen Reformbestrebungen mit der Bemühung um eine Reichsreform.688 Nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Sphäre der weltlichen Herrschaft hatten sich die Verfechter der Monarchie gegen oligarchische und/oder republikanische Bestrebungen zu behaupten. Die Rolle des Antipoden, die im Kirchenkampf das Konzil gegen den Papst spielte, übernahmen hier die Stände und 688 Vgl. Angermeier, Die Reichsreform; ders., Begriff und Inhalt der Reichsreform; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 49 ff. (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung: S. 114 ff.; Literatur: S. 141 ff.); Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 42 ff.; E. Molitor, Die Reichsreformbestrebungen; Töpfer, Die Reichsreformvorschläge des Nikolaus von Kues, S. 617 f.

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Städte. Auch hier gab es die Alternative zwischen monarchischer Herrschaft und Korporatismus. Korporations- und Hierarchienlehre standen sich folglich auch hier unversöhnlich gegenüber. Auch hinsichtlich der profanen Ordnung ließ sich streiten, ob das Gemeinwesen der Ursprungsort der Herrschaft ist, die von den Bürgern bzw. ihrem „bedeutenderen Teil“ eingesetzt und kontrolliert wird, oder ob umgekehrt die Hierarchie originär und Ursache der Vergesellschaftung ist. Die erste Position wurde von den Aristotelikern vertreten und hatte in der von Marsilius von Padua entwickelten, mittlerweile als „häretisch“ verurteilten Theorie der Volkssouveränität ihre „klassische“ Begründung gefunden. Die zweite war die traditionelle Auffassung des Mittelalters, wonach Gott selbst die Herrschaftsordnung eingerichtet und – vermittels seiner Stellvertreter – die Regenten inthronisiert und mit der Aufsicht über ihre Untertanen beauftragt hatte. In beiden Fällen blieb jedoch unentschieden, wer der wahre, von Gott eingesetzte Repräsentant der Gemeinschaft bzw. der Wächter über Recht und Ordnung ist. Während in Frankreich, England und Spanien starke Zentralgewalten die partikularen Kräfte unterwarfen oder an sich banden, hatten sich im römisch-deutschen Reich die Fürsten zu Mitregenten aufgeschwungen, die dem König seine Hoheitsrechte streitig machten und durch ihre Machtkämpfe und Fehden für allgemeine Rechtsunsicherheit sorgten. Die Kurfürsten ließen sich die Königswahl stets üppig vergelten und schwächten durch die von ihnen jeweils erpreßten Zugeständnisse, die seit 1519 offiziell in Wahlkapitulationen fixiert wurden, die Stellung des gekrönten Oberhauptes. Hinzu kam das städtische Verlangen nach Unabhängigkeit und Mitbestimmung in den Reichsangelegenheiten. Das Verhältnis dieser antagonistischen Kräfte mußte endlich geklärt und geregelt werden. Durch die Machtakkumulation der Fürsten war auch das Gerichtswesen in Unordnung geraten. Die königliche Gerichtshoheit wurde außer Kraft gesetzt, die andauernden Fehden bedrohten die Existenz auch der einfachen Menschen. Da das Königtum nicht in der Lage war, den inneren Frieden zu sichern und das Fehdewesen einzudämmen, suchte man nach neuen, flankierenden Ordnungsformen, die seine Stellung stärken konnten.689 Bereits 1410 beklagte Dietrich von Niem den Verfall der Reichsgewalt und forderte 1415 das Konstanzer Konzil auf, Maßnahmen zu einer Reichsreform zu treffen. Der König sollte die Kirchen-, das Konzil die Reichsreform vorantreiben. Der alte Ordo sollte wiederhergestellt werden.690 1417 schlug Job Vener dem Konzil vor, das Reich in Wahlbezirke einzuteilen, für die von den einzelnen Reichsständen jeweils ein kaiserlicher Rat gewählt werden sollte.691 Ein anonymer Autor fügte einem in Konstanz eingereichten Reformtraktat ein Avisamentum pro reformatione sacri imperii bei, in dem er 689 Vgl. die Zusammenstellung und Interpretation der wichtigsten Traktate bei Angermeier, Die Reichsreform, S. 84 ff. 690 Dietrich von Nieheim (Niem), Dialog über Union und Reform der Kirche. Dazu Heimpel, Dietrich von Niem, S. 163. 691 Vgl. H. Heimpel, Die Vener von Gmünd. Bd. 2, S. 830 ff.; Bd. 3, S. 1290 ff.

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sich für die Reform des Gerichtswesens im Reich einsetzte.692 Ähnlich argumentierten der Magdeburger Domherr Heinrich Toke in einem 1430 verfaßten Reformtraktat und der Bischof Johann Schele von Lübeck in einer für das Basler Konzil verfaßten Denkschrift zur Kirchenreform.693 Alle diese Traktate plädierten für die Festigung der Rechts- und Gerichtsordnung, um das überhandnehmende Fehdewesen der Mächtigen zu überwinden. Die anonyme Reformatio Sigismundi (ca. 1439)694 forderte darüber hinaus die radikale Entmachtung der geistlichen Würdenträger, deren Lehen zugunsten des niederen Adels und der Reichsstädte eingezogen werden sollten. Die Friedenssicherung sollte den Reichsstädten übertragen werden, die unter der Aufsicht von vier königlichen Vikaren Streitigkeiten zu schlichten und Gericht zu halten hatten. Ein allgemeiner Landfriede sollte geschlossen, die augenfälligen Mängel in der Rechtspflege sollten behoben, der Schutz vor äußeren Feinden sollte intensiviert werden. Die umfassendste und stringenteste Begründung der Reformidee entwickelte der damalige Protagonist des Basler Konziliarismus und spätere Verteidiger des Papalismus Nikolaus von Kues (1401–64)695 in seinem frühen Werk De concordantia catholica (1433/34).696 Er schlug vor, das Reich in zwölf oder mehr ständige Gerichts- und Verwaltungsbezirke aufzuteilen, in denen die einzelnen Stände jeweils aus ihren Reihen einen Kleriker, einen Adligen und einen Stadtbürger zum Kreisrichter wählen, die nach dem Mehrheitsprinzip verfahren und die höchste Gerichtsbarkeit ausüben sollten.697 Dieser Vorschlag wurde im dritten Buch der Concordantia catholica begründet, das sich mit dem Sacrum Impe692 Vgl. Acta concilii Constanciensis. Bd. 3. Hgg. v. Heinrich Finke. Münster 1926, S. 641 f. 693 Vgl. Töpfer, Die Reichsreformvorschläge des Nikolaus von Kues, S. 617 f. – mit Verweis auf P. Clausen, Heinrich Toke. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichs- und Kirchenreform in der Zeit des Basler Konzils. Diss. phil. Jena 1939; H. Loebel, Die Reformtraktate des Magdeburger Domherrn Heinrich Toke. Diss. phil. Göttingen 1949, S. 91 ff. (worin der gesamte Text des Traktats wiedergegeben ist); E. Molitor, Die Reichsreformbestrebungen des 15. Jahrhunderts bis zum Tode Kaiser Friedrichs III. (1921), S. 50 f., der auf einen späteren, 1442 verfaßten Traktat Tokes verweist, in dem erneut eine Reichsreform gefordert wird. Zu Johann von Schele vgl. Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel. Hgg. v. J. Haller u. a. 8 Bde. Basel 1896–1936 (Nachdruck Nendeln 1971). Bd. 8 (1936), S. 127 ff. 694 Vgl. Reformation Kaiser Siegmunds. Hgg. v. Heinrich Koller (MGH. Staatsschriften des späteren Mittelalters. Bd. 6). Stuttgart 1964. Dazu H. Boockmann, Zu den Wirkungen der „Reform Kaiser Siegmunds“; L. G. z. Dohna, Reformatio Sigismundi; H. Koller, Untersuchungen zur Reformatio Sigismundi; M. Straube, Die Reformatio Sigismundi; T. Struve, Reform oder Revolution? 695 Zur Konzilstheorie und zur politischen Philosophie des Cusaners vgl. Dempf, Sacrum Imperium, S. 557 ff.; Hofmann, Repräsentation, S. 286 ff.; Meuthen, Nikolaus von Kues, S. 36 ff.; Miethke, Politische Theorien, S. 136 ff.; G. Heinz-Mohr, Unitas Christiana; A. Posch, Die „concordantia catholica“ des Nikolaus von Cusa; P. E. Sigmund, Nicholas of Cusa; Walther, Imperiales Königtum, S. 230 ff.; M. Watanabe, The political Ideas of Nicholas of Cusa. 696 Vgl. Nikolaus von Kues, De concordantia catholica libri tres (1433/34).

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rium als dem „Körper“, der äußeren Hülle und dem Schutzschirm der Ekklesia beschäftigte. Das erste hatte den „Geist“ der Ekklesia, die spirituelle Einheit der Christenheit untersucht, während das zweite das Priestertum als die „Seele“, als innere Ordnungsform derselben thematisierte. Die pneumatische Einheit der Christianitas wird organisiert durch das Sacerdotium (Papst und Generalkonzil) und beschützt durch das Reich (Kaiser und Stände). Körper und Seele müssen in Ordnung gebracht werden, damit der Geist den ihm angemessenen Rahmen findet. Während im Sacerdotium Papst und Konzil gemeinsam die Ordnung stiften, sind im Imperium Kaiser und Reichsstände die agierenden und interagierenden Instanzen, die gemeinsam das allgemeine Wohl realisieren. Nikolaus beschwört die Eintracht (concordia) und den Konsens aller Akteure (consensus omnium) und prangert den Egoismus der Fürsten und der hohen Geistlichkeit als Ursache der allgemeinen Misere an. Sollen Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen herrschen, so muß jeder einzelne die seinem Stand entsprechenden Pflichten erfüllen und sich um die Verwirklichung des Gemeinwohls bemühen. Als Grund – und nicht als Folge – der geistlichen wie weltlichen Herrschaft wird die Gemeinschaft betrachtet, die ein gestuftes System der Repräsentation aus sich hervorbringt. Diese erfolgt in beiden Sphären von unten nach oben und nicht umgekehrt. Als Vertreter des Konziliarismus war Nikolaus der Überzeugung, daß alle Herrschaft in Kirche und Reich aus dem Willen der Gesamtheit resultiert und stets auf ihn rückbezogen bleibt, folglich auch dem allgemeinen Wohlergehen verpflichtet ist. Durch die Verknüpfung der kanonistischen Korporations- und Repräsentationslehre mit dem Neuplatonismus gelangte der Cusaner noch einmal zu den alten Ideen des harmonischen Miteinanders von Imperium und Sacerdotium und der Einheit der Christianitas in der Vielheit der Völkerschaften. Dafür mußte er sowohl den Aristotelismus als auch den Ockhamschen Nominalismus beiseite schieben. Dieses Vorgehen rechtfertigte er in seinem wenige Jahre später verfaßten philosophischen Werk De docta ignorantia (1440), in dem er das „belehrte Nichtwissen“ bzw. die „wissende Ignoranz“ zum theoretischen Grundprinzip erklärte.698 Der Weg dahin führe von den Sinnen über den Verstand (ratio) zur Vernunft (intellectus), die sich zu jener Einheit erhebt, in der die Gegensätze in eins fallen (coincidentia oppositorum).699 Diese Einheit ist Gott, das Unbegreifliche, aus dem die Vielheit und die concordantialis harmonia emaniert. Das un-

697 Vgl. dazu auch Eberhard, Herrscher und Stände, S. 503 ff.; Heer, Zur Kontinuität des Reichsgedankens, S. 343 ff.; Töpfer, Die Reichsreformvorschläge des Nikolaus von Kues, S. 625 ff. 698 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit. 699 Vgl. dazu Flasch, Die Metaphysik des Einen; ders., Nikolaus von Kues: Die Idee der Koinzidenz; ders., Das philosophische Denken, S. 540 ff.; ders. (Hg.) Mittelalter, S. 500 ff.; Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 279 ff.; J. Stallmach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens.

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endliche Universum hat keinen Mittelpunkt und kann nicht rational erfaßt werden. Jede Religion spiegelt einen Teil der göttlichen Wahrheit. War Nikolaus zur Zeit der Abfassung der Concordantia Verfechter des Basler Konziliarismus, so kehrte er nach dem Scheitern der Konzilsbewegung zum Papalismus zurück.700 Auf dem Reichstag von Frankfurt im Juni 1442 machte er als Vertreter Eugens IV. gegen den Kardinal Nicolaus von Tudeschi (Panormitanus) geltend, daß die Basler Synode angesichts ihrer geschrumpften Teilnehmerzahl nicht länger die Gesamtkirche repräsentiere.701 Damit hatte er die Fronten gewechselt und seine alten Ideale verraten. Dieser Schwenk bedeutet aber nicht, daß der Cusanus seine Grundposition gänzlich geändert und alle seine früheren Auffassungen verworfen hätte. Entscheidend für ihn war, daß die Einheit der Ekklesia gewahrt blieb bzw. wiederhergestellt und nach innen wie nach außen geschützt wurde. Während er zunächst der heilsgeschichtlichen Idee vom drohenden Weltende anhing, suchte er später die Lösung im Konzept der Einheit in der Vielheit und des Zusammenfalls der Gegensätze. Sein religiös-politisches Grundanliegen blieb die Eintracht und der allgemeine Konsens, der in der Kirche wie im Reich und schließlich auch im Verhältnis beider zu erstreben war. Dieses maßgebliche Ziel verfolgten schon seine Überlegungen in der frühen Reformschrift.702 Der Cusaner formulierte zunächst – in den Kapiteln 25 bis 31 des III. Buchs der Concordantia – eine einschneidende Kritik an den Mißständen im Reich, um sodann – in den Kapiteln 32 bis 40 – seine Vorschläge zur Reichsreform zu unterbreiten. Ähnlich wie zuvor Dietrich von Niem sah auch er die einstigen Verhältnisse unter Otto I. als vorbildlich an und plädierte deshalb für ihre Wiederherstellung.703 Er strebte demnach in die von ihm verklärte glorreiche Vergangenheit zurück, der er Verfassungsinstitutionen zusprach, die seinerzeit gar nicht existierten.704 So nahm er an, niemand habe damals ungestraft gegen das Gesetz verstoßen können, da jährlich Fürstenversammlungen stattgefunden hätten, auf denen auch die Mächtigsten für eventuelle Vergehen verurteilt wurden. Herzöge und Grafen seien rechenschaftspflichtige Beamte gewesen, bevor ihre Ämter erblich wurden, um die Amtsinhaber vor ihrem eigenen Egoismus und der Verschleuderung ihrer potentiellen Erbmasse zu schützen. Der Kaiser habe aus öffentlichen Mitteln ein Söldnerheer unterhalten und sei von den Fürsten gefürchtet und als Friedensstifter geachtet worden. Zwar sah Nikolaus in der egoistischen 700 Zu diesem Wechsel und seinen Konsequenzen für die Repräsentationslehre des Cusaners vgl. bes. Hofmann, Repräsentation, S. 313 ff. (und die dort erörterte Literatur). 701 Vgl. Walther, Die Gegner Ockhams, S. 115; Meuthen, Nikolaus von Kues, S. 76. 702 Zur Konsenstheorie vgl. bes. De concordantia catholica. II. Buch, Kap. 8–15. 703 De concordantia catholica III. Buch, Kap. 26, S. 426 f. 704 Vgl. zum folgenden Töpfer, Die Reichsreformvorschläge des Nikolaus von Kues, S. 625 ff. (mit den einschlägigen Textnachweisen aus der Concordantia Catholica).

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Machtpolitik der Fürsten die Hauptursache der desolaten Lage, doch wollte er das erbliche Fürstentum und die weltlichen Herrschaftsrechte der hohen Geistlichkeit nicht beseitigen. Vielmehr appellierte er an den Gemeinsinn und forderte die Mächtigen auf, sich um das allgemeine Wohl zu kümmern. Die Ständeordnung sollte nicht überwunden, sondern stabilisiert und vor dem Verfall geschützt werden.705 Zum Schutz vor inneren wie äußeren Feinden empfahl Nikolaus die Aufstellung eines im Dienst des Reiches stehenden Söldnerheeres, wie es nach seiner Meinung schon in der Zeit der Ottonen existiert hatte. Zur Stärkung der Zentralgewalt forderte er die (Wieder-)Einführung von jährlich stattfindenden Reichsversammlungen, die in Frankfurt tagen und für die Vereinheitlichung des Rechts und die Unterdrückung der Fehden zu sorgen haben. Die Reform sollte nicht vom Kaiser gegen die Fürsten und Städte durchgesetzt werden, sondern im einträchtigen Zusammenwirken mit ihnen. Allgemeinverbindliche Entscheidungen hat nicht der Kaiser herbeizuführen, sondern die Reichsversammlung, an der die sieben Kurfürsten, die 36 Richter der 12 Kreisgerichte sowie Delegierte aus den Bischofs- und den größeren Reichsstädten partizipieren. Ihre Aufgabe ist die Identitätsrepräsentation im Sinne der Corpus-Lehre. Die im Reichstag versammelten Stände bilden das corpus imperiale, der Kaiser ist das Haupt. Gemeinsam sichern sie den Frieden und sorgen für Gerechtigkeit. Damit hatte der Cusanus eine gleichförmige Regierung für Kirche und Reich konzipiert, die auf dem Zusammenwirken der beiden Spitzen mit ihren Gliedern basierte. Die Macht hätte nicht beim Papst- und Kaisertum gelegen, sondern im Konzil und in den jährlichen Reichsversammlungen, an denen die beiden Häupter jeweils tatkräftig mitwirken konnten. Grundlage der Herrschaftsordnung wäre der Konsens der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte gewesen, die ihre Konflikte künftig im geregelten Streit und nicht mehr in Fehden und Bürgerkriegen ausgetragen hätten. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob diese Vision als „zukunftsweisend“ oder eher als „konservativ“ zu bewerten ist. Der alte Streit, ob der Cusanus noch dem Mittelalter oder schon der Neuzeit angehört, muß hier nicht entschieden werden. Er verdeutlicht nur die Relativität und Fraglichkeit der von den Historikern konstatierten Zäsur. Wie die politische Entwicklung, so ging auch das Denken bruchlos in die „Neue Zeit“ ein. Wie schon oben in der Einleitung bemerkt wurde, bildet das Jahr 1500 keinen signifikanten Einschnitt. Die Unterscheidung von Mittelalter und Neuzeit dient allein als heuristisches Prinzip. Die Periode vom 13. bis zum 18. Jahrhundert ist durch Kontinuitäten und Diskontinuitäten charakterisiert, d. h. durch eine evolutionäre Entwicklung, die immer wieder spezifische Knotenpunkte erreichte. Wie jede Epoche, so war auch diese ambivalent, durch vorwärtstreibende und retardierende Momente geprägt. Dies gilt sowohl für 705 Vgl. auch Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 233 f.; Walther, Imperiales Königtum, S. 243 ff.

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die faktische Politik als auch für die theoretischen Reflexionen, die sie begleitet und stimuliert haben. Nicht nur als Philosoph, Mathematiker und Theologe, sondern auch als politischer Denker entwickelte Nikolaus von Kues gewisse „moderne“ Ideen. Seine politischen Vorstellungen blieben aber janusköpfig. Neben progressiven unterbreitete er auch rückwärtsweisende Vorschläge. Sein Konzept der religiös-politischen Einheit von Sacerdotium und Imperium blieb der mittelalterlichen Welt verhaftet und versuchte die Staatswerdung der europäischen Gesellschaft hinauszuzögern. Seine Hoffnung auf ein Mit- und Gegeneinander der unterschiedlichen Stände auf der Basis eines allgemeinen Konsenses hingegen erwies sich seinerzeit zwar als illusionär, wurde aber in der Folgezeit zu einer möglichen Form der Konfliktlösung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Diese konnte sich als praktikable Alternative zum entstehenden Etatismus erweisen. Nur dann, wenn man die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungsund herrschaftlichen Zwangsgewalt als einzig möglichen Ausweg aus der Malaise betrachtet und die politische Entwicklung in England, Frankreich, Spanien und Burgund zum Maßstab erhebt, an dem auch die Alternativen zu messen sind, müssen die damaligen Bemühungen um eine Kirchen- und Reichsreform als anachronistisch und regressiv erscheinen. Der geschichtsphilosophische Fortschrittsoptimismus ist aber mittlerweile verflogen und hat einer nüchternen Betrachtung Platz gemacht. Deshalb kann festgehalten werden, daß auf dem vom Cusanus gewiesenen Weg zwar „eine Umformung des Reiches zu einem der beginnenden kapitalistischen Entwicklung angepaßten Nationalstaat“ unmöglich war,706 daß aber diese Entwicklung auch nicht der einzig gangbare Weg aus der Krise des Spätmittelalters war. Da sich die deutschen Fürsten seit Anbeginn der königlichen Zentralgewalt widersetzten und sich im 15. Jahrhundert als die eigentlichen Repräsentanten des Reiches sahen, konnte eine Lösung der Probleme schwerlich ohne und gegen sie, sondern nur mit ihnen zusammen gefunden werden. Deshalb setzte der Cusanus seine Hoffnung auf regelmäßige Reichsversammlungen, die zwar noch nicht die Ständeversammlungen der Frühen Neuzeit, die aber doch in modifizierter Gestalt zukunftsträchtig waren.707 706 Töpfer, Die Reichsreformvorschläge, S. 637. Zu einem ähnlichen Resultat gelangt Walther, Imperiales Königtum, S. 260: „Für die Frage nach der Souveränität ist in diesem System kein Platz. Im Gegenteil, jede Entscheidung, daß ein anderer außer Gott allein zu befinden habe, zerstört den Einheitsgedanken der concordantia, die ganz vom Geiste der vertrauensvollen Kooperation ohne ein ausgeklügeltes System von ,checks and balances‘ lebt. Der konservative Charakter der Concordantia catholica zeigt sich gerade darin, daß sie das Souveränitätsproblem, das die Staatstheorie der west- und südeuropäischen Länder beherrschte, zugunsten eines irrationalen Prinzips der Einheit verdrängte.“ 707 Vgl. Miethke, Politische Theorien, S. 142: „Die Reichsversammlung des Kusaners ist noch nicht die Ständeversammlung der frühen Neuzeit und unterscheidet sich vom späteren Reichstag ganz erheblich; in ihr kommt aber ein kühner, nach vorne gerichteter Entwurf zum Tragen, der aus dem konsequenten Festhalten an jenen Prinzipien erwach-

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Die Reichsreformvorschläge des Cusanus blieben nicht die letzten. Kaiser Sigismund selbst legte auf dem Hoftag von Frankfurt 1434 den Ständen einen Katalog mit Forderungen zur Abschaffung der Fehde und zur Verbesserung der Rechtspflege vor. Die Fürsten lehnten jedoch die Gerichtsherrschaft des Königs ab, wiesen dem königlichen Hofgericht lediglich eine subsidiäre Rolle bei der Streitschlichtung zu und beharrten auf ihrer eigenen Schiedsgerichtsbarkeit. Sie antworteten auf dem Egerer Hoftag 1437 mit einem umfassenden Reformentwurf, „der den Auftakt zu einer kurfürstlich-fürstlichen Reformbewegung und damit zu einem sich über ein Jahrhundert hinziehenden erbitterten Verfassungskonflikt bildete“.708 Wurde dieser Konflikt von der früheren Forschung als Grund des Scheiterns der „Modernisierung“, d. h. der Staatsbildung in Deutschland betrachtet, so wird das Gegeneinander zweier Reformbewegungen, der königlichen und der reichsständischen, heute als eine alternative Form der Verfassungsbildung begriffen, die zwar nicht zum staatlichen Zentralismus und Absolutismus führte, dafür jedoch zur Ausbildung „föderativer“ und „korporativer“ Strukturen, zur Konsolidierung der fürstlichen und städtischen Unabhängigkeit, zur Gewaltenteilung und zu einer einvernehmlichen Ausübung der Staatsgewalt durch die unterschiedlichen Herrschaftsträger,709 kurz: zu ständisch-städtischer Freiheit und Pluralität. Es gelang den Ständen, durch die Einführung regelmäßiger Reichstage Anteil an der Reichsverwaltung zu erlangen, die Machtkonzentration in die Territorien zu verlagern und den Dualismus zwischen König und Reich zu institutionalisieren. Dadurch trugen sie bei zur Entsakralisierung des Reiches: „Die Reichstage von Augsburg (1438), Frankfurt (1442) und besonders Nürnberg (1466/67) machten allein dadurch, daß die Reichsverfassung als Verhandlungsgegenstand zur Disposition gestellt war, den Wandel der geistigen Einstellung deutlich: Das sakrale Gebäude des Reiches war durch politischen Kompromiß gestaltbar geworden, seine Rechtsordnung verlor die Aura des Heiligen und wurde – cum grano salis – ,positives Verfassungsrecht‘“.710 Die gegensätzlichen Kräfte paralysierten sich jedoch noch lange Zeit. Friedrich III. (y 1493) regierte 53 Jahre. Nach den fehlgeschlagenen Versuchen zur Stärkung der königlichen Gewalt im Reich zog er sich in seine Erblande zurück. Er akzeptierte 1448 im Wiener Konkordat den Verzicht auf Reformen und sah den fürstlichen Machtkämpfen in der Folgezeit tatenlos zu. Er mußte den Verfall der sen war, die der Kusaner in der Kirchenverfassung als grundlegend erkannt zu haben glaubte. Damit hat Nikolaus von Kues, obwohl er den kirchlichen Rahmen noch in der universalen Bestimmung des imperium wie selbstverständlich festhält, doch die Fenster in eine neue Zeit weit aufgestoßen.“ 708 Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 51. 709 Vgl. Angermeier, Die Reichsreform, S. 330. Dazu Moraw, Reichsreform und Gestaltwandel der Reichsverfassung um 1500. In ders., Über König und Reich, 277–292; D. Willoweit, Reichsreform als Verfassungskrise. Überlegungen zu Heinz Angermeier: Die Reichsreform 1410–1555. In: Der Staat 26 (1987), 270–278. 710 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1, S. 69.

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Reichsmacht in Italien und Burgund sowie Verluste von Reichsteilen an Polen hinnehmen. In Ungarn wurde das Königtum so mächtig, daß Matthias I. Corvinus (1458–90) 1485 seine Residenz nach Wien verlegen und den Kaiser aus der Hauptstadt verjagen konnte. Friedrich besuchte keinen Reichstag mehr. Das Reformwerk blieb folglich in Ansätzen stecken. Aufgrund der Schwäche des deutschen Königtums erhoben erneut andere Monarchen Anspruch auf die Kaiserwürde und auf die Rolle des Kirchenbeschützers. Vor allem in Burgund und Frankreich blieben die alten universalistischen Ambitionen lebendig, wo Karl der Kühne (1465/67–77) und Karl VIII. (1483–98) anstelle des deutschen Königs nach der Kaiserwürde strebten und sich als Schutzmacht der Kirche und des Papsttums empfahlen.711 Erst unter Kaiser Maximilian I. (1493–1519)712 wurde ein Durchbruch erzielt, als 1495 auf dem Reichstag zu Worms ein Ewiger Landfriede verkündet, das Reichskammergericht in Frankfurt als oberste Rechtsinstanz institutionalisiert713 und beschlossen wurde, eine allgemeine Steuer zu erheben und alljährliche Reichstage abzuhalten.714 Seit 1500 wurde das Reich in sechs lockere regionale Einheiten eingeteilt: Franken, Bayern, Schwaben, Oberrhein, Niederrhein-Westfalen und Sachsen, die seit 1512 mit Österreich und Burgund, dem kurrheinischen und dem obersächsischen Kreis um vier weitere vermehrt wurden. Doch kam die Reformbewegung erst mit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) zum Abschluß,715 in dessen Rahmen eine neue Exekutionsordnung beschlossen wurde.716 Mit ihm wandelte die Reichsidee völlig ihre Gestalt.717 Das Imperium war nicht länger Schutz711 Vgl. J. Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica christiana, S. 38 ff. Dieses Verlangen sollte sich in der Folgezeit noch steigern: „Um die Wende vom 15. zum 16. Jh. läßt sich geradezu von einer Epidemie ausschweifender politischer Phantastik in Europa sprechen. Die spanischen Reiche, Frankreich und Maximilian, um nur die bedeutendsten zu nennen, waren darauf bedacht, ihren Anspruch auf Vorrangstellung und Führung im Abendland mit derselben Energie auszubauen, mit der jeder auf seine Weise durch ,Reform‘ seine Machtstellung nach innen zu festigen trachtete“ (ebd., S. 40). 712 Zu seinem Kaisertum vgl. M. Erbe, Die Habsburger, S. 19 ff.; H. Rabe, Deutsche Geschichte, S. 177 ff. (weitere Literatur: S. 676); H. Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. 713 Zu seiner Geschichte vgl. R. Smend, Das Reichskammergericht; I. Scheurmann (Hg.), Frieden und Recht. 714 Zur Reformgesetzgebung Maximilians vgl. Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, 157–214. Zu den Ergebnissen der Reformbewegung siehe auch Oestreich, Verfassungsgeschichte, S. 21 ff.; Rabe, Deutsche Geschichte, S. 109 ff. (weitere Literatur: S. 688 f.). 715 Vgl. E. W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe, S. 20: „Der Reichstag zu Augsburg zog einen Schlußstrich unter die Reichsreform. Sie hatte ihr Ziel, das Reich in einen für damalige Verhältnisse moderneren Staatskörper umzuwandeln, nicht erreicht. Weder die bündische Konzeption Bertholds von Henneberg noch die monarchische Karls V. hatte sich verwirklichen lassen.“ 716 Vgl. den deutschen Text des Augsburger Reichsabschieds vom 25. September 1555 in: Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, 215–282. 717 Vgl. P. Rassow, Forschungen zur Reichsidee; K. O. v. Aretin/N. Hammerstein, Art. Reich. IV.: Frühe Neuzeit, S. 465 ff.

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems

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schirm der weltumspannenden Ekklesia, es schrumpfte zum Regnum, in dem die Stände dem Königtum Paroli boten. Karl V. (1515–55) war der letzte Kaiser, der seine ganze Energie für die Verwirklichung der mittelalterlichen Reichsidee einsetzte und sich der Bekämpfung der inneren und äußeren Feinde der Christenheit widmete.718 Nach seiner Abdankung sank das Reich zurück auf das regnum teutonicum mit politischen Annexen in Italien. Allerdings wurde die Reichsidee mit ihm nicht begraben. Sie blieb lebendig und ging von den Deutschen auf die Herrscher der spanischen Linie des Hauses Habsburg, auf Philipp II. (1556–98) und Philipp III. (1598–1621), und von diesen schließlich auf Ludwig XIV. von Frankreich (1643–1715) über. Wie Franz Bosbach zeigen konnte, blieb die mittelalterliche Sicht der Welt „als zweckbestimmte, korporative Einheit der Menschheit mit hierarchischen Strukturen und transzendentem Daseinsbezug . . . in weiten Teilen Gemeingut europäischen Denkens bis in das 18. Jahrhundert hinein“. Auch in der Frühen Neuzeit „stellte die Universalmonarchie den Entwurf einer Herrschaft dar, die – über den anderen Herrschaften angeordnet – die Kompetenz beanspruchte, in die zwischenstaatlichen Beziehungen aller einzugreifen“.719 Dennoch schob sich in dieser Zeit eine andere Sichtweise in den Vordergrund, die alsbald dominant und richtungsweisend wurde: die auf die Souveränität, das Gleichgewicht und die Konkurrenz der europäischen Staaten fixierte etatistische Weltanschauung. Die mittelalterliche Ideenwelt hatte ihr letztes großes Aufbäumen in den Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts erlebt. Sie blieb zwar noch lange Zeit lebendig in den Köpfen, doch wurde sie angesichts der realgeschichtlichen Entwicklungen allmählich anachronistisch. Kaiser- und Papsttum hatten die an sie geknüpften Erwartungen nicht erfüllt. Sie waren nicht die erhofften Friedensstifter und Spender von Gerechtigkeit, sondern erwiesen sich selbst als Quelle und Hort des Streits. Sie hatten nicht den Erdkreis befriedet, sondern ihre Kräfte im Kampf um Macht und Hegemonie verschlissen. Deshalb richteten sich die Hoffnungen der Menschen alsbald auf alternative Ordnungsformen, die seit dem Hochmittelalter vorbereitet waren und sich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit festigen konnten.

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems Die Wege für den Eintritt in die „Neue Zeit“ waren geebnet. Die wichtigsten theoretischen und praktischen Instrumente lagen bereit, mit denen die Verstaatung der europäischen Gesellschaft gedacht und weiter forciert werden konnte: 718 Vgl. K. Brandi, Kaiser Karl V.; P. Rassow, Die Kaiser-Idee Karls V.; ders., Die politische Welt Karls V.; ders., Karl V.; ders./F. Schalk (Hg.), Karl V. Aus der jüngeren Literatur vgl. M. F. Alvarez, Karl V.; F. Bedürftig, Taschenlexikon Karl V.; M. Erbe, Die Habsburger, S. 30 ff.; S.-M. Grössing, Karl V.; A. Kohler, Karl V.; E. Schulin, Kaiser Karl V.; F. Seibt, Karl V. 719 Vgl. F. Bosbach, Monarchia Universalis, bes. S. 64 ff. (Zitate S. 126).

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V. Der Drang zum Staat

Die Rezeption des römischen Rechts hatte zur Formierung und Ausdifferenzierung der einzelnen Rechtssphären – des Königs-, Stadt-, Handels-, Guts-, Feudalund Kirchenrechts – geführt720 und gab den Königen und Fürsten wichtige Handreichungen bei der Stabilisierung ihrer Herrschaft gegen die alten universalen Mächte und die intermediären Gewalten, d. h. gegen Kaiser- und Papsttum einerseits, gegen die Stände andererseits. Die von den Kanonisten und Legisten entwickelte Korporations- und Hierarchienlehre ließ sich auf die sich stabilisierenden Staaten übertragen und zur Legitimation der unterschiedlichsten Herrschaftsformen einsetzen.721 Infolge der Aristoteles-Rezeption war ein neues, weltimmanentes Selbstverständnis gewonnen worden. Die Rechtsgründe der weltlichen Herrschaft wurden seither nicht nur bei Gott, sondern auch bei den Beherrschten gesucht, ihre Legitimation im Wohl und Willen der Bürgerschaft gefunden. Die Herrscher repräsentierten nicht mehr nur das Göttliche auf Erden, sondern auch ihre Untertanen.722 Der politische Aristotelismus hatte seinen bedeutendsten Niederschlag in der Theorie der Volkssouveränität gefunden, wie sie – allen mittelalterlichen Schranken zum Trotz – von Marsilius von Padua klassisch begründet wurde. Mit Hilfe der von Nikolaus von Kues u. a. entwickelten Konsenslehre ließen sich ihre Prinzipien weiter spezifizieren. Die Könige und Fürsten konnten sich ferner an historischen Vorbildern (exempla) orientieren und das Werk ihrer großen Vorgänger weiterführen, die schon im späten Mittelalter Souveränität nach innen wie nach außen erstrebt, sich als Gesetzgeber profiliert und straffe Verwaltungsapparate institutionalisiert hatten, die von geschulten Juristen geleitet wurden. Vor allem der von den Normannen geschaffene, von Friedrich II. weiter ausgebaute Herrschaftsapparat in Sizilien konnte als Orientierungsmuster und als „Modellstaat“ dienen. Das überkommene christliche Weltbild war erschüttert. Die religiös-politischen und philosophischen Auseinandersetzungen des Spätmittelalters hatten es zersetzt. Der endlose Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium hatte die beiden universalen Mächte erschöpft und ihren Niedergang eingeleitet. Die Hoffnung auf ein einiges Reich der Christenheit war verblaßt. Die Parusie hatte sich weiter verzögert. Die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit war erneut bitter enttäuscht worden. Der Antichrist bedrohte nicht nur im Innern, sondern auch von außen die Sicherheit. Das Osmanische Reich hatte sich konsolidiert und drängte nach Westen.723 Mit dem Fall von Konstantinopel (1453) hatte das Byzantinische

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Vgl. H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 473 ff. Vgl. E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 206 ff. 722 Zur weiteren Entwicklung des Repräsentationsgedankens vgl. H. Hofmann, Repräsentation, S. 321 ff. 723 Zum Aufstieg des Osmanischen Reiches vgl. F. Büttner, Das Osmanische Reich, S. 43 ff.; H. Diwald, Anspruch auf Mündigkeit, S. 166 ff.; bes. S. 178 ff. (weitere Literatur: S. 440 f.); S. Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches. 721

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems

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Imperium aufgehört zu existieren.724 Die Europäer gingen auf Reisen und entdeckten neue Kontinente.725 Die Desillusionierung der alten Erwartungen bewirkte die Verinnerlichung der Religiosität (Devotio moderna) und die Abwendung vieler Menschen von der Anstaltskirche, die sich infolge der Auseinandersetzung zwischen Konziliarismus und Papalismus in relativ unabhängige, von den Königen beherrschte Landeskirchen differenziert hatte. Die großen intellektuellen Debatten des Spätmittelalters – Averroismus-, Armuts- und Universalienstreit – waren unvergessen und forderten ihren Tribut. Der Nominalismus hatte die alten Universalien aufgelöst und das traditionelle OrdoDenken zerstört. Er ermöglichte und erzwang einen theoretischen Neuanfang, bei dem die Individuen zum Ausgangspunkt der philosophischen Begründung wurden. Aristotelismus und Nominalismus hatten letztendlich dieselbe Konsequenz: die Prima Causa wurde für das Denken entbehrlich. Gott als Seinsgrund und Grundprinzip des Denkens konnte sich in einen deus absconditus metamorphosieren. Er wurde zu einer entbehrlichen Prämisse, wodurch dem metaphysischen Gebäude der Theologie das Fundament entzogen war. Auch die aristotelische Natur war durch Nikolaus von Kues als unhaltbares metaphysisches Konstrukt entlarvt worden und konnte folglich nicht länger als Ausgangspunkt der theoretischen Spekulation dienen. Die teleologische, auf Zweckursachen fixierte Naturbetrachtung wurde allmählich durch ein Denken in Kausalitäten abgelöst. Empiristische und rationalistische Positionen traten an die Stelle des alten Universalienrealismus. Gott wurde zu einer coincidentia oppositorum (Cusanus). „Die Natur hörte auf, die Individuation von übersinnlichen Ideen zu sein; sie wurde frei für wissenschaftliche Erkenntnis“.726 Die zu ihrer Erforschung entwickelten Methoden ließen sich übertragen auf die Menschenwelt und halfen den frühneuzeitlichen Staatstheoretikern bei der Analyse der geschichtlichen Lage und der Begründung des sich formierenden Staatensystems, das nun anstelle des Reiches für Frieden und Gerechtigkeit sorgen sollte. Um die weitere Entwicklung der Staatstheorie verstehen zu können, müssen vorab die politischen Probleme aufgewiesen werden, denen sich Europa im ausgehenden Mittelalter konfrontiert sah. Zuerst wird deshalb die allgemeine Lage zu Beginn der Neuzeit erörtert und die Gesamtentwicklung des frühneuzeitlichen Staatsdenkens ins Auge gefaßt [a)]. Danach werden die Grundlagen und Elemente der Staatsidee analysiert, die zwischen Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes erarbeitet wurden [b)]. Schließlich wird die nach-hobbessche Entwicklung der Staatstheorie skizziert, die vor 724 Zum Niedergang des byzantinischen Reiches und zum Fall von Konstantinopel vgl. D. M. Nicol, Der Niedergang von Byzanz; Diwald, Anspruch auf Mündigkeit, S. 173 ff. 725 Vgl. die Chronik der Entdeckungen bei J. Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, S. 100 ff. Ferner R. Romano/ A. Tenenti, Die Grundlegung der modernen Welt, S. 199 ff. 726 D. Löcherbach, Einführung in Hegels politische Theorie der Freiheit. I. Teil, S. 27.

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allem zwei Zielsetzungen verfolgte: die Begrenzung der Staatsgewalt (Konstitutionalismus) und die „Demokratisierung“ des Staates [c)]. a) Der Beginn der Neuzeit und die frühneuzeitliche Staatstheorie Die politische Lage am Ende des Mittelalters war verworren, obgleich sich die Konturen des künftigen Staatensystems bereits deutlich abzeichneten.727 Die verfeindeten Dynastien standen sich weiterhin unversöhnlich gegenüber. Streitschlichtende Oberinstanzen existierten nicht mehr. Nach dem Kaiser- war auch das Papsttum als Autorität weggefallen. Beide waren nurmehr Repräsentanten partikularer Interessen. Die westlichen Könige avancierten zu Oberhäuptern ihrer Landeskirchen und entzogen sich dem Einfluß der römischen Bischöfe, die ihrerseits im Patrimonium Petri ein üppiges „weltliches“ Leben zu führen begannen. Die Grenzen der päpstlichen Kompetenz in weltlichen Dingen offenbarten sich im Zuge der Eroberung Amerikas, als die Spanier und Portugiesen in einem beiderseits gerechten Krieg aufeinanderprallten und das geistliche Oberhaupt um Rat angingen, wer denn nun den Segen habe in dem nur ganz global geheiligten Gemetzel (s. u. S. 703 ff.). Im Deutschen Reich wurde im Gefolge der Reichsreform eine Gewaltenteilung und Machtbalance zwischen König und Reichsständen institutionalisiert, die sich zwar längerfristig als Barriere für die Staatswerdung und die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, aber dennoch als praktikable Alternative zum Absolutismus und Etatismus der westlichen Monarchien erwies.728 Zwar gelang den Habsburgern Maximilian I. (1493–1519) und Karl V. (1515–55) der Ausbau ihrer Territorialmacht, doch scheiterten die Hoffnungen des letzteren auf Wiederherstellung der Universalmonarchie.729 Die Verteidigung der fürstlichen Macht 727 Vgl. P. Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates, S. 74 ff.; Diwald, Anspruch auf Mündigkeit, S. 269 ff.; E. Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa, S. 64 ff.; T. K. Rabb, The Struggle for Stability in Early Modern Europe; Romano/ Tenenti, Die Grundlegung, S. 220 ff.; T. Schieder (Hg.), Handbuch. Bd. 3 (hgg. v. J. Engel); H. Schilling, Die neue Zeit; F. Seibt/W. Eberhard (Hg.), Europa 1500; C. Tilly, Die europäischen Revolutionen, S. 47 ff. sowie die oben (S. 444, Anm. 253) genannte Literatur. 728 Zur weiteren Entwicklung des Deutschen Reiches vgl. H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, S. 149 ff.; J. Engel, S. 105 ff.; E. Hinrichs, Von der Reformation bis zum Westfälischen Frieden; P. Münch, Das Jahrhundert des Zwiespalts; G. Oestreich, Verfassungsgeschichte; ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 201 ff.; H. Rabe, Deutsche Geschichte; H. Schilling, Aufbruch und Krise; G. Schmidt, Geschichte des alten Reiches; W. Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert; E. W. Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden, S. 449 ff.; ders., Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe, S. 208 ff. (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen). 729 Zu Maximilian I. und Karl V. vgl. die oben (S. 608 f., Anm. 712 u. Anm. 718) genannte Literatur. Zur weiteren Entwicklung der Habsburger-Dynastie vgl. M. Erbe, Die Habsburger (weitere Literatur: S. 274 ff.).

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und der ständischen Freiheiten führte im Zeitalter der Reformation und der Glaubensspaltung zu kriegerischen Auseinandersetzungen und zur Stabilisierung der Landesherrschaften.730 In England, Frankreich, Spanien und Portugal hingegen schritt die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt zwar nicht kontinuierlich, aber unaufhaltsam voran.731 1453 war der Hundertjährige Krieg zu Ende gegangen. Nach den Rosenkriegen zwischen den Häusern York und Lancaster (1455–85) etablierte sich in England mit Heinrich VII., der die beiden verfeindeten Häuser durch seine Heirat zusammenführte, die Tudor-Dynastie (1485–1603) über allen anderen englischen Magnatenfamilien.732 Die französische Monarchie hatte sich unter Ludwig XI. (1461–83) gegen Karl den Kühnen von Burgund (1466–77) und in der Folgezeit gegen die Habsburger zu behaupten.733 Sie erreichte unter Ludwig XII. (1498–1515) und Franz I. (1515–47) einen ersten Höhepunkt ihrer Macht.734 Auf der Iberischen Halbinsel entstand infolge der Heirat Ferdinands und Isabellas (1469) die dauerhafte Verbindung der Kronen von Aragon und Kastilien,735 die den rapiden Aufstieg des spanischen Staates einleitete, der unter Philipp II. (1556–98) und Philipp III. (1598–1621) zur dominierenden militärischen und wirtschaftlichen Macht in Europa wurde. Anders sah die Lage in Italien aus, das von Parteikämpfen zerrissen war.736 Seit dem Ende der Staufer waren die italienischen Stadtrepubliken in permanente Kriege miteinander verstrickt, aus denen die Pentarchie der fünf großen Signorien oder Principati Florenz, Mailand, Venedig, Rom und Neapel hervorgegangen war. Die Reichsreform hatte sich beschränkt auf das Regnum Teutonicum. Italien 730 Vgl. W. P. Fuchs, Das Zeitalter der Reformation; S. Skalweit, Reich und Reformation; E. W. Zeeden, Das Zeitalter der Glaubenskämpfe (siehe auch unten, S. 635 ff., Anm. 806 ff.). 731 Zu den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Staatsbildung im Deutschen Reich, in den deutschen Territorien, in Italien, Frankreich, Portugal und Spanien, England, Dänemark und Schweden, Böhmen, Polen und Ungarn vgl. W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 47 ff. 732 Zur weiteren Entwicklung Englands vgl. M. Maurer, Kleine Geschichte Englands, S. 75 ff. (weitere Literatur: S. 481 ff.); E. Schulin, England und Schottland. 733 Vgl. A. Bourde, Frankreich; R. Folz, Frankreich, S. 756 ff. 734 Vgl. E. Hinrichs, Renaissance, Religionskriege und Begründung der absoluten Monarchie: „Zwar war Frankreich noch kein moderner Einheitsstaat; es kannte innerhalb seines Territoriums noch große Gebiete, die nicht der direkten Autorität des Monarchen unterstanden, sondern von Prinzen von Geblüt oder anderen Mitgliedern des Hochadels praktisch wie selbständige Herrschaftsbezirke besessen wurden. Doch die nationale Monarchie überstrahlte diese Restbestände der alten Herrschaftsverfassung schon beträchtlich“ (S. 127). 735 Vgl. A. G. Gallo, Manual de historia de derecho español; C. Hermann (Hg.), Le premier âge de l’état en Espagne; H. Rabe, Die iberischen Staaten (Literatur: S. 581 ff.); Zeeden, Hegemonialkriege, S. 83 ff. 736 Vgl. J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 40 ff.; A. Haverkamp, Italien, S. 652 ff.; R. Lill, Geschichte Italiens; H. Lutz, Italien.

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blieb davon unberührt, es wurde zum Objekt der Begierde der um Vorherrschaft in Europa kämpfenden Großmächte. Die italienischen Städte drohten in den Konflikten zwischen Habsburgern, Frankreich und Aragon zerrieben zu werden und mußten sich folglich nicht nur gegeneinander verteidigen, sondern auch gegen die drohende Fremdherrschaft zur Wehr setzen. Gerade aus ihnen erhielt die neuzeitliche Staatsidee entscheidende Impulse. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Einigkeit und Freiheit Italiens veranlaßte die dortigen Humanisten zu radikalen Reflexionen über die Conditio Humana und trieb sie auf die Suche nach alternativen Formen der politischen Organisation, die sie – wieder einmal – in der glorreichen Vergangenheit, d. h. in der altrömischen Geschichte vorgebildet fanden. Bereits die Frührenaissance (1300–1490)737 hatte sich auf die antiken Sitten zurückbesonnen und die christliche Lebensauffassung mit den alten römischen Tugenden konfrontiert. Gegen die Maximen der christlichen Sozialethik – Gottes- und Nächstenliebe, Leben in Demut und Bescheidenheit, Barmherzigkeit und Feindesliebe, Verachtung der irdischen Güter, Glaube an ein Leben nach dem Tod usw. – hatte sie den heidnischen Wertekanon gestellt, der sich auf die Jetztzeit konzentrierte und die klassischen Tugenden der Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit sowie vor allem Stärke und Standhaftigkeit, Disziplin und Vaterlandsliebe propagierte. Verharrten die frühen Humanisten noch im Rahmen der christlichen Weltanschauung, die sie durch die alten Wertvorstellungen zu erweitern und zu beleben suchten, so betonte Niccolò Machiavelli (1469–1527) die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Welten, um die Synthese aufzusprengen und der „verweiblichten“ christlichen Ethik die „männliche“ der alten Römer entgegenzustellen, d. h. die Politik aus der religiösen Klammer und den von ihr erzeugten Skrupeln zu emanzipieren.738 Getrieben von der Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen und nach Befreiung des von fremden Mächten belagerten Italien, entwarf Machiavelli die Maximen einer Politik, die keine Rücksicht nimmt auf die Gebote der christlichen Ethik und die Bedürfnisse der einzelnen und Familien, sondern sie dem Interesse des Staates unterordnet. Dadurch wurde er zum Begründer der Staatsraison, die zum Leitstern der frühneuzeitlichen Politik wurde.739 Zwar stießen seine Vor737 Zur Unterscheidung von Früh-, Hoch- und Spätrenaissance vgl. P. Burke, Die europäische Renaissance, S. 35 ff. Siehe auch oben, S. 561 f. (die Bemerkungen zum florentiner Bürgerhumanismus). 738 Daß Machiavelli nicht die Trennung von Politik und Moral erstrebte, wie von einer breiten Literatur im Anschluß an Benedetto Croce behauptet, sondern die christliche mit der vorchristlich-heidnischen Ethik kontrastierte, betont zu Recht I. Berlin, Die Originalität Machiavellis. In ders., Wider das Geläufige, 93–157; bes. S. 114 ff. 739 Vgl. N. Luhmann, Staat und Staatsräson; F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson, bes. S. 31 ff.; H. Münkler, Machiavelli; ders., Im Namen des Staates, bes. S. 46 ff., 109 ff.; ders., Staatsraison; ders., Staatsraison und politische Klugheitslehre; R. Schnur (Hg.), Staatsräson; M. Stolleis, Staat und Staatsräson.

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schläge bei seinen Zeitgenossen und Nachfolgern zumeist auf Empörung, doch wurden sie von den Mächtigen in Europa auch ohne Kenntnis seiner Werke umgesetzt. Machiavelli hat folglich nur das Geheimnis jener Politik ausgeplaudert, die von den europäischen Dynastien praktiziert wurde. Indem er sich um eine Lösung der italienischen Probleme bemühte, wurde er zum Theoretiker der sich formierenden Staaten Westeuropas, d. h. zum Vordenker der Entwicklungen in England, Frankreich, Spanien und Portugal.740 Während nämlich in Deutschland und Italien die staatliche Einigung (Risorgimento) erst im 19. Jahrhundert gelang, schritten die westlichen Monarchien auf diesem Weg zügig voran. Die Not der Zeit, die Zuspitzung der Konflikte und Kämpfe in Italien forderte neuartige politische Reflexionen und Aktivitäten. Die chaotische Lage, der nicht enden wollende Krieg aller gegen alle zwang Machiavelli zur Suche nach einer stabilen Friedensordnung, die ein mächtiger Fürst durch Unterjochung der feindlichen Kräfte gewaltsam herstellen sollte – um so die Voraussetzungen für eine künftige Republik im staatlichen Rahmen zu schaffen. Indem er die Prinzipien der christlichen Ethik und das überkommene Ordnungsdenken beiseite schob und sich stattdessen an den großen Vorbildern der Antike, an der altrömischen Geschichte sowie an Cesare Borgia (ca. 1475–1507) orientierte, gewann der florentiner Jurist das theoretische Instrumentarium, das einen ungetrübten Blick auf jene Herrschaftsstrukturen ermöglichte, die sich in den westlichen Monarchien seit dem hohen Mittelalter herausgebildet hatten, die aber bislang durch den Filter des christlichen Weltbildes perzipiert und dadurch verklärt worden waren. Sie fanden nun auch ihren Namen, der sie künftig bezeichnete und von anderen Formen der Herrschaft unterschied.741 Wenn Machiavelli und seine italienischen Zeitgenossen und Nachfolger – Francesco Guicciardini, Giovanni Botero u. a. – von lo stato redeten, dann war die damit bezeichnete Sache zwar nicht neu, sondern bereits von den Normannen praktiziert, von Marsilius von Padua u. a. theoretisch antizipiert und von den westeuropäischen Königen realisiert worden, doch wurde nun die christliche Überlieferung nicht länger zur Legitimation beansprucht. Die von Machiavelli begründete Herrschaft „war im Kern ein Zustand konzentrierter, öffentlicher Machtausübung in einem Territorium, durch wen oder in wessen Namen auch immer – und sie war ohne Transzendenz, alleiniger Grund ihrer selbst . . . Der stato, den Machiavelli dachte und beschrieb, erstand vor den geistigen Augen des Betrachters, wenn man irdische Herrschaft allen Scheins und Trugs entkleidete 740 Wie A. Gramsci zu Recht bemerkt, war Machiavelli „eigentlich der Theoretiker dessen, was außerhalb Italiens geschah, und nicht der italienischen Ereignisse“ (Gefängnishefte 17 [IV], § 1. In: A. Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur, S. 247). 741 Zur Entstehung des Staatsbegriffs vgl. W. Conze, Art. Staat. I.–II., S. 9, 13 ff.; S. Hauser, Untersuchungen zum semantischen Feld der Staatsbegriffe, S. 83 ff.; W. Mager, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs; H. Münkler, Im Namen des Staates, S. 171 ff.; P.-L. Weinacht, Staat.

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und sie auf ihr Wesen zurückführte“.742 Die „konzentrierte öffentliche Machtausübung“ hatte aber ein konkretes Subjekt und einen eindeutigen Adressaten: den Fürsten oder das Volk. Sie war entweder monarchisch (Il Principe) oder aber republikanisch (Discorsi) organisiert. Die Priester und Pastoren hatten darin – wie schon bei Marsilius – dienende Funktionen. Ihre Aufgabe war die „Seelenpflege“ und die Stabilisierung der weltlichen Herrschaft. Diese basierte auf dem staatlichen Gewaltmonopol und sollte der Friedenssicherung und der Vereinigung des zerrissenen Italien dienen.743 Wichtiger noch als das Geschick und die Tüchtigkeit (virtù) des Herrschers sind nach Machiavelli die Institutionen, die er dem Staat gibt, denn: „Das Heil eines Freistaats oder eines Königreichs hängt nicht von einem Machthaber ab, der zu seinen Lebzeiten weise regiert, sondern davon, daß er dem Staat Einrichtungen gibt, durch die dieser sich auch nach seinem Tode erhalten kann“.744 Dazu gehört vor allem ein eigenes Heer, das in der Lage ist, feindliche Truppen abzuwehren. Dazu gehört aber auch eine staatliche Bürokratie, die imstande ist, die Bürger oder Untertanen zu kontrollieren und fiskalisch zu schikanieren. Dazu gehört schließlich eine ordentliche Gerichtsbarkeit, die eine friedliche Konfliktlösung im Innern des Staates ermöglicht und das Fehdewesen unterdrückt. Hauptverantwortlich für den Niedergang und die Zersplitterung Italiens zeichnen nach Machiavelli die römische Kirche und die Priester, die stets nur ihre eigenen Interessen verfolgt hatten: „Wir Italiener verdanken es also in erster Linie der Kirche und den Priestern, daß wir religionslos und schlecht geworden sind. Wir verdanken ihr aber noch etwas Entscheidenderes, was die zweite Ursache unseres Verfalls ist, und dies ist, daß die Kirche unser Land immer in Zersplitterung gehalten hat und immer noch in Zersplitterung hält“ (Discorsi I, 12, S. 49). Der kluge Fürst (Lorenzo de’ Medici), den Machiavelli aufforderte, in Italien die Macht zu ergreifen und es „von den Barbaren zu befreien“,745 sollte demnach die Religion in Dienst nehmen und reformieren, da diese das einigende Band oder den Kitt bildet, der die Gesellschaft zusammenhält. Zu vergleichbaren Resultaten gelangte – von einem anderen Ausgangspunkt und von ganz anderen Interessen getrieben – Machiavellis Zeitgenosse Martin Luther (1483–1546),746 der die Kritik an der Papstkirche radikalisierte und die 742

H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, S. 47. Zu Machiavelli vgl. neben den genannten Arbeiten Herfried Münklers R. Albertini, Das florentinische Staatsbewußtsein; A. Buck, Machiavelli; F. Deppe, Niccolò Machiavelli; R. König, Niccolo Machiavelli; E. Schmitt, Machiavelli; Q. Skinner, Machiavelli zur Einführung (alle mit weiteren Literaturhinweisen). 744 Machiavelli, Discorsi, I. Buch, 11. Kapitel, S. 46. 745 Vgl. Machiavelli, Der Fürst, 16. Kapitel, S. 106 ff. 746 Zu den Anfängen, zur Entwicklung und Wirksamkeit Luthers vgl. M. Brecht, Martin Luther; J. Engel, S. 105 ff.; W. P. Fuchs, Das Zeitalter der Reformation, S. 59 ff.; Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa, S. 123 ff.; W.-E. Peuckert, Die große 743

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Religion aus dem christlichen Glauben heraus erneuern wollte.747 Er rekurrierte auf die augustinsche Unterscheidung zweier Civitates, der civitas Dei und der civitas terrena, sowie auf den Römerbrief des Paulus, um dem Christenmenschen bedingungslosen Gehorsam gegenüber den weltlichen Regenten abzuverlangen, die sich dafür im Gegenzug nicht in die Glaubensangelegenheiten einmischen sollten.748 Ausgehend vom urchristlichen Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe begründete Luther die Notwendigkeit einer prinzipiellen Trennung von Religion und Politik, um die „Bürgerschaft Gottes“, d. h. die Kirche, aus dem Griff der weltlichen Herrscher wie des Papstes freizusetzen. Dafür sollte umgekehrt die weltliche Politik dem Zugriff des Klerus entzogen sein. Luther und Machiavelli sind folglich nicht nur Zeitgenossen, sie gehören auch sachlich eng zusammen.749 Sie gruben von verschiedenen Seiten her den selben Tunnel. Ziel ihrer Bemühungen war die Freisetzung der Politik aus der geistlichreligiösen Bevormundung und die Verselbständigung des politischen Systems. Beide erstrebten ferner die Erneuerung der Religion, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Machiavelli erblickte in ihr ein Herrschaftsinstrument, das schon im alten Rom eine unverzichtbare Rolle bei der Sozialintegration spielte. Um die Einheit des Volkes und die zerfallenen Sitten wiederherzustellen, sollte der kluge Fürst oder die Regierung der Republik – nachdem der Klerus versagt hatte – neue religiöse Institutionen schaffen und sich um eine neue Religiosität im Volk bemühen.750 Luther hingegen wollte die Religion intern reformieren und ihre Symbiose mit der Politik auflösen. Er erblickte in der Vermischung von Weltlichem und Geistlichem das Grundübel seiner Zeit, das ein für allemal zu beseitigen war. Während Machiavelli dem Fürsten die Indienstnahme der Religion und damit die Errichtung eines „cäsaropapistischen“ Regimes (nach dem Vorbild von Byzanz) empfahl, forderte Luther die strikte Scheidung beider Sphären. Trotz dieser Differenz hat beider Anliegen dieselbe politische Konsequenz: die Stärkung der weltlichen Herrschaft durch Entmachtung der römischen Kirche. „Der Luther der weltlichen Gewalt ist Machiavelli“, schreibt deshalb Alasdair MacIntyre treffend.751 Diese Formel läßt sich natürlich auch umkehren: „Der MachiaWende; H. Rabe, Deutsche Geschichte, S. 203 ff.; Zeeden, Deutschland, S. 496 ff. (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen). Siehe auch unten, Anm. 807. 747 Zur Einführung in sein Denken vgl. G. Ebeling, Luther; F. Lau, Luther; B. Lohse, Martin Luther; E. Troeltsch, Die Soziallehren II, S. 427 ff. 748 Zu seinen politischen Ideen vgl. bes. K.-M. Kodalle, Institutionen – Recht – Politik im Denken Martin Luthers; H. Münkler, Politisches Denken in der Zeit der Reformation, S. 623 ff. (weitere Literatur: S. 678 ff.); H. K. Scherzer, Luther (weitere Literatur: S. 397 ff.); H. H. Schrey (Hg.), Reich Gottes und die Welt; G. Wolf (Hg.), Luther und die Obrigkeit. 749 Die Zusammengehörigkeit beider betonte schon J. N. Figgis, Studies of Political Thought from Gerson to Grotius, S. 55 ff. 750 Vgl. Machiavelli, Discorsi, I. Buch, 12. Kapitel, S. 47 ff. 751 A. MacIntyre, Geschichte der Ethik im Überblick, S. 122.

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velli der geistlichen Gewalt ist Martin Luther“. Luthers Zwei-Reiche-Lehre trug bei zur Entsakralisierung und Profanisierung des Politischen. Wie bei Machiavelli so erscheinen auch bei ihm die politische Ordnung und ihre Institutionen als Produkte menschlichen Handelns und nicht länger als Ausfluß des göttlichen Willens.752 Damit war ein entscheidender Schritt in der Begründung des Staatsparadigmas getan. Dennoch sollten weitere 150 Jahre vergehen, bis das europäische Staatensystem seine endgültige Gestalt und seinen Rahmen gefunden hatte, in dem es die darauffolgenden Jahrhunderte überdauern konnte. Genauso lange dauerte es noch, bis die Form Staat ihre klassische Begründung fand, die ihr der Leviathan (1651) des Thomas Hobbes gab. Daß die Zeit um 1500 bzw. das Jahr 1492 (Entdeckung Amerikas) keine wirkliche Zäsur in der europäischen Entwicklung markiert, wurde bereits in der Einleitung bemerkt. Der Übergang in die „Neuzeit“ war fließend und verlief ohne allzu große Brüche. Nur als heuristisches Prinzip taugt die alte Epocheneinteilung, solange über den Diskontinuitäten die Kontinuitäten nicht vergessen werden. Die Grundlagen für die künftige Entwicklung waren gelegt. Was von der früheren Geschichtsschreibung als das spezifisch „Neue“ an der Neuzeit herausgestellt und gerühmt wurde, war durch die hochund spätmittelalterlichen Entwicklungen vorgeprägt. Der Mensch hatte sich längst als Individuum entdeckt, das den Institutionen und den Banden der Tradition überlegen ist. Der religiöse Individualismus, der in Franz von Assisi seinen klassischen Ausdruck fand, bildete den Vorläufer des weltlichen, der in der Renaissance schon seit dem späten 14. Jahrhundert seine Hochzeit feierte. Der von Petrarca (1304–74) u. a. gepflegte Optimismus war im Lauf des 15. Jahrhunderts allerdings einer pessimistischeren Sicht der menschlichen Fertigkeiten gewichen. Auch die Form Staat hatte ihr Muster bereits in den normannischen Gründungen in Sizilien und der Normandie gefunden. Der sizilianische „Modellstaat“ Rogers I. und Friedrichs II. konnte – wie schon zu Zeiten Philipps des Schönen von Frankreich in seinem Kampf mit Bonifaz VIII. – zum Vorbild für die künftigen Monarchen werden. Ferner war und blieb die Frühe Neuzeit insgesamt eine zutiefst ambivalente und widersprüchliche Übergangszeit, in der das entstehende Neue auch weiterhin mit dem fortbestehenden Alten rang. Vorwärts- und rückwärtsweisende Elemente lagen im Kampf miteinander und steigerten sich gegenseitig. Der „neuen Diesseitigkeit“753 korrespondierte die Flucht in neue Wahnideen,754 der Lösung aus den Banden der Tradition der Verlust alter Sicherheiten, 752 Vgl. Münkler, Machiavelli, 62 ff., 89 ff.; ders., Im Namen des Staates, S. 99 ff.; ders., Politisches Denken in der Zeit der Reformation, S. 623 ff. 753 Vgl. J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 161 ff. 754 Dies betont zu Recht H. Glaser, Himmel, Hölle, Berg und Straße. Ortsbestimmung in der europäischen Kulturlandschaft zur Zeit des Christoph Kolumbus. In: Die Zeit, Nr. 16 v. 10. April 1992, S. 45 f.: „Wie in der Person des Christoph Kolumbus wirken sich mittelalterliche Strömungen weiterhin aus, schlagen häufig ins Negative

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dem Pathos von der Allmacht und Selbstherrlichkeit des Individuums (uomo virtuoso) die Erfahrung menschlicher Hilflosigkeit.755 Obgleich die alte Periodisierung allseits als problematisch erkannt worden ist und deshalb von vielen verworfen wurde, halten die meisten Historiker – wissend um die Relativität und Fraglichkeit jeder Epocheneinteilung – weiterhin an ihr fest und betonen den „Einschnitt“ zwischen Mittelalter und Neuzeit.756 Auf die Frage „Was ist neu an der europäischen Neuzeit?“ antwortet beispielsweise der Verfassungshistoriker und Staatsrechtslehrer Michael Stolleis, es seien vor allem vier Punkte, von denen aus sich die Frühe Neuzeit als eigene Epoche konstituiert:757 „1. Die Freisetzung des politischen Handelns und Denkens von religiösen und moralischen Bindungen und die dadurch ermöglichte Selbstreflexion und Verrechtlichung machtpolitischer Interessen. 2. Die Umstellung vom mittelalterlichen Lehensstaat auf den modernen Anstaltsstaat mit ihren tiefgreifenden Konsequenzen im Heerwesen, in der Verwaltung, in der Finanzierung, im diplomatischen Verkehr und in der Ausbildung des nun notwendigen Beamtenpersonals. 3. Der Zerfall der abendländischen Einheitsvorstellung von Reich und Kirche und das Vordringen rivalisierender dynastischer bzw. nationaler Einzelstaaten. Für Deutschland kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, nämlich 4. Die in den religiösen Auseinandersetzungen und in den Emanzipationsbestrebungen der größeren Territorien zutage tretende Krise der Reichsverfassung zwischen 1555 und 1648.“

Alle diese Momente waren durch die hoch- und spätmittelalterlichen Kämpfe vorbereitet und fanden ihre Lösung nicht schon in der Zeit um 1500, sondern im 17. Jahrhundert, zum Teil erst im Gefolge der Französischen Revolution. Wie Stolleis selbst an anderer Stelle bemerkt, haben die wichtigsten Merkmale des Staatsbegriffs – scharfer monistischer Souveränitätsbegriff, rationale, am staatlichen Machtzweck orientierte Verwaltung, besoldetes Berufsbeamtentum, unbegrenzte Gesetzgebungs- und Besteuerungsgewalt – ihre Anfänge bereits im Mitum. Der Verlust des einheitlichen religiösen Weltbildes hat die Angst vor dem Neuen zur Folge; Unsicherheit und Zerrissenheit bewirken oder befördern die Flucht in Wahnideen; dem Drang zur Überheblichkeit entspricht der Sturz ins Abgründige. Wie der doppelköpfige italische Gott Janus ist die Renaissance zurück- und vorwärtsgewandt, geprägt durch die Zwiespalte von Höllenfahrt und Sehnsucht nach dem Paradies, korrupter Kirche und Aufstand des Gewissens, Hinwendung zum Stadtkosmos und dem Streben nach offenen Horizonten . . .“ 755 Vgl. Münkler, Staatsraison und politische Klugheitslehre, S. 26; ders., Im Namen des Staates, S. 145. 756 Vgl. etwa R. Koselleck, ,Neuzeit‘; F. Seibt, Die Begründung Europas; S. Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. 757 Stolleis, Staat und Staatsräson, S. 7. Vgl. auch ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1, S. 395 f.

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telalter.758 Die Frühe Neuzeit hat nur radikalisiert und weitergeführt, was durch die vorausgegangene Entwicklung längst angelegt war und erst mit den großen europäischen Revolutionen zum Abschluß kam. Wenn Stolleis dennoch festhält an der alten Einteilung und den Bruch zwischen Mittelalter und Neuzeit betont, so sieht er sich genötigt, zum Teil weit auseinanderliegende Ereignisse und langwierige Entwicklungen auf das Jahr 1500 zusammenzudrängen und die Ambivalenz der Epoche zu ignorieren: „Die um 1500 auftretende Häufung weltgeschichtlich bedeutsamer Phänomene, die Veränderung der Kriegstechnik, die Entdeckung des Buchdrucks, die Eroberung der Neuen Welt, Humanismus und Renaissance, Reformation, Frühkapitalismus, Rezeption des römischen Rechts und der Übergang vom sog. Ständestaat zum Frühabsolutismus – all dies markiert einen ,Einschnitt‘, vielleicht den wichtigsten der europäischen Geschichte überhaupt. Jedes dieser Phänomene bietet einen Zugang zu den geistigen Prozessen der Epoche. Ihr gemeinsames Signum ist Erweiterung und Befreiung, Neuartigkeit und Verwissenschaftlichung des gesamten Lebensgefühls“ (Geschichte des öffentlichen Rechts 1, S. 48).

Gar so schnell ging dieser Umbruch aber nicht vonstatten. Die Umwertung aller Werte forderte ihre Zeit. Der Bruch, den Machiavelli in Florenz vollzog, wurde anderswo nicht unmittelbar nachvollzogen, sondern in der Regel zunächst einmal abgewehrt. Die religiös gefärbte Vorstellungswelt blieb noch lange erhalten. Der Paradigmenwechsel in der Politischen Philosophie wurde nicht von einem Mann bewirkt, zahlreiche Einzelpersönlichkeiten und Schulen arbeiteten daran mit, lieferten Beiträge zu wichtigen Einzelaspekten. Religion und Politik durchdrangen sich – Luther und Machiavelli zum Trotz – zu Beginn der Frühen Neuzeit noch immer bis zur Ununterscheidbarkeit. Ihre Trennung, die sehr schmerzhaft war und eine Menge Blut gekostet hat, ist der entscheidende Vorgang, der sich seit dem hohen Mittelalter abzeichnete, der durch die spätmittelalterlichen Kämpfe forciert wurde und durch die Reformation und die von ihr provozierten konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts einen gewaltigen Schub erhielt, der aber erst am Ende des 18. Jahrhunderts seinen Abschluß fand. Die europäischen Politikdenker des 17. und 18. Jahrhunderts waren und blieben Christen, der sich etablierende Staat blieb ein christlicher Staat,759 der sich auch weiterhin durch die Prinzipien des christlichen Glaubens legitimierte und gegen die Machtansprüche der Papstkirche zu verteidigen hatte.760 Er 758 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts 1, S. 47 f. Siehe auch das obige Zitat in der Einleitung (S. 32). 759 Vgl. Stolleis, Reichspublizistik: „Das öffentliche Leben und die staatliche Ordnung während des 17. und 18. Jahrhunderts waren durch und durch christlich, alle Protagonisten des Vernunftrechts waren gläubige Christen“ (S. 17). Eine Trennung von Staat und Kirche wurde nirgends ins Auge gefaßt. „Nicht Entchristlichung des öffentlichen Lebens, sondern Vermeidung von gewaltsamer Durchsetzung der religiösen Streitigkeiten war das Ziel“ (ebd.). 760 Vgl. T. Hobbes, Leviathan, III. u. IV. Buch.

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fand in den katholischen und protestantischen Landeskirchen seine Stütze und zehrt bis heute von den sittlichen und zivilisatorischen Leistungen der christlichen Religion,761 die er verbraucht, ohne sie reproduzieren zu können.762 Erst im Gefolge der Französischen Revolution wurde die Religion zur Privatsache erklärt und aus den politischen Angelegenheiten herausgehalten. Bis dahin blieb sie ein entscheidender Faktor des öffentlichen Lebens. Und noch im 19. Jahrhundert konnte keine Regierung auf ihre Unterstützung verzichten.763 Die Trennung von Religion und Politik war nicht leicht zu bewerkstelligen, handelt es sich doch bei beiden – wie schon früher festgestellt wurde (s. o., S. 163 ff.) – nicht nur um eineiige, sondern um siamesische Zwillinge. Der christliche Glaube erlangte in der Zeit der Reformation und Gegenreformation noch einmal zentrale Bedeutung für die Staatenbildung.764 Anstatt die Separation beider Sphären herbeizuführen, wurde die von Luther, Zwingli und Calvin ausgelöste Reformation zunächst zum Anlaß einer neuen Amalgamierung und zum Ferment und Katalysator der künftigen Politik, der Freund-Feind-Unterscheidung und der Gemeinschaftsbildung. Infolge der Kirchenspaltung wurde Europa im 16. und 17. Jahrhundert durch endlos scheinende konfessionelle Bürgerkriege erschüttert, die in blutigen Wellen über den Kontinent hinwegschwappten und ungeheure Opfer forderten. Sie fanden ihren traurigen Höhe- und Kulminationspunkt im Dreißigjährigen Krieg, der noch „kein Staatenkrieg, sondern ein Staatsbildungskrieg“ war.765 Durch ihn gewann das System der europäischen Staaten seine Konturen und seine endgültige Gestalt. Die sich formierenden und differenzierenden Landeskirchen wurden von den Mächtigen Europas im Sinne Machiavellis zur Stabilisierung ihrer Herrschaft und zur Legitimation ihrer dynastischen Interessen instrumentalisiert. Das jeweilige Glaubensbekenntnis diente zur Rechtfertigung der Machtentfaltung und der Verfolgung Andersgläubiger, die sich dem Diktat der Herrschenden nicht beugen wollten. Andererseits bestimmte der in unterschiedliche Konfessionen zerfallene christliche Glaube auch weiterhin das Denken und Handeln der Fürsten und Könige und damit die Richtlinien der Politik. In Italien und auf der Iberischen Halbinsel wurde die Reformation gewaltsam unterdrückt. Die Papstkirche spielte deshalb weiterhin eine wichtige politische Rolle. In den anderen Dynastien formierten sich mächtige protestantische Bewe761

Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, § 552, Anm. (bes. S. 432 ff.). Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 60; ders., Der Staat als sittlicher Staat; ders., Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel. 763 Dies betont zu Recht F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1878–80). Erster Band, Aph. 472. In ders., Werke Bd. 1, 679–683. 764 Vgl. K. Blaschke, Wechselwirkungen zwischen der Reformation und dem Aufbau des Territorialstaates; R. v. Dülmen, Reformation und Neuzeit. In ders., Religion und Gesellschaft, 10–35; bes. S. 17 ff. 765 Vgl. J. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, S. 26; ders., Der Dreißigjährige Krieg als moderner Staatsbildungskrieg. Zu Verlauf und Ergebnissen des 30jährigen Krieges vgl. auch den Katalog von K. Bußmann/H. Schilling (Hg.), 1648; bes. Bd. 1. 762

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gungen, die neue Lehren und Kulte entwickelten und sich dem Einfluß der römischen Kirche entzogen, die aber ihrerseits maßgeblichen Einfluß auf die Politik und auf die Umgestaltung des Alltagslebens gewannen. Vor allem die von Calvin radikalisierte Prädestinationslehre wurde zum Stachel der Kapitalakkumulation und zum „Geist des Kapitalismus“.766 Auch die „Umstellung vom mittelalterlichen Lehensstaat auf den modernen Anstaltsstaat“ war durch die hoch- und spätmittelalterliche Entwicklung vorbereitet worden.767 Der Konzentrationsprozeß in den verfeindeten, sich aus dem Kraftfeld des Reiches emanzipierenden Dynastien hatte längst eingesetzt. Die abendländische Einheitsvorstellung von Kirche und Reich war seit dem Investiturstreit problematisch geworden und hatte sich im späten Mittelalter als Illusion erwiesen. Dennoch hielten zahlreiche Theologen und Juristen auch weiterhin an ihr fest. Die gewaltige Ausdehnung des Reiches Karls V. (1515–55), in dem die Sonne niemals unterging, gab dem Gedanken der Universalmonarchie neue Nahrung, der schließlich auf die spanische Linie des Hauses Habsburg und von dort auf Ludwig XIV. von Frankreich überging.768 In Deutschland hielten die lutherischen Juristen auch noch im 17. Jahrhundert am alten Reichsgedanken fest,769 den sie mit Hilfe neuer wissenschaftlicher Instrumente (Staatsraison, Souveränitätstheorie, Natur- und Völkerrecht) neu fundierten (Dietrich Reinkingk, Veit Ludwig von Seckendorff, Hermann Conring u. a.).770 Strittig zwischen ihnen war nur, wer den Ausschlag in der Politik geben sollte, ob der Kaiser oder ob die Stände das Reich repräsentieren und regieren sollten. Unter dem ideologischen Schleier der Reichsidee schritt die Genealogie des Staates aber unaufhaltsam und zügig voran. Die religiös-politischen Konflikte des Deutschen Reiches wurden im Augsburger Religionsfrieden von 1555 entsprechend der – später geprägten – Formel cuius regio, eius religio gelöst, wonach die Kirche dem jeweiligen Landesherrn unterstellt sein sollte, der über ihre

766 Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik. Siehe unten, S. 630, Anm. 795 und S. 632 f. 767 Vgl. J. R. Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates, S. 78: „Im Großen und Ganzen läßt sich feststellen, daß die Regierungsbehörden, die bis zum Ende des 13. Jahrhunderts nicht eingerichtet worden waren, dann auch normalerweise nicht vor dem 16. oder gar 17. Jahrhundert auftauchen.“ 768 Vgl. F. Bosbach, Monarchia Universalis, bes. S. 35 ff. 769 Luther selbst hatte gereimt: „Das Wort sie sollen lassen stahn . . . Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin! Sie haben’s kein’ Gewinn; das Reich muß uns doch bleiben“ (Ein feste Burg ist unser Gott. In: Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg. Stuttgart 1953, S. 238; Hvh. von mir). Ob damit das Imperium, die Kirchengemeinde oder das Himmelreich gemeint war, soll hier nicht entschieden werden. 770 Vgl. M. Heckel, Staat und Kirche – und die einschlägigen Beiträge in M. Stolleis (Hg.), Staatsdenker; ders. (Hg.), Hermann Conring; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts 1, S. 218 ff.

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Konfession entschied.771 Doch erst mit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurde der durch religiöse und machtpolitische Interessen hervorgerufene und in Gang gehaltene Krieg aller gegen alle beendet und die innere Souveränität der einzelnen Dynastien durch die äußere komplettiert, d. h. durch die – vertraglich fixierte – gegenseitige Anerkennung der Staaten, die ihre Beziehungen in Krieg und Frieden künftig rechtlich regelten. Für die Genese des europäischen Staatensystems bildet deshalb das Jahr 1648 – nach 1075 („Papstrevolution“) und den großen Gesetzgebungen und Kämpfen des 12. und 13. Jahrhunderts – einen gravierenderen Einschnitt als die Zeit um 1500.772 Der Staat – als konkrete, an spezifische Voraussetzungen gebundene Form des Politischen – hat demnach zwar keinen „Geburtstag“,773 aber ein konkretes Datum, das seinen endgültigen Sieg über seine Rivalen (Kirche, Reich, Adel und Städte) markiert.774 So wird man zwar die realpolitischen Innovationen zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht überbewerten dürfen, doch ist zu konstatieren, daß sich in der Zeit vom späten 15. bis zum 18. Jahrhundert die Konzentration der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt fortsetzte, die im Laufe des 16. Jahrhunderts eine neue Qualität erreichte und im 17. Jahrhundert zur Formierung des europäischen Staatensystems führte.775 Vor allem aber hat sich ein neues Weltbild und ein klareres Bewußtsein für die politischen Zusammenhänge herausgebildet, das es rechtfertigt, die alte Epocheneinteilung als heuristisches Prinzip beizubehalten. In dieser Zeit fanden die aus dem Mittelalter überkommenen religiös-politischen Zentralprobleme tatsächlich ihre theoretische und praktische

771 Vgl. den Text des Augsburger Reichsabschieds vom 25. September 1555 in: A. Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, 215–283. 772 Daß der Westfälische Friede eine „Epochengrenze“ – nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Geschichte – markiert, betont besonders Zeeden, Das Zeitalter der Glaubenskämpfe, S. 202 ff.; ders., Deutschland, S. 578 ff.; ders., Hegemonialkriege, S. 328 ff., 354 ff. Vgl. auch A. Gestrich, Vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongreß; R. Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, S. 151 ff.; ders., Staaten und Stände, S. 15 ff. 773 E. Krippendorff, Art. Staat, S. 470. 774 Vgl. auch M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 137 ff.; H. Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 8 ff.; Schieder (Hg.), Handbuch. Bd. 4: Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. 775 Daß damit etwas qualitativ Neues entstand, betont auch R. v. Dülmen, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa: „Es gab ohne Zweifel schon früh – nicht nur in Burgund – Ansätze einer Zentralisierung feudaler Gewalten, einer Verdinglichung von Herrschaftsrechten, einer ersten Konsolidierung der Territorialgewalt mit eigenständiger Verwaltung und auch einer partiellen Integration der Kirche. Aber was sich im Lauf des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts an Staatlichkeit in Europa herausbildete, stellt qualitativ etwas Neues dar. Der Autonomieanspruch der Fürstenherrschaft, die Zentralisierung von Verwaltung und Finanzen, die soziale Kontrolle der Untertanen und die Monopolisierung legitimer Gewalten eröffneten eine neue Epoche herrschaftlicher Organisation. Aus dem feudalen Herrschaftsverband unterschiedlicher Abhängigkeiten entstand ein System souveräner, gleichberechtigter Staaten“ (S. 321).

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Lösung. Die politischen Kämpfe und die sich stabilisierenden staatlichen Herrschaftsformen provozierten neue theoretische Reflexionen, die ihrerseits ermöglicht und getragen wurden von einem neuen menschlichen Welt- und Selbstverständnis, das sich formte aus den Einsichten von Renaissance und Humanismus, reformierter Theologie, neuzeitlicher Naturphilosophie, neuer Anthropologie und Methodologie (s. u., S. 648 ff.). Das staatliche Gewaltmonopol fand nun wachsende Anerkennung auf seiten der Herrschaftsunterworfenen. Die gewaltsam erzeugten politischen Verhältnisse und Institutionen gewannen folglich Legitimität als Formen „rationaler Herrschaft“.776 In der Zeit zwischen Machiavelli und Hobbes erfolgte die Verinnerlichung und Anverwandlung des Staates durch das reflektierende Subjekt, das sich mit Hilfe seiner Vernunft aus den Klammern der christlichen Orthodoxie befreite und mit den objektiven Verhältnissen arrangierte und versöhnte. Darin liegt der entscheidende politische Vorgang der Frühen Neuzeit, der seinen Abschluß aber erst in der Moderne fand. Der Staat wurde verankert im Individuum, er erschien künftig als der angemessene Rahmen der menschlichen Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung, als Garant des Friedens und der Sicherheit. Er vermittelte das Gefühl der Geborgenheit und hatte das Sinnvakuum zu füllen, das nach dem Rückzug Gottes und der Entzauberung der Natur infolge der kopernikanischen Wende sowie durch den Niedergang des Reiches entstanden war. Den Schlußpunkt in dieser Entwicklung markiert Hegel. Ihm blieb es vorbehalten, den Staat als „Dasein Gottes auf Erden“ zu er- bzw. zu verklären.777 Im Kontext des habsburgisch-französischen Konflikts um die Vorherrschaft in Europa, der konfessionellen Bürgerkriege sowie der weiter andauernden Auseinandersetzungen zwischen monarchischen Zentralgewalten und den partikularen Kräften (Stände, Städte) wurden die weiteren Elemente gewonnen, aus denen sich die Staatsidee zusammensetzt.778 Neben der Idee der Staatsräson besonders wichtig wurde die Lehre von den Fundamentalgesetzen (lois fondamentales) und 776 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124 ff. Zur bürokratischen Verwaltung und zur Entwicklung des Staates siehe auch ebd., S. 551 ff., 815 ff. 777 Vgl. G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie: „Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist“ (§ 270, Anm.). Er ist die „ungeheure Vereinigung der Selbständigkeit der Individualität und der allgemeinen Substantialität“ (§ 33 Zus.). 778 Zur Entwicklung des Politikdenkens in der Frühen Neuzeit vgl. die Überblicksdarstellungen von K. Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie. Bd. II; A. Baruzzi, Einführung in die politische Philosophie der Neuzeit; R. W. Carlyle/A. J. Carlyle, A History of mediaeval political Theory in the West. Bd. 6: Political Theory from 1300–1600; H. Hofmann, Recht – Politik – Verfassung; F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, 73–196; W. Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution; G. Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 143 ff. Q. Skinner, The Foundations of Modern Political Thought – sowie die einschlägigen Beiträge in Fetscher/Münkler (Hg.), Handbuch. Bd. 2 u. 3 und in H. Maier u. a. (Hg.), Klassiker.

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die Souveränitätstheorie.779 Letztere war durch die hoch- und spätmittelalterlichen Versuche der Legisten und Kanonisten grundgelegt, fand ihre klassische Begründung aber erst bei Jean Bodin.780 Hinzu kam die Lehre des Natur- und Völkerrechts, die von den Spätscholastikern Francisco de Vitoria, Francisco Suárez u. a. in Spanien begründet und von Johannes Althusius und Hugo Grotius vollendet wurde.781 Seine ausgereifte und daher „klassische“ Begründung fand der Staat schließlich im Leviathan des Thomas Hobbes (1651), der die theoretischen Vorarbeiten seiner Vorgänger – Machiavelli, Luther, Calvin, Bodin, Grotius, Althusius u. a. – zusammenfaßte und in eine großartige Synthese brachte – und so die erste umfassende, mit den Mitteln der neuzeitlichen Wissenschaft (more geometrico) begründete, in sich stringente und konsistente Staatstheorie entwickelte, die alle bislang verstreut vorliegenden Elemente integrierte und deshalb zum Ausgangs- und Bezugspunkt aller auf ihn folgenden Staatstheorien wurde. Sie kann deshalb im folgenden als Paradigma dienen, mit dessen Hilfe die Grundlagen und Elemente der Staatsidee und die Entwicklung der frühneuzeitlichen Staatstheorie rekonstruiert werden sollen. Gegen die Omnipotenz des sich etablierenden absolutistischen Staates wandte sich die Lehre des Widerstandsrechts, die von den calvinistischen Monarchomachen (Hotman, Beza, Duplessis-Mornay) begründet wurde.782 Gegen die sich formierenden Staaten polemisierten ferner die frühneuzeitlichen Utopien (Morus, Campanella, Bacon u. a.),783 die einen alternativen, d. h. nicht-staatlichen Ausweg aus der frühneuzeitlichen Malaise suchten und deshalb keine „Staatsutopien“,784 sondern „Gesellschaftsutopien“ waren. Sie bildeten einen krassen Gegensatz zur Lehre von der Staatsräson785 und setzten den bestehenden Herrschaftsverhältnissen eine ideale Gesellschaftsordnung entgegen, die ohne staatliches Gewaltmonopol auskommt. Ihr Ziel war nicht staatliche Herrschaft und 779 Diese drei Zentralbestandteile der Staatsidee betont zu Recht Stolleis, Condere leges et interpretari, S. 182 ff. 780 Vgl. J. Bodin, Six livres de la République (1576). Dt: Sechs Bücher über den Staat. Dazu J. Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität; M. Imboden, Johannes Bodinus; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 243 ff.; H. G. Walther, Imperiales Königtum, S. 261 ff. 781 Vgl. den Überblick von O. Kimminich, Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts (weitere Literatur: S. 99 f.). 782 Vgl. J. Dennert (Hg.), Beza, Brutus, Hotman. Dazu U. Bermbach, Widerstandsrecht; J. N. Figgis, Studies of Political Thought, S. 116 ff.; G. Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 190 ff. 783 Vgl. K. J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat. 784 Vgl. R. Saage, Politische Utopien der Neuzeit. Zur Kritik an Saage vgl. den Besprechungs-Essay von A. Neusüss, Von der Versuchung zum Überschuß. Zweierlei Utopie oder dieselbe? 785 Schon Friedrich Meinecke sah, daß Campanella einen immer wiederholten Kampf gegen die ragione di stato führte, die mit ihren eigenen Mitteln überwunden werden sollte. Vgl. Die Idee der Staatsräson, S. 113 ff.

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Souveränität, sondern Gleichheit auf der Basis von Gemeineigentum. Die Gesellschaft sollte nicht durch eine monopolisierte Zwangsgewalt zusammengehalten werden, diese wird vielmehr in die Gesellschaft zurückgenommen und „aufgehoben“ bzw. zum Verschwinden gebracht.786 Damit war das politische Grundproblem jener Zeit, die Herstellung und Sicherung des Friedens, auf raffinierte oder aber auf naive Weise übersprungen. Das Grundanliegen der Verfasser von Utopia (1516/17), Sonnenstaat (1602/23) und Neu-Atlantis (1627) war die Begründung von politischen Alternativen zur staatlichen Herrschaft.787 Diese wurden später von den frühsozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Bewegungen weitergedacht und zum Teil praktisch umgesetzt (während der „real existierende Sozialismus“ des 20. Jahrhunderts – aufgrund der gegebenen Umstände, aber im krassen Gegensatz zu den Intentionen seiner Vordenker – den Sozialismus innerhalb der Form Staat zu realisieren gedachte). Gerade durch die Kontrastierung mit diesen Gegen-Konzeptionen lassen sich die Merkmale des Staates genauer explizieren. Die nach-hobbessche Staatstheorie kreiste – grosso modo – um zwei Problemkomplexe. Sie wurde beherrscht von zwei Kontroversen, die sich ungefähr zeitgleich entfalteten und gelegentlich überlagerten. Der eine Kampf zielte auf die Begrenzung der Staatsgewalt. Der zweite wurde zwischen den Anhängern des fürstlichen Absolutismus und den Verfechtern des Republikanismus (Aristokraten, Demokraten) ausgefochten. Nachdem der Friede hergestellt, nachdem die Form Staat etabliert und im Bewußtsein der Intellektuellen fest verankert war, nachdem das europäische Staatensystem im Westfälischen Frieden seinen Rahmen und der Staat im Leviathan des Thomas Hobbes seine klassische Begründung gefunden hatte, begannen theoretische Reflexionen über seine konkrete Form, seine Adäquanz, seine Grenzen und seine legitimen Machtbefugnisse. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan und konnte abtreten.

786 Vgl. T. Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, S. 370 ff. 787 Dies räumt auch Richard Saage ein, der den energischen, aber dennoch problematischen Versuch unternimmt, die Entwürfe der Utopisten als „Staatsutopien“ zu charakterisieren. Nachdem er dargelegt hat, daß es in Utopia, im Sonnenstaat und in Neu-Atlantis doch „staatliche“ Formen der Herrschaft gebe, daß daher T. Nipperdey unrecht habe, wenn er feststellt, Morus, Campanella, Bacon u. a. lösten den Staat in die Gesellschaft auf, kommt er schließlich zum Ergebnis: „Es ist richtig: Der Staat tritt bei ihnen als von der Gesellschaft getrennte Sphäre nicht in Erscheinung; insofern wird ein für die frühe Neuzeit fundamentaler Prozeß verworfen“ (Politische Utopien, S. 66). Was dann jedoch den Ausdruck „Staatsutopien“ rechtfertigen soll, ist genauso wenig einzusehen, wie der Versuch, Platons Politeia als Utopie zu interpretieren und zur Folie für die Rekonstruktion der neuzeitlichen Utopie zu machen. Zentrales Anliegen der frühneuzeitlichen Utopien war die Imagination von Herrschaftsfreiheit, während Platon in der Politeia die unbeschränkte Herrschaft der Wächter begründete. Vgl. auch ders., Utopia als Leviathan. Platons Politeia in ihrem Verhältnis zu den frühneuzeitlichen Utopien.

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Da der absolutistische Staat eine vorläufige Befriedung erreicht hatte, setzte im späten 17. Jahrhundert eine allgemeine Kritik an seiner Allmacht ein. Die Staatsgewalt sollte sich selbst begrenzen und aus den wirtschaftlichen Angelegenheiten heraushalten (Liberalismus, Konstitutionalismus). Die Bürger sollten stärker an der Willensbildung und Entscheidungsfindung beteiligt werden (Republikanismus, Demokratietheorie). Der Konstitutionalismus begann mit John Locke (1632–1704) und wurde weiter konkretisiert durch Montesquieu (1689– 1755) und die Federalist Papers (1788), d. h. durch die amerikanischen Verfassungstheorien von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay. Die moderne Demokratietheorie wurde vorbereitet durch Baruch de Spinoza (1632–77), erhielt ihre klassische Begründung durch Jean-Jacques Rousseau (1712–78) und mündete über die frühsozialistischen Bewegungen in die Revolutionstheorie der Jakobiner und von dort in die sozialistische, kommunistische und anarchistische Staatskritik. Beide Strömungen flossen zusammen und entluden sich in den großen Verfassungsdebatten in Frankreich (1789/91) und in den USA (1787), die zur Institutionalisierung eines historischen Kompromisses und zur Idee der konstitutionellen Monarchie bzw. der repräsentativen und verfassungsmäßig begrenzten Demokratie führten. Im 19. Jahrhundert geriet der Staat ins Kraftfeld von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus. Er wurde in den bürgerlichen Rechtsstaat transformiert, der im 20. Jahrhundert durch den demokratischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat komplettiert wurde. Die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung, der Fundierung und Formierung sowie der weiteren Differenzierung und Institutionalisierung der Staatsidee, müssen im folgenden betrachtet werden, wobei wiederum keine durchgängige Interpretation aller einschlägigen Quellen möglich, sondern eine Synopse beabsichtigt ist.

b) Grundlagen und Elemente des Staates Entsprechend der Methode dieser Untersuchung ist die frühneuzeitliche Staatstheorie aus dem historischen Kontext heraus zu begreifen, in dem sie gewachsen ist. Erst im zweiten Schritt kann die Frage aufgeworfen werden, ob sie stringent und konsistent und folglich geeignet ist, die von ihr in Angriff genommenen Probleme zu lösen. Und erst im dritten Schritt kann schließlich erörtert werden, wie weit sie auch heute noch trägt bei der Erklärung aktueller politischer Erscheinungen und Zusammenhänge. Die Ausleuchtung des historischen Hintergrunds bringt allerdings Schwierigkeiten mit sich, die sich aus der Komplexität der historischen Zusammenhänge einerseits, aus der Frage nach den relevanten Quellen und ihrer Bewertung andererseits ergeben. Infolge der Erfindung der beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg in der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde das kulturelle Gedächtnis der Europäer revolutioniert. Der Buchdruck führte in der Frühen Neuzeit zu einer drastischen Vermehrung der literarischen Quellen. Will man nicht in der Materialfülle ertrinken, so sind Abstraktionen und Schwer-

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punktsetzungen erforderlich. Die Betrachtung der historischen Situation ist somit selbst theorieabhängig. Nicht nur die Rekonstruktion der Ideengeschichte, sondern auch die der Realgeschichte eröffnet konkrete Alternativen. Nach welchen Kriterien sollen die Knotenpunkte ausgewählt werden? Soll sich die Darstellung am heutigen historischen Wissen orientieren? Oder soll sie die Quellen selber sprechen lassen, die von der Geschichtsschreibung interpretiert werden? Die Geschichte selbst ist uns heute nur noch in ihren Resultaten, aber nicht mehr in ihrem Verlauf gegenwärtig. Zu diesen Quellen und Resultaten gehören auch die thematischen Theorien. Es gibt nur Texte, aber keine hinter ihnen liegende Realität.788 Ferner sind die Geschichtsschreiber nicht bloße Statistiker, sondern Konstrukteure. Darauf hat insbesondere Hayden White hingewiesen, der – am Beispiel der Darstellung der Französischen Revolution bei Michelet, Ranke, Tocqueville, Burckhardt, Marx, Nietzsche und Croce – zeigen konnte, daß und wie die einzelnen Historiker aufgrund unterschiedlicher Vorannahmen und divergierender begrifflicher und rhetorischer Instrumentarien zu ganz unterschiedlichen Geschichtsbildern gelangen. Was dem einen als Tragödie, erscheint dem zweiten als Romanze, dem dritten als Komödie, dem vierten als Satire oder Farce. Und was der eine für entscheidend hält, betrachtet der andere als bloßes „Beiherspiel“ (Hegel) und als Nebensächlichkeit, der keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß.789 Diese Problematik soll hier nicht vertieft werden. Zu fragen ist jedoch, wie der historische Kontext zu Beginn der Neuzeit beschrieben werden soll – ob nach den Vorgaben der jüngeren Geschichtswissenschaft oder nach den literarischen Quellen. Der erste Weg birgt die Gefahr, daß solche Momente zu Kardinalproblemen stilisiert werden, die für die damaligen Theoretiker noch gar nicht als Probleme existierten. Die zweite Lösung führt in einen Zirkel, da die frühneuzeitlichen Staatstheorien genau vor jenem Problemhorizont betrachtet werden, den sie selbst aufgespannt haben. Dadurch wird die erforderliche Distanz verhindert, die überhaupt erst eine Einschätzung ihrer Problemlösungsvorschläge ermöglicht. Die im ersten Ansatz enthaltene Crux läßt sich anhand der marxistischen Geschichtsschreibung verdeutlichen. Wie Marx betonte, kann die Entwicklung des Denkens nicht unabhängig von der materiellen Basis begriffen werden, auf der es sich entfaltet hat. Deshalb muß zunächst die soziale und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung untersucht werden. Nun spielten aber gerade die ökonomischen Probleme für die meisten Politiktheoretiker der beginnenden Neuzeit so gut wie gar keine Rolle. Die Fragen der Politischen Ökonomie rückten erst nach

788 So die zutreffende Kritik an Niklas Luhmann bei Stolleis, Staat und Staatsräson, S. 10. Luhmann versucht dagegen in seinen wissenssoziologischen Untersuchungen neben oder unterhalb der semantischen eine von ihr unterscheidbare strukturelle Entwicklung auszumachen, auf die er die erstere zurückbezieht. 789 Vgl. H. White, Metahistory; ders., Auch Klio dichtet.

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Thomas Hobbes in den Mittelpunkt des Interesses. Nur einige spanische, französische und englische Merkantilisten befaßten sich schon im 15. und 16. Jahrhundert mit Fragen des Geldes und der Ökonomie insgesamt.790 Die klassische Politische Ökonomie hingegen begann, wie Marx immer wieder betonte, mit William Petty (1623–87) und Boisguillebert (1646–1714), also in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.791 Dennoch muß die ökonomische Sphäre natürlich berücksichtigt werden, weil die Staatsgenese aus ihr wichtige Impulse erhielt. Ohne den prosperierenden Kapitalismus hätten die werdenden europäischen Staaten ihre fiskalischen Probleme schwerlich lösen können.792 Obgleich von den zeitgenössischen Denkern und frühen Klassikern der Staatstheorie nicht oder kaum wahrgenommen, ist eine, wenn nicht die entscheidende Entwicklung in der Frühen Neuzeit die Genese kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Darauf muß zuallererst eingegangen werden. Ins Zentrum zu rücken sind dann aber jene Probleme, die von den Staatstheoretikern selbst angegangen wurden. Bei dem dabei drohenden Zirkel handelt es sich nämlich nicht um einen logischen, sondern um einen hermeneutischen, aus dem kein Weg befreit. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma wäre, die zu analysierenden Theorien im Kontext der anderen Quellen ihrer Zeit zu reflektieren, d. h. alle Äußerungen der Epoche – in Politik, Recht, Kunst, Theater, Literatur usw. – mit in Betracht zu ziehen. Dadurch würde aber das erwähnte Komplexitätsproblem gesteigert. Zur Entlastung muß ein Kompromiß gefunden werden. Weil Theorien zunächst einmal und primär im Lichte der wesentlichen Intentionen ihrer Schöpfer und nicht im Licht fremder Begründungsinteressen zu betrachten sind, soll hier vor allem der zweite Weg beschritten werden. Folglich werden die Quellen selbst zum Sprechen gebracht, während die jüngere Geschichtsforschung als Ergänzung und als Korrekturinstanz heranzuziehen ist. Um aber der drohenden Uferlosigkeit zu entrinnen, wird im folgenden versucht, jene Probleme synoptisch zusammenzufassen, die für die frühneuzeitliche Staatstheorie ausschlaggebend waren. Nach den realgeschichtlichen Prozessen wird deshalb die theoretische Entwicklung untersucht und die Entstehung des neuzeitlichen Weltbildes aus der Krise der christlichen Weltanschauung thematisiert. Dadurch lassen sich die Grundlagen und Elemente der Staatsidee freilegen.

790 Vgl. dazu A. Bürgin, Merkantilismus; J.-Y. Calvez, Karl Marx, S. 232 ff.; R. Zech/ H. Reichelt, Nationalökonomische Theorien, S. 561 ff. 791 Vgl. K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). In: MEW 13, 3–160; hier: S. 37 f.; ders., Das Kapital. Bd. 1. MEW 23, S. 95, Anm. 32; ders., Theorien über den Mehrwert. MEW 26.1.–3. 792 Daß sich die Genealogie des Staates nicht aus der ökonomischen Entwicklung „ableiten“ läßt, wurde bereits oben betont. Siehe S. 445. Zur Entstehung und Entwicklung theoretischer Reflexionen über den Kapitalismus vgl. auch A. O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen.

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aa) Wirtschaft und Sozialstruktur, Religion und Politik im frühneuzeitlichen Europa Die epochale Neuerung der Frühen Neuzeit war die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus, d. h. die Herausbildung bürgerlicher Lebensformen, die zunächst noch im Konflikt mit den überkommenen Feudalstrukturen und den vom Mittelalter ererbten Lebensverhältnissen lagen. „Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals“, schreibt Marx zu Beginn des 4. Kapitels des Kapitals.793 Die kapitalistische Produktionsweise erwuchs auf dem Boden des Feudalismus und überrollte diesen allmählich von innen her. Die Frühe Neuzeit steht noch nicht im Signum des Kapitalismus. Sie ist insgesamt und damit auch ökonomisch gesehen eine Zeit des Übergangs.794 Im 16. und 17. Jahrhundert war die europäische Gesellschaft noch eine reine Agrargesellschaft. 80 bis 90 % der arbeitenden Bevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig (S. 40). Der Rest, also die verbleibenden 10 bis 20 %, verteilten sich auf Handel und Gewerbe. Das fundamentale Element der Agrarverfassung und der gesamten bäuerlichen Lebensordnung bildete weiterhin die Grundherrschaft (s. o., S. 382 f.). Im Rahmen dieser Herrschaftsordnung formierte sich das kapitalistische Weltsystem. War die traditionelle Hausökonomie auf die Deckung des Eigenbedarfs angelegt, so begann nun die Kommerzialisierung und Kapitalisierung der landwirtschaftlichen Produktion. Man begann, für den Markt zu produzieren, der sich langsam, aber stetig ausdehnte. Der zunehmende Geldverkehr mit den ihm inhärierenden Teuerungserscheinungen und Preisschwankungen – bedingt durch die anschwellenden Gold- und Silbermengen – veränderte zusehends die soziale Lebenswelt der Menschen und bedrohte ihre traditionellen Vorstellungen und Werte (S. 28). Die noch immer wichtigsten theoretischen Erklärungen der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus stammen von Marx und Max Weber, deren Studien zwar hinsichtlich einzelner Befunde und Bewertungen kritisiert worden sind,795 die aber beide unverzichtbar sind, will man verstehen, was sich im frühneuzeitlichen Europa ökonomisch ereignet hat. Den Prozeß der sog. „ursprünglichen Akkumulation“, d. h. der frühen Kapitalbildung, hat Marx am Beispiel Englands sehr plastisch beschrieben.796 Die beiden Hauptaspekte bilden die Expropriation 793 K. Marx, Das Kapital. Bd. 1. MEW 23, S. 161. Zur Formierung des kapitalistischen Weltsystems vgl. auch M. Dobb, Entwicklung des Kapitalismus; W. Sombart, Der moderne Kapitalismus; P. M. Sweezy u. a., Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus; I. Wallerstein, The Modern World System I u. II. 794 Vgl. zum folgenden v. Dülmen, Entstehung, S. 19 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 795 Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik. Bd. 2: Kritiken und Antikritiken; C. Seyfarth/W. M. Sprondel (Hg.), Seminar: Religion und gesellschaftliche Entwicklung; R. v. Dülmen, Protestantismus und Kapitalismus; Karl Marx und Max Weber; S. N. Eisenstadt, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.

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von Grund und Boden, d. h. die Kapitalisierung, die Einbeziehung des Grundeigentums in den Warenverkehr, sowie die „Befreiung“ der Landbevölkerung – im bekannten Doppelsinn: Sie wurde ineins befreit aus den feudalen Abhängigkeitsverhältnissen und von ihren Arbeits- und Lebensmitteln. Sie wurde proletarisiert und verjagt von ihrem Grund und Boden, ihren bisherigen Wohn- und Arbeitsstätten. Sie wurde auf den Arbeitsmarkt geschleudert und genötigt, ihre Arbeitskraft als wohlfeile Ware anzubieten. Ihr Gemeindeland wurde usurpiert von den großen Feudalherren, die sich zusehends an kapitalistischen Prinzipien orientierten. Marx macht für diesen Vorgang vor allem zwei Entwicklungen verantwortlich. Die erste begann im letzten Drittel des 15. und in den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts. Mit dem Aufblühen der flandrischen Wollmanufaktur und dem entsprechenden Anstieg der Wollpreise wuchs das Bestreben der englischen Feudalherren, bisheriges Ackerland in Schafsweide umzuwandeln. Zu diesem Zweck ließen sie die Wohnungen der Bauern und die Arbeitersiedlungen niederreißen und vertrieben die dort Ansässigen. Da für die Schafsweide nur wenige Hirten benötigt wurden, verloren die Kleinbauern und Landarbeiter ihren Arbeitsplatz. Sie zogen deshalb als Landstreicher umher, ernährten sich von kleineren Diebstählen und wurden folglich in die Schuldtürme gesteckt. Von dort wurden sie in die Städte verfrachtet, in denen Manufakturen und Fabriken bereitstanden, die als Auffanglager dienten. Da die proletarisierten Massen jedoch nur wenig Lust verspürten und nicht freiwillig in diese Arbeitslager gingen, wurde der werdende Staat mobilisiert, der seine gesamte Gewalt bereitstellte, um sie in Lohnarbeitsverhältnisse zu zwingen.797 Als zweiten Anstoß zur Umwandlung der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise nennt Marx die Reformation und – in ihrem Gefolge – „den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter“: „Die katholische Kirche war zur Zeit der Reformation Feudaleigentümerin eines großen Teils des englischen Grund und Bodens. Die Unterdrückung der Klöster usw. schleuderte deren Einwohner ins Proletariat. Die Kirchengüter selbst wurden großenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten erblichen Untersassen massenhaft verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen“ (MEW 23, S. 749). Nicht nur für die Mentalität und die Motivstrukturen („Geist des Kapitalismus“), sondern auch für die ökonomische Dynamik selbst spielten religiös-politische Momente und Entwicklungen somit eine bedeutende Rolle. Die frühe Kapitalbildung wäre in 796 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Bd. 1, Kap. 24. MEW 23, S. 741 ff. (künftig zitiert als MEW 23). Daß es sich hierbei allerdings um einen Sonderweg einiger englischer Regionen und nicht um ein allgemeines Muster der Entstehung des Kapitalismus handelt, wurde zu Recht von der Marx-Kritik betont. Dennoch werden dabei allgemeine Wesensmerkmale der neuen Produktionsweise sichtbar. 797 Vgl. MEW 23, S. 746 f. Siehe dazu auch M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft; ders., Überwachen und Strafen; H. Gerstenberger, Zur Theorie der historischen Konstitution des bürgerlichen Staates, S. 221 ff.

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England nicht so schnell in Gang gekommen, hätte nicht Heinrich VIII. (1509– 47) mit der römischen Papstkirche gebrochen und sich 1534 zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche erklärt – mit der Folge, daß die Besitztümer der katholischen Kirche in England enteignet und an königliche Günstlinge verschenkt oder zu Schleuderpreisen entäußert wurden. In diesem Prozeß stieg der arme Landadel, die Gentry, zu neuem Ansehen auf. Auf die weiteren von Marx thematisierten Aspekte – Armen- und Blutgesetzgebung, Gesetze zur Herabdrückung der Löhne, Genesis des individuellen Kapitalisten, geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation usw. – muß hier nicht eingegangen werden. Festzuhalten ist, daß die Entstehung und Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse wie die Etablierung von Waren- und Tauschbeziehungen insgesamt durch Gewalt ermöglicht wurde, und zwar durch die Gewalt des entstehenden Staates. Dies gilt nicht nur für England, sondern für das ganze kapitalistische Weltsystem. Und diese Gewalt ist im Gang der weiteren Entwicklung nicht verschwunden, sie ist vielmehr verinnerlicht worden.798 Marx beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „Es ist nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den anderen Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht, sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Übervölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitals über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ,Naturgesetzen der Produktion‘ überlassen bleiben, d. h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital.“ (S. 765)

Während also im entwickelten Kapitalismus außerökonomische Gewalt nur ausnahmsweise angewandt wird – zur Gefügigmachung widerborstiger Arbeitskräfte –, war sie für die Genese des Kapitalismus konstitutiv. Es war der entstehende Staat, der zum Geburtshelfer bzw. zum Katalysator der kapitalistischen Entwicklung wurde. Und es war die reformierte Religion, die ihn dabei unterstützte und die Motive für die Kapitalakkumulation lieferte. Darauf hat besonders Max Weber hingewiesen, der in seiner Studie Die protestantische Ethik und 798 Die Gewalt, die sich bereits im einfachen Tauschverhältnis verbirgt, wird sehr plastisch beschrieben in einer Allegorie von O. Negt/A. Kluge, Der antike Seeheld als Metapher der Aufklärung; die deutschen Grübelgegenbilder: Aufklärung als Verschanzung; ,Eigensinn‘. In: J. Habermas (Hg.), Stichworte zur ,Geistigen Situation der Zeit‘. Bd. 1, 135–163; bes. S. 141 f. Auch in dies., Geschichte und Eigensinn, S. 747 ff.

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der Geist des Kapitalismus zeigen konnte, daß und wie die im Protestantismus wurzelnde Arbeitsmoral und das calvinistische Askeseideal zum inneren Motor der Kapitalakkumulation und zur motivationalen Grundlage der Kapitalisierung geworden ist.799 Die Reformation führte nicht nur den entscheidenden Stoß bei der Auflösung der religiös-politischen Einheitswelt und der künftigen Trennung von Religion und Politik, sie forcierte auch den Aufstieg des Kapitalismus. Aber nicht im Luthertum, sondern im Calvinismus entfaltete der Protestantismus sein revolutionäres Potential. Der Grund dafür lag in der spezifischen Interpretation, die Calvin (1509–64) der Prädestinationslehre gegeben hatte.800 Er hatte die augustinsche Gnadenlehre radikalisiert, derzufolge Gott – ohne Rücksicht auf die Werke und Leistungen der einzelnen – auserwählt und verdammt, wen immer er will. Nach der Deutung Calvins läßt sich das von Gott vorherbestimmte Schicksal der Seele nach dem Tod und dem jüngsten Gericht zwar nicht durch eigene Aktivitäten beeinflussen, doch können die Menschen schon auf Erden erkennen, ob sie zu den Auserkorenen oder den Verdammten gehören werden. Auskunft darüber sollten die Erfolge und Mißerfolge geben, die sie errungen oder erlitten haben. Das Leben nach dem Tode bildet die Fortsetzung des irdischen. Das künftige Geschick der Seele wird sichtbar in der irdischen Lebensführung. Die vom Individuum vollbrachten Werke können zwar nicht Gottes Ratschluß ändern, doch lassen sie ihn transparent werden. Sie zeigen an, welche Zukunft die Seele haben wird. Da sich die Leistungen der Menschen in den angehäuften Reich- und Besitztümern materialisieren, wurden die Anhänger dieser Lehre zu gesteigerten Aktivitäten und Arbeitsleistungen getrieben. Sie begannen zu sparen und zu rechnen, Vermögen zu horten und Kapital zu akkumulieren. Ohne diesen Antrieb wäre der Kapitalismus schwerer in Gang gekommen. Ohne diesen religiösen Stachel hätte es keinen einsehbaren Grund gegeben, Geld und Kapital zu scheffeln. Ohne das calvinistische Berufs- und Askeseideal hätte es nahegelegen, sich dem Konsum hinzugeben und die eigenen Arbeitsprodukte zu verzehren, nicht aber sie in Form von allgemeinen Äquivalenten zu hamstern. Zwar hat sich die Gier nach Geld und Kapital – wie auch Max Weber sah – später selbständig gemacht und von den religiösen Krücken abgelöst, doch lieferte die calvinistische und speziell die puritanische 799 Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Siehe auch R. Bendix, Max Webers Religionssoziologie; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, 299 ff.; W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 204 ff.; R. H. Tawney, Religion and the Rise of Capitalism; E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. 800 Vgl. J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (1536). Zu Calvins politischen Ideen vgl. J. W. Allen, A History of Political Thought, S. 49 ff.; Bermbach, Widerstandsrecht, S. 107 ff.; J. Bohatecˇ, Calvins Lehre von Staat und Kirche ders., Calvin und das Recht; H. Hoepfl, The Christian Polity of John Calvin; P. Mesnard, L’essor de la philosophie politique au XVIe siècle, S. 269 ff.; Q. Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Bd. 2; Zeeden, Hegemonialkriege, S. 38 ff.

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Religion eine, wenn nicht die alles entscheidende mentale Triebkraft für die Durchsetzung und den Aufstieg der neuen Produktionsweise. Nicht nur die Politik, sondern auch die Ökonomie wurde freigesetzt aus dem Klammergriff der katholischen Kirche. Das 16. Jahrhundert erlebte in ganz Europa einen großen wirtschaftlichen Aufschwung – sowohl in der Landwirtschaft als auch in Handel und Gewerbe.801 Aber seit der Jahrhundertwende, spätestens seit den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts, erfolgte in den alten Reichen des 16. Jahrhunderts ein Umschwung, der in Spanien begann und bald alle Länder Europas erfaßte – mit Ausnahme von England und den Niederlanden. Diese tiefgreifende Wirtschaftskrise wurde erst im 18. Jahrhundert überwunden. Und nur England und Holland gingen aus der allgemeinen Finanz- und Agrarkrise eher stabilisiert hervor. Während das Wirtschaftsleben der alten Reiche zerrüttet wurde, erlebten sie eine Wirtschaftsblüte, was einerseits ihren alsbaldigen ökonomischen Vorsprung, andererseits ihre politische Sonderentwicklung erklärt. Im Unterschied nämlich zu den meisten anderen Ländern Europas konnte sich in ihnen keine absolute Monarchie etablieren. Das wirtschaftliche Auf und Ab spiegelt sich in der demographischen Entwicklung wider: War die Bevölkerungszahl in Europa um 1600 auf ca. 100 bis 110 Millionen Menschen angewachsen, von denen ca. 18,5 Mio. in Frankreich, ca. 15 Mio. im Heiligen römischen Reich deutscher Nation und ca. 6,8 Mio. auf den britischen Inseln lebten, so wurde sie durch Seuchen und den Dreißigjährigen Krieg wieder reduziert. In der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte Europa noch ca. 85 Mio. Bewohner.802 Der entstehende Kapitalismus löste die alte Ständeordnung nicht auf, sondern bewirkte – in Korrelation mit den politischen, rechtlichen und religiösen Bestrebungen803 – ihre Festschreibung.804 Die europäische Gesellschaft gliederte sich weiterhin in die drei „mittelalterlichen“ Stände (Adel, Bürgertum und Bauernschaft), und diese Ständespaltung wurde durch die Entstehung des Kapitalismus und des Staates nicht beseitigt, sondern im Gegenteil zementiert.805 „Die Gesell801 Vgl. zum folgenden v. Dülmen, Entstehung, S. 28 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen: S. 416 ff.). Ferner W. Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa; ders., Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. 802 Die Schätzungen schwanken allerdings. Anderen Angaben zufolge lebten um 1660 maximal 110 Millionen Menschen in Europa, von denen ca. 19 Mio. auf Frankreich, ca. 10 Mio. auf das Deutsche Reich, knapp 5 Mio. auf die britischen Inseln und ca. 2 Mio. auf die Vereinigten Niederlande entfielen. Vgl. H. Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 1 (Grundprobleme und Tendenzen der Forschung: S. 166 ff.). 803 Zur Einheit von wirtschaftlicher, sozialer, religiöser und staatlicher Ordnung in Europa vom 15. bis zum 17. Jahrhundert vgl. auch J. Engel, S. 387 ff. 804 Vgl. zum folgenden v. Dülmen, Entstehung, S. 102 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 805 Dies betont auch P. Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates. Für ihn stellt der Absolutismus nur eine spezifische Form der Reformierung der Feudalherrschaft in der Krise des Feudalismus dar, eine Konsolidierung und Stabilisierung der

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schaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit begriff sich als eine Ständegesellschaft, in der jeder einzelne durch Geburt oder Privileg Mitglied eines Standes war und aufgrund dieser Zugehörigkeit Anspruch auf die von einem Stand monopolisierten Lebenschancen besaß“ (S. 102). Zwar gab es in England und den Niederlanden zum Teil ständenivellierende Tendenzen, in Europa als Ganzem aber bewirkte die beginnende kapitalistische Akkumulation eher eine Verhärtung der ständischen Strukturen. Die Ständespaltung wurde demnach nicht aufgehoben, sondern in eine rigide festgeschriebene und nun auch herrschaftlich abgesicherte Ordnung umgeformt. Diese Konsolidierung erfolgte, wie Richard van Dülmen betont, in den einzelnen Ländern zwar unterschiedlich intensiv, zeigte sich aber strukturell überall. Sie bahnte sich zum Teil bereits seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an, erreichte aber fast überall ihren Höhepunkt gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die Kluft zwischen den Ständen wurde immer größer (S. 103). Hinzu kam die innere Differenzierung: „Parallel zur Abschließung der Stände Adel, Bürgertum und Bauern voneinander differenzierten sich die einzelnen Stände in der Weise, daß sich aus dem Adelsstand der höhere Adel, aus dem Bürgertum die patrizische Oberschicht und aus der bäuerlichen Dorfgemeinschaft die Dorfehrbarkeit klar abhoben“ (S. 104). Diese Festschreibung und Differenzierung wurde vom entstehenden Staat herrschaftlich abgesichert. „Aus dem hohen Adel, dem städtischen Patriziat und der Dorfehrbarkeit bildeten sich scharf abgehobene Familienkasten, die ihre soziale Stellung unabhängig von Leistung, Reichtum und sozialer Funktion durch Patronage und Heiratspolitik zu sichern suchten“ (ebd.). Zum religiösen Schlüsselereignis der Frühen Neuzeit wurde die Reformation.806 Sie begann 1517 mit Luthers Thesenanschlag und verbreitete sich rasch im Deutschen Reich und über Europa.807 Zwar wurde Luther von der katholischen Kirche und vom Kaiser hart attackiert und schließlich verurteilt und gebannt,808 doch fand sein Protest wachsenden Anklang beim einfachen Volk809 Feudalität: „Der Absolutismus war im wesentlichen ein wiederentfaltetes, erneuertes System der Feudalherrschaft, das dazu bestimmt war, die Bauernmassen in ihre traditionelle soziale Position zurückzuzwingen . . .“ (S. 20). 806 Vgl. H. Lutz, Reformation und Gegenreformation (mit Forschungsbericht und umfassenden Literaturhinweisen). 807 Vgl. neben der oben (S. 612 ff., Anm. 727 ff. und S. 616, Anm. 746 f.) genannten Literatur auch K. Aland (Hg.), Die 95 Thesen Martin Luthers; P. Blickle, Die Reformation; K. Brandi, Deutsche Geschichte; ders., Reformation und Gegenreformation; E. Cameron, The European Reformation; H. Diwald, Ansprich auf Mündigkeit, S. 325 ff.; G. R. Elton, Europa im Zeitalter der Reformation; M. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter; H. Klueting, Das konfessionelle Zeitalter; H. G. Koenigsberger/G. L. Mosse, Europe in the sixteenth Century; B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation; G. Ritter, Die Neugestaltung Deutschlands und Europas; Romano/Tenenti, Die Grundlegung, S. 253 ff. 808 Vgl. R. Bäumer (Hg.), Lutherprozeß und Lutherbann; F. Seibt, Karl V., S. 61 ff. 809 Vgl. P. Blickle, Gemeindereformation (weitere Literatur: S. 217 ff.).

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und zugleich Rückendeckung durch zahlreiche Mächtige im Reich, durch den Adel und die Fürsten, die ihre Position gegenüber den beiden Universalmächten zu stärken versuchten und auf den Erwerb des zu enteignenden Kirchenbesitzes hofften. Die jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen bewirkten, daß die Reformation in den verschiedenen Ländern einen unterschiedlichen Verlauf nahm. Ihre rasante Verbreitung bewirkte, daß der Protestantismus in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts zur stärksten religiös-politischen Macht in Europa wurde. Erst in den 20er und 30er Jahren des 17. Jahrhunderts ging sein Einfluß infolge der katholischen Gegenreformation wieder zurück.810 Gegen die bestehende Institution der Kirche setzte Luther die urchristliche Vision einer pneumatischen Einheit, die keiner institutionellen Verkörperung bedarf. Er erneuerte und radikalisierte die alte Kritik an den Mißständen der Ekklesia. War es der Kurie im Mittelalter noch gelungen, die zahlreichen Protestbewegungen, die sich gegen die Machtfülle und den angehäuften Reichtum der Kirche wandten, gewaltsam zu unterdrücken oder zu neutralisieren, d. h. durch die Inquisition zu verfolgen und zu vernichten (Waldenser, Katharer usw.) oder aber in die katholische Kirche zu reintegrieren (Franziskaner, Dominikaner), so scheiterte ihr Bemühen in der Frühen Neuzeit. Der Streit eskalierte in der Reformation, in deren Gefolge sich der Protestantismus vom Katholizismus abspaltete und neue Formen der Kirchenverwaltung, des Glaubens und der Liturgie hervorbrachte. Nachdem die Universalkirche aber erst einmal aufgelöst und gespalten war, verstand es sich, daß die neu entstehenden protestantischen Kirchen sich nicht mit einer alternativen Form begnügten, sondern sich ihrerseits in drei neuen Großkirchen und einer Vielzahl kleinerer oder größerer Sekten organisierten.811 Als Großkirchen formierten sich im Reich lutheranische, in Frankreich, Schottland und den Niederlanden sowie in Osteuropa (Polen und Ungarn) calvinistische Kirchen. In England schließlich entstand die anglikanische Kirche, die einen Kompromiß zwischen Katholizismus und Protestantismus institutionalisierte, indem sie den Glaubensinhalt und die Lehre reformierte, die Kirche dem König unterstellte, die Kirchenorganisation und die Liturgie hingegen in der alten, „katholischen“ Form beließ. Im Gefolge der Reformation erlebte Europa im 16. und 17. Jahrhundert eine Welle blutiger religiöser Bürgerkriege, die den entscheidenden Anstoß und die wichtigste Erfahrungsgrundlage der frühneuzeitlichen Staatstheoretiker bildeten. Die religiösen Auseinandersetzungen erlangten somit erneut einen eminent politischen Charakter, wie umgekehrt die politischen Probleme noch lange Zeit im Kontext des theologischen Weltbildes wahrgenommen und verarbeitet wurden. 810 Vgl. Brandi, Reformation und Gegenreformation; Lutz, Reformation und Gegenreformation; Zeeden, Das Zeitalter der Gegenreformation. 811 Vgl. E. Troeltsch, Die Soziallehren II., S. 427 ff. sowie v. Dülmen, Religion und Gesellschaft (mit weiteren Literaturhinweisen).

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Da aber der Wille Gottes wieder einmal zum Streitobjekt geworden war, konnte er nicht mehr als unhinterfragter Ausgangspunkt der theoretischen Debatten dienen. Es gab keine unangefochtene Autorität mehr, die eine Entscheidung herbeiführen konnte. Vielmehr war die Auseinandersetzung über den richtigen Glauben und die ihm gemäßen liturgischen Formen zur Ursache des Krieges aller gegen alle geworden. Die Politikdenker mußten deshalb nach neuen Fundamenten Ausschau halten, die sie im Willen des Volkes bzw. der Bürgerschaft fanden. Es gelang ihnen im Lauf der Zeit, die Rechtsgründe der staatlichen Gewalt transparent zu machen und die Idee des Staates in den Herzen der Individuen zu verankern. Den entscheidenden Anstoß dazu hatte Luther gegeben, der die Verinnerlichung des Glaubens forcierte und seine Anhänger mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und den politischen Institutionen zu versöhnen gedachte. Wie schon erwähnt, hatte Luther eine strenge Trennung der beiden Gewalten postuliert und dem Christenmenschen bedingungslosen Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit abverlangt.812 In Rückbesinnung auf die Unterscheidung der zwei Civitates bei Augustinus hatte er zwei Reiche voneinander unterschieden und von seinen Anhängern verlangt, daß sie sich aus der weltlichen Politik heraushalten sollten. Diese Forderung brachte ihn in Gegensatz zu Thomas Müntzer813 und den aufständischen Bauern, die sich nicht damit begnügen wollten, in ihrem Glauben frei zu sein und dafür um so härtere Fesseln im irdischen Leben hinzunehmen.814 Luthers Distanzierung und Verurteilung dieser Bestrebungen trug dazu bei, daß die Bauernaufstände niedergeschlagen wurden. Luther verdammte den Ablaßhandel und erblickte im Papst nicht den vicarius Christi, sondern den Antichrist. Die Civitas Dei, die sich im Regnum Christi vereinigt, tritt bei ihm dem Regnum Mundi gegenüber, dem Reich der gottentfremdeten und gottfeindlichen Menschheit.815 Dieses „bildet gleichfalls einen mystischen Leib, das corpus babylonicum, unter dem Satan als Haupt“ (S. 256). Es handelt sich hier aber nicht mehr um den Unterschied zwischen Christen- und Heidentum. Vielmehr charakterisierte Luther die beiden Reiche so, daß der römische Katholizismus in der Form, wie er vom Mittelalter überkommen war, unter die zweite Kategorie fiel. Anstatt das Regnum Christi zu verwirklichen, hatten sich die Päpste und Bischöfe in weltliche Herrscher verwandelt. Auf der anderen

812 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit (1523). Siehe dazu die oben (Anm. 746 ff.) genannte Literatur. 813 Zu Müntzer vgl. E. Bloch, Thomas Münzer; W. Elliger, Thomas Müntzer; A. Friesen/H.-J. Goertz (Hg.), Thomas Müntzer; H.-J. Goertz, Thomas Müntzer. 814 Zum deutschen Bauernkrieg vgl. P. Blickle, Aufruhr und Empörung?; ders., Die Revolution von 1525; ders. (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg; G. Franz, Der Deutsche Bauernkrieg; W. Schulze (Hg.), Bäuerlicher Widerstand; H.-U. Wehler (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg; R. Wohlfeil (Hg.), Der Bauernkrieg. 815 Vgl. zum folgenden H. K. Scherzer, Luther. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz beziehen sich auf diesen Text.

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Seite standen die weltlichen Fürsten, die zugleich über die Seelen zu regieren trachteten. Die Vermengung von weltlicher und geistlicher Gewalt erschien als Werk des Satans und als Grundübel, das zu beseitigen war. Die Symbiose zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft sollte aufgebrochen werden. Luther forderte den Rückzug der Kirche aus der weltlichen Politik, und zwar aus religiösen Gründen. Die Civitas Dei überläßt im Regnum Christi die Politik den christlichen Herrschern, die das „Reich zur Linken“ mit der „Zuchtrute Gottes“ regieren. Das Regnum Christi ist auf irdische Reiche nicht angewiesen. In ihm herrscht allein Christus „durch seine lex spiritualis. Er ist das Haupt der rechten Christen; sie bilden seinen mystischen Leib“ (ebd.). Seine Herrschaft ist eine rein geistige, sein Reich ist kein Reich der Machtausübung, sondern ein Reich der Gnade, der Liebe, Barmherzigkeit und Freiheit. Die Differenzen zwischen Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin u. a. müssen hier nicht erörtert werden,816 weder der Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli noch die Kontroversen zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam über die Willensfreiheit.817 Entscheidend ist im hier verfolgten Zusammenhang, welche Konsequenzen die Glaubensspaltung für die Genealogie des Staates hatte. Sie wurde zu einem weiteren entscheidenden Vehikel des Etatismus, der die alte Reichstheorie abzulösen und zu überflügeln begann. Durch sie war die Vision der einigen, von Kaiser und Papst gelenkten Christenheit endgültig zu einer Fiktion geworden, die zwar weiterhin Anhänger und Verfechter fand, die aber ihre zündende Überzeugungskraft eingebüßt hatte. Am Ende des von Luther eingeleiteten Prozesses lagen die erforderlichen Macht- und Verwaltungsinstrumente bereit, mit denen die Integration und Interaktion der europäischen Völker geleistet werden konnte. Die diplomatischen Umgangsformen waren gefunden, mit denen die zwischenstaatlichen Konflikte bewältigt werden konnten. Zur leitenden Ordnungsvision wurde die Idee des nach innen wie außen souveränen, aus ständischer Herrschaft und geistlicher Bevormundung emanzipierten, durch Bürokratie und stehendes Heer institutionell konsolidierten Staates, der auf einem fest umgrenzten Territorium das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ bzw. der „Gewaltsamkeit“ (Max Weber) innehat, mit Hilfe von Polizei und Verwaltung den innerstaatlichen Frieden sichert und seine Beziehungen zu anderen Staaten in Krieg und Frieden rechtlich regelt, ohne eine übergeordnete Entscheidungsund Befehlsinstanz zu akzeptieren.

816 Vgl. dazu K. Aland, Die Reformatoren, und den Überblick von Münkler, Politisches Denken in der Zeit der Reformation, S. 640 ff. (weitere Literatur: S. 667 ff.). 817 Erasmus von Rotterdam (De libero arbitrio, 1524) vertrat die Auffassung, der Mensch sei mit Willensfreiheit und der Fähigkeit zur Unterscheidung des Guten und Bösen ausgestattet und wirke am göttlichen Erlösungswerk tatkräftig mit. Luther (De servo arbitrio, 1525) hingegen bestritt die Mitwirkung des Menschen, hielt an der augustinschen Gnadenlehre fest und erblickte die Rechtfertigung (gemäß Römer 3, 28) allein im und durch den Glauben (sola fide).

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Im deutschen Reich wurde der Kampf zwischen den feindlichen Lagern 1555 im Augsburger Religionsfrieden durch einen Kompromiß gelöst, demzufolge die Kirche – gemäß der Formel cuius regio, eius religio – dem jeweiligen Landesherrn unterstellt wurde.818 Die Grenzen zwischen den verschiedenen Konfessionen waren jedoch noch lange Zeit fließend. Sie lagen erst 1648 fest. In Italien und auf der Iberischen Halbinsel wurden reformatorische Ansätze gewaltsam unterdrückt. In Frankreich „reformierte“ sich die katholische Kirche intern, ohne ihre Strukturen zu verändern. Dafür wurden hier die Protestanten besonders rücksichtslos verfolgt in den sog. Hugenottenkriegen (1562–98), die ihren traurigen Höhepunkt in der Bartholomäusnacht von 1572 fanden, als Katharina von Medici Tausende von Hugenotten brutal ermorden ließ. Zwar entstand in der Renaissance der Gedanke der religiösen Toleranz,819 den die frühneuzeitlichen Humanisten – Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne – und selbst ein Anhänger des Absolutismus, wie Jean Bodin, predigten, doch konnte sich dieser nicht durchsetzen. Er bildete selbst eine Kampfposition und wurde in der Regel von jenen Kräften propagiert, die in der Minderheit und unterlegen waren bzw. in der religiösen Toleranz die Grundlage für die Realisierung ihrer antipapistischen oder antiklerikalen politischen Interessen sahen. Man suchte die Entscheidung und zog dafür ins letzte Gefecht. Sollten die Länder katholisch oder protestantisch sein, lutheranisch oder calvinistisch? Verschiedene Konfessionen in einem Land waren noch nicht vorgesehen. Entweder-Oder lautete die Parole, keinesfalls sowohl – als auch. Der Versuch des vom Protestantismus an den katholischen Hof konvertierten Franzosenkönigs Heinrichs IV. von Navarra, die konfessionellen Differenzen ein wenig toleranter zu bewältigen, führte am 14. Mai 1610 dazu, daß der König in Paris auf offener Straße ermordet wurde.820 Der erste Bourbone hatte jedoch 1598 das Edikt von Nantes erlassen, das den Hugenotten für 87 Jahre bedingte Religionsfreiheit und Zugang zu den staatlichen Ämtern garantierte. Es wurde 1685 von Ludwig XIV. wieder aufgehoben. Die Ermordung Heinrichs IV. erhärtete die damals verbreitete Auffassung, daß der Weg der Toleranz nicht begehbar war, daß vielmehr klare Fronten und Entscheidungen nötig waren. In England hatte Heinrich VIII. (1509–47) mit Rom gebrochen, weil ihm die Scheidung seiner Ehe verweigert wurde. Er hatte sich im „Act of Supremacy“ (1534) zum Oberhaupt der Kirche von England erklärt, die sich von der Papstkirche trennte und eine folgenreiche Sonderentwicklung einschlug. Dadurch wurde 818

Zum Text des Reichsabschieds siehe oben, S. 637, Anm. 771. Vgl. Figgis, Studies of Political Thought, S. 94 ff.; E. Hassinger, Religiöse Toleranz im 16. Jahrhundert; H. A. F. Kamen, Intoleranz und Toleranz zwischen Reformation und Aufklärung; J. Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation; H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit; S. Toulmin, Kosmopolis. 820 Vgl. R. Mousnier, Ein Königsmord in Frankreich. 819

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die Expropriation des Kirchenbesitzes möglich, die Marx als eine der beiden Hauptursachen für die sog. „ursprüngliche Akkumulation“ und damit für den ökonomischen Vorsprung Englands genannt hat. In der anglikanischen Kirche wurde nur die Lehre reformiert, Ritus und Kirchenverfassung blieben „katholisch“, das starre Episkopalsystem lähmte die religiöse Eigeninitiative. Daraus erklärt sich die Radikalität des englischen Puritanismus, der führend wurde in der Englischen Revolution (1640–60).821 Gegen die fortbestehende innerkirchliche Hierarchie rebellierten puritanische Sekten, die eine presbyteriale Kirchenverfassung, d. h. die autonome und nicht-hierarchische Selbstverwaltung der religiösen Gemeinden und damit die Vollendung der Reformation erstrebten. Wenn man schon nicht in der weltlichen Politik mitwirken durfte, wollte man wenigstens in der himmlischen Politik mitregieren. Auch dieser Konflikt wurde im 16. und 17. Jahrhundert in blutigen Bürgerkriegen ausgefochten. In der Mitte des 16. Jahrhunderts versuchte Maria die Katholische (1553–58) vergeblich, die katholische Kirche in England zu restaurieren. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatte sich ihre Nachfolgeren Elisabeth I. (1558–1603), die den Anglikanismus wiederherstellte, gegen ihre katholische Widersacherin Maria Stuart zu behaupten. Der Konflikt führte 1587 zur Hinrichtung Marias, die einst zusammen mit ihrem Geliebten und späteren Mann ihren Ehegatten in die Luft gesprengt hatte, was auch in jener finsteren Zeit nicht von allen Seiten gebilligt wurde. Shakespeare hat ihr dafür 1600/01 im Hamlet ein Denkmal gesetzt.822 Im 17. Jahrhundert schließlich löste gerade der Sohn „Hamlets“ alias Jakobs I. und Enkel der Maria Stuart, Karl I., den englischen Bürgerkrieg aus mit dem Versuch, in dem von John Knox, dem Ahnherrn des Puritanismus, reformierten Schottland das anglikanische Bischofssystem einzuführen. Der Streit zwischen den Konfessionen war demnach noch lange nicht zu Ende. Und es ist klar, daß die frühneuzeitlichen Staatstheoretiker darauf zu reagieren und Konfliktlösungsstrategien zu ersinnen hatten. Auch der Puritanismus war zunächst – wie die anderen Reformbewegungen – eine von Klerikern getragene innerkirchliche Erneuerungsbewegung, die aber rasch zu einer laikalen Bewegung wurde, in der das Bürgertum und der niedrige Adel (die Gentry) den Ton angaben.823 Im Puritanismus verbanden sich praxisorientierte Religiosität, moralischer Rigorismus und antiepiskopale Verfassungsvorstellungen. Seine Radikalität war bedingt dadurch, daß die englische Kirche

821 Vgl. S. Barber, Regicide and Republicanism; E. Bernstein, Sozialismus und Demokratie; J. Coffey, Politics; J. Gebhardt, ,Alle Macht den Heiligen‘; C. Hill, Puritanism and Revolution; S. Kelsey, Inventing the Republic; C. Russel, The Causes of the English Civil War; H. C. Schröder, Die Revolutionen Englands; M. Walzer, The Revolution of the Saints; A. S. P. Woodhouse (Hg.), Puritanism and Liberty. 822 Vgl. dazu C. Schmitt, Hamlet oder Hekuba. 823 Vgl. W. Haller, The Rise of Puritanism; C. Hill, Society and Puritanism; A. Simpson, Puritanism.

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im Grunde ein Mischgebilde aus protestantischer und katholischer Kirche bildete, hatte sich doch mit der Reformation zwar die Lehre geändert, nicht aber die Praxis. Der König blieb Oberhaupt seiner Kirche, die folglich hierarchisch organisiert war. Die Puritaner erstrebten dagegen eine presbyteriale Kirchenordnung (Thomas Cartwright), d. h. eine Verfassung, in der die Leitung der Kirche nicht in den Händen des Monarchen und der Bischöfe, sondern der Gemeinde liegt, die sie durch die Kooperation der Älteren und der Pfarrer ausübt. Eine radikalere Position vertraten die Independenten (Robert Browne), die jegliche Hierarchie verwarfen. „Die Wirkung und Bedeutung des Puritanismus“, resümiert Richard van Dülmen,824 „gründete allgemein auf seiner das Alltagsleben disziplinierenden Kraft, der Stärkung subjektiver Glaubensverantwortung und Unterwerfung des moralischen Lebens unter biblisch-bürgerliche Maximen“. Der Puritanismus schuf mit seinem moralischen Rigorismus und seiner chiastischen Aufbruchsstimmung das Klima für den Sieg der Independenten in der Englischen Revolution. Zugleich begünstigte er eine strenge Arbeitsmoral, die der kapitalistischen Entwicklung die geistigen und motivationalen Voraussetzungen schuf. Obgleich er die Profitgesinnung kritisierte, verkörperte er – Max Weber zufolge – den Geist des Kapitalismus in reinster Form. Die Bemühungen Kaiser Karls V. (1515–55), die alte Einheitswelt des orbis christianus zu restituieren und vor dem Verfall zu schützen, waren vergeblich. Europa hatte sich endgültig in Staaten aufgespalten, die von ihren jeweiligen Landeskirchen gestützt wurden. Allerdings führte das Konzil von Trient (1545– 63) zur Erneuerung und zur Stabilisierung der katholischen Kirche.825 Die weitere Entwicklung der Reformation und ihre Auffächerung in unterschiedliche Konfessionen und Sekten soll hier nicht verfolgt werden.826 Entscheidend ist, welche Konsequenzen die frühneuzeitliche Staatstheorie aus der neuen Lage zog. Das abendländische Christentum bildete keine spirituelle Einheit mehr. Die katholische Kirche hatte sich in eine partikulare Kraft verwandelt, der andere christliche Kirchen gegenüberstanden. Um die Rolle ihres Beschützers (defensor ecclesiae) stritten sich die Könige von Spanien und Frankreich. Vom letzten Drittel des 16. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts mußte sich der Protestantismus gegen Spanien und die Gegenreformation verteidigen, die sich gegen die Verselbständigung der Staaten und die Spaltung der Kirche, d. h. gegen die neuzeitliche Entwicklung stemmten.827 Eine führende Rolle spielte hierbei der 1534 von 824 v. Dülmen, Entstehung, S. 281. Zu den politischen Ideen des Puritanismus vgl. auch M. Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, S. 280 ff. 825 Vgl. H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient; G. Schreiber (Hg.), Das Weltkonzil zu Trient. 826 Vgl. Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen; ders., Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe, S. 15 ff. (weitere Literatur: S. 413 ff.). 827 Vgl. Brandi, Reformation und Gegenreformation; G. Droysen, Geschichte der Gegenreformation; Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa, S. 247 ff.; M. Ritter, Deutsche Geschichte; Zeeden, Das Zeitalter der Gegenreformation.

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Ignatius von Loyola gegründete Jesuitenorden, dem die bedeutendsten Theologen der Gegenreformation, Robert Bellarmin (1542–1621) und der Völkerrechtler Francisco Suárez (1548–1617), entstammten.828 Ihre Bemühungen waren nicht ohne Erfolg, ging doch der Einfluß des Protestantismus in Europa seit den 20er und 30er Jahren des 17. Jahrhunderts wieder zurück. Die vorreformatorischen Verhältnisse ließen sich aber nicht restituieren. Am Ende des Prozesses war das System der Landeskirchen etabliert. In Reaktion auf die Verstaatlichung der Kirchen und die Festsetzung neuer kirchlicher Hierarchien entwickelten sich in allen Großkirchen Protestbewegungen, die die Reformation fortzuführen und zu vollenden suchten. In der katholischen Kirche Frankreichs und der Niederlande trat der Jansenismus hervor, der sich – in der Nachfolge von Cornelius Jansen (1585–1638) – auf Augustinus und die urchristlichen Werte zurückbesann und die Kirche aus dem Machtradius des Königs befreien wollte.829 In der lutherischen Kirche entstand der Pietismus, der sich gegen die starr gewordene protestantische Orthodoxie stemmte und zur tätigen Mitwirkung am Gemeinwesen aufrief. Er forderte (und förderte) mit der Zeit jedoch zunehmend herrschaftskonforme Verhaltensweisen und wurde von den Fürsten (insbesondere in Brandenburg-Preußen) zur Herrschaftssicherung instrumentalisiert. Wie vom Puritanismus gingen auch von diesen Strömungen bedeutende politische Impulse aus, doch verloren sie in der zweiten Hälfte bzw. gegen Ende des 17. Jahrhunderts ihre Stoßkraft und ihren revolutionären Elan. Van Dülmen faßt das Schicksal der drei innerkirchlichen Erneuerungsbewegungen wie folgt zusammen: „Während der Pietismus zunehmend eine herrschaftskonforme Verhaltensweise forderte, der Jansenismus nach der Fronde sowohl von kirchlicher wie staatlicher Seite unterdrückt wurde, mußte der Puritanismus nach der englischen Revolution alle radikalen politischen Ziele aufgeben und wurde zu einer quietistischen Bewegung“ (S. 282). Die religiös-politischen Konflikte der Frühen Neuzeit fanden ihren Kulminationspunkt im Dreißigjährigen Krieg.830 Aus ihm ging das System der europäischen Staaten hervor, das mit dem Westfälischen Frieden von 1648 endgültig etabliert war.831 Wie Johannes Burkhardt (1992, S. 119) bemerkt, gewannen die Einzelbestimmungen des Vertragswerkes von Münster und Osnabrück „Verfas828 Figgis, Studies of Political Thought, S. 146 ff. (The Jesuits); Zeeden, Hegemonialkriege, S. 52 ff. (weitere Literatur: S. 414 f.). 829 Vgl. P. Honigsheim, Die Staats- und Soziallehren der französischen Jansenisten; H. Lademacher, Geschichte der Niederlande. 830 Vgl. J. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (weitere Literatur: S. 293–308); M. Ritter, Deutsche Geschichte; G. Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg (mit kommentierter Bibliographie: S. 102 ff.); Zeeden, Deutschland, S. 560 ff.; ders., Hegemonialkriege, S. 240 ff.; ders., Das Zeitalter der Glaubenskämpfe, S. 79 ff. 831 Zum Verfassungswerk des Westfälischen Friedens vgl. die Dokumente in: Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, 285–590. Dazu F. Dickmann, Der Westfälische Frieden; ders., Friedensrecht und Friedenssicherung. Zur weiteren Entwicklung Deutschlands

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sungscharakter im Sinne einer institutionalisierten politischen Rechtsordnung“. Dadurch hat der Dreißigjährige Krieg „im Ergebnis politische Strukturen installiert, die über 150 Jahre lang gültig blieben, weit länger als alle nachfolgenden Staatsbildungen und Verfassungen im deutschen Raum“ (ebd., S. 121). Der Dreißigjährige Krieg war – wie schon erwähnt – weder ein Religionskrieg noch ein Staatenkrieg, sondern ein „Staatsbildungskrieg“. Es ging in ihm – wie im englischen Bürgerkrieg – „um die Behauptung der ständischen Libertäten gegenüber absolutistischen Ansprüchen . . ., aber auch um das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen“ (van Dülmen 1982, S. 399 f.). Dieser Konflikt wurde jedoch religiös und eschatologisch aufgeladen und gewann dadurch den Charakter eines „letzten Gefechts“, eines Kampfes um die „letzten Dinge“. In diesen Auseinandersetzungen wurden die Institutionen der modernen Staatlichkeit geschaffen. Der Westfälische Friede institutionalisierte eine europäische Friedensordnung, in der sich die einzelnen Territorien als gleichberechtigte Partner anerkannten, in der zugleich die aristokratische Herrschaft domestiziert, auf ein neues Fundament gestellt und dadurch vor dem Verfall geschützt und stabilisiert wurde.832 Die partikularen Interessen innerhalb der Territorien traten zurück, die konfessionellen Differenzen wurden neutralisiert. Die sich formierenden Staaten errichteten stehende Söldnerheere und einen straffen bürokratischen Apparat, der die umfassende Besteuerung und Registrierung aller Untertanen ermöglichte.833 Ergebnis dieser Entwicklungen war die Erlangung staatlicher Souveränität nach innen wie nach außen. Der Staat stellte im Inneren die politischen Konflikte still, indem er sie verlagerte auf die Beziehungen zu anderen Staaten.834 Wichtigstes Herrschaftsinstrument neben den staatlichen Bürokratien waren die stehenden Heere, die nach dem Dreißigjährigen Krieg institutionalisiert wurden.835 Zwar waren die entscheidenden Weichen bereits im 16. Jahrhundert gestellt worden, als das bestehende Heerwesen ständig expandierte, doch konnten die europäischen Fürsten ein eigenes stehendes Heer weitgehend erst nach 1648 aufbauen. Die Heere waren nach dem Dreißigjährigen Krieg sozusagen „stehen siehe M. Braubach, Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution; R. Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus; ders., Staaten und Stände. 832 Vgl. P. Anderson, Die Entstehung, S. 61 ff.; v. Dülmen, Entstehung, S. 409 ff.; N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2. 833 Vgl. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 145 ff.; v. Dülmen, Entstehung, S. 321 ff.; M. Mann, Geschichte der Macht. Bd. 2, S. 319 ff.; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 125 ff. (weitere Literatur: S. 562 ff.); ders., Das Wachstum der Staatsgewalt; Romano/Tenenti, Die Grundlegung, S. 294 ff.; W. E. J. Weber, Dynastiesicherung und Staatsbildung. 834 Daß er damit nicht zum Hort des Friedens wurde, sondern zum Hauptkriegstreiber der Neuzeit, wurde bereits oben erwähnt. Siehe S. 271, Anm. 271. 835 Vgl. v. Creveld, Aufstieg und Untergang, S. 179 ff.; v. Dülmen, Entstehung, S. 350 ff.; M. Howard, Der Krieg in der europäischen Geschichte, Kap. 2 ff.; M. Mann, Geschichte der Macht 2, S. 324 ff.; G. Parker, Die militärische Revolution; F. Redlich, The German Military Enterpriser; M. Roberts, The Military Revolution.

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geblieben“.836 Die englischen Monarchen z. B. hatten vor 1648 noch kein stehendes Heer, und diese Tatsache sollte den ersten Stuarts zum Verhängnis werden. Eben weil er kein eigenes Heer hatte, mußte Karl I. 1639/40, um den Aufstand der Schotten niederzuwerfen, das seit zehn Jahren suspendierte Parlament wieder einberufen, das seine Macht ausnützte, um den König in die Knie zu zwingen.837 Die holländischen und schwedischen Herrscher hingegen verfügten über mächtige Armeen, die sie in großem Stil einsetzen konnten. „Das Besondere des Söldnertums“, schreibt van Dülmen, „war, daß es sich nicht durch das lehnrechtliche Treueverhältnis oder gar ethische oder patriotische Gefühle einem Fürsten oder einem Lande verbunden fühlte, sondern um Geld kämpfte“ (1982, S. 357). Das feudale Prinzip der Ehre oder der Treue war also im Militärbereich bereits durch Geldverhältnisse, d. h. durch kapitalistische Prinzipien ersetzt. Ein wichtiges Novum in der Geschichte bildet die Oranische Heeresreform, die Revolutionierung des Berufsheeres durch Moritz von Oranien, der das drillmäßige Exerzieren und die Linienformation der Infanterie einführte. Gustav Adolf von Schweden führte darüber hinaus die Kavalleriesalve und das Zug-System ein, und Wallenstein schließlich die einheitliche vertikale Befehlsgebung.838 Bürokratie, stehendes Heer, Entmachtung und Domestizierung des Adels, umfassende Besteuerung und Registrierung aller Untertanen, also Ausbildung eines einheitlichen Steuersystems, Ausschaltung der städtischen Freiheiten und Integration der Kirche – kurz: Konzentration der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt – das sind die wichtigsten Momente, die den neuzeitlichen Staat gegenüber vorstaatlichen Ordnungs- oder Herrschaftsformen (Gentilismus, Polis, Reich, Ekklesia etc.) auszeichnen. Zwar war die absolute Monarchie nur ein möglicher Weg neben anderen, doch ist der genannte Konzentrationsprozeß allen Formen gemeinsam. Dadurch wurde die Verfassung des Staates „zu einer besondern Wirklichkeit neben dem wirklichen Volksleben“.839 Der Staat siedelte sich außer- oder oberhalb der Gesellschaft an, die zum Objekt seiner Begierde und Aktivität und zur unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft wurde. Offen war, ob sich die Könige und Landesfürsten oder ob sich die Parlamente und Stände durchsetzen würden. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wurde, gewann der werdende Staat ein unterschiedliches Gesicht. Mit van Dülmen lassen sich drei Typen der neuen staatlichen Herrschaftsform unterscheiden:840

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Vgl. J. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, S. 213 ff. (Literatur: S. 306 f.). Vgl. dazu T. Hobbes, Behemoth oder Das Lange Parlament. 838 Vgl. auch P. Anderson, Die Entstehung, S. 35 ff. 839 K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: MEW 1, 203–333; hier: S. 234. Vgl. ebd., S. 230 ff., 247 ff., 275 ff., passim; ders./F. Engels, Die deutsche Ideologie. MEW 3, S. 62. 840 Vgl. zum folgenden v. Dülmen, Entstehung, S. 12, 167 ff., 350 ff. 837

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems

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1. absolutistische Systeme 2. libertäre Systeme 3. Adels- und Ständerepubliken Den ersten Typus realisierte Frankreich,841 den zweiten England,842 den dritten Polen.843 Letzterer hielt jedoch der ökonomischen und politischen Expansion nicht stand. Als angemessener Rahmen des okzidentalen Rationalismus und der kapitalistischen Entwicklung erwiesen sich die beiden ersten Formen, die deshalb zu Vorbildern und Orientierungsmustern wurden. In Frankreich hatte die Krone bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihre Stellung gefestigt. Sie versuchte ihre Macht in der Folgezeit auszubauen durch Landerwerb, Stärkung des königlichen Rates (conseil du Roi), Ausbau einer zentralisierten Finanzverwaltung usw. Dabei akzeptierte sie rechtliche Bindungen, die sie sich durch Verträge mit den Ständen auferlegt hatte. Diese bildeten eine Art „Verfassung“ des Ancien Régime, die der Machtkonzentration und Aktivität des Monarchen Schranken setzte. Als unantastbare Fundamentalgesetze (lois fondamentales) galten die Erblichkeit des Thrones, der Ausschluß weiblicher Thronfolge nach dem Salischen Gesetz, die Unveräußerlichkeit des Krongutes, das Verbot der Abschaffung der Krone, die Vollendung des 13. Lebensjahres des Thronfolgers, sein Verfassungseid und seine Salbung.844 Im Kontext der Religionskriege (1562–93) begründeten die calvinistischen Monarchomachen das Recht auf legitimen Widerstand gegen einen tyrannischen Monarchen. Durch das Edikt von Nantes (1598) kehrte Friede ein, der die weitere Stärkung der Monarchie auf Kosten des französischen Adels ermöglichte. Seit 1614 wurden die Generalstände, die einst die königlichen Steuern zu bewilligen hatten, nicht mehr einberufen. Sie traten erst 1789 wieder auf den Plan. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts (1302) waren in ihnen neben dem Adel und dem Klerus auch Repräsentanten des Bürgertums vertreten. Der Konflikt zwischen König und Ständen schwelte jedoch bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, als Ludwig XIV. (1643– 841 Vgl. auch P. Anderson, Die Entstehung, S. 107 ff.; G. Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 87 ff.; R. Bendix, Könige oder Volk 1, S. 123 ff.; A. Bourde, Frankreich, S. 827 ff.; H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 287 ff.; E. Hinrichs, Absolute Monarchie und Ancien Régime (Literatur: S. 251 ff.); W. Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne; R. Mandrou, Staatsräson und Vernunft, S. 26 ff. (Literatur: S. 429 f.). 842 Vgl. auch P. Anderson, Die Entstehung, S. 142 ff.; R. Ashton, The English Civil War; Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 314 ff.; Bendix, Könige oder Volk 1, S. 50 ff.; Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 220 ff.; Mandrou, Staatsräson und Vernunft, S. 72 ff. (Literatur: S. 431 f.); Maurer, Kleine Geschichte Englands, S. 155 ff. (Literatur: S. 485 ff.); Schulin, England und Schottland, bes. S. 928 ff. 843 Vgl. auch P. Anderson, Die Entstehung, S. 237 ff.; bes. S. 350 ff.; G. Rhode, Polen – Litauen; H. Roos, Königtum und Adel in Polen, S. 163 ff. (Literatur: S. 198). 844 Vgl. R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 309 ff.; H. Mohnhaupt, Die Lehre von der „Lex Fundamentalis“ (zu Frankreich: S. 16 ff.).

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V. Der Drang zum Staat

1715) volljährig wurde und die Fronde (1648–53) unterwarf.845 Solange er noch minderjährig war, sahen sich Kardinal Mazarin und Königin Anna der Opposition der Pariser Bevölkerung, des Pariser Parlaments (Gerichtshofes) und des französischen Hochadels konfrontiert. Diese Opposition gegen das absolutistische Königtum wurde inspiriert durch die englische Revolution. Ludwig XIV. entschied den Konflikt in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts zu seinen Gunsten und etablierte ein straffes absolutistisches Regiment.846 In England hingegen scheiterten die absolutistischen Bestrebungen der ersten beiden Stuarts, Jakobs I. (1603–25) und Karls I. (1625–49). Das Parlament widersetzte sich und trug letztlich den Sieg davon. Die Könige hatten noch keine stehenden Heere aufgebaut, waren daher auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen, wenn sie Kriege führen wollten. Einen solchen Krieg beabsichtigte Karl I. 1639 – und dieses Vorhaben wurde ihm zum Verhängnis. Um seine königliche Macht in Schottland zu stabilisieren, versuchte Karl I. – zusammen mit William Laud, dem Erzbischof von Canterbury –, den Schotten das anglikanische Episkopalsystem aufzuzwingen. Diese waren aber vorwiegend Calvinisten, seitdem John Knox Schottland reformiert hatte. Sie versuchten, eine presbyteriale Kirchenverfassung zu verwirklichen, wehrten sich deshalb gegen die Versuche des englischen Königs und probten 1638/39 den Aufstand. Karl I. hatte jedoch 1629 das Parlament aufgelöst und 10 Jahre allein regiert. Als er 1638/39 vom Aufstand der Schotten überrascht wurde und diesen gewaltsam niederwerfen wollte, sah er sich genötigt, das Parlament wieder einzuberufen. Dieses nutzte die sich bietende Gelegenheit und forderte, was zu fordern war. Es berief sich auf seine angestammten Rechte, die von der Magna Charta von 1215 abgeleitet bzw. gewohnheitsrechtlich begründet wurden,847 und verweigerte dem König die für den Schottlandfeldzug erforderlichen Gelder. Es drängte letztlich auf die Abschaffung der Monarchie, weshalb Karl das Parlament wieder auflöste, um ohne seine Unterstützung nach Schottland zu ziehen. Die Folge war, daß er eine Niederlage einstecken mußte. Und nun begann jene Auseinandersetzung, die für Thomas Hobbes zur zentralen politischen Erfahrung wurde, die er im Behemoth analysiert und beschrieben hat. Die siegreichen Schotten verlangten ihrerseits so große Geldmengen für den Rückzug der englischen Truppen, daß Karl erneut das Parlament um Unterstützung angehen mußte. Nach dem Kurzen Parlament von 1638/39 wurde das Lange Parlament einberu845 Zur Entwicklung des französischen Politikdenkens in dieser Zeit vgl. G. Barudio, Zwischen Depotismus und Despotismus. 846 Zu Begriff und Problematik des Absolutismus vgl. G. Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 13 ff., 383 ff.; H. Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 37 ff., 159 ff. (zu Ludwig XIV.: S. 40 ff., 68 ff.); W. Hubatsch (Hg.), Absolutismus; E. Hinrichs, Fürsten und Mächte; ders. (Hg.), Absolutismus; H. Patze (Hg.), Aspekte des europäischen Absolutismus. 847 Vgl. R. Saage, Herrschaft, Toleranz, Widerstand, S. 115 ff.

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fen, das 13 Jahre tagte. Es folgte die Englische Revolution bzw. der englische Bürgerkrieg, der in zwei großen Wellen über das Land hinwegbrauste (1642 und 1647–49). 1649 wurde Karl I. geköpft, England wurde zur Republik. Das Protektorat Oliver Cromwells währte von 1653 bis 1658 und machte schließlich der sich unter Karl II. (1660–85) restaurierenden Monarchie Platz. Der König mußte sich aber in der Folgezeit – als king in parliament – in die Gewaltenteilung fügen. Nach der glorious revolution von 1688 fand man die Lösung, die sich als tragfähig erwies: Der König zeichnete ferner verantwortlich für die Außenpolitik, während das Parlament die Innenpolitik bestimmte.848 Diesen Kompromiß begründete John Locke in den Two Treatises of Government (1690). Die konstitutionelle, parlamentarisch organisierte Monarchie war in der Folgezeit so erfolgreich, daß Montesquieu im Geist der Gesetze (1748) das englische System als beste aller denkbaren Regierungsformen rühmen konnte, während Jean-Jacques Rousseau kurze Zeit später im Contrat social (1762) die englischen Parlamentarier als korrupte, volksfremde und volksfeindliche Clique von Egoisten kritisierte.849 Die absolutistischen Systeme fanden ihren klassischen Fall somit im Frankreich Ludwigs XIV. Hier gelang es dem König, die Stände unter seine Gewalt zu beugen und die Macht am königlichen Hof zu zentralisieren. In den libertären Systemen hingegen konnten die Stände ihre Rechte und Freiheiten verteidigen, den König unter die Macht des Parlaments zwingen und letztlich ein System der Gewaltenteilung zwischen Krone und Parlament etablieren, das zum Vorbild für alle künftigen konstitutionellen Monarchien und für den europäischen Parlamentarismus wurde. Diese unterschiedlichen Entwicklungen schlugen sich natürlich nieder in der Politischen Theorie. Die gegensätzlichen Systeme fanden in Philosophie und Jurisprudenz ihre Fürsprecher und Gegner, die sich gegenseitig befehdeten. In allen Staaten führte aber die Verrechtlichung der Sozialbeziehungen innerhalb der Territorien zur Aufhebung der innerterritorialen Konkurrenz von Herrschaften. War das 16. Jahrhundert noch geprägt von einem Dualismus zwischen Ständen und Fürsten, so vollzog sich seit dem Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts der folgenreiche Prozeß der Konsolidierung ausdifferenzierter Staatsgewalten. Die Könige und/oder Parlamente herrschten über alle Untertanen und Staatsbürger und schrieben ihnen die Gesetze vor. Sie verwalteten das staatliche Gewaltmonopol und organisierten die zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Verfestigung der souveränen Staaten wurde ermöglicht durch die Auflösung des christlichen Reiches, den Niedergang und Zerfall der religiös-poli848 Zur Entwicklung des englischen Politikdenkens von 1580 bis 1688/89 vgl. Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England; E. Voegelin (Hg.) Zwischen Revolution und Restauration. 849 Vgl. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung. Zweite Abhandlung, Kap. X ff.; Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. 11. Buch, 6. Kap. (S. 226 ff.); Rousseau, Contrat social, 3. Buch, 15. Kapitel [dt.: Der Gesellschaftsvertrag, S. 105 ff.].

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V. Der Drang zum Staat

tischen Einheitswelt des orbis christianus, der ehemaligen Rechts- und Reichsuniversalität. Voraussetzung der Staatlichkeit und der Staatsidee war der Abschied von der Hoffnung auf eine von Kaiser und/oder Papst geführte Universalmonarchie einerseits, von der Rechtsvorstellung der Scholastik andererseits. Preiszugeben war die von Thomas von Aquin u. a. konstruierte Hierarchie der Rechtsnormenebenen, die das Interpretationsmonopol dem Papst zugesprochen hatte (s. o., S. 488 f.). Zu verabschieden war aber auch die Vorstellung eines die Welt umspannenden christlichen Imperiums, wie sie von den meisten Politikdenkern des Mittelalters, auch von den Gegnern des päpstlichen Suprematieanspruchs (Dante, Postglossatoren usw.), entwickelt worden war. Der Schutzschirm des Staates ermöglichte den Europäern ein tieferes Selbstbewußtsein und die Entfaltung ihrer wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kompetenzen, die rückwirkend zu seiner Festigung und seinem Ausbau beitrugen und schließlich in der Moderne seine Form änderten und seinen Handlungsspielraum begrenzten, indem sie ihn zur Respektierung und zur Garantie von Menschen- und Staatsbürgerrechten verpflichteten. Durch Unterdrückung ihrer aggressiven und destruktiven Triebe und Leidenschaften schuf der Staat die Voraussetzungen für ihre freie und humane Entwicklung. Er wurde zum Integrationsfaktor und zum großen Brennspiegel, in dem die Individuen ihre wesenhafte Verbundenheit erkennen konnten, in dem jeder einzelne sich selbst in allen anderen Volksgliedern wiedererkennen konnte. bb) Entstehung und Entwicklung des neuzeitlichen Weltbildes Der aus dem Mittelalter überkommene, von der Papstkirche verwaltete Glaube wurde nicht nur von seiten des Protestantismus und durch die Politik der Könige und Fürsten attackiert, sondern auch von der Wissenschaft, die in allen Sparten an seinen Fundamenten und Gerüsten nagte. Renaissancephilosophie und Humanismus hatten sich dem Klammergriff der Theologie entwunden und ihren Halt in der Antike gefunden, die eine andere Sicht der Welt ermöglichte. Aristotelismus und Platonismus, Machiavellismus, Tacitismus und Neostoizismus, Rom-Ideologie etc. rivalisierten miteinander in der Suche nach neuen Orientierungen und konterkarierten die christliche Ethik und Politik.850 Die härtesten Angriffe kamen jedoch von der Naturphilosophie, die das alte Ordo-Denken gänzlich wankend machte und schließlich zerstörte. Den Anfang machte die Astronomie. In seinem Todesjahr veröffentlichte Nikolaus Kopernikus (1473–1543) sein bahnbrechendes Werk De revolutionibus orbium coelestium, das dem bislang geltenden geozentri850 Vgl. G. Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit; E.-L. Etter, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts; K. C. Schellhase, Tacitus in Renaissance political Thought. Zu den politischen Ideen des Tacitismus und Neostoizismus vgl. auch Münkler, Staatsraison und politische Klugheitslehre, S. 59 ff. Zu Justus Lipsius ferner Oestreich, Strukturprobleme, S. 298 ff., 318 ff.

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems

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schen Weltbild des Ptolemäus ein heliozentrisches entgegensetzte.851 Die Sonne kreiste fortan nicht mehr um die Erde, sondern diese um jene. Die Erde bildete nicht länger den Mittelpunkt eines wohlgeordneten Universums, sie wurde als einer von vielen Planeten in einer an sich chaotischen Galaxis erkannt und rückte folglich an die Peripherie. Der göttliche Kosmos, der die Menschen bislang beherbergt und ihnen ihren Ort und Rang als Herren der Welt zugewiesen hatte, löste sich auf. Sie standen plötzlich schutz- und hilflos da. Die Erschütterung, die diese neue Sicht hervorrief, hat Sigmund Freud recht plastisch beschrieben: „Der Mensch glaubte zuerst . . ., daß sich sein Wohnsitz, die Erde, ruhend im Mittelpunkte des Weltalls befinde, während Sonne, Mond und Planeten sich in kreisförmigen Bahnen um die Erde bewegen. . . . Die zentrale Stellung der Erde war ihm . . . eine Gewähr für die herrschende Rolle im Weltall und schien in guter Übereinstimmung mit seiner Neigung, sich als den Herrn dieser Welt zu fühlen“.852 Diese Eitelkeit, diese „narzißtische Illusion“ wurde durch Kopernikus zerstört. Zwar hatten schon früher die Pythagoreer an der bevorzugten Stellung der Erde gezweifelt, zwar hatte Aristarch von Samos bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert vermutet, daß die Erde viel kleiner sei als die Sonne und sich um diese drehe, doch fand diese Auffassung erst allgemeine Anerkennung infolge der kopernikanischen Wende. Dadurch erlitt die menschliche Eigenliebe nach Freud die erste von drei Kränkungen durch die wissenschaftliche Forschung, nämlich die kosmologische Kränkung, der im 19. Jahrhundert die an den Namen von Charles Darwin geknüpfte biologische und im 20. Jahrhundert die von Freud selbst herbeigeführte psychologische folgte. Die Menschheit verlor den schützenden Himmel über sich und sah sich der göttlichen Ordnung und ihrer Sicherheiten beraubt. Die kopernikanische Wende vollzog sich nicht reibungslos. Sie mußte gegen den erbitterten Widerstand der Papstkirche durchgesetzt werden. 1600 wurde Giordano Bruno (*1548), der 1584 Della Causa, del principio e dell’ uno und De l’infinito, universo e mondi veröffentlicht hatte, von der römischen Inquisition verurteilt und vom „weltlichen Arm der Gerechtigkeit“ auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Galileo Galilei (1564–1642), der einen Dialogo sopra i due massimi sistemi (1632) verfaßt hatte, mußte 1633 widerrufen, um dem gleichen Schicksal zu entgehen. Die Kurie stemmte sich mit aller Macht gegen die Infragestellung des alten Weltbildes. Sie hielt an den überkommenen, für unerschütterlich gehaltenen Wahrheiten fest und pflegte so die „narzißtische Illusion“. Sie wollte das Erwachen der Vernunft verhindern und das wissenschaftliche Erken851 Vgl. dazu T. S. Kuhn, Die kopernikanische Revolution; H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt. 852 S. Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 133. Vgl. auch ders., Die Widerstände gegen die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke. Bd. 14, S. 109; ders., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 18. Vorlesung (1916). In: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 294 f.

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nen durch die alten Dogmen und Glaubensgewißheiten kontrollieren. Der angebahnte Paradigmenwechsel ließ sich dadurch aber nur verzögern, nicht dauerhaft blockieren. Mit Johannes Kepler (1571–1630) und Isaac Newton (1643–1727) setzte sich das heliozentrische Weltbild im 17. Jahrhundert endgültig durch. Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) besiegelte den Sieg des wissenschaftlichen Denkens über die theologische Orthodoxie und die traditionelle Metaphysik.853 Der Schock saß tief, die Bestürzung war immens. Der Tod Gottes kündigte sich an. Allerdings ging die europäische Menschheit seinerzeit – nach längeren Krämpfen – eher gestärkt aus der geistigen Krise hervor. Sie entwickelte ein neues Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl, indem sie sich zum Herrscher über die Erde erklärte. Sie kompensierte die „kosmologische Kränkung“ dadurch, daß sie sich selbst – anstelle Gottes – in den Mittelpunkt des Denkens rückte. Zwar bildete die Erde nun nicht länger den Fokus des Universums, aber die Menschheit konnte sich aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit und ihrer Vernunft und Einsicht weiterhin als Krönung der Schöpfung begreifen, die sich zum Zwecke ihrer Selbsterhaltung und Selbststeigerung die Natur unterwirft. Erst Darwin raubte ihr im 19. Jahrhundert auch noch dieses Selbstvertrauen, indem er den Menschen als zufälliges Evolutionsprodukt erkannte, das von den Affen abstammte. Er bescherte ihr damit – laut Freud – die zweite große Kränkung. Infolgedessen blieb zur Beruhigung nur noch das Denken selbst, der „Geist“, das ego cogito des René Descartes, das den Menschen über die anderen Kreaturen erhob – bis schließlich die Psychoanalyse auch noch diese letzte Quelle des menschlichen Selbstwertgefühls als bloßes Sublimationsprodukt der Triebe und Leidenschaften entlarvte. Damit kam die Genealogie der Kränkungen zu ihrem vorläufigen Abschluß.854 Diese Einsichten und Desillusionierungen wären ohne die Pionierleistung des Kopernikus unmöglich gewesen. Durch ihn wurden Philosophie und Wissenschaft zu neuen Reflexionen gezwungen und zu neuen Ufern geführt. Die früheren astronomischen Berechnungen, die im Rahmen des ptolemäischen Weltbildes angestellt worden waren, wurden mit einem Schlage zur Makulatur. Die Menschheit hatte den ruhenden Himmel über dem Kopf und den festen Boden unter den Füßen verloren. Die daraus resultierende Erschütterung und Verunsicherung sollte nicht unterschätzt werden.855 853 Zur Entwicklung des philosophischen Denkens in der frühen Neuzeit vgl. H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance; E. Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie; S. Otto (Hg.), Renaissance und frühe Neuzeit, bes. S. 382 ff. („wissenschaftliche Methode und Wissenschaftsverständnis“); W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 1 u. 2. 854 Eine „vierte Kränkung“ erfuhr sie schließlich durch die moderne Soziologie und Gesellschaftstheorie. Vgl. A. Neusüss, Das Heil in der Flucht, bes. S. 81 ff. 855 Eine Kritik an Freuds Kränkungs-Theorem versuchte R. Rorty, Freud und die moralische Reflexion. Rorty bezweifelt, daß die Geschichte der Dezentrierungen zugleich eine Kränkungs- oder Demütigungs-Geschichte war. Ihm zufolge können Kopernikus

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(1) Empirismus, Rationalismus, Metaphysik Aus der Krise der christlich-katholischen Weltanschauung erwuchs das säkulare Denken der Neuzeit. Das „bürgerliche“ Weltbild verdrängte das „feudale“.856 Ökonomie, Politik, Recht und Wissenschaft emanzipierten sich aus der geistlichen Umklammerung. Was sich in den theoretischen Kontroversen des Spätmittelalters abgezeichnet hatte, wurde durch die religiös-politischen Kämpfe und die wissenschaftlichen Entdeckungen der Frühen Neuzeit zur unumstößlichen Gewißheit. Die alten Fundamente trugen nicht mehr. Die theologische und die traditionelle metaphysische Erklärung des Seienden befriedigte das Denken angesichts der neuen Entwicklungen nicht mehr. Durch die innerchristlichen Streitigkeiten im Gefolge der Reformation war der einstmals unproblematische Ausgangspunkt erneut zum Streitobjekt geworden. Selbst die Theologen waren sich nicht einig darüber, welches der wahre Wille Gottes sei und wie man ihn erkennen kann. Diese Auseinandersetzung führte zur Verfestigung der unterschiedlichen Konfessionen. Mit der kopernikanischen Wende löste sich sodann der hierarchisch geordnete göttliche Kosmos auf, der die Menschheit bislang behütet hatte. Zunächst verloren die Himmelskörper ihre vermeintliche Sinn- und Zweckhaftigkeit. Alsbald wurde die Erde selbst, die physische Natur, ihrer vorgegebenen Teleologie beraubt. Und schließlich verlor auch noch die Menschenwelt ihre Sinn- und Zweckhaftigkeit. Zurück blieben Trümmer und letztlich ein Chaos empirischer Erscheinungen, das neu geordnet werden mußte. Wie konnte man eine neue Ordnung ins Erfahrungsmaterial bringen? Die Antwort der frühneuzeitlichen Wissenschaft auf diese Frage lautete: Indem man aus der Not eine Tugend macht und die sinnleer gewordene Welt auf kausale oder mechanische Regel- oder Gesetzmäßigkeiten reduziert. Von Chaostheorie, Kybernetik und Systemtheorie wußten die Natur- und Staatsphilosophen seinerzeit noch nichts. Sie konstruierten eine primitivere Ordnung, ein mechanisches System der Ursachen und Wirkungen, und entwickelten eine neue wissenschaftliche Methodologie. Um ihren Flucht- oder Ausgangspunkt fernerhin nicht mehr im Übersinnlichen suchen zu müssen, verzichtete die neuzeitliche Philosophie auf Spekulationen über die Prima Causa. Sie verlegte sich auf die Analyse der causae secundae. Als solche „zweite Ursachen“ erkannte sie die sog. Naturgesetze, die Gesetze der Mathematik und die logischen Gesetze des menschlichen Verstandes. Die Natur- und Geisteswissenschaftler erklärten einen Sachverhalt und Darwin „für sich in Anspruch nehmen, durch Verminderung der Faßbarkeit Gottes und der Engel dafür gesorgt zu haben, daß der Mensch obenauf bleibt. Der Hinweis, wir hätten die demütigende Entdeckung gemacht, die Menschheit sei weniger wichtig, als wir geglaubt hatten, leuchtet nicht ein“ (S. 38). Mir scheint, daß Rorty die Sache damit verharmlost. In der Tat ging die Menschheit schließlich mit gestärktem Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl aus der Krise hervor, aber die Bestürzung, die der Zusammenbruch des ptolemäischen Weltbildes hervorrief, darf nicht bagatellisiert werden. 856 Vgl. F. Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild.

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künftig, indem sie ihn aus natürlichen und/oder logisch-mathematischen Gesetzen deduzierten bzw. ihn auf solche reduzierten. Die Frage, woher diese allgemeinen „Gesetze“ kommen sollten und wie man sie ermitteln und begründen konnte, spaltete die Philosophen in zwei unterschiedliche Lager, in die empiristische und in die rationalistische Linie.857 Der Empirismus begann mit Francis Bacon, wurde von John Locke, George Berkeley und David Hume weiterentwikkelt und mündete in den sog. mechanischen Materialismus (Helvetius, Holbach, La Mettrie u. a.) und in den Positivismus (Auguste Comte). Der Rationalismus begann mit René Descartes, wurde von Hobbes, Spinoza und Leibniz weiter differenziert und von Kant und Fichte auf seinen Höhepunkt geführt. Den Versuch einer Synthese unternahm schließlich Hegel, der beide Ansätze für einseitig und unzureichend befand und sie deshalb zusammenzuführen und in eine höhere Form des Wissens aufzuheben strebte.858 Allerdings kombinierten bereits Thomas Hobbes und John Locke ihre rationalistischen Staatskonzeptionen mit einer empiristisch orientierten Anthropologie und Erkenntnistheorie.859 Der Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalismus wurde später überlagert durch den zwischen Materialismus und Idealismus, als man versuchte, die Gesetze der menschlichen Vernunft auf Naturgesetze zurückzuführen oder umgekehrt die natürlichen Gesetze aus Vernunftgesetzen abzuleiten. Diese Problematik war in der Frühen Neuzeit noch nicht akut. Sie kam erst auf, als David Hume (1711–76) das Kausalitätsprinzip einer kritischen Analyse unterzogen und festgestellt hatte, daß die sog. Naturgesetze im Grunde nichts weiter seien als beobachtete Regelmäßigkeiten, für die individuelle Ursachen postuliert werden, Ursachen, die ihrerseits nicht der Erfahrung entstammen, sondern der Mathematik bzw. dem menschlichen Verstand, der seine eigene Ordnung in die Welt der Erscheinungen bringt. Durch diese Einsichten wurde Hume zu einem prinzipiellen Skeptizismus getrieben, der zum Ausgangspunkt und Anstoß der Kritischen Philosophie Kants wurde, die durch ihre gründlichen Reflexionen auf die Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des menschlichen Denkens das Wissen auf neue Fundamente stellte. Erst sie ermöglichte die Lösung der epistemologischen und gnoseologischen Probleme, indem sie eine „kopernikanische Wende“ in der

857 Vgl. Gawlick (Hg.), Empirismus; Specht (Hg.), Rationalismus; Löcherbach, Vorlesungszyklus, bes. Bd. 2, S. 29 ff. 858 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes (HW 3); ders., Wissenschaft der Logik. 2 Bde. (HW 5 u. 6); ders., Enzyklopädie, §§ 26 ff. 859 Sie wurden deshalb in beide Kompendien aufgenommen. Vgl. Gawlick (Hg.), Empirismus, S. 49 ff., 73 ff.; Specht (Hg.), Rationalismus, S. 30 ff., 44 ff., 275 ff. Daß der Empirismus insgesamt vom Rationalismus „bestimmend“ geprägt wurde, betont A. Schwan, Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, S. 158. Schwan subsumiert deshalb die gesamte Politische Philosophie der frühen Neuzeit und der beginnenden Moderne unter den Oberbegriff Rationalismus. Dadurch werden natürlich die spezifischen Differenzen eingeebnet. Obgleich es sich „nur“ um Idealtypen handelt, bleibt die Unterscheidung beider Traditionslinien sinnvoll.

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Erkenntnistheorie vollzog. Bis dahin war jedoch noch ein weiter Weg zurückzulegen, der durch Versuch und Irrtum, Kritik und Gegenkritik gebahnt wurde. Das teleologische Denken wurde also durch ein Denken in Ursachen und Wirkungen abgelöst. Gesucht wurden allgemeine Gesetzmäßigkeiten, auf die sich die singulären Erscheinungen reduzieren bzw. aus denen sie sich deduzieren ließen. Doch woher sollten diese Gesetze kommen? Sollte man sie empirisch ermitteln, d. h. durch Beobachtung und Induktion aus der Erfahrung abstrahieren? Oder sollte man sie a priori aus dem Geist, aus der Logik und Mathematik gewinnen? In der Frühen Neuzeit dominierte zunächst der Empirismus, der den angemessenen Rahmen für die aus den theologischen Klammern befreite Naturwissenschaft bildete. Seine Begründung fand er im Novum Organum Scientiarum (1620) des Francis Bacon.860 Die Gegenposition des Rationalismus begründete René Descartes im Discours de la méthode (1637).861 Der von Bacon konzipierte Empirismus zog die Konsequenzen aus der nominalistischen Kritik, die im Universalienstreit aufgekommen war. Er schuf die Grundlage für ein neues Wissenschaftsverständnis, das nicht mehr ausging vom Allgemeinen, sondern vom Besonderen, um von ihm aus Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten der empirischen Erscheinungen zu konstatieren. Die sinnliche Erkenntnis, die Erfahrung, wurde zur Grundlage und Quelle aller Erkenntnis erklärt, wodurch die apriorische Begriffsspekulation in Frage gestellt war. Die Wissenschaft wurde zur Erfahrungswissenschaft und suchte das sinnlich Gegebene methodisch zu erfassen durch Induktion, Beobachtung, Analyse, Vergleich, Experiment usw. Sowohl die Quelle als auch die Prüfinstanz und das Kriterium der wahren Erkenntnis wurde in der Erfahrung gesucht. Als zulässig galten nur solche Hypothesen, die sich durch geregelte Beobachtung prüfen und kausal erklären ließen. Alles Nicht-Empirische galt nun als „metaphysisch“ und wurde aus der Wissenschaft verbannt. Allsätze wurden gewonnen durch Induktion, d. h. durch logische Verallgemeinerung beobachteter Regelmäßigkeiten. Ergebnis dieser Forschungen war das mechanistische Weltbild. Vorstellungen von Gott, Kosmos usw. hatten in dieser Wissenschaft keinen Platz mehr. Untersucht wurde das, was sich empirisch prüfen ließ. Man stritt sich nicht mehr über die geheimnisvollen Mächte hinter (Theologie) oder in den Dingen (Metaphysik), sondern beobachtete ihr sichtbares Verhalten, um dessen Regelmäßigkeiten zu erfassen. Die Natur wurde nicht mehr teleologisch oder finalistisch betrachtet, sondern mechanistisch oder kausal. Ihre Erscheinungen wurden zurückgeführt auf Kausalgesetze. Sie verlor dadurch ihre innere Sinnhaftigkeit und wurde zum Objekt des Menschen, zur Beute und zum Material, in das erst durch menschliche Tätig-

860 861

Vgl. F. Bacon, Neues Organ der Wissenschaften. Vgl. dazu W. Röd, Descartes (weitere Literatur: S. 209 ff.).

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keit Ordnung und Sinn gebracht wird. „Technik ist das Wesen dieses Wissens“, resümieren Horkheimer und Adorno die von Bacon initiierte Forschung. „Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital“.862 Ziel der Erkenntnis war nicht länger die kontemplative Erfassung des Seienden durch Mimesis, sondern die Unterwerfung und Beherrschung der Natur. Wissen galt als Quelle und Medium der Macht. Die Natur wurde instrumentalisiert und verdinglicht. Durch Kenntnis der von ihr selbst erzeugten Gattungen und Arten wollte man sie für den Menschen nutzbar machen. Dieser – bezüglich der äußeren Natur recht erfolgreiche – Ansatz wurde später auch auf die Menschenwelt übertragen und stimulierte die Psychologie und die frühneuzeitliche Staatstheorie, die mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methoden das Politische zu durchdringen und zu beherrschen hoffte. Sie erstrebte keine richtige Erziehung der Bürger mehr, sondern zielte darauf, „ein für allemal die Bedingungen der richtigen Staats- und Gesellschaftsordnung überhaupt anzugeben“.863 Die ausführlichste und systematischste Begründung des Empirismus unternahm John Locke (1632–1704) im Essay concerning Human Understanding (1690), der den Ursprung, die Gewißheit und die Reichweite der menschlichen Erkenntnis gründlich untersuchte und die Erkenntnistheorie zu einer eigenen Disziplin erhob. Er begründete den Sensualismus, demzufolge nichts im Verstand ist, das nicht zuvor in den Sinnen war. Locke unterschied die Sinneswahrnehmung (sensation) von der Selbstwahrnehmung (reflection). Diese beiden bilden ihm zufolge den Ursprung der Ideen und die Quelle aller Erkenntnis. Die Entwicklung des Empirismus von Bacon über Hobbes, Locke, Berkeley, Hume u. a. soll hier nicht nachgezeichnet werden.864 Hier interessieren nur seine Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis und für die Genealogie des Staates. Entscheidend wurde sein Beitrag zur Emanzipation der Wissenschaft, die nun auf eigenen Beinen zu stehen und gehen vermochte. Die sinnliche Erkenntnis, die einst als minderwertige und unzuverlässigste Form oder Stufe des Erkennens betrachtet worden war, wurde nun zum Ausgangspunkt und Fundament allen Wissens erhoben. Das Wissen trat in den Dienst der Naturbeherrschung, die Natur selbst wurde zum Objekt des Kalküls. Ergebnis dieser Entwicklung war ein weiterer Schub in der von Max Weber konstatierten „Entzauberung der Welt“,865 862 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 8. Vgl. auch H. Arendt, Vita activa, § 41: „Die Umstülpung von Theorie und Praxis“ (S. 281 ff.). 863 J. Habermas, Die klassische Lehre von der Politik, S. 50. 864 Vgl. dazu Gawlick (Hg.), Empirismus und die dort (S. 423 ff.) genannte Literatur; Löcherbach, Vorlesungszyklus. Bd. 2, S. 29 ff.; Röd, Die Philosophie der Neuzeit 1, S. 17 ff., 148 ff.; 2, S. 28 ff., 111 ff., 310 ff. sowie die prägnante Skizze von Marx, Kritische Schlacht gegen den französischen Materialismus. In: F. Engels/K. Marx, Die heilige Familie (1844). MEW 2, 131–141. 865 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594. Siehe dazu auch oben, S. 76 ff., S. 154.

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ein weiterer Verzicht auf Bedeutung und Sinn. „Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit“, resümieren Horkheimer und Adorno.866 Die Welt wird nicht länger von geheimnisvollen Mächten beherrscht. Alles kann durch Berechnung unter Kontrolle gebracht werden. Die physische Realität ist sinnleer geworden. Sie erscheint als mechanischer Regelzusammenhang. Die Bedeutungsfülle, die der alte Mythos produziert hatte, indem er alles mit Sinn belehnte, ist zerstoben. Der herrische oder gütige Gott, den die jüdisch-christliche Tradition imaginiert hatte, hat sich zurückgezogen. Er hat sich in einen deus absconditus verwandelt und spielte keine Rolle mehr bei der Erklärung des Seienden. Zwar entsprang auch die Tatsachenwissenschaft einst dem Bedürfnis nach einer sinnhaften Deutung des Daseins,867 doch wurde diese Hoffnung enttäuscht. Am Ende blieb das Bild eines unendlichen Universums, in dem die Sterne und Galaxien sinnlos kreisen und wandern. Da nun aber ein Bedürfnis nach einem sinnhaften Aufbau der Welt existierte und weiterhin existiert,868 mußte sich die Neuzeit ihre eigenen Mythen konstruieren.869 Sie fand den Ausweg aus dem Dilemma zunächst im Denken selbst. Der Intellekt versuchte sich am eigenen Schopf aus dem Abgrund zu ziehen. Als einzig sichere Instanz blieb der radikale Zweifel, das cogito ergo sum (Descartes). Um das entstandene Sinnvakuum zu füllen, erfand der Geist die Vision einer zweiten und schließlich einer dritten Welt neben den physischen Dingen.870 Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu, lautete der Kernsatz des Empirismus; „excipe: nisi ipse intellectus“, ergänzte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)871 – und brachte damit die Gegenposition des Rationalismus auf den Begriff, den René Descartes (1596–1650) angestoßen hatte. Nichts ist in der Seele oder im Intellekt, das nicht zuvor in den Sinnen war – außer dem Intellekt selbst. „Die Seele“, folgerte Leibniz, „enthält also das Sein, die Substanz, das 866

Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 9. Vgl. F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften: „In Wirklichkeit wurden die Tatsachen anfangs in der Annahme gesucht, daß sie Aufschluß über die Stellung des Menschen in einer sinnvoll geordneten Welt geben würden“ (S. 64). 868 Vgl. M. Frank, Der kommende Gott: „Tatsächlich existiert aber ein Bedürfnis nach einem sinnhaften Aufbau der Welt, d. h. nach einem Regel- und Werte-System, aus dem heraus die empirischen Tatsachen nicht nur als gegeben und so oder so beschaffen hingenommen, sondern darüber hinaus als begründet und legitimiert verstanden werden können“ (S. 69). 869 Zu ihrem bedeutendsten Mythos wurde die Geschichtsphilosophie, die Vorstellung eines ungebrochenen und linearen Fortschritts, wie sie von Machiavelli und Hobbes vorbereitet und von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts systematisch entwickelt wurde. Siehe dazu oben den Exkurs über Prophetie und moderne Geschichtsphilosophie (S. 231 ff.). 870 Vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis. 871 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1704). Zweites Buch, I. Kapitel, § 2, S. 84. 867

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Eine, das Selbige, die Ursache, die Perzeption, das Denken und eine Menge anderer Begriffe, die die Sinne nicht verleihen können“. Sie müssen folglich einen anderen Ursprung haben. Ein Streit entflammte, ob die Ideen dem Menschen angeboren sind oder ob sie erst im Erkenntnisakt erworben werden. Als sicher galt, daß sie keine extramentale Existenz haben und weder von den materiellen Dingen noch von den Sinnen hervorgebracht werden. Dadurch wurde den alten Einsichten Ockhams Rechnung getragen. Die Tätigkeit des Verstandes kann ihrerseits nicht beobachtet und mit den Sinnen wahrgenommen werden.872 Sie kann nur im und durch das Denken selbst (nach-)vollzogen werden, das seinen eigenen Regeln und Gesetzen folgt. Der sinnlich wahrnehmbaren, ausgedehnten materiellen Welt (res extensa) tritt folglich eine nur dem Intellekt zugängliche, unsichtbare ideelle Welt des rein Geistigen (res cogitans) gegenüber. Das Sein zerfällt demzufolge in zwei Sphären, die beide nicht aufeinander reduzierbar sind, deren Zusammenhang aber theoretisch zu klären ist. Die erkenntnisleitenden Ideen entspringen nicht den physischen Dingen oder ihrer Erfahrung, sondern dem menschlichen Verstand. Dieser erhebt sich zum Herrn der Welt und bringt seine eigene, subjektive Ordnung in das an sich chaotische Erfahrungsmaterial. Im Gegensatz zum Empirismus hielt es der Rationalismus für möglich und zulässig, durch Vernunftschlüsse a priori zu richtiger Erkenntnis zu gelangen. Methodisches Prinzip sollte die transzendentale Reflexion sein, die im Inneren der Vernunft die allgemeinen Regel- und Gesetzmäßigkeiten entdeckt, durch die sich die Realität begreifen läßt. Die Erklärung des Seienden erfolgt durch Deduktion, durch Ableitung der singulären Erscheinungen aus allgemeinen Sätzen, die nicht aus der Erfahrung, sondern aus der Vernunft gewonnen wurden. Sowohl die Quelle als auch die Prüfinstanz der Erkenntnis liegt nach rationalistischem Verständnis in der Vernunft, der Grund der Gewißheit und Wahrheit in den Gesetzen der formalen Logik bzw. der Mathematik, die unabhängig von jeglicher Erfahrung wirken und gelten. Zum Kriterium richtiger oder wahrer Erkenntnis wurden folglich die Prinzipien der Logik, d. h. Stringenz und Konsistenz, Widerspruchsfreiheit usw. Während der Empirismus im mechanischen Materialismus und im Positivismus kulminierte, die auch den Menschen (Psychologie) und die Gesellschaft (Soziologie) mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methoden erforschten,873 872 Dies verdeutlicht eine Anekdote, die man sich von Heraklit erzählt. Von ihm wird berichtet, es seien eines Tages Fremde, Leute aus seiner Nachbarschaft bzw. aus angrenzenden Dörfern, zu ihm gekommen, um zu sehen, was ein Denker tut, wenn er denkt. Als sie sein Haus betraten, sahen sie ihn – sich wärmend – neben dem Backofen stehen – und wußten nun, was ein Denker tut, wenn er denkt. Vgl. Aristoteles, de part. anim. A5, 645 a 17. Zitiert nach M. Heidegger, Über den Humanismus, S. 107. 873 Seine extremste Zuspitzung erfuhr er in dem von Auguste Comte (1798–1857) konzipierten Positivismus. Nach Comte durchläuft die Entwicklung des Wissens stets drei Stadien. Dem theologischen Zeitalter folgt das metaphysische und diesem das positive. Im „positiven“ Stadium streitet man nicht mehr über Werte und Zwecke, sondern

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wurde der Rationalismus zur Stütze und zum Fundament der neuzeitlichen Metaphysik, die durch ihn einen rasanten Aufstieg erlebte. Von Descartes über Spinoza und Malebranche bis hin zu Leibniz und Christian Wolff formierte sie sich als Alternative zur Theologie, die sie zugleich beerbte und fortsetzte.874 Ihr Ziel war die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge, d. h. die Suche nach allgemeinen Formen, nach Ideen und Grundstrukturen, die den physischen, psychischen und geistigen Erscheinungen insgesamt zugrunde- bzw. vorausliegen, die sich in ihnen realisieren und sie prägen (Ontologie). Nach dem Vorbild der antiken Metaphysik wollte sie den Grund des Seienden erkennen, das Feste und Ruhende, das den fluktuierenden, den entstehenden und vergehenden empirischen Phänomenen Halt und Festigkeit verleiht. Während die Theologie das Wesen der Dinge hinter den Tatsachen suchte und im göttlichen Willen fand, suchte es die Metaphysik in den Dingen selbst bzw. im Denken, das den flüchtigen Erfahrungstatsachen Allgemeinheit und Notwendigkeit verleiht. Sowohl die physische Natur als auch die seelischen und geistigen Vorgänge wurden auf ihre ideellen Grundlagen zurückgeführt. Zur zentralen Aufgabe wurde die Klärung des Verhältnisses von res extensa und res cogitans, Materie und Geist, ausgedehnter und ideeller Welt. Die Philosophen wurden nicht müde, in immer neuen Erklärungsansätzen den Zusammenhang und die Identität beider Welten zu beweisen. Der Geist, das Denken sollte die ansichseiende Wirklichkeit theoretisch durchdringen, ihr Wesen, ihren Grund und ihre Notwendigkeit erkennen und die Welt mit Hilfe der Logik und Mathematik erklären. Im Gegensatz zum Empirismus bildete nicht die Erfahrung den Ausgangspunkt, sondern der radikale Zweifel, der nach Descartes das einzig Sichere und Wahre ist. Er sollte es sein, der wahre Erkenntnis ermöglicht, indem er alles ergreift und sich unterwirft. Infolge der unermüdlichen Arbeit der Philosophen an ihren Systemen differenzierte sich die Metaphysik in der Folgezeit selbst in gegensätzliche, miteinander rivalisierende Konzeptionen. Der Spaltung von Empirismus und Rationalismus

beobachtet das Verhalten der Dinge und Menschen, um spezifische Regelmäßigkeiten zu erfassen. Dieser Weg zur „positiven“ Wissenschaft sei bereits auf verschiedensten Gebieten mit Erfolg beschritten worden, meinte Comte, es fehle nur noch eine positive Wissenschaft von der Gesellschaft, die sich am Vorbild der Naturwissenschaft orientiert und eine „soziale Physik“ konzipiert. Vgl. A. Comte, Cours de philosophie positive. Zur Entwicklung des Positivismus siehe S. Poggi, Positivistische Philosophie und naturwissenschaftliches Denken. In ders./W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 4. Erster Teil, 11–151 (weitere Literatur: S. 339 ff.). 874 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. HW 20, S. 122 ff., der allerdings auch Hobbes (S. 225 ff.), Locke (S. 203 ff.), Cudworth, Pufendorf und Newton (S. 229 ff.) als „Metaphysiker“ rubriziert. In seinem Naturrechtsaufsatz hingegen begriff er Hobbes und Locke als Verfechter des „empirischen“ Naturrechts im Gegensatz zum „reinformellen“, wie es von Kant und Fichte begründet wurde. Vgl. ders., Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (1802). In: Frühe politische Systeme, 103–199.

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folgte die innere Diversifikation der Metaphysik. Die widersprüchlichsten Ansätze traten in Konkurrenz zueinander und suchten sich mit immer neuen Welterklärungen gegenseitig zu übertrumpfen. Die Philosophie war folglich nicht nur in empiristische und rationalistische Positionen gespalten, sondern auch in zahlreiche metaphysische Entwürfe, die allesamt den Anspruch erhoben, eine adäquate Erklärung des Seienden zu bieten. Und selbst die Theologie ließ sich nicht von der Bühne verdrängen. Sie wehrte sich gegen die Angriffe der Vernunft und fristet bis heute ihr Dasein im gesellschaftlichen Leben. Sie fand in der Metaphysik sogar einen Verbündeten, da diese die gesuchte Einheit von Materie und Geist in Gott wiederfand und sich anschickte, ihn von der Schuld für die großen Übel in der Welt reinzuwaschen.875 Allerdings erwuchsen auch pantheistische und akosmistische Positionen, die den Rahmen der orthodoxen Lehre sprengten. Die überzeugendste und deshalb einflußreichste Konzeption entwickelte Baruch de Spinoza (1632–77), der in Gott nichts Drittes neben ausgedehnter und geistiger Welt, sondern eben deren Identität erkannte. Dadurch begründete er einen Pantheismus, der ihn in Gegensatz zum jüdisch-christlichen Personalismus brachte und ihm den Vorwurf des Atheismus eintrug. Da weder eine geistlose Materie die Vernunft aus sich hervorbringen kann noch ein immaterieller Geist die ausgedehnte Materie, muß folglich eine ursprünglich-synthetische Einheit von Materie und Geist existieren, die Spinoza Gott zu nennen pflegte. Deus sive natura ist ihm zufolge die einzige, ewige und absolute Substanz, die uns in ihren Akzidentien Geist und Materie erscheint. Die denkende und die ausgedehnte Substanz sind „eine und dieselbe Substanz, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut gefaßt wird“.876 „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist die selbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“ (Ethik, II, 7; S. 54). Spinoza unterscheidet die schaffende (natura naturans) von der geschaffenen Natur (natura naturata) und bestimmt die letztere als Gesamtheit dessen, „was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden von Gottes Attributen folgt, das heißt, die gesamten Modi der Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtet werden, die in Gott sind, und die ohne Gott weder sein noch begriffen werden können“ (I, 29, Anm.; S. 32). Die Gesetze der Natur entspringen folglich ebenso wie die des Denkens aus der Natur Gottes als der natura naturans. Nun hatte aber René Descartes die These vertreten, Gott könne auch die Naturgesetze und die ewigen Wahrheiten, einschließlich der mathematischen, nach seinem Gutdünken verändern. Sein Gott war ein Willkürgott, dessen Ratschlüsse unergründlich bleiben mußten. Diese Auffassung mußte Spinoza zurückweisen. Gott kann ihm zufolge die Naturgesetze nicht willkürlich verändern, er unterliegt vielmehr selbst den Gesetzen seiner Natur, die ewig und unumstößlich sind. Wichtigste Aufgabe der Philosophie sollte es deshalb sein, sie zu erkennen. 875 876

Vgl. Leibniz, Essais de theodicée. B. d. Spinoza, Die Ethik, S. 55. (Künftig im fortlaufenden Text zitiert.)

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Die Einzelheiten der Philosophie Spinozas interessieren hier nicht,877 die weitere Entwicklung der Metaphysik soll nicht verfolgt werden. Festzuhalten bleibt, daß auf rationalistischer Basis das Nachdenken über die allgemeinen Seins- und Denkprinzipien, über Substanz und Akzidenz, Stoff, Form, Bewegung usw. weitergetrieben wurde. Immer neue Ansätze bemühten sich um Aufklärung über Gott und die Welt. Die widersprüchlichsten metaphysischen Systeme traten auf den Plan und machten sich gegenseitig ihren Rang streitig. Sie lagen noch lange Zeit im Kampf miteinander, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts währte. Theologie und Metaphysik, Empirismus und Rationalismus stritten sich um die Angemessenheit ihrer Verfahren.878 Die Metaphysik selbst erschien als „ein Kampfplatz, auf dem ein immerwährender anarchischer, regelloser Kampf aller gegen alle geführt wurde“.879 Dieser Streit zahlreicher miteinander unvereinbarer und konkurrierender Erkenntnisweisen, die allesamt Anspruch auf Gültigkeit erhoben, ohne über ihre Natur und ihren Ursprung eine befriedigende Auskunft geben zu können, wurde zur Grunderfahrung und zum Ausgangspunkt Immanuel Kants (1724–1804), der die Konsequenzen aus der desolaten Lage zog und eine neue Lösung für die erkenntnistheoretischen Probleme fand, die sich als tragfähig und zukunftsweisend erwies. Den Streit zu schlichten und Frieden zu stiften, war das erklärte Ziel seiner Kritischen Philosophie,880 die sich über die streitenden Parteien erhob und einen Angriff auf die Selbstsicherheit des Dogmatismus startete. Da erst die von Kant vollzogene „kopernikanische Wendung“ die Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme ermöglichte und deshalb bahnbrechend für die Zukunft wurde, muß sie, obgleich sie erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts und folglich lange nach der frühneuzeitlichen Staatstheorie erfolgte, an dieser Stelle kurz betrachtet werden. (2) Exkurs: Kant und die „kopernikanische Wende“ in der Erkenntnistheorie Das methodische Prinzip des Empirismus, die deduktiv-nomologische oder Kausalerklärung, war zum Anlaß und Gegenstand der Kritik des Skeptizismus geworden, der seinerseits zum Anstoß des kantischen Kritizismus wurde. Wie Kant berichtet, wurde er durch die Humesche Skepsis aus dem „dogmatischen Schlum877 Zur Metaphysik Spinozas vgl. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 1, S. 186 ff.; Specht (Hg.), Rationalismus, S. 190 ff.; M. Walther, Metaphysik als Anti-Theologie. 878 Vgl. D. Henrich, Kant und Hegel. Versuch zur Vereinigung ihrer Grundgedanken. In ders., Selbstverhältnisse, 173–208; hier: S. 176 f. 879 K. Röttgers, Kritik und Praxis, S. 33. Vgl. auch M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik; H. Saner, Widerstreit und Einheit. 880 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur ersten Auflage (1781), A VIII [S. 5]. Künftig im fortlaufenden Text zitiert als Kr. d. r. V. [nach der zweiten Original-Ausgabe von 1787 (= B)].

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mer“ gerissen.881 David Hume nämlich hatte – lange vor Albert Einstein und Karl Raimund Popper – gezeigt, daß es die sog. Naturgesetze gar nicht gibt. Er sah, daß es hinsichtlich der Kausalität keine Sicherheit geben kann, daß die Wissenschaft aber nicht ohne die Fiktion allgemeiner Gesetzmäßigkeiten auskommen kann. Er bezweifelte den empirischen Ursprung von Allsätzen und das Kausalitätsprinzip generell, meinte aber, daß es keine Alternative dazu gäbe, weshalb die Wissenschaft gut daran täte, an ihm festzuhalten, selbst dann, wenn es gänzlich verkehrt sein sollte.882 Zugleich kritisierte Hume die rationalistischen Spekulationen über Gott und die Welt, Allgemeinheit und Notwendigkeit, Substanz und Akzidenz usw., die er für gänzlich abwegig hielt, da sie ihr Fundament nicht in der Erfahrung hatten. Wahre Erkenntnis erbringe allein die erfahrungsunabhängige Mathematik. Die sinnliche Erkenntnis kann keine Sicherheit erreichen. Die Allgemeinbegriffe und Spekulationen der Metaphysik aber erscheinen in toto als sinnlos und überflüssig, da ihnen nichts in der Erfahrung entspricht. Die letzten Grundkräfte und Prinzipien bleiben dem menschlichen Verstand verschlossen, der sich darein bescheiden muß, innerhalb seiner Grenzen nach Orientierung und Klarheit zu suchen. Durch diesen Angriff auf die Fundamente der Metaphysik und des menschlichen Erkenntnisvermögens generell entstand eine denkwürdige Konstellation. Hume hatte – vereinfacht gesagt – bewiesen, daß die natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden und Verfahren eigentlich unbegründet und unhaltbar sind, hatte aber den Naturwissenschaftlern geraten, ruhig mit ihrer Arbeit fortzufahren, weil es gar keine Alternative dazu gibt und weil die bisherige Forschung mehr oder weniger gut funktionierte.883 Kant zog die Konsequenzen aus der dilemmatischen Situation und stellte alle seitherigen Auffassungen auf den Kopf. Er begründete einen subjektiven Idealismus und legte damit den Grund für jenen Subjektivismus und Konstruktivismus, der auch heute noch bedeutende Anhänger und Verfechter in Philosophie und Wissenschaft hat und die Wissenschaftstheorie dominiert. Gegen Hume insistierte Kant darauf, daß es doch Notwendigkeit und Allgemeinheit gibt, und zwar nicht nur in der Mathematik, sondern auch im begriff881 I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). In: Werke. Bd. 5, S. 109 ff. Zur Biographie und zur Entwicklung des kantischen Denkens vgl. E. Cassirer, Kants Leben und Lehre. Berlin 1918 (ND Darmstadt 1974); K. Vorländer, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk (1924). Hamburg 19923. 882 Vgl. D. Hume, Enquiries concerning Human Understanding. Zu Hume vgl. auch G. Deleuze, David Hume. 883 Die dadurch herbeigeführte Lage weist Ähnlichkeiten mit derjenigen auf, die in der jüngeren Wissenschaftstheorie Paul Feyerabend hervorgerufen hat, indem er konstatierte, daß die Methoden und Einsichten der sog. rationalen Wissenschaften auch nicht rationaler sind als die der nicht- bzw. vorwissenschaftlichen Verfahren, z. B. der mythologischen oder magischen Welterklärung. Vgl. P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang; ders., Wissenschaft als Kunst.

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lichen Denken, in Philosophie und Naturwissenschaft. Weil diese Notwendigkeit und Allgemeinheit jedoch nicht in den äußeren Dingen ist, so muß sie a priori, d. h. in der Vernunft gelegen sein. Die Annahme von Notwendigkeit, Allgemeinheit, Kausalität, Relation usw. entspringt somit den Zwängen des menschlichen Denkens, das sich die Welt nach seinen eigenen Anlagen und Vermögen zurechtlegt. Weil man unter der Voraussetzung, die Erkenntnis müsse sich nach den zu erkennenden Gegenständen richten, nichts a priori durch Begriffe ausmachen konnte, schlug Kant vor, man solle es einmal damit versuchen, „ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“ (Kr. d. r. V., B XVI; S. 19 f.). Damit stellte er das erkenntnistheoretische Problem auf ein neues Fundament und leitete jene „kopernikanische Wende“ ein, die in der Folgezeit die aufeinanderfolgenden Systeme des Deutschen Idealismus provozierte. Gegenstand der Kritik ist unser Erkenntnisvermögen, dessen Wirkungsweisen und Grenzen Kant exakt zu bestimmen versuchte. Seine Philosophie ist wesentlich Transzendentalphilosophie, d. i. eine Philosophie, die sich mit den „Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit“ befaßt. Sie analysiert die Leistungen und Schranken unseres Erkenntnisvermögens, um festzustellen, welche Gegenstände und Zusammenhänge uns mit welchem Sicherheitsgrad zugänglich sind. Das Selbstbewußtsein, das Ich denke, das seit Descartes als sicherer Grund des Wissens und zugleich als Basis einer aufgeklärten, autonomen Existenz galt,884 wurde nun einer kritischen Betrachtung unterzogen, die Hegel später in der Phänomenologie des Geistes (1807) noch radikalisierte. „Der kritische Weg ist allein noch offen“, bemerkte Kant und folgerte: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“ (A XII, Anm.; S. 7). Sowohl die theoretische wie die praktische Vernunft, alle bislang für gültig erachteten Dogmen und Normen, selbst die Gesetze und Institutionen des sozialen Lebens wurden im Zeitalter der modernen Aufklärung vor den Gerichtshof der Vernunft gezogen und mußten ihre Geltungsansprüche rechtfertigen. Im hier verfolgten Zusammenhang interessiert nur die Kritik der reinen Vernunft (1781/17872). Kant führte darin einen Zweifrontenkrieg. Er bekämpfte einerseits den Empirismus, speziell den Lockeschen Sensualismus, gegen den er rationalistische Argumente ins Feld führte. Andererseits kritisierte er den seitherigen Rationalismus, indem er die Bedeutung der Erfahrung unterstrich und den Objektivismus der früheren Metaphysik entlarvte, die theoretische Aussagen naiv auf empirische Sachverhalte bezogen hatte.885 Nur die Erfahrung vermittelt uns wirkliche Erkenntnis eines Gegenstandes. Erfahrung besteht jedoch nicht aus Sinneseindrücken, die von den Dingen unserem passiven Bewußtsein aufge884

Vgl. dazu auch E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 9 ff. Vgl. dazu J. Habermas, Erkenntnis und Interesse (1965): „Mit Husserl nennen wir eine Einstellung, die theoretische Aussagen naiv auf empirische Sachverhalte bezieht, objektivistisch“ (S. 155). 885

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drückt werden, diese sind vielmehr selbst schon Produkte der Sinne und des Verstandes, der eine konstitutive Rolle bei der Entstehung und Verarbeitung der Sinnesdaten spielt. Erfahrung ist nicht etwas, das uns einfach „von außen“, ohne unser Zutun, geschieht, sie ist Ergebnis der geistigen Tätigkeit und basiert auf der Aktivität des Verstandes, der sie mit Hilfe seiner Begriffe und Kategorien sortiert und strukturiert und damit den singulären Erscheinungen überhaupt erst Signifikanz und Relevanz verleiht und sie verständlich werden läßt. Mit Georg Simmel gesprochen: „Die Sinne geben das rohe Material, den isolierten, sinnlosen, vorüberfliegenden Eindruck, der erst durch jene verstandesmäßigen Kräfte zur gültigen, objektiven Erfahrung geformt werden muß“. Die Kategorien oder Verstandesbegriffe hingegen „sind die in uns ruhenden Formen oder Funktionen, durch die wir Erfahrung bilden“.886 Kant zeigte so gegen den Empirismus, daß Erkenntnis nicht eine bloß passive Abbildung oder Spiegelung der äußeren Gegenstände ist, sondern eine aktive Leistung des menschlichen Geistes. Seine Kritik richtete sich jedoch zugleich gegen den Dogmatismus der metaphysischen Tradition. Zwar vertrat er grundsätzlich die Position des Rationalismus, derzufolge es Erkenntnisse a priori gibt, Erkenntnisse so allgemeiner Art, daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können. Gegen die früheren Auffassungen betonte er aber, daß diese Erkenntnisse nur dem Zwecke der Erfahrung dienen. Sobald sie die Erfahrungswelt übersteigen, werden sie überfliegend oder transzendent, d. h. haltlos, aporetisch und in sich widersprüchlich. Gerade dies geschah in der vormaligen Metaphysik. Kant kritisierte deshalb die vor ihm akzeptierten rationalistischen Philosophien, insbesondere die Systeme von Leibniz und Christian Wolff, die den damaligen Schulbegriff der Philosophie bestimmten. Er demonstrierte, daß der Rationalismus, indem er die Grenzen des legitimen Vernunftgebrauchs überschritt, zu Aussagen gelangte, die nicht mehr rational begründbar und in sich widersprüchlich sind. Man konnte derart alles, aber mit der gleichen Berechtigung jeweils auch das Gegenteil behaupten. So ließ sich einerseits stringent begründen, daß die Welt einen Anfang in der Zeit und räumliche Grenzen hat, doch ließ sich mit der selben Bündigkeit beweisen, daß sie räumlich wie zeitlich unendlich ist usw. (vgl. B 545 ff.; S. 454 ff.). Nach Kant setzt sich der menschliche Geist aus drei Vermögen zusammen: zur theoretischen, die sich auf Gegenstände in der äußeren Natur bezieht, gesellt sich die praktische Vernunft, der Wille, der das Handeln bestimmt. Aufgabe der theoretischen Vernunft oder des Erkennens ist es, aus dem sinnlichen Material die Welt der Erfahrung aufzubauen. Die praktische Vernunft hingegen strebt danach, die Gegenstände des Wollens wirklich zu machen und sich selbst zu realisieren. Dabei unterscheidet Kant die höheren von den niederen Begehrungsvermögen, 886 G. Simmel, Was ist uns Kant (1896). In ders., Vom Wesen der Moderne, 15–59; hier: S. 20.

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d. h. den eigentlichen freien Willen von den Begierden, Leidenschaften und Trieben. Während die Neigungen und Begierden auf äußere und einzelne Zwecke bezogen sind, zielt der freie Wille auf innere und allgemeine. Nur dadurch ist er frei und zur Selbstbestimmung fähig. Die Vernunft wird praktisch, indem sie Gegenstände nach ihrem eigenen Bild antizipiert und nach ihrem zweckmäßigen Willen formt. Das dritte Vermögen neben der theoretischen und praktischen Vernunft ist die Urteilskraft. Ihr Gegenstand sind die Werke der Kunst, das Schöne, sowie das organische Leben. Beide verlangen nach Kant eine andere Betrachtungsweise als die nicht-organische Natur und folgen anderen Gesetzmäßigkeiten als die menschliche Praxis. Sie fordern eine ästhetische und eine teleologische Betrachtung, da sich das Schöne und das Leben weder durch die allgemeinen Verstandesbestimmungen, also nach den Gesetzen der Mechanik oder der Mathematik, noch in den Formen des Begehrungsvermögens zureichend begreifen läßt. Während die nicht-lebendige Materie mit den mechanisch-mathematischen Instrumentarien zureichend begriffen wird, verlange die Erkenntnis der organischen die Annahme von Naturzwecken. Das Leben läßt sich demnach nicht kausalanalytisch oder mechanisch begreifen. Es folgt anderen Prinzipien, ist nicht durch Gesetze, sondern durch Zwecke bestimmt. Das Schöne hingegen ist nach Kant keiner Bestimmung durch Begriffe fähig. Es ist die Sphäre des interesselosen Wohlgefallens, folglich ein Objekt, das weder erkannt noch gewollt werden kann, dem weder Begriffe noch Neigungen oder Interessen gerecht werden oder zukommen. Das diesen beiden Sphären entsprechende Vermögen ist deshalb weder die theoretische noch die praktische Vernunft, sondern die Urteilskraft. Sie leistet einerseits – als reflektierende Urteilskraft – die Synthese von Einzelnem und Allgemeinem. Sie ist „reflektierend“, indem sie zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden sucht. Sie ist andererseits „bestimmend“, sofern sie die Anschauung unter allgemeine Kategorien subsumiert. Kant faßt diese seine Überlegungen wie folgt zusammen:887 Bei der Einteilung unseres Erkenntnisvermögens a priori „fällt die systematische Vorstellung des Denkvermögens dreiteilig aus, nämlich erstlich in das Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen (der Regeln), den Verstand, zweitens das Vermögen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine, die Urteilskraft, und drittens das Vermögen der Bestimmung des Besondern durch das Allgemeine (der Ableitung von Prinzipien), d. i. die Vernunft.“

Der Erkenntnisakt vollzieht sich nach Kant stets in einem Dreischritt: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande, und endigt bei der Vernunft“ (B 355; S. 338). Die sinnliche Anschauung erfolgt in den vorgegebenen Formen von Raum und Zeit. Es handelt sich dabei aber nicht um leere Formen, in denen die Dinge sich finden und bewegen, sondern um „leben887

Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), S. 15.

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dige Formungen, die der Geist an den Sinnesempfindungen vornimmt, um aus ihnen eine Welt zu bilden . . . Raum und Zeit und alle anderen Formen, in denen unsere Erkenntniswelt lebt, schafft das Bewußtsein, indem es sein sinnliches Material nach ihnen, das heißt nach den ihm selbst innerlich eigenen Gesetzen ordnet. . . . Alles Anschauen ist ein Tun, alles Erkennen ist ein Handeln – das ist der tiefste Kern von Kants Lehre“.888 Die in den Anschauungsformen Raum und Zeit gewonnene sinnliche Erfahrung wird durch den Verstand, das Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen (der Regeln), mit Hilfe der Kategorien (Verstandesbegriffe oder -formen) synthetisiert und in eine gedankliche Ordnung gebracht, weil die Spontaneität unseres Denkens es erfordert, daß das Mannigfaltige a priori synthetisiert wird. Kant unterscheidet zwölf Kategorien (B 102 ff.; S. 115 ff.), die er in einer Kategorientafel zusammenfaßt (B 106; S. 118): 1. Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit), 2. Qualität (Realität, Negation, Limitation), 3. Relation (Inhärenz und Subsistenz, Kausalität und Dependenz, Gemeinschaft, d. h. Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden), 4. Modalität (Möglichkeit-Unmöglichkeit, Dasein-Nichtsein, Notwendigkeit-Zufälligkeit).889 „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, schreibt Kant. „Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“ (B 75; S. 95). Erkenntnis besteht somit in der begrifflichen Verarbeitung der Anschauungen. Dem Verstand fällt die Aufgabe zu, aus dem sinnlichen Material die Welt der Erfahrung aufzubauen. Er strukturiert die Wahrnehmungen mit Hilfe der ihm innewohnenden Kategorien. Er ist reine Aktivität und gleicht einer Maschine, die unermüdlich tätig ist.890 Den Grund der Verstandesbegriffe bildet die ursprüngliche Identität des Ich im Denken, die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption (B 132 ff.; S. 140 ff.) bzw. die transzendentale Einheit des 888 Simmel, Was ist uns Kant, S. 30. Zu Kants Erkenntnistheorie vgl. auch H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung; G. Deleuze, Kants kritische Philosophie; D. Löcherbach, Vorlesungszyklus. Bd. 2, S. 44 ff.; Bd. 4, S. 28 ff.; G. Prauss (Hg.), Kant. 889 Zur Kritik an der kantischen Kategorientafel vgl. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In: HW 2, 7–138; hier: S. 9 ff. Wie Hegel bemerkt, gibt die Modalität „keine wahrhaft objektive Bestimmung; es besteht in ihr wesentlich die Nichtidentität des Subjekts und Objekts“ (HW 2, S. 10). Im Übrigen bleibe „außer den objektiven Bestimmungen durch die Kategorien ein ungeheures empirisches Reich der Sinnlichkeit und Wahrnehmung, eine absolute Aposteriorität, für welche keine Apriorität als nur eine subjektive Maxime der reflektierenden Urteilskraft aufgezeigt ist, d. h. die Nichtidentität wird zum absoluten Grundsatz erhoben“ (ebd.). 890 Vgl. dazu M. Horkheimer, Kants Philosophie und die Aufklärung. In ders., Kritik der instrumentellen Vernunft, 203–215: „Der Kantische reine Verstand gleicht einer Maschinerie. Er enthält die Formen, die das Subjekt dem Material aufprägt, gleichsam die Kästen und Fangarme für das Rohmaterial . . . Als eine Art produktiver Apparatur ist die transzendentale Apperzeption, die reine ursprüngliche Vorstellung, unermüdlich tätig, die Wirklichkeit, die feste Welt der Erscheinungen herzustellen, in der die empirische Vorstellung schließlich sich orientieren kann. Das Subjekt, wie sehr Kant sich bemüht, es rein von allem Inhalt zu fassen, gleicht dem arbeitenden Menschen, dem Bürger, der sich der Apparatur, der Maschinerie bedient“ (S. 209).

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Selbstbewußtseins, das Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Die an sich seiende Realität hingegen, das Ding an sich ist dem Denken nicht zugänglich. Es tritt jedoch das Bedürfnis ein, den transzendenten Grund der Erscheinungen und das Ansichsein dennoch zu erkennen. Indem die Vernunft versucht, die „Dinge an sich“ und das „Unbedingte“ (Seele, Welt, Gott) zu erkennen und dafür nichts weiter zur Verfügung hat als die Kategorien, wird sie überfliegend oder transzendent. Sie verstrickt sich in Paralogismen und Antinomien, die zwar aufgedeckt, aber nicht beseitigt werden können. Ihre Aufdeckung, ist das Hauptgeschäft der Kritik, speziell der Dialektik, die Kant – im Unterschied zu Hegel – als Dialektik des Scheins, nicht der Wirklichkeit, begreift.891 Der zu kritisierende Schein ist kein gegenständlicher, sondern ein Schein, der aus dem Grenzübertritt und den durch ihn provozierten Fehlschlüssen der Vernunft resultiert. Aufgabe der kritischen Philosophie ist es folglich, die Grenzen der Vernunft zu bestimmen, um dadurch einen festen Grund für die Metaphysik zu gewinnen. Die Einzelheiten der Kategorienlehre können hier nicht erörtert werden. Die Darstellung muß sich auf ihre Grundzüge konzentrieren. Kant geht – vereinfacht gesagt – davon aus, daß die Wirklichkeit, wie sie uns in unserer sinnlichen Wahrnehmung begegnet, ein ungeordnetes und strukturloses Chaos an Erscheinungen ist, deren Wesen oder Ansichsein wir nicht durchdringen und erkennen können. Über das Ding an sich sind keine gesicherten bzw. gar keine Aussagen möglich. Den Allgemeinbegriffen kommt, wie schon Ockham gezeigt hatte, keine extramentale Existenz zu. Sie sind reine Verstandesformen, denen in der äußeren Realität nichts entspricht. Im Anschluß an Hume bestreitet Kant ferner die Existenz der Naturgesetze. Sie sind bloße Konstruktionen des denkenden Verstandes, der sich seine eigene Ordnung schafft, indem er die durch die Sinne (in den beiden Anschauungsformen Raum und Zeit) erfaßten Erscheinungen mit Hilfe von Begriffen, Kategorien, Urteilen und Schlüssen in eine gedankliche, d. h. bloß subjektive Ordnung bringt. Vom Verstand unterscheidet Kant die Vernunft. Ihre Aufgabe ist es, über Gegenstände a priori etwas auszumachen und die Ideen zu konstruieren bzw. – als praktische Vernunft – die Gegenstände des Wollens wirklich zu machen. Sie ist das Vermögen der Prinzipien, während der Verstand das Vermögen der Regeln ist (B 356; S. 339). Ihr Tun ist es, „den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen“ (B 355; S. 338). Sie bezieht sich nicht auf die Erfahrung oder auf Gegenstände, sondern auf den Verstand, „um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben“ (B 359; S. 341). Sie sucht durch kategorische, hypothetische und disjunktive Schlüsse „die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeine Bedingungen) zu bringen und da891

Vgl. H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik.

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durch die höchste Einheit derselben zu bewirken“ (B 361; S. 343). Dabei gerät sie jedoch in die besagten Paralogismen und Antinomien und verwickelt sich in eine heillose Dialektik, die durch Kritik des entstehenden Scheins aufzuklären, aber nicht aufzulösen ist. „Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft“ (B 354; S. 337). Kant fordert deshalb, daß sie sich der Versuchung nach Möglichkeit enthalte und sich beschränke auf solches Seiende, das durch Erfahrung fundiert ist. Da die Vernunftprinzipien dem Denken aber unentbehrlich sind, ist es Aufgabe der Kritik, den Überflug der spekulativen Vernunft zu zügeln, ihre notwendige Verstrickung in Ungereimtheiten aufzudekken, jedoch zugleich ihre berechtigten Ansprüche zu sichern und ihren legitimen Einsatz zu ermöglichen. Zu wissen, wie die Welt an sich beschaffen ist, sei Gott vorbehalten, meint Kant. Um eine Orientierung zu gewinnen, spinnt sich der menschliche Verstand ein begriffliches Netz, das es ihm ermöglicht, sich in der Welt zurechtzufinden. Naturgesetze sind demnach bloße Hypothesen, mit denen er sich die Realität erklärt, d. h. in einer Weise zurechtlegt, die seinen angeborenen oder durch Sozialisation erworbenen Anlagen und Fertigkeiten entspricht. Nicht die Natur schreibt dem Verstand ihre Gesetze vor, sondern dieser diktiert jener die von ihm aufgestellten Regeln. Ob seine Annahmen und Hypothesen mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht, kann er nicht wissen. Die „Dinge an sich“ sind ihm verstellt und unzugänglich. Möglich ist allenfalls die kritische Prüfung, ob die theoretischen Konstrukte stringent und widerspruchsfrei, d. h. logisch korrekt entwickelt sind. Allsätze lassen sich nicht verifizieren, sondern nur falsifizieren, d. h. mit widerstreitenden Sätzen, Aussagen und Behauptungen konfrontieren.892 Alles Weitere übersteigt die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Doch diese Grenzüberschreitung ist für Kant unumgänglich. Es liegt im Wesen des menschlichen Geistes, die Schranken des Erfahrungswissens zu transzendieren und über die Einzelheiten hinaus auf das zugrundeliegende Ganze, den Grund, d. h. auf Gott, Seele und Welt zu schließen. Während der „logische Schein“, der „Schein der Trugschlüsse“, aus einem Mangel an Achtsamkeit auf die logische Regel entspringt und durch ihre Schärfung zum Verschwinden gebracht werden kann, hört der „transzendentale Schein“ mit seiner Aufdeckung und Kritik nicht auf. „Die Ursache hiervon ist diese, daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zugunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist“ (B 353; S. 337). Es handelt sich hierbei um einen objektivistischen oder naturalistischen 892

Vgl. dazu K. R. Popper, Logik der Forschung; ders., Conjectures and Refutations.

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Fehlschluß, den die Kritik aufzudecken hat – und der Kant in der praktischen Philosophie selbst unterlief.893 Die kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie hatte natürlich Konsequenzen für die Anthropologie894 und für die praktische und politische Philosophie. Auch hier avancierte die Vernunft des Menschen zum Zentrum und Ausgangspunkt der Überlegungen. Kant wurde dadurch zum Kritiker des Absolutismus und zum Verfechter des Republikanismus (s. u., S. 733 f.). Die Mündigkeit und Autonomie des Individuums als Quelle und Ursprung des Sittengesetzes wurde zum Maßstab, an dem alle Erscheinungen des sozialen Lebens gemessen wurden, von dem aus eine vernünftige politische Ordnung begründet wurde.895 Recht und Moral, Gesellschaft und Staat erschienen als Kreationen der praktischen Vernunft und der menschlichen Freiheit. Auch hier hat Kant die Tradition zu Grabe getragen. Zurück blieb erneut das „reine Ich“, das frei von allen äußeren Einflüssen und inneren Trieben und Leidenschaften gedacht wurde, eine „Person“, die nur den Maximen ihrer eigenen Vernunft gehorcht. Die praktische Philosophie Kants war folglich keine Sozial-, sondern Individualphilosophie. Sie untersuchte die Voraussetzungen und Formen der Verwirklichung der individuellen Freiheit. Andere Menschen und soziale Bande erschienen nicht als Bedingungen der Möglichkeit der Autonomie, sondern als ihre äußerliche Schranke. Damit verblieb Kant zugleich im Rahmen der frühbürgerlichen politischen Philosophie, die – nach einem Wort von Marx – stets Robinsonaden konstruiert und deshalb die soziale Prägung des Menschen verfehlt oder ignoriert hatte. Kant hat im Zuge der „kopernikanischen Wende“ den neuzeitlichen Individualismus auf die Spitze getrieben. Von Kant ausgehend, entwickelten sich die aufeinander folgenden Systeme des Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling und Hegel).896 Im unmittelbaren Anschluß an ihn entwarf Fichte seine Wissenschaftslehre.897 Er ging aus von der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins oder dem Ich denke, das nach Kant alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Das Ich oder die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption, d. h. das menschliche Erkenntnisvermögen insgesamt, wurde als Grund allen Wissens betrachtet und zum System 893

Vgl. K.-H. Ilting, Der naturalistische Fehlschluß bei Kant. Siehe dazu bes. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/18002). In ders., Werke. Bd. XII, 395–690. 895 Vgl. bes. Kant, Metaphysik der Sitten (1797). Zu Kants praktischer Philosophie und zu seinen politischen Ideen vgl. A. Baruzzi, Kant (Literatur: S. 384 ff.); I. Fetscher, Immanuel Kant (Literatur: S. 247 f.); D. Henrich, Ethik der Autonomie. In ders., Selbstverhältnisse, 6–56; H. Saner, Widerstreit und Einheit; A. Schwan, Politische Theorien des Rationalismus, S. 242 ff.; E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 6. u. 7. Vorlesung: „Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (S. 98 ff.). 896 Vgl. R. Kroner, Von Kant bis Hegel; W. Röd, Dialektische Philosophie. 897 Vgl. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre; ders., Über den Begriff der Wissenschaftslehre. 894

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V. Der Drang zum Staat

entwickelt. Während Kant in negativem Räsonnement verharrte und die Grenzen unserer Erkenntnis bestimmte, versuchte Fichte, das Wissen von der Welt positiv zu entfalten, indem er alle Wissensbestimmungen als Produkte des transzendentalen Ichs begründete.898 Von ihm wurde alles Wissen abgeleitet. Es ist das mit sich identische Ich, das Ich=Ich, das in einem ursprünglichen Akt, einer allem zugrundeliegenden Tathandlung, sich das Nicht-Ich gegenüberstellt und dadurch zum Grund seiner selbst wie seines Gegensatzes wird.899 Der uranfängliche Akt, der nichts weiter voraussetzt, ist jener, in dem ich zu mir selbst „Ich“ sage, wobei ich nicht als empirische Person, sondern als das transzendentale Subjekt zu verstehen bin, als Repräsentant der menschlichen Vernunft, die sich, wie schon bei Kant, in die theoretische und praktische Vernunft spaltet. Indem das Ich sich selbst tätig erfaßt, setzt es sich alles andere entgegen, das nun per Negation schrittweise zu rekonstruieren ist.900 In diesem Kontext begann Fichte, den Transzendentalismus und Individualismus der Kantischen Philosophie zu überwinden. Er thematisierte in der Grundlage des Naturrechts von 1796 die Frage nach der Anerkennung und damit das Problem der Intersubjektivität. Daran konnte alsbald Hegel anknüpfen,901 der in seinen Jenaer Schriften den interaktionistischen Ansatz weiter differenzierte und den subjektiven in den „absoluten Idealismus“ transformierte. Im Gegensatz zum Dogmatismus und Objektivismus der alten Metaphysik haben Kant und Fichte einen Subjektivismus begründet. Hatte die frühere Philosophie noch unbefangen ihre Denkbestimmungen auf die Wirklichkeit projiziert, so hat sich die Philosophie nun gänzlich in die Sphäre des Denkens zurückgezogen, in der sie ihr Wissen über sich sowie über Gott und die Welt entfaltet. Sie ist zum Idealismus geworden, doch nicht zum objektiven, wie bei Platon, sondern zum subjektiven Idealismus. Während nach Platon die Ideen als Urbilder der existie898 Vgl. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems. In: HW 2, S. 52 ff.; ders., Glauben und Wissen. Ebd., 287–433, bes. S. 393 ff.; ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. HW 20, S. 387 ff. 899 Vgl. D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt/M 1967; ders., Fichtes Ich. In ders., Selbstverhältnisse, 57–82. 900 Vgl. auch R. Bubner, Fichte. In ders. (Hg.), Geschichte der Philosophie. Bd. 6: Deutscher Idealismus (1983), S. 113 ff.: „Das Ich gibt es gar nicht, bevor es sich selber tätig erfaßt, und indem es sich zu einem Ich macht, bezieht es sich auf nichts anderes als auf die eigene Identität“ (S. 114). „Nun setzt das Ich sich nicht bloß selber, es setzt, indem es zu sich Ich sagt, alles andere sich entgegen. Die Setzung des Ich ist also zugleich die Entgegensetzung des Nicht-Ich. Damit kommt in ein und demselben Akt zur Identität die Negation hinzu, die auf dem Wege schrittweiser Entwicklung alle Wirklichkeit jenseits des absoluten Uraktes in bezug auf eben den Akt bestimmen läßt. Eine ganze Welt entsteht gleichsam durch immer weitere Einschränkung der Ureinheit. Jedenfalls müssen wir unser Weltbewußtsein auf diese Weise transzendental rekonstruieren“ (S. 115). 901 Vgl. dazu J. Habermas, Arbeit und Interaktion; A. Honneth, Kampf um Anerkennung; K. Roth, Freiheit und Institutionen; L. Siep, Anerkennung als Prinzip; A. Wildt, Autonomie und Anerkennung.

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renden Dinge tatsächlich existieren, sind sie nach Kant und Fichte Erzeugnisse des menschlichen Denkens, Produkte des transzendentalen Ich. Dagegen erneuerte Hegel im Anschluß an Spinoza und Schelling den objektiven Idealismus und leitete Denken und Sein aus einer einheitlichen und identischen Struktur ab, die er das Absolute nannte. Ihm zufolge ist es die Vernunft des Absoluten, die sich in das Ich und in die objektive Realität besondert, um sich im menschlichen Denken in sich zu reflektieren und bei sich selbst zu sein.902 Damit restituierte Hegel den antiken Substantialismus, den er mit dem modernen Subjektivismus synthetisierte. Zugleich rehabilitierte er den Universalienrealismus, indem er die Reflexionsbestimmungen des menschlichen Verstandes als an sich seiende Strukturen und Verhältnisse der Wirklichkeit begriff. Er kritisierte die Metaphysik und erneuerte sie zugleich.903 An seine Konzeption konnte der Marxsche Historische Materialismus anknüpfen, der die Hegelsche Dialektik „umzustülpen“ und die Erkenntnisse und Ideen des Geistes auf materielle Grundlagen zurückzuführen beabsichtigte.904 Damit sind die Grundpositionen benannt, die im Gefolge der von Kant vollzogenen „kopernikanischen Wende“ entwickelt wurden und die bis heute ihre Anhänger und Verfechter finden. Noch immer streiten sich die Gelehrten, welche der genannten Lösungen die überzeugendere ist. „Kant oder Hegel?“ lautete die Frage, die schon der Neukantianismus Ende des 19. Jahrhunderts provozierte. Sie wurde erneut akut im Gefolge der Hegel-Renaissance der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Kontroverse „Hegel oder Marx?“ ausgereizt war.905 Hinzu kam der von Nietzsche begründete Perspektivismus und der von ihm angeregte Konstruktivismus sowie die vitalistische, existentialistische und psychoanalytische Erklärung des Seienden. Diese Debatten und Entwicklungen interessieren hier nicht. Hier ist festzuhalten, daß Kant sein Hauptziel nicht erreicht hat. Anstatt den theoretischen Streit zu schlichten und den philosophischen Kampf aller gegen alle zu überwinden, wurde er selbst zum Ausgangspunkt und Anlaß neuer metaphysischer und metatheoretischer Rivalitäten. Der Tranzendentalismus und 902 Siehe oben, S. 652, Anm. 858 u. S. 659, Anm. 878. Dazu auch Löcherbach, Vorlesungszyklus. Bd. 2, S. 137 ff.; Bd. 3, S. 1 ff.; R.-P. Horstmann (Hg.), Dialektik in der Philosophie Hegels. Frankfurt/M 1978; Roth, Freiheit und Institutionen, S. 36 ff. 903 Vgl. dazu M. Theunissen, Sein und Schein (Frankfurt/M 1978) und die Kontroverse zwischen H. F. Fulda/R.-P. Horstmann/M. Theunissen, Kritische Darstellung der Metaphysik (Frankfurt/M 1980). 904 Zum Verhältnis von Materialismus und Idealismus vgl. G. Göhler/K. Roth, Art. Materialismus. In: D. Nohlen (Hg.), Lexikon der Politik. Bd. 1. München 1995, 331– 333; K. Roth, Art. Historischer Materialismus. In: D. Nohlen (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd. 1. München, Zürich 1985, 338–340. Zu den Problemen der marxistischen Erkenntnistheorie vgl. A. Schmidt (Hg.), Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt/M 1969. Zum Verfall der Erkenntnistheorie im Marxismus-Leninismus vgl. D. Löcherbach, Erkenntnisgeschichtliche Kritik an Lenins Abbildtheorie; ders., Vorlesungszyklus. Bd. 4, S. 162 ff. 905 Vgl. D. Henrich (Hg.), Kant oder Hegel? Stuttgart 1983.

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V. Der Drang zum Staat

Individualismus seiner Lehre verlor schon bald seine Überzeugungskraft und motivierte die Nachfolger zu Neuansätzen auf der Basis der kritischen Philosophie. Allerdings war das Denken auf eine neue Stufe gehoben. Die Naivität der theologischen und metaphysischen Tradition war überwunden, „das unbefangene Verfahren, welches, noch ohne das Bewußtsein des Gegensatzes des Denkens in und gegen sich, den Glauben enthält, daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewußtsein gebracht werde“.906 Diese Unbekümmertheit und Selbstgewißheit war mit der Entwicklung von Empirismus, Rationalismus und kritischer Philosophie verflogen. Künftig nagte der methodische Zweifel an allen für gesichert erachteten Wissensbeständen. *** Infolge der genannten religös-politischen und philosophischen Kontroversen hat sich das neuzeitliche Weltbild entscheidend verändert. Die Intellektuellen machten sich allmählich frei von Orthodoxie und Dogmatismus. Sie vertrauten künftig nur noch auf die Kraft des eigenen Verstandes, dessen Leistungen und Grenzen Kant analysierte. Der alte Glaube, der die christliche Reichsidee hervorgebracht und getragen hatte, verlor zusehends seine bindende Wirkung. Dadurch wurden die Voraussetzungen für die Verankerung des Staates im denkenden Subjekt geschaffen. Fassen wir die wichtigsten Stationen dieses Prozesses noch einmal zusammen. Der Protestantismus hatte die eigenständige Bibelexegese legitimiert und damit die Befreiung des Glaubens und Denkens auch der einfachen Menschen aus klerikaler Bevormundung initiiert. Durch den Humanismus wurde der Mensch zum „Maß aller Dinge“ (Protagoras) erklärt, der sich in der Folge mit Hilfe von Wissenschaft und Technik zum Herrscher über die Natur aufschwang. Mit der durch Kopernikus eingeleiteten Dezentrierung des Weltbildes rückte die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums. Die dadurch bewirkte „kosmologische Kränkung“ (Freud) wurde kompensiert, indem sich das Denken selbst zum neuen Gravitationszentrum von Theorie und Praxis und zum Herrn der Welt erklärte. Im Empirismus wurde – wie im Deismus – Gott zu einer entbehrlichen Prämisse, die der Erfahrung unzugänglich und für die Welterklärung überflüssig ist. Dadurch wurde dem künftigen Atheismus Vorschub geleistet.907 Zwar erfuhr Gott im Rationalismus eine Resurrektion, doch erschien er nun nicht länger als der gütige Weltenlenker, sondern als „Alleinheit“ von Geist und Materie (Spinoza), als „re906

Hegel, Enzyklopädie, § 26. Es verwundert deshalb nicht, daß in dieser Zeit der erste bekennende Atheist, Matthias Knutzen (* 1646), auftrat, der die inneren Widersprüche der Bibel aufdeckte und sie deshalb als Grundlage des richtigen Lebens und Verhaltens verwarf. Vgl. H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 101 ff. 907

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gulative Idee“ (Kant), d. h. als notwendiges, aber unbeweisbares Postulat der theoretischen und praktischen Vernunft, oder aber als „absoluter Geist“ (Hegel), als Identität von Denken und Sein, res cogitans und res extensa. Das autonome Ich wurde zum Fundament des gesicherten Wissens und des selbstbestimmten Lebens. Dieses neue Selbstverständnis war durch die anthropologischen Überlegungen der frühneuzeitlichen Staatstheorie grundgelegt worden. Es trug bei zur Verinnerlichung des Staates, der im Selbstgefühl der Individuen seine Wirklichkeit und seine Stütze fand. Der Staat übernahm in der Folgezeit die Rolle des Beschützers und Wohltäters. Er hatte die Geborgenheit zu gewähren, die Gott und seine irdischen Stellvertreter nicht länger spenden konnten. Er wurde zum Schutzschirm seiner Untertanen und Bürger anstelle des verlorenen Himmels. (3) Neue Anthropologie und Methodologie Die Staatstheoretiker der Frühen Neuzeit konnten noch nicht auf die Einsichten rekurrieren, die Kant im Zuge der transzendentalen Wende in der Erkenntnistheorie gewonnen hat. Ihre Methodologie war noch schlicht, ihre Haltung noch lange Zeit objektivistisch, ihre Terminologie traditionalistisch oder aber vorsichtig experimentierend und nach Neuem tastend. Dennoch durchbrachen sie den Rahmen der Scholastik und forcierten das säkulare Politikdenken, das schon im späten Mittelalter eingesetzt hatte,908 indem sie die alten theologischen Vorstellungen der weltlichen Politik adaptierten909 oder aber mit Hilfe antiker Konzeptionen und/oder naturwissenschaftlicher Methoden einen neuen Anfang machten.910 Sie gewannen eine neue Sicht des Menschen und eine neue Methodologie, indem sie die Erkenntnisse der Geschichtsschreibung und die Verfahrensweisen der Naturwissenschaft für die Anthropologie und Psychologie fruchtbar machten 908 Daß schon das Spätmittelalter im Signum der Säkularisierung stand, die schließlich auch im Alltagsleben Platz griff, gilt unter den Ideenhistorikern und Mediävisten als abgemacht. Vgl. etwa E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates; D. Mertens, Geschichte der politischen Ideen, S. 237 f.; J. Miethke, Politische Theorien, S. 152. Siehe auch H. Lübbe, Säkularisierung; H. H. Schrey (Hg.), Säkularisierung. 909 Vgl. dazu C. Schmitt, Politische Theologie, S. 49: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach . . ., sondern auch in ihrer systematischen Struktur“. 910 Den Neubeginn der frühneuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft betont H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Blumenberg hat die verschiedenen Bedeutungsschichten des Begriffs Säkularisierung untersucht und ist zum Ergebnis gekommen, daß dieser ungeeignet ist, die Entstehung des neuzeitlichen Weltbildes zu erklären. Für ihn steht die Neuzeit auf eigenen Beinen. Das neue Prinzip, das an die Stelle der Heilserwartung getreten ist, sei die Selbstbehauptung. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß die Staatstheorie von den Vorgaben der Theologie profitierte und versuchte, die Einsichten und Erfahrungen, die sich in den theologischen Begriffen verdichtet hatten, hinüberzuretten ins säkulare Weltbild. Dies gilt besonders für alle protestantischen Politiktheoretiker von Hobbes über Locke und Rousseau bis hin zu Kant und Hegel. Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt, Eric Voegelin und Hans Blumenberg siehe auch oben den Beginn des Kapitels III. 1 (S. 163 ff.).

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und auf die Gesellschaft bzw. den Staat übertrugen. Sie spekulierten nicht länger über die Gestalt einer gottgemäßen „guten“ Ordnung, sondern begründeten die Notwendigkeit einer irdischen Herrschaft, die den Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, ihrer Vernunft und ihren Trieben und Leidenschaften entsprach. Sie nahmen ihre Mitmenschen so, wie sie in ihren Augen waren, nicht wie sie nach Maßgabe der Vernunft sein sollten. Ausgehend von der Subjektivität und Individualität und der als konstant erachteten menschlichen Natur erörterten sie die Bedingungen und Formen, Regeln und Normen, die für die Selbsterhaltung erforderlich sind.911 Ziel war nicht mehr das ewige Heil oder die Glückseligkeit, sondern die Sicherung der staatlichen Macht und des Friedens angesichts der permanenten Bedrohung und der allgemeinen Wirren. Es ging nicht länger um das „gute Leben“, sondern um das nackte Überleben. Den Auftakt schlug Machiavelli (1469–1527), der im Principe (1513), in den Discorsi (1513–22) sowie in seiner Geschichte der Stadt Florenz (1520–25) eine schonungslose Analyse der geschichtlichen Lage versuchte. Durch ihn wurde die Selbstbehauptung anstelle der Selbststeigerung zum Ausgangspunkt und zum Grundprinzip der Politischen Theorie. Mit ihm begann zugleich die empirischanalytische, nicht- oder anti-normativistische Politikbetrachtung, wie sie noch heute die Politikwissenschaft dominiert. An die Stelle der Teleologie trat ein Denken in Regel- oder Gesetzmäßigkeiten. Einziger verbleibender Zweck des Politischen sollte die Sicherung des Friedens, die Freiheit Italiens und seine staatliche Einheit sein. Alle Mittel waren recht, die diesem obersten Ziel dienen konnten. Zwar war Machiavelli ein Anhänger der Republik. Er hatte als junger Mann jedoch den Versuch Savonarolas miterlebt, eine direktdemokratische Ordnung in Florenz zu etablieren (1494–1498), der jämmerlich scheiterte und mit der Hinrichtung Savonarolas auf dem Scheiterhaufen endete. Daraus zog Machiavelli den Schluß, daß unter den gegebenen Bedingungen eine kräftige Monarchie vorzuziehen ist. Um den Frieden herzustellen und den allgemeinen Sittenverfall aufzuhalten, war er deshalb bereit, dem Fürsten die nötigen Zugeständnisse zu machen, ihn aus der Bindung an Recht und Gesetz zu entlassen und allein auf seine virtù und ragione zu vertrauen, durch die er die ehernen Geschichtsmächte necessità und fortuna bezwingt.912 Er begründete damit jene Politiktradition, die unter dem pejorativen Titel Machiavellismus zusammengefaßt und als skrupellose Machtpolitik oder als Dämonie perhorresziert wird.913 Machiavelli selbst war allerdings kein Machiavellist. Er, der sich in der Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen Italien und seiner Befreiung von franzö911

Vgl. dazu auch H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Vgl. dazu K. Kluxen, Politik und menschliche Existenz bei Machiavelli. Zu Machiavelli siehe auch oben (S. 614 ff.) und die dort (Anm. 738 ff.) genannte Literatur. 913 Vgl. etwa D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik. III. Teil: „Machiavelli oder die Dämonologik“, S. 159 ff. 912

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sischer, deutscher und päpstlicher Fremdherrschaft verzehrte, wurde durch seine bahnbrechenden theoretischen Leistungen zum Klassiker des politischen Denkens und zum Ausgangspunkt zweier gegensätzlicher politischer Strömungen. Seine theoretische Neuerung liegt in der Emanzipation des Politikdenkens aus den überkommenen religiösen und moralisch-sittlichen Klammern. Er hat eine neue Begrifflichkeit geschaffen, mit der politische Interessen (wieder) autonom definiert und wahrgenommenen und demzufolge auch verfolgt werden konnten. Diese Einsicht verpflichtete ihn keineswegs auf die Tradition des Etatismus (Staatsraison), die er im Principe begründete. Vielmehr konnte die aus den religiösen Fesseln emanzipierte Politik auch republikanisch werden, wie die Discorsi zeigen, mit denen Machiavelli den Florentiner Bürgerhumanismus beerbte und jene anti-etatistische Bewegung begründete, die den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit in der Amerikanischen und Französischen Revolution erreichte und heute wiederbelebt werden soll.914 Indem er die christliche Ethik verwarf, gewann er einen Standpunkt, von dem aus die politischen Zusammenhänge nicht mehr heilsgeschichtlich verklärt, sondern als Selbstzweck begriffen werden konnten. Der Grund für diese abrupte Wendung lag in der inneren und äußeren Bedrohung der italienischen Städte, die permanente Kriege gegeneinander führten und sich gegen die Übergriffe der Hegemonialmächte zu wehren hatten. Eberhard Schmitt beschreibt die damalige Lage wie folgt:915 „Italien als Ganzes steht in dieser Zeit unter dem Trauma der französischen, schweizerischen, spanischen und deutschen Invasionen. Seit 1494, seit dem Einmarsch des französischen Königs Charles VIII, ist das relative Gleichgewicht der bisherigen fünf Hauptmächte Venedig, Mailand, Florenz, des Kirchenstaats und des Königreichs Neapel gebrochen. Hinzu kommt von 1498 bis 1503 das brutale und skrupellose Bemühen des Papstsprößlings Cesare Borgia (Sohn Alexanders VI.), sich eine eigene Herrschaft in Mittelitalien zu erkämpfen, sowie ab 1503 die gewaltige Anstrengung des neuen Papstes Julius II., den Kirchenstaat zur präponderierenden italienischen Territorialmacht zu erweitern. Daraus erwächst von selbst für Florenz die alles überschattende Aufgabe, durch geschicktes Lavieren seine bloße Existenz zu sichern“.

Dieses Ziel – Krisenbewältigung und Existenzsicherung – war natürlich nicht mit Sinnsprüchen und Hoffnungen, mit moralischen Appellen und normativen Setzungen zu erreichen, sondern nur durch eine rücksichtslose Aufdeckung und Bekämpfung der Krisenursachen. Dies war die erklärte Absicht Machiavellis, der eine ungeschönte empirische Politikanalyse unternahm und die erforderlichen Instrumente zur Selbstverteidigung und inneren Konsolidierung thematisierte. Darin liegt seine Bedeutung und seine entscheidende Neuerung. Zwar hatte der gelernte Jurist nur geringe philosophische Kenntnisse, doch verschaffte ihm gerade dies die erforderliche Distanz, die einen radikalen Bruch mit der Tradition 914 Vgl. dazu die oben (S. 561) genannten Untersuchungen von Baron, Pocock, Skinner, Münkler u. a. 915 E. Schmitt, Machiavelli, S. 201.

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und einen Neuanfang ermöglichte. Aus den Nöten der Zeit, aus der Zerrissenheit und Unfreiheit Italiens, aus der Krise der Republik Florenz wurde das neuzeitliche Politikdenken geboren.916 Angesichts der chaotischen Verhältnisse in Italien rief Machiavelli nach einem tatkräftigen und mächtigen Fürsten (Lorenzo de’ Medici), der sich an Cesare Borgia und den großen Gestalten der Antike orientieren und dem Land Frieden, Freiheit und Eintracht bescheren sollte – um so die künftige Rückkehr zur Republik zu ermöglichen. Einheit und Sicherheit avancierten zu den obersten Maximen der Politik, die der menschlichen Selbsterhaltung dienen sollte. Dafür waren alle Mittel erlaubt. Der Fürst oder der Regent der Republik sollte sogar das Gesetz übertreten und das geltende Recht außer Kraft setzen dürfen, wenn es dem Wohl des Staates dient. Der Staat rückte in die Stelle, die durch den Rückzug Gottes freigeworden war. Es sollte für die Sicherheit und Geborgenheit und für das Wohlergehen seiner Bürger und Untertanen sorgen. Seine Herstellung und Erhaltung wurde zum höchsten Gut und zum Ziel der Politik erklärt. Machiavelli verfügte noch nicht über eine elaborierte Staatstheorie. Diese wurde erst durch Jean Bodin und Thomas Hobbes entwickelt.917 Dennoch hat er wichtige Vorarbeit geleistet, indem er die Vorgaben der christlichen Tradition beiseite räumte und einen ungetrübten Blick auf die politischen Verhältnisse richtete. Nicht das Ingenium des Florentiners war verantwortlich für den Durchbruch des neuen Denkens, sondern die Not der Zeit provozierte den Ruf nach einem mächtigen Fürsten, der in der Lage ist, alle anderen Machthaber zu unterwerfen. Wegen der ungeordneten Verhältnisse in Italien drängte sich der Staatsbegriff geradezu auf. Durch sie wurden Machiavelli und seine Zeitgenossen auf die Suche nach geeigneten Institutionen und nach der erforderlichen Tugend (virtù) des Regenten getrieben. Sie fanden die nötigen Anhaltspunkte in der römischen Antike, die ihnen zum Vorbild und zum Paradigma für die Zukunft wurde. Machiavelli trug alle ihm verfügbaren geschichtlichen Quellen zusammen, die sein Anliegen befördern konnten. Seine noch unsichere und ungelenke Suchbewegung zeigt sich auch in seinem Stil. „Machiavellis Schriften“, so beschreibt Herfried Münkler die neuen Elemente seines Denkens, „markieren den Übergang von der für die Fürstenspiegel des Mittelalters charakteristischen deduktiven Abhandlung . . . zur aphoristischen Betrachtung politischer Situationen, zur Aneinanderreihung kurzer, häufig antithetisch aufgebauter Sentenzen“. Seine aphoristisch-antithetische Argumentation „ist eine Provokation des vermittelnden, eklektizistischen ,sowohl als auch‘ der humanistischen Traktate, dem er ein schroffes ,entweder-oder‘ ge916 Vgl. Münkler, Machiavelli, S. 129 ff.; R. König, Niccolo Machiavelli, S. 66 ff. sowie die oben (S. 614 ff., Anm. 738 ff.) genannte Literatur. 917 Vgl. Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 164 ff.: „Nicht Machiavelli, sondern Bodin und Hobbes sind die Begründer der modernen Staatslehren“ (S. 171). „Der moderne Staat ist nicht aus den Verhältnissen des italienischen Stadtstaates zu verstehen“ (S. 165; cf. S. 181).

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genüberstellt. Eine Entscheidung, so sein durchgängiger Tenor, muß getroffen werden, und der Versuch, den Extremen durch das Beschreiten des Mittelweges zu entgehen, ist nur ein Aufschieben der erforderlichen Entscheidung, der auf die Dauer niemand zu entgehen vermag“. „Indem Machiavelli das faktische gegen das gesollte Verhalten der Menschen stellt und die Orientierung am tatsächlichen Handeln zur Norm der Politik macht, emanzipiert er die politische Theorie von Theologie und Ethik“.918 Die Bedingungen und Formen des Machterwerbs, des Machteinsatzes und des Machterhalts rückten so ins Zentrum der Politischen Theorie. Die Grundlage und den Ausgangspunkt der Suchbewegung des Florentiners bildeten die Anthropologie und Psychologie. Wie alle künftigen Rechts- und Staatsdenker der Frühen Neuzeit ging auch Machiavelli aus von der menschlichen Natur, die er als konstant betrachtete. Die Annahme einer geschichtsunabhängigen Natur des Menschen gehört zu den entscheidenden Prämissen der frühneuzeitlichen Staatstheorie generell.919 Sie wurde erst in der Moderne von Montesquieu und Rousseau und insbesondere von Hegel und Marx und von der entstehenden Soziologie problematisiert, die auf die prägende Kraft von Gesellschaft und Geschichte, Religion und Politik, Wirtschaft und Sozialstruktur, Recht und Gesetz und selbst der klimatischen Verhältnisse verwiesen. Davor diente die Abstraktion der menschlichen Natur sowohl der Begründung eines starken Staates als auch – vor allem in der nach-hobbesschen Diskussion – der Einforderung von individuellen Schutz- und Freiheitsrechten gegen ihn. Diese Natur ließ sich nun aber auf zwei Wegen erforschen: entweder empirisch, d. h. durch historische Forschung, oder aber rational, d. h. durch strenge wissenschaftliche Analyse und Synthese. Den ersten Weg ging Machiavelli, der die Römische Geschichte des Livius zum Leitfaden der Ermittlung der unveränderlichen Menschennatur machte. Den zweiten beschritt Hobbes, der die menschliche Natur mit Hilfe der geometrischen Methode Euklids bzw. der resolutiv-kompositiven Methode Galileis erforschte. Beide kamen dabei zu der Auffassung, daß der Mensch von Natur aus schlecht, „undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig“920 bzw. von Konkurrenz, Mißtrauen, Eitelkeit und Ruhmsucht getrieben921 ist und deshalb gewaltsam auf den rechten Weg der Tugend geführt werden muß. Carl Schmitt hat darauf hingewiesen, daß sich alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen lassen, „ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ,von Natur bösen‘ oder einen ,von Natur guten‘ 918 Münkler, Staatsraison und politische Klugheitslehre, S. 35. Daß Machiavelli aber nicht jegliche, sondern nur die christliche Ethik verwarf, die er mit der vorchristlichen der alten Römer konfrontierte, hat I. Berlin zu Recht betont (s. o., Anm. 738). 919 Ihre Gegner, wie Thomas Morus (Utopia, 1516), betonten hingegen die sozialinstitutionelle Prägung des Menschen. Vgl. T. Nipperdey, Thomas Morus, S. 226 ff. 920 N. Machiavelli, Der Fürst (Il Principe). 17. Kap., S. 68 f. 921 T. Hobbes, Leviathan, Kap. 13, S. 95 f. (künftig im Text zitiert als Lev.).

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Menschen voraussetzen“.922 Diese Prämisse bedingt ihre Einstellung zum Staat. Für Machiavelli war klar: „Alle, die über Politik schrieben, beweisen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben“.923 Er selbst war überzeugt davon, „daß die Menschen nur von der Not gezwungen etwas Gutes tun“ (S. 18). Damit erneuerte er auf säkularer Basis die alte christliche Lehre von der angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen. Aufgabe und Ziel der Politik sollte aber nicht mehr die Erziehung der Menschen zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit sein, sondern die Schaffung der institutionellen Formen, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Als adäquater Rahmen dafür erschien der vom Fürsten verkörperte Staat, der die Gewalt monopolisiert und zentralisiert, sich über die gesellschaftlichen Kräfte erhebt und so die Integration der Individuen und Familien bewirkt. Die Tatsache, daß sich in der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts die gleichen menschlichen Charaktereigenschaften und Haltungen beobachten ließen, wie im alten Rom, daß also bestimmte Handlungen, Triebe und Leidenschaften über viele Jahrhunderte hinweg konstant geblieben sind, diente Machiavelli dazu, sie als geschichtsunabhängig und zur menschlichen „Natur“ gehörig zu betrachten. Es ging dabei vor allem um solche Eigenschaften, die in der Politik wirksam wurden. Ins Zentrum rückten Fragen der Macht und Herrschaft, der Sittlichkeit und Gewalt, der Eitelkeit und Überheblichkeit usw., d. h. jene Eigenschaften der Menschen, die sie streitsüchtig oder aber gefügig machen und ein friedliches Zusammenleben ermöglichen oder stören. Machiavelli wurde mit seinen Forschungen, wie Max Horkheimer bemerkt,924 zum Begründer der psychologischen Geschichtsauffassung: „Es ist die Größe Machiavellis, an der Schwelle der neuen Gesellschaft die Möglichkeit einer der neuzeitlichen Physik und Psychologie in ihren Prinzipien entsprechenden Wissenschaft von der Politik erkannt und ihre Grundzüge einfach und bestimmt ausgesprochen zu haben“ (S. 183). Wie die Naturwissenschaft, so basiert auch die neue Politikwissenschaft auf der Voraussetzung regelmäßigen Geschehens. „Wenn Machiavelli die römische Geschichte an Hand des Livius durchforscht, so sucht er in ihr die ewigen Regeln, nach denen sich die Menschen beherrschen lassen“ (S. 184). Die Behauptung der Wesensgleichheit der Menschen in Geschichte und Gegenwart, d. h. die These einer konstanten Menschennatur, ist von der Absicht Machiavellis nicht zu trennen und bestimmt überall sein Werk (S. 185). Ausgehend davon begründete er die Institutionen eines stabilen Gemeinwesens und die erforderlichen Charaktereigenschaften und Aktivitäten des Regenten. 922

C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 59. N. Machiavelli, Discorsi. I. Buch, 3. Kapitel, S. 17. 924 Vgl. zum folgenden M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz beziehen sich auf diesen Text. 923

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Machiavelli kann somit als Begründer der psychologischen Geschichtsauffassung und des empirisch-analytischen Politikbegriffs gelten. Gänzlich neu in der Geschichte des Politikdenkens waren beide aber nicht. Bereits Thukydides (ca. 460 bis kurz nach 400 v. Chr.) hatte sie in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges grundgelegt. Mit ihm hat sich vor allem Hobbes (1588–1679) beschäftigt, dessen erste wissenschaftliche Arbeit die Übersetzung des Peloponnesischen Krieges (1629) war. Thukydides hatte in seinem monumentalen Werk die Ursachen und Wirkungen, die einzelnen Phasen und den Verlauf des großen Krieges untersucht, der schließlich den Niedergang der Polis einleitete. Er begriff die Politik als Machtkampf, den er aus der konstanten menschlichen Natur ableitete, aus dem angeborenen Streben nach Freiheit einerseits, nach Macht und Herrschaft andererseits. Er wurde dadurch zum Begründer des Dezisionismus, der das Recht zurückführt auf Machtkämpfe und auf grundlose Entscheidungen. Rechte und Gesetze gelten demzufolge als creatio ex nihilo, als normativ haltlose Produkte der politischen Auseinandersetzung, als Festlegungen, die von den Mächtigen nach Belieben getroffen werden und „normativ aus dem Nichts geboren“ sind (Carl Schmitt). Wie Livius für Machiavelli, so wurde Thukydides für Hobbes zu einer wichtigen Quelle der Inspiration und der Materialbeschaffung. Hinzu kam das Alte Testament, das äußerst bilderreich die ganze Fülle der Anlagen und der verderblichen wie rühmlichen Charaktereigenschaften der Menschen aufgezeichnet hatte. Durch den Rückgang auf Thukydides und die jüdische Bibel konnte Hobbes, der gleichwohl ein christlicher Denker war und blieb,925 den aufgetürmten theologischen Ballast der Scholastik und des Schul-Aristotelismus abwerfen und einen neuen Anfang in der Politischen Philosophie wagen.926 Während Machiavelli die menschliche Natur durch historische Forschung zu erfassen versuchte, konstruierte sie Hobbes mit Hilfe der geometrischen Methode Euklids und Galileis. Wie er in De Corpore bemerkt, haben ihm bei allen seinen Untersuchungen die Forschungen des Mediziners Harvey und die geometrische Methode Galileis als Vorbild gedient. William Harvey (1578–1657) hatte die menschliche Blutzirkulation erforscht und dabei den doppelten Kreislauf entdeckt. Galilei hatte alles Geschehen auf mechanische Bewegungen kleinster Stoffteilchen zurückgeführt und die resolutiv-kompositive Methode entwickelt, 925 Dies bemerkt zu Recht J.-J. Rousseau, Contrat social (1762), 4. Buch, 8. Kapitel [Der Gesellschaftsvertrag, S. 149]. Vgl. auch F. C. Hood, The Divine Politics of Thomas Hobbes. Zur Religiosität und zur Stellung Hobbes’ in den konfessionellen Auseinandersetzungen siehe auch W. Förster, Thomas Hobbes und der Puritanismus; J. Lips, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution. 926 Zur Einführung in sein Werk vgl. W. Euchner, Thomas Hobbes; I. Fetscher, Einleitung; K.-H. Ilting, Hobbes; W. Kersting, Thomas Hobbes; C. B. Macpherson, Introduction; H. Maier, Hobbes; H. Münkler, Thomas Hobbes; M. Oakeshott, Introduction; P. J. Opitz, Thomas Hobbes; Q. Skinner, Hobbes’ Leviathan; B. Willms, Thomas Hobbes (mit umfassender Bibliographie: S. 271 ff.).

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die Hobbes in der Anthropologie und Psychologie sowie in der Politischen Philosophie in Anschlag brachte.927 Entscheidend dabei war der axiomatisch-deduktive Aufbau und das Prinzip der generatio, d. h. „das Prinzip eines durch das Subjekt selbst methodisch produzierten Wissens, in welchem die Produktionsregeln, nach denen verfahren wird, die Sicherheit dieses Wissens garantieren sollen“.928 Ziel der resolutiv-kompositiven Methode war die Kombination zweier gegenläufiger Denkbewegungen: der analytischen Zerlegung eines Ganzen in seine Elemente einerseits, der Synthese oder Zusammensetzung des Ganzen aus diesen Teilen andererseits.929 Hobbes konzipierte mit Hilfe dieser Methode den Staat als machina machinorum, als große Maschine. Der Leviathan erschien ihm als „ein künstlicher Mensch“, als „Automat“ oder als eine „Maschine“, die sich selbst bewegt.930 Er ließ sich dann aber mit demselben Instrumentarium untersuchen, mit dem die Physiker und Astrologen die physische Natur, die Erdoberfläche und die Bewegung der Himmelskörper analysierten. Die Maschinenmetaphorik ist in der Einleitung des Leviathan (1651) eingeführt, worin Hobbes die Organe und Glieder des Staates mit denen des menschlichen Organismus und mit den Einzelteilen von Maschinen vergleicht. Die Differenz zwischen organischer und anorganischer Materie wird dadurch bedeutungslos. Allerdings ist die anthropologische Grundlegung more geometrico nur der erste Schritt in der Konstruktion des Staates. Dieser soll nicht nur ein künstlicher Mensch sein, sondern zugleich der sterbliche Gott, „dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken“ (Lev., 17. Kap., S. 134). Da Hobbes nicht nur den Staat an sich, sondern darüber hinaus den christlichen Staat begründen wollte, sah er sich zum Rückgriff auf das Neue Testament und zur Erneuerung der Politischen Theologie genötigt.931 Der Begründung dieses Christian Common-wealth ist das dritte Buch gewidmet, der Abwehr des päpstlichen Suprematieanspruchs das vierte. Im ersten 927 Zu Hobbes’ Erkenntnistheorie und Methode siehe auch G. Gawlick (Hg.), Empirismus, S. 49 ff.; H. Maier, Hobbes, S. 358 ff.; W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 1, S. 153 ff.; Q. Skinner, Reason and Rhetoric; J. Weinberger, Hobbes’ Doctrine of Method; U. Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, S. 33 ff.; Willms, Thomas Hobbes, S. 61 ff.; F. O. Wolf, Die neue Wissenschaft des Thomas Hobbes, S. 19 ff. 928 G. Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, S. 18. 929 Zum Aufbau und zur Logik des Leviathan vgl. auch D. P. Gauthier, The Logic of Leviathan; F. S. McNeilly, The Anatomy of Leviathan; R. Polin, Politique et philosophie chez Thomas Hobbes; Willms, Die Antwort des Leviathan. 930 Vgl. dazu C. Schmitt, Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes; ders., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 47 ff. 931 Zu Hobbes’ politischer Theologie vgl. D. Braun, Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth; M. Großheim, Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan. In: Kersting (Hg.), Thomas Hobbes, 283–316; F. C. Hood, The Divine Politics of Thomas Hobbes; K.-M. Kodalle, Thomas Hobbes; C. Schmitt, Der Leviathan; ders., Die vollendete Reformation; J. Taubes, Leviathan als sterblicher Gott; Willms, Die Antwort des Leviathan, S. 176 ff.

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und zweiten bildet jedoch die geometrische Methode den Leitfaden für die anthropologische und psychologische Fundierung des Staates. Seiner Methode hatte sich Hobbes schon früher versichert. Er hatte sie bereits in seinen ersten großen Werken angewandt, als er die Elements of Law, Natural and Politic (1640) untersuchte und De Cive, or The Citizen (1642) verfaßte.932 Die Summe seiner anthropologischen und psychologischen Erkenntnisse liegt jedoch im ersten Buch des Leviathan vor. Mit Hilfe der geometrischen Methode werden darin die Empfindungen, die Einbildungskraft, die Sprache, die menschliche Vernunft, die Triebe und Leidenschaften, die Verstandestugenden, die menschlichen Sitten, die Gründe für die Entstehung der Religion, die natürlichen Gesetze usw. untersucht. Ergebnis dieser Analysen ist die These, daß der Mensch im Naturzustand der „Wolf des Menschen“ ist, der durch eine allgemeine Gewalt vor sich selbst geschützt werden muß.933 Zwar legte Hobbes seiner Staatslehre ein dynamisches, kein ontologisches, ein eher aktivistisches als pessimistisches Menschenbild zugrunde,934 doch gelangte er zu dem Schluß, daß das Leben im vorstaatlichen „Naturzustand“ elend, daß der Mensch einsam und verlassen und ein Raubtier sei, das ohne Rücksicht auf die anderen nur seine egoistischen Interessen verfolgt. Damit näherte er sich wieder der pessimistischen Sicht Machiavellis. Die Menschen werden ihm zufolge geplagt durch „ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht“, und dieses unersättliche Machtstreben hielt Hobbes „für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet“ (Lev., 11. Kap., S. 75). Der von Hobbes beschworene Naturzustand bezeichnet kein geschichtliches Entwicklungsstadium, das durch den Staat abgelöst und überwunden wird. Er ist ein hypothetisches Konstrukt und soll die gesellschaftlichen Verhältnisse beschreiben, die entstehen würden, wenn keine staatliche Gewalt vorhanden ist. Aus der allgemeinen Eitelkeit, dem Streben nach Macht und Anerkennung, Ehre und Ruhm, leitete Hobbes im 13. Kapitel die Feststellung ab, die Menschen würden unter nicht-staatlichen Bedingungen in einem allgemeinen Krieg aller gegen alle leben,935 der nur dadurch beendet werden kann, daß sie – getrieben von der Todesfurcht – einen Bund oder Vertrag (covenant) miteinander schließen, durch 932

Vgl. T. Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht; ders., De Cive. Zu den anthropologisch-psychologischen Prämissen und zur Hobbesschen Sicht der bürgerlichen Gesellschaft vgl. C. Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan. In: Kersting (Hg.), Thomas Hobbes, 83–107; J. Freund, Anthropologische Voraussetzungen; S. Goyard-Fabre, Le droit et la loi, S. 15 ff.; Kodalle, Thomas Hobbes, S. 33 ff.; C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 21 ff.; U. Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, S. 77 ff.; Willms, Die Antwort des Leviathan, S. 79 ff. 934 Vgl. H. Schelsky, Thomas Hobbes, bes. I. Teil: Die vier Menschenbilder, 19–46. 935 Vgl. dazu J. Nida-Rümelin, Bellum omnium contra omnes. Konflikttheorie und Naturzustandskonzeption im 13. Kapitel des Leviathan. In: Kersting (Hg.), Thomas Hobbes, 109–130 (weitere Literatur: S. 129 f.). 933

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den sie sich wechselseitig zusichern, auf einen Teil ihrer Freiheit zu verzichten, sofern alle anderen dasselbe tun.936 Und eben durch diese wechselseitige Zusicherung soll jene allgewaltige Souveränität entstehen, die in der Lage ist, den innerstaatlichen Frieden herzustellen, indem sie die Spannungen zwischen den Menschen im Innern unterdrückt und auf das Verhältnis der Staaten untereinander lenkt. Grundlage des Staates ist demnach der freiwillige Verzicht auf die individuelle Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, soweit sie in Konflikt mit der Selbstverwirklichung der anderen gerät. Die Freiheit des anderen ist die Grenze der eigenen Freiheit, die durch Selbstverzicht gezogen und vom Staat überwacht wird. Der Staat entsteht durch die Vereinigung der Bürger, die ihre ganze Kraft und ihren Willen auf ihn übertragen. Er ist die konzentrierte Gewalt aller einzelnen, die sich gegen sie verselbständigt, ihren Gehorsam erzwingt und so den Bürgerkrieg verhindert. Sie wird hervorgebracht durch einen eminent politischen, aber einmaligen Akt aller Bürger, die in der Folge den Regenten und ihren öffentlichen Beamten (publique ministers) die Gestaltung des politischen Lebens überlassen und sich auf ihre wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten konzentrieren. Der Souverän verfügt über das Monopol der legitimen physischen Zwangsgewalt. Er schreibt seinen Untertanen die geltenden Gesetze vor und wacht in ihrem Auftrag über ihre Einhaltung. Dadurch schützt er sie vor sich selbst. Die Gestaltung des politischen Lebens liegt in den Händen von Repräsentanten, die im Auftrag aller für Ruhe und Ordnung sorgen.937 Der Verzicht der einzelnen auf ihre politische Selbstbestimmung ist aber – Hobbes zufolge – durch ihre eigene Vernunft und bessere Einsicht motiviert, da jedermann, der bei gesundem Verstand ist, erkennen müsse, daß ein friedliches und staatlich geordnetes Zusammenleben dem alltäglichen Krieg aller gegen alle vorzuziehen ist. Daß es besser sei, in Staaten zu leben, als sich im Bürgerkrieg wechselseitig zu zerfleischen, ist der Kern der Hobbesschen Lehre.938 Machiavelli hatte die frühneuzeitliche Staatstheorie auf den Weg gebracht, Hobbes führte sie auf ihren Höhepunkt, indem er die Ergebnisse der empirischen und sozialgeschichtlichen Forschungen seiner Vorgänger in eine rationalistische 936 Zur Pflichtenlehre und Vertragstheorie vgl. A. E. Taylor, The Ethical Doctrine of Hobbes (1938) und die Kritik von S. M. Brown, Hobbes: The Taylor Thesis (1959). In: Kersting (Hg.), Thomas Hobbes, 177–192; C. B. Macpherson, Die politische Theorie, S. 86 ff.; T. Nagel, Hobbes: His Concept of Obligation. In: Philosophical Review 68 (1959), 68–83 [dt. in: Kersting (Hg.), Thomas Hobbes, 193–210]; L. Siep, Vertragstheorie; L. Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft, bes. S. 16 ff., 108 ff.; H. Warrender, The Political Philosophy of Thomas Hobbes. 937 Zu Hobbes’ Repräsentationstheorie vgl. Hofmann, Repräsentation, S. 382 ff.; H. Pitkin, Hobbes’s Concept of Representation; E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 218 ff. 938 Die Hobbes-Interpretation wird später fortgesetzt, wenn sein Beitrag zur Souveränitätstheorie betrachtet wird. Siehe unten S. 691 ff.

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Staatskonstruktion aufhob. Er wurde deshalb zum Anknüpfungspunkt aller künftigen Staatstheorien und hat mittlerweile ganze Bibliotheken an Sekundärliteratur evoziert.939 Das pessimistische Menschenbild der beiden Klassiker wurde jedoch nicht von allen Zeitgenossen und Nachfolgern akzeptiert, sondern im Gegenteil scharf verurteilt und kritisiert. Während Hobbes den Kampf als basale Form der menschlichen Betätigung im Naturzustand begriff, rückte John Locke die Arbeit an seine Stelle. Von ihr ausgehend begründete er das Privateigentum und den Markt als Medien der menschlichen Selbstverwirklichung.940 Gegen Hobbes betonte sodann Jean-Jacques Rousseau die natürliche Güte des Menschen, der erst durch die gesellschaftlichen Institutionen, vor allem durch das Privateigentum korrumpiert und deformiert wird.941 Dominant wurde gleichwohl das von Machiavelli und Hobbes begründete aktivistische Selbstverständnis. Im Gegensatz zur traditionellen Bevorzugung der vita contemplativa propagierten die meisten – vor allem die protestantischen – Staatsdenker die vita activa. Die Arbeit erfuhr – im Kontext der reformierten Theologie und speziell der calvinistischen Berufsethik – eine gewaltige Aufwertung. Das Herstellen und Machen (poiesis) galt nicht länger als ein menschenunwürdiges Tun der unteren Stände, sondern als eine notwendige und ehrenwerte Tätigkeit. Der Homo faber und das animal laborans begannen ihren Siegeszug.942 Das antike Praxisverständnis ließ sich aber nicht restituieren. Vielmehr wurde nun die Politik selbst technisch verstanden. Als ihre Aufgabe galt die Herstellung einer Friedensordnung, die das reibungslose Funktionieren der gesellschaftlichen Reproduktion garantiert. Das neuzeitliche Menschenbild ist folglich nicht einheitlich, sondern widersprüchlich. Zwar gingen alle Staatstheoretiker aus vom Menschen, der die freigewordene Stelle Gottes vertrat, doch wurde die jeweilige Sicht des Menschen von konkreten historischen Erfahrungen geprägt. Die nicht enden wollenden Kriege und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts legten die Vermutung nahe, daß die Menschen von Natur aus schlecht seien und durch eine starke staatliche Gewalt zum friedlichen Zusammenleben gezwungen werden müssen. Nach der Stillstellung der konfessionellen Bürgerkriege und der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges konnte man hingegen die Zuchtrute beiseite legen und die Zügel wieder lockern. Der Mensch erschien nun als ein zwar durch Triebe und Leidenschaften geplagtes, aber zugleich mit Vernunft und natürlicher Güte (Mitleid, Nächstenliebe) ausgestattetes Lebewesen, das seine Beziehungen zu anderen 939 Zur Hobbes-Diskussion vgl. R. Koselleck/R. Schnur (Hg.), Hobbes-Forschungen; S. J. Mintz, The Hunting of Leviathan; C. Schmitt, Die vollendete Reformation (1965); B. Willms, Der Weg des Leviathan; ders., Tendenzen der gegenwärtigen Hobbes-Forschung. In: Bermbach/Kodalle (Hg.), Furcht und Freiheit, 232–243; P. Collier, Bibliographie der deutschsprachigen Hobbes-Literatur 1968–1981. Ebd., 244–257. 940 J. Locke, The Second Treatise of Government (1690). 941 J.-J. Rousseau, Discours sur l’Origine de l’Inégalité parmi les Hommes (1755), S. 167 ff., 205. 942 Vgl. Arendt, Vita activa. 6. Kapitel, bes. §§ 42 ff.

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Menschen mit Hilfe seines Verstandes in Eigenregie, d. h. ohne staatliche Bevormundung auf friedlichem Wege regeln kann. Der Staat konnte sich folglich aus den gesellschaftlichen Angelegenheiten zurückziehen und sich beschränken auf seine Rolle als Garant der von ihm selbst geschaffenen Rechtsordnung. Für die Begründung und Etablierung des Staates wurde die frühere Sicht entscheidend, die den Menschen als aggressives, egoistisches und ungeselliges Wesen betrachtete. Sie stand in deutlichem Kontrast zur überkommenen christlichen Lehre, beerbte sie aber zugleich. Dieser zufolge ist der Mensch zwar „von Natur“ aus gut, da von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen. Er ist aber zugleich von ihm mit der Freiheit ausgestattet, mit der Fähigkeit zum Bösen, d. h. zum Abfall von Gott und zur Sünde. Er kann seine Freiheit in zwei Formen realisieren: entweder in Form von Tugendhaftigkeit und Gottesfurcht oder aber in Form von Eitelkeit und Egoismus, d. h. im Rückzug auf sich selbst. Diese Alternative zeichnet verantwortlich für die beiden mystischen Bürgerschaften, die Augustinus unterschieden hatte, die Bürgerschaft Gottes und die weltliche Bürgerschaft, die „Guten“ und die „Bösen“. Thomas von Aquin hatte die christliche Anthropologie durch die Verknüpfung mit der aristotelischen Lehre erweitert, indem er den Menschen als animal rationale et sociale bestimmte. Der Mensch ist ein vernünftiges und ein geselliges Wesen, er ist auf die Unterstützung durch die anderen angewiesen. Er ist nicht der bürgerliche Egoist, sondern mit der Fähigkeit zum Altruismus ausgestattet, die ihm die Orientierung am Wohl Aller ermöglicht. Grundprinzip des menschlichen Lebens sollte nicht die Selbsterhaltung, sondern – wie bei Aristoteles – die Selbststeigerung oder Selbstvervollkommnung sein. Der Mensch ist fähig zu einem tugendhaften und gottgefälligen Leben. Dazu muß er seine Triebe und Leidenschaften bezwingen. Er muß sich orientieren am Leben Jesu, der Buße getan hatte für den Sündenfall. Weil er aber stets in Versuchung durch das Böse ist, muß eine Gewalt her, die ihn vor sich selber schützt. Das ist die Botschaft, die einst schon von den Kirchenvätern und nun auch von den Reformatoren (Luther, Calvin, Zwingli) sowie von den christlichen Philosophen bis hin zu Hobbes verkündet wurde. Neben diesen Übereinstimmungen gab es natürlich auch Differenzen und Neuerungen im Vergleich zur Tradition. Jürgen Habermas hat den Umbruch zwischen der klassisch-griechischen und christlich-mittelalterlichen Politik einerseits, der modernen Sozialphilosophie andererseits an drei entscheidenden Bruchstellen festgemacht:943 1. An die Stelle der klassischen Lehre vom guten und gerechten Leben tritt der technische Sachverstand einer utilitaristischen Klugheitslehre. Die Sozialphilosophie erstrebt keine richtige Erziehung der Bürger mehr, sondern zielt darauf, „ein für allemal die Bedingungen der richtigen 943 Vgl. zum folgenden J. Habermas, Die klassische Lehre von der Politik, S. 50. Zur Differenz zwischen „Polis als Lebensform“ und „Staat als Einrichtung“ siehe auch R. Bubner, Polis und Staat; W. Hennis, Politik und praktische Philosophie.

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems

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Staats- und Gesellschaftsordnung überhaupt anzugeben“. 2. An die Stelle der alten „Praxis“, einer an der Heranbildung des richtigen Charakters interessierten Pädagogik, tritt eine Institutionenlehre, die ihre Erkenntnisse als technische Probleme umzusetzen trachtet. 3. An die Stelle der phronesis als Wissensform der Praxis tritt der Anspruch auf episteme, auf strenge Wissenschaftlichkeit und technische Berechenbarkeit des menschlichen Verhaltens. Die Politische Philosophie zwischen Machiavelli und Hobbes erstrebt folglich eine „Physik der Vergesellschaftung“. Dieser Einstellungs- oder Paradigmenwechsel hat seinen Grund in den konkreten politischen Problemen, die sich aus dem Versagen der alten „Politik“ ergaben. Er ist Folge der Krise der christlichen Weltanschauung und des neuen menschlichen Selbstverständnisses. Weil der Normativismus selbst zur Quelle des Bürgerkriegs geworden war, weil es in normativen Fragen des richtigen Lebens keine Einigung mehr gab, weil die unterschiedlichen Konfessionen begonnen hatten, sich zu streiten über den wahren Willen Gottes, deshalb suchten die neuzeitlichen Denker nach einer neutralen Basis für die Politische Philosophie. Weil der christliche Grundkonsens zerbrochen war, weil die alten Werte und Normen problematisch und selbst zum Streitobjekt geworden waren, weil die überkommenen Bindungen und Institutionen keine Lösung der anstehenden Probleme mehr gaben, deshalb suchten sie nach neuen Fundamenten und nach einer neutralen Basis für die Politische Philosophie und die Staatstheorie. Sie fanden sie in der Anthropologie und Psychologie. Das neue Menschenbild ist Folge des mechanistischen Weltbildes, der Übertragung der in der Naturforschung gewonnen Erkenntnisse und Verfahrensweisen auf die Menschenwelt. Es beerbt jedoch zugleich die Theologie, deren Einsichten nicht einfach über Bord geworfen, sondern „aufgehoben“ wurden. Die neuzeitliche Anthropologie speist sich folglich aus zwei Quellen: aus der Naturwissenschaft einerseits, aus der (reformierten) Theologie andererseits. Dies gilt auch und ganz besonders für Hobbes. Erst der mechanische Materialismus hat die Theologie gänzlich eliminiert. Erst bei La Mettrie (1709–51) u. a. erscheint der Mensch als bloße Maschine.944 Vorherrschend wurde in der Frühen Neuzeit eine individualistische Sichtweise. Der Mensch wurde betrachtet als Egoist, der nur seinen eigenen Vorteil im Auge hat und seine Mitmenschen als bloße Mittel für die Erreichung seiner eigenen Ziele begreift, sie demzufolge instrumentalisiert oder „verdinglicht“. Er galt nicht länger als zoon politikon bzw. als ein soziales oder geselliges Wesen, das seinen Zweck in der Vereinigung und Interaktion mit seinesgleichen findet. Vielmehr wurde er als homo oeconomicus, als Konkurrent und Rivale aller anderen begriffen, der seine Macht auf Kosten der anderen zu erweitern strebt und dadurch den Krieg aller gegen alle provoziert. Die Erfahrung der Bürgerkriege 944 La Mettrie, L’homme machine. Dazu A. Baruzzi, Mensch und Maschine; ders. (Hg.), Aufklärung und Materialismus; W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 2, S. 214 ff.

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V. Der Drang zum Staat

wurde zum Anlaß der Suche nach festgefügten und stabilen Ordnungsformen. Um das Chaos zu bannen, um die Selbstzerfleischung zu verhindern, wird der „künstliche Mensch“ und „sterbliche Gott“ Leviathan erzeugt, der die Furcht der Menschen in rationale Bahnen lenken und kanalisieren und die individuellen Energien zu kollektiven Werken nutzen soll. Mögen die einzelnen Denker in der Detailbeschreibung auch voneinander abweichen, gemeinsam ist allen neuzeitlichen Konzeptionen, daß sie ihre politische Philosophie auf die Anthropologie gründen, die sich im Kontext der Staatstheorie konkretisiert. cc) Staatsraison, Souveränität, Völkerrecht Durch drei theoretische Diskurse wurde der Staat zum vorherrschenden Paradigma des europäischen Politikdenkens: die Debatten über Staatsraison, Souveränität und das neuzeitliche Natur- und Völkerrecht. In diesen Kontroversen gewann der Staatsbegriff schärfere Konturen. Er löste sich allmählich ganz von der Person des Herrschers und wurde zum Signum für die transpersonale, bürokratisch organisierte Herrschaftsordnung. Der „institutionelle Flächenstaat“ verdrängte den alten „Personenverbandsstaat“. Staatsraison und Souveränitätstheorie dienten der Entmachtung der bisherigen Herrschaftsträger und der Übertragung der gesamten Macht auf einen Fürsten und den ihn umgebenden Apparat politischer Spezialisten.945 Dies war jedoch nur einer der möglichen Entwicklungspfade. Eine gangbare Alternative war die Sicherung und der Ausbau der ständischen Freiheiten und das Zusammenspiel von König und Parlament. Doch welche konkrete Staatsform auch immer institutionalisiert wurde, ausschlaggebend war die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt durch Bürokratie und stehende Heere. Dadurch etablierte sich der Staat ober- oder außerhalb der Gesellschaft. Staatsraison und Souveränitätstheorie trugen dazu bei, diese Ordnungsform im Bewußtsein der Intellektuellen fest zu verankern. Die Theoretiker des Völkerrechts gelangten darüber hinaus zu der Erkenntnis, daß das ius gentium in Wahrheit ein ius inter gentes sei. Dadurch wurde der Gedanke der äußeren Souveränität nahegelegt, d. h. die Einsicht, daß die nach innen souveränen Staaten ihre Beziehungen zueinander selbst auszuhandeln haben, ohne einen Höheren um Rat und Entscheidung angehen zu können. Kaiser- und Papsttum waren damit als politische Instanzen obsolet geworden. Die innere war durch die äußere Souveränität des Staates komplettiert. Die Begründung des Staates war eine europäische Koproduktion, wobei sich die deutschen Denker erst mit zeitlichem Rückstand auf die neue Ordnungsform besannen. Sie hielten zumeist fest an der alten Reichsidee.946 Festzustellen ist, 945 Vgl. Münkler, Im Namen des Staates, bes. S. 233 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, bes. S. 243 ff. 946 Vgl. v. Aretin/Hammerstein, Art. Reich. IV. Frühe Neuzeit, S. 465 ff.

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daß im 16. Jahrhundert in Deutschland eigenständige politische Reflexionen fast vollständig fehlten. Erst im 17. Jahrhundert belebte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Politik.947 Der Grund lag in der Dominanz des Schularistotelismus und der Scholastik.948 Dagegen erlebte das neuzeitliche Politikdenken in Italien, Frankreich, Spanien und in den Niederlanden im 16. Jahrhundert eine erste Blüte.949 Italiener entwickelten die Lehre von der Staatsraison, Franzosen die Souveränitätstheorie (Jean Bodin) und die Lehre des Widerstandsrechts gegen tyrannische Herrscher (Monarchomachen), Spanier begründeten das neuzeitliche Völkerrecht (Vitoria, Schule von Salamanca, Suárez), Niederländer bekräftigten den Machtstaatsgedanken durch Rekurs auf Tacitus und eine neostoizistische Rechts- und Morallehre (Justus Lipsius). Der Engländer Hobbes schließlich verfaßte in der Mitte des 17. Jahrhunderts die differenzierteste und stringenteste Staatstheorie. Die Deutschen traten demnach verspätet auf den Plan, gaben aber seit dem 17. und besonders gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Staatsdiskussion neue Impulse. Die Lehre von der Staatsraison wurde – im Anschluß an Machiavelli – von Francesco Guicciardini (1483–1540), Giovanni Botero (1540–1617), Scipione Ammirato (1531–1601), Trajano Boccalini (1556–1613) u. a. begründet. Sie ist, wie Friedrich Meinecke gezeigt hat, das neue politiktheoretische Konzept, das mit Machiavelli und seinen Nachfolgern und Kritikern Einzug ins Politikdenken hielt.950 Zwar verwendet Machiavelli den Begriff noch nicht, er taucht erst bei Guicciardini und – als Buchtitel – bei Botero auf, doch ist die Problematik bei ihm bereits vorgedacht. Die Diskussion entzündete sich in der kritischen Auseinandersetzung mit ihm. Staatsraison ist, wie Botero bemerkt, die Kenntnis der Mittel, die erforderlich sind, einen Staat zu gründen, zu erhalten und zu entfalten, d. h. auszudehnen.951 Die wichtigsten Mittel der Staatsgründung und -erhaltung hatte bereits Machiavelli aufgewiesen. Ein mächtiger, entschlossener und zupakkender Fürst sollte die anderen Machthaber unterwerfen und so die Freiheit und Einheit Italiens herstellen. Dafür sollten alle Mittel recht und erlaubt sein. Hatte Machiavelli eine empirisch-analytische Politikbetrachtung an die Stelle der überkommenen normativen gesetzt, so folgten ihm die späteren Verfechter der Staats947 Vgl. H. Denzer, Spätaristotelismus; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts 1; ders. (Hg.), Staatsdenker. 948 Vgl. H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre; ders., Die Lehre der Politik an den älteren deutschen Universitäten. 949 Zum Politikdenken des 16. Jahrhunderts vgl. J. W. Allen, A History of Political Thought in the Sixteenth Century; J. Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität; P. Mesnard, L’essor de la philosophie politique au XVIe siècle; Q. Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. 950 Meinecke, Die Idee der Staatsräson. Zur Kritik an Meineckes unscharfer Fassung des Begriffs und zur neueren Literatur über Staatsraison vgl. Stolleis, Friedrich Meineckes „Die Idee der Staatsräson“ und die neuere Forschung. 951 G. Botero, Della Ragion di Stato libri dieci (1589), I, 1, S. 55.

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raison darin nicht. Dominant blieb eine ethische Sicht der Regierungskunst und Politik.952 Erörtert wurden die Spielräume und die rechtlichen und moralischen Schranken der fürstlichen Herrschaft. Die zentrale, durch Machiavelli aufgeworfene Frage war, ob sich der Fürst über die Gesetze erheben und gegebenenfalls Unrecht tun darf, wenn es dem Staate nützt. Zu zeigen, daß er es darf, ja muß, wenn die Sicherheit gefährdet ist, war ein zentrales Anliegen Machiavellis gewesen. Dies ist die Lehre des berühmten 8. Kapitels des Principe. Der Herrscher braucht sein Wort nicht zu halten, er darf Verträge brechen, er kann Arkanpolitik betreiben und die Öffentlichkeit hinters Licht führen, er darf unter Umständen ganze Menschengruppen ausrotten, er darf – in einem Wort – alles, wenn es nur dem Staat nützt. Machiavelli spekulierte nicht mehr über die gute Ordnung, sondern untersuchte die notwendigen Aktivitäten und Institutionen, die der Selbsterhaltung des Gemeinwesens dienen konnten. Es ging ums bloße Überleben, um die Erlangung der staatlichen Macht und die Sicherung des Friedens, um Machterwerb und Machterhalt. Die Politik hätte so Eigenständigkeit jenseits von Religion und Moral gewinnen können. Machiavellis Konzeption wurde jedoch von seinen Nachfolgern nicht ohne Einschränkung übernommen. Sie wurde vielmehr kritisiert oder entschärft und eingebunden in die überkommenen Wertvorstellungen. Sie traf auf den Widerstand aller Konfessionen und der aristotelisch orientierten Schulphilosophie.953 Dennoch wurden die Rechte der Fürsten im Zuge der Auseinandersetzungen erweitert, während die Handlungsspielräume der anderen Mächte eingeengt wurden. Von der Debatte profitierten jedoch nicht nur die Fürsten, sondern auch und vor allem die ihnen unmittelbar unterstellten Höflinge und Beamten, die ihren eigenen Machtradius geschickt auszudehnen wußten.954 „Staatsraison“, so resümiert Herfried Münkler das Ergebnis seiner Forschungen, „ist ein Kampfbegriff, unter dem eine kleine Gruppe spezialisierten und professionalisierten politischen Personals, Diplomaten und Sekretäre des fürstlichen Hofes, sich den Weg zu den Schalthebeln der Macht bahnt bzw., sobald sie diese erreicht hat, sich dort auf Dauer etabliert. Dabei werden die bislang an den politischen Entscheidungsprozessen partizipierenden Bürger und Adligen in Untertanen verwandelt und die in der Außenrepräsentanz als souverän geltenden Fürsten einer Sachlogik politischer Entscheidungen unterworfen, die von eben dieser Gruppe der Sekretäre und Diplomaten gehandhabt und instrumentalisiert wird. Unter der Ägide der 952 Vgl. N. Luhmann, Staat und Staatsräson: „Die Literatur, die sich im 16. und 17. Jahrhundert mit Regierungskunst und Staatsräson befaßt, hat das Problem vornehmlich unter moralischen Perspektiven behandelt . . . In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist die politische Wissenschaft . . . noch voll und ganz politische Ethik“ (S. 65). 953 Vgl. Stolleis, Reichspublizistik, S. 14 ff. 954 Vgl. zum folgenden Münkler, Im Namen des Staates. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz beziehen sich auf dieses Werk. Siehe auch ders., Staatsraison.

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Staatsraison beginnt die Professionalisierung der Politik im frühneuzeitlichen Europa“ (S. 12). Als wichtigste „Elemente der Staatsraison“ konstatiert Münkler (S. 299 ff.): 1. Die Verachtung des ,Pöbels‘, 2. Die Kunst der Verstellung sowie 3. Geheimpolizei und Spionage. „Doch auch die Konzeption der Staatsraison selbst war zunächst nur eine, wenngleich die folgenreichste Antwort auf den Zerfall der alten Ordnung, die Entsakralisierung der Politik und die Rationalisierung der Beziehungen zwischen den Menschen. Sie war der entscheidende Schritt bei der Emanzipation der Politik von der Theologie und der praktischen Philosophie“ (S. 19). Zentrales Anliegen der Lehre von der Staatsraison war die Ausschaltung von Rivalität.955 Der innerstaatliche Frieden sollte durch einen mächtigen Regenten hergestellt und gesichert werden, der die konkurrierenden Mächte unterwirft. Dafür sollten ihm weitreichende Befugnisse eingeräumt werden, die aber den Rahmen der geltenden Sitten nicht überschreiten durften. Machiavellis Attacke gegen die christliche Ethik wurde zurückgewiesen und provozierte heftige Kritik am „Machiavellismus“, der nun als Ausdruck skrupelloser Machtpolitik galt.956 In den theoretischen Auseinandersetzungen zwischen „Machiavellisten“ und „Antimachiavellisten“, „Tacitisten“ und „Antitacitisten“ wurden die theoretischen Instrumente verfeinert, mit denen die Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftliche Zwangsgewalt gedacht und legitimiert werden konnte. Der Kampf um „Machiavelli“, schreibt Michael Stolleis, ist „der Kampf um die politische Entwicklung, die wir rückblickend als ,Entstehung der Landesherrschaft‘, der Territorialgewalt oder der ,inneren Souveränität‘ bezeichnen“. Er ist „der letzte große Versuch der kirchlichen Welt, die zentrifugalen Kräfte noch einmal unter einer Moral zusammenzuhalten“.957 Die von Machiavelli begründete Emanzipation des Politischen aus kirchlich-religiösen Banden mußte zur Verunsicherung der Traditionalisten führen, für die der Titel ragion di stato zum Schimpfwort wurde. „Die allgemeine Beunruhigung um den Topos der Staatsräson“, so Stolleis, „lag darin, daß eine rein rationale und interessengeleitete, normativ ungebundene Politik im Umfeld tief eingewurzelter religiöser und sittlicher Bindungen ausgesprochen bedrohlich und verunsichernd wirkte“.958 Deshalb wurde die Suche nach „göttlichen“, „natürlichen“ und/oder „sittlichen“ Schranken der Herrschaft noch einmal verstärkt.

955 Vgl. dazu Luhmann, Staat und Staatsräson, S. 71 ff. Luhmann zufolge beginnt mit den Staatsraison-Debatten die Umstellung der Begrifflichkeit von hierarchischer Stratifikation auf funktionale Differenzierung. 956 Zu den ersten Gegnern Machiavellis (Reginald Pole, Pedro Ribadeneira, Innocent Gentillet u. a.) und zum Antimachiavellismus vgl. etwa Meinecke, Die Idee der Staatsräson, S. 61 ff.; Münkler, Staatsraison und politische Klugheitslehre, S. 46 ff.; ders., Im Namen des Staates, S. 117 ff. 957 Stolleis, Arcana Imperii und Ratio Status, S. 44 f. 958 Stolleis, Condere leges et interpretari, S. 182.

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V. Der Drang zum Staat

Sowohl katholische als auch protestantische Denker bemühten sich um eine Zähmung der fürstlich-bürokratischen Machtpolitik. Der Jesuitenzögling Botero beispielsweise versuchte die Staatsraison mit den alten christlichen Moralprinzipien in Einklang zu bringen. Er unterschied die „gute“ von der „schlechten Staatsraison“ und wollte die Koinzidenz von geistlichem und weltlichem, kirchlichem und fürstlichem Interesse erweisen.959 Während im Krieg auch unfeinere und rabiatere Mittel erlaubt sind, sollte in Friedenszeiten die Weisheit regieren, die sich an den Interessen des Staates orientiert. Diese Differenzierung wurde in der Folgezeit von Justus Lipsius, Scipione Ammirato, Trajano Boccalini, Pedro de Ribadeneira u. a. weiter präzisiert.960 Doch allen ethischen und theologischen Bemühungen zum Trotz legitimierte und forcierte die Staatsraison die Säkularisierung des Politikdenkens und den Aufstieg des absolutistischen Staates. Sie hielt im 17. und 18. Jahrhundert auch Einzug in Deutschland und fand ihren Niederschlag im politischen Denken der Reichspublizisten,961 die das Imperium in der Folge von seinen Elementen, d. h. „von unten“ her konzipierten und damit die alte Reichsidee verabschiedeten, die stets am übergeordneten Zweckverband orientiert und vom Ganzen ausgegangen war, das sich selbst in die kleineren Einheiten gliederte. Im Kontext der Hugenottenkriege (1562–98) untersuchten calvinistische Monarchomachen in Frankreich die Bedingungen und Formen einer gerechten Regierung und begründeten ein Widerstandsrecht gegen unchristliche und tyrannische Herrscher, das gegebenenfalls auch den Tyrannenmord einschließen sollte. Sie wollten dem König von Frankreich die Richtlinien einer wahrhaft christlichen Politik vorschreiben und die königliche Zentralgewalt „durch Wiederbelebung überkommener, herrschaftsbegrenzender Institutionen“ eindämmen und beschneiden.962 Der Ausdruck Monarchomachen ist ein wenig unscharf und schwammig. Er wurde von ihren Gegnern erfunden und bezeichnete „Kämpfer gegen den legitimen König“ (William Barclay). Er würde dann jedoch alle Theoretiker umfassen, die für ständisch-föderative oder korporative Organisationsformen eintraten. Dies wäre insgesamt eine recht heterogene Gruppe, die sich 959 Vgl. dazu A. E. Baldini (Hg.), Botero e la ragion di stato; H. Lutz, Ragione di stato und christliche Staatsethik, bes. S. 39 ff.; Meinecke, Die Idee, S. 81 ff.; Münkler, Im Namen des Staates, S. 280 ff.; Stolleis, Staat und Staatsräson, S. 30, 182, 204 ff., passim. 960 Vgl. dazu Münkler, Staatsraison und politische Klugheitslehre, S. 50 ff.; ders., Im Namen des Staates, S. 283 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts. Bd. 1, S. 197 ff.; ders., Staat und Staatsräson, S. 27 ff., bes. S. 37 ff.: Arcana Imperii und Ratio Status (alle mit Nachweis der einschlägigen Schriften und der Sekundärliteratur). 961 Zur Entwicklung der Staatsraison in Deutschland vgl. M. Behnen, „Arcana – haec sunt ratio status“. Noch der Alte Fritz sah sich 1780 veranlaßt, einen Antimachiavell zu veröffentlichen, um seine eigene Machtpolitik vom Ruch des Bösen zu befreien. Vgl. Friedrich der Große, Der Antimachiavell. 962 Bermbach, Widerstandsrecht, S. 112. Vgl. J. Dennert (Hg.), Beza, Brutus, Hotman.

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schwerlich unter eine Rubrik subsumieren läßt. Gemeint sind aber jene Positionen, die gegen die Unterdrückung und Verfolgung und für die Rechte der Calvinisten kämpften. Ein Recht zum Widerstand gegen unchristliche Herrscher wurde seinerzeit von verschiedenen Seiten gefordert. Es wurde stets von jenen ins Feld geführt, deren eigene religiöse und politische Position unterlegen und in Bedrängnis geraten war. In protestantischen Ländern postulierten es Vertreter der katholischen Gegenreformation. Im katholischen Frankreich wurde es von Calvinisten gegen den König geltend gemacht. Hier entstanden die bedeutenden Schriften von François Hotman: Franco-Gallia (1572/73), Theodor Beza: De iure magistratum (1574) und Stephanus Junius Brutus (Philippe du Plessis-Mornay/Hubert Languet): Vindiciae contra tyrannos (1579), die im Anschluß an Jean Calvin den Amtsgedanken und die aus ihm resultierenden Pflichten des Königs betonten. Die Frage nach der moralischen und rechtlichen Bindung des Fürsten beschäftigte auch die Politiques in Frankreich (Michel de L’Hôpital, Jean Bodin u. a.), die für die Stärkung der Krone auf Kosten der Stände kämpften.963 Bahnbrechend für die künftige Staatsdiskussion wurde die Souveränitätstheorie, die Jean Bodin (1529/30–96) in Reaktion auf Hotman und Beza entwickelte. Unter dem Eindruck der Bartholomäusnacht von 1572 begründete er die Notwendigkeit einer souveränen, vom Monarchen geleiteten und verkörperten Staatsgewalt.964 Zwar wurde diese absolute Gewalt noch immer mit der Person des Herrschers identifiziert, doch war damit ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung transpersonaler Staatsidee getan. Der von Bodin geprägte Topos der Souveränität rückte ins Zentrum der künftigen Staatstheorie. Mit ihm ließ sich die Abstraktion des Staates von der Herrscherpersönlichkeit vollenden. Die mittelalterlichen Grenzen des Souveränitätsgedankens konnten damit überwunden werden. Die Lehre von der Souveränität des Staates als solchem ist, wie Carl Schmitt bemerkt, polemisch gegen die Lehre von der Fürsten- und der Volkssouveränität.965 Der Staat etabliert sich über dem Volk und dem Fürsten, während er einst identisch mit ihnen, also Monarchie oder Republik, war. Er wird zum Selbstzweck und unabhängig von den Regenten. Der Inhaber der Souveränität ist zwar höchste Entscheidungsinstanz im Staat und hat keinen Höheren über sich, er ist jedoch bloßer Vollstrecker sachlicher Notwendigkeiten und gebunden an natürliche Gesetze, insbesondere an die Fundamentalgesetze, die nicht angetastet werden dürfen (s. o., S. 645). Allerdings hat Bodin den letzten Abstraktionsschritt nach Schmitt noch nicht vollzogen: „Bodin unterscheidet nicht zwischen der 963

Vgl. R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg. Vgl. Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität; H. Denzer, Bodin; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 243 ff.; ders., Souveränität; H. G. Walther, Imperiales Königtum, S. 261 ff.; Wyduckel, Princeps legibus solutus, S. 151 ff. 965 Vgl. C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 8 f. 964

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V. Der Drang zum Staat

Souveränität des Staates und der des Trägers der Staatsgewalt. Den Staat setzt er nicht als selbständiges Subjekt einem höchsten Staatsorgan entgegen“.966 Im Zentrum seiner Überlegungen steht nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik und damit das Verhältnis von Ständen und Monarch. Bodins Leistung ist, wie Schmitt bemerkt, „daß er die Dezision in den Souveränitätsbegriff hineingetragen hat“: „Das Entscheidende in den Ausführungen Bodins liegt darin, daß er die Erörterung der Beziehungen zwischen Fürst und Ständen auf ein einfaches Entweder-Oder bringt, und zwar dadurch, daß er auf den Notfall verweist“.967 Bodin beginnt seine Sechs Bücher über die Republik (1576) mit einer grundlegenden Definition, die den Gang seiner Untersuchung bestimmt. „Unter dem Staat (République) versteht man die am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das, was ihnen gemeinsam ist“.968 Diese Definition wird im folgenden in ihre Einzelbestandteile zerlegt und gründlich untersucht. Es handelt sich um eine Zweckbestimmung, weil jede Definition zunächst den obersten Zweck und erst danach die Mittel und Wege zu seiner Erreichung festzustellen habe. Ziel (causa finalis) des Staates ist somit die am Recht orientierte souveräne Regierungsgewalt, die folglich keinem jenseitigen Zweck mehr dient, sondern Selbstzweck ist. Damit ist das christlich-mittelalterliche Denken verabschiedet, demzufolge Herrschaft und Politik den göttlichen Heilsplan zu vollstrecken hatten. Der Staat ist in die freigewordene Stelle eingerückt, die der Rückzug Gottes hinterlassen hatte. Als Elemente des Staates begreift Bodin die Familie, die Souveränität und die gemeinsamen, d. h. öffentlichen Angelegenheiten. Der von den Alten geprägte Begriff der Glückseligkeit hingegen sei entbehrlich. Den eigentlichen Quell und Ursprung des Staates und sein wichtigstes Glied bildet die private Haushaltung, d. h. „eine rechtmäßige Herrschaft über mehrere einem Familienoberhaupt zum Gehorsam verpflichtete Untertanen und das was ihnen gehört“ (S. 107). Der Staat entsteht demnach nicht durch den Zusammenschluß isolierter Individuen, sondern durch die Vereinigung bestehender „Häuser“ und „Herrschaften“.969 Das „eigentliche Fundament und der Angelpunkt des staatlichen Aufbaus eines Gemeinwesens“ sei aber die Souveränität. „Von ihr hängen alle Magistrate, Gesetze und Verordnungen ab. Sie ist das einzige Bindeglied der Familien, Korporationen

966

C. Schmitt, Die Diktatur, S. 27. C. Schmitt, Politische Theologie, S. 13 f. 968 J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat. I, 1, S. 98. Seitenhinweise in den folgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 969 Vgl. dazu Bermbach, Widerstandsrecht, S. 134 ff.: „Für die Entstehung des Staates heißt dies: Nicht der Zusammenschluß einzelner, die im Vertrag den Staat erst konstituieren . . ., sondern die der mittelalterlich-lehensrechtlichen Vorstellung entlehnte These vom Zusammenschluß mehrerer ,Häuser‘ (plusieurs mesnages) ist Ausgangspunkt der Staatswerdung“ (S. 139). Siehe auch A. Schwan, Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, S. 168 ff. 967

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und Kollegien und aller Individuen zu einem vollständigen Staatskörper. Dabei ist es gleichgültig, ob alle seine Untertanen nur eine einzige kleine Stadt oder ein Territorium von geringer Ausdehnung bewohnen . . . oder ob der Staat zahlreiche Vogteien oder Provinzen umfaßt“ (S. 110). Schließlich sind öffentliche Einrichtungen nötig, da vom Staat nicht die Rede sein könne, wo diese fehlen. Der Unterschied zwischen Staat und Familie liege darin, daß jener das Privateigentum und die Privatsphäre der Menschen akzeptiere und schütze, während das Familienoberhaupt die Herrschaftsgewalt über den Familienbesitz innehat (S. 111). Vier Fragen drängten sich auf: 1. Welches sind die Merkmale der Souveränität? 2. Wie kommt sie zustande? 3. Wer ist Inhaber der Staatsgewalt? 4. Gibt es natürliche Grenzen der souveränen Gewalt? Diese Fragen suchten Bodin und seine Nachfolger zu beantworten. 1. Das Hauptmerkmal der Souveränität besteht nach Bodin darin, „der Gesamtheit und den einzelnen Gesetze vorschreiben zu können und zwar, so ist hinzuzufügen, ohne auf die Zustimmung eines Höheren, oder Gleichberechtigten oder gar Niedrigeren angewiesen zu sein“ (S. 292). Dieses Hoheitsrecht umfasse alle weiteren Souveränitätsmerkmale, als da seien: über Krieg und Frieden zu entscheiden, die letztinstanzliche Entscheidung über die Urteile aller Magistrate, das Recht zur Ernennung der wichtigsten Staatsbeamten (S. 298), das Recht zur Steuererhebung, das Begnadigungsrecht, das Recht der Münzwertfestsetzung, das Rechtsdurchsetzungsrecht (S. 294), d. h. das Recht der höchstrichterlichen Entscheidungsgewalt (S. 301) und die Befugnis, Verurteilten in Abweichung von ergangenen Urteilen oder der Strenge des Gesetzes Gnade zu gewähren (S. 306). Entscheidend sei, daß die souveräne Gewalt unteilbar und zeitlich unbegrenzt ist (S. 205). Daraus folgt, daß sie allein beim Volk oder aber beim Fürsten liegen kann, der niemandem außer Gott Rechenschaft schuldig ist (S. 205–207). Eine Teilung der Gewalten ist für Bodin undenkbar, da diese zum Verlust der Souveränität führen würde. Es gibt auf Erden nächst Gott nichts Höheres als die souveränen Fürsten, die von Gott selbst als seine Stellvertreter dazu berufen sind, den Menschen zu gebieten (S. 284). Weder der Kaiser noch der Papst steht über ihnen, denn keiner könnte souverän genannt werden, „der die Rechtsprechung eines Höheren anerkennt, der seine Urteile aufhebt, Gesetze ändert und ihn bestraft, wenn er sich Fehltritte zuschulden kommen läßt“ (S. 286). „Gewohnheitsrecht genießt Geltungskraft allein wenn und solange es der souveräne Fürst duldet“ (S. 293). 2. Wie entsteht die absolute, zeitlich unbegrenzte und unteilbare Macht? Auf diese Frage hat Thomas Hobbes aus Malmesbury (1588–1679) im Kontext des englischen Bürgerkrieges eine anspruchsvollere Antwort gefunden als sein Vorgänger. Während sich Bodin in dieser Frage an der Realgeschichte orientierte, beantwortet sie Hobbes mit Hilfe des hypothetischen Konstrukts eines Gesellschaftsvertrages, d. h. durch Rekurs auf einen virtuellen Vertrag oder Bund (covenant) aller mit allen, durch den sich jeder einzelne zum Urheber der staat-

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lichen Aktivitäten macht, ohne an der politischen Willensbildung zu partizipieren.970 In dem zu Recht berühmten 17. Kapitel des Leviathan (1651) faßt er die Essenz seiner Lehre prägnant zusammen: „Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können.“ „Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat (Common-wealth), auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrükken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Hierin liegt das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zwecke, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt“ (Lev., S. 134).

Souveränität entsteht durch Einsetzung (institution) oder Eroberung (acquisition). Mit der letzteren befaßt sich Hobbes im Leviathan nicht systematisch. Sie ist Gegenstand seiner gelegentlichen historischen Reflexionen und Illustrationen, die sich vor allem an der alttestamentlichen und englischen Geschichte orientieren. Die Kreation der „Souveränität durch Institutionalisierung“ erfolgt durch einen einmaligen und unwiderruflichen Akt der Übertragung, durch einen Vertrag oder Bund (covenant), durch den jeder einzelne auf einen Teil seiner Selbstbestimmung verzichtet, sofern die anderen dasselbe tun.971 Alle staatliche Gewalt geht demnach vom Volke aus. Sie kehrt nur dann zu ihm zurück, wenn der Souverän seine Aufgabe nicht erfüllt und die innere Sicherheit nicht gewährt. Dann nämlich löst sich der Staat auf und die Gesellschaft fällt in den „Naturzustand“ zurück, in dem – wie schon bemerkt (s. o., S. 679) – das Recht des Stärkeren und mit ihm Anarchie und Chaos herrschen, da jeder einzelne das natürliche Recht besitzt, sich selbst zu erhalten und gegen seine Konkurrenten zu behaupten.972 970 Zu Hobbes vgl. die oben (S. 677 ff., Anm. 926 ff.) genannte Literatur. Eine prägnante Zusammenfassung des Hobbesschen Begründungszusammenhangs gibt W. Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation. 971 Dies entspricht dem zweiten Gesetz der Natur, das Hobbes aus dem grundlegenden Gesetz der Natur („Suche Frieden und halte ihn ein“) ableitet. Vgl. Lev., Kap. 14, S. 100 (dazu unten, S. 697). 972 Vgl. dazu auch D. Herz, Bürgerkrieg und politische Ordnung.

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Staat und Revolution sind demnach die beiden Übel, zwischen denen die Menschheit nach Hobbes wählen kann. Rechts- oder Naturzustand, Friede oder Bürgerkrieg sind die möglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens. Leviathan oder Behemoth heißen die beiden großen Ungeheuer, die der Bevölkerung die nötige Furcht einjagen, deren Drohung sie gefügig machen soll. Weil der Kriegszustand aller gegen alle unerträglich ist, wird die menschliche Vernunft, getrieben von der Todesfurcht, einen neuen Bund erstreben und folglich einen neuen, tüchtigeren Souverän inthronisieren. 3. Die Staatswerdung vollzieht sich somit in Gestalt der Selbstbegrenzung der Individuen, die einem einzelnen (Monarch) oder einer Versammlung von Menschen (Parlament) das Recht übertragen, sie zu regieren und zu repräsentieren. Entscheidend ist für Hobbes zunächst nicht die Frage nach der konkreten Staatsform, sondern die Auszeichnung des Staates als Subjekt des Politischen. Erst im zweiten Schritt wird das Für und Wider spezifischer Herrschaftsformen erörtert. Vordringlich ist nicht die Alternative „Souveränität des Fürsten oder des Volkes?“, sondern die Begründung der Souveränität des Staates. Es bleibt folglich eine nachgeordnete Frage, ob eine absolute Monarchie oder ein parlamentarisches System geschaffen wird. Ausschlaggebend ist für Hobbes angesichts des permanenten Machtgerangels zwischen englischer Krone und Parlament allein, daß eine Entscheidung für die eine oder die andere Regierungsform getroffen wird, damit der Konflikt ein für allemal gelöst werden kann.973 Entweder Monarchie oder Parlamentarismus, lautet die Alternative, nur nicht beides zugleich. In der Teilung der Gewalt zwischen beiden Instanzen erblickt Hobbes die zweite Hauptursache des Bürgerkrieges neben der konfessionellen Spaltung und Verwicklung. Da er die Erreichung des obersten Staatszwecks, die Herstellung und Garantie des Friedens, einem starken Fürsten eher zutraut als einem in sich zerstrittenen Parlament, plädiert er schließlich – wie Bodin – für die absolute Monarchie. Welche konkrete Staatsform auch immer von den Völkern institutionalisiert wird, entscheidend ist für Hobbes, daß im Staat die alten Feudalstände und die Kirche politisch neutralisiert, d. h. eingebunden und/oder entmachtet sind. Sie spielen keine Rolle bei seiner Gründung, Erhaltung und Entfaltung. Diese ist Ergebnis freier und gleicher Individuen, die ihre Repräsentanten mit der Regierung betrauen. Damit hat Hobbes die Ergebnisse der Amerikanischen und Französischen Revolution antizipiert. Sein Staat ist Repräsentativstaat, der das Ständewesen annulliert.974 Durch die Vertragstheorie wurde Hobbes – allen seinen ab973 Die Souveränität des Monarchen begründete R. Filmer, Patriarcha, S. 185 ff. Für die Souveränität des Parlaments hingegen kämpfte W. Prynne, The Sovereign Power of Parliament and Kingdom. Die Lösung des Konflikts war schließlich – nach der Restauration der Monarchie – ein Kompromiß: the King in Parliament. 974 Vgl. dazu Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843). In: MEW 1, 203– 333; hier: S. 279 ff.: „Erst die französische Revolution vollendete die Verwandlung der

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solutistischen Ambitionen zum Trotz – zum Vorläufer des späteren Liberalismus.975 Zwar war der Staat de facto zumeist Produkt der fürstlichen Machtkonzentration, die alle Volksglieder in Untertanen verwandelte. Er war jedoch auch in diesem Fall auf die Anerkennung durch die Herrschaftsunterworfenen angewiesen, ohne die er in der Luft gehangen hätte.976 Ob durch Eroberung oder durch Einsetzung entstanden, seine Legitimität konnte er einzig durch die Zustimmung der Bevölkerung des von ihm beherrschten Territoriums gewinnen. Zwar hat der absolutistische Staat die alten Ständeschranken nicht beseitigt, sondern im Gegenteil gefestigt (s. o., S. 634 f.). Indem er sie jedoch politisch nivellierte, wurde er zum Medium der bürgerlichen Emanzipation aus feudalen Abhängigkeiten. Deshalb fanden die Monarchen gewöhnlich die Unterstützung des Bürgertums, während sich die oberen Stände, allen voran der Klerus, gegen die Entstehung und Verselbständigung des Staates und gegen die Theorie des Gesellschaftsvertrages stemmten. Sie hielten dieser das göttliche Recht der Könige entgegen, wonach sich die Legitimität des Souveräns nicht vom Volk, sondern von Gott herleitet, der ganz anderen Ratschlüssen folgt als der von Trieben und Leidenschaften geplagte Mensch.977 In der Abwehr jeglicher theokratischer Bestrebungen und der politischen Nivellierung der Ständegesellschaft liegt die entscheidende Neuerung des von Hobbes begründeten Staates und die progressive Seite der ihn legitimierenden Vertragstheorie. Diesen Punkt hat Max Horkheimer zu Recht hervorgehoben:978 „Als die Professoren und Studenten der Universität Oxford Hobbes’ Lehren verdammten und seine Bücher verbrannten, da hatten sie die Gefährlichkeit der Theorien vom Gesellschaftsvertrag und vom Naturrecht sehr wohl erkannt. Denn der mittelalterlichen Überzeugung, die Regierenden und mit ihnen die gesamte Zunft- und Ständeordnung seien von Gott eingesetzt, tritt die Ansicht gegenüber, Staat und Gesellschaft leiteten ihre Existenz und Berechtigung vom Willen des Volkes her, dessen Wohl ihr Zweck sei. Die feudalen Mächte mußten die rückständigen Ordnungen und Einrichtungen, die Vorrechte und Selbstherrlichkeiten, mit dem Hinweis auf ihre Heiligung durch Gott und die Tradition rechtfertigen. (. . .) Hobbes, mit ihm die klassischen Vertreter der Vertragstheorie und des neueren Naturrechts, wie Grotius und politischen Stände in soziale oder machte die Ständeunterschiede der bürgerlichen Gesellschaft zu nur sozialen Unterschieden, zu Unterschieden des Privatlebens, welche in dem politischen Leben ohne Bedeutung sind“ (S. 284). 975 Zu seinen eigenen Vorläufern vgl. R. Schnur, Individualismus und Absolutismus. 976 Vgl. dazu Hegel, Rechtsphilosophie, § 265 Zus.: „Worauf es ankommt ist, daß sich das Gesetz der Vernunft und der besonderen Freiheit durchdringe und mein besonderer Zweck identisch mit dem Allgemeinen werde, sonst steht der Staat in der Luft. Das Selbstgefühl der Individuen macht seine Wirklichkeit aus, und seine Festigkeit ist die Identität jener beiden Seiten“. 977 Zu den theoretischen Debatten in England vgl. Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England. Zu den französischen Kontroversen vgl. Barudio, Zwischen Depotismus und Despotismus. 978 Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S. 216 f.

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Pufendorf, Christian Wolff und Rousseau, aber auch Fichte und überhaupt die meisten großen Philosophen des Bürgertums bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, begründen aus dem Urvertrag und dem natürlichen Recht die Forderungen derjenigen Schichten, die sich aus den feudalen, zu Fesseln gewordenen Formen befreien wollen.“

Es handelt sich beim Hobbesschen Gesellschaftsvertrag somit nicht um einen Herrschaftsvertrag. Dies zu betonen ist nötig, weil es in der Sekundärliteratur oft verkannt wird. Im feudalen Herrschaftsvertrag verpflichtete sich der Knecht zur Treue gegen den Herrn, während dieser jenem Schutz zusicherte. Es war ein Vertrag, der beide Seiten verpflichtete.979 Der Gesellschaftsvertrag hingegen, wie ihn Hobbes und sein Nachfolger Rousseau konzipierten, ist ein Vertrag oder Bund eines jeden mit jedem, kein Vertrag zwischen Volk und Souverän.980 Der Souverän ist nicht Subjekt, sondern Objekt und Ergebnis des Vertrages. Er ist nicht der Vertragschließende, verpflichtet sich folglich zu nichts. Nur die Volksglieder schließen untereinander einen Pakt, in dem sie sich gegenseitig zusichern, daß sie sich den Anordnungen des Souveräns beugen werden. Der Gesellschaftsvertrag ist demnach ein Ermächtigungsvertrag. Er soll nicht die realgeschichtliche Entstehung des europäischen Staatensystems erklären, sondern bildet ein theoretisches Konstrukt, das der Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols dient.981 Auch Hobbes weiß, daß die Staaten geschichtlich nicht durch Verträge, sondern durch Gewalt entstanden sind.982 Der von ihm beschriebene Naturzustand ist – wie schon bemerkt – kein tatsächlicher historischer Zustand, der durch den Staats- und Rechtszustand abgelöst wird. Er ist ein hypothetisches Modell und bezeichnet die Verhältnisse, die sich ergeben, wenn keine staatliche Gewalt vorhanden ist. Er entsteht durch Abstraktion von den tatsächlich gegebenen politischen Strukturen. Hobbes möchte folglich nicht die historische Entstehung der neuzeitlichen Territorialstaaten rekonstruieren, sondern einen Staat fern aller historischen Kontingenz entwerfen. Er will „ein für allemal die Bedingungen der

979 Vgl. W. Näf, Herrschaftsverträge und Lehre vom Herrschaftsvertrag; ders., Herrschaftsverträge des Spätmittelalters; G. Oestreich, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde. Die „Regierungsformen“ des 17. Jahrhunderts als konstitutionelle Instrumente (1977). In ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, 229–252; A. Voigt (Hg.), Der Herrschaftsvertrag. 980 Vgl. Lev., 18. Kap., S. 137. Dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (zu Hobbes: S. 59 ff.). Kersting verfolgt die Entwicklung der Vertragstheorie bis in die Gegenwart (John Rawls, Robert Nozick, James M. Buchanan). Siehe auch ders., Vertrag – Gesellschaftsvertrag – Herrschaftsvertrag. 981 Vgl. dazu auch I. Kant, Über den Gemeinspruch (1793). In ders., Werke. Bd. 11, 125–172; bes. S. 143 ff.: Der „Staatsvertrag“ ist kein Faktum, sondern eine regulative Idee. Er hat die Funktion, „jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können“ (S. 153). 982 Es gebe „kaum einen Staat auf der Welt, dessen Anfänge mit gutem Gewissen zu rechtfertigen sind“, bemerkt Hobbes in seinem Rückblick und Schluß (Lev., S. 539).

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richtigen Staats- und Gesellschaftsordnung überhaupt“ begründen.983 Wenn Hobbes auf die Entstehung des Staates zu sprechen kommt, so „hat er weniger die Genese des modernen Territorialstaats seit Renaissance und Reformation im Auge als vielmehr den mythischen Beginn vor aller Geschichte“.984 4. Aus dem virtuellen Vertrag aller mit allen ergeben sich nicht nur die Rechte, sondern auch die Pflichten, die der Souverän zu erfüllen hat. Er ist nicht nur – wie bei Bodin – gebunden an spezifische Fundamentalgesetze, sondern hat konkrete Leistungen zu erbringen, die sich aus dem Zweck seiner Einsetzung durchs Volk ergeben. Er ist ausgestattet mit der Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis), doch hat er diese für das Wohlergehen seiner Untertanen einzusetzen: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes . . . Mit ,Sicherheit‘ ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“ (Lev., Kap. 30, S. 255). Aus dieser Festlegung ließen sich später die unterschiedlichsten Forderungen ableiten. Die Verpflichtung der Staatsgewalt auf das gemeine Wohl konnte zur Begründung des bürgerlichen Rechts- und des liberalen „Nachtwächterstaates“ (Ferdinand Lassalle) oder aber des absolutistischen wie demokratischen Wohlfahrtsstaates dienen. Hobbes hat diese Konsequenzen noch nicht gezogen. Ihm zufolge ist es Aufgabe des Souveräns, durch gute Gesetze und durch öffentliche Unterrichtung durch Lehre und Beispiel die allgemeinen Vorkehrungen zu treffen, so daß die einzelnen ihre Angelegenheiten regeln können, ohne von anderen übervorteilt und betrogen zu werden. Er schafft den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen sie ihre persönlichen Interessen verfolgen und ihre Bedürfnisse befriedigen können, ohne die Freiheit der anderen zu verletzen. Es gibt nach Hobbes natürliche Rechte, die von keinem Regenten angetastet werden dürfen (Kap. 14 f.). Ihre Ermittlung, Begründung und Interpretation ist Sache der Moralphilosophen und Wissenschaftler. Da diese sich aber nicht einig werden über ihren Inhalt und ihre Reichweite, ist es Sache des Souveräns, verbindlich festzulegen, welche natürlichen Rechte gelten und als bürgerliche Gesetze in die Formen des positiven Rechts gegossen werden. Er, nicht die Moralphilosophie, hat das Interpretationsmonopol. Damit schließt sich der Kreis: Der Souverän ist nur durch solche natürlichen Gesetze und Gewohnheitsrechte gebunden, die er selbst anerkennt.985 Er ist folglich überhaupt nicht gebunden. Auctori983

Habermas, Die klassische Lehre von der Politik, S. 50. J. Taubes, Leviathan als sterblicher Gott, S. 10. 985 Zu Hobbes’ Stellung zum Common Law vgl. seine Auseinandersetzung mit Sir Edward Coke: T. Hobbes, Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische Recht (ca. 1670), bes. I. + II. Dialog (S. 40 ff.). 984

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tas, non veritas, facit legem – lautet die berühmte Formel von Hobbes (Kap. 26).986 Die Autorität, nicht die Wahrheit oder praktische Richtigkeit, bestimmt das Gesetz. Damit ist der Dezisionismus erneuert, den bereits Thukydides begründet hatte und der im 20. Jahrhundert von Carl Schmitt wiederbelebt wurde. Der Hobbessche Souverän ist demnach mit derselben Machtfülle ausgestattet wie der Principe Machiavellis. Die von Hobbes begründeten natürlichen Rechte und Gesetze stehen einerseits in einem Spannungsverhältnis zu den bürgerlichen bzw. staatlichen Gesetzen.987 Sie sind andererseits so gefaßt, daß sie die Notwendigkeit der Souveränität untermauern: „Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht“ (Kap. 14, S. 99). Der Einsatz der Vernunft führt zu der allgemeinen Vorschrift oder Regel, daß es einem Menschen verboten ist, seine eigene Existenz zu gefährden. Weil aber der Naturzustand, in dem jeder das Recht auf alles hat, zum Krieg eines jeden gegen jeden (bellum omnium contra omnes) führt, in dem ein jeder, auch der Stärkste, in der permanenten Gefahr lebt, von seinem Widersacher hinterrücks gemeuchelt zu werden, treibt ihn die eigene Einsicht zum Verlangen, den Naturzustand zu verlassen (exeundum e statu naturae). Die allgemeine Regel, aus der alle weiteren natürlichen Gesetze und Rechte resultieren, lautet daher: „Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Kriegs verschaffen und sie benützen. Der erste Teil dieser Regel enthält das erste und grundlegende Gesetz der Natur, nämlich: Suche Frieden und halte ihn ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen“ (S. 99 f.). Die beste Art der Selbstverteidigung liegt aber im Zusammenschluß der isolierten einzelnen und Familien, durch den der Staat entsteht. Dies ergibt sich aus dem zweiten Naturgesetz, das seinerseits aus dem ersten abgeleitet wird: „Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde“ (S. 100). Dieses Naturgesetz entspricht der „Goldenen Regel“ und der Lehre der Heiligen Schrift: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris („Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu“). Eine weitere Konkretisierung bringt 986 Vgl. dazu W. Euchner, Auctoritas non veritas facit legem?, S. 183 ff.; O. Höffe, „Sed authoritas, non veritas, facit legem“. 987 Vgl. dazu L. Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft.

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das dritte natürliche Gesetz, das besagt, daß abgeschlossene Verträge zu halten sind (pacta sunt servanda) (Kap. 15, S. 110). In diesem natürlichen Gesetz liegen nach Hobbes „Quelle und Ursprung der Gerechtigkeit. Denn wo kein Vertrag vorausging, wurde auch kein Recht übertragen, und jedermann hat ein Recht auf alles; folglich kann keine Handlung ungerecht sein“ (ebd.). Die Unterscheidung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist folglich nur im Rahmen des Staates möglich, dessen Aufgabe es ist, der ersten zur Durchsetzung zu verhelfen und die zweite auszumerzen. Der weltliche Souverän hat das Recht der Letztentscheidung und das Interpretationsmonopol. Er legt fest, welche Wahrheiten im Staat gelten sollen, und folgt dabei nur seiner eigenen Vernunft und der Einsicht in die Notwendigkeiten, die zur Erhaltung des Staates und zum Wohlergehen der Bürger und Untertanen erforderlich sind (Kap. 18, S. 139). Es gibt keine Gewaltenteilung und keine Kontrollinstanz über ihm, die ihn zu bestimmten Aktivitäten zwingen könnte. Er selbst ist den bürgerlichen Gesetzen nicht unterworfen (Kap. 26, S. 204). Er legt nicht nur fest, welche Regeln im öffentlichen Leben zu gelten haben, sondern bestimmt auch über Form und Inhalt der Religion – entsprechend der Organisation der Anglikanischen Kirche und dem Prinzip, das im Augsburger Religionsfrieden von 1555 festgelegt wurde: cuius regio, eius religio. Allerdings hat Hobbes das Fühlen und Denken der Individuen von der staatlichen Reglementierung ausgenommen. In seiner Privatsphäre und seinem Inneren nämlich sollte jeder Mensch frei und ohne Bevormundung sein.988 Nur in seinen öffentlichen Bekundungen und Auftritten ist er an die Festlegungen und Beschlüsse des Souveräns gebunden, die er ohne Wenn und Aber zu erfüllen hat. Damit hat Hobbes, wie Reinhart Koselleck im Anschluß an Carl Schmitt bemerkt, im Staat einen „moralischen Innenraum“ ausgespart, in den später die „Staatsfeinde“, die Demokraten und die Liberalen eindringen konnten, um ihn von innen her auszuhöhlen.989 Die Vertragstheorie zählt zu den artifiziellen Momenten der Hobbesschen Theorie und der künftigen, an ihn anknüpfenden Staatstheorie. Sie enthält einerseits emanzipatorisches Potential, denn der Staat wird nicht mehr vom göttlichen Willen abgeleitet, sondern vom Willen des Volkes, d. h. vom Wollen aller einzelnen, die sich per Vertrag oder Bund zusammenschließen und so den allgewaltigen Leviathan konstituieren, der sich in der Folge gegen sie verselbständigt. Darin liegt nun andererseits der Widerspruch dieser Konstruktion. Wenn sich nämlich die per Vertrag konstituierte souveräne Gewalt selbständig gegen die Bevölkerung machen kann – und sie muß sich verselbständigen, sie soll ja in der Lage sein, die Einhaltung des Vertrages zu erzwingen, indem sie den Bürgern 988 „Der Glaube der Menschen und ihr inneres Denken sind nämlich Befehlen nicht unterworfen, sondern nur dem gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Wirken Gottes“ (Lev., 26. Kap., S. 219). 989 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise, S. 26 ff.; C. Schmitt, Der Leviathan, S. 79 ff.

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und Untertanen Gewalt androht und ihnen ständig Angst einjagt –, dann kann sie ihre Legitimation nicht mehr vom aktuellen, sondern nur noch vom einstigen virtuellen Willen des Volkes ableiten.990 Sie würde ihre Legitimität gleichsam traditionalistisch begründen: durch einen irgendwann geschlossenen Urvertrag, der auch dann noch gelten soll, wenn keiner der Herrschaftsunterworfenen mehr an ihm festhält. Wird ihr jedoch die Anerkennung entzogen und der Vertrag gebrochen, so löst sie sich auf. Und dennoch soll sie in der Lage sein, den Rückzug der einzelnen zu unterbinden und die Geltung des Paktes zu verbürgen. Dieser Punkt muß ein wenig genauer betrachtet werden. Durch den Vertrag aller mit allen entsteht die Souveränität, die durch einen Monarchen oder aber durch das Parlament verkörpert wird. Erst durch den Souverän – sei dieser nun ein einzelner oder eine Versammlung von Menschen – wird das Volk zu einer handlungsfähigen Einheit, gewinnt es einen einheitlichen Willen und wird zum Subjekt der Politik. Einmal eingesetzt, ist der Souverän dann aber nicht mehr durch den Willen des vertragschließenden Volkes gebunden. Er selbst ist Repräsentant dieses Willens, der ohne ihn gar nicht existiert. Er soll die Herrschaftsunterworfenen auch gegen ihren Willen zwingen können, den Vertrag einzuhalten. Darin liegt der fundamentale Widerspruch dieser theoretischen Konstruktion.991 Hobbes selbst weiß, daß Verträge ohne das Schwert bloße Worte sind (Lev., S. 131). Die souveräne Gewalt soll durch den Vertrag zustande kommen und ist zugleich vorausgesetzt, um seine Einhaltung zu erzwingen. Die Argumentation droht an dieser Stelle zirkulär zu werden.992 Der mit quasi diktatorischen Vollmachten ausgestattete Souverän hat auch dann noch das Monopol der legitimen physischen Zwangsgewalt in Händen, wenn das Volk seiner längst überdrüssig ist. Er kann es in dauernder Furcht halten, um seinen Willen zu bre990 Bereits Rousseau hat gegen Hobbes eingewandt, es gebe, wenn die Bürger durch eigene Einsicht und Vernunft dahin gelangt seien, einen Vertrag oder Bund miteinander zu schließen, keinen einsehbaren Grund, auch noch ihre so entstandene politische Macht auf einen Dritten zu übertragen. Wenn sie schon so vernünftig sind, den Krieg aller gegen alle zu beenden, dann benötigen sie keinen Repräsentanten, der über ihre Vernünftigkeit zu wachen hat. Vielmehr kann sich die politische Herrschaft in die Selbstbestimmung des Volkes auflösen. Die Idee des Gesellschaftsvertrages führte so zur Demokratie. Vgl. Rousseau, Contrat social (1762), 2. Buch, 1. Kapitel; 3. Buch, 15. Kap. (Dt.: Der Gesellschaftsvertrag, S. 28 f., 105 ff.). Siehe auch unten, S. 737 ff. 991 Vgl. dazu auch Habermas, Die klassische Lehre von der Politik, S. 72 ff.: „Die eine Antinomie: die Aufopferung der liberalen Inhalte an die absolutistische Form ihrer Sanktionierung“. 992 Gegen die Konzeption des Gesellschaftsvertrages hat Hegel im einzelnen gezeigt, daß es immer gute Gründe für die Individuen gibt, die von ihnen geschlossenen Verträge zu brechen, sofern nicht eine Instanz existiert, die sie zur Einhaltung zwingen kann. Vgl. Hegel, Jenaer Realphilosophie (1805/06). In ders., Frühe politische Systeme, 201–289; bes. S. 237 ff. Dazu K. Roth, Freiheit und Institutionen, S. 151 ff.; ders., Selbstbehauptung und Anerkennung bei G. W. F. Hegel. Zur Kritik der Vertragstheorie bei Hume, Hegel und den Burkeanern siehe auch den Exkurs von Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 250 ff.

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chen und es unter sein Joch zu beugen. Notfalls kann er Zuchthäuser, Gefängnisse oder psychiatrische Anstalten gründen. Zwar haben alle einzelnen das natürliche Recht, sich selbst zu erhalten und für die eigene Selbsterhaltung zu kämpfen, sich daher gegen den Souverän zur Wehr zu setzen, wenn er ihnen nicht mehr Schutz, Überleben und die durch Arbeit rechtmäßig erworbenen Annehmlichkeiten des Lebens garantiert. Sie haben aber keine Chance gegen die Allmacht des Leviathan, dem nichts auf Erden an Kraft und Stärke gleichkommt. Sie können sich allenfalls vor ihm verstecken und so versuchen, sich seinem Zugriff zu entziehen. Ein verbürgtes Recht gegen den obersten Gesetzgeber und Regenten haben sie nicht. Damit weist Hobbes das Widerstandsrecht zurück, das von den calvinistischen Monarchomachen begründet worden war, das Recht gegen unchristliche oder tyrannische Herrscher. Ein solches Recht kann es für Hobbes nicht geben.993 Es bleibt ein ungelöster Konflikt zwischen den von ihm begründeten natürlichen Rechten der Menschen einerseits, dem staatlichen Gesetz andererseits. Der bei Bodin unaufgelöste Widerspruch, daß der Souverän einerseits zwar die absolute und sachlich wie zeitlich unbegrenzte oberste gewalthabende Instanz, zugleich aber bestimmten unantastbaren rechtlichen Grundbindungen unterworfen sein soll, wird letztlich zugunsten der Macht gelöst.994 Die Freiheit der Individuen wird der Sicherheit des Staates geopfert. Nach Hobbes ist der Souverän keinem Gesetz unterworfen, das ihm vorausliegt, er ist vielmehr selbst Herr über das Gesetz. Die Naturrechte, die Fundamentalgesetze sowie die Bestimmungen des Gewohnheitsrechts gelten nur, weil und solange er sie akzeptiert. Er ist nicht an sie gebunden, vielmehr hängt ihre Geltung davon ab, daß er sie nicht außer Kraft setzt. Anstatt die weiteren Details der Hobbesschen Staatslehre zu erörtern, soll im folgenden ihre Leistung zusammenfassend verdeutlicht werden. Ihr Ziel war die Bewältigung der religiös-politischen Grundprobleme der damaligen Zeit. Zu lösen waren einerseits die uralten Konflikte, die schon im hohen Mittelalter aufgebrochen waren und nun auf eine Entscheidung drängten: der Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt sowie zwischen Universalismus (Kaiser- und Papsttum) und Partikularismus (entstehende Staaten, aufstrebende Städte) und schließlich der innerstaatliche und innerkirchliche Kampf um Macht und Suprematie. Auf eine Entscheidung drängten andererseits die durch die Reformation hervorgerufenen konfessionellen Bürgerkriege und die machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Dynastien. Wie konnten die Konflikte

993 Vgl. aber P. C. Mayer-Tasch, Thomas Hobbes und das Widerstandsrecht. Zur Kritik vgl. H. Hofmann, Bemerkungen zur Hobbes-Interpretation. In ders., Recht – Politik – Verfassung, 58–73. 994 Vgl. dazu auch Habermas, Die klassische Lehre von der Politik, S. 75 ff.: „Die andere Antinomie: die praktische Ohnmacht des sozialtechnischen Machtwissens“; ders., Faktizität und Geltung, S. 118 ff.

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stillgestellt und der Friede hergestellt werden? Welche Möglichkeiten und Strategien waren vorhanden? Für die Theoretiker öffnete sich eine konkrete Alternative: Sie konnten sich entweder auf die eine oder auf die andere Seite schlagen und Position beziehen im Bürgerkrieg. Sie konnten für den Sieg der eigenen Fraktion arbeiten, der katholischen oder protestantischen, der anglikanischen oder puritanischen. Sie konnten für den König oder für die Stände streiten, für die Souveränität der Territorien oder aber für die Suprematie der Papstkirche und/oder der Universalmonarchie. Kurz: sie konnten eine Kampfposition begründen, die keinen Anspruch auf Konsens erheben konnte. Diesen Weg gingen die meisten Zeitgenossen von Hobbes – und wurden zerrieben zwischen den Fronten. Die Alternative dazu war die Suche nach dem archimedischen Punkt, von dem aus sich die einzelnen Kampfpositionen relativieren und versöhnen ließen. Die Denker konnten sich auf einen neutralen Standpunkt stellen und die Konflikte „von außen“ her, als unbeteiligte Beobachter betrachten. Sie hätten folglich eine Position jenseits der streitenden christlichen Heere und des Kampfes zwischen Krone und Parlament gesucht. Ergebnis wäre die Begründung eines Staates gewesen, der die Entscheidung zwischen Fürst und Ständen offenhält, der also oberhalb der beiden rivalisierenden Seiten angesiedelt ist. Der Versuch, die religiösen Differenzen zu neutralisieren, hätte wiederum eine Alternative eröffnet: Man konnte entweder einen weltanschaulich neutralen Staat begründen, der die christlichen Konflikte und Kriegsursachen unterdrückt und ins Privatleben abschiebt. Dies wurde jedoch erst im Gefolge der Amerikanischen und Französischen Revolution versucht. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, daß man auf christlichem Boden eine Formel suchte, die alle rivalisierenden Seiten gleichermaßen akzeptieren konnten, einen „ökumenischen Grundkonsens“ bzw. einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Welchen Weg ging Hobbes? – Seine Größe, darauf hat Jacob Taubes hingewiesen,995 liegt gerade darin, daß er nicht einen dieser möglichen Wege wählte, sondern alle zugleich zu gehen versuchte, d. h. alle unterschiedlichen Möglichkeiten prüfte. Er suchte einerseits einen wissenschaftlich neutralen Standpunkt, den er more geometrico und anthropologisch begründete. Dies ist Gegenstand der ersten beiden Bücher des Leviathan. Dieses Vorgehen brachte ihm den Ruf ein, er sei Atheist gewesen, was er gewiß nicht war. Er war und blieb ein christlicher Denker. Strittig ist nur, ob er Puritaner war oder nicht, Presbyterianer oder Anhänger der Independenten.996 Die Logik seiner eigenen Theorie nötigte ihn, in seinen öffentlichen Bekundungen und Handlungen den vom weltlichen Souverän festgelegten Mustern des religiösen Bekenntnisses zu folgen. Er hätte folglich bis 1649 Anglikaner sein müssen, während Cromwells Protektorat aber zu den Indepen995

Taubes, Leviathan als sterblicher Gott, bes. S. 11. Vgl. W. Förster, Thomas Hobbes und der Puritanismus; J. Lips, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution. 996

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denten konvertieren müssen, um schließlich wieder zum Anglikanismus zurückzukehren. Seine Lehre nämlich besagt, daß der weltliche Souverän zugleich über die Formen und Organisationen des Glaubens gebietet. Die englischen Könige hatten aber für die anglikanische Kirche verfügt, daß das alte Bischofssystem beibehalten werden sollte, daß also die Gläubigen von den Priestern mitgeteilt bekommen, welches der richtige Glaubensinhalt ist. Dagegen wandte sich Hobbes als Protestant, indem er jedem einzelnen das Recht und die Fähigkeit zuerkannte, ohne bischöfliche Hilfe das göttliche Wort zu erkennen und in seinem Privatleben zu realisieren.997 Hobbes suchte also einerseits einen wissenschaftlich neutralen Standpunkt und begründete zunächst einen weltanschaulich neutralen Staat, der die Zustimmung eines jeden, der von seiner Vernunft Gebrauch macht, finden sollte. Dieser Staat ist zugleich unabhängig von der konkreten Form, also der Entscheidung zwischen Krone und Parlament. Er ist nun eindeutig von der Person des Herrschers abgelöst. Hobbes suchte andererseits nach einem innerchristlichen Kompromiß und fand ihn in der Formel that Jesus is the Christ (III. Buch).998 Schließlich bezog er Position im Bürgerkrieg, indem er die römische Papstkirche als Reich der Finsternis (IV. Buch) kritisierte, ihre Herrschaftsansprüche mit Hilfe der Heiligen Schrift zurückwies und sich damit auf die Seite des Protestantismus – des Anglikanismus oder aber des englischen Puritanismus – stellte. Analog löste er die zweite große Streitfrage, den Konflikt zwischen Königtum und Ständen. Er begründete zunächst nur die Notwendigkeit einer Entscheidung und wies die Gewaltenteilung zurück. Erst im zweiten Schritt bekundete er seine Vorliebe und sammelte Argumente für die Monarchie und für ein absolutistisches Regiment. Diese Begründung findet sich in seinen historischen Reflexionen über die Entwicklung der englischen Monarchie. Die Hobbessche Gedankenführung ist demnach komplexer als es auf den ersten Blick erscheint. Hobbes war, wie Taubes zu Recht bemerkt,999 der einzige Denker seiner Zeit, der die religiös-politischen Zentralkonflikte zugleich „von innen“ wie „von außen“ betrachtet hat, als interessierter Teilnehmer und als neutraler Beobachter. Er hat letztlich keinen weltanschaulich neutralen Staat begründet, sondern einen christlichen Staat, der die rivalisierenden Parteien integriert, einen Staat, den aber weder Päpste noch Kleriker, sondern vom Volk eingesetzte Monarchen oder Parlamente regieren. Der mit den Mitteln der exakten Wissen997 Genau an dieser Stelle setzt die Kritik des Katholiken Carl Schmitt ein, der in dem von Hobbes begründeten Staat ein Verfallsprodukt des christlichen Reiches erblickt, das seine Funktion als kat-echon weniger gut erfüllen kann als das religiös-politische Regiment im alten Imperium (s. o., Anm. 989). 998 Siehe dazu auch den berühmten „Hobbes-Kristall“ bei C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 122. 999 Vgl. zum folgenden Taubes, Leviathan als sterblicher Gott, S. 11 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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schaft begründete bürgerliche Staat stellt demnach nur die erste, noch abstrakte Stufe im Begründungszusammenhang des Leviathan dar. Wird das Gesamtwerk auf diesen ersten Teil reduziert, so fällt sein eigentliches Anliegen aus dem Blickfeld. Indem er das vierte Buch ins Zentrum seiner Interpretation rückte, gelangte Taubes zu dem Schluß, „daß der Kampf um die von der Papstkirche erstrebte Theokratie . . . den eigentlichen Sinn seiner politischen Theorie ausmacht“ (S. 13). „Hobbes säkularisiert die fundamentalen Theologumena des Christentums. Indem er sie aber verweltlicht, bewahrt er sie“ (S. 15). Der Leviathan erscheint so als der großangelegte Gegenentwurf zur Bulle Unam Sanctam (1302) und gegen alle päpstlichen Suprematiebegründungen seit Gregor VII. und Bonifaz VIII. Wie schon bei Dante und Marsilius von Padua besitzt der weltliche Herrscher die Suprematie über die geistliche Gewalt. Im Unterschied zu Dante ist es aber nicht mehr der Kaiser, der eine Weltmonarchie realisiert, sondern der Regent des Staates, der das Gesetzgebungsmonopol ausübt und zugleich festzulegen hat, welches der Inhalt der im Staate geltenden Religion und des öffentlichen Glaubensbekenntnisses ist. Hobbes hat damit allerdings nur begründet, was in England seit 1534 gängige Praxis war, was aber von kirchlicher und gelegentlich auch von laikaler Seite immer wieder in Frage gestellt wurde. Andererseits hat er die „säkularisierten“ christlichen Theologumena mit jenen Einsichten verknüpft, die das neuzeitliche Naturrecht gewonnen hatte.1000 Ergebnis der Hobbesschen Theorie und der praktischen Entwicklung in Europa war: Die Attacken der Papstkirche und der Gegenreformation gegen die Stabilisierung des europäischen Staatensystems wurden abgewehrt, das klerikale Machtbegehren als Anmaßung zurückgewiesen. Der innerstaatliche Machtkampf zwischen Krone und Parlament wurde zu einem einfachen Entweder-Oder zugespitzt, bei dem das Königtum nach Hobbes die besseren Karten hatte, obgleich der englische König Karl I. nur zwei Jahre vor dem Abschluß des Leviathan (1651) vom Parlament geköpft worden war. Die alten Mächte gaben sich jedoch noch lange nicht geschlagen. Der katholische Universalitäts- und päpstliche Suprematieanspruch wurde bis zur Französischen Revolution weiter gepflegt und erlebte im 19. Jahrhundert sein letztes großes Aufbäumen im Kontext der Gegenrevolution (de Maistre, de Bonald, Donoso Cortés).1001 Die Grenzen der päpstlichen Kompetenz in weltlichen Dingen hatten sich jedoch bereits im Zuge der Eroberung Amerikas offenbart, als die Spanier und Portugiesen aufeinanderprallten und den Papst um Rat angingen, wer denn nun seinen Segen habe. Daß die katholische Kirche im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit kein Hort des Friedens und der Freiheit war, wurde im Gang der Untersuchung bereits deutlich. Sie spielte nicht nur eine wichtige Rolle in 1000 Vgl. H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 106 ff. (zu Hobbes: S. 112 ff.); L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 171 ff. 1001 Vgl. dazu C. Schmitt, Politische Theologie, IV. Kap., S. 67 ff.

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den kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern hatte auch im Inneren der einzelnen Länder ein straffes Überwachungssystem installiert, das von offiziellen Mitarbeitern organisiert wurde, die den Menschen die Ohrenbeichte abnahmen und so gewöhnlich Bescheid wußten über potentielle Dissidenten und Ketzer, die von der Inquisition zur Rechenschaft gezogen und auf den Scheiterhaufen geführt wurden.1002 Ferner wurde schon bemerkt, daß die Frühe Neuzeit durch endlose Kriege und immense Menschenopfer charakterisiert ist.1003 Wie die weltlichen Herrscher stets in ihren Kreuzzügen, so hatten auch die Spanier und Portugiesen im späten 15. und im 16. Jahrhundert bei ihren Eroberungen in Amerika den Segen des Papstes. Nur gerieten sie in Konkurrenz zueinander und dabei aneinander. Und nun sollte das geistliche Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche entscheiden, wer von beiden berechtigt war, den Eingeborenen das Christentum beizubringen. Zwar löste Alexander VI. die ihm gestellte Aufgabe, indem er in der Bulle Inter caetera divinae vom 4. Mai 1493 eine Demarkationslinie zog, die die legitimen Gebietsansprüche der beiden Rivalen festlegte, doch war damit nur eine pragmatische Lösung gefunden, während die prinzipiellen Fragen unbeantwortet blieben. Der Konflikt provozierte deshalb in der Folgezeit theoretische Debatten, durch die einerseits die Kolonialisierung selbst, andererseits die Entscheidungskompetenz des Papstes in Frage gestellt wurde. Hinzu kam der Streit zwischen dem Habsburger Kaiser Karl V. und Franz I. von Frankreich (1515–47), der zusätzlich zum Nachdenken über die kaiserliche Macht, die Rechtsgründe von Kriegen und über das Kriegsrecht anhielt. Aus der neuerlichen Infragestellung der päpstlichen und kaiserlichen Autorität ging das neuzeitliche Völkerrecht hervor, das seine wichtigsten Impulse zunächst von den spanischen Spätscholastikern erhielt.1004 Infolge der Verwicklung zwischen den europäischen Staaten unternahmen Francisco de Vitoria (1492/93– 1546), Francisco Suárez (1548–1617) u. a. gründliche Reflexionen über das gel-

1002 Zur Entwicklung der päpstlichen Inquisition in der frühen Neuzeit vgl. die Skizze von G. Denzler, Das Papsttum, S. 83 ff. Aufgrund der stetigen Ausbreitung der lutherischen Reformation rief Paul III. mit der Bulle Licet ab initio (1542) „die römische Inquisition – Sanctum Officium, später Sacra Congregatio Romanae et universalis inquisitionis genannt – als eine Behörde für die gesamte römisch-katholische Kirche ins Leben“ (S. 84). Siehe auch v. Dülmen, Entstehung, S. 282 ff. 1003 Dabei zeichnete sich der heute noch gefeierte Kreuzritter Christoph Kolumbus durch ganz besondere Brutalität aus. Anläßlich der 500-Jahrfeier seiner Entdeckungsreisen wurde 1992 allerdings auch diskutiert über die bestialischen Massaker, die der Entdecker Amerikas angerichtet hat. Man schätzt die Opfer der – zumeist vom Papst abgesegneten – Eroberungskriege der Frühen Neuzeit – zusammen mit denen von Seuchen und anderen schweren Plagen – auf ca. 70 Millionen Menschen. 1004 Vgl. E. Reibstein, Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts; ders., Völkerrecht. Ferner die Überblicke von Kimminich, Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts (weitere Literatur: S. 99 f.) und Bermbach, Widerstandsrecht, S. 146 ff. (Literatur: S. 160 ff.).

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tende Völkerrecht, die von Johannes Althusius (1557–1638), Hugo Grotius (1583–1645) u. a. weiter differenziert wurden. War die Kolonisation der Neuen Welt legitim? Durften die Eingeborenen Amerikas unterjocht oder abgeschlachtet werden? Waren sie rechtlose „Wilde“, deren Land von den Christen okkupiert werden konnte? Während Juan Gines Sepúlveda (1490–1573) diese Fragen ohne Skrupel bejahte, wurden sie von anderen nachdrücklich verneint.1005 Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas (1474–1566), der als „Anwalt der Indios“ in die Geschichte einging,1006 gestand den Kolonisten lediglich die kaiserliche Oberhoheit über die eroberten Gebiete zu. Francisco de Vitoria sah in den Indios zwar „Barbaren“, die aber trotzdem Menschen und als solche zu respektieren sind, die folglich die gleichen natürlichen Rechte wie die Christen für sich beanspruchen können.1007 Er begann in seinen Relectiones Theologicae (1528–39) eine umfassende Untersuchung des Völkerrechts, die zum Ergebnis führte, daß das Völkerrecht, das jus gentium, seinem Wesen nach ein jus inter gentes, ein Recht zwischen den Völkern sei, „ein Recht, das für den Verkehr zwischen organisierten menschlichen Gemeinschaften gilt“. Damit war, wie Otto Kimminich bemerkt, „die Vorstellung von einem unter der gemeinsamen Oberhoheit von Kaiser und Papst oder irgendwie sonst organisierten Weltreich endgültig preisgegeben, und es zeichnete sich das Bild der aus souveränen Staaten bestehenden internationalen Gemeinschaft ab“ (S. 85). Im Kontext der Kolonialisierungsdebatte bildete sich der Gedanke eines beiderseits gerechten Krieges (bellum justum ex utraque parte) heraus, wonach Krieg und Frieden zwei Rechtszustände sind, „die den souveränen Staaten für die Gestaltung ihrer gegenseitigen Beziehungen zur Verfügung stehen“ (S. 84 f.). Diese Auffassung wurde später untermauert durch die von Jean Bodin begründete Souveränitätstheorie. Vitoria stemmte sich jedoch zunächst gegen die Säkularisierung und Verselbständigung der Staaten. Er hielt fest an den tradierten Ideen.1008 Für ihn war klar, „daß die Quelle und der Ursprung der Städte und Staaten (civitatum rerumque publicarum) weder etwas von den Menschen Erfundenes noch unter die künstlichen Erzeugnisse zu rechnen ist, sondern gleichsam von der Natur abstammt, die zum Schutz und zum Erhalt der Sterblichen dieses Hilfsmittel den Sterblichen gewährt hat“ (S. 49). „Alle Gewalt, durch die ein weltlicher Staat (respublica saecularis) verwaltet wird, sei sie öffentlich oder privat, ist nicht allein gerecht und rechtmäßig, sondern sie hat Gott auf eine Weise zum Urheber, daß sie selbst 1005 Vgl. zum folgenden Kimminich, S. 79 ff. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 1006 Vgl. M. Gillner, Bartolomé de Las Casas. 1007 Vgl. dazu auch C. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 69 ff. 1008 Vgl. zum folgenden F. d. Vitoria, Über die staatliche Gewalt (1528). Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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durch eine Übereinkunft des gesamten Erdkreises nicht aufgehoben oder abgeschafft werden kann“ (S. 35). Hierarchie sei notwendig, da bei Gleichheit aller der Staat zwangsläufig zersplittern würde (S. 49). Die öffentliche Gewalt sei durch das Naturrecht eingerichtet, das seinerseits Gott allein zum Urheber habe. Daraus folge, „daß die öffentliche Gewalt von Gott ist und weder auf den Beschlüssen der Menschen noch auf irgendeinem positiven Recht beruht“ (S. 51). „Durch göttliche Anordnung hat ein Staat also diese Gewalt. Die Materialursache (causa vero materialis) allerdings, in der eine derartige Gewalt durch natürliches und göttliches Recht innewohnt, ist der Staat selbst, dem es von sich aus zukommt, sich selbst zu beherrschen und zu verwalten sowie alle seine Gewalten auf das Gemeinwohl hin auszurichten“ (S. 53). Vitoria kommt zu dem Schluß, „daß die Monarchie, d. h. die königliche Gewalt, nicht nur gerecht und rechtmäßig sei, sondern . . . daß die Könige von göttlichem und natürlichem Recht her die Gewalt innehaben und nicht vom Staat selbst oder nur von den Menschen her“ (S. 59). Damit setzte Vitoria die Idee des göttlichen Rechts der Könige gegen den Gedanken der Volkssouveränität, aber zugleich gegen den Suprematieanspruch der beiden universalen Mächte. Weder der Papst noch der Kaiser hat einen legitimen Weltherrschaftsanspruch. Die Könige der nichtchristlichen Völker sind zu respektieren und können die gleichen Hoheitsrechte für sich beanspruchen wie die der christlichen. Die Europäer haben folglich kein Recht zur Unterjochung der Indios und zur Absetzung ihrer Herrscher. Die politische Autorität basiert auf der menschlichen Natur, es kommt den einzelnen Gemeinwesen zu, sich autonom zu verwalten. Entscheidend ist für den Aristoteliker und Thomisten Vitoria die Orientierung am Gemeinwohl, dem alle Institutionen und Aktivitäten des Staates unterzuordnen sind und zu dienen haben. Für die universalistischen Ambitionen von Kaiser- und Papsttum ist in dieser Konzeption kein Raum. Das Völkerrecht ist ein Recht zwischen den Völkern, das von ihnen selbst herzustellen und auszuhandeln ist. Ulrich Matz faßt die Quintessenz dieser Lehre wie folgt zusammen: „Das Werk Vitorias besteht im Grunde darin, die politischen Konsequenzen einer einzigen, allerdings grundlegenden theologischen These Thomas von Aquins zu explizieren. Diese scheinbar so weltfern-abstrakte These lautet, daß die göttliche Gnade die Naturordnung nicht verändert, sondern sie, auf ihr gründend, vollendet [. . .] diese Lehre beschränkte den Papst auf die geistliche Gewalt und leugnete seine politischen Universalansprüche, sie versagte dem Kaiser ebensolche, letztlich spirituell begründete Ansprüche, sie machte den theologisch begründeten fürstlichen Absolutismus unmöglich, noch bevor er sich noch recht formiert hatte, sie entzog dem zum Teil religiös begründeten kolonialen Imperialismus den Boden und rechtfertigte statt dessen ebenso die natürliche Vielfalt unabhängiger Staaten wie deren von keiner Verschiedenheit der Religionen und Kulturen zu beseitigenden rechtlichen Einheit“.1009 1009

U. Matz, Vitoria, S. 277.

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Die Konzeption Vitorias wurde weiterentwickelt durch die Schule von Salamanca (Domingo de Soto, Fernando Vázques de Menchaca u. a.).1010 Eine abschließende Systematisierung der rechtsphilosophischen Einsichten der spanischen Spätscholastik unternahm Francisco Suárez in seinen großen Werken De legibus ac Deo legislatore (1612) und Defensio fidei adversus Regem Angliae (1613).1011 Die Details ihrer Lehren interessieren hier nicht. Entscheidend ist die Verabschiedung des mittelalterlichen Reichs- und Rechtsuniversalismus und die Auszeichnung der Staaten als Völkerrechtssubjekte, die sich als gleichberechtigte Partner gegenüberstehen. Auf den von den Spaniern geebneten Wegen konnten die späteren Völkerrechtler weiterschreiten. Als „Vater“ und „Vollender“ des klassischen Völkerrechts gilt der Niederländer Hugo Grotius (1583–1645), dessen Hauptwerk De iure belli ac pacis (1625) zur Grundlage der weiteren Entwicklung wurde. Grotius verließ den Rahmen der Spätscholastik und entfaltete seine Theorie aus dem Geist der reformierten, der calvinistischen Theologie. Für die Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen besonders wichtig wurde seine gründliche Erörterung der Bedingungen und Formen eines gerechten Krieges (bellum iustum), mit der Grotius einen wichtigen Beitrag zur neuzeitlichen Zähmung oder „Hegung des Krieges“ (C. Schmitt) leistete. Für ihn stellt auch der Krieg einen Rechtszustand dar, in dem spezifische, aus dem Naturrecht abgeleitete Regeln und Normen eingehalten werden müssen. Krieg und Frieden sind – wie schon bei den spanischen Spätscholastikern – zwei Rechtsformen, die den Völkern zur Gestaltung ihrer Beziehungen zur Verfügung stehen. Wie Hasso Hofmann bemerkt, hatte Grotius „wegen seines vom Sozialitätsgrundsatz her einheitlichen und umfassenden Rechtsgedankens keine Vorstellung von einem gesonderten spezifisch zwischenstaatlichen Recht . . ., wie sie später bei Hobbes und Wolff auftaucht und das ius inter gentes aus den traditionellen überterritorialen kirchlichen und feudalen Bindungen und ständischen Überschneidungen endgültig herauslöst. Trotzdem oder vielmehr: gerade deswegen beinhaltet sein ius gentium auch für die Beziehungen zwischen den Völkern und ihren Regenten extern verbindliche, ,positive‘ und verhältnismäßig detaillierte Rechtsregeln und nicht nur moralische Maximen und Deduktionen oder bloß oberste Rechtsprinzipien“.1012

1010 Vgl. Bermbach, Widerstandsrecht, S. 149 ff.; Kimminich, S. 85 ff.; J. A. Fernandez-Santamaria, The State, War, and Peace; ders., Reason of State and Statecraft in Spanish political Thought; Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, S. 282 ff. 1011 Vgl. Bermbach, Widerstandsrecht, S. 154 ff.; Kimminich, S. 89 f.; Reinhard, Vom italienischen Humanismus S. 291 ff.; H. Rommen, Die Staatslehre von Franz Suárez; J. Soder, Francisco Suárez und das Völkerrecht; R. Wilenius, The Social and Political Theory of Francisco Suárez. 1012 H. Hofmann, Hugo Grotius. In: Stolleis (Hg.), Staatsdenker, 52–77; hier: S. 72 (auch in ders., Recht – Politik – Verfassung, 31–57; hier: S. 54).

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Das werdende europäische Staatensystem fand folglich schon frühzeitig bedeutende Theoretiker als Fürsprecher. Die Konzentration der politischen Entscheidungsgewalt in Händen von Monarchen, die mit Hilfe von geschulten Beamten und stehenden Heeren in der Lage waren, die Gesamtbevölkerung ihrer Länder zu kontrollieren, fiskalisch zu schröpfen und ihren Gehorsam zu erzwingen, fand jedoch nicht die Zustimmung aller Politik- und Staatsdenker. Sie war vielmehr heftig umstritten und stieß auf harten Widerstand. Der von Bodin und Hobbes begründete fürstliche Absolutismus war nicht der einzige Weg der Konsolidierung des Staates. Wie schon erwähnt, bildeten „libertäre Systeme“ (England) sowie „Adels- und Ständerepubliken“ (Polen) eine gangbare Alternative. Auch wurde der Dezisionismus nicht zur herrschenden Meinung, vielmehr blieb der Normativismus weiterhin dominant. Schon in der Zeit, als Bodin die Sechs Bücher über die Republik (1576) verfaßte, entwickelten die Monarchomachen ganz andere Vorstellungen von einer vernünftigen Ordnung. Anstatt den König über das Gesetz zu erheben und ihn aus allen rechtlichen und moralischen Bindungen zu lösen, wollten sie seinen Handlungsspielraum durch christliche Prinzipien und institutionelle Vorkehrungen begrenzen. Am weitesten ging dabei Johannes Althusius (1557 bzw. 1562/3–1638), den Otto von Gierke deshalb zu den Monarchomachen zählte.1013 Er stand zwar unter ihrem Einfluß, hatte aber weiterreichende Interessen als diese seine Vorgänger. Sein Ziel war die Begründung einer ethisch orientierten, d. h. normativen Wissenschaft von der Politik. Deren Hauptthemen waren Fragen nach der Entstehung und Struktur menschlicher Gemeinschaften, nach den Regeln und Gesetzen, die deren Entwicklung leiten, sowie nach Entstehung, Ausübung und Beschränkung der Herrschaft.1014 Wie später Grotius so verließ auch Althusius den Rahmen der Spätscholastik und entfaltete seine Theorie aus dem Geist der calvinistischen Theologie.1015 Im Gegenzug zum entstehenden fürstlichen Absolutismus begründete er ein Konzept der ständischen Selbstverwaltung, ein föderalistisch-korporatistisches System einer Pluralität von Herrschaftsgewalten und ein anti-absolutistisches Konzept des Reiches, wonach sich die größeren Gemeinschaften aus den jeweils kleineren aufbauen. Er entschied sich gegen die Fürsten und zugunsten der Stände, deren Aufgabe es sein sollte, die im Land vereinigten Lebensgemeinschaften und ihre Glieder zu repräsentieren, d. h. „darzustellen“, zu „verkörpern“ oder zu „symbolisieren“.

1013

O. v. Gierke, Johannes Althusius. Siehe auch E. Reibstein, Johannes Althusius. Vgl. J. Althusius, Politica methodice digesta. 1015 Vgl. zum folgenden P. J. Winters, Johannes Althusius, S. 37 ff. (weitere Literatur: S. 51); ders., Die „Politik“ des Johannes Althusius. Ferner C. J. Friedrich, Politica methodice digesta of Johannes Althusius; H. Hofmann, Repräsentation in der frühen Neuzeit. Zur Frage des Repräsentativprinzips in der „Politik“ des Johannes Althusius. In ders., Recht – Politik – Verfassung, 1–30; T. O. Hueglin, Johannes Althusius. 1014

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Die höchste Stufe der Vergemeinschaftung (consociatio publica universalis maior) bildet für Althusius das Reich (imperium, regnum, respublica), in dem die Stände (ephori) mit dem obersten Regenten (summus magistratus) zusammenwirken und die Interessen des Ganzen realisieren. Beide Instanzen vertreten gemeinsam das Reich. Sie kontrollieren sich gegenseitig und praktizieren damit eine Art „Machtbalance“ und eine „Mischverfassung“. Die Souveränität (ius maiestatis) verbleibt beim „Volk“, die oberste Befehlsgewalt (potestas imperandi), die für Gesetzgebung und Rechtsprechung (suprema iurisdictio) zuständig ist, wird im Zusammenspiel von Ephoren und Magistraten ausgeübt. Damit hat Althusius den Ständen eine Rolle zugeschrieben, die sie nach Auffassung von Machiavelli, Bodin, Hobbes u. a. gerade nicht spielen sollten und die der Staatswerdung des Deutschen Reiches lange Zeit entgegenstand. Gemessen an der französischen und englischen Entwicklung sowie an den Ergebnissen der Staatsraison und der Souveränitätstheorie sind die Vorstellungen des Althusius „rückwärtsgewandt“. Jedoch ist die alte Fortschrittsideologie – wie schon erwähnt – längst in sich zusammengebrochen. Es wird deshalb heute ohne Ressentiment erwogen, ob die gewaltsame Machtkonzentration im Inneren und die ebenso gewaltsame Grenzziehung gegen außen tatsächlich der mustergültige Weg in die Moderne war oder ob nicht die treuhänderische Vertragskultur des libertären Ständewesens und das Zusammenwirken von Fürst und Ständen eine praktikable und sinnvolle Alternative zum fürstlichen Absolutismus war.1016 Partnerschaft oder Widerstand waren in allen Staaten die beiden möglichen Strategien der Konfliktlösung im Verhältnis von Krone und Ständen.1017 Während Ludwig XIV. in Frankreich die Unterdrückung der ständischen Freiheiten gelang, konnten sie sich in England gegen das Königtum behaupten. Im Unterschied zum fürstlichen Zentralismus wurden durch die Mitwirkung der Stände die Grundlagen für pluralistische Verhältnisse geschaffen. Der durch das Zusammenwirken beider Säulen konstituierte Staat läßt sich als eine Ellipse begreifen, in der Fürst und Stände die beiden Brennpunkte bilden.1018 Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation verhinderte oder verzögerte der Dualismus jedoch die Staatsgenese. Er führte zur Schwächung der Zentralgewalt und zur Stabilisierung der Landesherrschaft, die in der Landeshoheit (ius territorii) eine neue Qualität gewann. Das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen war gerade in jener Zeit heftig umkämpft. Beide Seiten suchten die Entscheidung während des Dreißigjährigen Krieges. Politische Theorie und Reichspublizistik waren folglich gespalten. Royalisten und Verfechter der ständischen Selbstverwaltung standen sich – wieder einmal – unversöhnlich gegenüber. Sie 1016

Vgl. bes. die zitierten Schriften von G. Barudio (s. o., S. 36, Anm. 97). Vgl. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 210 ff., bes. S. 226 ff. (weitere Literatur: S. 571 ff.). 1018 Vgl. dazu W. Näf, Frühformen des „modernen Staats“; G. Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, bes. S. 199 ff.; ders., Strukturprobleme, S. 143 ff. 1017

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instrumentalisierten die neuen theoretischen Erkenntnisse zur Untermauerung ihrer Position. Als Vertreter der kaiserlichen Partei übertrug Dietrich Reinkingk (1590–1664) die von Bodin konstatierten Souveränitätsmerkmale auf den Kaiser und gelangte dabei zu einer „zentralistischen und kompromißlos verfochtenen cäsaristischen Ausdeutung der Reichsverfassung“,1019 während die antikaiserliche Seite (Johannes Limnaeus, Hippolithus a Lapide u. a.) das aristokratische Element der Reichsverfassung betonte.1020 In der Praxis wurde die alte Mischverfassung perpetuiert. Der Westfälische Friede hatte die Zersplitterung zementiert. Da das Reich selbst keiner der klassischen Staatsformen entsprach, kam Samuel Pufendorf zu dem Schluß, man müsse es „einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper . . . nennen, der sich im Laufe der Zeit durch die fahrlässige Gefälligkeit der Kaiser, durch den Ehrgeiz der Fürsten und durch die Machenschaften der Geistlichen aus einer regulären Monarchie zu einer so disharmonischen Staatsform entwickelt hat, daß es nicht mehr eine beschränkte Monarchie . . ., aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten ist, vielmehr ein Mittelding zwischen beiden“.1021 Heinz Duchhardt faßt die Folgen der langewährenden Auseinandersetzungen wie folgt zusammen:1022 „Seit 1648 war klar: Landeshoheit und Bündnisrecht gemeinsam haben für das Territorium die Grundlagen der Staatlichkeit geschaffen, die das Kaisertum für das Reich nicht zu realisieren vermocht hatte; das Kaisertum wurde zu einer ,von allen neuzeitlichen Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnittenen Institution‘ (Kunisch), die allenfalls noch den Gesamtwillen zu koordinieren imstande war und als Vollzugsorgan der Reichsversammlung tätig werden konnte. Die moderne Staatswerdung vollzog sich in Deutschland auf regional-ständischer Ebene, nicht im Reichsrahmen“.

Auch außerhalb des Deutschen Reiches entstanden antiabsolutistische Konzeptionen. So pries der bereits erwähnte Niederländer Hugo Grotius die ständische Ordnung unter dem Namen Aristokratie als beste Staatsform.1023 Auch er vertrat den Föderalismus und das Recht der Korporationen, der patrizischen Macht und der ständischen Liberalität gegen den fürstlichen Zentralismus und Absolutismus, „gegen den ,Cäsarismus‘ des Statthalters: gegen die Verbündung von Monarch, Heer und akklamierender Volksmasse“ (S. 56). Da Kaiser und Papst als Repräsentanten der Christenheit und oberste Richter weggefallen waren, suchte Grotius die Einheit der sich konsolidierenden europäischen Staaten im Natur- und Völkerrecht. Hasso Hofmann faßt die Essenz seiner Lehre wie folgt zusammen: „In dem durch Zerfall des corpus Christi mysticum entstandenen Vakuum sucht Gro1019

C. Link, Dietrich Reinkingk, S. 82. Vgl. R. Hoke, Johannes Limnaeus; ders., Hippolithus a Lapide. 1021 S. Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, Kap. 6, § 9, S. 106 f. 1022 H. Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 10 (Literatur: S. 213 ff.). Vgl. auch R. Vierhaus, Deutschland, S. 116 ff.; ders., Staaten und Stände, S. 22 ff., 76 ff. 1023 Vgl. zum folgenden H. Hofmann, Hugo Grotius. In: Stolleis (Hg.), Staatsdenker, 52–77 (mit Nachweis der einschlägigen Stellen und der Sekundärliteratur). Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 1020

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tius in seinem Natur- und Völkerrecht die res publica christiana nun ohne kaiserliche Universalmonarchie und päpstliche Suprematie und einstweilen auch ohne kirchliche Union moralisch zu erneuern, indem er auf die gemeineuropäische Rechtstradition baut und das von Theologie und Moral gesonderte Recht durch eine neue, humanistisch-protestantische Ethik des friedlichen Ausgleichs und der Toleranz unterfängt. Seit Grotius ist ,Natur- und Völkerrecht‘ die Chiffre, welche die Einheit der Christenheit, ja der Menschheit beschwört“ (S. 75). Sowohl der Staat selbst als auch sein Handlungsspielraum und seine konkrete Form, d. h. seine institutionelle Ausgestaltung, war demnach noch lange Zeit umstritten. Dieser Streit wurde zum Lebenselexier des Politischen und zum entscheidenden Stachel für die Genealogie des Staates. Er blieb das beherrschende Thema der nach-hobbesschen Zeit, in der Frankreich und England zu Vorbildern wurden.1024 Diese Entwicklung wird im folgenden Abschnitt [c)] genauer betrachtet. Hier soll zunächst Bilanz gezogen und festgehalten werden, welches die Neuerungen des Staates und seine Leistungen waren. Seine Besonderheit tritt deutlicher hervor, wenn man ihn mit den früheren Ordnungsformen vergleicht. Im Unterschied zur antiken Polis bildet der Staat – wie das christliche Reich – eine große Flächen übergreifende, Stadt und Land beherrschende Einheit. Er gründet nicht in einer konkreten und überschaubaren Bürgerschaft, sondern in einer spirituellen und mystischen Einheit, die er selbst durch Konzentration der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt erst erzeugt. Er ist kein „Personenverband“, sondern ein institutionell konsolidierter Territorialstaat. Er verfügt über einen abgehobenen, hierarchisch aufgebauten bürokratischen Apparat, der in der Lage ist, die Gesamtgesellschaft zu kontrollieren und ihre Ordnung zu garantieren. Fürsten und/oder Parlamente beschließen im Auftrag des Volkes die geltenden Gesetze und Überwachen ihre Einhaltung mit Hilfe der staatlichen Polizei. Im Unterschied zum christlichen Reich ist der Staat nicht mehr transzendent und eschatologisch begründet – im Hinblick auf das irdische Endgeschick und durch Rekurs auf den göttlichen Willen –, sondern durch das Prinzip der Selbsterhaltung (oder Selbststeigerung), also diesseitig und konkret. Er verkörpert eine Rechtseinheit, die weltimmanent konstituiert und legitimiert wird. Die Herrschaftsordnung entwindet sich der geistlich-religiösen Klammer. Ziel des Staates ist innerer Friede durch souveräne Regierungsgewalt. Es wird erreicht durch Inklusion und Exklusion, durch Integration der Individuen, Familien und Stände und durch die Grenzziehung gegen außen. Erstrebt wird keine Universal- oder Weltmonarchie, der Staat begnügt sich mit der Macht innerhalb eines scharf umgrenzten Territoriums. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß er – wie im 19. und 20. Jahrhundert – selbst imperialistische Ambitionen entwickelt und 1024 Vgl. Mandrou, Staatsräson und Vernunft, S. 26 ff., 131 ff. („Das Vorbild Frankreich“), S. 72 ff., 170 ff. („Das Vorbild England“).

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seine Grenzen durch Eroberung fremder Gebiete zu erweitern sucht. Er entfaltet sich jedoch im Rahmen eines Staatensystems, in dem sich die einzelnen Glieder wechselseitig kontrollieren und als gleichberechtigte Partner anerkennen, die untereinander diplomatischen Verkehr pflegen und ihre Beziehungen in Krieg und Frieden rechtlich regeln. Seine Komponenten sind „Staatsmacht“, „Staatsvolk“ und „Staatsgebiet“, die aber erst durch ihn selbst ihre spezifische, eben „staatliche“, Bedeutung erhalten. Durch Bürokratie und stehende Heere wurde die gesellschaftliche Macht konzentriert und der Sieg des Etatismus über seine Kontrahenten (Kirche, Reich, Feudalaristokratie, Städte) ermöglicht. Durch Reformation und Gegenreformation, konfessionelle Bürger- und Staatsbildungskriege, durch das mechanistische Weltbild und die neue Anthropologie, die neuen wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse, durch die Ideen der Staatsraison und des Natur- und Völkerrechts, durch die Repräsentations-, Souveränitäts- und Vertragstheorie usw. wurden die mentalen Voraussetzungen für die Etablierung des Staates geschaffen. Mit den Verträgen des Westfälischen Friedens von 1648 war das europäische Staatensystem konstituiert, das die kommenden Jahrhunderte überdauern konnte. Da ihm die Integration der Individuen, Familien und Stände gelang, wurde der Staat – nach weiteren und lange dauernden Abwehrkämpfen – zum Ersatz für die alte religiös-politische Einheitswelt von Imperium und Sacerdotium. Auf ihn konzentrierten sich künftig die Hoffnungen und Erwartungen der Europäer. Und weil er relativ erfolgreich war, wurde er später zum Paradigma für die ganze Welt. Es schien, als ließe er sich von seinen europäischen Wurzeln abstrahieren und weltweit institutionalisieren, d. h. globalisieren. Allerdings traten auch weiterhin „Staatsfeinde“ auf den Plan (Utopisten, Demokraten, Sozialisten), die zunächst politische Alternativen zur staatlichen Herrschaft erstrebten und erst nach weiteren Lernprozessen versöhnt und eingebunden werden konnten – mit der Folge, daß der Staat selbst seine Gestalt veränderte und zum bürgerlichen Rechtsstaat, zur parlamentarischen Demokratie und zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat mutierte. Aufgabe und Zweck des Staates war die Bewältigung der religiös-politischen Konflikte, die Beendigung der konfessionellen Bürgerkriege, die Emanzipation der Politik aus der religiösen Bestimmung und Durchformung, die Schaffung von Rechtssicherheit durch Institutionalisierung ordentlicher Gerichte, die Unterdrükkung der innerterritorialen Machtkonkurrenz und der Fehden, die Abschottung der einzelnen Territorien gegeneinander und die Entfaltung des europäischen Völkerrechts. Der Staat erwies sich als adäquater politischer Rahmen für die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus und der kapitalistischen Produktionsweise, der er zum Durchbruch verhalf. Zwar förderte er zunächst die Zementierung der alten Ständeordnung, er war jedoch flexibel genug, um die bürgerlichen Revolutionen zu überdauern. Er stellte die religiösen Konflikte still, indem er sie aus der öffentlichen Sphäre verbannte und in die Kirche bzw. die Privatsphäre

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abdrängte. Er stellte die europäische Rechtsordnung auf ein neues Fundament, indem er zum Träger des neuen Völkerrechts, des Ius Publicum Europaeum, wurde. Als er diese Aufgaben und damit seinen Zweck leidlich erfüllt hatte, wurde er selbst zum Streitobjekt und geriet zwischen die Fronten der neuen sozialen Bewegungen, die seinen Machtbereich begrenzen bzw. seine Form ändern wollten. c) Der Kampf um die adäquate Staatsform und um die Grenzen des Staates Durch die Debatten über Staatsraison, Souveränität und Völkerrecht war transparent geworden, welche politischen Verhältnisse in weiten Teilen Europas bereits etabliert waren. Der Prozeß der Staatswerdung, der durch die hochmittelalterlichen Kämpfe eingeleitet und durch die spätmittelalterlichen Entwicklungen vorangetrieben worden war, hatte 1648 seinen vorläufigen Abschluß, der Staat selbst – ob absolute Monarchie oder Parlamentarismus – hatte seine klassische Begründung im Leviathan (1651) von Hobbes gefunden. Dieser wurde deshalb zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt aller nachfolgenden Staatstheorien.1025 Der Kampf für und wider den Staat dauerte an und wurde in der Folgezeit forciert. Er war und blieb Bestandteil der neuen Ordnungsform und sollte sie ständig begleiten und stimulieren. Durch ihn entstand jene Dynamik, die den Ausbau, die Stabilisierung und den mehrfachen Formwandel des Staates bewirkte. In den theoretischen Kontroversen, die diesen Kampf animierten, wurden jene Institutionen antizipiert, die den Übergang vom absolutistischen Fürsten- zum gewaltenteiligen Verfassungsstaat,1026 vom monarchisch-ständischen Macht- zum bürgerlichen Rechtsstaat und zur parlamentarischen Demokratie und schließlich vom liberalen Nachtwächter- zum Interventions- und Wohlfahrtsstaat ermöglichten.1027 Durch sie entstand jene „Öffentlichkeit“, die zur Voraussetzung der Demokratie wurde.1028 Der nach innen und außen souveräne Staat wurde zum Para1025 Zur weiteren Entwicklung des Politikdenkens vgl. auch I. Hampsher-Monk, A History of Modern Political Thought (mit einer umfangreichen Liste der englischsprachigen Literatur: S. 563 ff.) sowie die prägnante Skizze von J. Habermas, Naturrecht und Revolution. Ferner G. Maluschke, Philosophische Grundlagen; A. Schwan, Politische Theorien des Rationalismus, S. 190 ff. 1026 Zur Genese des Verfassungsstaates vgl. H. Fenske, Der moderne Verfassungsstaat; H. Mohnhaupt/D. Grimm, Art. Verfassung; C. Schmitt, Verfassungslehre. I. Begriff der Verfassung (S. 1–121). Zur theoretischen Begründung siehe auch P. C. MayerTasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates. 1027 Vgl. dazu den Überblick von F.-X. Kaufmann, Diskurse über Staatsaufgaben – und die dort (S. 38 ff.) verzeichnete Literatur. Ferner D. Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Zukunft der Verfassung. In ders. (Hg.), Staatsaufgaben, 613–646; ders., Der Staat in der kontinentaleuropäischen Tradition. 1028 Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Kritisch dazu W. Jaeger, Öffentlichkeit und Parlamentarismus.

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digma des künftigen europäischen Politikdenkens1029 und beherrschte auch noch jene Konzeptionen und Ordnungsentwürfe, die sich kritisch gegen ihn verhielten und Alternativen zu realisieren suchten (Reichspublizisten, Utopisten, Demokraten, Sozialisten). Sein durchschlagender Erfolg drängte seine alten Gegner in die Defensive. Zwar fand die christliche Reichsidee und der mittelalterliche Universalismus auch weiterhin Fürsprecher, doch gerieten sie infolge der Konsolidierung des europäischen Staatensystem in die Minderheit und ins Abseits. Zum Vorbild und Orientierungsmuster für die Politische Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts wurden vor allem der französische und der englische Staat. Die Staatsdiskussion nach Hobbes kreiste um die Frage nach der konkreten Staatsform. Die Anhänger des absolutistischen Fürstenstaates sahen sich neuen Gegnern konfrontiert, die sich der Erkenntnisse der Aufklärungsphilosophie bedienten. Sie wollten den Staat in seine Schranken weisen und strebten selbst nach Einfluß auf die Politik durch „Liberalisierung“ und „Demokratisierung“ der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Dabei lassen sich idealtypisch zwei Positionen unterscheiden, die den Absolutismus in Bedrängnis brachten und in einen Zweifrontenkrieg verstrickten: Der eine Kampf wurde zwischen Etatisten und Konstitutionalisten ausgetragen. Er drehte sich um die Frage nach natürlichen, rechtlichen und sittlichen Schranken, d. h. nach den Chancen einer Begrenzung der Staatsgewalt. Treibende Kraft in diesem Konflikt wurde das liberale Bürgertum, das die absolute Monarchie durch Rechts- und Verfassungsstaaten zu ersetzen suchte. Der Staat sollte sich selbst begrenzen und den geltenden, in Verfassungen fixierten Gesetzen unterwerfen. Der zweite Streit wurde zwischen den Anhängern des fürstlichen Absolutismus und den Verfechtern des Republikanismus und der Demokratie ausgefochten. Er drängte auf eine Entscheidung zwischen Monarchie, Aristokratie und Demokratie.1030 Auch in der Folgezeit wurden städtische und ständische Freiheitsrechte gegen die Zentralgewalt geltend gemacht. Vor allem aber entwickelten sich demokratische und sozialistische Bewegungen, die zunächst gegen den Staat kämpften und nicht-staatliche Formen der

1029 Daß in den USA kein Etatismus und keine Fixierung des politischen Denkens auf den Staat entstand, hat seinen Grund in der andersgearteten Problemlage: Die Gründerväter der Vereinigten Staaten konnten sich auf bereits konstituierte Staaten beziehen, deren föderatives Zusammenwirken zu klären war. Zur Besonderheit ihres Politikdenkens vgl. auch H. Arendt, Über die Revolution, bes. S. 193 ff.; E. Vollrath, Grundlegung, bes. S. 100 ff., 138 ff. sowie unten Anm. 1054 f. 1030 Daß Liberalismus und Demokratie nicht gleichursprünglich sind und unterschiedliche Ziele verfolgen, betonte zu Recht C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, bes. S. 5 ff. (Vorbemerkung zur 2. Auflage von 1926): „Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein government by discussion, gehört in die Gedankenwelt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demokratie. Beides, Liberalismus und Demokratie, muß voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht“ (S. 13). Vgl. auch ders., Verfassungslehre, S. 123 ff.; W. Kägi, Rechtsstaat und Demokratie.

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Vergesellschaftung zu realisieren suchten, die aber zu guter letzt zu Kompromissen genötigt und integriert wurden. Die Auseinandersetzung eskalierte und wurde gewaltsam entschieden in den großen Revolutionen.1031 Sie fand ihren ersten Höhepunkt in den Verfassungsdebatten in Frankreich (1789/91) und in den USA (1787), in denen die gegensätzlichen Positionen frontal aufeinanderprallten. Ergebnis war ein „historischer Kompromiß“: die Institutionalisierung von konstitutionellen Monarchien bzw. von repräsentativen Republiken, die sich im 19. Jahrhundert in bürgerliche Rechtsstaaten und schließlich im 20. Jahrhundert in parlamentarische Demokratien sowie in Interventions- und Wohlfahrtsstaaten verwandelten. Die einstmals verfeindeten Positionen und ihre antagonistischen Prinzipien – staatlicher Zentralismus, Republikanismus und Konstitutionalismus – wurden in eine Synthese gebracht und relativierten sich darin wechselseitig. Dadurch wurde der Leviathan gezähmt.1032 Indem er seinen Radius selbst begrenzte, die Mitwirkung und Mitbestimmung der Bürger ermöglichte und sich um ihre soziale Sicherheit bemühte, wurde er zum entscheidenden Integrationsmedium und gewann die Anerkennung der von ihm regierten Bevölkerung, die sich nach und nach mit ihm identifizierte und sich als Staatsvolk, d. h. als Nation, verstand. Dafür waren aber noch wichtige Lernprozesse erforderlich, die im folgenden betrachtet werden müssen. Zu den bedeutendsten politischen Bewegungen wurden seit dem späten 17. Jahrhundert der Liberalismus und Konstitutionalismus einerseits, der Republikanismus und die Demokratiebewegung andererseits. Nach den europäischen Revolutionen geriet der Staat schließlich ins Kraftfeld der drei großen Weltanschauungen von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus, die seine Stabilisierung und weitere Transformation bewirkten. Wie schon in der Einleitung angekündigt, kann die Entwicklung des Staatsdenkens von Hobbes bis zur Gegenwart nicht mit der erforderlichen Akribie rekonstruiert werden. Der folgende Abschnitt muß sich vielmehr auf die Interpretation einiger markanter Positionen beschränken. Festzuhalten ist, daß die als Liberalismus und Republikanismus bezeichneten theoretischen Standpunkte und politischen Bewegungen des späten 17. und 18. Jahrhunderts sich deutlich unterscheiden von jenen, die sich in der gegenwärtigen, vom Kommunitarismus angestoßenen amerikanischen Diskussion gegenüberstehen und gewöhnlich mit denselben Namen bezeichnet werden. Diese haben ihre Lehren aus der Geschichte gezogen 1031 Zum Aufstieg des Bürgertums und zu den europäischen Revolutionen vgl. L. Bergeron u. a.; Das Zeitalter der europäischen Revolution; E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen; C. Tilly, Die europäischen Revolutionen, bes. S. 89 ff.; P. W. Schroeder: The Transformation of European Politics; E. Weis, Der Durchbruch des Bürgertums. Zur Amerikanischen Revolution siehe H. Dippel, Die Amerikanische Revolution (weitere Literatur: S. 127–133). 1032 Zum Formwandel des Staates in der Neuzeit siehe auch O. Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats; T. Schieder, Wandlungen des Staats in der Neuzeit.

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und sich mit den veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen arrangiert. In ihnen haben sich die ehemals gegensätzlichen Ideen amalgamiert. Die heutigen „Liberalen“ verfechten zwar andere Vorstellungen des richtigen Lebens als die „Republikaner“, haben sich aber mit der parlamentarischen Demokratie abgefunden. Beide Konzeptionen basieren auf der Verschmelzung der beiden gegnerischen Traditionslinien im Gefolge der großen Revolutionen. Ihre Differenz resultiert aus der unterschiedlichen Interpretation und Akzentuierung der von beiden geteilten Grundposition, wobei sich die sogenannten „Liberalen“ stärker an der Tradition des Wirtschaftsliberalismus orientieren und die ordnungsstiftende Leistung der Konkurrenz und der freien Märkte betonen, während sich die „Republikaner“ auf die politischen Erfahrungen der Antike, des klassischen Republikanismus und der modernen Demokratietheorie zurückbesinnen.1033 Deshalb lassen sich auch Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten zwischen früheren und heutigen Liberalen auf der einen, zwischen einstigen und gegenwärtigen Republikanern auf der anderen Seite erkennen. Parallelen bestehen vor allem hinsichtlich des jeweiligen Freiheitsverständnisses: Während der Liberalismus einst und jetzt primär einen negativen Freiheitsbegriff vertritt (Freiheit von äußeren Zwängen), orientiert sich der Republikanismus an einem affirmativen Begriff der Autonomie (Freiheit zu). Ihm zufolge ist die menschliche Selbstbestimmung nicht bloßes Mittel zu spezifischen Zwecken (Besitzanhäufung usw.), sondern ein positiver Wert an sich.1034 Diese Differenzen verwischen sich allerdings wieder in dem von John Rawls u. a. begründeten politischen Liberalismus,1035 der heute erneut die republikanischen Elemente im Liberalismus zur Geltung bringt und damit jene Synthese zwischen beiden Positionen wiederholt, die einst bezüglich der früheren Traditionen Immanuel Kant angebahnt hatte, in dessen Werk sich bekanntlich die Folgen der Französischen Revolution widerspiegeln. Noch stärker als Rawls betont schließlich Jürgen Habermas die Zusammengehörigkeit von Liberalismus und Republikanismus, indem er auf die demokratische Legitimation der Freiheit verweist und die Notwendigkeit der politischen Partizipation und des öffentlich-diskursivenen Vernunftgebrauchs demonstriert.1036 In diesen Konzep1033 Vgl. die idealtypische Kontrastierung von Liberalismus und Republikanismus bei J. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie; ders., Faktizität und Geltung, S. 129 ff. Der Ausdruck „Republikanismus“ meint natürlich nicht die sich heute so nennende amerikanische Partei der „Republikaner“, die nur wenig mit den Prinzipien des klassischen Republikanismus im Sinne hat und eher „liberal“ oder „neoliberal“ ausgerichtet ist. 1034 Vgl. zu dieser Unterscheidung I. Berlin, Two Concepts of Liberty; C. Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit. 1035 Vgl. J. Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus; C. Larmore, Politischer Liberalismus. 1036 Zur Unterscheidung des vom ihm selbst vertretenen „kantischen Republikanismus“ von Rawls’ „politischem Liberalismus“ vgl. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 65–127.

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tionen vermengen sich demnach die Motive und Prinzipien, die in den Anfängen der beiden Traditionen noch weitgehend geschieden waren und gegeneinander geltend gemacht wurden. Sie werden deshalb im folgenden gesondert betrachtet. aa) Liberalismus und Konstitutionalismus Der entscheidende Vorgang des 17. und 18. Jahrhunderts war die Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der liberalen Wirtschaftsgesellschaft, „in der jeder Bürger beanspruchen kann, seine Lebensführung nach den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit unabhängig und unpolitisch zu gestalten“.1037 Ihre Entstehung wurde ermöglicht durch den Staat, der die politische Macht bei sich konzentrierte, die Privatsphäre der einzelnen freisetzte und so den erforderlichen politikfreien Raum für die Entfaltung kapitalistischer Produktionsund Lebensverhältnisse schuf.1038 Dadurch gewann der Begriff Bürgerschaft einen neuen Gehalt und Sinn.1039 Bürger meinte nun nicht mehr, wie im Aristotelismus, den politischen Aktivbürger, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (citoyen), sondern den Menschen, der sich mit seinesgleichen vergesellschaftet (bourgeois).1040 Als Voraussetzung für die Partizipation am Gesellschaftsvertrag galten Bildung und Besitz. Vorrangiges Betätigungsfeld des Bürgertums wurde die Ökonomie. Der Mensch verstand sich primär als homo oeconomicus. Ziel der Aktivitäten war die Anhäufung von Besitz und Kapital in der vom Staat geschaffenen Friedens- und Rechtsordnung. Staat und Politik wurden funktional betrachtet. Sie sollten der Bündelung und Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen dienen und das System des marktwirtschaftlich strukturierten Verkehrs der Privatpersonen rechtlich sichern.1041 Diese Rolle übernahmen sie in der Folgezeit auch. Der Staat garantierte die allgemeinen Produktionsbedingungen des Kapitals, indem er die Privateigentumsordnung schützte, den rechtlichen Rahmen der Waren- und Kapitalzirkulation herstellte und solche Aufgaben übernahm, die vom Einzelkapital nicht zu bewältigen waren (Münzprägung, Infrastrukturpolitik, Erschließung neuer Märkte usw.). Er beför1037 G. Göhler, Einführung: Die Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft, S. 237. Vgl. auch M. Riedel, Der Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs; ders., Art. Gesellschaft, bürgerliche. Zum Reflexivwerden der Trennung von Gesellschaft und Staat vgl. auch J. Keane, Despotismus und Demokratie. 1038 Zu seiner Rolle bei der „ursprünglichen Akkumulation“ und der Genese des Kapitalismus siehe oben, S. 630 ff. 1039 Vgl. R. Koselleck/K. Schreiner (Hg.), Bürgerschaft, bes. die Einleitung der Herausgeber (S. 11–39): „Von der alteuropäischen zur neuzeitlichen Bürgerschaft. Ihr politisch-sozialer Wandel im Medium von Begriffs-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichten“. 1040 Vgl. W. Mager, Respublica und Bürger, S. 83. 1041 Vgl. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, S. 12 ff. (S. 278 ff.).

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derte durch merkantilistische Politik und durch den von ihm organisierten Kolonialismus den Aufstieg der Bourgeoisie und ihren Siegeszug über die anderen Schichten der Bevölkerung (Adel, Bauern, Proletariat). Die moderne Staatsgewalt wurde so tatsächlich zum „Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“.1042 Nachdem der Kapitalismus dann aber in Gang gekommen war, konnte er auf die staatlichen Krücken verzichten und sich auf die eigenen Beine stellen. Der Staat konnte sich zurückziehen aus der Gesellschaft und diese der Logik der Waren- und Kapitalzirkulation überlassen. So jedenfalls sahen dies die aufstrebenden Kräfte des Bürgertums, die im späten 17. Jahrhundert in John Locke (1632– 1704) ihren bedeutendsten Theoretiker fanden. Zwar wollten die frühliberalen Politikphilosophen den Staat nicht zum Verschwinden bringen – dies war erst das Ziel ihrer anarchistischen Enkel im 19. und 20. Jahrhundert –, doch wollten sie seine Gewalt und den Radius seiner Aktivitäten begrenzen. Er sollte sich beschränken auf seine Funktion als Rechtsgarant, sollte zum „Nachtwächterstaat“ (Ferdinand Lassalle) werden und sich aus den Belangen der Wirtschaft heraushalten. Sein Gewaltmonopol war nötig, um Rechtssicherheit herzustellen, die Arbeiterklasse bei der Stange zu halten und die Kaufleute, Händler und Kapitalisten selbst zur Einhaltung der von ihnen geschlossenen Verträge zu zwingen. Bildet doch Vertragssicherheit eine unverzichtbare Voraussetzung des Warenverkehrs. Und ohne staatliche Gewalt gäbe es – wie besonders Hegel betonte – für die Bürger keinen ersichtlichen Grund, geschlossene Verträge einzuhalten. Es gäbe im Gegenteil Gründe genug, sie zu brechen und die jeweiligen Vertragspartner zu übervorteilen und zu betrügen. Die Theoretiker des Bürgertums wollten deshalb den Staat nicht beseitigen, sondern nur konstitutionell begrenzen, um weiterhin von seinen Aktivitäten und Institutionen profitieren zu können, aber möglichst von seinen Interventionen verschont zu bleiben. Wichtigstes Medium der Selbstverständigung und der bürgerlichen Emanzipation wurde die moderne Aufklärung, die zur kritischen Prüfung und Hinterfragung der überkommenen, gewohnheitsmäßig verfestigten Deutungsmuster, Glaubensgewißheiten, Dogmen, Mythen und Ideologien aufrief und das damalige Wissen systematisierte.1043 Durch sie wurde das gelebte, in den gesellschaftlichen Verhältnissen verwurzelte Wissen reflexiv. Ihr Ziel war der Kampf gegen Vorurteile und Autoritäten, die der kritischen Prüfung vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) nicht standzuhalten vermögen. Ihr Medium und Prinzip war der methodische Zweifel (Descartes), die Infragestellung der zirkulierenden Meinungen, der eingelebten Selbstverständlichkeiten und der leitenden Handlungsorientierungen durch den menschlichen Verstand, der die Welt nach seiner eigenen

1042 1043

Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848). In: MEW 4, S. 464. Vgl. D. Diderot/J. L. R. d’Alembert (Hg.), Encyclopédie.

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Logik, mit seinen Begriffen, Grundsätzen und Regeln vermißt und sich selbst von den Vorgaben und aus den Banden der Tradition emanzipiert. Zwar hatte das menschliche Denken dieses Ziel seit jeher verfolgt,1044 doch gilt der Begriff Aufklärung seit der Geschichtsphilosophie und dem Historismus des 19. Jahrhunderts zugleich als Epochenbegriff, der für die Zeit vom späten 17. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert reserviert wird.1045 Er dient der Zusammenfassung und Vereinheitlichung jener heterogenen und in sich widersprüchlichen Vielfalt an geistigen und politischen Bestrebungen und Positionen, die – basierend auf dem philosophischen Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibniz) und Empirismus (Bacon, Locke, Hume), dem Humanismus (Petrarca, Erasmus, Melanchthon) und der neuzeitlichen Naturwissenschaft (Galilei, Newton) – in England und Schottland entstanden, in Frankreich durch Montesquieu, Condorcet, Voltaire, Rousseau, Diderot, d’Alembert, Helvétius, Holbach u. a. ihre größte Verbreitung und Verdichtung und ihren Höhepunkt, in Deutschland mit Christian Wolff, Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant ihren Abschluß und in der Romantik und Gegenaufklärung schließlich ihr Antidot fanden, das zur kritischen Selbstreflexion der Aufklärung inspirierte. Ziel und Zweck der Aufklärung war die Erlangung von Mündigkeit, d. h. der Fähigkeit, den eigenen Verstand ohne Lenkung und Bevormundung durch andere zu gebrauchen.1046 Gemeinsames Anliegen der unterschiedlichen Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts war die Ersetzung des Glaubens durch methodisch gewonnenes und gesichertes Wissen. Erstrebt wurde die Säkularisierung und Humanisierung des Denkens und der Kultur, die freie Entfaltung von Wissenschaft und Technik, die kritische Durchdringung und Auflösung der verfestigten Dogmen und Normen des Feudalismus, Absolutismus und Konfessionalismus. Agens war die Distanzierung von den herrschenden Mächten und den von ihnen oktroyierten Vorschriften und Gesetzen, die Eindämmung irrationaler Macht und Gewalt, die Zurückweisung und Absetzung der etablierten Autoritäten in Kirche und Staat, die Veränderung der tradierten Gewohnheiten und Sitten und die Orga1044 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung; J. Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur. 1045 Vgl. etwa W. Euchner, Art. Aufklärung; Fetscher/Münkler (Hg.), Handbuch. Bd. 3; P. Kondylis, Die Aufklärung; H. Münkler, Art. Aufklärung; R. Porter, Kleine Geschichte der Aufklärung (weitere Literatur: S. 95 ff.); H. Möller, Vernunft und Kritik; A. Schwan, Politische Theorien des Rationalismus; H. Stuke, Art. Aufklärung. 1046 Vgl. I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In ders., Werke. Bd. XI, 53–61: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (S. 53).

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nisation der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse nach den Prinzipien und Regeln der Vernunft.1047 Politische Leitideen waren Freiheit und Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität, unveräußerliche Menschenrechte und universalistische Moral, Individualismus und Kontraktualismus, Selbstbestimmung und Demokratie sowie die rechtliche und verfassungsmäßige Begrenzung der Staatsgewalt (Konstitutionalismus). Zum theoretischen Fokus wurde die seit Giambattista Vico entwickelte Geschichtsphilosophie mit dem ihr inhärenten Fortschrittsoptimismus, die Vorstellung einer einheitlichen Menschheitsgeschichte, die nicht aus isolierten Ereignissen besteht, sondern einen kohärenten Prozeß beschreibt, einen ihr innewohnenden Sinn verwirklicht und einem erkennbaren Ziel zustrebt.1048 Die Menschheit durchläuft demzufolge – über unterschiedliche Stadien – insgesamt eine unaufhaltsame Entwicklung vom Niederen zum Höheren, vom Unentwickelten zum Entwickelten, vom Schlechten zum Guten, die dem erfahrenen Leid, der erlittenen Knechtschaft, Schmach und Unterdrückung einen gattungsgeschichtlichen Sinn und Stellenwert verleiht. Resultat der Aufklärung war die Befreiung des Denkens aus dem Bann der Tradition, die Entfesselung von Wissenschaft und Technik, die Entfaltung des Kapitalismus und die fortschreitende Naturbeherrschung, die Unterwerfung und Nutzbarmachung der äußeren und der inneren Natur des Menschen. Politische Konsequenz war die Infragestellung der bestehenden Institutionen und die Dekonstruktion ihrer Legitimationsideologien. Die Aufklärung bewirkte jene semantische Revolution, die in der „Sattelzeit“ (R. Koselleck) zur Umstellung der Terminologie von den alten statischen auf die modernen Bewegungsbegriffe und damit zu einer neuen Zeit- und Wirklichkeitserfahrung führte. Sie wurde so zur Philosophie der Französischen Revolution,1049 die ihrerseits die Voraussetzungen schuf für die Institutionalisierung bürgerlicher Rechtsstaaten, die Relativierung und Ersetzung der alten Monarchien durch parlamentarische Systeme und die allmähliche Demokratisierung der Politik. Das bürgerliche Emanzipationsbestreben richtete sich sowohl auf die Politik wie auf die Ökonomie. Gefordert wurden Mitbestimmung und Handelsfreiheit. Da das „demokratische“ Verlangen vor 1789 aber in den meisten Staaten nicht zum Zuge kam, konzentrierte man sich auf die Akkumulation von Reichtum und Kapital. Zur dominanten Haltung wurde der „Besitzindividualismus“.1050 Die 1047 Daß die moderne Aufklärung nach ihrem Selbstverständnis eine Antwort der Intellektuellen auf ihre Situation im absolutistischen Staat darstellt, betont Koselleck, Kritik und Krise, 2. Kap, (S. 41–103). 1048 Siehe dazu oben den Exkurs über Prophetie und moderne Geschichtsphilosophie (S. 231 ff.) und die dort genannte Literatur. 1049 Vgl. B. Groethuysen, Philosophie der Französische Revolution; ders., Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. 1050 Vgl. Macpherson, Die politische Theorie, bes. S. 295 ff. (zu den Merkmalen des „Besitzindividualismus“).

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Verweigerung von Partizipationsspielräumen in der staatlichen Politik führte zur Entwertung des Politischen im bürgerlichen Denken. Die Theoretiker der Bourgeoisie stuften den Staat zu einer der Wirtschaft nebengeordneten Instanz herab und instrumentalisierten ihn zu einem bloßen Garanten des Privateigentums und der individuellen Freiheit. Nicht die bedingungslose Hingabe der einzelnen für das politische Gemeinwesen, das Engagement für Volk und Vaterland wurde gefordert, sondern Freiheit von staatlicher Bevormundung und Gängelei. Während der spätere Nationalismus die Selbstaufopferung der Individuen für den Ruhm und die Ehre des jeweiligen Nationalstaates propagierte, sollte der Staat nach liberalem Verständnis in den Dienst der individuellen Freiheit treten, deren Sicherung zu seiner vornehmsten Aufgabe erklärt wurde. Nicht die Individuen haben sich zu opfern für den Glanz des Staates, sondern dieser hat seine geballte Macht für den Schutz ihrer Autonomie und ihres Lebens bereitzustellen. „Das große und hauptsächliche Ziel also, zu dem sich Menschen in Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist die Erhaltung ihres Eigentums“, schreibt John Locke,1051 der Theoretiker der aufkeimenden bürgerlichen Gesellschaft und des britischen Konstitutionalismus. Eigentum (property) meint bei Locke jedoch nicht nur den (Grund-)Besitz (estate), sondern zugleich die Freiheit (liberty) und das Leben der Individuen (life). Aufgabe und Zweck des Staates ist folglich der Schutz dieser Trias, wobei die Freiheit ihr wichtigstes Betätigungsfeld eben in der Besitzanhäufung findet. Locke entwikkelte die erste umfassende Begründung des bürgerlichen Privateigentums und wurde dadurch zum Leitstern der klassischen politischen Ökonomie. Er deduzierte das Recht auf Eigentum aus dem Recht auf Selbsterhaltung. Das Prinzip der Selbsterhaltung fand er – im Gegensatz zu Hobbes – nicht im Kampf, sondern in der Arbeit. Aus dem Eigentumsrecht und dem Recht auf Leben und Freiheit ergab sich die Forderung nach einer Beschränkung der Staatsgewalt. Der Emanzipation der Politik von der Religion – reflektiert von der frühneuzeitlichen Staatstheorie – sollte die Emanzipation der Ökonomie von der Politik folgen. Die ökonomischen Beziehungen sollten dem Zugriff der Obrigkeit entzogen, die bürgerliche Gesellschaft sollte aus dem Staatsleben freigesetzt, der Merkantilismus durch ein System der Handelsfreiheit abgelöst werden. Der Staat sollte nur so viel Macht besitzen, wie nötig ist, um das Leben der einzelnen und ihr privates Eigentum vor Übergriffen anderer zu schützen. Er sollte selbst nicht in die Eigentumsordnung eingreifen dürfen. Damit bereitete Locke den Boden für den Übergang der merkantilistischen Theorie in die Theorie der Physiokraten und der schottischen Moralphilosophen (John Millar, Adam Ferguson und Adam Smith). Während er im Essay Concerning Human Understanding (1690) den Sensualismus als spezifische Variante des Empirismus begründete (s. o., S. 654 f.), hat 1051 J. Locke, Second Treatise of Government (1690), IX./124. Dt.: Zwei Abhandlungen über die Regierung [bzw. Über die Regierung, S. 96].

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Locke in den Two Treatises of Government (1690) den Konstitutionalismus grundgelegt.1052 Er wurde so zum Theoretiker der glorious revolution von 1688 und erlangte entscheidenden Einfluß auf das angelsächsische Politikdenken. Der Begriff des Eigentums, der bei Locke zugleich den Besitz, die Freiheit und das Leben der einzelnen umfaßte, wurde in der Folge zum Zentralbegriff, um den das polit-ökonomische Denken – nicht nur der Liberalen, sondern auch noch ihrer sozialistischen und kommunistischen Gegner – kreiste. Dabei war er zunächst ein bloßes Hilfsprodukt und eine Krücke der juristischen Argumentation. Er war, wie Niklas Luhmann gezeigt hat, ein Kompensationsmittel, ein Konstrukt, mit dessen Hilfe seit dem 17. Jahrhundert die Legalität des Rechtssystems zu begründen versucht wurde, nachdem die Berufung auf den göttlichen Willen nicht mehr überzeugte.1053 Er wurde geprägt, um den Zirkel in der Rechtfertigung des Rechtssystems aufzulösen, der daraus resultiert, daß für die Legitimation des Rechts immer schon das Recht in Anspruch genommen und demnach vorausgesetzt werden muß. Die Rechtfertigung einzelner Rechtsinstitute muß stets auf den Bestand einer Verfassungs- und Rechtsordnung rekurrieren. Ohne diesen Rekurs würde sie keinen Boden finden und ins Leere laufen. In diesem Dilemma wurde der Eigentumsbegriff entdeckt, der eine Lösung der Paradoxie versprach. Indem der Liberalismus das Recht als Garanten des Eigentums und damit funktional begründete, vermied er den fehlerhaften Zirkel. Doch nicht nur das Recht, sondern auch die Freiheit und die Politik wurde im Hinblick auf das Eigentum begriffen, wie aus der politischen Philosophie Lockes erhellt. Locke hatte kein Verständnis mehr für die Probleme, die knapp vierzig Jahre früher Thomas Hobbes zu lösen suchte. Der Friede war hergestellt, der Dreißigjährige Krieg beendet, die konfessionellen Bürgerkriege waren stillgestellt. Deshalb konnte nun die Frage aufgeworfen werden, ob das Ungeheuer Leviathan tatsächlich noch länger nötig ist. Wenn der Staat zur Regelung des Zusammenlebens schon unabdingbar ist, dann sollte wenigstens sein Spielraum und seine Macht begrenzt werden. Er sollte sich dem Gesetz unterwerfen, das er selbst erläßt. Locke begründete darüber hinaus die Gewaltenteilung zwischen Krone und Parlament, wie sie in der Bill of Rights festgelegt wurde. Hatte einst Hobbes das ewige Machtgerangel zwischen beiden als eine der beiden Hauptursachen des Bürgerkrieges und des Unfriedens gesehen, so sollte es nunmehr auf Dauer gestellt werden und Grundprinzip der Verfassung sein. Der König sollte die Außen1052 Zu Lockes politischer Philosophie vgl. W. Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke; ders., Locke; J. W. Gough, Locke’s Political Philosophy; P. Laslett, Introduction; Macpherson, Die politische Theorie, S. 219 ff.; P. J. Opitz, John Locke; R. Polin, La Politique Morale de John Locke; M. Seliger, John Locke; Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 210 ff. 1053 Vgl. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3, Kap. 1: „Am Anfang war kein Unrecht“ (S. 11–64). Siehe auch J. G. A. Pocock, Autorität und Eigentum. Die Frage nach den liberalen Ursprüngen. In ders., Die andere Bürgergesellschaft, 97– 133.

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politik, das Parlament die Innenpolitik bestimmen. Es ging somit (noch) nicht um die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, sondern um die Teilung und Balance der Staatsgewalt zwischen König und Parlament. Dennoch hatte Locke ein wichtiges Verfassungsprinzip begründet, das später weiter differenziert und in den Rechtsstaaten institutionell verankert wurde. Die Idee der Gewaltenteilung wurde vor allem in den amerikanischen Verfassungsdebatten aktualisiert und spezifiziert.1054 Im Anschluß an Locke begründeten die Verfasser der Federalist Papers (1788) – Alexander Hamilton, James Madison, John Jay – ein System der checks and balances, der wechselseitigen Begrenzung von Exekutive und Legislative sowie von Zentral- und Regionalverwaltung, wie es noch heute in seinen Grobstrukturen das politische System der USA bestimmt.1055 Die Prinzipien der Gewaltenteilung und der rechtlichen Begrenzung der Staatsgewalt wurden weiter präzisiert von Montesquieu (1689–1755), der zeigen konnte, daß die historisch gewachsenen Gesetze keine willkürlichen Festlegungen irgendwelcher Souveräne, sondern abgeleitete Momente sind, die in einer Vielzahl historischer Gegebenheiten wurzeln. Sie sind abhängig vom Gesamtzusammenhang der jeweiligen natürlichen, sozialen, ökonomischen, religiösen, politischen, klimatischen und sonstigen Bedingungen. Sie wurzeln in ganz konkreten Lebensverhältnissen, in Gewohnheiten und Sitten, die nicht zur Disposition des Souveräns stehen. Sie hängen ab von der Totalität des gesellschaftlichen Ganzen und von der geschichtlichen Lage. Dies zeigt Montesquieu in vielschichtigen und eindringlichen historischen und soziologischen Studien in seinem Hauptwerk De l’Esprit des Lois (1748).1056 Der Autor konnte zurückblicken auf eine mehr als fünfzigjährige Praxis der Gewaltenbalance in England, die ihm als vorbildlich und als beste aller damals bestehenden Ordnungen erschien (11. Buch, 6. Kap.). Als Grundvoraussetzung der Freiheit erschien ihm die strikte Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative. Die exekutive Befugnis sollte in den Händen des Königs liegen, während die Gesetzgebung Sache gewählter Repräsentanten ist. Das wirtschaftlich und geistig erstarkende Bürgertum forderte um die Wende des 18. Jahrhunderts in allen Staaten, die von der Industriellen Revolution erfaßt wurden, Einfluß bei der Gesetzgebung, um die willkürlichen Eingriffe der staat1054 Zur Entwicklung des amerikanischen Politikdenkens vgl. J. Gebhardt, Die Krise des Amerikanismus; D. Herz, Die wohlerwogene Republik; J. P. Young, Amerikanisches politisches Denken (weitere Literatur: S. 551 ff.). 1055 Vgl. A. Hamilton/J. Madison/J. Jay, Die Federalist Papers (1787/88). Dazu J. Gebhardt, ,The Federalist‘ (Literatur: S. 376–378); ders., Selbstregulierung und republikanische Ordnung; I. Hampsher-Monk, A History of Modern Political Thought. Weitere Literatur in der Bibliographie von B. Zehnpfennig im Anhang zu ihrer Ausgabe der Federalist Papers (S. 545–551). 1056 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748). Dazu B. Falk, Montesquieu (Literatur: S. 374 ff.); I. Fetscher, Politisches Denken im Frankreich des 18. Jahrhunderts, S. 441 ff.; A. Riklin, Montesquieus freiheitliches Staatsmodell; K. Weigand, Einleitung.

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lichen Exekutive in die Privatrechtssphäre zu unterbinden. Es strebte nach der „Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit“ (Wilhelm von Humboldt),1057 nach Kalkulierbarkeit und Rationalität des staatlichen Handelns. Der Staat sollte durch die Garantie von Grund- oder Menschenrechten einen Freiraum seiner Bürger ausgrenzen und sich im Hinblick auf diese selbst begrenzen. Die Verwaltung sollte dem Gesetz unterworfen werden, das Gesetz selbst sollte in parlamentarischen Verfahren zustande kommen. In Preußen hatte Friedrich II. begonnen, die Monarchie an die Prinzipien einer Repräsentativverfassung und der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen.1058 Veranlaßt durch den Müller-Arnoldschen Prozeß, hatte er in einer Kabinettsordre vom 14. April 1780 die Ausarbeitung eines allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten angeregt, um der Willkür seiner Beamten Schranken zu setzen. Da Justus Möser, Carl Gottlieb Svarez, Ludwig August Schlözer und Johann Heinrich Casimir von Carmer ihren Auftrag pflichtgemäß erledigten, konnte das Allgemeine Landrecht 1794 in Kraft treten.1059 Allerdings verweigerten die anderen deutschen Staaten die Übernahme, weshalb die von Friedrich dem Großen erhoffte Ausgestaltung zu einem nationalen Rechtssystem verhindert wurde.1060 Die konstitutionelle Bewegung fand ihr klassisches Resultat in Frankreich in der Erklärung der Menschen- und Staatsbürgerrechte vom 26.8.1789.1061 Dadurch wurde der politische Staat vollendet. Die Religion wurde zur Privatsache erklärt, die bürgerliche Gesellschaft gänzlich vom Staat getrennt, der ihre Sicher1057 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), S. 115, 118. 1058 Zur Entwicklung des Konstitutionalismus in Deutschland vgl. H. Dippel (Hg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland; E. Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung (mit Forschungsbericht sowie umfassenden Quellen- und Literaturhinweisen); D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte; ders., Entstehungs- und Verwirklichungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus. In ders., Die Zukunft der Verfassung, 31–66. Zum Politikdenken in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus vgl. auch R. Saage, Absolutismus und Aufklärung in Deutschland. 1059 Vgl. H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts; ders., Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. 1060 In Preußen selbst wurde es alsbald kritisiert und theoretisch unterlaufen von der Historischen Rechtsschule Savignys, die zu den „klassischen“ Quellen des Römischen Rechts zurückstrebte und die integrierten Elemente des gemeinen deutschen Rechts zu eliminieren trachtete. Vgl. dazu die anonym erschienenen Artikel in den von Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer hgg. Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst (Nachdruck Glashütten/Ts. 1971/72), Nr. 203 f. (24. u. 25. August 1838), Sp. 1617–1632; Nr. 223–225 (17.–19. September 1838), Sp. 1777–1800; Nr. 253–256 (22.–25. Oktober 1838), Sp. 2017–2048; Nr. 278–280 (20.–22. November 1838), Sp. 2217–2238 sowie Nr. 239–245 (5.–12. Oktober 1839), Sp. 1905–1960 (von Johann Caspar Bluntschli). Zu Savigny vgl. E.-W. Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts (1965). In ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 9–41. 1061 Vgl. R. Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte.

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heit und den Schutz der persönlichen Freiheitsrechte zu seiner zentralen Aufgabe erklärte. Durch die in der Folge ausgearbeiteten Verfassungen beschränkte sich die Staatsgewalt im Hinblick auf die gleichen Rechte ihrer Untertanen: liberté, propriété, sûreté, résistance à l’oppression (Art. 2). Zentrale Elemente wurden Rechtsgleichheit, allgemeine Erwerbs- und Vertragsfreiheit sowie die Garantie des erworbenen Eigentums. Ernst-Wolfgang Böckenförde beschreibt den revolutionären Umbruch und die damit vollzogene Umstellung der Staatsfunktionen wie folgt: „Der Staat ist politische Herrschaftsorganisation zur Sicherung der natürlichen und vorstaatlichen Rechte und Freiheiten des einzelnen. Sein Um-willen und seine Legitimation hat er nicht in seiner geschichtlichen Herkunft oder göttlichen Stiftung, nicht im Dienst an der Wahrheit, sondern in der Bezogenheit auf die freie selbstbestimmte Einzelpersönlichkeit, das Individuum. Seine Basis ist der Mensch als Mensch“.1062 Die Folgen dieser Wende von 1789 hat der junge Marx recht plastisch beschrieben, der in seinem Aufsatz Zur Judenfrage (1844) eine kritische Analyse der Déclaration unternahm.1063 Seine Polemik wirft ein helles Licht auf den Sachverhalt, soll deshalb ausführlich zitiert werden. Wie Marx betont, sind die von der Nationalversammlung beschlossenen Menschenrechte, die droits de l’homme – im Unterschied zu den Staatsbürgerrechten, den droits du citoyen – „nichts anderes . . . als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen“ (S. 364). Die in Artikel 2 garantierte Freiheit sei „die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“. „Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums“. Diese Freiheit „läßt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden“ (S. 365). „Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist . . . Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person“ (S. 366). Prägnant faßt Marx seine Gesamteinschätzung zusammen: „Es ist schon rätselhaft, daß ein Volk, welches eben beginnt, sich zu befreien, alle Barrieren zwischen den verschiedenen Volksgliedern niederzureißen, ein politisches 1062 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 56. Vgl. auch ders., Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat. In ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 146–184; ders., Die sozialen und politischen Ordnungsideen der Französischen Revolution (1991). In ders., Staat, Nation, Europa, 11– 24. 1063 Vgl. K. Marx, Zur Judenfrage (1844). In: MEW 1, 347–377. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text.

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Gemeinwesen zu gründen, daß ein solches Volk die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen feierlich proklamiert (Déclaration de 1791), ja diese Proklamation in einem Augenblicke wiederholt, wo die heroische Hingebung allein die Nation retten kann und daher gebieterisch verlangt wird, in einem Augenblicke, wo die Aufopferung aller Interessen der bürgerlichen Gesellschaft zur Tagesordnung erhoben und der Egoismus als ein Verbrechen bestraft werden muß . . . Noch rätselhafter wird diese Tatsache, wenn wir sehen, daß das Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, daß also der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird.“ (ebd.)

Die Rechtfertigung für diesen Schritt liegt darin, daß die Suche nach höherstufigen Entitäten oder Totalitäten, nach Kollektiven, die dem individuellen Leben Halt und einen tieferen Sinn vermitteln, grundsätzlich gefährlich ist. Diese Lehre kann aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen werden (die Marx natürlich noch nicht vor Augen hatte). Der Liberalismus zog die Konsequenzen aus dem Scheitern „erziehungsdiktatorischer“ Konzeptionen und forderte die Befreiung der Individuen aus holistischen Strukturen.1064 Sie sollten ihre Beziehungen im gesellschaftlichen Leben mit Hilfe von Verträgen und Abmachungen selbst gestalten. Es war Adam Smith, der erkannte, daß kein Mensch, weder ein Philosoph noch ein Staatsmann, verbindlich begründen kann, was für jeden einzelnen das Beste ist.1065 Deshalb sollte es jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Fasson er selig werden möchte. Der schottische Moralphilosoph vertraute darauf, daß eine unsichtbare Hand (invisible hand) die ungeordneten Einzelaktivitäten koordinieren und das Ganze irgendwie zum Rechten lenken werde.1066 Die Marxsche Kritik dagegen ist gegen das liberale Vertrauen in die Konkurrenz und die individuelle Selbstbestimmung gerichtet und bezweifelt die Fähigkeit der Menschen zur freiheitlichen Konfliktregelung. Sie reagiert auf die seinerzeit noch ungelöste „soziale Frage“, auf die Entstehung des Proletariats und die Formierung der Arbeiterbewegung. Die französischen Revolutionäre hingegen hatten der persönlichen Freiheit Vorrang vor der materiellen Sicherheit eingeräumt. 1064 Vgl. dazu auch die jüngeren Kontroversen zwischen Liberalismus und Kommunitarismus: A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Zur Verteidigung des Liberalismus bes. J. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch. Ebd., 36–67; C. Larmore, Politischer Liberalismus. Ebd., 131–156; M. Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus. Ebd., 157–178. Ferner C. Zahlmann (Hg.), Kommunitarismus in der Diskussion. 1065 Vgl. A. Smith, The Theory of Moral Sentiments (1759). Dazu G. Huber, Adam Smith: Der Zusammenhang von Moralphilosophie, Ökonomie und Institutionentheorie. 1066 Vgl. A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776). Dazu H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft.

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Individuelle Freiheit war zur obersten Maxime geworden. Gleichheit und Solidarität wurden ihr nachgeordnet. Die Gleichheit beschränkte sich auf ihren juristischen Aspekt, auf die Gleichheit vor dem Gesetz, das – nach einem Wort von Anatol France – Armen und Reichen gleichermaßen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.1067 Staatsbürger war, wer über Bildung und Besitz verfügte. Alle anderen blieben von der Teilhabe an der Politik ausgeschlossen. Gesellen, Dienstboten, Unmündige, „alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit“, bemerkte Immanuel Kant, dessen republikanische Gesinnung von niemandem in Zweifel gezogen wird, lapidar und apodiktisch.1068 Die politische Neutralisierung dieser Klassen- und Geschlechterspaltung war das Ziel der sozialen Bewegungen und Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts, die zum Katalysator der weiteren Demokratisierung des Staates und der Fortbildung des liberalen zum sozialen Rechtsstaat wurden. Im Unterschied zu den Franzosen verzichteten die Engländer auf die schriftliche Fixierung der Verfassung. In Deutschland fand der Konstitutionalismus seine Zuspitzung in der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaates, wie sie im 19. Jahrhundert von Robert von Mohl, Rudolf von Gneist, Otto Bähr u. a. begründet wurde.1069 Anlaß für ihre Ausarbeitung war das Scheitern der 48er Revolution. Das Fiasko des deutschen Bürgertums beim Griff nach der politischen Macht hatte zur Folge, daß es sich mit dem Versprechen des Monarchen begnügen mußte, er werde seine Bürokratie rechtlich zügeln und an konstitutionelle Schranken gewöhnen. Ergebnis war die Selbstbegrenzung der Staatsgewalt hinsichtlich der bürgerlichen Freiheitsrechte sowie die Ausgestaltung des Verwaltungsrechts, die das staatliche Handeln für alle Bürger berechenbar machte. Wie unterschiedlich die einzelnen Verfassungen auch waren, die in der Folgezeit geschaffen wurden, ihnen allen ist gemeinsam, daß die bürgerlichen Rechtsstaaten keine höheren sittlichen oder religiösen Ziele mehr verfolgten, sondern sich auf die Garantie der Rechtsordnung konzentrierten und sich selbst den von ihnen erlassenen Gesetzen unterwarfen. Diesen Punkt hatte einst schon Friedrich Julius Stahl betont, dessen klassische Formulierung allgemeine Zustimmung fand und –

1067

A. France, Die rote Lilie, S. 70. I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), I. Teil, § 46, Anm. (S. 137 f.). 1069 Vgl. R. Bäumlin, Art. Rechtsstaat; E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs; ders., Begriff und Problem des Verfassungsstaates. In ders., Staat, Nation, Europa, 127–140; M. Tohidipur (Hg.), Der bürgerliche Rechtsstaat – darin bes. I. Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaates (Bd. 1, 13–81) und U. K. Preuß, Nachträge zur Theorie des Rechtsstaats (ebd., 82–100); F. L. Neumann, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Sozialismus (118– 126). 1068

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wie Rudolf von Gneist bemerkte – auch von jedem Gegner der Ansichten Stahls „wörtlich unterschrieben“ werden konnte:1070 „Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen, als es der Rechtssphäre angehört, d. i. bis zur notwendigsten Umzäunung“.

Selbstbegrenzung der Staatsgewalt durch Garantie von Grund-, Menschenoder Freiheitsrechten, Verwaltungsrecht und Gewaltenteilung – dies sind die wichtigsten Merkmale des bürgerlichen Rechtsstaates. Die Privatsphäre der Bürger wurde für sakrosankt erklärt, der Staat verpflichtete sich, sie zu schützen und nicht durch willkürliche Eingriffe zu verletzen. Er wurde so zum Garanten der Freiheit und der Privateigentumsordnung und damit der weiteren Kapitalisierung des gesellschaftlichen Lebens. Der Staat sollte stark genug sein, um die Ordnung aufrechterhalten zu können. Er sollte aber gleichzeitig ein schwacher Staat sein und sich auf seine Rolle als Ordnungshüter beschränken. Dieses Paradoxon hat Ulrich K. Preuß auf den Punkt gebracht: „Individuelle Freiheit durch eine starke öffentliche Gewalt, Limitierung der öffentlichen Gewalt zur Sicherung einer Sphäre individueller Freiheit – dies sind die beiden widersprüchlichen Fundamentalsätze des bürgerlichen Rechtsstaates“. „Um es pointiert auszudrücken: der Staat soll durch Recht Ordnung stiften und dem Recht unterworfen sein, obwohl die Schaffung und die Geltung von Recht ihn als vorrechtliche Ordnungsmacht voraussetzt“.1071 Eine Lösung dieses Zirkels versuchte die Demokratietheorie, die im folgenden zu betrachten ist. Ihre Entfaltung machte deutlich, daß der Rechtsstaat ohne Demokratie unvollständig ist.1072 Ohne die Stütze einer gefestigten und lebendigen Zivilgesellschaft stünde er stets in Gefahr, mit seinen eigenen Mitteln ausgehebelt und in eine Diktatur überführt zu werden. Dies ist die Lehre aus der Geschichte der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. bb) Republikanismus und Demokratie Die Theoretiker des aufstrebenden Bürgertums hatten sich mit dem Staat angefreundet. Die Philosophen des Liberalismus und Konstitutionalismus wollten nur seinen Radius begrenzen und plädierten in der Regel für die konstitutionelle 1070 F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts. Bd. 2, § 36, S. 137. Vgl. R. v. Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte, S. 60; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 125 f. 1071 U. K. Preuß, Aufrüstung der Normalität, S. 18. Vgl. auch P. C. Mayer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates, S. 37 ff. 1072 Vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung; ders., Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie. In ders., Die Einbeziehung des Anderen, 293–300; ders., Der demokratische Rechtsstaat.

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Monarchie und das Zusammenspiel von König und Parlament. Sie hatten mit Demokratie nichts im Sinn. Politische Mitwirkung sollte an (Grund-)Besitz und Bildung geknüpft bleiben. Frauen, Mittellose, Dienstpersonal, Handwerker, Lohnarbeiter, Almosenempfänger usw. blieben ausgeschlossen. Den Liberalen waren aber schon früh Denker an die Seite bzw. entgegengetreten, die weitergehende Forderungen erhoben, die Rechte auch des niederen Volkes geltend machten und nicht-staatliche Formen der Vergesellschaftung und der Regierung propagierten. Die frühneuzeitlichen Utopisten Morus, Campanella und Bacon wurden schon erwähnt. Sie begründeten Alternativen zum Staat und suchten den Ausweg aus der frühneuzeitlichen Malaise in herrschaftsfreien Kollektiven, die sich auf der Basis gemeinsamen Eigentums selbst verwalten. Ihre Motive wurden aufgegriffen und weiterentwickelt von den neuen sozialen Bewegungen, die sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert formierten.1073 Es gab folglich weiterhin antietatistische Positionen und Bewegungen, die andere Ordnungsformen ersannen und in der Praxis erprobten. Während die Anhänger des alten Universalismus und der feudalen Ständeordnung ins Hintertreffen gerieten, erwachten die Unterschichten und erhoben eigene Ansprüche auf ein würdiges und gottgefälliges Leben. Zu den bedeutendsten vorwärtsweisenden Strömungen wurden der Republikanismus, die Demokratiebewegung und der Sozialismus.1074 Sie setzten ihre Hoffnungen nicht auf den Staat, sondern auf die Selbstverwaltung der Aktivbürgerschaft, des ganzen Volkes bzw. der unterdrückten Klassen. Wegbereiter waren erneut die Engländer und Franzosen. Schon zu Beginn der Englischen Revolution waren Stimmen laut geworden, die eine Reform des Wahlrechts forderten. Es sollte von der Größe des Besitzes unabhängig und von den freien Grundbesitzern und freien Mitgliedern der Zünfte auf Erbpächter, Händler, Handwerker usw. sowie auf alle Angehörigen der Armee ausgedehnt werden. Dies war die Forderung der Levellers („Gleichmacher“), deren bedeutendste Repräsentanten John Lilburne (1614–57), Richard Overton und William Walwyn (1600–ca. 1680) waren.1075 Sie verlangten Rechtsgleichheit und eine geschriebene Verfassung, deren Basis das Agreement of the People (1647) sein sollte, ein Dokument, das den Grundriß der erstrebten Ordnung enthielt. Ihm sollten alle Parlamente und Regierungen untergeordnet sein. Die Nation wurde als Gemeinde freier Christen, das Volk als Aktivbürgerschaft nach

1073 Zur weiteren Entwicklung des utopischen Denkens vgl. R. Saage, Politische Utopien der Neuzeit; A. Soboul, Aufklärung, Gesellschaftskritik und Utopie im Frankreich des 18. Jahrhunderts; F. Bedarida, Der Sozialismus in England bis 1848. 1074 Zur Formierung der sozialen Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert vgl. W. Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts (Literatur: S. 304 ff.). Sowie unten den Abschnitt Sozialismus und Staat (S. 776 ff.). 1075 Vgl. W. Haller (Hg.), Tracts on Liberty in the Puritan Revolution; ders./G. Davies (Hg.), The Leveller Tracts; D. M. Wolfe (Hg.), Leveller Manifestoes of the Puritan Revolution; A. S. P. Woodhouse (Hg.), Puritanism and Liberty.

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dem Vorbild der Antike verstanden. Dafür war die politische Beteiligung auch der unteren Schichten nötig. Umstritten ist allerdings, ob die Levellers tatsächlich die ersten Radikaldemokraten waren. Crawford B. Macpherson hat diese Zuschreibung zurückgewiesen und festgestellt, sie seien vielmehr „radikale Liberale“ und Sprachrohr des Kleinbürgertums gewesen, die zwar ein allgemeines Wahlrecht für alle Männer postulierten, jedoch Bedienstete und Lohnarbeiter sowie Almosenempfänger und Bettler davon ausschlossen.1076 Damit hätten sie zwei Dritteln aller Männer das Stimmrecht vorenthalten, weshalb von „Demokratie“ keine Rede sein könne. Dennoch war ein wichtiger Schritt in ihre Richtung getan. Wie die Kritiker Macphersons betonen, haben die Levellers eine Gesellschaft von autonomen Kleinproduzenten erstrebt, die keine Bettler und Lohnabhängige mehr kennt. In ihr wäre das Wahlrecht folglich tatsächlich verallgemeinert gewesen.1077 Solange dieses Ziel jedoch noch nicht erreicht war, sollten Abhängige ausgeschlossen bleiben, weil Lehrlinge, Diener oder Almosenempfänger, wie Maximilien Petty bemerkte, „vom Willen anderer abhängen und Angst hätten, ihnen zu mißfallen“.1078 Darüber hinaus sahen sich die Levellers der Kritik Oliver Cromwells und seines Schwiegersohnes Henry Ireton konfrontiert, die ihnen in den Putney-Debatten im Oktober 1647 vorwarfen, sie tendierten zu Anarchie und Kommunismus, da ein allgemeines Wahlrecht die Eigentumsordnung zerstören würde. Um diesen Vorwurf zu entkräften, mußten sie ihre Position abschwächen, die dadurch tatsächlich zweideutig wurde. Mark Goldie kommt deshalb zu dem Schluß, „daß die Levellers von der Bejahung eines generellen Wahlrechts ausgingen, dann aber zu einem Kompromiß mit den Generälen gelangten“ (S. 323). Radikalere Positionen vertraten die Diggers, die sich gegen die Einhegungen des Gemeindelandes wehrten, in Survey Land besetzten und gemeinsam bearbeiteten.1079 Ihr Ziel war die Schaffung von sozialer Gleichheit auf der Basis kollektiven Eigentums.1080 „Sie nannten sich die wahren Leveller oder Digger, d. h. Gräber, da für sie Freiheit und Gleichheit unter Gott nur bedeuten konnten, daß die Armen auf den gemeindeeigenen Fluren und Ödland graben dürfen, um sich durch die Bestellung des Gemeindelandes eine unabhängige Lebensgrundlage zu schaffen“ (S. 116). Sie wollten „keineswegs die Gutsherren und Freibauern ent-

1076

Vgl. Macpherson, Die politische Theorie, S. 126 ff.; hier: S. 180. Vgl. zum folgenden Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, S. 321 ff. 1078 Zitiert nach Goldie, S. 323. Zu den Levellers vgl. auch G. E. Aylmer (Hg.), The Levellers; H. N. Brailsford, The Levellers. Zur Rolle des Puritanismus in der Englischen Revolution siehe auch die oben (S. 640, Anm. 821) genannte Literatur. 1079 Vgl. L. H. Berens, The Digger Movement; E. Bernstein, Sozialismus und Demokratie; Goldie, Absolutismus, S. 325 f. 1080 Siehe zum folgenden J. Gebhardt, Gerrard Winstanley. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 1077

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eignen, sondern planten eine Agrarkommune auf dem Grund und Boden, der ihrer Meinung nach Gemeineigentum des englischen Volkes war“ (S. 117). Ihr bedeutendster Kopf war Gerrard Winstanley (1609–ca. 1676), der in The true Law of Freedom (1652) das Konzept eines christlich inspirierten kommunistischen Commonwealth begründete.1081 Er attackierte das Privateigentum als Ursache aller sozialen Ungerechtigkeit und stellte der bürgerlichen das Bild einer besseren Gesellschaft entgegen. In ihr sollte jegliche Herrschaft beseitigt sein und das „allgemeine Gesetz der Vernunft und der Gerechtigkeit“ regieren. „Sobald dieses allgemeine Gesetz der Gerechtigkeit jeden Mann und jede Frau ergreift, wird niemand mehr an irgendein Geschöpf Ansprüche stellen und sagen: Dies ist mein und das dein, dies ist mein Werk und das deins, sondern ein jeder wird mit Hand anlegen, um die Erde fruchtbar zu machen und das Vieh aufzuziehen, und alle werden an dem Segen der Erde in gleicher Weise teilhaben . . . Es wird weder Kaufen noch Verkaufen und auch keine Handelsplätze oder Märkte geben, sondern die Erde wird allen Menschen zur gemeinsamen Schatzkammer dienen“.1082 Während die Levellers und Diggers in der Praxis scheiterten, war der Republikanismus nach der Hinrichtung des Königs in England für einige Jahre erfolgreich. Er fand seine mustergültige Begründung in The Commonwealth of Oceana (1656), das James Harrington (1611–77) nur wenige Jahre nach dem Erscheinen des Hobbesschen Leviathan veröffentlichte. Harrington besann sich zurück auf die antike Klugheit (phronesis, prudentia), die er der neuzeitlichen Technik entgegenstellte.1083 Politisches Ziel war die Herrschaft des Gesetzes in einer Mischverfassung, die auf dem Zusammenwirken von Senat, Volk und Magistrat beruht. Das vollkommene Gemeinwesen bestehe aus „dem vorschlagenden Senat, dem beschließenden Volk und der vollstreckenden Obrigkeit“.1084 Der Senat übt folglich – wie in der römischen Republik – beratende Funktionen aus. Er verkörpert das aristokratische, das Volk das demokratische und der Magistrat das monarchische Prinzip. Herrschaft und Privateigentum sollen nicht abgeschafft werden, die Bevölkerung teilt sich in freie Bürger und Knechte. Die Unfreien bleiben von der Teilhabe am politischen Willensbildungsprozeß ausgeschlossen, solange sie nicht selbst Besitz erworben haben, der ihnen ein selbständiges und unabhängiges Leben ermöglicht. Neben der römischen Republik diente Harrington ein idealisiertes Bild von Venedig als Orientierungsmuster.1085 In der nach seinem Vorbild konzipierten Republik ist der Staat aufgehoben bzw. untergegangen: „Oceana 1081

Vgl. G. Winstanley, Gleichheit im Reiche der Freiheit, S. 153 ff. G. Winstanley, Das neue Gesetz der Gerechtigkeit. In ders., Gleichheit im Reiche der Freiheit, 7–16; hier: S. 9. Weitere Literatur zu Winstanley verzeichnet H. Klenner im Anhang zu seiner Ausgabe (S. 369 ff.). 1083 Vgl. dazu J. Gebhardt, James Harrington, S. 92 ff.; ders., Autorität und Macht in der „Politik“ James Harringtons, S. 103 ff. 1084 J. Harrington, Oceana (1656), S. 37. 1085 Vgl. Z. S. Fink, The Classical Republicans. 1082

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bleibt eine staatslose Gesellschaft, es gibt keinen zentralen Staatsapparat, alle Verwaltung verbleibt bei den lokalen Amtsträgern, die nunmehr der Kontrolle der Bürger unterworfen sind“.1086 Auch Demokratie und Sozialismus waren ursprünglich antistaatliche Projekte oder Konzepte, Gegenentwürfe zum Staat. Daß es beide innerhalb von zentralisierten Großflächenstaaten als Staatsform geben kann, wäre den frühen Theoretikern noch nicht in den Sinn gekommen. Dazu waren weitere Lernschritte erforderlich, die erst im 19. und 20. Jahrhundert erreicht wurden. Erst im Gefolge der Französischen Revolution und speziell seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Demokraten bereit, sich mit dem Staat abzufinden und einen historischen Kompromiß mit den Anti-Demokraten einzugehen, den man konstitutionelle Monarchie oder repräsentative Demokratie zu nennen pflegte. Die Sozialisten besannen sich sogar noch später auf den Staat, der allenfalls als ein probates Mittel der Revolution, d. h. der Transformation der kapitalistischen in die sozialistische Produktionsweise betrachtet wurde, das nach vollbrachter Tat zu zerschlagen war oder aber „absterben“ sollte. Erst die Sozialdemokraten und die Stalinisten entwickelten ein affirmatives Verhältnis zum Staat, als dieser sich anschickte, Sozialstaat zu werden, bzw. als Stalin den „Sozialismus in einem Land“ praktizierte und den bestehenden hierarchischen Herrschaftsapparat als „sozialistischen Staat“ deklarierte. Die frühen Demokraten und Sozialisten jedenfalls waren Gegner des Staates. Sie zogen radikalere Konsequenzen aus den Forderungen der Liberalen und Konstitutionalisten. Ihr Ziel war nicht die Begrenzung der Staatsgewalt, sondern die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols und die Substitution des Staates durch kleinere Verwaltungseinheiten, die ein harmonischeres Zusammenleben und die demokratische Selbstbestimmung des Volkes ermöglichen. Die Demokraten, die ihren ersten neuzeitlichen Theoretiker in Baruch Spinoza (1632–77) und ihren Klassiker in Jean-Jacques Rousseau (1712–78) fanden, griffen zurück auf die Demokratietheorien der alten Griechen und orientierten sich folglich an den Strukturen der Polis, d. h. an nicht-staatlichen Organisationsformen. Die Sozialisten hingegen, die ihre Vorläufer in den englischen Diggers fanden, erstrebten zunächst kleinere Produktionseinheiten und sahen sich auch dann noch als Gegner des Staates, als sie sich auf die Große Industrie besannen. Sie wollten den Staat in die Gesellschaft zurückholen und durch freie Assoziationen ersetzen, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.1087

1086 Gebhardt, James Harrington, S. 109 f. Vgl. auch ders., Die Republik eines Humanisten; Macpherson, Die politische Theorie, S. 182 ff.; G. Nonnenmacher, Theorie und Geschichte; A. Riklin, Die Republik von James Harrington. 1087 Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848). In: MEW 4, 459– 493; hier: S. 482.

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Die Idee der Demokratie diente bis zur Französischen Revolution nur als hypothetischer Entwurf einer Verfassung, die der Monarchie und der Aristokratie – zumeist als Schreckbild – gegenübergestellt wurde. Erst in der Folgezeit erschien sie als praktikable Ordnungsform, die eine Chance auf Verwirklichung hatte. Der Begriff blieb, „ähnlich wie Aristokratie, zunächst im wesentlichen ein Wort der Gelehrtensprache“.1088 Er behielt für lange Zeit den pejorativen Klang, den er bereits bei Platon und Aristoteles gewonnen hatte. Demokratie galt als „Entartung“ (der „Politie“), als Verfallsform des Politischen, als „Massen-“ oder „Pöbelherrschaft“. Eine Ausnahme bildete im späten Mittelalter Marsilius von Padua, der die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Regierungsformen ohne Vorurteile erörterte, der aber, wie die jüngere Forschung zu Recht betonte, der mittelalterlichen Ständeordnung verhaftet blieb. Seine demokratietheoretischen Einsichten blieben jedoch lange Zeit verschüttet und deshalb wirkungslos. Erst Spinoza und Rousseau besannen sich wieder auf die politischen Erfahrungen der Griechen zurück und entwickelten einen affirmativen Demokratiebegriff, der zur Kritik des Staates dienen und zum Schlachtruf der unterdrückten Klassen in ihrem Kampf gegen Autokratie und Herrschaftsprivilegien von Adel und Klerus in Europa werden konnte. Sie erblickten in der demokratischen Regierungsform eine wünschenswerte und realisierbare Alternative zur absoluten Monarchie und zur ständischen oder parlamentarischen Repräsentation. In der Folge symbolisierte der Begriff das politische Ziel der revolutionären Bewegungen, die eine nicht-repräsentative, unmittelbare Volksherrschaft erstrebten. Daß Demokratie auch von gewählten „Stellvertretern“ oder „Abgeordneten“ praktiziert werden kann, wäre den frühen Demokraten nicht in den Sinn gekommen. Dafür stand der Begriff der Republik.1089 Der Ausdruck direkte Demokratie wäre Rousseau und allen Denkern bis zur Französischen Revolution – wie schon den alten Griechen – als Pleonasmus erschienen. In dem später geprägten Begriff repräsentative Demokratie hätten sie eine contradictio in adjecto erblickt, da Repräsentation und Demokratie in ihren Augen einen Gegensatz bildeten. Noch Kant, der sich für eine republikanische Staatsverfassung einsetzte, da diese die einzige sei, die aus der Idee des Urvertrages hervorgehe, unterschied strikt zwischen Demokratie und Republik. Während letztere eine Regierungsform bezeichne und den Gegenpart zum Despotismus bilde, meine erstere eine Form der Beherrschung, die im Gegensatz stehe zu Autokratie und Aristokratie. Während der Republikanismus auf der Gewaltenteilung basiere und „das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (Regierung) von der gesetzgebenden“ sei, vollziehe der despotische Staat solche Gesetze, die er sich selbst gegeben hat. 1088

H. Maier, Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffs, S. 189. Vgl. W. Mager, Art. Republik. Zur Differenz zwischen Republikanismus und Demokratie siehe auch G. Sartori, Demokratietheorie, S. 291 ff. Zum Widerstreit und zur schließlichen Versöhnung von Demokratie und Repräsentation vgl. E.-W. Böckenförde, Demokratie und Repräsentation. 1089

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Die Demokratie sei daher „notwendig ein Despotism“.1090 Sie kenne keine Trennung von Legislative und Exekutive, da alle Gewalt beim Volk bzw. bei der Gesamtheit der Staatsbürger verbleibt. „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volkes, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen“.1091 Nur sie sei in der Lage, die Freiheit des Menschen, die Gleichheit der Untertanen und die Selbständigkeit der Bürger zu garantieren.1092 Der kantische Vernunftstaat, der sich republikanisch regieren sollte, wurde demnach als Alternative und Gegenmodell zur Demokratie konzipiert. Dennoch konnte festgestellt werden, daß die von Kant entworfene Republik demokratischer gewesen sei als alle jemals praktizierten repräsentativen Demokratien und „noch von keiner realexistierenden Demokratie je eingeholt wurde“.1093 Der erste Philosoph, der einen affirmativen Demokratiebegriff entwickelte, war Spinoza. Er gewann diesen aus einer systematischen Kritik am Leviathan von Hobbes. Spinoza folgte im Theologisch-politischen Traktat von 1670 weitgehend den Hobbesschen Vorgaben – vom Menschenbild über die Vertragstheorie bis hin zur Staatstheorie –, diskutierte jedoch alle relevanten Probleme immer im Hinblick auf die demokratische Regierungsform, weil ihm diese als die natürlichste von allen erschien.1094 Er radikalisierte die Hobbessche Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit und postulierte nicht nur Freiheit des inneren Fühlens und Denkens, sondern das Recht der freien Meinungsäußerung (TTP XX), der Kritik und der freien Wahl der Religion. Er aktualisierte damit den Gedanken der religiösen Toleranz, der bereits in der Englischen Revolution von den Levellers vertreten wurde. Spinoza teilt somit die Grundprämissen von Hobbes, leitet aber gänzlich unhobbessche, nämlich demokratische Konsequenzen aus ihnen ab. Die Demokratie gilt ihm als natürlichste Regierungsform, weil in ihr niemand sein Recht derart auf einen anderen überträgt, daß er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen wird. Vielmehr überträgt er es auf „die Mehrheit der gesamten Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren“ (XVI, S. 240). Die Demokratie

1090 Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795). In ders., Werke. Bd. 11, 193–251; hier: S. 206 f. 1091 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), I. Teil, § 52, S. 170. 1092 Vgl. zu dieser Unterscheidung Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793). In: Werke. Bd. 11, 125–172; hier: S. 145. 1093 I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, S. 15. Vgl. auch Z. Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit; C. Langer, Reform nach Prinzipien. 1094 B. d. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat (1670), Kap. 16–20. Künftig im fortlaufenden Text zitiert als TTP.

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entspricht somit der menschlichen Natur, die ihrerseits von Gott als der „schaffenden Natur“ (natura naturans) abgeleitet wird (s. o., S. 658). Spinoza wendet sich gegen den Finalismus und Normativismus der Philosophie. Ihm zufolge basiert das teleologische Denken auf einem grandiosen Irrtum. Das Grundvorurteil der Menschen, aus dem zahlreiche weitere Fehlschlüsse resultieren, die Basisideologie der philosophischen Tradition sei die Annahme, alle Dinge in der Natur handelten so, wie die Menschen selbst, nämlich um eines Zweckes willen. Sogar Gott werde ein solches zweckhaftes Handeln unterstellt, was Spinoza für abwegig hält. Das Tun und Lassen Gottes ist ihm zufolge sinnund zwecklos. Ebenso zwecklos ist demnach die Natur und damit auch das gesellschaftliche Leben. Aus dem unhaltbaren Vorurteil über die Zweckhaftigkeit allen Seins entspringen „die Vorurteile über Gut und Schlecht, Verdienst und Verbrechen, Lob und Tadel, Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Häßlichkeit und über anderes dieser Gattung“.1095 Um diesen Fehler zu vermeiden, entwickelt Spinoza ein kausalanalytisches, ein anti-teleologisches und anti-normativistisches Politikverständnis, das nicht von irgendwelchen Wunschbildern ausgeht, sondern von der „Wirklichkeit“, das die Menschen so nimmt, wie sie in seinen Augen sind.1096 Ihm zufolge werden die Menschen von drei Grundtrieben beherrscht. Was sie als höchstes Gut ansehen, seien Gelderwerb oder Reichtum, Ehre und Sinnenlust.1097 Weitere Affekte sind Neid, Zorn, Liebe, Mitleid, Eitelkeit, Ruhmsucht usw.1098 Im Gegensatz zur philosophischen Tradition begreift Spinoza diese Gemütsbewegungen nicht als „Fehler“ der menschlichen Natur, sondern als ihre Eigenschaften. Daraus zieht er den Schluß, „daß es nicht in der Gewalt eines jeden Menschen steht, immer von seiner Vernunft Gebrauch zu machen und auf dem höchsten Gipfel menschlicher Freiheit zu stehen“ (TP II, § 8, S. 63). Das Recht und Gesetz der Natur verbiete nur das, was niemand will und kann, „aber nicht den Streit, nicht den Haß, nicht den Zorn, nicht den Schmerz, überhaupt nichts, zu dem ein Trieb uns rät . . . Denn die Natur ist nicht unter die Gesetze der menschlichen Vernunft gebannt, die nur den wahren Nutzen und die Erhaltung des Menschen bezwecken“ (ebd.; TTP XVI, S. 234). Aufgrund ihrer natürlichen Geselligkeit und ihrer permanenten Furcht vor Einsamkeit schließen sich die Menschen zu Verbänden und Bürgerschaften zusammen, die ihrer Selbsterhaltung dienen und die Verwirklichung ihrer Freiheit ermöglichen. Im Gegensatz zu Hobbes sieht Spinoza den Zweck des Staates (civi1095

Spinoza, Die Ethik (1677), I. Teil, Anhang, S. 40. Vgl. dazu bes. M. Walther, Politik, Moralität und Freiheit in der Philosophie Spinozas; ders., Die Transformation des Naturrechts in der Rechtsphilosophie Spinozas; ders., Institution, Imagination und Freiheit bei Spinoza. 1097 Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes (1677) – Abhandlung vom Staate [Tractatus politicus], S. 4. 1098 Spinoza, Abhandlung vom Staate [Tractatus politicus], I. Kap., § 4, S. 57. Künftig im fortlaufenden Text zitiert als TP. 1096

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tas) und der Regierung nicht darin, „zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann . . . Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“ (TTP XX, S. 301). Er hat dem Frieden und der Sicherheit des Lebens zu dienen (TP, V, § 2, S. 87 f.). Diese Aufgabe kann von allen drei Regierungsformen bewältigt werden. Am besten wird sie aber in einer Demokratie erfüllt, in der die Sorge fürs Gemeinwesen „einer Ratsversammlung obliegt, die aus der gesamten Menge besteht“. Liegt sie hingegen bei einigen Auserwählten, dann heißt sie Aristokratie (TP II, § 17). Die Demokratie kennt demnach kein Repräsentations- und Delegationsprinzip. Sie praktiziert die Selbstverwaltung und -bestimmung der gesamten Bürgerschaft, d. h. derjenigen, „die den Landesgesetzen allein unterstehen und dabei unter eigenem Rechte sind und ehrbar leben“ (XI, § 3, S. 179 f.). Ausgeschlossen bleiben demnach – wie schon bei den alten Griechen – ortsansässige Fremde, Frauen und Knechte, die der Gewalt der Männer und Herren unterstellt sind, sowie Kinder und Unmündige, solange sie unter der Gewalt der Eltern und Vormünder stehen (ebd.). Nun hatte Spinoza aber keine real existierende Demokratie vor Augen, denn demokratisch waren – aller Toleranz zum Trotz – auch die Niederlande seinerzeit nicht.1099 Die menschliche Natur hatte somit noch nicht den angemessenen politischen Rahmen gefunden, der ihre freie Entfaltung ermöglichte. Obgleich er gegen den Normativismus polemisierte, gelangte Spinoza mit seinen politikphilosophischen Überlegungen zu einer Kritik der niederländischen Politik.1100 Andererseits bleibt unklar, wie die Volksherrschaft tatsächlich ausgeübt werden soll. Die Ratsversammlungen, an denen alle einheimischen freien Bürger (männlichen Geschlechts) partizipieren sollen, werden wohl kaum auf nationaler oder staatlicher Ebene stattfinden können. Sie werden wohl eher in den Kommunen und kleineren Einheiten einzuberufen sein. Spinoza weiß, daß die geltenden Gesetze und die bestehenden staatlichen Institutionen nicht durch einen demokratischen Willensbildungsprozeß zustandekamen. Sie wurden von den Machthabern eingeführt. Es sind die Stärkeren, die den Schwächeren die Regeln des gemeinsamen Lebens als Normen vorschreiben. Die Menschen, heißt es im Politischen Traktat, seien so beschaffen, „daß sie außerhalb einer Rechtsgemeinschaft nicht leben können; die gemeinsamen Rechte und öffentlichen Geschäfte sind aber von äußerst scharfsinnigen, schlauen oder verschlagenen Männern eingerichtet und gehandhabt worden“ (TP, I, § 3, S. 56). So ist die Demokratie zwar die „natürlichste“ Regierungsform, ihre Verwirklichung aber bleibt der Zukunft vorbehalten. 1099

Zu politischen Lage vgl. etwa H. Lademacher, Geschichte der Niederlande. Vgl. H. Saner, Baruch de Spinoza: „Sein politisches Werk ist zugleich die indirekte, aber scharfe Kritik an der Politik der Statthalter und die gemäßigte, aber dennoch prinzipielle Kritik an der Politik der Regenten“ (S. 371). 1100

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Im Gegensatz zu den Konstitutionalisten kennt Spinoza keine Beschränkung der Staatsgewalt im Hinblick auf Grund- oder Menschenrechte. Eine Schranke derselben liegt nur in den Gesetzen der Natur. „Die summa potestas ist als plenitudo potentiae (TP 4/5, p.294) daher selbstverständlich nicht an die von ihr selber gesetzten leges civilis gebunden, sie ist daher nicht lege adstricta (TP 4/4, p.292), sondern souverän“.1101 Die Inhaber der Staatsgewalt sind selbst an kein bürgerliches Recht gebunden, sondern können Beliebiges festsetzen. Vor allem in der Demokratie gelte – wie schon Bodin und Hobbes gesehen haben –, „daß die höchste Gewalt an kein Gesetz gebunden ist, daß ihr vielmehr alle in jeder Beziehung zu gehorchen haben“ (TTP XVI, S. 238). Die bürgerlichen Gesetze „hängen bloß von dem Entschluß des Staates ab und dieser braucht, um frei zu bleiben, sich in seinem Verhalten nach niemandem zu richten als nach sich selbst“ (TP IV, § 5, S. 85). Wer sollte das Volk bzw. die Menge (multitudo) zwingen können, sich Gesetzen zu unterwerfen, die sie sich selber gegeben hat? Diese bleiben nur solange in kraft, bis sie geändert und durch neue ersetzt werden. Unumstößlich bleiben allein die Naturgesetze, die auch Gott nicht zu verändern vermag. Deren Wesen aber liegt, wie die philosophische Tradition seit Descartes festgestellt hatte, in ihrer korrekten Auslegung (vera interpretatione). Folglich stellt sich erneut die Frage, wer darüber zu entscheiden hat, was der Inhalt des Naturgesetzes ist. Wer also hat das Recht zur Interpretation? In dieser Frage läßt sich bei Spinoza ein Umbruch erkennen. Während der frühere Spinoza seine Hoffnung auf eine Vernunftgemeinschaft der gläubigen Philosophen setzte, die über den Inhalt der Naturgesetze nachdenken, beraten und entscheiden sollen,1102 vertraut der spätere auf den Staat. Und da dieser nach Möglichkeit demokratisch organisiert sein soll, ist es Sache des versammelten Volkes, über die natürlichen Rechte zu streiten und zu entscheiden. Die Ermittlung der natürlichen wie positiven Gesetze erfolgt demnach in einem öffentlich-diskursiven Willensbildungsprozeß. In diesem – von Spinoza noch nicht zu Ende geführten – Gedanken erblickt Antonio Negri „die außerordentliche Modernität der politischen Konstitution des Wirklichen bei Spinoza“: Indem er die politische Realität als schöpferische Produktion des Volkes begriff, begründete Spinoza „eine nicht-mystifizierte Form der Demokratie“ und eine „Kritik jeglicher rechtlichen Mystifikation des Staates“.1103 Spinozas Überlegungen wurden radikalisiert von Jean-Jacques Rousseau. Dieser verschärfte die Hobbes-Kritik und präzisierte den Gedanken der Volkssouve1101

M. Walther, Die Transformation des Naturrechts, S. 90. Vgl. Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück (ca. 1660). 1103 A. Negri, Die wilde Anomalie, S. 10. Vgl. auch ebd., S. 228: „Die Zerstörung jeglicher Autonomie des Politischen und die Bekräftigung der Vorherrschaft und der Autonomie der kollektiven Bedürfnisse der Massen: darin besteht die außerordentliche Modernität der politischen Konstitution des Wirklichen bei Spinoza.“ 1102

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ränität. Alle Befugnisse und Kompetenzen der Regenten leiten sich ihm zufolge her vom Willen des Volkes, den zu vollstrecken ihre Pflicht und Aufgabe ist. Die Staatsgewalt hat nicht den Willen Gottes zu exekutieren, sondern dem Gemeinwohl zu dienen, das die einzige Grundlage und Quelle ihrer Legitimität ist. Die Volkssouveränität ist unveräußerlich und unübertragbar. Der allgemeine Volkswille, die volonté générale, kann nicht von Stellvertretern „repräsentiert“, sondern nur von der Gesamtheit der Bürger realisiert werden, da einzelne mit der Ermittlung und Verwirklichung des Gemeinwohls überfordert wären. Da sich Großflächenstaaten jedoch nicht durch Zusammenkunft und öffentliche Diskussion der ganzen Bürgerschaft regieren und verwalten lassen, setzte ihnen Rousseau – inspiriert durch die erfolgreichen republikanischen Experimente in seiner Heimatstadt Genf – die Vision von kleinen und überschaubaren, direktdemokratisch organisierten Gemeinwesen nach dem Vorbild der antiken Polis entgegen, in denen die Bürger ihr tatsächliches Wollen (volonté de tous) dem allgemeinen Willen (volonté générale) angleichen, sich die Maximen der Vernunft zu eigen machen und in den Dienst des Gemeinwesens stellen, ihr privates Interesse dem der Allgemeinheit unterordnen, die Privateigentumsordnung revolutionieren und sich selbst durch eine naturgemäße Sozialisation, durch Partizipation und politisches Engagement zur Mündigkeit erziehen.1104 Rousseau attackiert die Hobbessche Repräsentationstheorie. Das Postulat der Stellvertretung basiere auf einem grundlegenden Irrtum. Wenn nämlich die Menschen, wie von Hobbes vorausgesetzt, in einem „Krieg aller gegen alle“ stehen, dann könne man von ihnen schwerlich erwarten, daß sie sich auf einen Gesellschaftsvertrag einigen. Unterstelle man aber, daß sie sich zu einem solchen Vertrag oder Bund aufraffen können, dann sei nicht einzusehen, weshalb sie sich auch noch einem Dritten unterwerfen und ihre Souveränität auf diesen übertragen sollen. Wenn sie schon durch eigene Einsicht und Vernunft dahin gelangen, Frieden zu schließen, dann kann dieser Vernunft auch zugetraut werden, daß sie die Selbstbestimmung der einzelnen in vernünftige Bahnen lenken wird. Es gibt folglich keinen Grund mehr, eine allgemeine Gewalt zu etablieren, die sie gegen ihre bessere Einsicht zwingen kann. Die Notwendigkeit dieser Übertragung oder Unterwerfung hatte sich für Hobbes ergeben, weil er den Anlaß des Gesellschaftsvertrages allein im Verlangen nach Sicherheit und Schutz erblickte. Die Motivation zum Friedensabkommen sollte aus der allgemeinen Todesfurcht entspringen, die eine Folge der natürlichen Aggressivität des Menschen ist. Gegen den Hobbesschen „Wolfsmenschen“ stellt Rousseau ein optimistischeres Menschenbild. Zwar geht auch er von der 1104 Zu Rousseaus politischer Philosophie vgl. R. Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft; I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie; ders., Politisches Denken im Frankreich des 18. Jahrhunderts, S. 477 ff.; ders., Jean Jacques Rousseau: Ethik und Politik; H. Maier, Rousseau; G. Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, S. 69 ff.; F. Müller, Entfremdung.

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menschlichen Selbstliebe (amour de soi) als Grundprinzip des sozialen Handelns aus. Anders als bei Hobbes wird daraus aber nicht die Selbstsucht (amour-propre), die Eitelkeit und Ruhmsucht – als Quelle des Krieges aller gegen alle – abgeleitet, sondern die Nächstenliebe und das Mitleid als einzige „natürliche“ Tugend.1105 Nicht die menschliche Natur, sondern die gesellschaftlichen Einrichtungen, allen voran die Eigentumsverhältnisse, zeichnen verantwortlich für die gesellschaftliche Zerrissenheit und für den üblen Zustand der Sitten. Wie einst schon Platon, so sieht auch Rousseau im Privateigentum die Hauptursache aller Laster und Verbrechen. Dies wird vor allem im Zweiten Diskurs Über die Ungleichheit zwischen den Menschen (1755) gezeigt, der die anthropologischen Grundlagen für den Contrat Social (1762) aufbereitet. Rousseau rekonstruiert darin die Genese des Privateigentums und seiner verderblichen Wirkungen. Für ihn ist der Mensch im Naturzustand gut. Verdorben wird er erst durch jene Institutionen, die zur Garantie der Eigentumsverhältnisse geschaffen werden.1106 Rousseau stellte die Idee der Selbstbestimmung und -verwaltung des Volkes gegen die Staatsidee. Demokratie und Staat schließen sich nach seiner Auffassung wechselseitig aus. Ein Großflächenstaat kann nicht demokratisch sein, die Demokratie läßt sich nicht staatlich organisieren.1107 Dies ist der Grundgedanke, mit dem die Demokraten alsbald gegen den Staat Sturm liefen – bis hin zum jungen Marx, der im Anschluß an die Franzosen des 18. Jahrhunderts bemerkte, „daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe“.1108 Rousseau selbst zweifelte allerdings an der Praktikabilität der Demokratie: „Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, daß die größere Zahl regiere und die kleinere regiert werde. Es ist nicht denkbar, daß das Volk unaufhörlich versammelt bleibe, um sich den Regierungsgeschäften zu widmen . . .“ (S. 75). Voraussetzung der Demokratie seien 1. ein sehr kleiner Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder jeden Bürger kennt; 2. „eine große Einfachheit der Sitten“ und 3. „fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen“ (ebd.). Soll sie realisiert werden, müßten folglich die bestehenden Staaten zerschlagen werden. An ihre Stelle hätten kleine, überschaubare Einheiten zu treten, in denen die Vermö1105 J.-J. Rousseau, Discours sur l’Origine de l’Inégalité parmi les Hommes (1755), S. 167 ff., 205. 1106 „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ,Das ist mein‘ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft (société civile). Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: ,Hört ja nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde keinem!‘“ (Discours, II. Teil, S. 191 f.). 1107 Vgl. Rousseau, Contrat social (1762), 3. Buch, 4. Kapitel [dt.: Der Gesellschaftsvertrag, S. 74 ff.]. Seitenzahlen in den nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. 1108 Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: MEW 1, 201–333; hier: S. 232.

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gensunterschiede aufzuheben und die einzelnen durch eine angemessene Erziehung zu natürlicher Sittlichkeit zu befähigen wären.1109 Dies hielt Rousseau für undenkbar, weshalb er resigniert feststellte: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht“ (S. 76).1110 Dennoch bleibt die demokratische Republik für Rousseau die erstrebenswerte Ordnung. Sie ist die einzige Regierungsform, die sich ohne Vorbehalte durch Berufung auf den Volkswillen legitimieren kann. Nur sie wäre in der Lage, die durch die entfesselte Industrie und den Besitzindividualismus hervorgerufene Entfremdung zu überwinden. Rousseaus Ziel war nicht die Rückkehr in den Naturzustand, sondern die Überwindung der kapitalistischen und staatlichen Verhältnisse. Dadurch wurde er zum Theoretiker der Französischen Revolution, zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Jakobiner und auch noch des jungen Marx. Es ist deshalb zwar ein hübsches Aperçu, trifft aber die Sache nicht, wenn Voltaire ihm schrieb, nach der Lektüre des Zweiten Discours bekomme man ordentlich Lust, wieder auf allen Vieren zu gehen. Rousseau, der gelegentlich als Ahnherr des „Totalitarismus“ gescholten wurde,1111 fundierte seine Konzeption der Unveräußerlichkeit und Unübertragbarkeit der Volkssouveränität und seine Vorstellung von kleinen, überschaubaren, demokratisch organisierten Gemeinschaften durch die Kritik am englischen Parlamentarismus seiner Zeit. Dieser war 1748 von Montesquieu als beste aller denkbaren politischen Ordnungen gepriesen worden. Im Gegensatz dazu erblickte Rousseau in der englischen Form der Repräsentation des Volkswillens nichts weiter als die ideologische Verbrämung einer volksfremden und volksfeindlichen Oligarchie, die in ihrer Isolation und Abgehobenheit vom Volk zu einer korrupten Clique verkam (S. 105 ff.). Rousseaus demokratische Ideen wurden aufgegriffen von den Jakobinern, die führend wurden in der Französischen Revolution.1112 Sie vertraten in der französischen Nationalversammlung die Auffassung, nur eine direkte Demokratie ermögliche eine adäquate Repräsentation, d. h. Darstellung oder Vergegenwärtigung des Volkswillens.1113 Durch sie wurden die von den Independenten, den

1109 Zu seinen Vorstellungen über die richtige Erziehung vgl. Rousseau, Emile (1762). 1110 Aus dieser Feststellung Rousseaus folgert H. Maier (Rousseau, S. 107): „Er war kein Demokrat, sondern Republikaner“. Vgl. auch Sartori, Demokratietheorie, S. 308 f. Dagegen Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. 1111 Vgl. J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, S. 34 ff. Zur Kritik an Talmon siehe etwa Sartori, Demokratietheorie, S. 434. 1112 Vgl. H. Dippel, Die politischen Ideen der Französischen Revolution (weitere Literatur: S. 67 ff.); F. Furet, Jean-Jacques Rousseau und die Französische Revolution; Talmon, Die Ursprünge, S. 61 ff. 1113 Vgl. P. Fischer (Hg.), Reden der Französischen Revolution. Zum Repräsentationsbegriff der französischen Revolutionäre vgl. Hofmann, Repräsentation, S. 406 ff.

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Levellers und Diggers begonnenen Emanzipationsbestrebungen des unteren Volkes weitergetrieben. Den Anfang machte Emmanuel Sieyès mit dem Pamphlet Qu’est-ce que le Tiers-Etat? (1788).1114 Er forderte die gleichberechtigte Beteiligung des dritten Standes am politischen Entscheidungsprozeß. Seine Vertreter sollten die gleiche Stimmenanzahl wie die der beiden privilegierten Stände haben (S. 58). Die Generalstände sollten nicht nach Ständen, sondern nach Köpfen abstimmen (S. 64). Dies war eine revolutionäre Forderung, doch blieb die Position des Abbé Sieyès noch gemäßigt. Sie zielte nicht auf eine direkte Demokratie. Im Zentrum stand die Idee der Repräsentation als Stellvertretung, die ein imperatives Mandat der Abgeordneten ausschloß.1115 In dieser Frage gingen die radikalen Jakobiner (Robespierre, Saint-Just) weiter. Wenn schon nicht das ganze Volk sich versammeln kann, so sollte wenigstens ein imperatives Mandat verhindern, daß sich die Repräsentanten ihm gegenüber verselbständigen. Diese Forderung erhob Maximilien Robespierre in einer Rede in der Nationalversammlung am 10. Mai 1793: „Muß man sich wundern, wenn so viele törichte Krämer, so viel egoistische Bourgeois noch immer für Handarbeiter die unverschämteste Verachtung zeigen, die der Adel gegen die Bürger und Krämer selbst bewiesen hat? . . . Weg mit dem alten Wahnsinn der Regierungen, zuviel regieren zu wollen. Laßt den Individuen, laßt den Familien das Recht, das zu tun, was keinem anderen schadet. Laßt den Kommunen die Macht, selbst ihre eigenen Aufgaben zu erledigen, soweit es nicht wesentlich in die allgemeine Verwaltung der Republik eingreift . . . Die ganze Nation hat ein Recht darauf, zu wissen, wie sich ihre Beauftragten aufführen. Wenn es möglich wäre, müßte die Versammlung der Volksvertreter in Gegenwart des ganzen Volkes beraten . . . Ich will, daß alle öffentlich durch das Volk ernannten Funktionäre von ihm zurückberufen werden können . . .“1116

Ergebnis der Französischen – wie auch der Amerikanischen – Revolution war ein historischer Kompromiß: die Einbindung der Demokraten in das parlamentarische System und die schrittweise Demokratisierung des Parlamentarismus.1117 Die einstmals gegensätzlichen Positionen, die von Rousseau inspirierte Demokratievorstellung und der vom Liberalismus getragene Repräsentationsgedanke, wurden miteinander verschmolzen. Das Resultat dieser Amalgamierung wurde in der Idee des demokratischen Verfassungsstaates und in der neuartigen, von Alexan1114 Vgl. E. Sieyès, Was ist der dritte Stand? Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk. Vgl. auch die Neuausgabe: E. J. Sieyes, Politische Schriften. 1115 Zu Sieyès vgl. auch E. Schmitt, Sieyes (Literaturhinweise: S. 380–384). 1116 Zitiert nach den Auszügen in: O. H. v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, S. 75 f.; hier: S. 75 [nach M. d. Robespierre, Textes Choisis. Rome II, III, IV., S. 144–153]. 1117 Daß der Parlamentarismus ursprünglich eine gänzlich un- bzw. antidemokratische Einrichtung war, wurde oben deutlich. Das englische Parlament, das zum Vorbild für die westlichen Monarchien wurde, ging hervor aus der Curia Regis, dem Rat der Barone, den Wilhelm der Eroberer eingerichtet hatte. Siehe oben, S. 490 ff.

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der Hamilton und Emmanuel Sieyès geprägten Formel einer repräsentativen Demokratie fixiert, die den älteren Begriff der repräsentativen Republik ersetzte.1118 Repräsentative und plebiszitäre Elemente wurden in spezifischer Weise miteinander verknüpft.1119 Die französische Revolutionsverfassung brachte alle drei gegensätzlichen Momente in ein prekäres Spannungsverhältnis, in dem sie sich gegenseitig in Schach halten und balancieren konnten. Sie war eine Mischverfassung. Repräsentativsystem, Demokratie und Konstitutionalismus relativierten sich darin wechselseitig.1120 Der Staat blieb erhalten, die Staatsgewalt begrenzte sich jedoch selbst, indem sie eine Sphäre der individuellen Freiheit ausgrenzte, die sie nicht antasten wollte. Nur teilweise durchgesetzt hatten sich die Demokraten: Es war ihnen nicht gelungen, den Staat in die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes zu überführen. Ihr Teilsieg bestand jedoch darin, daß die Monarchie für einige Zeit beseitigt wurde und nun auch sie selbst im Parlament vertreten waren und an der politischen Willensbildung der Nation mitwirken konnten. Das parlamentarische System wurde ansatzweise demokratisiert, indem das aktive und passive Wahlrecht zunächst auf alle Besitz- und Bildungsbürger ausgedehnt wurde. Die Demokratiebewegung aber wurde integriert. Die Idee der direkten Demokratie lebte jedoch fort in den Sansculotten1121 und wurde im 19. Jahrhundert von der sozialistischen Arbeiterbewegung reanimiert. Bezeichnete Demokratie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine Alternative zum Staat und eine nicht- bzw. anti-staatliche Form der Politikgestaltung, so galt sie nun selbst als eine spezifische Form des Staates, die sich idealtypisch von der Monarchie und der Aristokratie unterschied, im Kontext von monarchisch-parlamentarischen Mischverfassungen jedoch unterschiedliche Verbindungen mit deren Prinzipien eingehen konnte. An die Stelle des Gottesgnadentums als frühneuzeitlicher Legitimationsideologie des Staates trat nun der Gedanke der Nation, der alle anderen Ideologien überwölbte.1122 Er ließ sich republikanisch (Frank1118 Zu den Problemen der Überlagerung der Termini Republik und Demokratie vgl. Sartori, Demokratietheorie, S. 285 f. Wie Sartori betont, hat James Madison stets von „repräsentativer Republik“ gesprochen und den Begriff „Demokratie“ für die griechische Antike reserviert. 1119 Vgl. dazu E. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat. 1120 Zu den Grenzen der Demokratie in der Französischen Revolution vgl. H. Reinalter, Die Französische Revolution und Mitteleuropa, S. 11 ff. und die dort (S. 31 ff.) verzeichnete Literatur. 1121 Vgl. H. Dippel, Die politischen Ideen der Französischen Revolution, S. 51 ff.; A. Soboul, Les Sans-culottes parisiens en l’an II.; ders., Comprendre la révolution; ders., Die Utopie und die Französische Revolution. In: J. Droz (Hg.), Geschichte des Sozialismus. Bd. 1 (1974), 260–340; bes. S. 260 ff. 1122 Vgl. H. Schulze, Staat und Nation, S. 163 ff.: „Der Staat der industriellen Massenzivilisation bedurfte einer Legitimation, die alle übrigen massenwirksamen Ideologien überwölbte, sie einband und zugleich dem Staat die Zustimmung seiner Bürger sicherte: Diese Legitimation war die Idee der Nation“ (S. 168).

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reich) oder aber völkisch (Deutschland) konkretisieren.1123 Damit wurde Wirklichkeit, was schon seit drei Jahrhunderten von Intellektuellen vorgedacht worden war.1124 Die „Erfindung der Nation“ (Benedict Anderson) spielte „für die Transformation des frühmodernen Staates in eine demokratische Republik die Rolle eines Katalysators“.1125 Nicht in den kleinen, kommunalen oder regionalen Einheiten, sondern in den überwölbenden Nationalstaaten konzentrierte sich künftig die Politik. Die Nation wurde zum vorherrschenden „Modell“ der Politik und bildete den passenden Rahmen für die werdende Demokratie: „Nahezu überall ging die Demokratisierung der politischen Verhältnisse einher mit einer Nationalisierung der politischen Ordnung“.1126 Der von den Bürgern oder Volksgenossen konstituierte Nationalstaat wurde zum Garanten ihrer Sicherheit und Freiheit. Er bildete den passenden Rahmen, innerhalb dessen sie ihre wesenhafte Verbundenheit miteinander – unter Abstraktion von der sozialen Ungleichheit sowie in Abgrenzung von den Anderen – erfahren konnten. Er wurde so zum ideologischen Kitt und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Integration der Gesamtgesellschaft. Mit ihm begann die Hochzeit des Staates.1127 Indem sich die einzelnen Staatsbürger oder Volksgenossen als Glieder ihres Gemeinwesens betätigten und für den Ruhm und Glanz ihres Vaterlandes opferten, konnten sie sich als Momente einer höheren Rationalität begreifen, die ihrem individuellen Leben einen tieferen Sinn verleiht. Dadurch wurde eine zwiespältige und gefährliche Entwicklung eingeleitet, die für die Friktionen der künftigen Politik verantwortlich zeichnet. Die Nation wurde 1123 Zum Aufstieg des Nationsgedankens vgl. auch M. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 51 ff.; P. Alter, Nationalismus; ders. (Hg.), Nationalismus; B. Anderson, Die Erfindung der Nation; E. Gellner, Nationalismus und Moderne; E. J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 25 ff. (weitere Literatur: S. 225 ff.); E. Kamenka, Europäischer Nationalismus, S. 589 ff. (weitere Literatur: S. 628 ff.); H. Kohn, Die Idee des Nationalismus; T. Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Siehe auch die Literaturhinweise bei H. Schulze, Staat und Nation, S. 361 ff. 1124 Vgl. H. Münkler u. a., Nationenbildung. Zur Entstehung „nationaler“ Traditionen siehe auch oben, S. 405, Anm. 107. 1125 J. Habermas, Der europäische Nationalstaat, S. 135. Zum Doppelgesicht der Nation – „Staatsbürger“ versus „Volksgenossen“ – vgl. ebd., S. 139 ff. Zur Unterscheidung von Nation und Republik siehe auch D. Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen, bes. S. 12 ff. 1126 Münkler, Die Nation als Modell politischer Ordnung. In ders., Reich, Nation, Europa, 61–95; hier: S. 64. Allerdings besteht nach Münkler zwischen Nation und Demokratie keine notwendige Verbindung im Sinne einer Determinationsbeziehung (S. 65). Demokratie – so darf gefolgert werden – läßt sich vielmehr auch in postnationalen, suprastaatlichen Kontexten (EU, UNO) realisieren. 1127 Vgl. Schieder (Hg.), Handbuch. Bd. 5: Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Daß in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Nationsgedanke mit der alten Reichsidee und der föderativen Tradition verknüpft wurde und dadurch dem staatlichen Zentralismus gerade entgegenwirkte, betont D. Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte.

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einerseits zum adäquaten Rahmen für die Etablierung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit. Sie wurde andererseits zum Vehikel der Mobilisierung und der nationalistischen Übersteigerung, die den kriegerischen Zusammenprall der europäischen Staaten im 19. und 20. Jahrhundert zur Folge hatte. Der Nationalstaat hat deshalb – wie die meisten politischen Erscheinungen – ein Doppelgesicht. Die Vermutung ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, „daß die KatastrophenFolge der europäischen Politik im zwanzigsten Jahrhundert nicht von der obskuren rassistischen Ideologie der Nazis ausgelöst wurde, sondern von der sozusagen unverdächtigen, mit der Volkssouveränität verschwisterten Idee des Nationalstaats“.1128 cc) Der Staat im Kraftfeld von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus Nach der Französischen Revolution trat die Staatsdiskussion in eine neue Phase, in der sich neue Fronten bildeten. Der Staat geriet ins Spannungsfeld der sich formierenden politischen Bewegungen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus.1129 Auf der einen Seite entwickelte sich eine restaurative Staatstheorie, die den Status quo ante wiederherstellen und die revolutionären Errungenschaften von 1789 rückgängig machen wollte. Sie wurde zur Grundlage der europäischen Restauration (1815–30/48).1130 Auf der anderen Seite entstand eine sozialistische Staatskritik, die den begonnenen Prozeß der Demokratisierung vorantreiben und auf die Gesellschaft ausdehnen wollte. In der Abwehr der konservativen und sozialistischen Forderungen stabilisierte sich das liberale Bürgertum, das weiterhin für den Erhalt und Ausbau der rechtsstaatlichen Sicherungen, der bürgerlichen Freiheitsrechte und des gesellschaftlichen und politischen Pluralismus kämpfte. Zum Kernproblem der Politischen Philosophie und der entstehenden Soziologie wurde die Frage, wie die auseinanderstrebenden Kräfte der Gesellschaft inte1128 P. Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats, S. 10. Vgl. auch ebd., S. 89 ff. (Vierte Rede: „Der Irrweg des Nationalstaats“). Ähnlich urteilt D. Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen, S. 85: „Die deutsche Katastrophe von 1945 hatte ihre eigentliche Ursache nicht im nationalsozialistischen Rassenwahn, sondern in der völkisch-nationalen Tradition“. 1129 Vgl. H. Fenske, Politisches Denken von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart; Fetscher/Münkler (Hg.), Handbuch. Bd. 4; G. Göhler/A. Klein, Politische Theorien des 19. Jahrhunderts; R. Koselleck, Art. Staat. III.: ,Staat‘ im Zeitalter revolutionärer Bewegung; Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 396 ff. 1130 Vgl. L. Bergeron u. a., Das Zeitalter der europäischen Revolution, S. 199 ff.; D. Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution; E. Weis, Der Durchbruch des Bürgertums, S. 342 ff. Zur deutschen Entwicklung ferner M. Botzenhart, Reform, Restauration, Krise, S. 76 ff. (weitere Literatur: S. 161 ff.); W. Hardtwig, Vormärz; J. Reulecke, Vom Wiener Kongreß bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs; R. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert; F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert.

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griert werden konnten, nachdem die alten Bindekräfte (Religion und Tradition) ihre Wirkungsmacht eingebüßt hatten. Wie kann aus einer unverbundenen Menge an Privateigentümern eine Gemeinschaft von Staatsbürgern werden? Wie kann der egoistische Bourgeois zum gemeinwohlorientierten Citoyen werden? Diese Fragen ermöglichten liberale, konservative, nationalistische und/oder demokratische Antworten. Während der Liberalismus in der Nachfolge John Lockes, Montesquieus, der schottischen Moralphilosophie und der Nationalökonomie (Adam Smith u. a.) weiterhin für Handelsfreiheit und unveräußerliche Menschenrechte, für die rechtliche und verfassungsmäßige Begrenzung der Staatsgewalt, für die Garantie der Privateigentumsordnung und die Stärkung der Mitwirkungsrechte der ständischen Repräsentationsorgane (Parlamente) kämpfte und auf die Selbstregulierungs- und Integrationskräfte des Marktes vertraute, setzte der Konservatismus auf die geschichtlich gewachsenen, ethnischen, religiösen und mythischen Bindungen des Volkes. Während der entstehende Nationalismus die Selbstaufopferung der Individuen und Gruppen für die Ehre ihres jeweiligen Nationalstaates propagierte, forderten Radikaldemokraten und Sozialisten in der Nachfolge Rousseaus die weitergehende Demokratisierung von Gesellschaft und Staat, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten sowie die Garantie von gleichen Menschen- und Staatsbürgerrechten für alle Bewohner des Landes, die eine Identifikation der Gesamtbevölkerung mit ihrem Gemeinwesen ermöglichen sollten. Die Staaten selbst übernahmen die Aufgabe der Sozialdisziplinierung, die sie mit Hilfe ihrer Polizei erledigten. Für diejenigen Untertanen, die sich der von ihnen definierten „Normalität“ widersetzten, hielten sie Gefängnisse und Irrenanstalten bereit.1131 Der Ahnherr des Konservatismus war Edmund Burke (1729–97) der in seinen Betrachtungen über die Revolution in Frankreich (1790) die französische Nationalversammlung kritisierte und ihr das englische Parlament als gelungene Repräsentationsinstanz gegenüberstellte.1132 Während sich in Frankreich fast ausnahmslos Juristen, und zwar aus den unteren Rängen versammelt hätten, seien es in England tatsächlich die besten Köpfe des Volkes, die sich in seinem Namen über die Erfordernisse des Staates und über das Gemeinwohl verständigen. Gegen die von den radikalen Jakobinern erhobene Forderung nach einem imperativen Mandat machte Burke geltend, daß die Abgeordneten die gesamte Nation zu repräsentieren haben und deshalb nicht vom Willen der Wähler ihres Wahlkreises abhängig sein dürfen.1133 Er verteidigte die Souveränität des englischen Parla1131 Vgl. M. Foucault, Omnes et singulatim, S. 86 ff.; ders., Wahnsinn und Gesellschaft; ders., Überwachen und Strafen; v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 235 ff. 1132 E. Burke, Reflections on the Revolution in France (1790). Vgl. C. G. v. Krockow, Edmund Burke (weitere Literatur: S. 122 f.). 1133 Vgl. Burke, Rede an die Wähler von Bristol (3. Nov. 1774); ders., Gedanken über die Ursachen der gegenwärtigen Unzufriedenheit.

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ments gegen die Ansprüche der Krone (Georg III.) einerseits, die Theorie der Volkssouveränität (Rousseau) andererseits.1134 In Deutschland fand der Konservatismus seine bedeutendsten Verfechter zunächst in Gustav Hugo, Adam Müller und Carl Ludwig von Haller, die das Ancien Régime und die religiös-politische Einheitswelt des Mittelalters restituieren wollten.1135 Wichtigste Exponenten der sich formierenden Rechten waren jedoch die katholischen Gegenrevolutionäre Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald und Juan Donoso Cortés in Frankreich und Spanien, die angesichts der Erschütterung der politischen Ordnung durch die Revolutionen des 19. Jahrhunderts die Politische Theologie erneuerten und gegen den Liberalismus und Sozialismus kämpften.1136 Ihr eigentliches, natürlich noch nicht erkanntes, Ziel war, die „Modernisierung“ der Gesellschaft und den Übergang von hierarchischer Stratifikation zu funktionaler Differenzierung zu verhindern.1137 Der Konservatismus leistete heftigen Widerstand gegen die Liberalisierung und Demokratisierung des politischen Lebens. Er feierte in der Zeit der Restauration seine Hochzeit, wurde aber schließlich von den liberalen und sozialistischen Bewegungen in die Defensive gedrängt und zu Kompromissen genötigt.1138 Die Bemühungen des liberalen Bürgertums waren von Erfolg gekrönt: Der Obrigkeitsstaat wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen gewaltenteiligen Rechtsstaat verwandelt, der sich selbst begrenzte, seiner Bürokratie rechtliche Zügel anlegte und den Bürgern Freiheitsrechte einräumte, die er zu schützen versprach. Ihre Privatsphäre wurde für sakrosankt erklärt, der Staat verpflichtete sich, die Menschenrechte und die Privateigentumsordnung zu sichern und nicht durch willkürliche Interventionen zu verletzen.1139 In England entwickelte sich eine liberale Demokratietheorie, die sich zunächst auf den von Jeremy Bentham

1134 Vgl. dazu E. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, S. 117 ff. 1135 G. Hugo, Lehrbuch der Geschichte des römischen Rechts (1799); C. L. v. Haller, Restauration der Staatswissenschaft; A. Müller, Die Elemente der Staatskunst. Vgl. dazu K. Epstein, The Genesis of German Conservatism; Göhler/Klein, Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, S. 317 ff.; K. Mannheim, Konservatismus; H.-J. Puhle, Die Anfänge des politischen Konservatismus in Deutschland (Literatur: S. 316 f.); F. Valjavec, Die Entstehung des europäischen Konservatismus. 1136 J. d. Maistre, Considération sur la France (1796); ders., Des Constitutions Politiques; L.-G.-A. d. Bonald, Théorie du pouvoir politique et religieux dans la société civil; J. D. Cortés, Der Staat Gottes; ders., Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus. 1137 Vgl. dazu auch R. Eisfeld, Joseph de Maistre und L.-G. A. de Bonald (weitere Literatur: S. 124 f.); H. Münkler, Juan Donoso Cortés und der spanische Katholizismus (Literatur: S. 318 f.); W. Röd, Traditionalistische und spiritualistische Strömungen. In: S. Poggi/W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 4, S. 251 ff.; C. Schmitt, Politische Theologie, IV. Kap., S. 67 ff. 1138 Vgl. H.-J. Puhle, Von der Romantik zum konservativen Konstitutionalismus (Literatur: S. 317 f.); K. Fritzsche, Konservatismus.

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(1748–1832) begründeten Utilitarismus stützte und eine Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Besitz- und Bildungsbürger forderte. Bentham und sein Schüler James Mill (1773–1836) begründeten diese Forderung mit dem Hinweis, nur die Majorität der Bevölkerung könne die Übereinstimmung einer politischen Entscheidung mit dem allgemeinen Interesse garantieren.1140 In Frankreich erhärtete Benjamin Constant (1767–1830) die liberale Forderung nach individueller Freiheit und Bürgerrechten, die aller Staatlichkeit vorgeordnet sind und ihre natürliche Schranke bilden.1141 Er plädierte für die konstitutionelle Monarchie und erblickte im König eine neutrale Gewalt (pouvoir neutre), die jenseits der klassischen Gewalten angesiedelt ist und zwischen ihnen vermittelt und Ausgleich schafft. Seine Auffassungen wurden über Frankreich hinaus vorbildlich für den deutschen Frühliberalismus, der in seinen politischen Zielsetzungen gespalten blieb. Während die einen nur die bürgerliche Freiheit sichern und die Monarchie „humanisieren“ wollten, strebten die anderen nach politischer Freiheit und nach Partizipation der Bürger an der Willensbildung.1142 (1) Hegel und der Staat Eine Synopse der durch die Industrielle und Französische Revolution aufgeworfenen Probleme und den Versuch einer Lösung unternahm Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der zwischen den gegensätzlichen Positionen zu vermitteln suchte und die „Aufhebung“ der verfeindeten Lager erstrebte. In seiner politischen Philosophie wurden die Fragen aufgeworfen, die das künftige Politikdenken beschäftigten und noch heute auf überzeugende Antworten harren.1143 Lange Zeit umstritten war, ob Hegels politische Philosophie als Werk eines Liberalen oder Konservativen, als Produkt der Aufklärung oder der preußischen Reaktion zu verstehen ist.1144 Ergebnis der langewährenden Kontroversen ist, daß sie weder das eine noch das andere ist, sondern – echt dialektisch – bei1139 Zur Entwicklung des liberalen Denkens in England, Frankreich und Deutschland vgl. U. Bermbach, Liberalismus (Literatur: S. 366 ff.); L. Döhn, Liberalismus; L. Gall (Hg.), Liberalismus; Göhler/Klein, Politische Theorien, S. 362 ff. 1140 Vgl. J. Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1780); ders., Principles of the Civil Code; J. Mill, An Essay on Government (1820). Dazu Bermbach, Liberalismus, S. 324 ff.; C. B. Macpherson, Nachruf auf die liberale Demokratie, S. 34 ff. 1141 B. Constant, Principes de politique (1815). Vgl. dazu Bermbach, Liberalismus, S. 342 ff. 1142 Vgl. Z. Batscha, Studien zur politischen Theorie des deutschen Frühliberalismus; Bermbach, Liberalismus, S. 350 ff.; Göhler/Klein, Politische Theorien, S. 387 ff.; Langewiesche, Liberalismus in Deutschland. 1143 Eine genauere Analyse (mit weiteren Nach- und Literaturhinweisen) habe ich in meiner Dissertation versucht. Vgl. K. Roth, Freiheit und Institutionen. 1144 Zu den liberalen und konservativen Elementen in Hegels politischer Philosophie vgl. auch D. Löcherbach, Einführung in Hegels politische Theorie der Freiheit.

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des zugleich. Anstatt sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, hat Hegel beide Positionen kritisch durchdrungen und durcheinander relativiert. Er hat aufgezeigt, wie beide, Liberalismus und Konservatismus, aufeinander angewiesen und durch ihre immanente Dialektik gezwungen sind, ineinander überzugehen, d. h. in ihr jeweiliges Gegenteil umzuschlagen – und damit über sich hinauszugehen. Er hat den Liberalismus im Konservatismus zur Geltung gebracht und zugleich den Konservatismus des Liberalismus aufgewiesen.1145 Beide antagonistischen Positionen gehören ihm zufolge zusammen und sind in der höheren Einheit des Staates „aufgehoben“. Hegel war – allen anders lautenden Interpretationen zum Trotz – weder „liberal“ noch „konservativ“. Er steht jenseits dieser Spaltung und setzt beide Strömungen zu Momenten einer Einheit herab. Die Stärke seiner Staatstheorie liegt gerade darin, daß sie sich der eindeutigen Zuordnung widersetzt. Sie liegt in jenen Momenten, die sich gegen die einfache Subsumtion sperren. Denn Hegel war – wie einst Hobbes im 17. Jahrhundert – der einzige Denker, der die Konflikte seiner Zeit zugleich als Betroffener, d. h. als Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens, und als neutraler Beobachter gesehen und erörtert hat. Dies ist es, was ihn über die meisten seiner Zeitgenossen hinaushebt. Hegel ist Kritiker des Liberalismus wie des Konservatismus, die er beide nichtsdestotrotz beerbt. Gegen den liberalen Individualismus setzt er eine holistische Staatskonzeption, dem konservativen Rekurs auf ethnische und traditionale Bindungen setzt er die moderne Freiheitsidee entgegen, die er – allen Bedenken zum Trotz – bewahren und auf Dauer stellen möchte. Als Garanten der Freiheit und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes begreift er den Staat, den er zum „Dasein Gottes auf Erden“ sowie zur „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und „der konkreten Freiheit“ erklärt.1146 Hegel wendet sich gegen eine funktionale Betrachtung des Staates. Der Staat sei „absoluter unbewegter Selbstzweck“, heißt es in der Rechtsphilosophie. In ihm komme die Freiheit „zu ihrem höchsten Recht“. Er sei der Endzweck des Praktischen und Politischen und habe „das höchste Recht gegen die Einzelnen . . ., deren höchste Pflicht es ist, Mitglied des Staats zu sein“ (Rph, § 258). „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere 1145 Vgl. auch G. Göhler/K. Roth, Der Zusammenhang von Ökonomie, Recht und Staatsgewalt. 1146 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820/21), §§ 257, 260 [künftig im fortlaufenden Text zitiert als Rph]. Weitere Siglen und Werke Hegels: Enz = Enzyklopädie; JR = Jenaer Realphilosophie von 1805/06. In: Frühe politische Systeme, 201–289; NR (Naturrechtsaufsatz) = Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (1802). Ebd., 103–199; PhG = Phänomenologie des Geistes (1807) [HW 3]; SdS = System der Sittlichkeit (1802/03). In: Frühe politische Systeme, 13–102; 1803/04 = Systementwurf von 1803/04. Ebd., 291–335.

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besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate“ (§ 258 Anm.). Die liberalen Theoretiker, die den Staat als bloßen Garanten der Funktionsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt haben, seien in Wirklichkeit noch gar nicht zum Begriff des Staates vorgedrungen, sondern nur bis zum Not- und Verstandesstaat, den die bürgerliche Gesellschaft in und aus sich selbst hervorbringt. Der Staat sei aber mehr und etwas anderes als Rechtspflege, Korporationen und Policey (Staatsverwaltung). Er ist nicht der politisch-administrative Apparat, der heute mit diesem Begriff bezeichnet wird. Über diesem wölbt sich der eigentlich sittliche Staat, der ganz andere Aufgaben hat. Er hat das Sinnen und Trachten der Individuen von ihrem Egoismus weg- und einer Haltung zuzuführen, die Hegel Patriotismus nennt und als höhere Form der Rationalität betrachtet (§ 268). Der Staat bildet das Pendant zur bürgerlichen Gesellschaft als der Sphäre der persönlichen Freiheit und des Egoismus. Er garantiert die Menschen- und Freiheitsrechte und bewirkt die Integration der auseinanderstrebenden sozialen Kräfte. Während in der bürgerlichen Gesellschaft jeder für sich selbst und seine Familie sorgt, widmet er sich im Staat den kollektiven Interessen und dem allgemeinen Wohl. Die Bürger sollen sich als Glieder ihres Staates oder Landes erkennen und für die Interessen des Allgemeinen engagieren, um so ein höheres Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl zu gewinnen. Indem sie sich für die Macht und den Glanz des Staates opfern und dadurch als Momente des politischen Ganzen begreifen, soll ihnen ein höherer Lebenssinn zuwachsen als er in ihrem gewöhnlichen und alltäglichen Leben möglich ist. Hegel begreift den Staat als einen großen Brennspiegel, in dem jeder einzelne seine wesenhafte Verbundenheit mit allen anderen Volksgliedern erfahren soll.1147 Staat meint dementsprechend nicht den bürokratischen Verwaltungsapparat, sondern den großen Lebens-, Sinn- und Handlungszusammenhang der Bürgerschaft, die in ihrer Selbstverwirklichung den göttlichen Heilsplan realisiert und eine Form der Rationalität realisiert, die den Sinnhorizont der einzelnen übersteigt und zugleich erweitert, sofern sie als Glieder des Volksganzen an seiner Göttlichkeit und Erhabenheit partizipieren. Hegel lädt den Staatsbegriff folglich theoretisch auf, indem er ihn mit ungeheuerlichen Ansprüchen und Zweckbestimmungen befrachtet und all jene Erwartungen auf ihn projiziert, die er in anderen, vor allem theologischen Kontexten gewonnen hatte. Um zu verstehen, wie er zu seiner Überhöhung des Staates gelangte, muß Hegels Grundanliegen vergegenwärtigt werden. Seine Urerfahrung war die Franzö-

1147 „Indem das Volk die lebendige Indifferenz, und alle natürliche Differenz vernichtet ist, schaut das Individuum sich in jedem als sich selbst an, es gelangt zur höchsten Subjektobjektivität; und diese Identität aller ist eben dadurch nicht eine abstrakte, nicht eine Gleichheit der Bürgerlichkeit, sondern eine absolute, und eine angeschaute . . .“ (SdS, S. 62).

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sische Revolution,1148 die er als Student im Tübinger Stift (1788–93) zusammen mit seinen Freunden Hölderlin und Schelling bejubelte – in der Hoffnung, daß sie sich über den Rhein verbreiten würde. Von dieser Erwartung ließ er sich auch nicht abbringen, als 1794 die Guillotine zu regieren begann bzw. als Napoleon Bonaparte am 18. Brumaire des Jahres VII (9.11.1799) das Direktorium beseitigte und sich zum Ersten Konsul mit diktatorischer Vollmacht ernannte. Er setzte seine Erwartungen nunmehr auf ihn und hoffte, daß er die Revolution in Frankreich vollenden und nach Deutschland tragen werde. Deshalb bewunderte er im Oktober 1806, als die französische Armee bei Jena und Auerstedt den Preußen eine vernichtende Niederlage beibrachte, Napoleon als „Weltseele zu Pferde“. Noch in der Phänomenologie hielt Hegel daran fest, „daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist“ (PhG, S. 18). Nur war zwischenzeitlich unsicher geworden, wohin die Reise gehen würde. Die Revolution hatte die alten Mächte (Kirche und Staat) attackiert und die Ständegesellschaft zerstört, jedoch ohne zunächst neue Perspektiven und Sicherheiten hervorzubringen. „Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens“, schreibt Hegel (PhG, S. 435 f.). „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat“ (S. 436). Deshalb drängte sich die Frage auf, die schon zu Beginn der Jenaer Zeit ins Zentrum von Hegels politikphilosophischen Überlegungen rückte, nämlich: wie man positive Perspektiven und eine neue Sittlichkeit gewinnen konnte, die es erlaubte, die durch die Revolution erreichte, in Deutschland erst noch zu erringende Freiheit zu sichern, aber zugleich der allgemeinen Auflösung entgegenzuwirken und die auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräfte zu reintegrieren.1149 Die universalistischen, abstrakt-allgemeinen Regelungen des Rechts hielt Hegel für ungeeignet, weil das Privatrecht mit der Garantie des Privateigentums und der individuellen Freiheitsrechte gerade die Vereinzelung und Atomisierung festschreibt1150 und weil das Strafrecht immer erst dann wirksam 1148 Vgl. dazu J. Ritter, Hegel und die französische Revolution. In ders., Metaphysik und Politik, 183–255; M. Riedel, Zwischen Tradition und Revolution, bes. S. 100 ff.; J. Habermas, Hegels Kritik der französischen Revolution. In ders., Theorie und Praxis, 128–147. 1149 Vgl. dazu die berühmten Passagen der Differenzschrift (1801), in denen Hegel das „Bedürfnis der Philosophie“ umschreibt: HW 2, S. 20 ff. 1150 Vgl. dazu auch K. Roth, Abstraktes Recht und Sittlichkeit in Hegels Jenaer Systementwürfen, S. 21 ff. Schon im Naturrechtsaufsatz von 1802/03 konstatiert Hegel, das formale Rechtsverhältnis fixiere „das Einzelnsein“ und setze es absolut. Es sanktioniere und forciere die allgemeine Zersplitterung und Atomisierung der Gesellschaft und das „Versinken in die matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“ (NR, S. 162). In der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 entlarvt er die Sphäre des Privatrechts, des Warentausches, der Vertragsschlüsse usw. als Hort des Betruges und des Zwangs. Ihm zufolge ist das abstrakte Recht selbst verantwortlich für die grassierenden Verbrechen. „Die in-

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wird, wenn es bereits zu spät ist, d. h. wenn die gesetzlichen Bestimmungen verletzt worden sind. Als Grundproblem der Zeit diagnostizierte Hegel eine allgemeine „Entzweiung“, die „Zerrissenheit“ des Lebens, das seinen organischen Charakter eingebüßt hatte und sich in immer kleinere Einheiten aufzulösen tendierte – bis schließlich der bürgerliche Egoist zurückblieb, der nur noch sich selbst, sein eigenes egoistisches Interesse im Blick hat und alle anderen Menschen als bloßes Mittel zur Erreichung seiner Privatzwecke betrachtet. Diese Tendenz pflegt man seit Emile Durkheim und Georg Simmel mit dem Schlagwort Individualisierung zu bezeichnen.1151 Gemeint ist die Loslösung der Individuen aus den überkommenen Banden der Tradition, aus Familie, Kirche, Stand, Klasse usw., ein Prozeß, der – wie alle sozialen und politischen Phänomene – ambivalent und janusköpfig ist. Er bedeutet einerseits einen gewaltigen Freiheitsgewinn, andererseits jedoch den Verlust alter Sicherheiten. Emanzipation ist deshalb zumeist gepaart mit Furcht, wie schon der Exodus des jüdisch-israelitischen Volkes aus Ägypten demonstriert (s. o., S. 202 ff.). Häufig führt die Individualisierung zur Verunsicherung und zur Vereinsamung – und damit zur Verkümmerung und Selbstzerstörung der Individuen, die – wie schon Aristoteles wußte – nur in Kommunikation und Interaktion mit ihresgleichen ein gelingendes und sinnvolles Leben führen können. Hegel hat diese Gefahren früh erkannt und die Ambivalenz des modernen Freiheitsgewinns aufgewiesen. Zwar wurde die feudale Spaltung der Gesellschaft in gegeneinander abgeschottete Stände durch die sich herausbildenden bürgerlichen Lebensverhältnisse überwunden, doch wurde dadurch der Zusammenhalt des Ganzen noch prekärer. Zur religiösen Spaltung in unterschiedliche Kirchen, Gruppen und Sekten gesellte sich die ökonomische Konkurrenz aller gegen alle. Die Gesellschaft bestand nun aus lauter unverbundenen Individuen, die zumeist in Kleinfamilien lebten und sich außerhalb des Hauses als Rivalen gegenübertraten und ihre Beziehungen zueinander in Eigenregie, d. h. vertraglich regeln mußten. Die überkommenen Sitten hatten ihre Bindewirkung eingebüßt. Die alten Ehrprinzipien wurden durch Geldverhältnisse zersetzt. In den Individuen selbst lagen die widersprüchlichsten Kräfte und Interessen miteinander im Streit. Arbeitsteilung, Mechanisierung des Arbeitsprozesses, immer weitergehende Spezialisierung usw. nere Quelle des Verbrechens ist der Zwang des Rechts“, schreibt er (JR, S. 243). Dieser Zwang nämlich verletze die Ehre und das Selbstwertgefühl des Menschen, indem er ihn einem Identischen unterwirft und seine Individualität nivelliert. In der Phänomenologie und der Rechtsphilosophie erscheint der von den Römern herbeigeführte „Rechtszustand“ als „das geistlose Gemeinwesen“, das aufgehört hat, die Substanz der Individuen zu sein (PhG, S. 355). „Das Allgemeine, in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert, dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten“ (ebd.). Vgl. auch Rph, § 357. 1151 Die jüngere Debatte über „Individualisierung“ wurde angestoßen durch U. Beck, Risikogesellschaft. Vgl. auch ders., Die Erfindung des Politischen.

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führten dazu, daß sie auf einseitige Tätigkeiten fixiert wurden und ihre anderen Fertigkeiten, vor allem ihre kommunikativen Kompetenzen verkümmerten. Hinzu kam die politische Diversifikation. Vor allem Deutschland war seinerzeit zerrissen – nicht nur in den vielbeklagten „Sandhaufen“ oder „Flickenteppich der deutschen Kleinstaaterei“, sondern in allen Sphären des sozialen Lebens.1152 Hegels Freund Hölderlin hat diesen Zustand im Hyperion recht plastisch beschrieben im vorletzten Brief an Bellarmin.1153 Gegen diesen Trend der Zeit wollte Hegel angehen. Diesen Prozeß aufzuhalten und umzukehren, war sein zentrales Anliegen. Die Errungenschaften der Industriellen und der Französischen Revolution sollten bewahrt und gesichert, die Auflösung des sittlichen Lebens in unverbundene Atome und in ein „Wimmeln von Willkür“ (Rph, § 189, Zus.) aber verhindert werden. Hegels praktisch-politisches Ziel war die Sicherung der mit der Reformation und der Französischen Revolution gewonnenen Freiheit. Aber zugleich sollten sozialintegrative Kräfte wiedergewonnen und gestärkt werden, die der Auflösung der sittlichen Einheit entgegenwirken konnten.1154 In seiner Berner Zeit erhoffte sich Hegel die Lösung von einer neuen Volksreligion, die er nach dem Vorbild der christlichen Urgemeinde konzipierte, einer neuen Volksfrömmigkeit, die an die Stelle der sterilen Liturgie und des Dogmatismus der alten Kirche treten sollte.1155 Ihr schrieb er die Aufgabe zu, ein einigendes Band zu schlingen und die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft zusammenzuhalten. In seiner Frankfurter Zeit erkannte Hegel, daß die erstrebte Volksreligion nicht realisierbar und illusorisch war, daß die Prinzipien der urchristlichen Lehre – Liebe, Freundschaft, Demut usw. – nur in kleinen, überschaubaren Kreisen praktikabel sind. Er mußte deshalb nach anderen Quellen der Sittlichkeit Ausschau halten. Seit seiner Jenaer Zeit suchte er diese in der gesellschaftlichen Praxis, die er einer gründlichen Analyse unterzog.1156 Dabei ge-

1152 Zur damaligen Lage in Deutschland vgl. etwa T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1 u. 2; H. A. Winkler, Deutsche Geschichte. Bd. 1. 1153 „So kam ich unter die Deutschen . . . Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen . . .“ (abgeschlossen 1798). Zum Einfluß Hölderlins auf Hegel vgl. D. Henrich, Hegel und Hölderlin. In ders., Hegel im Kontext, 9–40. 1154 In den Worten des späteren Hegel: Gegen die Zersplitterung in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte und Tätigkeiten sollte sich „das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes“ setzen (Enz, § 379). 1155 Vgl. die Fragmente über Volksreligion und Christentum (1793–94) sowie Die Positivität der christlichen Religion (1795/96). Beide in: HW 1. 1156 Zur Entwicklung seiner praktischen und politischen Philosophie in Jena vgl. G. Göhler, Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen; H. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie; L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie.

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langte er zu einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, die sich in ihrer Schärfe nicht vor der Marxschen Kritik zu verstecken braucht. Er kritisierte die Mechanisierung des Arbeitsprozesses infolge der Entstehung von Manufakturen und Fabriken. Er prangerte die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Verelendung der Arbeitermassen an.1157 Die sich immer weiter ausdehnende Sphäre des Warentauschs entlarvte er als Hort des Betruges und des Zwangs, die notwendigerweise Gesetzesübertretungen und Verbrechen provoziere. Hegel entwickelt in diesem Zusammenhang eine einschneidende Kritik des Vertragswesens und der Vertragstheorie.1158 Er zeigt in der Jenaer Geistphilosophie, daß das Vertragsverhältnis und mit ihm die Sphäre des Privatrechts keine Sphäre des Vertrauens, sondern des wechselseitigen Mißtrauens und der Ehrverletzung ist (JR, S. 237 ff.). Der Tauschverkehr und das permanente Kontraktieren erzeugt ihm zufolge eine allgemeine Stimmung, die durch Neid und Argwohn gekennzeichnet ist, die deshalb schwerlich zur Integration, zur „Zivilisierung“ und „Versöhnung“ der Menschen taugt. Deshalb kann sich nach Hegel auch der Staat nicht auf Verträge gründen. Diese setzen ihn vielmehr voraus als gewalthabende Macht, die ihre Einhaltung verbürgt und notfalls erzwingt. Welche Dialektik der bürgerliche Warenverkehr entfaltet, hat später Marx genauer untersucht, der dem Waren-, Geld- und Kapitalfetischismus auf den Grund gegangen ist. Doch schon Hegel wußte um die Defizienz und Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktions- und Austauschverhältnisse. Für ihn verkörpert die bürgerliche Gesellschaft eine Sphäre der Not und Notwendigkeit, die in ihren Gegensätzen und ihrer Verwicklung „das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“ darbiete (Rph, § 185). Weil der Tausch, wie schon Platon wußte, nicht nur die Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit, ja die Notwendigkeit des Betrugs, der Täuschung und des Verbrechens impliziert, weil die bürgerliche Gesellschaft durch ihre immanente Dialektik über sich hinausgetrieben wird (§ 246), deshalb muß eine außerökonomische Gewaltinstanz her, die dieses Über-sich-Hinaustreiben kanalisiert und die Einhaltung der Verträge und Versprechungen garantiert. Die Einzelheiten der Hegelschen Analysen können hier nicht erörtert werden. Es genügt, die große Linie seiner Argumentation zu skizzieren. Nach der äußerst detaillierten und kritischen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gelangte Hegel zu der Ansicht, daß es noch mehr und etwas anderes geben muß im menschlichen Leben als Produktion und Konsumtion, Besitz- und Kapitalanhäufung, Verträge und Rechtsstreitigkeiten usw. Er suchte deshalb nach einer höheren 1157

Vgl. bes. JR, S. 234 ff., 250 ff.; SdS, S. 22, 27, 93 ff.; 1803/04, S. 331 ff. pas-

sim. 1158 Vgl. dazu Göhler/Roth, Der Zusammenhang von Ökonomie, Recht und Staatsgewalt; K. Roth, Selbstbehauptung und Anerkennung bei G. W. F. Hegel; ders., Abstraktes Recht und Sittlichkeit in Hegels Jenaer Systementwürfen.

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Form der Rationalität, nach einem höherstufigen Sinnzusammenhang – und fand diesen einerseits im Staat, andererseits in Kunst, Religion und Wissenschaft. Darin erst kommt der Geist zu sich, findet die Menschheit ihr Telos, ihren Sinn und Zweck. Nicht Produktion und Konsumtion, sondern die Entwicklung von „Kultur“, d. h. des Bewußtseins der Freiheit, wäre folglich das innere Ziel der Weltgeschichte. Eine wichtige Rolle in diesem Prozeß spielt für Hegel der Staat, dem er im Laufe der Zeit immer weitergehende Aufgaben und Staatszweckbestimmungen zuschreibt. Dabei war Hegel einst selbst ein vehementer Kritiker des Staates. Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus (1796/97) jedenfalls, dessen Verfasser allerdings bis heute umstritten ist,1159 lehrt: „Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“ (HW 1, S. 233 f.). Von dieser Auffassung ist Hegel seit seiner Frankfurter Zeit zusehends abgerückt. Er hat sich auf den Staat zurückbesonnen, der nun zu seinem Hoffnungsträger avancierte. Bereits in der Verfassungsschrift erblickte er in der Staatswerdung Deutschlands den Ausweg aus der damaligen Misere und eine praktikable Alternative zum darniederliegenden Heiligen Römischen Reich deutscher Nation.1160 Im Rekurs auf Machiavellis Principe setzte Hegel seine Hoffnungen auf einen zupackenden Fürsten, der die partikularen Kräfte unterwerfen und die staatliche Einheit gewaltsam herbeiführen sollte. Doch erst in seiner Jenaer Zeit hat Hegel ein systematisches Studium der Politischen Philosophie, vor allem der Antike (Platon, Aristoteles), unternommen und sich neben Kant und Fichte auch mit den Naturrechts- und Vertragstheorien von Hobbes, Locke, Rousseau sowie mit der Politischen Ökonomie (James Steuart, Adam Smith) befaßt, die ihm ein besseres Verständnis der damaligen Lage ermöglichten. Hier erst hat er eine systematische Begründung unternommen und den Staat zur zentralen Integrationsinstanz und zur höchsten Gestalt des Sittlichen erklärt. Durch die Teilnahme am Staatsleben soll dem isolierten und atomisierten, aus den traditionellen – religiösen und ständischen – Banden emanzipierten, in seinem individuellen Glücksstreben gehemmten Individuum der Blick in höhere Sinnzusammenhänge geöffnet werden. Dem vereinsamten, durch die Arbeitstei1159 Im Gegensatz zu den Herausgebern des Bochumer Hegel-Archivs halte ich Schelling für den Verfasser. Es herrscht jedoch Einigkeit unter den Interpreten, daß das Fragment den damaligen Grundkonsens der drei Freunde Hölderlin, Schelling und Hegel festhält. Es handelt sich um die enthusiastische Herbeisehnung der Alleinheit (hen kai pan), die durch das System der Staaten gerade verhindert wurde. Vgl. dagegen C. Jamme/H. Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft. Frankfurt/M 1984. 1160 Vgl. Die Verfassung Deutschlands (1800–1802). In: HW 1, 451–610.

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lung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses auf immer einseitiger werdende Tätigkeiten fixierten Menschen soll vermittelt werden, daß er mehr ist und vermag, indem er innerhalb des Ganzen eine unverzichtbare Rolle spielt. Er soll sich selbst als Glied übergeordneter Einheiten begreifen, die ihm einen tieferen Lebenssinn vermitteln. Indem sich jeder einzelne als Teil oder Moment höherstufiger Einheiten und Kollektive erkennt, die eine überindividuelle Rationalität realisieren, gewinnt sein individuelles Leben eine Bedeutung, die ihn über die Entbehrungen und Versagungen, über das viele Leid in der Welt hinwegtrösten kann. Das Ziel der praktischen und politischen Philosophie Hegels läßt sich demnach mit jenen Worten beschreiben, mit denen Max Horkheimer in seiner Rektoratsrede von 1931 das Anliegen der damaligen Sozialphilosophie charakterisierte: Sie will „dem menschlichen Einzelwesen den Blick in eine überpersonale Sphäre . . . öffnen, die wesenhafter, sinnerfüllter, substantieller ist als sein Dasein“, um so „die aussichtslose Einzelexistenz wieder einzusenken in den Schoß oder . . . in den ,Goldgrund‘ sinnvoller Totalitäten“.1161 Hegel wußte, daß in den damaligen Staaten nur unzureichende Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger existierten. Eine Demokratie hielt er nicht für wünschenswert, weil dafür die erforderlichen sozialen, rechtlichen und mentalen Voraussetzungen fehlten. Das Prinzip der neueren Zeit, die Freiheit der Subjektivität, habe die Grundlagen zerstört, auf denen „die schöne glückliche Freiheit der Griechen“ und eine Demokratie gedeihen konnte (JR, S. 267). Hegel plädierte deshalb für die konstitutionelle Monarchie, in der die Stände tatkräftig bei der Beratung und Gesetzgebung mitwirken sollten. Schon in seinem Pamphlet über die Gebrechen der Magistratsversammlung in Württemberg (1798) hatte er die Vorund Nachteile der Demokratie erörtert, die er mit Verweis auf den geringen Bildungsstand der Bevölkerung und den fehlenden Gemeingeist ablehnte.1162 Da aber jeder einzelne nur im Verbund und in der Interaktion mit seinesgleichen sein Selbstbewußtsein bilden kann, suchte Hegel einen Ersatz für die verweigerte Partizipation in jenen Vereinigungen, die von der Französischen Revolution gerade aufgelöst wurden: „In unseren modernen Staaten haben die Bürger nur beschränkten Anteil an den allgemeinen Geschäften des Staates; es ist aber notwen1161 M. Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, S. 38. Daß die Suche nach höherstufigen Entitäten oder Kollektiven, die dem individuellen Leben Halt und einen tieferen Sinn vermitteln, grundsätzlich gefährlich ist, wurde bereits erwähnt (s. o., S. 725). Sie ist gegen das liberale Vertrauen in die Konkurrenz und die individuelle Selbstbestimmung gerichtet und bezweifelt die Fähigkeit der Menschen zur freiheitlichen Konfliktregelung. 1162 Vgl. Hegel, Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen (Über die neuesten inneren Verhältnisse Württembergs, besonders über die Gebrechen der Magistratsverfassung) (1798). In: HW 1, 268–273: „. . . solange alles übrige in dem alten Zustande bleibt, solange das Volk seine Rechte nicht kennt, solange kein Gemeingeist vorhanden ist, solange die Gewalt der Beamten nicht beschränkt ist, würden Volkswahlen nur dazu dienen, den völligen Umsturz unserer Verfassung herbeizuführen“ (S. 273).

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dig, dem sittlichen Menschen außer seinem Privatzwecke eine allgemeine Tätigkeit zu gewähren. Dieses Allgemeine, das ihm der moderne Staat nicht immer reicht, findet er in der Korporation“ (Rph, § 255 Zus.). Während Kant und die Liberalen auf die Vernunft der Einzelindividuen und die Kräfte des Marktes vertrauten, suchte Hegel nach übergreifenden Einheiten und Sinnzusammenhängen, die eine kollektive Vernunft realisieren. Diese Zielsetzung mußte aber nicht zwangsläufig zum Konservatismus oder gar Nationalismus führen. Sie ließ sich, wie seine „linken“ Schüler zeigten, auch sozialistisch oder kommunistisch wenden. Es war Marx, der die Motive Hegels aufgriff, um ihnen eine neue – zunächst radikaldemokratische, später kommunistische – Wendung zu geben. Er aktualisierte die von Hegel formulierten Zweckbestimmungen und zeigte en détail, daß der Staat weit überfordert wäre, wollte er sie tatsächlich erfüllen.1163 Sollte der Staat nach Hegel der prall erfüllte Lebens-, Sinn- und Handlungszusammenhang der freien Bürger sein, so war er in Marxens Augen zu einer blutleeren Hülse zusammengeschnurrt, die dem gesellschaftlichen Leben nicht als immanenter Zweck, sondern (in Gestalt von Bürokratie, Polizei, Heer) als feindliche Macht entgegentrat, als Instrument in Händen der herrschenden Klasse zur Niederhaltung und Unterdrückung der ausgebeuteten Klasse. Soll Hegels Zielsetzung tatsächlich erreicht werden, so müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutioniert und der Staat zum Verschwinden gebracht werden. Nicht im, sondern vom Staat soll sich die Menschheit emanzipieren. Marx übernimmt – und radikalisiert – die grundlegende Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und geht mit Hegel auf die Suche nach einer Form des menschlichen Zusammenlebens, in der die Defizienzen und der dilemmatische bzw. aporetische Charakter des bürgerlichen Lebens überwunden ist. Der Staat gilt ihm als bloßer Schein einer Einheit, als illusorische Gemeinschaftlichkeit, als Pendant der Religion, als ideologischer Apparat, d. h. als Ersatzlösung und Verschleierung der wirklichen Nöte und Probleme. Er kann diese schon deshalb nicht lösen, weil er von ihnen abstrahiert und seine Existenz gerade auf ihre Voraussetzung gründet.1164 Anders als Hegel und die Alt- und Jung- bzw. Rechts- und Linkshegelianer suchten die liberalen Theoretiker nicht nach übergreifenden Kollektiven oder freien Assoziationen, sondern nach Möglichkeiten der Freiheitssicherung. Einzelne von ihnen freundeten sich im 19. Jahrhundert sogar mit dem Gedanken der Demokratie und der politischen Gleichheit an. So erblickte etwa Alexis de Tocqueville (1805–59) in der nordamerikanischen Gesellschaft mit ihrer demokratischen Gleichheit das Zukunftsbild Frankreichs und Europas. Die politische Egalisierung und Nivellierung sei der unleugbare Trend der Zeit, der seit dem 12.

1163 1164

Vgl. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843). In: MEW 1, 203–333. Vgl. Marx, Zur Judenfrage (1844). In: MEW 1, 347–377, bes. S. 350 ff.

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Jahrhundert unaufhaltsam voranschritt und endlich zur allgemeinen Gleichheit führe.1165 Zur Zentralaufgabe der Politischen Theorie mußte deshalb die Sicherung der Freiheit unter Bedingungen demokratischer Gleichheit werden.1166 Rechtliche Schranken sollten die „Tyrannei der Mehrheit“ verhindern und eine Grenze für die rechtmäßige Einmischung der öffentlichen Meinung in die persönliche Unabhängigkeit festlegen und gegen Übergriffe schützen.1167 Dieses Anliegen wurde besonders dringend, als die sozialistische Arbeiterbewegung nicht nur politische, sondern soziale Gleichheit und die Ausdehnung der Demokratie auf Wirtschaft und Gesellschaft verlangte. Der Liberalismus sah sich folglich nicht nur dem Konservatismus konfrontiert, sondern mußte die revolutionären Errungenschaften auch gegen den Sozialismus verteidigen, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer mächtigen politischen Bewegung geworden war. Aufgrund seiner Erfahrungen mit der englischen Chartistenbewegung gelangte John Stuart Mill (1806–73) zu der Einsicht, daß die Majorität der englischen Bevölkerung nicht mehr – wie noch sein Vater James angenommen hatte – aus Privateigentümern, sondern aus Proletariern bestand, deren Verlangen nach sozialer Sicherheit und Mitbestimmung als berechtigt erschien, deren weitergehendes Streben nach sozialer Revolution aber abgewehrt werden sollte.1168 Mill forderte nicht nur ein allgemeines Wahlrecht für alle Bürger, einschließlich der Frauen, sondern darüber hinaus die Beteiligung aller an den kommunalen oder staatlichen Regierungsgeschäften. Wer nämlich nichts für sein Land zu tun habe, mache sich auch nichts aus demselben.1169

1165 A. d. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835/1840). Vgl. ders., Der alte Staat und die Revolution (1856). Zu Tocqueville siehe Göhler/Klein, Politische Theorien, S. 435 ff.; M. Hereth, Alexis de Tocqueville; C. G. v. Krockow, Alexis de Tocqueville (weitere Literatur: S. 125); Bermbach, Liberalismus, S. 345 ff. (Literatur: S. 367); H. Rausch, Tocqueville (Literatur: S. 393 f.) sowie die im Anhang der Ausgabe von J. P. Mayer genannte Literatur (Über die Demokratie, S. 379 ff.). 1166 Auch in Deutschland wurde gelegentlich eine Synthese erstrebt. Vgl. U. Backes, Liberalismus und Demokratie. 1167 Vgl. J. St. Mill, Über die Freiheit (1859), bes. Einleitung. Zur „Tyrannei der Mehrheit“ siehe S. 9 f. 1168 Vgl. J. St. Mill, Considerations on Representative Government (1861). Dazu V. Bartsch, Liberalismus und arbeitende Klassen; Bermbach, Liberalismus, S. 332 ff.; Göhler/Klein, Politische Theorien, S. 445 ff.; Macpherson, Nachruf auf die liberale Demokratie, S. 64 ff.; H. Rausch, John Stuart Mill; D. F. Thompson, John Stuart Mill and Representative Government. 1169 J. St. Mill, Betrachtungen über Repräsentativverfassung, S. 31 f. Für Mill ist die ideal beste Regierungsform diejenige, „in welcher die Souveränität . . . der ganzen Gesamtheit des Gemeinwesens innewohnt, wo jeder Bürger nicht nur eine Stimme bei der Ausübung dieser höchsten Souveränität hat, sondern auch wenigstens gelegentlich berufen wird, durch Übernahme irgend eines öffentlichen, entweder örtlichen oder staatlichen Amtes, tätigen Teil an der Regierung zu nehmen“ (S. 35). Die Geschlechterdifferenz bilde hinsichtlich der demokratischen Beteiligung keinen wichtigeren Unterschied als die Körpergröße oder die jeweilige Haarfarbe (S. 120).

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(2) Sozialismus und Staat Einen weiteren Aus- und Umbau des Staates bewirkte die sozialistische Arbeiterbewegung, die für die Emanzipation des Vierten Standes kämpfte und die kapitalistische in eine klassenlose Gesellschaft transformieren wollte, in der die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen abgeschafft sein sollte.1170 Der Kampf gegen die kapitalistische Eigentumsordnung war zugleich ein Kampf gegen den Staat, dessen Gewaltmonopol aufgehoben und durch freie Assoziationen ersetzt werden sollte. Strittig war, ob der Staat „zerschlagen“ oder aber für die soziale Revolution genutzt werden und folglich für eine Zeit des Übergangs fortexistieren sollte. In dieser Frage schieden sich die Geister. Während die einen sogleich Alternativen zur staatlich organisierten Gesellschaft zu realisieren suchten, wollten die anderen den Staatsapparat erobern und für den Fortgang der Revolution dienstbar machen, um ihn nach vollbrachtem Werk durch ein weltweites System der Selbstverwaltung zu ersetzen und allmählich „absterben“ zu lassen. Doch auch die sozialistische Bewegung wurde schließlich integriert und genötigt, sich mit dem Staat anzufreunden. Sie entwickelte im 20. Jahrhundert in ihren beiden dominanten Parteien allmählich ein affirmatives Verhältnis zum Staat, den sie für soziale Reformen (Sozialdemokratie) bzw. für die Revolution (Kommunismus) und so in beiden Varianten für die Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu instrumentalisieren gedachte. Zwar scheiterte sie mit diesen weitergehenden Ambitionen, doch wurde sie innerhalb der parlamentarischen Systeme zum Schrittmacher und Katalysator der weiteren Demokratisierung und der Etablierung von Wohlfahrtsstaaten. In den östlichen Ländern hingegen, wo im Gefolge der Oktoberrevolution (1917) kommunistische Parteien an die Macht gelangten, wurde der Parlamentarismus durch den demokratischen Zentralismus ersetzt, der die Kollektivierung der Produktionsmittel betrieb und dafür die bürgerlichen Freiheitsrechte und die rechtsstaatlichen Sicherungen außer Kraft setzte. Die Staaten starben folglich auch dort nicht ab, wo die soziale Revolution erfolgreich war. Sie verwandelten sich stattdessen in straff organisierte, hierarchisch stratifizierte bürokratische Apparate, die das gesellschaftliche Leben kontrollierten und die Entwicklung zum „Stahlgehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) forcierten. Der Ausdruck Sozialismus ist ein Sammelbegriff, der sehr unterschiedliche theoretische und praktische Positionen zusammenfaßt – vom utopischen Sozialismus über den religiösen, den „wissenschaftlichen“, den „real existierenden“, den Staatssozialismus, den demokratischen, libertären und den revolutionären Sozia1170 Vgl. G. H. D. Cole, A History of Socialist Thought; Droz (Hg.), Geschichte des Sozialismus; W. Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung; Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 552 ff.; L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich.

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lismus bis zu den sozialistischen oder marxistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt usw.1171 Läßt man die spezifischen Differenzen zwischen den unterschiedlichen sozialistischen Bewegungen außer Acht, dann lassen sich als Kern einige Gemeinsamkeiten festhalten: Ihr Ziel war die Bewältigung der Folgeprobleme der Industriellen und der Französischen Revolution durch Fortführung der Revolution, die nun nicht mehr nur das politische System, sondern die Gesamtgesellschaft ergreifen und umstülpen sollte. Es ging um die Lösung der „sozialen Frage“, d. h. um die Überwindung von Ausbeutung und Verelendung. Das uneingelöste Revolutionspostulat von Freiheit, Gleichheit und Solidarität (fraternité) bildete den Anknüpfungspunkt. Der Sozialismus war jene Bewegung, die das große Versprechen der französischen Revolutionäre tatsächlich zu realisieren suchte. Die Freiheit sollte nicht nur einem kleinen Teil der Bevölkerung, den Kapitaleignern und Grundbesitzern, sondern allen zugute kommen. Die Gleichheit sollte nicht beschränkt bleiben auf ihren legalen Aspekt, die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern als soziale Gleichheit verwirklicht werden. Schließlich sollte der bürgerliche Egoismus überwunden und durch solidarische Verhältnisse ersetzt werden. Den Angelpunkt bildete die Frage nach dem Privateigentum, und zwar vornehmlich nach dem an Produktionsmitteln. Dieses sollte „aufgehoben“ werden, die kapitalistische Eigentumsordnung sollte in eine kollektive oder genossenschaftliche Ordnung transformiert werden. In der Entwicklung des Sozialismus lassen sich insgesamt vier Etappen unterscheiden:1172 1. die Entstehungsphase (bis 1864); 2. die Zeit von der Gründung der Ersten bis zum Zerfall der Zweiten Internationale (1864–1914); 3. vom Beginn des I. bis zum Ende des II. Weltkrieges (1914–45); 4. die Zeit seit 1945. Eine fünfte Phase wäre mit dem Zerfall der Sowjetunion anzusetzen, doch kann diese Entwicklung hier nicht verfolgt werden. Für die Genealogie des Staates wurden vor allem die ersten beiden Epochen entscheidend. In ihnen wurden die möglichen Stellungen des Sozialismus zum Staat formuliert. 1. Die eigentliche Geburtsstunde des Sozialismus war die Julirevolution von 1830. Erst in ihrem Gefolge formierte sich die Arbeiterbewegung als Massenbewegung in spezifischen Organisationen. Erst seit dieser Zeit konnten sich die linken Intellektuellen auf breite Volksmassen stützen. Allerdings gab es bedeutende Vorläufer, deren wichtigste – nach den englischen Diggers – Gracchus Babeuf (1760–96) und die Frühsozialisten Claude-Henri de Saint-Simon (1760–1825),

1171 Vgl. dazu die Überblicksdarstellungen von G. Göhler/K. Roth, Art. Marxismus; K. Roth, Art. Kommunismus (sowie die dort genannte Literatur). 1172 Vgl. zum folgenden I. Sotelo, Demokratischer Sozialismus, S. 440 ff. Natürlich lassen sich auch andere Zäsuren setzen, z. B.: 1. Entstehung (bis 1830); 2. Von der Julibis zur 48er Revolution (1830–48); 3. Von der 48er Revolution bis zur Niederschlagung der Pariser Commune (1848–71); 4. Von 1871 bis 1914 usw. Für die hier verfolgte Fragestellung ist die von Sotelo vorgeschlagene Periodisierung aber hilfreich.

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Charles Fourier (1772–1837), Robert Owen (1771–1858) u. a. waren.1173 Seit Anbeginn lassen sich zwei konkurrierende Grundformen unterscheiden: Die einen wollten den Sozialismus im Kleinen beginnen lassen und erprobten auf der Grundlage gemeinsamen Eigentums und gemeinsamer Arbeit neue Lebensformen, die andere zur Nachahmung inspirieren sollten. Die anderen wollten den Kapitalismus und seinen Staat durch gewaltsamen Umsturz überwinden. Den ersten Weg gingen St.-Simon, Fourier, Owen und die religiösen Sozialisten (Étienne Cabet und die Ikarier u. a.) sowie die späteren Kommunebewegungen bis hin zu den israelitischen Kibbuzim. Den zweiten Weg wählten die französischen Babouvisten, die sich in Geheimgesellschaften organisierten und die permanente Revolution postulierten, den Sturz der Regierung und die Errichtung einer Übergangsdiktatur betrieben. Für die Genese des Staates wurde besonders die zweite Bewegung, der politische Sozialismus/Kommunismus, relevant. Die Zementierung des Staates und die Übernahme repräsentativer Formen durch die einstigen Radikaldemokraten löste schon früh Kritik und Widerstand von seiten der Sozialisten aus. Schon zu Beginn der Französischen Revolution propagierte Gracchus Babeuf die Prinzipien der direkten Demokratie, die er mit dem Gedanken der sozialen Gleichheit verknüpfte. Er führte den Jakobinern ihre Inkonsequenz und ihre Abweichung von den eigenen Zielen vor Augen und organisierte 1796 die Verschwörung der Gleichen, die zu einem wichtigen Anstoß des späteren Sozialismus wurde.1174 Der Aufstand scheiterte letztendlich, Babeuf wurde 1797 hingerichtet. Er wurde aber zum Orientierungsmuster für die späteren Babouvisten, die sich im Gefolge der Julirevolution (1830) in Geheimgesellschaften organisierten.1175 Babeufs Schüler Filippo Buonarroti verfaßte 1828 die Geschichte des Aufstandes und gab damit den Babouvisten einen Leitfaden für ihre politische Arbeit und ihre Organisation an die Hand.1176 Die babeufsche Verschwörung erlangte dadurch paradigmatische Bedeutung. Der Babouvismus ging hervor aus dem Republikanismus.1177 Die Republikaner waren in die Minderheit geraten, weil sich die Bourgeoisie im Gefolge der 1173 Zur Entstehung des Sozialismus vgl. auch R. Bambach, Der französische Frühsozialismus; J. Bruhat, Der französische Sozialismus von 1815 bis 1848; F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; M. Hahn (Hg.), Vormarxistischer Sozialismus; M. Hahn/H.-J. Sandkühler (Hg.), Sozialismus vor Marx; F. Kool/W. Krause (Hg.), Die frühen Sozialisten; W. Röd, Philosophie als Gesellschaftsund Religionskritik. In: S. Poggi/W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 4, S. 155 ff.; I. Sotelo/R. Bambach, Utopie, Frühsozialismus und Sozialreform; Sotelo, Demokratischer Sozialismus (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen). 1174 Vgl. G. Babeuf, Die Verschwörung für die Gleichheit. 1175 Die zwei größten babouvistischen Geheimgesellschaften bildeten nach 1830 die Égalitarier (Travailleurs Égalitaires) und die Humanitarier, die seit 1841 die Zeitschrift „L’Humanitaire“ herausgaben (Theodor Dézamy). 1176 Vgl. F. M. Buonarroti, Conspiration pour L’égalité, dite de Babeuf; A. Soboul (Hg.), Babeuf et les problèmes du babouvisme.

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Julirevolution zur konstitutionellen Monarchie bekannte und gegen die Republik wandte. Die von der Revolution erstrebte Wahlreform blieb deshalb auf halbem Wege stecken. Das Wahlgesetz vom März 1831 sah keine allgemeinen Wahlen vor. Anfang März 1834 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das geheime Verbindungen verbot. Folge davon war die alsbaldige Auflösung der „Gesellschaft der Menschenrechte“, die 1833 – nach dem Verbot der „Gesellschaft der Volksfreunde“ – zum Mittelpunkt des Republikanismus geworden war. Bei den nun folgenden Aufständen und Straßenschlachten wurden zahlreiche Republikaner verhaftet, die erst im Mai 1837 amnestiert wurden. Die Inhaftierten lasen im Gefängnis die von Buonarroti verfaßte Geschichte der Babeufschen Verschwörung und gingen dann, wie Lorenz von Stein bemerkt, „als kühne Babouvisten“ in die Freiheit. Es bildeten sich neue Geheimgesellschaften heraus. Aus dem Comité révolutionnaire (A. Blanqui, Barbès, Martin Bernard) ging die Gesellschaft der Jahreszeiten hervor, die sich neben den Égalitaires und den Humanitariern etablierte. Entscheidend für die Strategie und Taktik der Sozialisten/Kommunisten wurde ihre Stellung zum Staat. In dieser Frage manifestierten sich schon frühzeitig Differenzen und Gegensätze. Prinzipiell waren zwei Haltungen möglich: der Kampf gegen die konzentrierte staatliche Gewalt oder aber der Versuch, sie zu erobern und für den Übergang zum Sozialismus zu instrumentalisieren. Während die einen den Staat zum Verschwinden bringen wollten, setzten die anderen ihre Hoffnung auf ihn. Es war Pierre-Joseph Proudhon, der diesen Gegensatz auf den Begriff brachte, als er den demokratischen Sozialismus vom Staatssozialismus unterschied: „Louis Blanc vertritt den Regierungssozialismus, die Revolution von der Macht aus; ich vertrete den demokratischen Sozialismus, die Revolution durch das Volk“.1178 Louis Blanc hatte in seinem Aufsatz über die Organisation der Arbeit von 1841 die Vorstellung entwickelt, das Kapital selbst werde durch Konzentration in immer weniger Händen die Konkurrenz als Quelle des sozialen Elends bezwingen. Am Ende dieses Prozesses werde der Staat – als größter Kapitalist – 1177 Vgl. zum folgenden L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich. Bd. 2, S. 341 ff. 1178 P.-J. Proudhon, Bekenntnisse eines Revolutionärs (1849). Zitiert nach Sotelo, Demokratischer Sozialismus/Reformkommunismus, S. 443. „Zum ersten Mal“, folgert Sotelo, „finden wir die entscheidende Differenzierung zwischen einem staatlichen Sozialismus, der seine Ziele mit Hilfe der organisierten Macht des Staates durchsetzen will, und einem demokratischen Sozialismus, der zur Umsetzung seiner Vorhaben keine andere Form als die direkte Aktion des Volkes zulassen will. Seit den Anfängen des Sozialismus gibt es die Unterscheidung zwischen autoritärem Sozialismus und demokratischem Sozialismus. Der autoritäre Sozialismus wird von einer zahlenmäßig kleinen Avantgarde der Arbeiterklasse angeführt, die entweder mit dem bestehenden Staat zusammenarbeitet oder nach dessen Eroberung bzw. Zerstörung und Ersetzung durch einen neuen Staat versucht, eine neue soziale Ordnung zu errichten. Für den demokratischen Sozialismus kann die Emanzipation der Arbeiterklasse nur das direkte Werk der Arbeiterklasse selbst sein“ (ebd.).

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zum alleinigen Herrscher über die Produktion. Sei dies erreicht, gelte es, die gesamte Staatsmaschinerie zu demokratisieren, um jedem die Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum zu ermöglichen.1179 Proudhon dagegen setzte seine Hoffnungen auf die Selbstbefreiung des Volkes, das die konzentrierte Macht des Staates abschütteln sollte. Er versuchte in seinem Buch Qu’est-ce que la propriété? (1840) den Nachweis zu erbringen, daß das Eigentum unmöglich ist, da weder eigene Arbeit noch Besitzergreifung dasselbe als positives Recht schaffen kann. Es sei eine Wirkung ohne Ursache und basiere letztendlich auf Diebstahl. Die Überführung des Privateigentums in kollektives Eigentum könne daher keine Lösung sein. Allein die Anarchie – als Aufhebung von Kommunismus und Privateigentum – könne zu Herrschaftsfreiheit und zu individueller Selbstverantwortung führen, die ihrerseits Voraussetzung zur Bezwingung der Konkurrenz und ihrer verderblichen Folgen sei.1180 Im Gegensatz zum „demokratisch-anarchistischen“ und zum „Staatssozialismus“ Louis Blancs wollten die Babouvisten die staatliche Macht durch einen Putsch erobern und für die Überwindung des Kapitalismus nutzen. Sie plädierten für die permanente Revolution und die Errichtung einer Übergangsdiktatur. Diese Strategie verfochten vor allem Louis-Auguste Blanqui (1805–81) und seine Freunde und Schüler, die in der 48er Revolution führend wurden.1181 Von den Blanquisten übernahmen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest (1848) das Konzept einer Diktatur des Proletariats als Vorstufe des Kommunismus.1182 Sie haben es allerdings abgewandelt. Ihr Ziel war kein Putsch und keine Erziehungsdiktatur, sondern eine Massendemokratie, in der die zahlenmäßig stärkste Klasse das Sagen hat und die Trennung von Gesellschaft und Staat überwindet. Marx’ Haltung zum Staat hat sich jedoch im Lauf der Jahre mehrfach verändert.1183 In seinen Frühschriften erblickte er im Staat eine illusorische Gemeinschaftlichkeit und ein Unterdrückungsinstrument in Händen der herrschenden Klasse, das in der Demokratie untergehen wird.1184 Während der 48er Revolu1179

L. Blanc, Organisation du travail (1841). P.-J. Proudhon, Qu’est-ce que la propriété? (1840). 1181 Vgl. A. Blanqui, Constructions pour une prise d’armes (1869). Dazu F. Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution (weitere Literatur: S. 289 ff.). 1182 Vgl. Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848). In: MEW 4, 459–493. Siehe auch E. Balibar, Über die Diktatur des Proletariats. Hamburg, Berlin 1977; K. Roth, Art. Diktatur des Proletariats. In: D. Nohlen/R.-O. Schultze (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd. 1. München, Zürich 1985, S. 168 f. 1183 Zur Marxschen Staatsauffassung vgl. K. Marx/F. Engels, Staatstheorie. 1184 Siehe oben S. 756. Die durch den Staat bewirkte politische Emanzipation wird nach Marx erweitert zur allgemein menschlichen Emanzipation, die der Verselbständigung des Politischen ein Ende setzt. Vgl. Zur Judenfrage (1844). In: MEW 1, S. 350 ff.: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und 1180

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tion wollte er hingegen den Staatsapparat erobern und für die revolutionäre Umgestaltung nutzbar machen. Später erblickte er in ihm den bloßen „Reflex“ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse,1185 der mit ihnen einer höheren Form der Vergesellschaftung Platz machen wird.1186 In den 70er Jahren schließlich wollte er eine politische Gegenmacht zum Staat aufbauen, um diesen aus den Angeln zu hebeln. Diese sah er 1871 in der Pariser Commune paradigmatisch entwickelt.1187 Der Tod der Kommunarden ließ jedoch auch an dieser Konzeption zweifeln und trieb den Marxismus auf die Suche nach einer gewandelten Staatsauffassung.1188 2. Die Phase von 1864 bis 1914, d. h. von der Gründung der I. bis zur Auflösung der II. Internationale, war die Zeit des allgemeinen Aufschwungs, der Ausbreitung und der Etablierung der Arbeiterbewegung, die sich in ganz Europa in Parteien und Gewerkschaften organisierte.1189 Das Verhältnis zwischen beiden Organisationsformen wurde zum Anlaß des Streites und der Spaltung des Sozialismus. Den Tradeunionisten standen die Sozialrevolutionäre gegenüber. Vorherrschend wurde der Marxismus, der sich aber dem Anarchismus und dem Syndikalismus konfrontiert sah. Drei Formen oder Typen des Sozialismus lassen sich in dieser Epoche unterscheiden:1190 1. der deutsche Typus, der gekennzeichnet ist durch ein marxistisches Selbstverständnis und durch den Primat der politischen Arbeiterpartei gegenüber den anderen Organisationsformen; 2. der romanische Typus, der charakterisiert ist durch einen Dualismus zwischen antiparlamentaorganisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“ (S. 370). 1185 Zu diesem Umbruch vgl. O. Kallscheuer, Der Staat als Ausdruck und als Instrument. Zur Kritik am ökonomistischen Staatsverständnis vgl. auch H. Heller, Staatslehre, S. 187 ff. 1186 Bereits 1920 hat Hans Kelsen (Sozialismus und Staat) auf einen Widerspruch in der Theorie des Marxismus hingewiesen, der sich schon bei Marx selbst findet und die künftige Entwicklung prägte. Während nämlich die politische Theorie Marxens einem individualistisch-anarchistischen Ideal huldigt, ist die Konsequenz der ökonomischen Theorie der berüchtigte Zentralismus und damit die Bürokratisierung. Vgl. auch die Replik von M. Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus. 1187 Vgl. K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871). In: MEW 17, 313–362: Die Arbeiterklasse „kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen“ (S. 336). Sie müsse vielmehr die bürokratisch-militärische Maschinerie zerbrechen. Siehe auch ders., Brief an Kugelmann v. 12.4.1871. In: MEW 33, S. 205. 1188 Zur Entwicklung des Marxismus vgl. I. Fetscher, Der Marxismus; Göhler/Roth, Art. Marxismus; O. Kallscheuer, Marxismus und Sozialismus bis zum Ersten Weltkrieg; L. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus; P. Vranicki, Geschichte des Marxismus. 1189 Vgl. J. Braunthal, Geschichte der Internationale; Droz (Hg.), Geschichte des Sozialismus. Bd. 4 ff.; F. Osterroth/D. Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Bd. I: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. 1190 Vgl. zum folgenden Kallscheuer, Marxismus und Sozialismus, S. 532 f.

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risch-syndikalistischen und parlamentarisch-sozialistischen Tendenzen; in den südlichen Ländern dominierte insgesamt der revolutionäre bzw. der AnarchoSyndikalismus; 3. der angelsächsische Typus, in dem die Gewerkschaftsbewegung den Ton angab und die politische Partei eine untergeordnete Rolle spielte. Repräsentativ für den letzten Typ war die Fabian Society, die 1884 gegründet wurde und einen evolutionären Weg zum Sozialismus mittels Reformen erstrebte. Der markanteste Fabier war Sidney Webb, der in seinem Buch Socialism in England (1899) die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Demokratie und Sozialismus begründete. In der Ökonomie Sozialismus, in der Politik Demokratie, lautete seine Grundposition. Der Sozialismus erschien als die ökonomische Seite der Demokratie, und diese sollte schrittweise durch demokratische Reformen herbeigeführt werden. Diese Konzeption der Fabier, zu denen auch George Bernard Shaw und H. G. Wells zählten, gab die Grundlage ab für die Labour Party (gegründet 1900) und hat in Deutschland den Revisionismus von Eduard Bernstein und damit die Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts inspiriert (obgleich Bernstein einen Einfluß des Fabianismus bestritt). Der Syndikalismus wandte sich gegen die politische Orientierung des Kampfes, gegen die Partei und gegen die staatliche Demokratie. Er konzentrierte sich auf die Gewerkschaften. Er ist definiert durch vier Elemente:1191 1. durch das Syndikat (Einheitsbetriebsorganisation und Gewerkschaft), das die Organisationsform sowohl des revolutionären Kampfes als auch der herrschaftsfreien Gesellschaft bilden soll; 2. durch den Föderalismus als Organisationsprinzip der zukünftigen Gesellschaft; 3. durch das Streben, den Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie revolutionär aufzuheben; 4. durch einen Antietatismus, d. h. durch das Ziel, den Staat als verselbständigte bürokratische Institution zu beseitigen. Die bekanntesten Syndikalisten waren Fernand Pelloutier (1867– 1901) und George Sorel (1847–1922). Als wichtigstes Kampfmittel wurde der Streik betrachtet, namentlich der Generalstreik, den Sorel in seinem Buch Über die Gewalt (1908) in den Rang eines Mythos erhob. Während in den südlichen Ländern gewöhnlich ein Dualismus herrschte, erlangte der Anarcho-Syndikalismus seine bedeutendste Entwicklung in Spanien, wo er gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Massenbewegung wurde. Eine Vermittlung zwischen revolutionär-syndikalistischer und revisionistischer Richtung versuchte in Frankreich nach der Niederschlagung der Pariser Commune Jean Jaurès (1859–1914), der sowohl für die politische Demokratie wie für die Arbeiterselbstverwaltung in Berufsverbänden eintrat. Die Ablehnung des Staates fand ihren klarsten Ausdruck im Anarchismus, der gegen die Hegemonie des Marxismus und für die unmittelbare Massenaktion kämpfte.1192 Zum bedeutendsten Widersacher Marxens in der I. Internationale wurde Michail Bakunin (1814–76), der im Anschluß an Proudhon die alten revo1191

Vgl. P. Lösche, Art. Syndikalismus.

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lutionären Ideale hochhielt. Ihm zufolge war 1848 nicht der Sozialismus im allgemeinen unterlegen, sondern nur „der Staatssozialismus, der autoritäre und reglementierte Sozialismus, der geglaubt und gehofft hatte, daß der Staat den Bedürfnissen und legitimen Wünschen der Arbeiterklasse volle Befriedigung gewähren werde und mit seiner Allmacht eine neue soziale Ordnung einführen wolle und könne“.1193 Bakunin kritisierte in der Folgezeit Marx als Vertreter des autoritären Staatssozialismus und begründete die Gegenkonzeption des demokratischen oder anarchischen Sozialismus. Marx sei „ein autoritärer Kommunist, der . . . die Befreiung des Proletariats durch die zentralisierte Macht des Staates will“.1194 Der wahre Sozialismus hingegen kämpfe für die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse, die sich „von unten nach oben“ organisiert und ein System der demokratischen Selbstverwaltung institutionalisiert. Staat und Revolution bilden für Bakunin „die beiden Pole, deren Antagonismus heute das Wesen der gesellschaftlichen Zustände in ganz Europa ausmacht“.1195 Der Staat sollte deshalb „zerschlagen“ werden, um der Revolution Platz zu schaffen, die eine nicht-staatliche und herrschaftsfreie Ordnung hervorbringen wird. Bakunin präzisierte diese seine Vorstellungen in seinen Reflexionen über die Pariser Commune:1196 „Es ist offenbar, daß die Menschheit ihre Freiheit erst zurückerhalten kann, und daß die wirklichen Interessen der Gesellschaft, aller Gruppen und lokaler Organisationen und Einzelpersonen, welche sie bilden, erst wirklich befriedigt werden können, wenn es keine Staaten mehr geben wird. Es ist offenbar, daß alle sogenannten allgemeinen Interessen der Gesellschaft, die der Staat angeblich vertritt, und die in Wirklichkeit nur die durchgängige und beständige Negierung der positiven Interessen der Distrikte, Gemeinden, Vereinigungen und der meisten dem Staat untertanen Einzelpersonen sind, eine Abstraktion, eine Fiktion, eine Lüge bilden und der Staat gleichsam eine große Schlächterei und ein ungeheurer Friedhof ist . . .“ (S. 307) „Die Abschaffung der Kirche und des Staates muß die erste und unausweichliche Bedingung der wirklichen Befreiung der Gesellschaft sein“ (ebd.). „Die zukünftige soziale Organisation darf nur von unten nach oben errichtet werden durch die freie Assoziation und Föderierung der Arbeiter zunächst in den Assoziationen, dann in den Gemeinden, den Distrikten, den Nationen und zuletzt in einer großen internationalen und universellen Föderation“ (S. 308).

Daß Marx von diesen Ideen nicht allzu weit entfernt war, verdeutlicht seine Auseinandersetzung mit Ferdinand Lassalle (1825–64) und der deutschen Sozialdemokratie. Während Lassalle die Lösung der sozialen Frage von staatlich geför1192 Vgl. Fenske, Politisches Denken von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, S. 457 ff.; Göhler/Klein, Politische Theorien, S. 577 ff.; P. Lösche, Anarchismus; M. Nettlau, Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin; F. Neumann, Anarchismus. 1193 M. Bakunin, Der Sozialismus (1867). In ders., Staatlichkeit und Anarchie, 65– 71; hier: S. 68. 1194 Bakunin, Persönliche Beziehungen zu Marx (1871). Ebd., 395–410; hier: S. 398. 1195 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie (1873). Ebd., 417–658; hier: S. 436. 1196 Bakunin, Die Commune von Paris und der Staat (1871). Ebd., 298–314.

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derten Produktivgenossenschaften und von der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts erhoffte, lehnte Marx den „Staatssozialismus“ strikt ab. Wie sein Rivale Bakunin wollte er den Staat letztlich zum Verschwinden bringen, doch sollte er nicht „zerschlagen“, sondern genutzt, verwandelt und schließlich überflüssig werden. In seiner Kritik des Gothaer Programms (1875)1197 formulierte er als Ziel der revolutionären Bewegung die Verwandlung des Staates „aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ“ (S. 27). Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liege „die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats“ (S. 28). Die demokratische Republik sei nicht das erstrebte Tausendjährige Reich, sondern die letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher „der Klassenkampf definitiv auszufechten ist“ (S. 29). Deutlicher noch als Marx hat Friedrich Engels das Verhältnis des Marxismus zum Staat auf den Begriff gebracht. Ihm zufolge macht sich der Staat selbst überflüssig, indem er endlich tatsächlich zum Repräsentanten der gesamten Gesellschaft wird: „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft‘, er stirbt ab“.1198 Die Niederschlagung der Pariser Commune wurde zu einer entscheidenden Zäsur in der Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegung. Danach verlagerte sich die Auseinandersetzung auf den politischen Tageskampf: „Statt der spontanen Revolutionen, Aufstände, Barrikadenkämpfe, nach denen das Proletariat jedesmal wieder in seinen passiven Zustand zurückfiel, begann der systematische Tageskampf, die Ausnützung des bürgerlichen Parlamentarismus, die Massenorganisation, die Vermählung des wirtschaftlichen mit dem politischen Kampfe und des sozialistischen Ideals mit der hartnäckigen Verteidigung der nächsten Tagesinteressen“.1199 In Deutschland hatte die Sozialdemokratie nach der Reichsgründung (1871) unter den von Bismarck durchgesetzten Sozialistengesetzen 1197 Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875). In: MEW 19, 11–32. Seitenzahlen im nachfolgenden Absatz ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. 1198 F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880). In: MEW 19, 177–228; hier: S. 224. Auch in ders., Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring) (1878). In: MEW 20, 1–303; hier: S. 262. 1199 R. Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie (1916), S. 21. Nach Luxemburg begann deshalb eine neue Etappe: „Das Grab der Pariser Kommune hatte die erste Phase der europäischen Arbeiterbewegung und die erste Internationale geschlossen. Seitdem begann eine neue Phase“ (ebd.).

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(1878) zu leiden. Um den zunehmenden Druck der Arbeiterbewegung abzuschwächen, hatte der Reichskanzler andererseits damit begonnen, soziale Sicherungssysteme einzuführen – von der Kranken- (1883) über die Unfall- (1884) bis zur Alters- und Invalidenversicherung (1889), die später von den anderen europäischen Staaten übernommen wurden. Obgleich damit wichtige Schritte zur Eindämmung der Verelendung getan waren, wuchs die SPD von Wahl zu Wahl. Während der II. Internationale (1889–1914) wurden ökonomistische Positionen dominant. Die führenden Theoretiker vertrauten auf den zwangsläufigen Kollaps des Kapitalismus und auf den entwicklungsnotwendigen Übergang in den Sozialismus. Das Ausbleiben des erwarteten Zusammenbruchs veranlaßte jedoch Eduard Bernstein (1850–1932), die Prämissen der von Karl Kautsky (1854– 1938) dogmatisierten marxistischen Theorie und Praxis in Frage zu stellen. Unter dem Einfluß Bernsteins setzte die deutsche Sozialdemokratie ihre Hoffnungen nicht mehr auf die Revolution, sondern auf Reformen. Sie entwickelte allmählich ein affirmatives Verhältnis zum Staat und sah in ihm ferner ein Medium der sozialen Emanzipation. Er sollte nicht mehr „absterben“, sondern demokratisiert und als Sozialstaat ausgebaut werden. Diese gewandelte Auffassung war Resultat des von Bernstein ausgelösten Revisionismusstreits. Der Revisionismus Bernsteins läßt sich in vier Punkten zusammenfassen:1200 Zum ersten wurden die in der II. Internationale gehegten marxistischen Prognosen über die kapitalistische Entwicklung kritisiert. Sodann wurde das blanquistische Revolutionsverständnis des Marxismus attackiert. Ferner begründete Bernstein eine gradualistisch-,konstruktive‘ Reformkonzeption, die auf den fabianischen Sozialismus zurückgeht. Schließlich kritisierte er das marxistische Wissenschaftsverständnis, speziell die Dialektik, die er verantwortlich machte für die falschen sozialgeschichtlichen Prognosen. Als entscheidende Fehlprognose betrachtete er die Zusammenbruchsvorstellungen und die These einer unausweichlichen Polarisierung der Klassengesellschaft. Bernstein verwarf jegliche messianische Hoffnung. Das Ziel war ihm nichts, die Bewegung alles. Die Demokratie erschien nicht länger als bloßes Instrument der Transformation, sondern zugleich als Ziel und Zweck der sozialistischen Bewegung:1201 „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus“ (S. 178). Der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft hebe die bürgerliche Gesellschaft nicht auf, sondern führe zu ihrer Verallgemeinerung: „Kein Mensch denkt daran, der bürgerlichen Gesellschaft als einem zivilistisch 1200 Vgl. zum folgenden Kallscheuer, Marxismus und Sozialismus, S. 545 ff. Ferner L. Coletti, Bernstein und der Marxismus der Zweiten Internationale; H. Grebing, Der Revisionismus; T. Meyer, Bernsteins konstruktiver Sozialismus. 1201 Vgl. zum folgenden E. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 170 ff. Seitenzahlen in den nachfolgenden Absätzen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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geordneten Gemeinwesen an den Leib zu wollen. Im Gegenteil. Die Sozialdemokratie will nicht diese Gesellschaft auflösen und ihre Mitglieder allesamt proletarisieren, sie arbeitet vielmehr unablässig daran, den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgertum oder Bürgersein zu verallgemeinern. Sie will nicht an die Stelle der bürgerlichen eine proletarische Gesellschaft, sondern sie will an die Stelle der kapitalistischen eine sozialistische Gesellschaftsordnung setzen“ (S. 183). Der Liberalismus sollte nicht bekämpft, sondern beerbt werden. „Die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit ist der Zweck aller sozialistischen Maßregeln“ (S. 185) „Tatsächlich gibt es keinen liberalen Gedanken, der nicht auch zum Ideengehalt des Sozialismus gehörte“ (S. 186). „Das Individuum soll frei sein“ (S. 188). Das Mittel der Freiheit ist die Organisation, weshalb man den Sozialismus auch „organisatorischen Liberalismus“ nennen könne (ebd.) „Soll die Demokratie nicht den zentralistischen Absolutismus im Hecken von Bureaukratie noch überbieten, so muß sie aufgebaut sein auf einer weitgegliederten Selbstverwaltung mit entsprechender wirtschaftlicher Selbstverantwortlichkeit aller Verwaltungseinheiten wie der mündigen Staatsbürger“ (S. 189 f.). Bernstein kommt deshalb zu dem Schluß, „daß die Erkämpfung der Demokratie, die Ausbildung von politischen und wirtschaftlichen Organen der Demokratie die unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus ist“ (S. 196). Damit hatte Bernstein die sozialdemokratische Alternative zum Kommunismus formuliert. Zwar provozierten seine Ideen den Protest und Widerstand des orthodoxen Marxismus (Karl Kautsky) und der radikalen Linken (Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek, Karl Liebknecht),1202 doch setzten sie sich in der deutschen Sozialdemokratie schließlich durch. Erstrebt wurde nicht mehr die Konzentration und Zentralisation der politischen Herrschafts- und Entscheidungsgewalt in Händen der Arbeiterpartei, sondern eine rechtsstaatlich-demokratische Ordnung auf der Basis wirtschaftlicher und politischer Selbstverwaltung.1203 Die überkommene Idee der Diktatur des Proletariats wurde als „Phrase“ zurückgewiesen (S. 182). Für Bernstein besteht die Demokratie nicht in der Herrschaft einer Klasse über die anderen, sondern in der Abwesenheit von Klassenherrschaft. Sie beseitige zwar nicht die Klassen, sei aber ein Gesellschaftszustand, „wo keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber der Gesamtheit zusteht“ (S. 176). Allerdings hielt Bernstein daran fest, daß mit der Aufhebung der Klassenspaltung der Staat und mit ihm die Parteien und der Parlamentarismus „absterben“ 1202 Vgl. dazu D. Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus; Fetscher, Der Marxismus, S. 730 ff., 748 ff.; Kallscheuer, Marxismus, S. 563 ff.; Kolakowski, Die Hauptströmungen. Bd. 2; M. Scharrer, Arbeiterbewegung im Obrigkeitsstaat; C. E. Schorske, Die große Spaltung; Vranicki, Geschichte des Marxismus. Bd. 1, S. 305 ff. 1203 Zur Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie vgl. auch D. Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei.

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werden. An die Stelle der staatlichen Politik sollte in der künftigen sozialistischen Gesellschaft die basisdemokratische Selbstverwaltung durch örtliche und berufliche Assoziationen treten.1204 Diese Hoffnung wurde durch den Ersten Weltkrieg zunichte gemacht, der zur Aufrüstung und Mobilisierung der europäischen Staaten und zu ihrem frontalen Zusammenprall führte. Als nach seinem Ende in zahlreichen Ländern sozialistische Parteien an die Macht gelangten, dachten sie nicht mehr daran, den Staat in die Gesellschaft zurückzunehmen und absterben zu lassen. Vielmehr suchten sie seine Institutionen zu nutzen, um die Rechte der Arbeiter zur Geltung zu bringen und ihre soziale Lage zu verbessern.1205 Die weitere Geschichte des Sozialismus wurde geprägt durch das große Schisma, die Spaltung der Arbeiterbewegung in Kommunismus und Sozialdemokratie. Verlief die Haupttrennungslinie während der II. Internationale zwischen dem marxistischen Sozialismus in Zentral- und Nordeuropa einerseits, dem Anarcho-Syndikalismus und Anarchismus im Süden andererseits, so ging die Spaltung zwischen Kommunismus und demokratischem Sozialismus nach der Gründung der III. Internationale (1919) „quer durch alle Länder von Ost- nach Westeuropa“.1206 Sie war folglich keine geographische Spaltung in West und Ost, vielmehr traten überall kommunistische Parteien den sozialdemokratischen gegenüber. Während aber in den hochentwickelten Industriegesellschaften des Westens zumeist die Sozialdemokraten ihre kommunistischen Gegner dominierten, setzte sich in der zurückgebliebenen Agrargesellschaft Rußlands der Kommunismus durch. Schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte der Sozialismus in Rußland einen rapiden Aufstieg erlebt.1207 Er fand seinen Höhepunkt in 1204 Bernstein, Parlamentarismus und Sozialdemokratie, S. 59 f. [Auszüge in: Fetscher, Der Marxismus, S. 837]: „In dem Maße, als die Klassenkämpfe an Intensität verlieren, treten örtliche und berufliche Interessen, bzw. die einen oder die andern, in den Vordergrund, und damit wird allmählich die Umwandlung der zentralisierten Staaten in demokratisch, d. h. von unten auf konstituierte Föderativkörper unvermeidlich . . . Mit dem Fortgang dieser Entwicklung verlieren die politischen Parteien ihren Zweck, und mit ihnen stirbt alsdann auch der eigentliche Parlamentarismus.“ 1205 Diese Haltung wurde schon früh kritisiert von Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). In: MEW 8, 114–207: „Den sozialen Forderungen des Proletariats ward die revolutionäre Pointe abgebrochen und eine demokratische Wendung gegeben, den demokratischen Ansprüchen des Kleinbürgertums die bloß politische Form abgestreift und ihre sozialistische Pointe herausgekehrt. So entstand die SozialDemokratie . . . Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie faßt sich dahin zusammen, daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln“ (S. 141). 1206 Sotelo, Demokratischer Sozialismus, S. 446. Zur weiteren Entwicklung des Sozialismus vgl. Droz (Hg.), Geschichte. Bd. 10 ff.; W. Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung, S. 169 ff. 1207 Zur Entstehung und Entwicklung des russischen Sozialismus vgl. J. Scherrer, Politische Ideen im vorrevolutionären und revolutionären Rußland, S. 221 ff. (weitere Literatur: S. 276 ff.).

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der Oktoberrevolution (1917), in deren Gefolge Lenin und Stalin ihre liberalen, sozialdemokratischen, anarchistischen, marxistischen und sonstigen Gegner ausschalteten.1208 Die Entwicklung und Verfestigung des Gegensatzes soll hier nicht verfolgt werden. Festzuhalten ist, welche Folgen sie für die Genealogie des Staates hatten. Beide Seiten schlossen – widerwillig zwar, doch notgedrungen – ihren Frieden mit dem Staat, der sich unter ihrem Einfluß weiter wandelte. Während die Sozialdemokratie die Errungenschaften des bürgerlichen Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie bewahrte und durch sozialstaatliche Sicherungen und demokratische Teilhaberechte ergänzte, wurden sie in jenen Ländern, in denen kommunistische Parteien an die Macht gelangten, wieder außer Kraft gesetzt. An ihre Stelle traten Obrigkeitsstaaten, die für die soziale Sicherheit ihrer Staatsgenossen sorgten, mit Hilfe des demokratischen Zentralismus die Kollektivierung der Produktionsmittel betrieben, die Macht in den Händen der kommunistischen Partei konzentrierten – und dafür die rechtsstaatlichen Schutz- und Abwehrrechte suspendierten und die Gewaltenteilung eliminierten. Die Staaten starben jedoch auch und gerade dort nicht ab, wo sie tatsächlich die Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft ergriffen. Anstatt einem herrschaftsfreien und harmonischen Zusammenleben Platz zu machen, verfestigte sich der bürokratische Herrschaftsapparat, der sich auf Dauer stellte und zum Planungs- und Steuerungszentrum der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung erklärte. An die Stelle des proklamierten proletarischen Internationalismus trat nach der Oktoberrevolution die Leitidee vom Sozialismus in einem Land, die notgedrungen etatistisch orientiert sein mußte. So erlebte der von Louis Blanc erdachte, vom Marxismus-Leninismus als „kleinbürgerlich“ beschimpfte Staatssozialismus in der Sowjetunion und ihren späteren Satellitenstaaten seine Inkarnation – allerdings ohne die von Blanc erhoffte Demokratisierung des Staatslebens. Der Sozialismus wurde zur Legitimationsideologie der herrschenden Staatsbürokratie, die ihn mit der zentralen Planwirtschaft identifizierte.1209 Während der Staat theoretisch negiert, als 1208 Zur Entstehung und Entwicklung des Marxismus-Leninismus siehe auch Abendroth, Der theoretische Weltkommunismus, S. 223 ff.; Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie; ders., Karl Marx und der Marxismus; F. Furet, Das Ende der Illusion; Sotelo, Reformkommunismus; Vranicki, Geschichte des Marxismus. Bd. 1, S. 407 ff.; Bd. 2, S. 568 ff. sowie die Beiträge über Lenin, Trotzki und Stalinismus in: F. Neumann (Hg.), Handbuch, S. 337 ff. 1209 Den Bedeutungswandel des Sozialismusbegriffs im Stalinismus hat Ignatio Sotelo (Reformkommunismus, S. 459) wie folgt zusammengefaßt: „Bis dahin verstand man unter Sozialismus die Entfaltung einer freien und von Grund auf humanen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus zugleich auch die der Klassengesellschaft eigenen Formen – staatlich und bürokratisch institutionalisierter – sozialer Entfremdung überwinden sollte. In seiner neuen . . . Bedeutung bezeichnet Sozialismus einfach den Prozeß beschleunigter Industrialisierung, der in einem unterentwickelten Land nach Verstaatlichung der Produktionsmittel von der staatlichen Bürokratie in Gang gebracht wird. Der Stalinismus versteht unter Sozialismus den Aufbau einer stark zentralisierten

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bloßes Instrument der Umgestaltung und als transitorisches Phänomen betrachtet wurde, nutzte die kommunistische Partei sein Gewaltmonopol, um ihre unbeschränkte Herrschaft zu zementieren, ihre Rivalen zu liquidieren und alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren. (3) Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie „Die Mißachtung, der Verfall und der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums) ist die Konsequenz des demokratischen Staatsbegriffs; hier liegt seine Mission“ (Nietzsche).1210

Die weitere Entwicklung des Politik- und Staatsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert kann und muß hier nicht rekonstruiert werden.1211 Ein kurzer Ausblick auf die zu bewältigenden Probleme mag genügen. Der Nationalstaat verdrängte oder absorbierte zwar die alternativen Ordnungsformen, ließ aber seinerseits unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten des Politischen zu. Er konnte monarchistisch oder republikanisch, bonapartistisch-cäsaristisch oder parlamentarisch, zentralistisch oder föderalistisch, totalitär oder pluralistisch, rechtsstaatlich-demokratisch oder als Diktatur organisiert werden. Er erwies sich so als adäquate Form im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus, überdauerte es aber noch. Das europäische Staatensystem wurde zum Medium der Sozialintegration und zur hegemonialen Macht der Welt.1212 Diese Stellung büßte es jedoch infolge der mörderischen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges wieder ein, die Europa in eine tiefe Depression und eine schwere Krise trieben.1213 Dadurch wurde der Sieg des Bürgers über den Soldaten besiegelt.1214 Es begann der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform und der Übergang zur Massen-

Industriegesellschaft, die vom bürokratischen Staatsapparat gelenkt und kontrolliert wird.“ 1210 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1878–80). Erster Band., Aph. 472. In ders., Werke. Bd. 1, S. 682. 1211 Vgl. dazu die Überblicksdarstellungen von K. v. Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert; B. Blanke, Theorien zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft; Fenske, Politisches Denken im 20. Jahrhundert (Literatur: S. 864 ff.) bzw. ders., Politisches Denken von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, S. 491 ff.; Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 617 ff.; H. Schulze, Staat und Nation, S. 243 ff. sowie die einschlägigen Beiträge in K. G. Ballestrem/H. Ottmann (Hg.) Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts; Fetscher/Münkler (Hg.), Handbuch. Bd. 5; H. Hofmann, Recht – Politik – Verfassung, S. 122 ff. 1212 Vgl. Vgl. W. J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus (weitere Literatur: S. 370 ff.); T. Schieder, Staatensystem als Vormacht der Welt; ders. (Hg.), Handbuch. Bd. 6: Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäischen Weltpolitik bis zum ersten Weltkrieg; A. J. P. Taylor, The Struggle for Mastery in Europe 1848–1918. 1213 Vgl. K. D. Bracher, Die Krise Europas; R. A. C. Parker, Das Zwanzigste Jahrhundert (alle mit umfassenden Literaturhinweisen). 1214 Vgl. C. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches.

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demokratie.1215 Während im 19. Jahrhundert auch in Westeuropa noch parlamentarisch abgestützte Monarchien dominierten, setzte sich in der Folgezeit die Demokratie auf breiter Front durch.1216 Sie hatte sich allerdings gegen Antidemokraten zu behaupten, die zeitweilig die Oberhand gewannen und sie wieder liquidierten und durch faschistische Diktaturen substituierten. Längerfristig war ihr Siegeszug jedoch nicht aufzuhalten. Offen blieb, wie sie realisiert werden sollte. Daß sich Großflächenstaaten nicht direktdemokratisch regieren lassen, hatte bereits Rousseau festgestellt. Doch gab es unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten repräsentativer und plebiszitärer Elemente. Vor allem aber war zu klären, wie die drei Komponenten des modernen Verfassungsstaates – Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie – miteinander verknüpft werden sollten. Je nachdem, welche von ihnen auf Kosten der anderen akzentuiert wurde, gewann der Staat ein unterschiedliches Gesicht. Während sich im kommunistischen Machtbereich die Herrschaft der Partei festigte, bewirkte der von der Arbeiterbewegung ausgehende Druck in den westlichen Ländern, in denen die soziale Revolution zum Scheitern verurteilt war, die Transformation der bürgerlichen Rechtsstaaten in soziale Demokratien, in denen die rechtsstaatlichen Schutz- und Abwehrrechte durch demokratische Teilhaberechte und durch den Anspruch auf materielle Unterstützung in sozialen Notlagen ergänzt wurden. Resultat war die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle einheimischen Männer und Frauen sowie die Institutionalisierung sozialer Sicherungssysteme, die jedem Bürger Sekurität und allgemeine Wohlfahrt versprachen.1217 Diese Errungenschaften wurden jedoch von den alten Eliten und vom Bürgertum stets mit Mißtrauen betrachtet und immer wieder in Frage gestellt. Der Streit zwischen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus dauerte an. Im Laufe der Auseinandersetzungen klärten sich die Positionen und verhärteten sich die Fronten. Die Konservativen strebten in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts weiterhin in die vorrevolutionären Verhältnisse des Ancien régime zurück und wollten auch später noch die Massendemokratie verhindern.1218 In 1215 Vgl. J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen; P. Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. 1216 Vgl. E. N. Anderson/P. K. Anderson, Political Institutions and Social Change in Continental Europe in the Nineteenth Century; L. Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 406 ff. 1217 Zur Entwicklung der Sozialstaaten vgl. J. Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat; ders., Der Sozialstaat in der Bundesrepublik; D. E. Ashford, The Emergence of the Welfare States; P. Flora (Hg.), Growth to Limits.; ders. u. a., Zur Entwicklung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. 1218 Vgl. H. Barth, Der konservative Gedanke; H. Grebing, Konservative gegen die Demokratie; M. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland; F. Grube/G. Richter (Hg.), Die Utopie der Konservativen; A. O. Hirschman, Denken gegen die Zukunft; G.-K. Kaltenbrunner (Hg.), Rekonstruktion des Konservatismus; K. Lenk, Deutscher Konservatismus; K. Mannheim, Konservatismus; P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, S. 24 ff.

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Deutschland träumte die nationale Rechte den Traum vom erneuerten Reich.1219 Der Liberalismus wollte den Staat – angesichts knapper finanzieller Mittel und wachsender Ordnungsprobleme – auf seine rechtsstaatlichen Sicherungsfunktionen beschränken und von seinen sozialstaatlichen Aufgaben „entlasten“. Die Sozialdemokratie hingegen kämpfte für den Ausbau des Sozialstaates und für die weitergehende „Demokratisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Politik der westlichen Demokratien pendelte seit Anbeginn zwischen den gegensätzlichen Polen bürgerliche Freiheit und soziale Sicherheit und sieht sich bis heute gezwungen, einen tragfähigen Ausgleich zwischen ihnen zu suchen, der aber stets gefährdet und umstritten ist. Wie sich zeigte, sind Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie nicht nur nicht gleichursprünglich,1220 sondern gegensätzliche Formprinzipien, die einst von antagonistischen politischen Bewegungen verfochten wurden, die aber in den modernen Mischverfassungen miteinander verknüpft und in ein prekäres Spannungsverhältnis gebracht wurden. Der bürgerliche Rechtsstaat entstammt der Welt des Liberalismus, die Demokratie der Tradition des Republikanismus, der Sozialstaat war ein – zunächst nicht intendiertes – Resultat des Sozialismus. Der erste zielt auf Berechenbarkeit des staatlichen Handelns und auf die Selbstbegrenzung der Staatsgewalt durch Gewaltenteilung, Verwaltungsrecht sowie die Garantie von Grund- oder Freiheits-, Menschen- und Staatsbürgerrechten. Der Sozialstaat hingegen erstrebt materielle Sicherheit. Demokratie schließlich meint die Selbstbestimmung und -verwaltung des Volkes, ob unmittelbar oder über Stellvertreter und Repräsentanten. Während der Rechtsstaat die Privatsphäre der Bürger zu schützen und ihr Privateigentum zu sichern verspricht, greift der Sozialstaat in die Eigentumsordnung ein, um nach dem Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums soziale Härten zu kompensieren. Hatte sich der Liberalismus und Konstitutionalismus einst im Kampf gegen den absolutistischen „Wohlfahrtsstaat“ durchsetzen müssen, so wurde er durch den Druck der sozialistischen Arbeiterbewegung zu einem Kompromiß genötigt. Schon früh wurde der Widerspruch zwischen den beiden Formprinzipien Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit erkannt und angeprangert. So kritisierte Carl Schmitt die Weimarer Reichsverfassung, weil sie beide gleichzeitig institutionalisiert hatte.1221 Sein Schüler Ernst Forsthoff erneuerte dessen Polemik im Hinblick auf das Grundgesetz der Bundesrepublik und wollte den Sozial1219 Vgl. K. Reimus, „Das Reich muß uns doch bleiben!“; E. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens; S. Neitzel, Weltmacht oder Untergang. Zu den Parteien im damaligen Deutschland siehe auch T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918. Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, bes. S. 514 ff. 1220 Vgl. dagegen J. Habermas, Faktizität und Geltung, bes. S. 161, 176; ders., Die Schrecken der Autonomie, S. 113 f.; ders., Der demokratische Rechtsstaat. 1221 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 28 ff.

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staat wieder aus der Verfassung eliminieren und auf die Ebene der Verwaltung transferieren.1222 Andererseits ließ sich zeigen, daß der bürgerliche Rechtsstaat nur dann funktionieren kann, wenn er ein gewisses Maß an sozialer Homogenität herzustellen,1223 die soziale Verelendung seiner Bevölkerung zu verhindern und als Sozialstaat materielle Sicherheit zu gewähren vermag.1224 Um existieren zu können, muß er folglich seine eigenen Prinzipien gelegentlich verletzen. Stets umkämpft war, wie weit diese Verletzung gehen darf. Die richtige Balance der beiden Komponenten des modernen Verfassungsstaates wurde deshalb und blieb bis heute der zentrale Konfliktherd der staatlichen Innenpolitik. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, daß der Rechtsstaat ohne Demokratie unvollständig ist (s. o., S. 728, Anm. 1072). Zwar wurden beide einst als sich gegenseitig ausschließende Formen begriffen, doch gelang es den modernen politischen Systemen, sie miteinander zu verknüpfen und durcheinander zu relativieren. Der Rechtsstaat gewinnt seine Legitimität durch die Demokratie, der er zugleich rechtliche Schranken setzt. Da Religion und Tradition der Politik keinen Halt und keine Orientierung mehr vermitteln, da der bürgerliche Rechtsstaat aber von ihren zivilisierenden Leistungen zehrt und somit von Beständen lebt, die er verbraucht, ohne sie reproduzieren zu können,1225 müssen diese seine Bestandsvoraussetzungen durch das demokratische Engagement selbst geschaffen werden.1226 Durch die Vernetzung von öffentlich-diskursiven Kommunikations-, d. h. Verständigungs- und Willensbildungsprozessen, müssen die Einstellungen und Perspektiven gewonnen werden, die einst durch Tradition und Religion gestiftet wurden. Zugleich wird diese Selbstverständigung durch die Verfassung und das geltende Recht geleitet und begrenzt. Das souveräne Volk ist einerseits Herr des 1222 Vgl. E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates: „Der Rechtsstaat und der Sozialstaat sind deshalb ihrer Intention nach durchaus verschieden, um nicht zu sagen Gegensätze. Der Rechtsstaat hat seine eigenen Institutionen, Formen und Begriffe. Sie sind auf Freiheit angelegt. Auch der konsequent verwirklichte Sozialstaat, der auf Teilhabe hingerichtet ist, bringt eigene Institutionen, Formen und Begriffe hervor, die wesentlich anders geartet sein müssen“ (S. 179). „Rechtsstaat und Sozialstaat sind also auf der Verfassungsebene nicht verschmolzen. Erst in der Verbindung von Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung verbinden sich Rechtsstaat und Sozialstaat“ (S. 192). 1223 Vgl. H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität: „Ein bestimmtes Maß sozialer Homogenität muß gegeben sein, damit politische Einheitsbildung überhaupt möglich sein soll“ (S. 12). 1224 Vgl. W. Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Siehe auch J. Habermas, Zum Begriff der politischen Beteiligung; ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, bes. S. 50 ff.; W. Kersting, Rechtsphilosophische Probleme des Sozialstaats; ders. (Hg.), Politische Philosophie des Sozialstaats. 1225 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 60. 1226 Vgl. J. Habermas, Der europäische Nationalstaat, S. 142 ff.: Der Witz des Republikanismus liege darin, „daß der demokratische Prozeß zugleich die Ausfallbürgschaft für die soziale Integration einer immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft übernimmt“ (S. 142).

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Gesetzes, andererseits demselben unterworfen.1227 Die demokratisch herbeigeführte Verfassung setzt dem Souverän und seinen Repräsentanten rechtliche Schranken, über deren Einhaltung die Judikative wacht. Daß darin allerdings ein wunder Punkt und eine Gefahr gelegen ist, wurde vor allem in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlich, als in den 30er Jahren der Rechtsstaat mit seinen eigenen Mitteln aus den Angeln gehoben und durch eine Diktatur ersetzt wurde, die zwar die kapitalistische Eigentumsordnung prinzipiell nicht antastete, aber den Gesetzes- durch einen willkürlich agierenden Maßnahmestaat ergänzte.1228 Der Rechtsstaat entzieht die unpolitische bürgerliche Gesellschaft und die Privatsphäre der Bürger dem Zugriff des Staates. Er verzichtet auf den Anspruch der Menschenführung und Disziplinierung und ermöglicht ihnen im Rahmen des geltenden Rechts die freie Entfaltung ihrer Anlagen und Kompetenzen. Er wird so zum Garanten der kapitalistischen Eigentumsordnung und der ihr gemäßen Konkurrenz. Die daraus resultierende Ungleichheit und die drohende Verarmung und Verelendung von Teilen der Bevölkerung wird kompensiert und verhindert durch den Sozialstaat, der den Unterprivilegierten – Kranken, Invaliden, Behinderten, Alten und Arbeitslosen – das Überleben sichert. Die Demokratie schließlich ermöglicht jedem Staatsbürger die Teilhabe am politischen Leben, ohne ihn zum Engagement zu zwingen. Im Gegensatz zur antiken benötigt die staatliche Demokratie repräsentative Formen, die den Bürgern den Rückzug aus der Politik ermöglichen. War die politische Beteiligung in der griechischen Polis Pflicht aller einheimischen freien Männer, so basiert sie in den demokratischen Verfassungsstaaten auf Freiwilligkeit. Jeder einzelne hat das Recht, sich in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen zu organisieren, um so Einfluß auf die politische Willensbildung zu gewinnen. Er hat jedoch zugleich das Recht, sich zurückzuziehen und die politischen Geschäfte den gewählten Repräsentanten zu überlassen. Mit der Verknüpfung der drei Verfassungsprinzipien waren natürlich noch nicht alle politischen Probleme gelöst, doch waren die institutionellen Formen gefunden, mit denen sie in Angriff genommen werden konnten. Zwar wurden sie in den einzelnen Staaten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich kombiniert und akzentuiert, doch waren die Grundmuster überall vorhanden. Weitere Reibungspunkte bildeten das Verhältnis von Zentralismus und Föderalismus sowie die konkrete Ausgestaltung der Demokratie, das Verhältnis und die Verknüpfung von repräsentativen und plebiszitären Elementen. Während Frankreich und England starke Zentralgewalten hervorbrachten, blieb Deutschland – trotz der zeitweiligen 1227 Zu diesem Widerspruch siehe schon K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843). In: MEW 1, S. 256 ff.: „Innerhalb der jüngsten französischen Geschichte ist mancherlei herumgeknuspert worden“ (S. 257). 1228 Vgl. dazu bes. E. Fraenkel, Der Doppelstaat; O. Kirchheimer, Von der Weimarer Republik zum Faschismus; F. Neumann, Behemoth.

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Hegemonie Preußens – ein föderalistischer Staat. Bereits mit der Gründung des Deutschen Reiches (1871) war das Verhältnis zwischen Zentralregierung und Partikulargewalt der Einzelstaaten zum Problem geworden. Da die Souveränität des Reiches durch die seiner Gliedstaaten beschränkt wurde, trafen die alten, von Bodin und Hobbes begründeten Souveränitätsmerkmale nur noch in eingeschränktem Sinne zu. Hugo Preuß schlug deshalb vor, die Souveränität aus der Dogmatik des Staatsrechts zu entfernen. Sie sei Merkmal und Grundprinzip des absolutistischen Staates, das für die Erfassung der modernen Staatspraxis ungeeignet ist.1229 Die Vertreter des juristischen Positivismus und des Weimarer Staatsrechts orientierten sich jedoch weiterhin am souveränen Staat.1230 Gegen Preuß betonte vor allem Carl Schmitt angesichts der Krise der Weimarer Republik, des sich verbreitenden Pluralismus und des drohenden „Weltbürgerkrieges“ die Notwendigkeit einer straffen Zentralgewalt und mit ihr die fortdauernde Relevanz des Souveränitätsbegriffs. Souverän sei, so lehrte er, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.1231 Erst infolge der Blockbildungen des 20. Jahrhunderts wurde die Souveränität der einzelnen Staaten fragwürdig.1232 Sie wurde weiter eingeschränkt und mediatisiert. Deshalb gab Schmitt alsbald die Parole aus, die Zeit der Staatlichkeit gehe nun zu Ende (s. o., S. 15). Wichtigstes Medium des Ausgleichs und der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung wurde der Parlamentarismus. Er ermöglichte die Transformation der Monarchien in Republiken. War am Ende des Ersten Weltkrieges vor allem in Deutschland noch unentschieden, ob sich eine parlamentarische Monarchie oder aber die Demokratie durchsetzen wird,1233 so war die Entscheidung für die letztere bald getroffen. Ursprünglich eine gänzlich undemokratische Einrichtung, wurde das Parlament zur adäquaten Institution der westlichen Demokratien, der die Gesetzgebung sowie die Wahl und Kontrolle der Regierung obliegt. Doch auch das „Wesen“ und die Funktion des Parlamentarismus waren umstritten.1234 Hatten die früheren Verfechter des Parlamentarismus seit Edmund Burke die Repräsentationstheorie zur Legitimation dieser Institution bemüht, so verzichteten die späteren Verfassungs- und Parlamentstheoretiker auf diese Prämisse. Im Mut1229

Vgl. H. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 89 ff. Vgl. C.-E. Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre. 1231 C. Schmitt, Politische Theologie, S. 11. Vgl. ders., Hugo Preuß. Siehe hingegen U. K. Preuß, Aufrüstung der Normalität: „souverän ist, wer Herr über die Normalität ist, denn er verfügt in Gestalt der Legalität über den Funktionsmodus des modernen Verwaltungsstaates“ (S. 17). 1232 Vgl. etwa M. Brumlik, Souveränität; E.-O. Czempiel (Hg.), Die anachronistische Souveränität. 1233 Vgl. M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (Mai 1918). In ders., Gesammelte Politische Schriften, 306–443; bes. S. 382 ff.; ders., Deutschlands künftige Staatsform (November 1918). Ebd., 448–483. 1234 Vgl. K. Kluxen (Hg.), Parlamentarismus; H. Rausch (Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung. 1230

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terland des Parlamentarismus begründete Walter Bagehot eine tragfähige Theorie, derzufolge die Aufgabe des Parlamentes nicht die Repräsentation des Volkes ist, sondern die Wahl und Kontrolle der Regierung.1235 Auch die Vertreter der Weimarer Staatslehre und der „realistischen“ Demokratietheorie verwarfen den Repräsentationsgedanken.1236 Hans Kelsen etwa, der im Parlamentarismus „die einzig mögliche reale Form“ erblickte, „in der die Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann“, wies die „Repräsentationsfiktion“ zurück und reduzierte den Parlamentarismus auf die Funktion der staatlichen Willensbildung: „Parlamentarismus ist: Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, also demokratisch, gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehrheitsprinzipe“.1237 Noch weiter ging Joseph Schumpeter, für den die Demokratie grundsätzlich nichts anderes ist als eine Methode der Elitenrekrutierung und der Regierungsbildung.1238 Andere Autoren betonten dagegen den Glauben an die öffentliche Diskussion, die Interessenvertretung und die diskursive Auseinandersetzung über das gemeine Wohl sowie die erforderlichen Mittel und Wege zu seiner Realisierung. „Das Wesentliche des Parlaments“, so resümiert Carl Schmitt, „ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren“.1239 Der Parlamentarismus als solcher war jedoch nicht unumstritten. Er wurde von rechts wie links attackiert. Das Parlament wurde als „Schwatzbude“ beschimpft und sollte durch „arbeitende Körperschaften“ ersetzt werden. So plädierte Schmitt in der Krise der Weimarer Republik, als sich die Parteien gegenseitig lähmten und blockierten, für die Auflösung des Parlaments. Gegen das „ewige Gespräch“ setzte er die Idee eines entscheidungskräftigen Präsidenten, der sich ohne Einbeziehung intermediärer Instanzen – über den Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung – direkt ans Volk wenden und seine Legitimität durch Akklamation gewinnen sollte.1240 Als adäquate Form der Demokratie im Zeitalter der Massen erschien folglich die Diktatur.1241 Den Anhängern der rechtsstaatlich begrenzten, liberalen und parlamentarischen Demokratie traten seit dem späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert ferner von links die Verfechter einer Rätedemo-

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Vgl. W. Bagehot, The English Constitution (1867). Vgl. V. Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland, S. 172 ff. 1237 H. Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, S. 5 f. Vgl. auch ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie., S. 25 ff. 1238 Vgl. J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 427 ff. 1239 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 43. Vgl. ders., Verfassungslehre, S. 303 ff. 1240 Vgl. C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung. In ders., Die Diktatur, 213–259. 1241 Vgl. dazu H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? 1236

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kratie entgegen, die sich am Paradigma der Pariser Commune von 1871 orientierten und ein streng kontrolliertes System der Ämterdelegation mit imperativem Mandat zu installieren trachteten (Max Adler, Ernst Däumig u. a.).1242 Auch Lenin gab 1917, nach der Februarrevolution, in Staat und Revolution die Parole aus: „Alle Macht den Räten!“ Da die Räte bislang aber nur eine untergeordnete Rolle in seinem Denken und Handeln gespielt hatten, steht zu vermuten, daß die Bejahung des Räteprinzips nur ein strategisch-taktisches Motiv Lenins war, der die Hoffnung gewonnen hatte, mit Hilfe der Räte sein eigentliches Parteikonzept realisieren zu können.1243 Das Rätesystem konnte sich freilich in der Sowjetunion nicht durchsetzen. Stattdessen wurde Lenins frühe Parteitheorie realisiert, die er in seinem Pamphlet Was tun? (1902) begründet hatte. Es trat ein, was Leo Trotzkij bereits 1904 vorhergesehen hatte: Die Diktatur des Proletariats wurde zur Diktatur der Partei, die sich als Diktatur des ZK realisierte, bis dann schließlich unter Stalin die Diktatur eines Mannes an ihre Stelle trat. Der Versuch, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung staatlich zu planen und zu koordinieren, schränkte die Dynamik der anderen gesellschaftlichen Subsysteme ein und ließ den Realsozialismus schließlich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kollabieren. Auch in Westeuropa gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heftige Reibungen und Brüche, Eruptionen, die hier nicht zu betrachten sind. Während im italienischen Faschismus ein strenger Etatismus praktiziert wurde, betrachtete der deutsche Nationalsozialismus den Staat als bloßes Instrument der völkischen Bewegung, die ihn für ihre totalitären und imperialistischen Ambitionen einsetzte.1244 In beiden Varianten wurde der Rechtsstaat ausgehöhlt und der Parlamentarismus durch eine plebiszitär abgestützte, auf Akklamation und Massenmobilisierung beruhende Diktatur ersetzt. Die auf Führerprinzip und Gleichschaltung aller Lebensbereiche basierende autoritäre Herrschaftsform wurde als Verwirklichung der „wahren Demokratie“ im Zeitalter der Massengesellschaft ausgegeben. Das Experiment endete bekanntlich in einer Katastrophe und forderte unvorstellbare Blutzölle. Dadurch war die rechte Alternative zum Parlamentarismus für alle Zeiten diskreditiert. Dennoch wurde die faschistische – wie auch die realsozialistische – Diktatur als Staat in zahlreiche Länder der Dritten 1242 Vgl. M. Adler, Demokratie und Rätesystem; U. Bermbach (Hg.), Theorie und Praxis der direkten Demokratie; E. Ertl, Alle Macht den Räten?; E. Fraenkel, Rätemythos und soziale Selbstbestimmung (1971). In ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 69–100; W. Gottschalch, Parlamentarismus und Rätedemokratie; H. Sinzheimer, Das Rätesystem; W. Tormin, Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie; L. Tschudi, Kritische Grundlegung der direkten Rätedemokratie. 1243 Vgl. dazu A. Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus; O. Anweiler, Die Rätebewegung in Rußland. 1244 Die nationalsozialistische Rangordnung Volk – Bewegung – Staat umzukehren, war das Bestreben von C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Zum „Bewegungsstaat“ des Nationalsozialismus vgl. auch G. Haverkate, Deutsche Staatsrechtslehre und Verfassungspolitik, S. 94 ff.

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Welt exportiert, wo sie sich als ein – zwar inhumanes, aber nichtsdestoweniger erfolgreiches – Vehikel zur beschleunigten Industrialisierung erwies. Beide Formen stießen aber in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts an ihre Grenzen. Mit Ausnahme einiger islamisch-arabischer Staaten wurden die autoritären Diktaturen mittlerweile in rechtsstaatlich-parlamentarische Demokratien überführt, während die realsozialistische Welt einen Kollaps erlebte, der seit 1989 einen Prozeß der Transformation des bürokratischen Staatssozialismus in marktwirtschaftliche und parlamentarische Systeme auslöste. So konnte es einige Zeit scheinen, als sei die liberale Demokratie die einzig verbleibende politische Ordnung, die nunmehr keine ernsthaften Konkurrenten mehr kennt und sich längerfristig zur Organisationsform des gesamten Weltkreises entwickeln werde.1245 Andererseits erhoben sich in außereuropäischen Kulturkreisen fundamentalistische Bewegungen, die als Alternativszenario den drohenden Kampf der Kulturen (clash of civilizations) nahelegten.1246 Ferner schien der weltweite Siegeszug des Kapitalismus, der nun seinerseits keinen ernstzunehmenden Rivalen mehr hatte, die Freiheit einzuschnüren und mit ihr die liberale Demokratie auszuhöhlen.1247 Angesichts der „Globalisierung“ und der weltweiten Vernetzung des Kapitals erweist sich der Nationalstaat und mit ihm die Demokratie als ohnmächtig und anachronistisch.1248 Auch sind die mit den genannten Transformationsprozessen verknüpften Schwierigkeiten immens. Sowohl in den Ländern des ehemaligen Kommunismus wie in denen der faschistischen Diktaturen fehlen zumeist die kulturellen und mentalen Voraussetzungen für die Entwicklung funktionstüchtiger Bürger- oder Zivilgesellschaften, die gewöhnlich erst infolge langwieriger und konfliktreicher Kämpfe im Rahmen der demokratischen Ordnung entstehen. Überhaupt wird heute deutlich, daß der Staat keine universalisierbare politische Form ist. Er stößt in der außereuropäischen Welt auf grundsätzliche Hindernisse. Wurde er lange Zeit als eine Erscheinung betrachtet, die sich problemlos von ihren europäischen Wurzeln ablösen und weltweit institutionalisieren, also „globalisieren“ läßt, so zeigt sich heute, daß diese Prämisse unhaltbar war. Viele der in der Dritten Welt nach europäischem Vorbild konstituierten Staaten lösen sich wieder auf, da sie auf ethnischen Grundlagen errichtet wurden, die keinen Staat zu tragen vermögen.1249 Stammesfehden, Bürger- und Bandenkriege treten wieder an die Stelle der Staatenkriege,1250 parastaatliche 1245 Vgl. F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, bes. 4. Kap.: „Die weltweite liberale Revolution“ (S. 75–89). 1246 Vgl. S. P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. 1247 Vgl. B. R. Barber, Coca-Cola und Heiliger Krieg. 1248 Vgl. J.-M. Guéhenno, Das Ende der Demokratie; S. Sassen, Losing Control? 1249 Vgl. R. Knieper, Nationale Souveränität; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 480 ff.; ders. (Hg.), Verstaatlichung der Welt? 1250 Vgl. M. Kaldor, Neue und alte Kriege; H. Münkler, Der grenzenlose Krieg; ders., Die neuen Kriege; U. K. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie.

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Herrschaftsformen unterminieren das staatliche Gewaltmonopol.1251 Die Grenzen der Verallgemeiner- und Übertragbarkeit des Staates offenbaren sich vor allem in Afrika, während in anderen Regionen (Balkan, Territorien der ehemaligen Sowjetunion) der Druck auf die Völker, sich zu souveränen Staaten zu konstituieren, zur Ursache von neuen Sezessions- und Staatsbildungskriegen wurde. Nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in seinen europäischen Mutterländern stößt der Nationalstaat auf seine Grenzen. Die heute drängenden ökologischen, sozialen, politischen, ökonomischen, rechtlichen und kulturellen Probleme überschreiten zumeist seine Kapazitäten und erzwingen internationale Lösungen, die durch das Beharren auf nationalen Eigeninteressen eher behindert werden.1252 Soll die Politik auch weiterhin ihre Ordnungsfunktion erfüllen, müssen neue institutionelle Arrangements gefunden werden. Die Staaten werden deshalb zwar nicht verschwinden, sie sind jedoch genötigt, Souveränität nach oben (internationale Organisationen) wie nach unten (Regionen) abzugeben. Seine Schranken manifestieren sich auch an den einzelnen Formprinzipien und Komponenten des Staates. Die Rechtsstaaten sehen sich bedroht von einer „organisierten Kriminalität“, die keine staatlichen Grenzen mehr kennt. Der Ausbau der Sozialstaaten führte zur Bürokratisierung und Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens und erzeugte das allseits gefürchtete „Stahlgehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber), das mittlerweile eine Trendumkehr erzwang.1253 Die moderne Gesetzgebungspraxis, der Verabschiedung widersprüchlichster Vorschriften und Normen, ließ das System der Rechte erodieren, das folglich seine Integrations- und Orientierungsfunktion einbüßte.1254 Die fiskalische Schikanierung der Bevölkerungen erreichte ein Niveau, das zur Umorientierung nötigte und allseits den Ruf nach einer Steuerreform bzw. -senkung provozierte. Die Demokratien leiden unter der grassierenden „Politikverdrossenheit“ der Bürger. Kritiker des Parlamentarismus fordern deshalb die stärkere Beteiligung der Bevölkerung am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß und konfrontieren ihn mit demokratischen bzw. nicht-staatlichen Alternativen: Herstellung einer diskutierenden Öffentlichkeit, Plebiszite, Referenden, Bürgerinitiativen usw.1255 Sie erblicken in ihm nicht die Repräsentation des Volkes, sondern die Vertretung der herrschenden Klassen und Schichten.1256 Der Parteienstaat, einstmals als adäquate Ver1251 Vgl. T. v. Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika. Ferner H. Strizek, Ruanda und Burundi; R. Tetzlaff u. a. (Hg.), Afrika; W. I. Zartman, Collapsed States. 1252 Vgl. J. Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 91 ff.; W.-D. Narr/A. Schubert, Weltökonomie, bes. S. 147 ff.; M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. 1253 Vgl. R. Voigt (Hg.), Verrechtlichung; ders. (Hg.), Gegentendenzen zur Verrechtlichung; D. Döring (Hg.), Sozialstaat in der Globalisierung. 1254 Vgl. H. J. Berman, Recht und Revolution, S. 9 ff., 65 ff. sowie die obigen Bemerkungen in der Einleitung (S. 15). 1255 Vgl. J. Burnheim, Über Demokratie; U. Rödel u. a., Die demokratische Frage. 1256 Vgl. J. Agnoli, Die Transformation der Demokratie: „Repräsentiert wird im Parlament nach wie vor – nur nicht das Volk, sondern die eigentlichen Träger von Herr-

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wirklichung direkter Demokratie im Zeitalter der Massen gefeiert,1257 ist angesichts der Selbstbedienungspraxis der Parteien in den Mittelpunkt der Kritik geraten.1258 Die innerparteiliche Demokratie wird konterkariert durch das „eherne Gesetz der Oligarchie“ (Robert Michels).1259 Das hypertrophe Wachstum von kapitalistischer Wirtschaft und administrativer Macht rief Warnungen vor einer drohenden „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Jürgen Habermas) hervor.1260 Allerdings hat sich der einstige Trend zu einem steten Wachstum der Staatstätigkeit seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts umgekehrt. Angesichts leerer öffentlicher Kassen wurden die staatlichen Aktivitäten in vielen Politikfeldern eingeschränkt.1261 „Deregulierung“, „Entflechtung“, „Verschlankung des Staates“, Ab- und Umbau des Sozialstaates, Selbstversorgung, private Kranken- und Altersvorsorge usw. lauten nun die Schlagworte der Reformpolitik. Die Staaten konzentrieren sich wieder vornehmlich auf ihre rechtsstaatliche Ordnungsfunktion und überlassen die einzelnen und die gesellschaftlichen Funktionssysteme zusehends ihrer autopoietischen Reproduktion.1262 Diese Trendumkehr zeichnet verantwortlich für die heute grassierende Verdrossenheit und Orientierungslosigkeit, für die Legitimationsprobleme des politischen Systems1263 und für das Syndrom der neuen Unübersichtlichkeit, das vielfach beklagt, aber selten in seinen Ursachen und Folgen begriffen wird. Es resultiert, wie Jürgen Habermas schon zu Beginn der 80er Jahre betonte, aus dem „Brüchigwerden des sozialstaatlichen Kompromisses“ und aus der Erosion der überkommenen ökonomisch-politischen Ideologien und Utopien. Es hängt zusammen mit der „Erschöpfung der arbeitsgeschaft: Gruppen arkan-oligokratischer, zum großen Teil privater Natur, die das Vorrecht besitzen, über öffentlich-demokratische Gewalt zu verfügen und den Vorteil genießen, der öffentlich-demokratischen Kontrolle entzogen zu sein. In geschichtlicher Rückerinnerung: das Parlament vertritt nicht mehr das Bürgertum gegenüber der Krone, sondern die führenden Kreise der Produktionssphäre (Oligopole), der Kulturorganisationen (Kirchen zum Beispiel) und der gesellschaftlichen Organisationen (Führungsstäbe der Verbände) gegenüber dem gemeinen Volk“ (S. 68 f.). 1257 Vgl. G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation; ders., Parteienstaat und repräsentative Demokratie; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie. 1258 Vgl. statt anderer etwa H.-H. v. Arnim, Ämterpatronage; ders., Der Staat als Beute; ders., Fetter Bauch regiert nicht gern; ders., Diener vieler Herren; ders., Plädoyer gegen Staatsversagen, Machtmißbrauch und Politikverdrossenheit. 1259 Vgl. R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie; ders., Masse, Führer, Intellektuelle. 1260 Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 489 ff. 1261 Vgl. C. Hood, Umkehrung der Theorie wachsender Staatstätigkeit. 1262 Zum Niedergang bzw. Rückzug des Staates vgl. auch v. Creveld, Aufstieg und Untergang, S. 373 ff.; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 509 ff.; M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 64 ff. (bes. S. 77 ff.). 1263 Vgl. etwa N. Achterberg/W. Krawietz (Hg.), Legitimation des modernen Staates; R. Ebbighausen (Hg.), Bürgerlicher Staat und politische Legitimation; J. Habermas, Legitimationsprobleme; P. G. Kielmansegg, Volkssouveränität; C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates.

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V. Der Drang zum Staat

sellschaftlichen Utopien“ und gehört zu einer Situation, in der die Sozialstaatsprogrammatik „die Kraft verliert, künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen“.1264 Doch nicht nur die finanzielle Überforderung und die damit legitimierte Demontage des Wohlfahrtsstaates, sondern die Erschöpfung des Elans der Form Staat generell steigert die virulenten Orientierungsprobleme. Die innenpolitische Zwangslage wird durch die außenpolitische noch verschärft. Hatte sich die Welt bislang recht überschaubar in Nationalstaaten gegliedert, die sich als gleichberechtigte Partner gegenüberstanden, so verliert diese Einteilung immer mehr an Gewicht. Durch den Bedeutungsverlust des Staates als einheits- und differenzstiftenden Prinzips kommt deshalb die alte Übersichtlichkeit abhanden. Deshalb wird heute die Suche nach alternativen Ordnungsformen forciert.1265 Die genannten Entwicklungen schlagen sich natürlich nieder in der Politischen Theorie, die sich um Lösungen für die praktischen Probleme bemüht. Sie hat die einstige Planungs- und Steuerungseuphorie längst überwunden und eine nüchternere Haltung zum Staat eingenommen. Gemeinschaftsstiftende Funktionen werden ihm heute kaum noch zugeschrieben. Er ist zum politischen System geworden, dem die Herbeiführung allgemeinverbindlicher Entscheidungen und die Sicherung von Recht und Ordnung obliegt. Folge der Liberalisierung und Demokratisierung war die Entzauberung des Staates. In der kritischen Auseinandersetzung mit den Problemen der parlamentarischen Demokratie erlernte die Politische Theorie allmählich einen spielerischen Umgang mit ihrem Sujet. Sie trieb die Desillusionierung, die mit Max Stirner, Marx, Bakunin und den anti-etatistisch orientierten demokratischen und sozialistischen Denkern eingesetzt hatte, weiter voran. Der Staat gilt nicht mehr als das „Dasein Gottes auf Erden“ und als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (Hegel), er wird als eine bürokratische „Anstalt“ (Max Weber) bzw. als Dienstleistungsunternehmen betrachtet, das von den unterschiedlichen gesellschaftliche Kräften und Gruppen für soziale und politische Interessen instrumentalisiert wird. Seine Aufgabe ist die Behebung derjenigen gesellschaftlichen Mängel, die von den Individuen und den anderen Funktionssystemen nicht in Eigenregie bewältigt werden können. Wie schon in der Einleitung erwähnt (s. o., S. 14 f.), hat sich mittlerweile in weiten Kreisen die soziologische Einsicht durchgesetzt, daß in den fortgeschrittenen Weltgegenden 1264 J. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates, S. 147. Anstatt jedoch in den Chor derer einzustimmen, die den Wohlfahrtsstaat attackieren und destruieren möchten, empfiehlt Habermas die Fortsetzung des Sozialstaatsprojekts auf einer höheren Reflexionsstufe. Er plädiert für eine „neue Gewaltenteilung“ und eine neue Balance zwischen den gesellschaftlichen Ressourcen Geld, Macht und Solidarität. Die Chance zur Aufwertung und Entfaltung der letzteren erblickt er in der Rückbesinnung auf die unverzichtbaren Leistungen des kommunikativen Handelns und die sinnstiftenden Wirkungen einer zwanglosen und herrschaftsfreien Verständigung zwischen Menschen. 1265 Vgl. die Spekulationen über die neue Weltordnung bei M. Hard/T. Negri, Empire.

3. Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems

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die einst primär hierarchisch stratifizierte einer primär funktional differenzierten Gesellschaft ohne Steuerungszentrum gewichen ist, in der dem Staat – als Subsystem neben anderen – die Rolle eines local hero zukommt, der eine wichtige, aber keine beherrschende Stellung im Rahmen internationaler und innergesellschaftlicher Verhandlungssysteme innehat. Die Staatstheorie tritt dadurch ein in das Stadium der Dekonstruktion und der kritischen Selbstreflexion. Die Erwartungen an den Staat werden zurückgeschraubt. Von ihm wird nicht mehr die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme erhofft, sondern nur noch die Schaffung und Aufrechterhaltung eines rechtlichen Rahmens. Eine ironische Haltung ihm gegenüber stellt sich ein.1266 Dabei läßt sich Ironie mit Johann Wolfgang Goethe verstehen als eine Einstellung oder Bewußtseinshaltung, „womit man seinen Mängeln nachsieht, mit seinen Irrtümern scherzt und ihnen desto mehr Raum und Lauf läßt, weil man sie doch am Ende zu beherrschen glaubt“ (Dichtung und Wahrheit). Ironie ist, wie Hayden White bemerkt, „die Fähigkeit, nicht nur etwas über die Welt in einer bestimmten Weise zu sagen, sondern auch über sie in alternativen Weisen zu sprechen“.1267 „Ironikerin“ ist, Richard Rorty zufolge, „eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind“.1268 Den angemessenen politischen Rahmen für die Verwirklichung der Ironie bietet gerade die rechtsstaatlich-parlamentarische Demokratie. Mit ihr gelangt die Genealogie des Staates deshalb an ihr Ende. Durch die Verknüpfung von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie und die Ermöglichung der Kombination repräsentativer und plebiszitärer Elemente wurde der institutionelle Rahmen geschaffen, in dem die politischen Konflikte der modernen Gesellschaften ausgetragen werden konnten. Ob und in welcher Gestalt diese Institutionen in die postnationale und nach-staatliche politische Ordnung aufgehoben werden können, ist eine offene Frage, deren Beantwortung die zentrale Aufgabe künftiger Theoriebildung und politischer Diskussionen ist.

1266 Vgl. H. Willke, Ironie des Staates, bes. S. 310 ff. Diese Haltung stößt natürlich auf schroffe Ablehnung bei den Traditionalisten und Etatisten. Siehe die aufgeregte Kritik an Willke bei T. M. Menk, Der moderne Staat und seine Ironiker – sowie die Luhmann-Kritik von M. Beyerle, Die Vollendung des staatstheoretischen Nihilismus. 1267 H. White, Auch Klio dichtet, S. 18. Die Ironie ist, White zufolge, „das sprachliche Verfahren, das dem Skeptizismus als einer Erklärungsstrategie, der Satire als einer Form von Plotstruktur und entweder dem Agnostizismus oder dem Zynismus als einer moralischen Haltung zugrundeliegt und deren Begründung ist“ (S. 98). 1268 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 14. Vgl. ebd., S. 127 ff.

VI. Resümee Ziel dieser Studie war die Freilegung der Wurzeln und die Analyse der Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens. Dieses kreist um den Begriff des Staates, schöpft aber aus einem reichhaltigen Arsenal an Ideen und Vorstellungen, die von der Tradition bereitgestellt wurden und beliebig aktualisiert und kombiniert werden konnten. Die Genealogie des Staates hatte deren Genese, ihre Entstehung und Entwicklung, nachzukonstruieren. Alle diese Visionen vom richtigen Leben, die im Laufe der Geschichte aufgekommen sind, blieben bis heute erhalten. Nichts ging verloren. Alles ist verfügbar. Sie wurden aber zu bloßen Momenten einer bunten Vielheit und im Hinblick auf den Staat relativiert. Sie konkurrieren miteinander und halten sich so gegenseitig in Schach. In und mit ihnen artikuliert sich das moralisch-praktische Selbstverständnis der Europäer. Das Gravitationszentrum des neuzeitlichen Politikdenkens, der Staatsbegriff, blieb in den Geistes- und Sozialwissenschaften bis heute ungeklärt, umstritten und merkwürdig blaß und diffus. Zwar gibt es riesige Bibliotheken gelehrter Literatur über den Staat, doch wurde bislang keine Einigkeit über sein Substrat und seine Eigenart erzielt. Gewöhnlich ersetzt der Hinweis auf seine drei Komponenten – Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsmacht (s. o., S. 21, Anm. 34) – die nähere Beleuchtung. In den Lehrbüchern der Geschichts- und Politikwissenschaft, der Soziologie und der Politischen Bildung wird er zumeist noch immer als Allgemeinbegriff verwendet. Er bezeichnet dementsprechend eine lange Kette aufeinanderfolgender Herrschafts- und politischer Ordnungsformen (altorientalische Reiche, Polis, spätantike und mittelalterliche Reiche sowie „moderne Staaten“ usw.). Diese Begriffsverwendung ist im deutschen Sprachraum Relikt der alten borussischen Geschichtsschreibung, die immer auf der Suche nach geschichtlichen Grundlagen und Wurzeln des ersehnten deutschen Staates war und deshalb das Gesamtspektrum der Herrschafts- und politischen Ordnungsformen (Civitas, Imperium, Regnum, Monarchie, Republik, Provinz etc.) mit dem Staatsbegriff zu erfassen suchte und folglich unter ein Identisches subsumierte. Diese Einstellung war den (deutschen) Interessen des 19. Jahrhunderts verpflichtet und ist folglich den Bedürfnissen der gegenwärtigen Theorie und Praxis wenig förderlich. Sie wirkt in der historischen, soziologischen und politologischen Forschung vielmehr als Erkenntnisbarriere, die das Besondere der vor- oder nicht-staatlichen Ordnungen und damit auch des Staates selbst verdeckt. Die auf Präzision bedachte Wissenschaft hat sich deshalb zusehends von dieser Sicht der Weltgeschichte zu befreien versucht und mittlerweile weitgehend darauf geeinigt, den Staat als eine spezifische Gestalt der europäischen Neuzeit zu ver-

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stehen, als Spaltprodukt und Nachfolger des christlichen Reiches. Seine Anfänge werden folglich in der beginnenden Neuzeit gesucht. Die Rede vom „antiken“ und „mittelalterlichen Staat“ wird hingegen als Anachronismus und als unzulässige historische Rückprojektion betrachtet. Das europäische Staatensystem entstand jedoch nicht in einem einmaligen geschichtlichen Akt als creatio ex nihilo, es erwuchs ganz allmählich aus den gänzlich unstaatlichen Herrschaftsstrukturen der mittelalterlichen Gesellschaft durch Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt und durch die Emanzipation der Politik aus dem Klammergriff der Religion und des Klerus. Es ist Ergebnis gnadenloser Machtkämpfe, die im hohen Mittelalter einsetzten, im späten Mittelalter weiter forciert wurden, in den Staatsbildungskriegen der Frühen Neuzeit kulminierten und schließlich zur Verdrängung der geschichtlichen Alternativen führten. Der genealogische Ansatz hatte den Blick zurückzulenken auf die Anfänge und die mittelalterlichen Auseinandersetzungen, die nicht zur bloßen „Vorgeschichte“ abgestempelt werden dürfen, sondern als Grundlegung und Weichenstellung begriffen werden müssen. Wie sich zeigte, markieren die Jahre 1075 („Papstrevolution“), 1250 (Tod Friedrichs II.) und 1648 (Westfälischer Friede) für die Formierung des europäischen Staatensystems bedeutsamere Zäsuren als die Zeit um 1500, in der gewöhnlich der große Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit gesehen wird. In den großen Kontroversen, die seit dem späten 11. Jahrhundert ausgefochten wurden, gewannen die Europäer die Fundamente und die konstitutiven Elemente ihres Selbstverständnisses. Ihr Politik- und Ordnungsdenken zehrte aber weiterhin von der Tradition, die immer wieder neu interpretiert und für die Begründung des entstehenden Staates fruchtbar gemacht wurde. Es speiste sich vor allem aus zwei Quellen: der griechisch-römischen Antike und der jüdisch-christlichen Tradition. Hier entstanden die wichtigsten Orientierungsmuster, die für die späteren Epochen leitend wurden. Sie lassen sich in eine logische Abfolge bringen, die der geschichtlichen Entwicklung korrespondiert. Diese Schlußbetrachtung soll die wichtigsten Stationen noch einmal rekapitulieren. Am Anfang steht der Exodus, der Ausbruch des jüdisch-israelitischen Volkes aus Ägyptens Stahlgehäuse der Hörigkeit. Der Auszug in die Wüste steht sinnbildlich für die Emanzipation aus den eingerosteten traditionalen Herrschaftsverhältnissen. Durch ihn wurde der Alte Bund ermöglicht, die Neugründung des Gemeinwesens durch Zusammenschluß der Stämme und Familien. Er führte seinerzeit jedoch noch nicht zur Konstitution einer Bürgerschaft und zur politischen Selbstverwaltung der Gemeinde, sondern zur Errichtung einer Theokratie, die hierarchisch strukturiert war und keine Partizipation des einfachen Volkes vorsah. Anstelle von „Politik“ wurden „Pastoraltechnologien“ (Foucault) entwickelt. Der Versuch einiger ehrenwerter Gemeindemitglieder unter Führung von Korah, Dathan und Abiram, die von Moses konzentrierte Macht auf mehrere Schultern zu verteilen, wurde abgewehrt und hart bestraft. Erst nach Mosis Tod wurde der Spielraum für politische Aktivitäten breiter, doch kam es nur in Krisenzeiten zu

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einer Politisierung des Volkes, während in Zeiten des Friedens die alte patriarchale und gentilistische Herrschaft praktiziert wurde. Sie wurde in der Zeit der Könige und Propheten durch einen straffen Herrschaftsapparat überwölbt und durch die Erfindung des (schlechten) Gewissens stabilisiert. Die hebräische Bibel enthält ein reichhaltiges Potential an Orientierungsmustern für das alltägliche Leben und für die Konfliktbewältigung, verbleibt jedoch im Rahmen des nomistischen und ethnozentrischen Denkens. Der Bundesgedanke ließ sich aber von den damaligen Verhältnissen abstrahieren und konnte zum Modell für die modernen Vertragstheorien werden, die mit seiner Hilfe die Entstehung des Staates sowie die Rechte und Pflichten des Souveräns bestimmten. Die Erfinder – bzw. Entdecker – des Politischen waren die Griechen, die im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert im Rahmen der antiken Polis erstmals in der Weltgeschichte die Selbstbestimmung und -verwaltung autarker Bürgerschaften unter Mitwirkung breiter Schichten der Bevölkerung praktizierten und eine direkte oder unmittelbare Demokratie realisierten. Mit den Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) wurde in Athen – und in der Folge in zahlreichen weiteren griechischen Gemeinwesen – die Aristokratie entmachtet, allgemeine Rechtsgleichheit (Isonomie) als Vorstufe der Demokratie und eine auf der Partizipation aller freien Bürger (männlichen Geschlechts) basierende politische Ordnung institutionalisiert. Der alte Adel verlor seine Hegemonie und mußte sich fortan mit den unteren Volksschichten auseinandersetzen und arrangieren. Die politische Macht (krátos) geriet in die Hände des „gemeinen Volkes“ (dêmos), das – unter Ausschluß von Frauen, Sklaven und Metöken (ortsansässigen Fremden) – seine erlangte Freiheit zur politischen Selbstbestimmung, zur öffentlich-diskursiven Willensbildung, zur strengen Kontrolle und zeitlichen Begrenzung der durch das Los besetzten Ämter und zur kollektiven Verwirklichung gemeinwohldienlicher Projekte nutzte. Durch die gänzliche Entmachtung des Areopags, des alten Adelsrates, unter Ephialtes (462 v. Chr.) wurde der Weg frei zu einer radikalen Demokratie, die in der Zeit des Perikles ihre größten Erfolge feierte und eine kulturelle Blüte ermöglichte, die späteren Zeiten als nie wieder erreichtes und erreichbares Vorbild erschien. Der Aufstieg der Polis und die Entwicklung der Demokratie fanden ihren Niederschlag in den klassischen Tragödien, in den Geschichtswerken von Herodot und Thukydides und in der Politischen Philosophie (Platon, Aristoteles). Dadurch blieben die Erfahrungen der alten Griechen für die Nachwelt zugänglich. Die Rückbesinnung auf sie wurde im Spätmittelalter zum Anstoß der Säkularisierung und in der Moderne zum Katalysator der Demokratiebewegung – und so zum Vehikel der allmählichen Demokratisierung des Staates. Alternative Formen der Politik wurden von den Römern erprobt. Sie wurden noch bedeutsamer für die Genealogie des Staates als die griechische Demokratie. Zwar blieb die römische Republik stets eine Oligarchie, doch kreierten die Patrizier in ihr eine Ämterordnung und -laufbahn, die einst schon von Polybios, Ci-

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cero u. a. als gelungene Verwirklichung der von Aristoteles und den Peripatetikern konzipierten Mischverfassung glorifiziert wurde, die auch noch in der Nachwelt zahlreiche Bewunderer fand und in modifizierter Gestalt von den modernen Staaten übernommen werden konnte. Der wichtigste Beitrag Roms zur Entwicklung der europäischen Kultur war das römische Recht. Mit seiner Hilfe wurde im spätmittelalterlichen Europa die Trennung von Religion und Politik, die Verselbständigung der geistlichen und der weltlichen Herrschaft und die Befreiung des politischen Ordnungsdenkens aus der geistlich-religiösen Klammer ermöglicht. Darüber hinaus hatten die Römer in der Republik ein ausgetüfteltes System der checks and balances, der Gewaltenteilung und -verschränkung, institutionalisiert, das die Erstarkung einzelner Geschlechter oder Sippen und den Rückfall in monarchische bzw. tyrannische Herrschaftsformen verhindern sollte. Es diente späteren Zeiten als Vorbild und inspirierte die neuzeitliche Staatstheorie von Niccolò Machiavelli bis Montesquieu, von Thomas Jefferson bis Robespierre. Es wurde als Muster einer gelungenen Organisation von Regierung und Verwaltung betrachtet und auf den neuzeitlichen Staat übertragen. Das Politikdenken der Antike erlitt einen gravierenden Einbruch durch die Entstehung der Großreiche, die der Polis und der Republik ein Ende setzten. Die griechischen Städte wurden ins Alexanderreich, in die Diadochenreiche und schließlich ins Imperium Romanum integriert. Die Bürger zogen sich enttäuscht aus der Politik zurück, verzichteten freiwillig auf ihr Bürgerrecht und übertrugen die städtische Macht den wenigen Reichen. An die Stelle der demokratischen oder republikanischen Selbstverwaltung trat die Oligarchie der Honoratioren. Der antike Euergetismus, die Armenfürsorge der Wohlhabenden, ersetzte die politische Partizipation. Die Philosophie zog die Konsequenzen aus dieser Lage. Sie zog sich wieder aus dem Feld der Politik zurück und begründete skeptische, hedonistische und kynische Positionen, die das politische Engagement als lästig und überflüssig betrachteten. Sie entwickelte eine individualistisch-eudaimonistische Ethik (Epikur) und konzentrierte sich auf kosmopolitische Spekulationen (ältere Stoa). In Rom leiteten Pompeius, Caesar und Augustus die Rückkehr zur Monarchie und das Ende der Republik ein. Sie provozierten damit den Protest der Anhänger der alten Ordnung (Cicero u. a.), der zwar vergeblich blieb, der aber im hohen und späten Mittelalter den Freiheitskampf der aufstrebenden Städte gegen Kaiser- und Papsttum und in der Frührenaissance den Kampf des Bürgerhumanismus für die autonome Stadtrepublik und die bürgerliche Selbstverwaltung stimulieren konnte. Dagegen feierten die Anhänger des Kaisertums die neue Herrschaftsform und rechtfertigten den römischen Imperialismus. Sie begründeten eine der Monarchie entsprechende Moral (jüngere Stoa) und stilisierten einzelne Herrschergestalten zu geschichtlichen Exempla, an denen sich die künftigen Regenten orientieren konnten (Sueton, Tacitus u. a.). Der Rekurs auf diese Konzeptionen belebte im 16. und 17. Jahrhundert die frühneuzeitliche Staatsdiskussion (Neostoizismus, Tacitismus usw.).

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Die – freiwillige oder erzwungene – Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung beförderte den Aufstieg der vorderasiatischen Erlösungsreligionen. Die entpolitisierte, aus der Reichsgestaltung und -verwaltung ausgeschlossene Bürgerschaft suchte sich alternative Räume der Gemeinschaftsbildung, der „politischen“ Betätigung und der Selbstverwirklichung. Sie intensivierte die alten und entwickelte neue Formen der Religion und schuf sich dadurch einen Ersatz für die verlorene oder verweigerte politische Partizipation. Die Reichsverdrossenheit wurde in neuen Kooperationen kompensiert. Langfristig am erfolgreichsten war die Jesusbewegung, die als kleine innerjüdische Reformbewegung begann, sich durch die erfolgreiche Heidenmission rapide verbreitete und im Laufe der Jahrhunderte zu einer weltumspannenden Kirche heranwuchs. Die von ihr ausgehende, von Jesus und den Aposteln verkündete, von den Kirchenvätern konkretisierte Lehre bestimmte das politische Denken im christlichen Mittelalter. Dieses konnte sich auf zahlreiche Quellen und Autoritäten berufen und so die verschiedenartigsten Ordnungen legitimieren. Auch das Christentum hat divergierende, ja gegensätzliche politische Optionen begründet. Am Anfang stand die radikale Weltablehnung und der Protest gegen die Sitten und Machtstrukturen im Tempel und im Römischen Reich. Am Ende stand die Bejahung der irdischen Herrschaft und des Reiches, das seit der Konstantinischen Wende heilig gesprochen wurde. Für die politischen Orientierungen und ihren Wandel entscheidend wurde die Parusieerwartung und -verzögerung. Solange die frühen Christen darauf vertrauen konnten, daß das Ende aller Tage unmittelbar bevorstand, mußten sie sich keine Gedanken über die Organisation des irdischen Lebens machen. Die Zeit schien zu kurz, um sich mit sozialen und politischen Angelegenheiten zu befassen. Man mußte sich von den Dingen und Zwängen des Alltags befreien und innerlich auf das Ende vorbereiten. Als die Zeit des Gerichts und der Erlösung in die Ferne rückte, war man jedoch genötigt, sich über die Ordnung der verbleibenden Jahre und über die Formen des Zusammenlebens – innerhalb wie außerhalb der Gemeinde – zu verständigen. Das Urchristentum entwickelte eine radikale Institutionenkritik, eine Kritik am nomistischen und ethnozentrischen Denken der Römer und Juden, an der Fixierung aufs Gesetz und auf die Abstammungsgemeinschaft, sowie an den im Imperium Romanum und im Tempel restituierten Formen altorientalischer Herrschaft. Schärfer noch als Jesus selbst wandte sich der Apostel Paulus gegen die römische und jüdische Apotheose des Gesetzes und setzte die Gottes- und Nächstenliebe an die Stelle des römischen Rechts und der Thora. Den Kern der urchristlichen Politik bildete die gegenseitige Fürsorge. Die von den Hebräern praktizierten Pastoraltechnologien und der antike Euergetismus wurden intensiviert und weiter ausgebaut. Die hierarchische Ordnung der Synagoge hingegen wurde abgelehnt. Die im Theokratiegedanken angelegten demokratischen und anarchischen Potentiale kamen zur Entfaltung. Es gab keine Herrschaft und keine institutionalisierten Ämter in den Urgemeinden, die Lehrer der Ekklesia wurden von der Gemein-

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deversammlung eingesetzt. Erst als die werdende Kirche die imperialen Herrschaftsstrukturen adaptierte, wurde das demokratische Potential im Keim erstickt. Gegen die Verknöcherung der Anstaltskirche rebellierten jedoch von Zeit zu Zeit die unterschiedlichsten Gruppen und Sekten, die sich auf die urchristlichen Werte zurückbesannen, ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit, Bescheidenheit und Demut, in Gottes- und Nächstenliebe propagierten und durch ihre Wirkung auf breite Bevölkerungskreise heftige Konflikte provozierten. Dies begann bereits in der Spätantike und wiederholte sich in der Geschichte immer wieder, bis die Universalkirche dann in der Frühen Neuzeit zerbrach. In der Folgezeit wurden die urchristlichen Prinzipien wiederbelebt in der Täuferbewegung des frühen 16. Jahrhunderts und in den frühsozialistischen und -kommunistischen Strömungen der Moderne, die alternative Formen der Vergesellschaftung auf der Basis kollektiven Eigentums erstrebten. Das von der christlichen Soziallehre begründete Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip fand Eingang in die modernen Wohlfahrtsstaaten, die aufgrund des Drucks der sozialistischen Arbeiterbewegung eingeführt wurden. Das kontinuierliche Wachstum der frühchristlichen Gemeinden erzwang straffere Organisationsformen und ermutigte den Aufbau einer hierarchischen Ordnung. Die Ekklesia verwandelte sich aus einer pneumatischen Einheit, die als Rückzugs- und Widerstandsbewegung begonnen hatte, in eine Anstaltskirche, die sich mit der imperialen Herrschaft abfand, ihre Strukturen in ihrem Inneren reproduzierte, im Lauf der Zeit eine reichsfreundliche Haltung gewann und schließlich zur alleinigen Religion und damit selbst zum ideologischen Kitt des Römischen Reiches wurde. Sie fand im Papsttum die institutionelle Form, die das Mittelalter überdauern konnte. Dieser Umbruch reflektiert sich in den Schriften derjenigen Kirchenväter, die den christlichen Glauben im Sinne der hellenistischen Herrschaftstheorie uminterpretierten. Die Hinwendung zum Imperium Romanum fand ihren bedeutendsten Ausdruck in der Reichstheologie des Eusebios von Caesarea. Die Monarchie der Cäsaren erschien nun als irdisches Abbild der göttlichen Weltregierung. Der Kaiser galt als Stellvertreter Gottes auf Erden (vicarius Dei oder Christi) und avancierte zum Schutzherrn der universalen Ekklesia. Er agierte als Dominus, der im Einklang mit den Pastoren seine Herde zum richtigen, d. h. gottgewollten Ziel zu führen hatte. Imperium und Sacerdotium verschmolzen in der Lehre zu einer untrennbaren Einheit, in der die beiden Funktionen und Ämter völlig ungeschieden waren nach „weltlich“ und „geistlich“. Das Römische Reich sollte der Missionierung, der Stabilisierung und Ausbreitung des Christentums dienen. Es galt nicht länger als Vorbote und Zeichen, sondern nunmehr als Aufhalter (kat-echon) des Antichrist. Es wurde als Bollwerk gegen den drohenden Untergang und als letztes der vier Daniels-Reiche begriffen, als jene Heilsinstanz, die einen Aufschub des jüngsten Gerichts für die weitere Missionierung gewähren konnte. Dieser Gedanke beherrschte das mittelalterliche Denken und wurde mit Hilfe der Translationstheorie auf das Karolingerreich und seine Nachfolger übertragen.

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Das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt wurde aber schon früh, schon seit der Zeit der ersten christlichen Kaiser nach Theodosius, zum Problem. Der erstarkende Klerus wehrte sich gegen die laikale Bevormundung in geistlichen Dingen und wollte auch in den weltlich-politischen Angelegenheiten mitbestimmen. Idealtypisch waren drei Organisationsformen möglich, die zu verschiedenen Zeiten erstrebt und ansatzweise verwirklicht wurden. Denkbar war die Suprematie der Geistlichkeit (Hierokratie) bzw. des Kaisertums (Cäsaropapismus) oder aber eine Gewaltenteilung. Während in Byzanz der irdische Regent den Klerus beherrschte, wurde im Weströmischen Reich eine Arbeitsteilung institutionalisiert. Der Kaiser war für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Sicherheit der Ekklesia zuständig, die Pastoren übernahmen die „Seelenpflege“. Zur politischen Leitidee der mittelalterlichen Christenheit wurde die von Augustinus getroffene Unterscheidung zwischen civitas Dei und civitas terrena. Sie hielt die Spannung zwischen den gegensätzlichen politischen Optionen offen und ermöglichte den Rückzug oder aber das politische Engagement, die Einmischung oder die Distanzierung der Christen von der städtischen Politik und von den Reichsangelegenheiten – je nach der politische Lage. Die innere Ordnung der Kirche wurde mit Hilfe der Hierarchienlehre des Pseudo-Dionysius Areopagita legitimiert. Leitende politische Vision nach der Wiederherstellung des Weströmischen Reiches durch Karl den Großen wurde das Zusammenwirken von Kaiser und Papst, Reich und Kirche, weltlicher und geistlicher Gewalt – gemäß der von Papst Gelasius I. begründeten Zwei-Gewalten-Lehre. Das Scheitern dieser Option brachte schließlich den neuzeitlichen Staat auf seine Bahn. Der Staat – als „institutioneller Flächenstaat“ (Theodor Mayer) – wurde in Europa geboren. Er ist eine Kreation des okzidentalen Rationalismus, seine Wurzeln liegen nicht in Mesopotamien oder in Altägypten. Er entstand im Gefolge des Investiturstreits (1075–1122), d. h. der „Papstrevolution“ des späten 11. Jahrhunderts und der durch sie forcierten Verselbständigung der westlichen Monarchien gegenüber Kaiser und Papst, Imperium und Sacerdotium. Die Staatsidee ist Resultat des Scheiterns der katholischen Erwartung, daß durch das harmonische Mit- und Gegeneinander von Kaiser- und Papsttum – als Glieder der universalen Ekklesia – die ganze Menschheit zum christlichen Glauben bekehrt, die Welt befriedet und eine „gute“, d. h. gottgefällige Ordnung errichtet werden könne. Diese Vorstellung zerbrach nicht erst mit der Reformation des 16. Jahrhunderts, sondern bereits im Investiturstreit. Die Reformation hat nur vollendet, was mit ihm begonnen hatte. Der Aufstieg des Staates wurde ausgelöst durch den Rückzug der Kirche aus dem umfassenden Herrschaftsverband des christlichen Reiches. Dadurch wurde die überkommene Vorstellungswelt des Mittelalters zerstört und die Staatsidee auf den Weg gebracht. Indem die Kirche aus der universalen, die einzelnen Königreiche (regna) übergreifenden Einheit der Ekklesia ausbrach, verlor das Reich (imperium) seine Schutzfunktion (defensor ecclesiae) und hörte auf, Universalmonarchie und integrierende Instanz Europas zu sein. Die kaiserliche

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Macht und Autorität begann zu wanken. Die auseinanderstrebenden Territorien verselbständigten sich, ein Pluralismus der Mächte trat an die Stelle des alten Universalismus. Das nicht enden wollende Machtgerangel zwischen Kaiser- und Papsttum ermutigte das Unabhängigkeitsbestreben der partikularen Kräfte (westeuropäische Monarchien, aufstrebende Städte), die sich selbst zu regieren und zu verwalten gedachten, keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkannten (superiorem in temporalibus non recognoscens) und sich selbst als „Kaiser“ in ihren Reichen verstanden (rex in regno suo imperator est; civitas sibi princeps). Die Reaktion der entsakralisierten weltlichen Gewalt und der sich aus religiösem Dogmatismus emanzipierenden Philosophie und Jurisprudenz bestand im allmählichen Rückzug auf den Staat als einer aus ihrer Heilsfunktion und ihrer historischen Mission entlassenen Institution, die nun anstelle des heiligen Reiches die Selbsterhaltung der europäischen Völker sichern und für Frieden und Gerechtigkeit sorgen sollte. Gleichwohl blieb diese Option noch lange Zeit umstritten. Die Staatswerdung der europäischen Gesellschaften war nur eine von mehreren Alternativen. Bedeutende Denker hielten noch lange Zeit am Gedanken einer Universalmonarchie fest, die unter der Regie des Kaisers (Dante Alighieri) oder aber des Papstes (Aegidius Romanus) die alte Reichsidee verwirklichen sollte. Andere votierten für die Autonomie der Städte und Kommunen (Postglossatoren, Bartolus von Sassoferrato, florentiner Bürgerhumanismus). Dennoch setzte sich letztlich die Form Staat politisch durch. Folge dieser Entwicklung war die Entzauberung der politischen Welt als Moment der allgemeinen „Rationalisierung“ und „Entzauberung der Welt“ (Max Weber), die in der Neuzeit jedoch zahlreiche Versuche einer Wiederverzauberung provozierte. Die Verselbständigung der westlichen Monarchien gegenüber Kaiser- und Papsttum wurde begleitet bzw. beschleunigt durch die Konzentration und Zentralisation der Macht in ihrem Inneren. Die Könige und Fürsten institutionalisierten straff organisierte Bürokratien, die sie in die Lage versetzten, die Gesamtheit ihrer Untertanen zu kontrollieren und fiskalisch zu drangsalieren. Sie hatten sich dabei allerdings gegen den Hochadel ihrer Länder zu behaupten, der seinen eigenen Machtbereich auf Kosten der Krone zu sichern und auszudehnen gedachte. Der unterschiedliche Verlauf und Ausgang dieses Kampfes entschied über die konkrete Form des werdenden Staates, d. h. darüber, ob absolute Monarchien oder von den Baronen dominierte Oligarchien oder ob „Mischverfassungen“ (king in parliament) entstanden. Der erste Schritt und entscheidende Durchbruch in Richtung Staatlichkeit und absoluter Monarchie gelang im normannisch-staufischen Sizilien, das deshalb Vorbildcharakter erlangte und als „Modellstaat“ dienen werden konnte. Vor allem Friedrich II., der sich als Kaiser (1220–50) um die Verwirklichung eines christlichen Universalreiches bemühte und dessen Auflösung noch einmal hinauszuzögern suchte, schuf in seinem Königreich Sizilien den ersten wirklich autonomen Staat, indem er den geistlichen und weltlichen

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Adel unterwarf und die von seinen normannischen Vorfahren begonnene Verwaltungszentralisation fortsetzte. Er konzentrierte die Macht in seinen Händen und installierte einen straff organisierten, mit geschulten Juristen besetzten Beamtenapparat, der von seinen engsten Vertrauten kontrolliert und geleitet wurde. Grundlegende Bedeutung für die Genealogie des Staates und die Emanzipation des Politikdenkens erlangte die im späten 11. Jahrhundert einsetzende Rezeption des römischen Rechts und die in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnende Aristoteles-Rezeption. Mit Hilfe des römischen Rechts ließ sich der Anstaltscharakter der Kirche wie des werdenden Staates begründen. Der Aristotelismus vermittelte ein neues, weltimmanentes Selbstverständnis. Die natürliche Ordnung erlangte Eigenbedeutung innerhalb der Gnadenordnung. Die menschlichen Gemeinschaften – von der Familie über die Nachbarschaft, das Dorf und die Stadt bis hin zur Provinz und zum Königreich – wurden nun – neben der Kirche – als „natürliche“ Einheiten eigenen Rechts konzipiert. Die Rechtsgründe der weltlichen Herrschaft wurden seither nicht nur bei Gott, sondern auch bei den Beherrschten gesucht, ihre Legitimation im Wohl und Willen der Bürgerschaft gefunden. Die Herrscher repräsentierten nicht mehr nur das Göttliche auf Erden, sondern auch ihre Untertanen. Der politische Aristotelismus fand seinen bedeutendsten Niederschlag in der Theorie der Volkssouveränität, wie sie – allen mittelalterlichen Schranken zum Trotz – von Marsilius von Padua klassisch begründet wurde. Der Paduaner wurde zum Vordenker des neuzeitlichen Staates, indem er die Politik aus der religiösen Umklammerung löste und die Regenten auf das Gemeinwohl verpflichtete. Er wurde zugleich zum Vorläufer des späteren Konstitutionalismus, indem er zwar noch keine Bürgerfreiheiten gegen einen despotischen Staat postulierte, aber doch den Machthabern positiv-rechtliche Schranken setzen und sie der Kontrolle durch den Gesetzgeber bzw. einen von ihm bestellten Ausschuß unterwerfen wollte. Er begründete darüber hinaus die Idee der Volkssouveränität, die ins Zentrum der modernen Demokratietheorie rückte. Auf dem von ihm geebneten Weg konnten die späteren Staatstheoretiker – von Machiavelli bis Hobbes, von Locke und Rousseau bis hin zu Hegel – weiterschreiten. Ziel der Politik ist nicht mehr die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Friedenssicherung und die Ermöglichung eines einträchtigen Zusammenlebens. Dazu ist weder eine Universalmonarchie noch eine vom Papsttum beherrschte Anstaltskirche nötig. Es genügt, wenn sich die Städte und Provinzen ordentlich verwalten und – bei Bedarf – zu größeren Reichen oder zu Staaten zusammenschließen, in denen die Gesamtheit oder ihr „bedeutenderer Teil“ (pars valencior) die Geschicke des Gemeinwesens bestimmt. Den Kern der neuzeitlichen Staatsidee bildet der Gedanke der Souveränität, d. h. der zeitlich unbegrenzten, ungeteilten absoluten Herrschaft. Dieser erwuchs im späten Mittelalter, wurde in der Frühen Neuzeit von Jean Bodin (1576) und Thomas Hobbes (1651) klassisch begründet und avancierte in der Folgezeit zur Leitidee der Politischen Theorie und Praxis, die das weitere Staatsdenken inspi-

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rierte. Er verlor erst im späten 20. Jahrhundert seine überragende Bedeutung und wird heute von vielen als Anachronismus betrachtet. Die Staatswerdung der europäischen Gesellschaft erfolgte in der Zeit vom 11. bis zum 17. Jahrhundert als Ausgrenzung der einzelnen Territorien aus dem übergeordneten Bezugssystem des mittelalterlichen Reiches (sacrum imperium), als Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt in Händen von absoluten Monarchen und/oder Parlamenten, die alle Machtmittel monopolisierten und so die Freisetzung der unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft durch Entmachtung der alten Herrschaftsträger bewirkten. Der Staat entstand folglich als ein System von Staaten, als Verbund institutionell stabilisierter Herrschafts- und Interaktionszusammenhänge, die sich als gleichberechtigte Partner anerkannten, ohne eine übergeordnete Entscheidungsinstanz zu akzeptieren. Seine Besonderheit liegt in der Befreiung der „weltlichen Herrschaft“ aus der geistlich-religiösen Umklammerung, in der Verdichtung der territorialen Herrschaftsbeziehungen und in der Abstraktion der Herrschaftsbefugnisse von ihren Trägern („Ämter-“ oder „Anstaltsstaat“). Die Begründung des Staates war eine europäische Koproduktion. Während die deutschen Denker noch lange Zeit an der alten Reichsidee festhielten und sich erst spät auf die neue Ordnungsform besannen, erlebte die Staatstheorie in Italien, Frankreich, Spanien und in den Niederlanden schon im 16. Jahrhundert eine erste Blüte. Entscheidende Impulse kamen zunächst aus Italien, das durch Parteikämpfe zerrissen und von fremden Mächten (Habsburger, Frankreich, Aragon) bedroht war. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Einigkeit und Freiheit Italiens veranlaßte die dortigen Humanisten zu radikalen Reflexionen über die Conditio Humana und zur Suche nach alternativen Formen der politischen Organisation, die sie in der glorreichen Vergangenheit, d. h. in der altrömischen Geschichte vorgebildet fanden. Hatten die humanistischen Denker der Frührenaissance in Florenz seit dem späten 14. Jahrhundert die Autonomie der Stadtrepublik und die bürgerliche Selbstverwaltung beschworen, so erzwang der andauernde Städtekrieg und die drohende Fremdherrschaft andere Ordnungsformen. Die Hoffnung richtete sich auf einen mächtigen und zupackenden Fürsten, der die rivalisierenden Mächte unterwirft, die Einheit Italiens gewaltsam herstellt, um so die künftige Rückkehr in die Republik zu ermöglichen. Diese Option begründete Niccolò Machiavelli , der im Principe (1513), in den Discorsi (1513–22) sowie in seiner Geschichte der Stadt Florenz (1520–25) eine schonungslose Analyse der geschichtlichen Lage versuchte. Mit ihm begann die empirisch-analytische, nichtoder anti-normativistische Politikbetrachtung, wie sie noch heute die Politikwissenschaft dominiert. Einziger verbleibender Zweck des Politischen sollte die Sicherung des Friedens, die Freiheit Italiens und seine staatliche Einheit sein. Alle Mittel waren recht, die diesem obersten Ziel dienen konnten. Um den Frieden herzustellen und den allgemeinen Sittenverfall aufzuhalten, war Machiavelli bereit, den Fürsten aus der Bindung an Recht und Gesetz zu entlassen und allein

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auf seine Tüchtigkeit (virtù) und Vernunft (ragione) zu vertrauen, durch die er die ehernen Geschichtsmächte necessità und fortuna bezwingt. Machiavelli verfügte noch nicht über eine konsistente Staatstheorie. Diese wurde erst in der Folgezeit entwickelt. Dennoch hat er wichtige Vorarbeit geleistet, indem er die Vorgaben der christlichen Tradition beiseite räumte und einen ungetrübten Blick auf die politischen Verhältnisse richtete. Er wurde so zum Begründer der Staatsraison, die das frühneuzeitliche Politikdenken zunächst dominierte. Die Genese der Staatstheorie wurde beschleunigt durch das neuzeitliche Weltbild, das sich im Gefolge der kopernikanischen Wende formierte. Rationalismus und Empirismus, Humanismus und Aufklärung beförderten das säkulare Denken. Gott als prima causa wurde entbehrlich, die Gesetze der Natur und des logischen Denkens wurden – als causae secundae – zum Fundament der wissenschaftlichen Forschung. Den Ausgangs- und Bezugspunkt der Politischen Philosophie bildete künftig der Mensch, dem die neue Anthropologie eine konstante „Natur“ zuschrieb, die mit den Instrumenten der Naturwissenschaft analysiert werden konnte. Er wurde zunächst als ein egoistisches und aggressives Wesen begriffen, das durch staatlichen Zwang zu zähmen und zu zivilisieren ist. Weiteren Auftrieb erhielt die Staatstheorie durch das neue Völkerrecht. Anläßlich der Konflikte und Verwicklungen, die im Zuge der Eroberung Amerikas entstanden, reflektierten die spanischen Spätscholastiker (Francisco de Vitoria, Schule von Salamanca, Francisco Suárez u. a.) über die Grundlagen des geltenden Völkerrechts und gelangten dabei zu der Einsicht, daß das ius gentium in Wahrheit ein ius inter gentes, ein Recht zwischen den Völkern, sei. Dadurch wurde der Gedanke der äußeren Souveränität nahegelegt, d. h. die Erkenntnis, daß die Staaten ihre Beziehungen zueinander selbst diplomatisch auszuhandeln haben, ohne einen Höheren um Rat und Entscheidung angehen zu können. Kaiser- und Papsttum waren damit als politische Instanzen obsolet geworden. Diese Auffassung wurde durch die von Bodin und Hobbes begründete Souveränitätstheorie bestätigt und weiter vertieft. Das Völkerrecht wurde weiter differenziert und systematisiert durch Hugo Grotius, Christian Wolff u. a. Die wichtigste Erfahrungsgrundlage der frühneuzeitlichen Staatstheoretiker bildeten die konfessionellen Bürgerkriege, die im Gefolge der Reformation im 16. und 17. Jahrhundert in blutigen Wellen über Europa hinwegschwappten. Durch sie wurde die Suche nach einer friedensstiftenden Macht forciert. Unter dem Eindruck der Bartholomäusnacht von 1572, in der Katharina von Medici Tausende von Hugenotten brutal ermorden ließ, begründete Jean Bodin die Notwendigkeit einer souveränen, vom Monarchen geleiteten, jedoch von seiner Person unabhängigen Staatsgewalt, die über den streitenden Ständen und Konfessionen angesiedelt und in der Lage ist, die innere Rivalität auszuschalten. Seine Lehre wurde richtungsweisend für die künftigen Theoretiker und Praktiker der absoluten Monarchie. Der Prozeß der Staatswerdung, der durch die hochmittelalterlichen Kämpfe eingeleitet und durch die spätmittelalterlichen Entwicklungen

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vorangetrieben worden war, fand im Westfälischen Frieden von 1648 seinen vorläufigen Abschluß. Wichtigstes Herrschaftsinstrument neben den staatlichen Bürokratien wurden die stehenden Heere, die nach dem Dreißigjährigen Krieg institutionalisiert wurden. Offen war zunächst, ob sich die Könige und Landesfürsten oder ob sich die Parlamente und Stände durchsetzen würden. In Frankreich gelang es Ludwig XIV. (1643–1715), die Fronde zu unterwerfen und ein straffes Regiment zu errichten. In England hingegen scheiterten die absolutistischen Bestrebungen der ersten beiden Stuarts, Jakobs I. (1603–25) und Karls I. (1625–49). Das Parlament widersetzte sich und trug letztlich den Sieg davon. Karl I. wurde 1649 enthauptet, England wurde vorübergehend zur Republik. Die Erschütterungen des englischen Bürgerkrieges drängten Thomas Hobbes aus Malmesbury zur Suche nach möglichen Wegen zum Frieden. Die einzige Chance, den Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) zu beenden, erblickte er in der Schaffung einer starken und souveränen Staatsgewalt, die in der Lage ist, den inneren Frieden gewaltsam herzustellen. Ihre Aufgabe mußte es sein, die beiden zentralen Konfliktherde und Kriegsursachen auszuschalten: 1. das Streben der Papstkirche und der Geistlichkeit nach Suprematie; 2. das permanente Machtgerangel zwischen Krone und Parlament, d. h. das stete Bemühen der Barone, ihren Machtbereich auf Kosten der Zentralgewalt auszudehnen. Erforderlich zur Sicherung des Friedens ist nach Hobbes ein Regiment, in dem der weltliche Herrscher die geistlichen Würdenträger kontrolliert und über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens wacht. Er hat – entsprechend den Regelungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 (cuius regio, eius religio) – festzulegen, welches Glaubensbekenntnis als Staatsreligion gilt. Anstatt die Politik zu dominieren und ihre Richtlinien zu bestimmen, hat die Geistlichkeit in ihren Dienst zu treten und sich dem Ziel der Friedenssicherung unterzuordnen. Hobbes begründete den Staat mit Hilfe des hypothetischen Konstrukts des Gesellschaftsvertrages, d. h. durch Rekurs auf einen virtuellen Vertrag oder Bund (covenant) aller mit allen, durch den einem einzelnen (Monarch) oder einer Versammlung von Menschen (Parlament) das Recht übertragen wird, die Gesamtheit zu regieren und zu repräsentieren. Damit war der Bundesgedanke des Alten Testaments unter veränderten Bedingungen wiederbelebt. Er führte aber nicht mehr zur Theokratie, sondern zum säkularen Staat. Dieser ist Repräsentativstaat, der das Ständewesen nivelliert oder neutralisiert und den theokratischen Bestrebungen des Klerus ein Ende setzt. Der Souverän – ob König oder Parlament – ist ausgestattet mit der Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis), doch hat er diese für das Wohlergehen seiner Untertanen einzusetzen. Seine Aufgabe ist die Sorge für die Sicherheit des Volkes. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie kehrt nur dann zu ihm zurück, wenn der Souverän seine Aufgabe nicht erfüllt und die innere Sicherheit nicht gewährt. Dann nämlich löst sich der Staat auf und die Gesellschaft fällt in den „Naturzustand“ zurück, in dem das Recht des Stärkeren und mit ihm Anarchie und Chaos

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herrschen, da jeder einzelne das natürliche Recht besitzt, sich selbst zu erhalten und gegen seine Konkurrenten zu behaupten. Diese Konstruktion wurde zum Ausgangspunkt und Paradigma aller künftigen Staatstheorien. Die Lehre vom Naturzustand und vom Gesellschaftsvertrag bestimmte das politische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts und erlebte im späten 20. Jahrhundert eine Wiedergeburt. Sie führte nicht zwingend zum staatlichen Absolutismus, sondern konnte – je nachdem, wie der Mensch im „Naturzustand“ gesehen wurde – auch liberal, republikanisch oder demokratisch interpretiert werden. Diese Varianten wurden in der Folgezeit erprobt. Die Staatsdiskussion nach Hobbes kreiste insgesamt um die Frage nach der konkreten Staatsform. Die Anhänger des Absolutismus sahen sich neuen Gegnern konfrontiert, die sich der Erkenntnisse der Aufklärungsphilosophie bedienten. Sie wollten den Staat in seine Schranken weisen (Liberalismus, Konstitutionalismus) und strebten selbst nach Einfluß auf die Politik durch „Liberalisierung“ und „Demokratisierung“ der Willensbildung und Entscheidungsfindung (Republikanismus, Demokratie). Der Liberalismus und Konstitutionalismus wurde begründet von John Locke und weiter konkretisiert durch Montesquieu und die Federalist Papers. Ihm trat schon früh der Republikanismus zur Seite, der für die Emanzipation des Kleinbürgertums und für seine Beteiligung am politischen Willensbildungsprozeß kämpfte. Seine Forderungen wurden alsbald radikalisiert durch die moderne Demokratietheorie, die Stimmrecht für alle Bürger verlangte. Sie wurde vorbereitet durch Baruch de Spinoza, erhielt ihre klassische Begründung durch Jean-Jacques Rousseau und mündete über die frühsozialistischen Bewegungen in die Revolutionstheorie der Jakobiner und von dort schließlich in die sozialistische, kommunistische und anarchistische Staatskritik. Der Konflikt zwischen den gegensätzlichen politischen Strömungen eskalierte und wurde gewaltsam entschieden in den großen Revolutionen. Er fand seinen ersten Höhepunkt in den Verfassungsdebatten in Frankreich (1789/91) und in den USA (1787), in denen die gegensätzlichen Positionen frontal aufeinanderprallten. Ergebnis war ein „historischer Kompromiß“: die Institutionalisierung von konstitutionellen Monarchien bzw. von repräsentativen Republiken, die sich im 19. Jahrhundert in bürgerliche Rechtsstaaten und schließlich im 20. Jahrhundert in parlamentarische Demokratien sowie in Interventions- und Wohlfahrtsstaaten verwandelten. Die einstmals verfeindeten Positionen und ihre antagonistischen Prinzipien – staatlicher Zentralismus, Republikanismus und Konstitutionalismus – wurden in eine Synthese gebracht und relativierten sich darin wechselseitig. Dadurch wurde der Leviathan gezähmt. Indem er seinen Radius selbst begrenzte, die Mitwirkung und Mitbestimmung der Bürger ermöglichte und sich um ihre soziale Sicherheit bemühte, wurde der Staat zum entscheidenden Integrationsmedium und gewann die Anerkennung der von ihm regierten Bevölkerung, die sich nach und nach mit ihm identifizierte und sich als Staatsvolk, d. h. als Nation, verstand. Damit begann die Hochzeit des

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Staates. Die von den Dichtern und Denkern beschworene Idee der Nation wurde zur zentralen Legitimationsideologie des Staates. Sie ließ sich republikanisch (Frankreich) oder aber völkisch (Deutschland) konkretisieren: durch die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft bzw. zur Abstammungsgemeinschaft. In beiden Varianten diente sie der Integration der bürgerlichen Gesellschaft. Da sich die einzelnen Staatsbürger oder Volksgenossen als Glieder ihres Gemeinwesens verstanden und für den Ruhm und Glanz ihres Vaterlandes opferten, konnten sie sich als Momente einer höheren Rationalität begreifen, die ihrem individuellen Leben einen tieferen Sinn verlieh. Der von ihnen konstituierte Nationalstaat wurde zum Garanten ihrer Sicherheit und Freiheit. Er ließ sich monarchisch oder republikanisch, bonapartistisch-cäsaristisch oder parlamentarisch, zentralistisch oder föderalistisch, totalitär oder pluralistisch, rechtsstaatlich-demokratisch oder als Diktatur organisieren und bildete den passenden Rahmen, innerhalb dessen die Staatsangehörigen ihre wesenhafte Verbundenheit miteinander – unter Abstraktion von der sozialen Ungleichheit sowie in Abgrenzung von den Anderen – erfahren konnten. Die Peripetie in der Entwicklung des Staatsdenkens erreichte Hegel, der – wie seinerzeit schon Hobbes – die Vorgaben seiner Vorgänger zusammenfaßte und in sein System „aufhob“. Er erstrebte eine Synthese von griechischem Politikdenken und neuzeitlichem Naturrecht und sah im Staat den großen Brennspiegel, in dem jeder einzelne seine wesenhafte Verbundenheit mit allen anderen Volksgliedern erfahren sollte. Der Staat, der mehr sein sollte als der politisch-administrative Apparat („Not- und Verstandesstaat“), erschien als das organisch gegliederte, nach innen und außen souveräne Gemeinwesen, das seine Existenz nicht einem Urvertrag, sondern der je aktuellen Zustimmung und Identifikation der Bürger verdankt. Seine Aufgabe sollte die Sicherung der durch die Reformation und die Französische Revolution gewonnenen Freiheit sein, doch sollte er zugleich die sozialintegrativen Kräfte erzeugen, die der Zersplitterung der Gesellschaft und der Auflösung der sittlichen Einheit in unverbundene Atome und in ein „Wimmeln von Willkür“ entgegenwirken. Hegel stilisierte den Staat zur „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, zum obersten Zweck des menschlichen Handelns und zum allgemeinen Ziel (télos) der Weltgeschichte. Dadurch mußte er die Kritik seiner Nachfolger provozieren, die den tatsächlich existierenden Staat an den von ihm formulierten Zweckbestimmungen maßen. Damit begann die sozialwissenschaftliche „Entzauberung“ des Staates, die bei so unterschiedlichen Denkern wie Max Stirner, Marx, Bakunin, Nietzsche und Max Weber erfolgte und schließlich – nach dem erfolglosen Versuch der Wiederbelebung des Etatismus in der „Konservativen Revolution“ – ihren (vorläufigen) Endpunkt in der systemtheoretischen Ironisierung des Staates findet. Der Staat beförderte die Entfeudalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft durch Verselbständigung des politischen Systems. Er leistete die Integration der bürgerlichen Gesellschaft, indem er den zentrifugalen Kräften entgegen-

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wirkte. Das System der europäischen Nationalstaaten erwies sich als passender Rahmen für die Entfaltung von Kapitalismus und moderner Kultur. Dafür mußte sich der Staat den sich ändernden Begebenheiten anpassen und mehrfach seine Form ändern. Er durchlief eine Metamorphose vom absolutistischen Fürstenzum gewaltenteiligen Verfassungsstaat, vom monarchisch-ständischen Machtzum bürgerlichen Rechtsstaat und zur parlamentarischen Demokratie und schließlich vom liberalen Nachtwächter- zum Interventions- und Wohlfahrtsstaat. Der Ausbau des Rechtsstaates zur sozialen Demokratie war ein zunächst nicht intendiertes Resultat der sozialistischen Arbeiterbewegung, die mit der kapitalistischen Eigentumsordnung ursprünglich auch den sie garantierenden Staat bekämpfte, sein Gewaltmonopol aufzulösen und durch freie Assoziationen zu ersetzen gedachte, die aber im Lauf der Zeit ein affirmatives Verhältnis zu ihm entwickelte, da sie ihn für die soziale Revolution (Kommunismus) bzw. für soziale Reformen (Sozialdemokratie) und so in beiden Varianten für die Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu instrumentalisieren erhoffte. Zwar scheiterte sie mit diesem Projekt, doch wurde sie innerhalb der parlamentarischen Systeme zum Schrittmacher und Katalysator der weiteren Demokratisierung und der Etablierung von Sozial- und Wohlfahrtsstaaten. Diese Errungenschaften wurden jedoch von den alten Eliten und vom Bürgertum stets mit Mißtrauen betrachtet und werden heute vom Neokonservatismus und Neoliberalismus wieder in Frage gestellt, die den Staat – angesichts leerer öffentlicher Kassen – auf seine rechtsstaatlichen Sicherungsfunktionen beschränken und von seinen sozialstaatlichen Aufgaben „entlasten“ möchten. Umstritten bleibt, wie weit der Abbau der sozialen Sicherungssysteme gehen darf. Ungeklärt bleibt ferner, ob und wie sich die Errungenschaften des Sozialstaates im Rahmen der „Globalisierung“ und der europäischen Einigung erhalten lassen. Der Formwandel des Staates wurde mit Hilfe von Theorien realisiert. In den rechtsstaatlich-demokratischen Sozialstaaten haben sich politische Ideen sedimentiert und materialisiert, die im Kampf der Aufklärung gegen die alte Adelswelt, die Kirche und den absolutistischen Fürstenstaat entstanden. Dabei standen die Erfahrungen der Antike Pate. Sie wurden von den Theoretikern des 18. Jahrhunderts ins Gedächtnis gerufen und gegen die feudalen Herrschaftsverhältnisse und den Obrigkeitsstaat geltend gemacht. Für die Gewaltenteilung und die rechtliche Bindung der Regenten wurde die Ordnung und das Ämterwesen der römischen Republik paradigmatisch, für die Demokratie die athenische Polis. Die Demokratisierung des politischen Systems, die Institutionalisierung parlamentarisch-rechtsstaatlicher Ordnungen im Gefolge der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution wurde ermöglicht durch Theorien, die sich um eine Reaktualisierung der klassischen Politischen Philosophie und mit ihr der antiken Erfahrungen bemühten. Zwar hat sich die moderne Demokratie im Rahmen von Großflächenstaaten entwickelt, die auf Formen der Repräsentation angewiesen waren und den Prinzipien der „Volksherrschaft“ restringierende Bedingungen

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setzten, doch behielt die im Altertum praktizierte unmittelbare Demokratie Vorbildcharakter. Ihre Vergegenwärtigung wurde einerseits zur entscheidenden Triebkraft bei der Ersetzung der alten Obrigkeitsstaaten durch Demokratien, sie bildet andererseits bis heute das Paradigma einer politischen Praxis, die eine weitergehende Demokratisierung in Gesellschaft und Staat erstrebt. Auf dem Höhepunkt seiner Macht begann die Pathologie des Staates. Die nationalistische Übersteigerung der Staatsidee führte im Zeitalter des Imperialismus zum Kollaps. Sie motivierte die europäischen Staaten zu verheerenden kriegerischen Auseinandersetzungen, zu Vernichtungsfeldzügen und Materialschlachten, die Europa in eine schwere Krise trieben. Die großen Erwartungen und Sehnsüchte, die sich auf den Staat gerichtet hatten – Friede und Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt, Berechenbarkeit des staatlichen Handelns usw. –, wurden dadurch bitter enttäuscht. Die „Hegung des Krieges“ durch das Jus Publicum Europaeum war am Ende. Deshalb wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das Bemühen um europäische Einigung intensiviert. Es findet seinen Höhepunkt in der aktuellen Diskussion über die Notwendigkeit und Gestalt einer europäischen Verfassung. Dieser steht das Erbe der Staatlichkeit hindernd im Wege. Die einzelnen Nationen haben in ihrer Geschichte unterschiedliche „kulturelle Gedächtnisse“ ausgebildet, die der Verschmelzung zu einem gesamteuropäischen „Staat“ oder „Reich“ entgegenstehen. Die Erinnerung an die gemeinsamen abendländischen Grundlagen, d. h. an die griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Wurzeln, wird allein kaum ausreichen, um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Aufzuarbeiten ist die Geschichte der Diversifikation, um hinter dem Trennenden zugleich das Verbindende aufzudecken. Diese Studie versuchte einen Beitrag dazu. Die Genealogie des Staates gelangt heute an ihr Ende. Zwar können ihre Errungenschaften nicht aufgegeben werden, doch lassen sich die Probleme der heutigen Gesellschaften nicht mehr mit den Theorien begreifen, die den Prozeß ihrer Durchsetzung reflektierten. Das Verständnis der traditionellen staatlichen Institutionen reicht nicht mehr aus zur theoretischen und praktischen Bewältigung der heute anstehenden politischen Aufgaben. Neue Theorien sind gefordert, die neue Leitideen ins politische System einführen und sich in neuen Institutionen ablagern müssen. Ob sie durch die Aktualisierung und eine neue Kombination der alten Visionen gewonnen werden können, muß an dieser Stelle offen bleiben. Den Fokus der künftigen Orientierung jedenfalls kann nicht mehr der Staatsbegriff bilden. Die Entwicklung der Staatstheorie und der Staatlichkeit bildet eine abgeschlossene Phase der geschichtlichen Entwicklung. Das etatistische Ordnungsdenken ist erschöpft. Das Bild des Staates ist vollendet. Der große Kreis hat sich geschlossen. Die Melodien sind durchgespielt. Die Staaten werden zwar nicht „absterben“, sie werden aber herabgestuft zu untergeordneten Momenten im Kontext internationaler und innergesellschaftlicher Verhandlungssysteme. Damit weicht einerseits eine große Last von den Schultern der Bürger. Andererseits

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wächst die Unsicherheit wieder, die bislang durch den Staat eingegrenzt und gebannt wurde. Erneut zeigt sich, daß jeder Emanzipationsprozeß ambivalent und janusköpfig ist. Dem Freiheitsgewinn korrespondiert ein Verlust alter Sicherheit. Welche Entwicklungspfade die künftige Politik einschlagen wird, welche neuen Ordnungsformen an die Stelle des alten Staatensystems treten werden, muß die Zukunft weisen. Ihre Erkundung muß im Kontext der demokratischen Selbstverständigung und der öffentlich-diskursiven Willensbildung erfolgen.

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Personenverzeichnis Aaron 204, 207, 210–211, 254 Abaelard, Petrus 407, 437, 574–575 Abbo von Fleury 472 Abel, Wilhelm 379, 444, 634 Abendroth, Wolfgang 770, 774 Abia 217 Abimelech 215 Abiram 210, 254, 785 Abraham 200, 202, 205, 257, 338, 372– 373 Absalom 220 Accursius 474, 515–516 Adalbero von Laon 472 Adalbert von Bremen 396 Adams, John 183 Adler, Max 763, 778 Adonia 220 Adorno, Theodor W. 76, 154–155, 235, 237, 570, 654–655, 719 Aegidius Romanus 376, 521, 523–525, 528, 546, 557, 595, 791 Agnoli, Johannes 17, 191, 322, 324, 352–353 Ahab 222 Aischylos 77, 82, 98, 101, 103–107, 109–111, 113, 152 Aland, Kurt 344, 351 Alanus Anglicus 455, 472, 475 Alberti, Leon Battista 562 Albertus Magnus 51, 520, 574 Albrecht I. 513, 526–527 Alexander der Große 76, 132, 136, 250 Alexander III., Papst 386, 415, 426–427 Alexander V. 591 Alexander VI. 704 Alexander von Roes 445, 469, 512–514, 531, 564

Alfons VII. von Kastilien 471 Alfons X. der Weise 466, 471 Alkman 89 Alkuin 359 Altaner, Berthold 301, 305, 307, 309, 313, 315–316, 318–319, 321, 325, 327 Althusius, Johannes 53, 625, 705, 708–709 Altmann, Rüdiger 18 Ambrosius, Bischof von Mailand 326– 327, 330, 334–336, 344 Ammirato, Scipione 685, 688 Amos 212, 223, 226 Anakreon 89 Anastasios 351 Anaxagoras 89, 119 Anaximander 86, 88 Anaximenes 86 Anderson, Perry 20, 382, 444, 446, 492, 506, 612, 634, 643–645 Andreas von Isernia 479, 488 Annas, Julia 77, 124 Anno von Köln 396 Anonymos Iamblichi 120 Anselm von Canterbury 407, 413, 574 Anselm von Havelberg 418, 421 Anselm von Lucca 401 Antiphon 119–120 Antisthenes 174 Antonius Pius 301 Appolinaris 305 Arcadius 336, 347 Archilochos 89 Archipoeta 437 Arendt, Hannah 25, 38, 40, 60, 80, 82, 98, 140, 176, 201, 522, 654, 681, 714 Aristarch von Samos 649 Aristides 301, 305

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Personenverzeichnis

Aristides, Aelius 193 Aristippos 174 Ariston 305 Aristophanes 121 Aristoteles 25, 35, 46, 51–53, 76–77, 79–80, 82, 87–88, 93–94, 96–100, 110, 113–114, 117–118, 133, 135–136, 138– 145, 148, 153, 156, 158–159, 162–163, 173–174, 181, 198, 349, 447, 480, 516–519, 521–522, 530–531, 538–539, 542–544, 551, 554, 557, 561–562, 566–567, 572–573, 576, 581, 583, 595, 597, 610, 656, 682, 733, 751, 786–787, 792 Arius 318, 327–328, 334 Arnold von Brescia 421 Assmann, Jan 41–43, 46, 105, 109, 204, 206, 208, 213, 226, 230 Athanasios 327–328, 333–334, 344 Athenagoras 305, 318 Attila 350 Atto von Vercelli 367–368 Auerbach, Erich 159 Augustinus, Aurelius 51–52, 330–331, 337–343, 348, 354, 373, 418, 423, 432, 473, 478, 572, 587, 637, 642, 682, 790 Augustinus Triumphus 524, 595 Augustus 180–181, 190, 192, 195–196, 317, 322, 324, 336, 347, 358 Austin, John 23 Averroës (Ibn Ruschd) 198, 447, 517– 518, 574, 581 Avicenna (Ibn Sina) 198, 447, 517, 574 Azo Portius 472, 516, 555, 559 Babeuf, François Noël (Gracchus) 759– 760 Bacon, Francis 154, 625–626, 652–654, 719, 729 Bagehot, Walter 777 Bähr, Otto 727 Bakchylides 89 Bakunin, Michail 764–766, 782, 797

Baldus de Ubaldis 474, 479, 513, 521, 554, 556, 558–561 Barak 216 Barclay, William 688 Barnabas 264, 289, 295, 305 Baron, Hans 122, 561–562, 673 Bärsch, Claus E. 57, 166, 776 Bartholomäus von Capua 479, 488 Bartolus von Sassoferrato 376, 474, 479, 513, 521, 554–556, 558, 791 Barudio, Günter 20, 36, 511, 645–646, 694, 709 Becket, Thomas 433–434 Bellarmin, Robert 642 Beloch, Julius 95–96 Below, Georg von 28 Bendix, Reinhard 20, 264, 358, 491, 495, 506, 567, 633, 645 Benedikt VIII. 384 Benedikt XI. 505 Benedikt XIII. 591 Bengtson, Hermann 78, 90, 95–98, 129 Benjamin, Walter 64, 68, 71, 237 Bentham, Jeremy 746–747 Benz, Ernst 420, 442, 459, 461, 513, 535 Benzo von Alba 402–403 Berengar von Tours 396 Berger, Klaus 163, 240, 251, 260–263, 281, 288–289, 292 Berger, Peter L. 59, 61, 69 Berges, Wilhelm 29, 405, 429, 432, 437, 471, 476–479, 521, 524 Berkeley, George 652, 654 Berkhof, Hendrik 336, 344–345 Berlin, Isaiah 614, 675, 716 Berman, Harold J. 18–19, 29, 33, 187, 350, 362, 375–376, 379–380, 403, 407, 409–410, 412–413, 424–425, 429, 433– 434, 440, 455, 472, 482–485, 493, 501, 503, 508, 610, 780 Bermbach, Udo 57, 60, 68, 625, 633, 688, 747, 778 Bernhard von Clairvaux 408, 417–418, 421, 500

Personenverzeichnis Bernold von St. Blasien 401 Bernstein, Eduard 640, 730, 764, 767–769 Beumann, Helmut 35, 358, 360, 363, 368, 377, 392, 394, 405, 414, 451, 472 Beyme, Klaus von 14, 16–17, 39, 60 Beza (Théodore de Bèze) 625, 688–689 Bichler, Reinhold 105, 170, 173–180 Bielefeldt, Heiner 445, 524, 528–533, 542–543, 546 Birgitta von Schweden 566 Bismarck, Otto von 766 Black, Antony J. 589, 596–597 Blanc, Louis 761–762, 770 Blanqui, Louis-Auguste 761–762, 767 Bleicken, Jochen 81, 90, 92, 95–96, 98, 129, 153, 182, 184–186, 188–191 Bloch, Ernst 42, 202–203, 228, 247–248, 287, 311, 420, 517, 637 Bloch, Marc 379, 500 Blumenberg, Hans 87, 112, 142, 231, 281, 549, 580 Boccalini, Trajano 685, 688 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 16, 22, 29, 33, 35, 370, 376, 409, 621, 671, 724– 725, 727, 733, 774 Bodin, Jean 18, 33, 53, 443, 470, 625, 639, 674, 685, 689–691, 693, 696, 700, 705, 708–710, 737, 776, 792, 794 Boethius 518–519, 572–574 Boethius von Dacien 519 Boisguillebert, Pierre Le Pésant 629 Boldt, Hans 20, 34, 362, 382, 612 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 703, 746 Bonaventura 519–520 Bonifaz VIII. 386, 449, 451, 455, 464, 504–505, 516, 524–528, 530, 532, 540, 567, 618, 703 Bonizo von Sutri 401, 416 Boockmann, Hartmut 444, 451, 461, 466, 513, 534–535, 559, 566, 585, 592 Borgia, Cesare 615, 673–674 Borkenau, Franz 59, 651

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Borst, Arno 355, 379–380, 400, 402, 417, 571 Bosbach, Franz 609, 622 Bosl, Karl 348, 355, 362, 376, 378–382, 385–386, 392, 399, 405, 408, 414, 417, 421 Botero, Giovanni 29, 615, 685, 688 Bourdieu, Pierre 69 Brackmann, Albert 386, 409, 429–430, 433–434, 436 Bracton, Henry de 495, 497, 503 Brandi, Karl 609, 635–636, 641 Brecht, Bertolt 68 Breuer, Stefan 24, 36, 44, 65, 90 Brown, Peter 192, 304, 321, 326, 330, 332 Browne, Robert 641 Bruni, Leonardo 562 Brunner, Otto 22, 28, 34–35, 380, 382– 383, 429 Bruno, Giordano 649 Buber, Martin 206, 208 Buchanan, James M. 695 Bultmann, Rudolf 109, 225, 228, 259, 297 Buonarroti, Filippo 760–761 Burckhardt, Jacob 25, 29, 79, 147, 150, 198, 483, 486, 628 Burke, Edmund 498, 699, 745, 776 Burkhardt, Johannes 621, 642 Cabet, Étienne 760 Caecilianus 329 Caesar 189–193, 362, 787 Caligula 195 Calvin, Jean 621–622, 625, 633, 638, 646, 682, 689 Campanella, Tommaso 625–626, 729 Campenhausen, Hans Freiherr von 303, 306, 309, 313, 315–317, 319–320, 323–328, 330, 334 Capelle, Wilhelm 77, 79–80, 85, 89–90, 118, 120 Carmer, Johann Heinrich Casimir von 724 Cartwright, Thomas 641 Caspar, Erich 386, 400

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Personenverzeichnis

Cassirer, Ernst 19, 59, 127, 660 Cassius Dio 193 Cato, Marcus Porcius 179 Christ, Karl 172, 178, 180–182, 184– 186, 188, 190–191, 194, 253 Chrysipp 174 Cicero, Marcus Tullius 54, 175, 178–180, 182, 189, 191, 339–340, 561, 787 Cino da Pistoia 474, 559 Clastres, Pierre 24 Clemens III., Papst 398 Clemens VII. 586, 590 Clemens von Alexandrien 316 Cohen, Hermann 227, 241, 664 Coke, Sir Edward 494, 696 Cola di Rienzo 183, 586 Comte, Auguste 652, 656–657 Condorcet, Antoine Marquis de 233, 719 Conring, Hermann 622 Constant, Benjamin 747 Conze, Werner 24 Crassus 189 Creveld, Martin van 14, 18, 20, 29, 90, 387, 444, 496, 623, 643, 745, 781 Croce, Benedetto 614, 628 Cromwell, Oliver 613, 647, 730 Crüsemann, Frank 199, 218, 244–245, 247 Cyprian 319–321, 340 Dahlheim, Werner 171, 180, 189–190, 194–195, 303 Damasus I. 314, 335 Daniel 231, 240–242, 255 Dante Alighieri 376, 438, 445, 469, 512, 514, 521, 524–525, 531–534, 648, 703, 791 Danton, Georges 183 Dareios 105 Darwin, Charles 649–651 Dassmann, Ernst 303, 307, 313, 315–316, 319, 322, 326–327, 329–330, 333, 336, 347, 350–351, 355 Dathan 210, 254, 785 Däumig, Ernst 778

David 217–221, 223, 225, 227, 255, 338 Debora 216 Decius 302, 320 Demandt, Alexander 22, 35, 72, 171– 194, 304 Demokrit 86–87, 148 Demosthenes 148 Dempf, Alois 29, 292, 350, 359, 364–366, 386, 395, 401, 403–404, 408, 418–421, 423, 431, 442, 459, 465, 487, 504, 513, 517, 519–520, 524–525, 527–528, 530– 531, 537, 552, 564–566, 602 Dennert, Jürgen 33, 446, 625, 685, 689 Denzler, Georg 308, 315, 335, 348, 351, 365–367, 383, 394, 535, 704 Descartes, René 570, 580, 650, 657, 661, 718, 737 Dietrich von Niem 563–564, 590, 601, 604 Diocletian 195, 303, 322, 329 Diogenes 174 Diognet 305 Diwald, Hellmut 445, 586–587, 610–612 Domitian 302 Donatus, Bischof von Kathargo 329, 345 Donoso Cortés, Juan 703, 746 Droysen, Gustav 641 Dubois, Pierre 469, 472, 500, 504, 530, 534, 571 Duby, George 379, 382 Duchhardt, Heinz 623, 634, 710 Dülmen, Richard van 621, 623, 630, 634–636, 641–644, 704 Dumont, Louis 174, 262, 285, 442, 533 Duns Scotus, Johannes 548, 574–575, 577–578 Duplessis-Mornay, Philippe 625 Durandus (Duranti), Wilhelm 454, 472, 476, 525 Duranti, Wilhelm der Jüngere 589 Durkheim, Emile 14, 17, 59, 80, 236, 751 Echnaton (Amenophis IV.) 203 Eco, Umberto 517–518 Edward I., König von England 496

Personenverzeichnis Edward III., König von England 496, 585 Ehmke, Horst 16 Ehrenberg, Victor 90, 92, 95–96, 98 Ehrhardt, Arnold A. T. 78, 163, 301, 307, 309, 313, 319, 321, 335 Ehud 216 Eike von Repgow 429, 460, 503 Einstein, Albert 660 Eisenstadt, Shmuel N. 200, 215, 225, 630 Eleasar 211 Elia 212, 222, 226 Eliade, Mircea 86 Elias, Norbert 26, 36, 509, 643 Elisabeth I. 640 Empedokles 80, 86, 90, 100, 148, 353 Engel, Josef 598–599, 611–612, 616, 634 Engelbert von Admont 445, 469, 512, 514, 521, 531 Engels, Friedrich 570, 583, 644, 718, 732, 760, 762, 766 Ephialtes 98, 110, 786 Epiktet 193 Epikur 30, 174, 787 Erasmus von Rotterdam 638–639, 719 Erdmann, Carl 380, 385, 396, 401, 403, 406, 410 Esra 208, 226, 239, 244–246, 256 Eugen III., Papst 417, 423 Eugen IV. 592, 594, 596, 598, 604 Euklid 675, 677 Euripides 101, 106, 109, 113–115, 149 Eusebios von Caesarea 317, 323–324, 344–345, 789 Eusebios von Cäsarea 339, 347 Eutyches 332 Felix von Aptungi 329 Ferdinand III. der Heilige 471 Ferguson, Adam 721 Feuerbach, Ludwig 164 Feyerabend, Paul 660 Fichte, Johann Gottlieb 18, 126, 233, 569, 652, 657, 664, 667–669, 695, 754

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Fichtenau, Heinrich 358, 378–379 Ficker, Julius von 429 Figgis, John Neville 590, 617, 625, 639, 642 Filmer, Robert 693 Finley, Moses I. 40, 78–79, 83–84, 90, 92, 95–96, 178–179, 182, 188 Flasch, Kurt 57, 315, 318, 330–331, 338, 340–343, 442, 448, 478, 517, 519, 568, 603 Flavius Josephus 206, 251–252 Flote, Pierre 504 Foerster, Werner 310, 312 Forsthoff, Ernst 30, 773–774 Foucault, Michel 46, 65–66, 69, 76, 153, 258, 295, 631, 745, 785 Fourier, Charles 760 France, Anatol 727 Franciscus Accursius 474 Franz I. von Frankreich 613, 704 Franz von Assisi 442, 487, 551, 618 Freud, Sigmund 59, 100, 102, 125, 203– 204, 224, 242, 649, 670 Friedrich I. Barbarossa 381, 391–392, 403, 414, 421–429, 431, 437, 464, 467, 469, 483, 494, 501–502 Friedrich II., Kaiser 422, 424–425, 437, 439, 442, 458, 460–467, 469, 472–473, 479, 481, 484–489, 496, 499, 504, 509, 514, 528, 532, 610, 618, 785, 791 Friedrich II. von Preußen 688, 724 Friedrich III., Kaiser 466, 592, 598, 607 Fuhrmann, Horst 308, 355, 358, 378–379, 382, 393–395, 397, 401, 407–410, 412– 414, 426–427, 430–431, 438, 504, 535 Fustel de Coulanges, Numa Denis 78–79, 181, 184, 194 Gadamer, Hans-Georg 26, 68–69, 138 Gager, John G. 199, 244–245 Galerius 303, 322 Galilei, Galileo 649, 675, 677, 719 Gebhardt, Jürgen 59–60, 640, 723, 730– 733

922

Personenverzeichnis

Gehlen, Arnold 38, 86, 522 Gelasius I. 351–352, 400, 790 Gentillet, Innocent 687 Georgi, Dieter 259, 271, 282, 293–294 Gerhoh von Reichersberg 418–419, 421 Gerson, Johannes 579, 584, 590 Gibbon, Edward 296 Gideon 216 Gierke, Otto von 28–29, 349, 383, 511, 537, 708 Gigon, Olof 133–134 Gilbert von Tournai 477, 503 Gneist, Rudolf von 727–728 Goethe, Johann Wolfgang 783 Goldie, Mark 641, 647, 694, 730 Gottfried von Viterbo 437 Gottschalk von Aachen 402 Grabmann, Martin 407, 447, 461, 488, 517–521 Gramsci, Antonio 444, 615 Gratian 334, 409–410, 455, 473, 488– 489, 547, 589 Gregor VII. 348, 355, 375, 382, 386, 391, 394–395, 397, 399, 401, 403, 406, 408, 423–424, 453, 491, 703 Gregor IX. 422, 457, 461–462, 464–466, 540 Gregor XI. 586, 588 Gregor XII. 591 Grimal, Pierre 170–171, 175, 179–182, 186, 188 Grimm, Dieter 16, 21, 29, 713, 724 Groote, Geert 566 Grotius, Hugo 53, 617, 625, 694, 705, 707–708, 710–711, 794 Grundmann, Herbert 380, 420, 451, 461, 466, 514, 534–535, 566 Guicciardini, Francesco 29, 615, 685 Guilelmus Duranti 525 Gunther von Pairis 437 Gustav Adolf von Schweden 644 Gutenberg, Johannes 627

Habermas, Jürgen 15, 17, 20, 23, 26, 30, 34, 37, 54–55, 58, 60, 63, 65–66, 71, 80, 87, 124, 140–141, 201, 229, 234, 237, 239, 299, 632–633, 654, 661, 668, 682, 696, 699–700, 713, 716–717, 728, 743, 750, 773–774, 780–782 Habicht, Christian 46, 171–172, 174, 180 Hadrian 301, 366 Hadrian IV., Papst 424–427 Haggai 241 Haller, Carl Ludwig von 746 Haller, Johannes 348, 359, 362, 366 Hamilton, Alexander 627, 723, 742 Harnack, Adolf von 261, 286–287, 300, 302–303, 306–309, 315–316 Harrington, James 731–732 Harvey, William 677 Hassinger, Erich 444, 612, 616, 639, 641 Hauck, Albert 356–365, 378, 385–386, 395, 397, 409, 411, 416, 423, 426, 438–451, 461, 467, 535 Heer, Friedrich 21, 256, 354, 371, 385, 399, 407–408, 413, 415, 433–436, 513, 564, 603 Hegel, G. W. F. 18, 22, 27, 31, 36, 40, 49, 53–54, 66, 71, 74, 76, 84, 87, 118, 120, 124, 126, 132–133, 138, 142, 149, 174, 182–183, 187–188, 198, 202, 231–233, 369, 372, 377, 467, 470, 481, 509, 520, 545, 571–572, 583, 611, 621, 624, 628, 644, 652, 657, 659, 661, 664–665, 667–669, 671, 675, 694, 699, 718, 739, 747–756, 775, 782, 792, 797 Heidegger, Martin 38, 68, 88, 656, 659 Heimpel, Hermann 414, 444, 512, 514, 564, 601 Heinrich der Löwe 428, 438, 451 Heinrich I. Beauclerc 413 Heinrich II. Plantagenet 433, 471, 483, 492, 497 Heinrich II., Kaiser 384 Heinrich III., Kaiser 392–393 Heinrich III., König von England 495 Heinrich IV. 375, 391, 393–394, 396– 397, 399, 402–403, 410, 422, 424

Personenverzeichnis Heinrich Raspe 466 Heinrich V. 410–411, 414 Heinrich VI. 437–438, 443, 450, 472, 494 Heinrich VII. 438, 468 Heinrich VII. von Luxemburg 513, 534 Heinrich VIII., König von England 632, 639 Heinrich von Cremona 524, 595 Heinrich von Langenstein 590 Heinrich von Susa (Hostiensis) 474 Heinrich, Klaus 68, 76, 85, 87–88, 141, 154, 174 Heinrich IV. von Navarra 639 Heinzmann, Richard 478, 520–521, 549, 576 Heller, Hermann 18, 34, 44, 763 Helvetius, Claude Adrien 652 Hennis, Wilhelm 39, 140–141, 682 Heraklit 79–80, 86, 88–90, 119, 353, 656 Herder, Johann Gottfried von 233 Hermias 305 Herodes 252 Herodot 77, 85, 94, 96, 99, 104–105, 109, 119, 159, 172, 786 Hesekiel 212, 225, 241 Hesiod 77, 82–85, 109, 159, 372 Heuss, Alfred 177, 182, 184, 190, 261, 322, 347 Heydte, Friedrich August Freiherr von der 29, 444, 469, 474–475, 478, 507, 528, 564 Hieronymus 325, 348 Hieronymus von Prag 591 Hilarius von Poitiers 345 Hildegard von Bingen 419 Hinkmar von Reims 359 Hinrichs, Ernst 20, 34, 37, 506, 612– 613, 645–646 Hintze, Otto 35, 715 Hiob 202, 213, 246–247 Hipparchos 95 Hippias 93, 95

923

Hippolithus a Lapide 710 Hippolyt von Rom 306, 308, 313, 317– 318, 324 Hirschman, Albert O. 46, 629, 772 Hirt des Hermas 305 Hobbes, Thomas 18, 26, 33, 39, 53, 66, 73, 87, 115, 127, 134, 205, 210, 213, 233, 247, 263, 286, 291, 377, 433, 488, 491, 493–494, 545, 581, 611, 618, 620, 624–626, 629, 644, 646, 652, 654–655, 657, 671, 674–675, 677–683, 685, 691–703, 707–709, 713–715, 721–722, 731, 734–735, 737–739, 748, 754, 776, 792, 794–797 Hobsbawm, Eric 715, 743 Hofmann, Hasso 396, 498, 537, 543, 553, 589–590, 602, 604, 610, 624, 700, 707–708, 710, 740, 771 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 652, 719 Hölderlin, Friedrich 750, 752, 754 Holtzmann, Robert 358, 367, 430–431, 468, 470, 505, 645 Homer 77, 82–85, 96, 109, 242 Honorius 336, 347 Honorius Augustodunensis 417 Horaz 180, 193 Horkheimer, Max 76, 154–155, 232– 233, 235, 237, 373, 654–655, 664, 676, 694, 719, 755 Hosea 212, 223, 226 Hosius von Cordoba 328, 345 Hotman, François 625, 688–689 Hübener, Wolfgang 165, 206, 231, 310, 408, 533, 570, 580 Hugo Capet 499 Hugo, Gustav 746 Hugo von Fleury 405, 472 Hugo von Sankt Viktor 417 Huguccio von Pisa 417, 452, 455, 474, 589 Humbert von Moyenmoutier, Kardinal von Silva Candida 393, 395 Humboldt, Wilhelm von 724 Hume, David 652, 654, 660, 665, 699, 719 Hus, Jan 588, 591, 594

924

Personenverzeichnis

Ibykos 89 Ignatius von Antiochien 305–306 Ignatius von Loyola 642 Imbach, Ruedi 512, 524–525, 531, 546– 548, 550, 575, 579 Innocenz III. 386, 422, 439, 450–458, 473–474, 494, 502, 523, 526, 540, 566 Innocenz IV. 456, 461, 465, 476 Innocenz VI. 586 Irenäus von Lyon 308, 313–314 Ireton, Henry 730 Is-Boseth 220 Isaak 200, 202 Isokrates 173 Ivo von Chartres 405 Jaeger, Werner 122, 136 Jahwe 202, 206, 213–215, 217–219, 221–222, 226, 240, 244, 246, 258 Jakob 200, 202 Jakob I. 640, 646, 795 Jakob von Viterbo 524, 595 Jakobs, Hermann 377–385, 393, 412– 416, 428, 430, 438, 483 Jakobus 286, 289 Jansen, Cornelius 642 Jay, John 627, 723 Jean de Blanot 454, 472, 476 Jean Quidort von Paris 53, 472, 521, 528, 530, 540 Jeanne d’Arc 586 Jefferson, Thomas 183, 787 Jehu 222 Jellinek, Georg 21 Jens, Walter 113 Jephta 216 Jeremia 212, 224, 226 Jerobeam 221–222 Jesaja 212, 223–224, 226 Jesus 194–195, 198, 250–252, 257, 259– 267, 269–274, 277–283, 286–289, 295, 297–299, 303, 307, 312–314, 317–318, 321, 334, 337, 396, 523, 551, 788

Joab 220 Joachim von Fiore 231, 241, 420, 459, 487 Joel 217 Johann I. Ohneland 455, 494 Johannes I. Tzimiskes 355 Johannes Chrysostomos 326–327 Johannes Teutonicus 455, 474, 476, 589 Johannes von Cesena, Bischof 384 Johannes von Salisbury 427, 431–432, 434, 436, 475, 478, 490, 493–494, 574 Johannes von Segovia 596 Johannes XXII. 534–536, 540, 546, 552– 553, 565, 567, 581 Johannes XXIII. 591 Jonas von Orléans 359, 364 Jonathan Makkabäus 251 Jordanus von Osnabrück 445, 512, 514 Josephus, Flavius 251–252 Josia 208, 212, 226, 256 Josua 211, 213, 215, 255 Juan de Torquemada 597 Judas Makkabäus 250 Julian Apostata 328, 336 Julius Firmicus Maternus 344 Jung, Carl Gustav 59 Justinian 332, 355–356 Justinus der Märtyrer 305, 318 Kant, Immanuel 53, 126, 132–133, 149, 233, 406, 544, 570, 583, 652, 657, 659–669, 671, 695, 716, 718–719, 727, 733–734, 754, 756 Kantorowicz, Ernst H. 29, 35, 404, 406, 436, 438–439, 441, 460–463, 466, 481, 485, 489, 495, 507, 531, 533, 610 Karl I., König von England 507, 640, 644, 646–647, 703, 795 Karl II., König von England 507 Karl IV., Kaiser 468, 566, 584–585 Karl IV., der Schöne von Frankreich 506 Karl V., Kaiser 609, 612, 622, 635, 641, 704 Karl V., König von Frankreich 590

Personenverzeichnis Karl der Große 358–359, 361–363, 384, 398, 402, 442, 460, 470, 472, 476, 564, 790 Karl der Kühne von Burgund 608, 613 Karl Martell 357 Karl von Anjou 467, 503 Karl von Luxemburg 566 Karlmann 357–358 Katharina von Medici 639, 794 Kautsky, Karl 767–768 Kekataios 119 Keller, Hagen 28, 362, 367, 379–383, 392, 394, 416, 427, 438, 464 Kelsen, Hans 127, 763, 777 Kempf, Friedrich 451, 453, 456–457, 465 Kepler, Johannes 650 Kerény, Karl 87 Kern, Ernst 34 Kern, Fritz 358, 363, 391, 397, 401, 404, 424, 435, 490, 500, 513 Kerner, Max 395, 409, 432, 434 Kersting, Wolfgang 127, 213, 677–680, 692, 734, 774 Kienast, Walther 365, 405, 412, 424, 437, 443, 451, 454–455, 471, 479, 501, 503 Kimminich, Otto 625, 704–705 Kippenberg, Hans G. 46, 58, 93, 169, 173, 199, 208, 227, 245–246, 270, 297, 309–312 Kleanthes 174 Klein, Richard 180–181, 190, 274, 301– 304, 315–316, 320, 323, 325–327, 336, 349, 353 Kleisthenes 80, 95–97, 786 Klemens 305–306 Kleophon 113 Knox, John 640, 646 Knutzen, Matthias 670 Koch, Gottfried 379, 391, 402–403, 405, 422–426, 430 Kölmel, Wilhelm 33, 417, 422–423, 443, 446, 474, 512, 520, 524, 526–528, 531, 535, 537, 547, 553

925

Kolumbus, Christoph 618, 704 Konrad II. 392 Konrad III. 414, 418, 422–423 Konrad von Gelnhausen 590 Konrad von Marburg 457 Konrad von Megenberg 446, 545, 564– 565 Konstantin der Große 54, 301–303, 319, 322–324, 326–329, 331–335, 341–342, 344–345, 347, 349, 355, 370, 373, 422 Kopernikus, Nikolaus 648–650, 670 Korah 210, 254, 785 Koselleck, Reinhart 24, 30, 34, 57, 229, 234, 444, 533, 619, 681, 698, 717, 720, 724, 744 Krieger, Karl-Friedrich 442–443, 466, 490–491, 509, 513, 585, 607 Krippendorff, Ekkehart 36, 449, 623 Kritias 120 Kuhn, Helmut 77, 117, 127, 141 Kuhn, Thomas S. 50, 67, 649 Kunisch, Johannes 32, 36, 449, 710 Kyros II. 242 L. Tarquinius Superbus 184, 557 La Mettrie, Julien Offray de 652, 683 Laktanz 301, 323, 339 Las Casas, Bartolomé de 705 Lassalle, Ferdinand 696, 718, 765 Laurentius Hispanus 472, 476 Le Goff, Jacques 377, 379–382, 385, 387, 393–394, 400, 412, 416–417, 441 Leibniz, Gottfried Wilhelm 652, 655, 657–658, 662, 719 Lemoine, Jean 525 Lenin, Wladimir Iljitsch 52, 583, 669, 770, 778 Leo I. 348–349 Leo III. 353, 358–359, 564 Leo IX. 393 Lessing, Gotthold Ephraim 719 Leukipp 87 Leuschner, Joachim 439, 442, 444, 451, 461, 466, 513, 534–535, 559, 566, 587

926

Personenverzeichnis

Liebknecht, Karl 768 Lietzmann, Hans 14, 40, 261, 281, 286, 301, 303–304, 306–307, 311, 313, 315, 317–319, 321, 324, 327, 329, 334, 336 Lilburne, John 729 Limnaeus, Johannes 710 Lipsius, Justus 648, 685, 688 Liutprand von Cremona 368 Livius 180, 191, 193, 675–677 Löcherbach, Dieter 567, 572, 575–575, 582–583, 611, 652, 654, 664, 669, 747 Locke, John 53, 213, 581, 627, 647, 652, 654, 657, 661, 671, 681, 718–719, 721–723, 745, 754, 792, 796 Loraux, Nicole 79–80, 82 Lovejoy, Arthur O. 549, 572 Löwith, Karl 159, 228–229, 236, 238, 420 Lucifer von Cagliari 345 Luckmann, Thomas 59, 61, 69 Ludwig der Bayer 449, 468, 509, 531, 534–536, 541, 545–546, 559, 564, 566 Ludwig der Fromme 363–364 Ludwig der Heilige 467, 477, 499, 503, 506, 509, 528 Ludwig VI. der Dicke 500 Ludwig VII. von Frankreich 427, 433 Ludwig IX. der Heilige 477, 503 Ludwig XI. von Frankreich 613 Ludwig XII. von Frankreich 613 Ludwig XIV. 502, 507, 609, 613, 622, 639, 645–647, 709, 795 Luhmann, Niklas 14, 17, 27, 34, 39, 55, 64, 69, 72, 233, 614, 628, 686–687, 722, 783 Lukács, Georg 571 Lupold von Bebenburg 446, 545, 563– 564 Luther, Martin 205, 209, 265, 541, 616– 618, 620–621, 625, 633, 635–638, 682 Luxemburg, Rosa 766, 768 Machiavelli, Niccolò 18, 29, 39, 51–53, 56, 116, 183, 189, 233, 376–377, 545,

562, 611, 614–618, 620–621, 624–625, 655, 672–677, 679–681, 683, 685–687, 697, 709, 754, 787, 792–794 MacIntyre, Alasdair 20, 298, 617 Macpherson, C. B. 677, 680, 722, 730, 732, 747, 757 Madison, James 627, 723, 742 Maier, Franz Georg 274, 304, 320, 323, 327, 330, 332–333, 342, 347, 349, 355–356 Maier, Hans 77, 330, 343, 624, 677–678, 685, 733, 738, 740 Maistre, Joseph de 703, 746 Maitland, Frederic William 404 Majorinus, Bischof von Kathargo 329 Maleachi 241 Malebranche, Nicolas de 657 Manegold von Lautenbach 401, 537 Mani 315, 330 Mann, Michael 24, 194, 444, 643 Mannheim, Karl 45, 68–69, 72 Marc Aurel 193, 301 Marcion 302, 309–310, 312, 314 Maria die Katholische 640 Maria Stuart 640 Marinus de Caramanico 479, 488 Marongiú, Antonio 459, 482 Marsilius von Padua 53, 513, 521, 525, 530, 536–543, 545–546, 550–554, 563, 566, 589, 594, 601, 610, 703, 733, 792 Martin V. 591–592 Marx, Karl 15, 27, 31, 37, 52, 71, 98, 124, 127, 164, 233, 570–571, 583, 628–632, 640, 644, 654, 667, 669, 675, 693, 718, 725–726, 732, 739–740, 753, 756, 759–760, 762–770, 775, 782, 797 Mattathias 250 Matthias I. Corvinus 608 Matz, Ulrich 448, 521, 706 Maximilian I., Kaiser 608, 612 Mayer, Theodor 31, 354, 360, 391, 394, 429, 445, 591, 790 Mazarin, Jules 646 Medici, Lorenzo de’ 616, 674

Personenverzeichnis Meier, Christian 18, 40–41, 43, 45, 47, 75–78, 80–82, 84, 90–93, 95–96, 98, 103, 105–106, 108, 110, 112–113, 119, 152, 154, 157, 159, 178, 326 Meinecke, Friedrich 29, 614, 625, 685, 687–688 Meister Eckhart 566 Melanchthon, Philipp 638, 719 Melito von Sardes 301, 305, 317 Menasse, Robert 239 Menchaca, Fernando Vázques de 707 Mensching, Günther 33, 396, 407–408, 413, 434, 442, 504, 521–522, 524, 531, 548, 550, 552, 568, 572, 574, 578 Mesnard, Pierre 633, 685 Meyer, Eduard 199, 255, 261 Michael Kerullarios 394 Michael von Cesena 535, 546, 566 Michelet, Jules 628 Michels, Robert 781 Miethke, Jürgen 386, 400–401, 421, 435, 443, 452–456, 465, 477–478, 513–515, 521, 524–528, 531, 534–538, 547, 550, 552–554, 587, 594, 597, 602, 606, 671 Miles, Jack 202, 204, 211, 213, 215, 217, 224–225, 229, 246–248, 258 Mill, James 747 Mill, John Stuart 757 Millar, John 721 Miltiades 305 Minucius Felix 319 Mirbt, Carl 351, 395–396, 398, 401, 403, 406, 504, 525 Mitteis, Heinrich 34, 362, 380, 383, 391–392, 412–415, 422, 429–430, 438, 444, 461, 463, 468–469, 482, 485, 490, 494, 499–500, 502–503, 508 Mochi Onory, Sergio 405, 452, 469 Mohammed 285 Mohl, Robert von 727 Mommsen, Theodor 177, 179, 181–182, 184–186, 189 Montaigne, Michel de 639 Montanus 315

927

Montesquieu 183, 627, 647, 675, 719, 723, 740, 745, 787, 796 Moraw, Peter 48, 192, 324–325, 363– 365, 392, 408, 423–424, 442, 444, 446, 456, 466, 468, 479, 510, 512–513, 524, 592, 607 Moritz von Oranien 644 Morus, Thomas 625–626, 675, 729 Möser, Justus 724 Moses 201, 203–205, 207, 209–211, 249, 254, 785 Mossé, Claude 82, 95, 148 Müller, Adam 746 Münkler, Herfried 29, 31, 34, 36, 100, 115–116, 122, 449, 468–469, 558, 562, 580, 614, 617, 638, 648, 673–675, 677, 684, 686–688, 719, 743, 746, 779 Müntzer, Thomas 231, 637 Musonius 193 Näf, Werner 37, 442, 695, 709 Napoleon Bonaparte 511, 750 Nebukadnezar II. 223, 226, 242 Negri, Antonio 16, 737, 782 Nehemia 93, 208, 212, 226, 239, 244– 246, 256 Nero 302 Nestle, Wilhelm 75 Nestorius von Konstantinopel 331 Neumann, Franz 19, 624, 765, 770, 775 Newton, Isaac 650, 657, 719 Nicolaus von Tudeschi (Panormitanus) 596, 604 Nietzsche, Friedrich 21, 39, 65–66, 76– 77, 79, 86, 88, 90, 99–104, 115–116, 120, 146–158, 170, 195, 224, 236, 255, 265, 281, 296, 621, 628, 669, 771, 797 Nikolaus I., Papst 365–366 Nikolaus II. 396 Nikolaus III. 467 Nikolaus von Autrecourt 582, 584 Nikolaus von Kues 520, 545, 565, 596, 600, 602–607, 610–611 Nippel, Wilfried 145, 170, 173, 178–179

928

Personenverzeichnis

Nipperdey, Thomas 626, 675, 752, 773 Noelle-Neumann, Elisabeth 18 Normannischer Anonymus 404, 441, 482, 492 Nozick, Robert 695 Obadja 222 Ockham, Wilhelm von 472, 513, 516– 517, 535, 540, 546–554, 556, 558–560, 563, 566, 568, 574–575, 577–581, 583–584, 587, 589, 594–597, 603–604, 656, 665 Odilo von Cluny 472 Odofredus 516 Oestreich, Gerhard 36–37, 612, 648, 695, 709 Olshausen, Eckart 178–180, 188–191 Omri 222 Oppenheimer, Franz 24 Ordericus Vitalis 436 Origenes 196, 316–318, 324, 327 Othniel 216 Otto III. 20, 368 Otto der Große 366–367, 398, 564 Otto von Freising 418, 422–423, 426 Otto von Poitou 451 Otto, Walter F. 87 Overton, Richard 729 Ovid 180, 193 Owen, Robert 760 Palmieri, Matteo 562 Panaitios 175, 179, 191 Pannekoek, Anton 768 Papias von Hierapolis 305 Pareto, Vilfredo 17 Parmenides 87, 125, 155, 581 Paul III., Papst 704 Paulus 194–195, 259, 262, 264–265, 269, 271, 273–275, 277, 281–283, 288–290, 292–295, 297–299, 307, 312, 325, 411, 551, 788 Peisistratos 93–95

Pelagius 330, 340, 342 Pelasgos 107 Pelloutier, Fernand 764 Perikles 79, 94–95, 98, 113, 150, 153, 786 Peterson, Erik 48, 163, 174, 196, 270– 271, 283, 289, 301, 317, 324–325, 350 Petrarca, Francesco 183, 445, 562, 618, 719 Petrus 273–274, 287–288, 290, 313, 321, 335, 349–350, 353 Petrus Crassus 402–403 Petrus Damiani 384, 395 Petrus Lombardus 407, 548 Petrus von Eboli 437 Petty, Maximilien 730 Petty, William 629 Philipp I. von Frankreich 410 Philipp II. Augustus 429, 452, 455, 476, 483, 494, 501–503, 506 Philipp II. von Spanien 613 Philipp III. von Spanien 613 Philipp IV. der Schöne 449–450, 464, 479, 504–506, 524, 526–527, 530–532, 563, 618 Philipp VI., König von Frankreich 585 Philipp von Schwaben 451, 458 Philippe de Beaumanoir 503 Philo von Alexandrien 252, 267, 324 Piccolomini, Enea Silvio 593 Pierre d’Ailly 584, 590 Pindar 89 Pinehas 211 Pines, Salomon 285 Plato 163, 181, 198, 581 Platon 35, 53, 60, 76–77, 88, 90, 94, 99– 100, 117–118, 121–122, 124–145, 149, 154, 156–159, 173, 337, 569, 572–573, 579, 581, 626, 668, 733, 739, 753, 786 Plessner, Helmuth 428, 511 Plinius der Jüngere 193 Plotin 572–573 Plutarch 98, 148, 179–180 Pocock, John G. A. 122, 562, 673, 722

Personenverzeichnis Pohlenz, Max 174, 179, 193 Pole, Reginald 687 Polybios 54, 179, 189, 786 Polykarp von Smyrna 305 Pompeius 189, 193, 252, 787 Popitz, Johannes 22 Popper, Karl Raimund 23, 132, 568, 655, 660, 666 Porphyrios 572–573 Poseidonios 175, 179–180, 191 Post, Gaines 33, 446, 469 Preuß, Hugo 776 Preuß, Ulrich K. 14, 36, 727–728, 776, 779 Protagoras 90, 118, 121, 128, 157, 670 Proudhon, Pierre-Joseph 761–762, 764– 765 Prynne, William 693 Pseudo-Dionysius Areopagita 478, 525, 595, 597, 790 Ptolemäus 649 Pufendorf, Samuel 443, 558, 657, 695, 710 Pythagoras 86 Quadratus 301, 305 Quaritsch, Helmut 15, 28, 33–34, 443, 446, 473, 490, 503, 534, 556, 689 Raaflaub, Kurt 77, 85, 89, 92, 100, 105– 107, 110, 112–113, 115, 119 Rainald von Dassel 403, 426–428 Ranke, Leopold von 628 Rawls, John 695, 716, 726 Regino von Prüm 364–365 Rehabeam 221–222 Reimarus, Hermann Samuel 262–263 Reinhard, Wolfgang 14, 20, 444, 613, 624, 643, 707, 709, 772, 779, 781 Reinkingk, Dietrich 622, 710 Ribadeneira, Pedro de 687–688 Ricardus Anglicus 472, 475 Richard I. Löwenherz 438, 494

929

Richard von Cornwall 466, 471 Rienzi, Cola di 183, 445, 586 Rilinger, Rolf 180, 190, 193, 195, 324, 336 Ritter, Joachim 86, 136, 139, 143, 154 Robert von Neapel 534 Robespierre, Maximilien de 183, 741, 787 Roffredus 516 Roger I. 618 Roger II. 482–483, 485, 489 Rorty, Richard 66, 650–651, 783 Rosenstock-Huessy, Eugen 32, 380 Rousseau, Jean-Jacques 53, 98, 151, 183, 581, 627, 647, 671, 675, 677, 681, 695, 699, 719, 732–733, 737–741, 745–746, 754, 772, 792, 796 Rudolf von Habsburg 468, 513 Rudolf von Schwaben 398 Ruotger 368 Rupert von Deutz 418 Ruprecht von der Pfalz 585 Ruusbroec, Jan van 566 Saage, Richard 625–626, 646, 724, 729 Sacharja 241 Saint-Just, Louis Antoine Léon 741 Saint-Simon, Claude-Henri de 759–760 Sallust 178–180, 184 Salomo 217–218, 220–221, 246, 255 Salutati, Coluccio 562 Samuel 217–221, 224 Sappho 89 Sartori, Giovanni 733, 740, 742 Saul 201, 211, 214, 217–218, 220, 255 Savigny, Friedrich Carl von 403, 472, 516, 554, 724 Savonarola, Girolamo 672 Schadewaldt, Wolfgang 77, 84, 86, 90, 92, 102, 105, 107, 112–113, 119, 140 Schaller, Hans Martin 406, 424–425, 437, 441, 459–461, 465 Scharpf, Fritz W. 14, 17

930

Personenverzeichnis

Schele, Johann 602 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 87, 126, 202, 664, 667–669, 750, 754 Schieder, Theodor 20, 34–35, 379, 612, 623, 715, 743, 771 Schlözer, Ludwig August 724 Schluchter, Wolfgang 199, 243, 246, 262, 284, 288–289, 292 Schmithals, Walter 260, 282, 284, 289, 292 Schmitt, Carl 15, 18, 22, 27–28, 30, 37, 39, 43–45, 164–165, 200, 212, 231, 237, 324–326, 350, 353, 376, 390, 409, 428, 457, 498, 640, 671, 675–678, 681, 689–690, 697–698, 702, 705, 707, 713–714, 728, 746, 771, 773, 776–778 Schmitt, Eberhard 616, 673, 741 Schneemelcher, Wilhelm 323, 347 Schnur, Roman 614, 681, 689, 694, 724 Scholem, Gershom 205, 230, 239 Scholz, Richard 29, 504, 530, 536–537, 543, 546 Schopenhauer, Arthur 102 Schramm, Percy Ernst 365–366, 368– 369, 392–393, 402, 429, 465–466, 472, 476, 478, 499–500, 504 Schubert, Ernst 463, 466–467, 479, 509– 510 Schuller, Wolfgang 83, 90, 92, 95, 153 Schulze, Hagen 20, 34, 67, 506, 616, 742–743, 771 Schulze, Hans K. 356–358, 363, 366, 368, 383, 392–394, 410, 424, 426, 430, 439 Schütz, Alfred 59, 69 Schwan, Alexander 25, 48, 53, 136, 139–140, 143, 260, 652, 667, 690, 713 Schweitzer, Albert 259 Sciarra Colonna 505, 527 Scipio Aemilianus 179 Seba 220 Seckendorff, Veit Ludwig von 622 Sedulius Scottus 359 Seneca 193, 262

Sepúlveda, Juan Gines 705 Seuse, Heinrich 566 Sextus Empiricus 118 Shakespeare, William 640 Shaw, George Bernard 764 Sieyès, Emmanuel 741–742 Siger von Brabant 519, 574 Sigismund 585, 591–592, 602, 607 Simmel, Georg 14, 80, 236, 662, 751 Simon der Zauberer 273 Simon Makkabäus 251 Simonides 89 Simson 216 Siricius 314, 335 Skalweit, Stephan 25, 31–32, 613, 619 Skinner, Quentin 30, 562, 616, 624, 633, 673, 677–678, 685 Sloterdijk, Peter 175, 231, 308–309, 311 Smaragd von St. Mihiel 359 Smith, Adam 133, 232, 721, 726, 745, 754 Smith, Morton 214, 226, 244, 250–251, 256 Snell, Bruno 75, 85, 89, 109–110 Sohm, Rudolph 28, 187, 287, 305, 307– 310 Sohn-Rethel, Alfred 571 Sokrates 95, 98, 100–102, 117–118, 120–123, 127, 130, 132, 134, 141, 146, 149–150, 156, 158, 163, 174, 292 Solon 79, 82, 92–93, 95, 98, 118 Sombart, Werner 373, 630 Sophisten 77, 86, 90, 99, 115, 117–118, 120, 122, 128, 142, 148, 155–157, 313, 571 Sophokles 77, 82, 84, 106–107, 109, 112–114, 119, 152 Sorel, George 764 Sotelo, Ignacio 759–761, 770 Soto, Domingo de 707 Spahn, Peter 77–78, 82–84, 90, 92, 95, 97, 108, 116, 119–120, 136 Spengler, Oswald 59, 237 Speusippos 173

Personenverzeichnis Spinoza, Baruch de 53, 209–210, 221, 243, 627, 652, 657–659, 669–670, 719, 732–737, 796 Stahl, Friedrich Julius 727–728 Stalin, Josef 732, 770, 778 Stein, Lorenz von 725, 758, 761 Stein, Peter G. 187–188, 403, 516, 555 Stemberger, Günter 208, 213, 216, 244, 250–251 Stephan Tempier 518 Stephan von Blois 433 Sternberger, Dolf 25, 35, 39, 47, 51–52, 145, 339, 522, 537–538, 672 Stesichoros 89 Steuart, James 754 Stirner, Max 782, 797 Stolleis, Michael 30, 32, 607, 614, 619– 620, 625, 628, 685–688 Strauß, Botho 101 Strauss, Leo 60, 139, 697, 703, 722 Strayer, Joseph R. 20, 29, 34, 444, 504, 622 Struve, Tilman 349, 359–361, 363, 365, 367–368, 392, 402–403, 433, 436 Suárez, Francisco 625, 642, 685, 704, 707, 794 Sueton 190, 193, 787 Suger von Saint-Denis 500 Sulla 189 Svarez, Carl Gottlieb 724 Tacitus, P. Cornelius 190–191, 193, 648, 685, 787 Talmon, Jakob L. 740 Talmon, Shemaryahu 244, 250 Tankred von Lecce 438 Tatianus 305 Taubes, Jacob 156, 159, 197, 208–209, 227, 230, 237, 241–242, 257, 259, 262–263, 274, 280, 285, 293, 311, 420, 696, 701 Tauler, Johannes 566 Tenbruck, Friedrich H. 88, 655 Tertullian 301, 318–320, 323

931

Thales von Milet 85–86, 100, 281 Theißen, Gerd 195, 253, 259–264, 267– 268, 270–272, 274, 276–280, 287, 294–296 Themistokles 106 Theoderich 355–356 Theodosius 54, 303, 322, 327, 329, 331, 335–336, 342, 344, 347, 409, 422, 790 Theodosius II. 331 Theophilus von Antiochien 305, 318 Theophrast 173 Theunissen, Michael 17 Tholomäus von Lucca 521, 523–524 Thomas von Aquin 35, 51, 448, 504, 518, 520–523, 542, 569, 574–576, 648, 682, 706 Thukydides 39, 77, 79, 99–100, 113–116, 122, 143, 150, 159, 172, 677, 697, 786 Tierney, Brian 443, 451, 456, 465, 529, 540, 589 Tillich, Paul 45, 76, 87, 772 Tilly, Charles 20, 29, 34, 612, 715 Timotheus 275, 290 Titus 252, 275 Tocqueville, Alexis de 110, 628, 756–757 Toke, Heinrich 602 Tolstoi, Lew 102 Töpfer, Bernhard 412, 414, 418–421, 423, 426–428, 431, 438–439, 442, 444, 451, 459, 461, 466, 513, 534, 600, 602–604, 606 Trajan 302 Troeltsch, Ernst 259, 262, 271–272, 275, 285–286, 308, 333, 357 Tugendhat, Ernst 23, 569, 661, 667 Tyrtaios 89 Ullmann, Walter 443, 451, 456, 478, 517, 537, 587 Ulpian 490 Urban II., Papst 410 Urban IV. 466 Urban VI. 586, 590

932

Personenverzeichnis

Valentinian III. 348 Valerian 303, 320 Varro, Marcus Terentius 340 Vener, Job 601 Vergil 180, 192–193, 339 Vernant, Jean-Pierre 75–76, 78, 90, 92 Veyne, Paul 79, 146, 170, 180, 186, 189, 195, 271 Vico, Giambattista 232, 720 Vierhaus, Rudolf 623, 643, 710 Viktor IV., Papst 427 Vincentius Hispanus 472, 476 Vincenz von Beauvais 476–477, 503 Vitoria, Francisco de 625, 685, 704–707, 794 Voegelin, Eric 39, 42, 47, 59–60, 77, 126, 159, 310–311, 336, 340 Vollrath, Ernst 38–39, 714 Voltaire 296, 719, 740 Volz, Paul 241 Vorsokratiker 141 Wala von Corbie 364 Wallenstein, Albrecht von 644 Walther, Helmut G. 33, 443, 446, 456, 472, 528, 553, 556, 560–561, 604, 625, 689 Walther, Manfred 659, 735 Walther von der Vogelweide 458–459 Walwyn, William 729 Walzer, Michael 42–43, 46, 203–204, 225–226, 249, 257 Weber, Max 13–14, 17, 24, 27, 39, 42, 44, 47, 64, 76, 78, 82, 154, 157, 166, 168–169, 186, 199–201, 214–216, 225, 230, 235–237, 243–245, 248, 253, 255, 257, 262, 264, 275, 297, 303, 313, 345–347, 377, 383, 481, 557, 622, 624, 630, 632–633, 638, 641, 643, 654, 758, 776, 780, 782, 791, 797 Wellhausen, Julius 199–200, 208, 227, 255 Wells, H. G. 764

Welwei, Karl-Wilhelm 77, 90, 95 Wenrich von Trier 402 Wenzel 584–585, 587 Werner, Karl Ferdinand 405, 431, 443, 472 White, Hayden 70, 628, 783 Wido von Ferrara 402 Wido von Osnabrück 402 Widukind von Korvei 368 Wilhelm II. Rufus 413, 433, 492 Wilhelm der Eroberer 413, 433, 491– 493, 702 Wilhelm von Auvergne 478 Wilhelm von Dijon 472 Wilhelm von Holland 466 Wilhelm von Nogaret 504–505, 527 Wilhelm von Poitiers 472 Wilks, Michael 446, 524, 529, 537, 543, 587 Willke, Helmut 14, 19, 64, 783 Winckelmann, Johann Joachim 102 Winfrid-Bonifatius 357 Winstanley, Gerrard 730–731 Wipo 392 Wittfogel, Karl August 46, 105 Wolff, Christian 657, 662, 695, 707, 719, 794 Wyclif, John 579, 584, 587 Wyduckel, Dieter 33, 446, 490, 496, 505, 554, 559, 689 Xenokrates 173 Xenophanes 85, 89, 119, 165 Xenophon 118, 120, 170, 172–173 Zabarella, Franciscus 590 Zedekia 212 Zeeden, Ernst Walter 612–613, 617, 623, 633, 636, 641–642 Zenon 174 Zwingli, Ulrich 621, 638, 682

Das europäische Politikdenken der Neuzeit kreiste um den Begriff des Staates. Dieses Denken scheint heute an sein Ende zu gelangen. Klaus Roth erforscht die Grundlagen und Gründe für den Aufstieg und die steile Karriere der auf den Staat fixierten Ideenwelt – um dadurch zugleich mögliche Ursachen für ihr Verblassen und ihren Niedergang zu beleuchten. Der Autor analysiert die Vorläufer des Staates (Polis, Reich, Ekklesia) und die in ihrem Rahmen entwickelten Politikvorstellungen, die durch Vermittlung der Politischen Philosophie in modifizierter Gestalt in die neuzeitliche Staatsidee eingeflossen sind. Er arbeitet die Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens und ihren geschichtlichen Wandel heraus, untersucht die Genese und die Metamorphose des abendländischen Ordnungsdenkens und rekonstruiert die Erfahrungen und Erwartungen, die sich im Gang der europäischen Geschichte im Staatsbegriff verdichtet haben. Gegenstand ist nicht die realgeschichtliche Entwicklung des europäischen Staatensystems, sondern die konzeptionelle Vorbereitung in der Politischen Theorie. Beabsichtigt ist kein enragiertes Plädoyer für oder wider den Staat, sondern die bloße Bestandsaufnahme einer Denkbewegung, die in der griechisch-römischen Antike anhebt, in der Polis und im Reich ihre frühen Fixpunkte und Ideale findet, sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter mit der jüdisch-christlichen Tradition amalgamiert und im späten Mittelalter den Staat zu favorisieren beginnt, der schließlich in der Frühen Neuzeit seine potentiellen Widersacher aus dem Feld schlagen konnte und zur dominanten politischen Instanz wurde. *** Klaus Roth wurde 1953 in Gemmrigheim / Kreis Ludwigsburg (Baden Württemberg) geboren. Studium der Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin. 1981 Diplomsoziologe. 1983–94 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Wissenschaftlicher Assistent am FB Politische Wissenschaft der FU Berlin. 1987 Promotion zum Dr. phil., 2002 Habilitation. Seit 2006 Gastprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte am FB Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin. Zahlreiche Publikationen zu dieser Thematik.